Claude Raffestin – Zu einer Geographie der Territorialität 351509685X, 9783515096850

Claude Raffestin prägte entscheidend die französische, italienische und portugiesische Geographie der 1980er und 1990er

137 52 966KB

German Pages 161 [163] Year 2010

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Claude Raffestin – Zu einer Geographie der Territorialität
 351509685X, 9783515096850

Table of contents :
INHALT
DANKSAGUNG
EINLEITUNG: TERRITORIALITÄT ALS THEORIE UND PROGRAMM
TERRITORIALITÄT ALS PARADIGMA
TERRITORIALITÄT ALS MEDIENTHEORIE
TERRITORIALITÄT SOZIALER PRAKTIKEN UND KENNTNISSE
NACHWEIS DER URSPRÜNGLICHEN DRUCKORTE
LITERATURVERZEICHNIS DER ARTIKEL RAFFESTINS

Citation preview

Claude Raffestin – Zu einer Geographie der Territorialität Herausgegeben und übersetzt von Francisco R. Klauser

Claude Raffestin – Zu einer Geographie der Territorialität Herausgegeben und übersetzt von Francisco R. Klauser

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2010

Umschlagabbildung: Mikkel Ostergaard / Panos Pictures

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09685-0 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2010 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany

INHALT Einleitung Territorialität als Theorie und Programm................................................................9 Francisco R. Klauser TERRITORIALITÄT ALS PARADIGMA Theorien des Wirklichen und Geografizität...........................................................23 Claude Raffestin (1989) Territorialität: Konzept oder Paradigma der Sozialgeografie?.....................................................................................................31 Claude Raffestin (1986) Territorialität: Abbild der Diskordanzen zwischen Tradition und Modernität……...............................................................................43 Claude Raffestin (1984) TERRITORIALITÄT ALS MEDIENTHEORIE Elemente zu einer Theorie der Grenze...................................................................57 Claude Raffestin (1986) Arbeit und Territorialität........................................................................................73 Claude Raffestin (1981) Sprache und Territorium........................................................................................81 Claude Raffestin (1995) TERRITORIALITÄT SOZIALER PRAKTIKEN UND KENNTNISSE Zur Rolle der Wissenschaft und Technik innerhalb des Prozesses der Territorialisierung...................................................101 Claude Raffestin (1997) Statistik, Raum, Macht.........................................................................................117 Claude Raffestin (2003)

6

Inhaltsverzeichnis

Heterodoxe Überlegungen zur Globalisierung.....................................................125 Claude Raffestin (2006) Schlusswort Claude Raffestin: Kontextualisierung und Ausblick…………............................139 Francisco R. Klauser Nachweis der urspünglichen Druckorte...............................................................157 Literaturverzeichnis der Artikel Raffestins..........................................................159

DANKSAGUNG Dieses Projekt konnte nur dank der Hilfe zahlreicher Personen realisiert werden. An erster Stelle möchte ich mich herzlich bei Claude Raffestin für seine grosse Unterstützung meines Vorhabens bedanken. Mein Dank geht ebenfalls an die einzelnen Verlagshäuser und Zeitschriften, die die Übersetzung und erneute Publikation der verschiedenen Artikel gestatteten und so einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung dieses Bandes leisteten. Ein Nachweis der ursprünglichen Druckorte der übersetzten Artikel findet sich auf Seite 157 dieses Bandes. Vielen Dank auch an Benno Werlen für seine Unterstützung sowie an alle Freunde und Kollegen mit themenverwandten Interessen, mit denen mich viele spannende Diskussionen verbinden: Stuart Elden, Eduardo Mendieta, Eduardo José Nevez, Jean Ruegg und Alexandre Gillet. Speziell erwähnen möchte ich an dieser Stelle auch alle anderen Mitglieder von CollecTer, einer Arbeitsgruppe zum Konzept der Territorialität: Irène Hirt, Luca Lerch, Gianluigi Giacomel, Baptiste de Coulon, Mathieu Petite, Cristina DelBiaggio und Pascal Blum. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei meinen Eltern und speziell bei Barbara, für ihre Geduld und für die unzähligen Gespräche, die sich aus diesem Projekt ergaben. Die nötige Ruhe und Konzentration zur Verwirklichung meines Vorhabens fand ich in den grünen Hügeln, dem wärmenden Kohlefeuer und der herzlichen Nachbarschaft der Railway Cottages. Diesem verborgenen Paradies zwei Wegbiegungen ausserhalb von Durham sei dieser Band gewidmet. Herzlichen Dank an Mary und Richard, Annie und John!

EINLEITUNG: TERRITORIALITÄT ALS THEORIE UND PROGRAMM Francisco R. Klauser Der Titel der vorliegenden Textsammlung des Genfer Geografen Claude Raffestin verlangt nach einer Erklärung. Eine „Geografie der Territorialität“ ist für Raffestin immer auch eine Geografie der mediatisierten Beziehungen eines sozialen Subjekts zur Exteriorität, Alterität und Interiorität. Oder um mit Martin Heidegger (Heidegger, 1958: 65) und Eric Dardel (Dardel, 1952: 1–2) zu sprechen, eine Geografie der Territorialität ist nichts anderes als eine Theorie des Wirklichen, ausgehend von der Geografizität des Menschen als Modus seiner Existenz und seines Schicksals (Raffestin, 1989). Damit ist bereits die zentrale Problematik des theoretischen Werkes Claude Raffestins in groben Zügen umrissen, das seit seinem 1980 erschienenen Hauptwerk Pour une géographie du pouvoir konsequent auf eine relationale Konzeptualisierung der Territorialität sozialer Existenz abzielte. Claude Raffestins Definition der Territorialität als „mediatisiertes Beziehungssystem eines kollektiven oder individuellen sozialen Subjekts zur Alterität, Exteriorität und Interiorität, zur Aufrechterhaltung seiner Autonomie, ausgehend von den vorhandenen Ressourcen seiner Umwelt“ (Raffestin, 1990: 12) wurde bislang vor allem im französischen, italienischen und portugiesischen Sprachraum rezipiert. So erschien Pour une géographie du pouvoir beispielsweise kurz nach seiner französischen Publikation auch in Italienisch (1981) und Portugiesisch (1993). Trotz Raffestins kürzlicher Würdigung als „the most fundamental theoretical contribution to non-Anglophone social geography in the 1970s and 1980s“ (Söderström, Philo, 2004: 130) wurde sein Denken indes sowohl im englischsprachigen (Söderström, 2007; Fall, 2004, 2007) als auch im deutschsprachigen Raum (Werlen, 1997; Klauser, 2006) bislang bis auf wenige Ausnahmen kaum aufgegriffen. POSITIONIERUNGEN Die vorliegende Textsammlung zielt darauf ab, den theoretischen Beitrag Claude Raffestins auch in deutscher Sprache zugänglich zu machen. Dabei eröffnet dessen Rezeption eine grundsätzlich neue Sichtweise auf das Konzept der Territorialität, das bisher vor allem aus der Perspektive der Politikwissenschaften – wo Territorialität für gewöhnlich als räumlich definierte politische Macht verstanden wird (Kahler, Walter, 2006: 3) – sowie aus der Perspektive der Ethologie behandelt wurde. Tatsächlich lassen sich die ersten expliziten Definitionen animaler

10

Geografie der Territorialität

Territorialität als „charakteristisches Verhalten von Tieren zur Inanspruchnahme und Verteidigung ihres Territoriums“ bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden (Howard, 1920). Später wurde das ethologische Verständnis der Territorialität von Autoren wie Heini Hediger (1955), Clarence Ray Carpenter (1958), Konrad Lorenz (1965) und John B. Calhoun (1971) verfeinert und systematisiert. Dieser behavioristische Ansatz der Territorialität als Verhalten der Inanspruchnahme, Kontrolle und Verteidigung von Territorien fand ebenfalls in der englischsprachigen Sozialgeografie Niederschlag, wo vor allem auf Thorsten Malmbergs (1980) und Robert David Sacks (1986) Standardwerke zur Territorialität hinzuweisen ist. Wie im Folgenden deutlich wird unterscheidet sich Raffestins Konzeptualisierung der Territorialität sowohl in seiner Ambition, die Territorialität als Paradigma der Humangeografie zu erschliessen, als auch in seiner grundsätzlich relationalen und medialen Konzeptualisierung der Territorialität von beiden Autoren allerdings deutlich. Die Rezeption der Territorialitäts-Theorie Claude Raffestins kann auch einen wichtigen Beitrag zu der in den letzten Jahren im deutschen Sprachraum (z.B. Werlen, 1995; Sloterdijk, 1998, 1999, 2004; Löw, 2001) sowie im Englischen (z.B. Soja, 1989; Thrift, 1996; Allen, 2003, Massey, 2005) aufgetretenen Fragestellung einer relationalen Raumkonzeption leisten. Raffestin selbst engagierte sich seit den späten 70er Jahren stark in epistemologischen Debatten der französischen Humangeografie, deren klassisches Erbe Vidal de la Blaches, vor allem jedoch deren quantitative Ausrichtung angelsächsischen Einflusses er harsch kritisierte. „Wir drangen auf diese Weise als Einbrecher in das Heiligtum der modernen Wissenschaft ein. Dort stahlen und plünderten wir wie Barbaren, geblendet von allem was irgendwie quantitativ schien, ohne immer den wahren Wert unseres Raubes zu erkennen. Freilich, wir wurden nicht verfolgt, es sei denn von dem Lächerlichen. Man hat sich jedoch oft, und nicht immer zu Unrecht, über uns lustig gemacht“ (Raffestin, 1989: 27. Alle Zitate Raffestins: eigene Übersetzung).

Vor diesem Hintergrund kann Raffestins relationale Konzeptualisierung der Territorialität auch als eine epistemologische Kritik an der Humangeografie im Allgemeinen, respektive an deren Raumverständnis im Speziellen gelesen werden. Obwohl Raffestin auch in den hier präsentierten Texten vor allem die Geografie und weniger die Sozialwissenschaften im Allgemeinen anspricht, reicht seine Ambition doch weit über die Geografie hinaus. Es geht Raffestin effektiv darum, das Konzept der Territorialität, im Sinne einer grundlegenden Problematisierung der Räumlichkeit sozialer Existenz, als allgemeines Paradigma der Humanwissenschaften zu erschliessen (Raffestin, 1986). Dabei ist ebenfalls die breite Palette philosophischer Reflexion zu erwähnen, welche Raffestins Arbeit zur Territorialität prägte. Einflüsse auf Raffestins Denken reichen von der französischen Sozialtheorie Michel Foucaults und Henri Lefebvres über die Philosophie Martin Heideggers bis zur Semiologie Juri Lotmans und Louis Prietos. Diese Liste könnte problemlos weiter ausgedehnt werden. Von zentraler Bedeutung ist an dieser Stelle jedoch vor allem die Würdigung der Vorreiterrolle Claude Raffestins, das geografische Denken im Rahmen des weiten

Einleitung

11

Feldes der Sozialtheorie und der Philosophie anzusiedeln; ein Unterfangen, das insbesondere bei Vertretern der traditionellen französischen Geografie auf zum Teil erbitterten Widerstand stiess. EINE ZU KONSTRUIERENDE THEORIE „Territorialität, eine zu konstruierende Theorie“ lautete die Überschrift der Konferenz, mit der Raffestin 2002 nach seiner 25jährigen Lehrtätigkeit als Professor der Humangeografie an der Universität Genf verabschiedet wurde. Eine Aufforderung zur Theoriebildung, am Ende einer akademischen Laufbahn, in deren Zentrum immer die in weitverstreuten Artikeln zum Ausdruck gebrachte Auseinandersetzung mit dem Konzept der Territorialität stand. Dabei fällt allerdings auf, dass Raffestin selbst bislang keine eigentliche Synthese seiner theoretischen Arbeit vorlegte. Auf welcher Grundlage könnte eine solche Synthese basieren? Welche Eckpfeiler sind in Raffestins Denken für eine mögliche Theorie der Territorialität vorgesehen? Die vorliegende Textsammlung verfolgt das Ziel, durch eine Auswahl von neun Artikeln Claude Raffestins bei diesem selbst nach möglichen Grundbausteinen einer Theorie der Territorialität zu suchen. Es wird also versucht, eine mögliche Synthese seines Werkes zu suggerieren, wenngleich weniger im Sinn einer abgeschlossenen Theorie, als vielmehr im Sinn eines provisorisch abgesteckten, konzeptuellen Grundrisses. Es kann im Rahmen dieses Bandes nicht darum gehen, das Fundament von Raffestins Denkgebäude zur Territorialität durch robuste und kunstvoll ausgearbeitete Bögen oder Kuppeln zu verbinden. Es wird ebenso wenig möglich sein, ein repräsentatives, geschweige denn umfassendes Bild von Raffestins Denken über und durch das Konzept der Territorialität zu vermitteln. Vielmehr sind die hier übersetzten Texte dem Versuch gewidmet, einige zentrale Komponenten einer Geografie der Territorialität im Sinne Claude Raffestins zusammenzuführen. Die Logik dieser Zusammenführung wird im Folgenden, der Gliederung dieses Buches in drei Hauptteile entsprechend, zum Ausdruck gebracht: „Territorialität als Paradigma“, „Territorialität als Medientheorie“ und „Territorialität sozialer Praktiken und Kenntnisse“. TERRITORIALITÄT ALS PARADIGMA Zwei Grundprämissen bilden das Fundament von Raffestins Theoriegebäude zur Territorialität: Raffestins relationales Verständnis sozialräumlicher Existenz (1), respektive sein mediales Verständnis sozialer Relationen (2). Jede Behandlung und Einordnung der theoretischen Bausteine einer Geografie der Territorialität im Sinne Raffestins muss deshalb zwangsläufig von diesem doppelten Verständnis der Welt als Relation, sowie der Relation als Mediation ausgehen. Dabei sind im Grunde drei mediatisierte Beziehungskategorien zu unterscheiden:

12

Geografie der Territorialität

Das Konzept der Territorialität umfasst nach Raffestin erstens die Beziehungen sozialer Akteure zur Exteriorität, als die Summe aller sozial produzierten Räume. „Wenn wir von Exteriorität sprechen, so ist dies auch um zu verdeutlichen, dass die Territorialität jeden ‚Topos‘ umfasst, das heisst jeden Ort, jede Gemeinschaft, jedes Sein oder jeden abstrakten Raum, wie beispielsweise den Raum institutioneller Systeme etc.“ (Raffestin, 1977: 130).

Territorialität wird von Raffestin zweitens als relationales Spektrum sozialer Akteure zur Alterität verstanden, „als die Welt auf die ich Zugriff habe, oder auf die ich Zugriff haben kann, als die Welt des Seins, der Wörter und der Objekte“ (Raffestin, 1981: 147). Drittens, und vor allem in späteren Aufsätzen angedeutet, umfasst die Territorialität nach Raffestin auch die Beziehungen eines kollektiven oder individuellen sozialen Subjekts zu sich selbst, zu seiner Interiorität (Raffestin, 1995: 91). Die räumliche, soziale und mentale Dimension menschlicher Existenz verbindend, muss die Territorialität folglich als ein „umfassender und komplexer Prozess des Austauschs und/oder der Kommunikation verstanden werden der es erlaubt, unsere Bedürfnisse an Energie und Information zu befriedigen“ (Raffestin, 1984: 439). Dies heisst konsequenterweise auch – im Anschluss an Michel Foucaults relationale Machtkonzeption –, dass das Konzept der Territorialität dem Begriff der Macht per Definition eine zentrale Position einräumt. Nach Raffestin ist eine Geografie der Territorialität immer auch eine Geografie der Macht. „Die Territorialität ist die ‚gelebte Dimension‘ der ‚Einfluss ausübenden Dimension‘ der Macht“ (Raffestin, 1980: 146). Wie erwähnt bezieht sich die zweite Grundprämisse von Raffestins Theoretisierung der Territorialität auf die unabdingbare Mediatisierung sozialer Beziehungen. „Die Grenzen meiner Mediatoren bestimmen die Grenzen meiner Territorialität“, schreibt Raffestin (1984: 440) in Anlehnung an Ludwig Wittgensteins Diktum „die Grenzen meiner Sprache bestimmen die Grenzen meiner Welt“. Zusammengefasst heisst dies: Eine Geografie der Territorialität ist immer auch eine Theorie der Mediatisierungen sozialer Machtbeziehungen, oder anders ausgedrückt, eine Geografie der Territorialität ist immer auch eine Theorie mediatisierter Territorialisierungen konkreter und abstrakter Räume und Dinge. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb Raffestin das Konzept der Territorialität mit einem weitreichenden Paradigmawechsel der Geografie verbindet, deren Aufmerksamkeit von dem Studium des Raumes als vis-à-vis des Menschen auf die Mediatisierungsprozesse sozialer Raumproduktionen gelenkt wird. „Das Paradigma der Territorialität kehrt konsequenterweise die Ordnung der traditionellen geografischen Vorgehensweise um. Ihr Ausgangspunkt liegt nicht innerhalb des Raumes, sondern in den Instrumenten und Codes der Akteure, die Spuren und Indizien im Territorium hinterlassen. Eine Theorie zur Ökogenese des Territoriums muss bei der Betrachtung dieser Codes ansetzen. [...] Aus diesem Grunde, so scheint mir, ist die Sozialgeografie stärker durch die verbreitete Information konditioniert als durch den Raum selbst“ (Raffestin, 1986: 96).

Einleitung

13

Die ersten drei Artikel der vorliegenden Textsammlung beleuchten aus unterschiedlichen Perspektiven die von Raffestins Grundprämissen ausgehende Forderung nach einem Paradigmawechsel der Humangeografie. „Ich zögere keinen Moment zu betonen, dass wir es hier im Hinblick auf die nächsten zwanzig Jahre, die mit dem Problem des Raumes konfrontiert sein werden, mit einem im Entstehen begriffenen Pionier-Paradigma zu tun haben“ (Raffestin, 1984: 440).

Der erste Aufsatz – „Theorien des Wirklichen und Geografizität“ (1989) – vermittelt einen Einblick in Raffestins epistemologische Kritik der Geografie, respektive in seine Selbst-Positionierung innerhalb des geografischen Denkens. Die Absenz einer allgemeinen theoretischen Grundlage der Geografie denunzierend, plädiert Raffestin hier wie anderswo vehement für die konsequente Ausarbeitung einer geografischen Ontologie. „Wir benötigen, um diese Krise zu bewältigen, eine Geografizität der reziproken Relation. Damit verbunden ist ebenfalls eine Paradigma-Änderung, die sich seit mehreren Jahren anbahnt. Wir laufen dabei allerdings Gefahr, unsere Fehler zu wiederholen, wenn wir nicht zur Anstrengung bereit sind, eine wirkliche Ontologie der Geografie auszuarbeiten“ (Raffestin, 1989: 30).

Raffestins Verständnis der Territorialität als Ausweg der Geografie aus ihrer selbstverschuldeten epistemologischen Unmündigkeit befindet sich ebenfalls im Zentrum des zweiten Aufsatzes dieser Textsammlung: „Territorialität: Konzept oder Paradigma der Humangeografie?“ (1986). Raffestins Aufmerksamkeit gilt hier – wie in zahlreichen anderen Arbeiten – vor allem der Ökogenese des Territoriums, das heisst der Frage des Wie und des Warum der Prozesse der Territorialisierung, De- und Re-Territorialisierung von Räumen. Er greift dabei auf das Konzept der Territorialität zurück, um die Vielschichtigkeit territorialer Produktionsund Aneignungsprozesse, das heisst die Vielfalt individueller Raumbezüge zu problematisieren. Raffestin verfolgt also die Absicht, das Verständnis von Territorien, als sozial angeeignete Räume, aus der Perspektive der sozial-räumlichen Relationen des Menschen zu ermöglichen. Zu betonen ist dabei vor allem Raffestins Fokus auf die Rolle „semischer Systeme“ (Systeme von Zeichen, Kenntnissen und Informationen) als Dechiffrierungsschlüssel sozialer Raumproduktionen. „Der ‚Dechiffrierungs-Schlüssel‘ liegt nicht in der materiellen Realität des Raumes, sondern in der Semiosphäre, auf die eine menschliche Gruppe zurückgreift, um die materielle Realität zu verändern. Um zu handeln bezieht sich der Mensch auf einen semiotischen Raum, im weitesten Sinne des Wortes, dessen Grenze eine doppelte, konkrete und abstrakte Funktion ausübt. Diese Grenze bestimmt was verhindert und was verändert wird, respektive was in der Exteriorität zum Ausdruck kommt. Dort wo der Kulturraum einer Gruppe einen territorialen Charakter annimmt, äussert sich diese Grenze auf einer im elementaren Sinn räumlichen Ebene“ (Raffestin, 1986: 94).

Der dritte Aufsatz – „Territorialität: Abbild der Diskordanzen zwischen Tradition und Modernität“ (1984) – mag auf den ersten Blick eher thematisch als epistemologisch ausgerichtet scheinen. Auch hier jedoch geht es Raffestin vor allem darum, die Frage der Diskrepanzen zwischen Tradition und Modernität gewissermassen

14

Geografie der Territorialität

instrumentalisierend, die konzeptuellen Bausteine einer zu konstruierenden Theorie der Territorialität zu erschliessen. Hervorzuheben ist an dieser Stelle vor allem die Rolle des von Henri Lefebvre (Lefebvre, 1968) übernommenen, eng mit der Territorialität verknüpften Konzeptes der Alltäglichkeit. Raffestin deutet hier ebenfalls auf eine Möglichkeit der empirischen Behandlung des Konzeptes der Territorialität, wenngleich in seinem eigenen Werk hierfür kaum vertiefte Anwendungsbeispiele folgen. „Jede über den Modus der Konkatenation und der Repetition konstruierte und gelebte Alltäglichkeit beruht letzten Endes auf dem Beziehungsnetzwerk der Territorialität. Die Alltäglichkeit bildet die sichtbare Superstruktur in der wir treiben (das ‚Selbstverständliche‘), während die Territorialität die Infrastruktur formt, die aus jenen Praktiken und Kenntnissen gewoben ist, die für jede Handlung unerlässlich sind, ohne dabei allerdings explizit zum Ausdruck zu kommen. Man könnte sagen, dass die Territorialität aus jenen kurz- oder mittelfristig invarianten Strukturen besteht, die von der Alltäglichkeit in unterschiedlichsten Formen realisiert und mannigfach ‚gekleidet‘ werden, dabei jedoch allesamt denselben Kern aufweisen“ (Raffestin, 1984: 439–440).

TERRITORIALITÄT ALS MEDIENTHEORIE Der zweite Teil der vorliegenden Textsammlung befasst sich mit der Mediatisierung sozialer Relationen im Allgemeinen, respektive mit der zentralen Bedeutung dreier Meta-Mediatoren im Speziellen: der Arbeit, der Sprache und des Territoriums. Diese drei Basispfeiler von Raffestins Theoriegebäude liegen als strukturelle Invarianten hinter jeder Untersuchung der Territorialität. „Die Gesamtheit der menschlichen Kultur wird von einem Dreieck umschlossen, dessen Spitzen durch die Arbeit, die Sprache und das Territorium begrenzt sind. Eine Reformulierung des Forschungsprogramms der Kulturgeografie muss von diesem Dreieck ausgehen. Dabei ist zu beachten, dass jedes der drei Elemente abwechselnd die Rolle des Mediators übernehmen kann“ (Raffestin, 1995: 103).

Der erste Artikel – „Elemente zu einer Theorie der Grenze“ (1986) – richtet sich allerdings noch nicht direkt an diese drei Meta-Mediatoren. Er soll hierfür über das Verständnis der Territorialität als Ergebnis und Ursprung sozial definierter Limiten-Systeme vielmehr ein mögliches Grundgerüst liefern. „Jede Aktion, die sich als Beziehungen zur Umwelt, das heisst als Bezug zu Lebewesen und Dingen übersetzt, beruht auf der Erzeugung und Beachtung von Limiten“ (Raffestin, 1986: 4).

Dieses Verständnis der Territorialität als Limiten-System ist eng mit Raffestins Mediatisierungs-Prämisse verknüpft, da für Raffestin die von einem individuellen oder kollektiven sozialen Subjekt verwendeten Mediatoren immer auch die Limiten seiner Beziehungen zur Exteriorität, Alterität und Interiorität, respektive die Limiten seiner Macht und Autonomie, als Telos der Territorialität, bestimmen. „Der Mediator beeinflusst sowohl die Wahrnehmung, als auch die Handlung, wobei ich bewusst nicht von einer Determinierung spreche. Der Mediator – als Instrument, Symbol, Code oder Technik – besitzt immer eine bestimmte Reichweite, die ihrerseits eine gewisse Limite

Einleitung

15

begründet. Das Konzept der Territorialität führt notwendigerweise zur Wiederentdeckung der Bedeutung von Limiten“ (Raffestin, 1984: 440).

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass für Raffestin Territorialitätstheorie, Medientheorie und Limitentheorie grundsätzlich konvergieren. Der folgende Artikel – „Arbeit und Territorialität“ (1981) – soll Raffestins Verständnis der Arbeit als Meta-Mediator, respektive als begründender Faktor menschlicher Territorialität verdeutlichen. Die natürliche Kategorie der Arbeit, betont Raffestin, begründet die Mobilisierung und Ordnung der Dinge. Arbeit ist also für Raffestin der eigentliche Ursprung von Territorialität, das heisst auch die ursprüngliche, alles begründende Substanz relational verstandener Macht. „Arbeit begründet alles, Arbeit verändert aber auch alles, selbst wenn ihre erschaffende Rolle manipuliert und auf destruktive Ziele gerichtet wird. Als kombinierter Einsatz von Energie und Information erlaubt es die Arbeit dem Menschen, Beziehungen zu unterhalten um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Dadurch entsteht das Beziehungsnetzwerk der Territorialität“ (Raffestin, 1995: 90–91).

Diese Verbindung von Arbeit und Macht wird von Raffestin ebenfalls über die Begriffe Energie und Information zum Ausdruck gebracht. Macht selbst wird von Raffestin in Bezug auf ihre Mittel als variable Kombination von Energie und Information verstanden, während Arbeit ihrerseits über ihre konstitutiven Elemente Energie und Information definiert wird. Arbeit ist für Raffestin immer auch Macht. Der letzte Artikel dieses Teils – „Sprache und Territorium“ (1995) – bezieht sich auf die Bedeutung der Sprache und des Territoriums als Meta-Mediatoren der Territorialität. Es ist an dieser Stelle hilfreich, nochmals kurz auf Raffestins Verständnis des Territoriums einzugehen, das sich sowohl von der politischen Auffassung des Territoriums als Staatsgebiet, als auch vom klassisch geografischen Verständnis des Territoriums als zusammenhängendes Stück flächenhaft ausgedehnten Grundes deutlich abhebt. Raffestin versteht Territorien vielmehr als territorialisierte, das heisst sozial angeeignete, respektive „informierte“ Räume im weitesten Sinn. „Ein Territorium kann als Feld eines aktiven Systems von Intentionen definiert werden“ (Raffestin 1996: 7). Obwohl sich Raffestins Aufmerksamkeit meist auf die Territorialisierungsprozesse konkreter, „erdenschwerer“ (Löw, 2001: 96) Räume richtet, erhält der Begriff des Territoriums aus dieser Perspektive eine allgemeine Bedeutung, welche sich nicht nur auf die konkreten, sondern auch auf die abstrakten Räume sozialer Existenz bezieht. „Die Kultur wird als ultimer Raum gelebt, den es zu produzieren, zu organisieren, in einem Wort zu territorialisieren gilt“ (Raffestin, 1984: 438). Aus der Perspektive einer Zusammenstellung der konzeptuellen Bausteine einer Geografie der Territorialität ist dabei vor allem auf Raffestins Behandlung des Territoriums über den Begriff der Limite hinzuweisen. „Die Errichtung von Limiten führt immer auch zur Produktion eines Territoriums, das heisst, zu einer kulturellen Differenzierung der Natur, respektive der natürlichen Ökosysteme“ (Raffestin, 1995: 95).

16

Geografie der Territorialität

Ein Territorium ist für Raffestin demnach nichts anderes als ein auf einen (konkreten oder abstrakten) Raum projiziertes System von Limiten, das nicht nur eine materielle, sondern auch eine immaterielle (z.B. normative, respektive semiotische) Ordnung begründet. Daraus folgt ebenfalls, dass territorialisierte Räume, als Gegenstand individueller und/oder kollektiver Intentionen und Delimitationen, grundsätzlich in einem durch das Konzept der Macht charakterisierbaren Verhältnis von Ursache und Wirkung (als Produkt sowie als Produzent sozialer Gegebenheiten) zur Gesellschaft stehen. Das von Raffestin im Rahmen des dritten Artikels dieser Textsammlung untersuchte Verhältnis zwischen dem konkreten, im elementaren Sinne räumlichen Territorium einerseits sowie dem abstrakten „Territorium der Sprache“ andererseits ist in dieser Hinsicht von besonderer Bedeutung. Sowohl die Sprache als auch das Territorium bilden nicht nur ein dynamisches soziales Produkt, sondern ebenfalls einen regulierenden und differenzierenden Faktor – in Raffestins Worten einen Meta-Mediator – sozialer Existenz. „Sprache und Territorium stellen [...] zwei komplementäre, Zeit und Raum umfassende Universen dar. Sie tragen gemeinsam dazu bei, die Zeit, respektive den Raum zu beherrschen. Beide bilden in diesem Sinne kulturelle Instrumente zur Unterteilung der Welt“ (Raffestin, 1995: 93).

TERRITORIALITÄT SOZIALER PRAKTIKEN UND KENNTNISSE Claude Raffestin versteht eine Geografie der Territorialität immer auch als eine geografische Theorie sozialer Praktiken und Kenntnisse – wobei wie gesehen das Konzept der Alltäglichkeit eine zentrale Rolle spielt –, die durch die verwendeten Mediatoren moduliert werden und sich als Beziehungen zur Exteriorität, Alterität und Interiorität äussern. „Ein Geograf der mit territorialen Strukturen zu tun hat läge völlig falsch, sich ausschliesslich auf die sichtbare Morphologie des Territoriums zu beziehen, da diese nur als Folge von Handlungsweisen sozialer Gruppen verständlich ist. Die Geografie muss vielmehr dazu gebracht werden, die menschlichen Kenntnisse und Praktiken von Räumen und Territorien auszudrücken“ (Raffestin, 1986: 92).

Darauf aufbauend sollen im letzten Teil dieses Bandes drei analytische Anwendungsbeispiele einer Geografie der Territorialität zusammengefasst werden, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Bedeutung menschlicher Praktiken und Kenntnisse als Mediatoren der Territorialisierung, De- und Re-Territorialisierung von Räumen konzentrieren. Im Hinblick auf die bezweckte Zusammenführung unterschiedlicher konzeptueller Komponenten einer Theorie der Territorialität ist dabei nochmals die zentrale Rolle kulturell definierter „semischer Systeme“ zu betonen, die für Raffestin den Dechiffrierungsschlüssel sozialer Raumproduktionen darstellen. Raffestin interessiert sich dabei vor allem für die Bedeutung sozialer Repräsentationen und Kenntnisse, als „Bilder“ der materiellen Realität. Dieses Leitmotiv in Raffestins

Einleitung

17

Denken zur Territorialität wird im Folgenden aus drei komplementären Perspektiven behandelt: Erstens, über die Problematisierung techno-wissenschaftlicher Prozesse der Domestikation-Simulation, die zur Kreation neuer Diversitäten auf den Körper der Erde, des Menschen und der Gesellschaft projiziert werden. Zweitens, aus der Perspektive der Statistik als numerische „Karikatur“, das heisst als relevante und kohärente, gleichzeitig aber auch deformierte Repräsentation der Bevölkerung und des Raumes. Drittens, über die Thematik der Globalisierung, als eine von den neuen Möglichkeiten der globalisierten Informations-Kombination und -Zirkulation ausgehende Transformation des sozialen Beziehungssystems der Territorialität. Allen drei Artikeln gemeinsam ist die Problematisierung des für die Moderne charakteristischen Ablösungsprozesses der Zeichen von ihrem Referenten, respektive des zunehmenden menschlichen Bezuges zu den sozial produzierten Bildern der Realität, auf Kosten der Beziehungen zur Materialität der Dinge selbst. Im Sinne Heideggers könnte dieser Teil deshalb auch als die „Eroberung der Welt als Bild“ betitelt werden (Heidegger, 1980: 92). Der erste Artikel dieses dritten Teils behandelt die „Rolle der Wissenschaft und Technik innerhalb des Prozesses der Territorialisierung“ (1997). Von einer Geografie der Territorialität als einer Theorie mediatisierter Territorialisierungsprozesse konkreter und abstrakter Räume und Dinge zu sprechen heisst in diesem Zusammenhang, die durch Domestikationen und Simulationen begründeten techno-wissenschaftlichen Raum- und Bildproduktionen als Karikaturen des Wirklichen zu problematisieren. Als Folge der akzentuierten techno-wissenschaftlichen Produktion paralleler, komplett simulierter Welten „bewohnt“ der Mensch heute weniger die materielle Realität selbst, als vielmehr die in Funktion gesellschaftlicher Intentions-Systeme modifizierten Bilder dieser Realität. Diese Evolution, folgert Raffestin in Anlehnung an Serge Moscovici (1968), modifiziert die Gesamtheit aller Beziehungen einer Gesellschaft zur Natur, respektive die Beziehungen dieser Gesellschaft zu sich selbst und begründet dadurch eine tiefgreifende Transformation ihrer Territorialität. Von exemplarischer Bedeutung ist für Raffestin dabei der Begriff der Landschaft. „Eine noch zu verfassende Geschichte der Bilder der Natur würde zeigen, in welchem Mass der Mensch effektiv seine Bezugspunkte verlor. [...] Der von der Malerei entliehene Begriff der Landschaft wurde keineswegs zufällig zum neuen Horizont, vor dem sich sowohl literarische als auch wissenschaftliche Vorhaben entfalten. [...] Dabei ist die Beschreibung der Landschaft keineswegs als eine Beschreibung eines Teiles der Natur, sondern als etwas völlig anderes zu verstehen: Als die – durch die Exteriorität mediatisierte – Suche des Menschen nach seiner Essenz“ (Raffestin, 1997: 104–105).

Der folgende Artikel – „Statistik, Raum, Macht“ (2003) – richtet sich in eine ähnliche Richtung, wobei hier im Speziellen die Rolle der Statistik als numerische, gewisse Praktiken und Kenntnisse begünstigende Repräsentation des Raumes und der Bevölkerung thematisiert wird. Der eigentliche Zweck der Statistik liegt für Raffestin in ihrem Wesen als „Anti-Zufall“ (Massé, 1973). Die Statistik begründet eine gewisse Kalkulier- und Kontrollierbarkeit der Welt und dadurch eine grund-

18

Geografie der Territorialität

sätzlich neue Sichtweise der Dinge. Raffestin greift hier wiederum, wie auch in den beiden anderen Aufsätzen dieses letzten Teiles, auf den Begriff der Karikatur zurück, um das Wesen der Statistik als eine deformierte, wenn auch kohärente Repräsentation des Wirklichen zu verdeutlichen, die nach einer zumindest ansatzweise entwickelten techno-wissenschaftlichen Konzeptualisierung verlangt, um zu einem Bild der Realität zu gelangen. Erneut geht es Raffestin also vor allem darum, die Rolle und Macht semischer Systeme (hier am Beispiel statistischer Kenntnisse) als Faktor der Territorialisierung zu erschliessen. „Deshalb versucht die Macht mit allen Mitteln, die Lebewesen und Dinge über das Mittel der Zahl zu repräsentieren, wodurch eine bestimmte Repräsentation entsteht, die ein von ihrem Referenten losgelöstes Eigenleben führt. Diese Repräsentation ist gewissermassen eine Karikatur, aus der wiederum neue Limiten hervorgehen und die in einer neuen Sprache zum Ausdruck bringt, was sonst weder bewältigt noch überhaupt erkannt werden könnte. In diesem Sinne ist jede Statistik, als eine Repräsentation, auch eine Karikatur der Dinge und des Lebens. Jede Karikatur unterdrückt und potenziert zugleich gewisse Eigenschaften“ (Raffestin, 2003: 9–10).

Der letzte Artikel dieser Textsammlung – „Heterodoxe Überlegungen zur Globalisierung“ (2006) – führt die Untersuchung semischer Systeme als Faktoren der Territorialisierung von Räumen und Dingen aus der Perspektive der Globalisierung weiter. „Die Globalisierung postuliert eine Gesellschaft der Zeichen, weil ihr funktionaler Fortlauf die Entwicklung eines generalisierten Systems von Äquivalenzen sowie eine möglichst umfassende, mit den Ressourcen des Systems zu vereinbarende Fluidität der Zeichen voraussetzt“ (Raffestin, 2006: 252).

Vor diesem Hintergrund zielen Raffestins Überlegungen vor allem auf die Gründe und Auswirkungen des in der heutigen Form der Globalisierung immer grösser werdenden Abstandes zwischen den zum globalen Konsum freigegebenen Zeichen der Dinge einerseits sowie der Materialität der Dinge andererseits. Dabei vergleicht und verbindet Raffestin das Wesen sozial produzierter Kenntnisse und Bilder der materiellen Realität mit dem Wesen des Geldes, als monetäre Repräsentation des realen Reichtums. „Die Kenntnisse der Dinge sind ebenso wie das (Äquivalenzen bildende) Geld nichts anderes als ‚Zeichen‘. Wie das Geld selbst bilden auch diese Kenntnisse eine Art ‚Währung‘, um die Realität in Form von Bildern – unter anderem als Modelle und Theorien – in Umlauf zu bringen“ (Raffestin, 2006: 251).

Von dem doppelten Verhältnis Repräsentation/materielle Realität – Geld/realer Reichtum ausgehend, beschreibt Raffestin die Globalisierung als inflationäre Produktion von Zeichen durch Zeichen. Problematisch ist, betont Raffestin, dass die auf diesem doppelten Verhältnis basierende Globalisierung als abstrakter Apprehensions-Modus der Realität immer weniger auf die Regulation des Referenten, der Umwelt, Bezug nimmt. Mit anderen Worten, die Globalisierung konzentriert sich immer ausschliesslicher auf die Ebene der Zeichen, ohne sich noch um die materielle Realität zu kümmern. Sie bietet deshalb immer weniger Raum für eine nachhaltige sozio-ökologische Entwicklung. Die menschliche Territoriali-

Einleitung

19

tät hebt sich dadurch immer mehr von der materiellen Realität ab. Sie wird nicht mehr von lokal verankerten öko-, bio- und sozio-Logiken bestimmt, sondern richtet sich immer ausschliesslicher auf die global zirkulierende, zum Konsum freigegebene Welt der Bilder, Informationen und Kenntnisse der materiellen Realität. Gesamthaft gesehen spannen die drei im dritten Teil dieser Textsammlung zusammengefassten Anwendungsbeispiele einer Geografie der Territorialität einen thematischen Bogen von der Rolle techno-wissenschaftlicher Praktiken und Kenntnisse (als Prozesse der Domestikation-Simulation, respektive als statistische oder kartographische Repräsentationen des Wirklichen) zum Phänomen der Globalisierung. Die mit diesen Prozessen verbundene, für die Moderne charakteristische „Bild-“ oder „Karikatur-Werdung“ der Welt bildet für Raffestin einen zentralen Erklärungsfaktor unserer diskordanten, immer „bodenloseren“ sozialen Existenz. Gestützt auf das Konzept der Territorialität verdeutlicht Raffestin mit diesen Aufsätzen auch den Nutzen einer relational-medialen Konzeptualisierung sozialräumlicher Existenz, respektive einer zu konstruierenden Geografie der Territorialität als Theorie und Programm. BIBLIOGRAPHIE Allen J. (2003), Lost Geographies of Power, Blackwell Publishing, Oxford. Massey D. (2005), For Space, Sage, London. Calhoun J.B (1971), „Space and the Strategy of life“, in, Esser A.H. (Hg.), Behaviour and Environment, The Use of Space by Animals and Men, Plenum Press, New York: 329–387. Carpenter C.R. (1958), „Territoriality: A Review of Concepts and Problems“, in, Roe A., Simpson G.G. (Hg.), Behavior and Evolution, Yale University Press, New Haven: 224–250. Dardel E. (1952), L’homme et la terre, PUF, Paris. Fall J.J. (2007), „Lost geographers: power games and the circulation of ideas“, in, Progress in Human Geography, Bd. 31, Nr. 2: 195–216. Hediger H. (1955), Studies of the Psychology and Behaviour of Captive Animals in Zoos and Circuses, Butterworths Scientific Publications, London. Heidegger M. (1958), Essais et conférences, Gallimard, Paris. Howard H.E. (1920), Territory in Bird Life, John Murray, London. Kahler M., Walter B. (Hg.) (2006), Territoriality and conflict in an age of Globalisation, Cambridge University Press, Cambridge. Klauser F. (2006), Die Videoüberwachung öffentlicher Räume, Campus, Frankfurt. Lefebvre H. (1968), La vie quotidienne dans le monde moderne, Gallimard, Paris. Lorenz K. (1965), Evolution and Modification of Behavior, University of Chicago Press, Chicago. Löw M. (2001), Raumsoziologie, Suhrkamp, Frankfurt. Malmberg T. (1980), Human Territoriality: Survey of Behavioural Territories in Man with Preliminary Analysis and Discussion of Meaning, Mouton, The Hague. Massé P. (1973), La crise du Développement, Gallimard, Paris. Moscovici P. (1968), Essai sur l’histoire humaine de la nature, Flammarion, Paris. Raffestin C. (1977), „Paysage et territorialité“, in, Cahiers de Géographie du Québec, Bd. 21, Nr. 53–54: 123–134. Raffestin C. (1980), Pour une géographie du pouvoir, Litec, Paris. Raffestin C. (1981a), Per una geografia del potere, Editione Unicopli, Milano.

20

Geografie der Territorialität

Raffestin C. (1981b), „Travail et territorialité“, in, Bakonyi M., Bresso M., Moeschler P., Raffestin C. (Hg.), Demain le travail, Economica, Paris: 247–257. Raffestin C. (1984), „La territorialité: miroir des discordances entre tradition et modernité“, in, Revue de l’Institut de Sociologie, Université de Bruxelles, Nr. 3–4: 437–447. Raffestin C. (1986a), „Territorialité: Concept ou paradigme de la géographie sociale?“, in, Geographica Helvetica, Nr. 2: 91–96. Raffestin C. (1986b), „Eléments pour une théorie de la frontière“, in, Diogène, Nr. 134: 3–21. Raffestin C. (1989), „Théories du réel et géographicité“, in, EspacesTemps, Nr. 40–41: 26–31. Raffestin C. (1990), „Une nouvelle géographie de la Suisse: pour qui, pour quoi?“, in, Raffestin C., Racine J.B. (Hg.), Nouvelle Géographie de la Suisse et des Suisses, Payot, Lausanne: 3–6. Raffestin C. (1993), Por uma geografia do poder, Ática, São Paulo. Raffestin C. (1995), „Langue et territoire. Autour de la géographie culturelle“, in, Werlen B. (Hg.), Kulturen und Raum. Festschrift für Professor Albert Leemann, Verlag Rüegger, Zürich: 87– 104. Raffestin C. (1997), „Le rôle des sciences et des techniques dans les processus de territorialisation“, in, Revue européenne des sciences sociales, Bd. 35, Nr. 108: 93–106. Raffestin C. (2003), „Statistique, espace, pouvoir“, in, Swiss Statistical Society Bulletin, Nr. 47: 7– 10. Raffestin C. (2006), „Réflexions hétérodoxes sur la globalisation“, in, Revue européenne des sciences sociales, Bd. XLIV, Nr. 134: 247–257. Sack R.D. (1986), Human Territoriality: Its Theory and History, Cambridge University Press, Cambridge. Söderström O., Philo C. (2004), „Social geography: looking for geography in its spaces“, in, Benko G., Strohmayer U. (Hg.), Human Geography: A History for the Twenty-First Century, Blackwell, Oxford: 105–138. Söderström O. (2007), „From mosaic to network: social and cultural geography in Switzerland“, in, Social and Cultural Geography, Bd. 8, Nr. 4: 635–648. Soja E.W. (1989), Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, Verso, London. Sloterdijk P. (1998), Sphären I, Blasen, Suhrkamp, Frankfurt. Sloterdijk P. (1999), Sphären II, Globen, Suhrkamp, Frankfurt. Sloterdijk P. (2004), Sphären III, Schäume, Suhrkamp, Frankfurt. Thrift N. (1996), Spatial formations, Sage, London. Werlen B. (1995), Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum, Bd. 1, Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Werlen B. (1997), Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Globalisierung, Region und Regionalisierung, Bd. 2, Franz Steiner Verlag, Stuttgart.

TERRITORIALITÄT ALS PARADIGMA

THEORIEN DES WIRKLICHEN UND GEOGRAFIZITÄT Claude Raffestin (1989) Der Titel stammt nicht von mir. Der erste Teil gehört einem Philosophen, der zweite einem Geografen. Dies musste gleich zu Beginn gesagt werden. Ich werde darauf zurückkommen. Die mir gestellte Aufgabe, der ich mich im Übrigen mit Genuss widme, beinhaltet mehrere Fallen. Ich hoffe vor allem jene einer Pseudo-Synthese zu umgehen, die es scheinbar ermöglicht in einem Schritt von der Ignoranz zur Gelehrtheit zu gelangen, indem die Kenntnisse mehr oder weniger unbekümmert übergangen werden. Keine Sorge, ich werde in die anderen Fallen tappen. Weder Titan noch Sklave der Bibliographie gebe ich keineswegs vor, die geografische Produktion der letzten 20 Jahre identifizieren, geschweige denn beurteilen zu können. Umso weniger, als dass sich mein Interesse eben gerade auf jene Kenntnisse richtet, jenes „kleine Bisschen“, das wir zusammentragen und mit unserem eigenen Denken verschmelzen können, um daraus ein passendes Instrument zu gestalten. INSTRUMENTE ZUR FRAKTURIERUNG DES WIRKLICHEN Wenn ich richtig verstanden habe muss ich nun versuchen, meine Beziehung zum Wissen der Geografie zu beschreiben. Meine Aufgabe liegt also in einer persönlichen Ethnographie, deren Problematik in etwa so zusammengefasst werden könnte: Wie betrachte ich, der ich selbst zu diesem Volk von Wilden gehöre, die Geografen und ihre Beschäftigungen? Dabei richtet sich mein Blick auch auf mich selbst, basierend auf einer Art Autoskopie, die allerdings gezwungenermassen eine Täuschung bleiben wird. Es ist dies eine andere Falle, die ich womöglich, wie schon so viele vor mir, nicht umgehen werde ... In einem vor längerer Zeit erschienen Text konnte Heidegger aufzeigen, dass die „moderne Wissenschaft als Theorie des Wirklichen auf dem Vorrang der Methode beruht“ (Heidegger, 2000: 52 [1958: 65]). Heidegger will damit sagen, dass die moderne Wissenschaft die Wirklichkeit durch Berechnungen erschliesst, wobei es sich freilich weniger um Berechnungen von Zahlenoperationen im engeren Sinn, als vielmehr um Berechnungen von Beziehungen im weiteren Sinn handelt. Dies bedeutet, dass die moderne Wissenschaft ihren Forschungsgegenstand eher über die Behandlung der Beziehungen zwischen den Dingen, als über die fokussierte Betrachtung der Natur der Dinge selbst konstruiert. Wenn wir Max Plancks Bemerkung „wirklich ist, was sich messen lässt“ zitieren, muss dem Verb

24

Territorialität als Paradigma

„messen“ nicht nur eine rein quantitative, sondern vor allem eine relationale Bedeutung beigemessen werden. Als die auf ältere europäische Arbeiten zurückgehende, hauptsächlich jedoch in englischsprachigen Ländern entwickelte „Neue“ oder „Quantitative Geografie“ vor mehr als 20 Jahren in die Schulen des alten Kontinents einzudringen begann, dachte man, die Geografie könne in den Kreis der „modernen Wissenschaften“ aufgenommen werden. Die oft allzu wörtliche Interpretation Max Plancks führte dabei zu dessen unfreiwilligen Parodisierung: „You know what you measure“, „geografisch ist, was zähl- und messbar ist“. Die bevorzugten Instrumente der Geografie – von der elementaren Statistik über die Faktorenanalyse bis zur Verwendung mathematischer Modelle – dienten nicht nur der Frakturierung der Wirklichkeit, sondern auch der Positionierung der Geografie auf der Ebene der Natur- oder zumindest der Wirtschaftswissenschaft. Wir drangen auf diese Weise als Einbrecher in das Heiligtum der modernen Wissenschaft ein. Dort stahlen und plünderten wir wie Barbaren, geblendet von allem was irgendwie quantitativ schien, ohne immer den wahren Wert unseres Raubes zu erkennen. Freilich, wir wurden nicht verfolgt, es sei denn von dem Lächerlichen. Man hat sich jedoch oft, und nicht immer zu Unrecht, über uns lustig gemacht. Es mögen dies zwar verjährte Jugendsünden sein. Dies sollte uns jedoch nicht von der Reflexion abhalten, was wir hätten tun sollen und was wir eben nicht taten. DIE TYRANNEI DES VISUELLEN Das methodische Netz der Naturwissenschaften auszuleihen und der klassischen Geografie aufzusetzen führt von sich aus nicht etwa zum Eintritt in die moderne Wissenschaft, sondern lediglich dazu, der Tradition eine gewisse „Modernität“ überzustülpen. Der Forschungsgegenstand der klassischen Geografie liegt „irgendwo zwischen Himmel und Erde“. Er ist perfekt sicht- und beobachtbar. Die in der Evidenz ihres Forschungsobjektes gefangene, oder anders ausgedrückt, die eher auf die Natur der Dinge als auf ihre gegenseitigen Beziehungen achtende Geografie verstand lange Zeit das Auge als ihr bevorzugtes Untersuchungsinstrument. Das „ich habe gesehen“ Herodots konnte mehrere Jahrhunderte überdauern und beinahe intakt zu uns gelangen. Der Totalitarismus des Auges lag allzu lange auf den Schultern der Geografie, als dass die im Übrigen etwas allzu emphatisch als quantitative Revolution bezeichnete Entwicklung der letzten Jahre eine wirklich neue Geografie zu begründen imstande gewesen wäre. Sicher, der Zwang der Visualität konnte mittlerweile etwas gelockert werden, das Forschungsobjekt der Geografie ist jedoch noch immer mehr durch Beobachtung „gegeben“ als methodisch „konstruiert“. Dabei ist freilich unbestritten, dass ohne Fundament nichts aufgebaut werden kann, dass also von etwas „Gegebenem“ ausgegangen werden muss. Der Blick, der den Dingen entgegengebracht wird, die Aufzeichnung von Bildern oder die Konsultation statistischer „Gegebenheiten“, die von irgendeinem Beobachter gesammelt wurden, konstituieren allerdings von sich aus noch kein spezifisches Forschungsobjekt, sondern lediglich eine simple, durch die Sprache

Theorien des Wirklichen und Geografizität

25

ihrer Kommunikation und Darstellung konditionierte Tatsache. Die Situation des Geografen ist in den meisten Fällen paradox: Einerseits versteht er die Welt als ein Ensemble starrer, vom Betrachter losgelöster Objekte, andererseits entnimmt er den verwendeten Theorien, dass der Sinn seiner Beschreibungen ebendiesen Theorien selbst entwächst (Putnam, 1984: 61). Es ist meiner Meinung nach die Tyrannei des Visuellen, die den Geografen nicht nur in diesem Paradox einschliesst, sondern ebenfalls daran hindert wieder hinauszufinden. Es ist weder ein Zufall noch eine schlichte Modeerscheinung, dass insbesondere die thematische Kartographie heute einen so zentralen Platz einnimmt und danach strebt, die Geografie zu ersetzen. Die Konstruktions-Leistung, die der Kartographie zugrunde liegt, sowie die visualisierbare Repräsentation, die sie produziert, verschaffen dem Geografen die Illusion, dem Paradox zugleich Externalist und Internalist zu sein entgehen zu können (Putnam, 1984: 61). Im Übrigen kann die thematische Kartographie dem Totalitarismus des Blicks ohne allzu schlechtes Gewissen verpfändet werden, da sie selbst ihrem Wesen nach nichts anderes als ein Instrument der Visualisierung darstellt. Die Illusion jenem Paradox zu entgehen wird von der Kartographie gerade deshalb genährt, weil sie effektiv ihr Objekt, respektive ihre Objekte konstruiert. Der Kartograph ist demnach zwangsläufig ein Internalist, ob er dies nun weiss und befürwortet oder nicht. Seine Zeichen stimmen nicht mit den realen Gegenständen überein, da sie nur in Abhängigkeit eines konzeptuellen Rahmens existieren (Putnam, 1984: 64). Graphische Zeichen stellen keine Objekte per se dar, sondern konventionell festgelegte Konstruktionen von Objekten. Die geografische Reflexion zielt nicht auf die Repräsentation von Objekten, sondern auf die Erklärung der Beziehungen zwischen dem Leben und den Dingen der Erde. Die von der Wirtschaft inspirierten, auf Preisen und Distanzen basierenden Konstruktionen der Geografie können in vielerlei Hinsicht mit dem Vorgehen der modernen Wissenschaft assimiliert werden. Dies ändert allerdings nichts daran, dass diese Art der Geographie, als Theorie der Wirklichkeit, ihrem Wesen nach die Räume und Territorien nur „stellte“, in Heideggers Sinn [als Entbergung der Natur], um einen Wert zu „pro-duzieren“. Der quantitativen Revolution gelang diesbezüglich tatsächlich der methodische Durchbruch, den ich mir allerdings stärker Bezug nehmend auf den „Raum als Einschränkung von Handelsweisen“ gewünscht hätte. Die grossen, grundsätzlichen Fragen in Ratzels Politischer Geographie und Anthropogeografie wurden einerseits nicht weiterverfolgt, konnten andererseits aber auch keine eigentliche Erneuerung der quantitativen Vorstellungskraft der Geografie begründen. Ich glaube deshalb weder an die Entwicklung einer neuen Problematik, noch – konsequenterweise – überhaupt an die Existenz eines bedeutenden epistemologischen Neubeginns der Geografie. Zweifelsohne waren die vergangenen zwanzig Jahre gerade deshalb mit epistemologischen Debatten ausgefüllt. Man spricht niemals so sehr über gewisse Dinge, als zum Zeitpunkt ihres Verlustes.

26

Territorialität als Paradigma

EINE FEHLENDE ONTOLOGIE Es geht mir keineswegs darum, eine ikonoklastische Welle der Kritik gegen die quantitative Geografie loszutreten. Umso weniger, als dass ich selbst in keiner Weise bedaure, einige Zeit darauf verwendet zu haben. Das Problem liegt weder in einer persönlichen Enttäuschung, noch in der Erkenntnis, dass das „Sensible“ und „Gefärbte“ vor dem „Numerischen“ und „Formellen“ zurückweichen musste. Ich bemerke lediglich, dass die Quantifizierung schlicht ihr Netz über die klassische Geografie ausbreitete, woraus sowohl ein unschätzbarer Gewinn an Kohärenz resultierte, über den man zu Recht stolz sein darf, als auch einige bemerkenswerte operative Möglichkeiten, um die Bewegungen der Ströme innerhalb des zu einem Support werdenden Raumes und Territoriums zu messen. Neben diesen Leistungen jedoch ist im Grunde nichts oder nicht viel auszumachen. Jedenfalls keine noch so wackelige geografische Theorie zur Interpretation partikulärer Phänomene, kein allgemeiner Rahmen zur Behandlung der Fragen, die der Lärm dieser Welt immer wieder hervorbringt. Am gravierendsten ist zweifelsohne die Tatsache, dass die Geografie im Spiel mit ihren neuen Instrumenten die Lust an der Suche nach einer eigenen Ontologie verlor. Oder genauer: Die zu einer Technik umfunktionierte Geografie, die nur noch die Werkzeuge anderer, formellerer Disziplinen anwendete, lehnte es ab, jene grossen, ihr zugrunde liegenden Fragen neu zu formulieren, die Glacken so treffend in Traces on the Rhodian Shore zum Ausdruck gebracht hatte (Glacken, 1967). Ich berufe mich hier nicht zufällig auf Heidegger als auf einen Philosophen, der zweifelsohne mehr als viele andere – Bachelard einmal ausgenommen – über die Beziehungen des Menschen zu einem Ort und durch einen Ort nachdachte. „Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen“ (Heidegger, 2000: 160 [1958: 188]). Wohnen ist hier nicht im engeren Sinn, sondern als ein grundlegendes Merkmal des Mensch-Seins auf der Erde zu verstehen, dessen Ausdruck Heidegger das Geviert nannte. „Die Erde zu retten, den Himmel zu empfangen, die Göttlichen zu erwarten, die Sterblichen zu geleiten“ (Heidegger, 2000: 161 [1958: 189–190]). Man beachte ebenfalls das grundsätzlich relationale Wesen des „Gevierts“, das genau jene Relationen umfasst, die die Geografie zu behandeln versäumte. Wir haben im Gegensatz dazu, über den Tauschwert, die Aneignung des Supports erschlossen. In Tat und Wahrheit kann dieser Support allerdings, wenn es sich um die Erde oder wenn man will um die Umwelt handelt, weder berechnet noch effektiv diskontiert werden. Die Methoden der „Regional Analysis“ W. Isards und seiner Epigone führten zur Aufsplitterung der Geografie. Dies mag zwar auch bedeuten, dass der Zustand der Geografie bereits zuvor fragil war, nicht jedoch, dass das Geviert als Grundlage der Geografie keine Wichtigkeit mehr für den Menschen besässe. Ich betone dies vor allem deshalb, weil ich mit Nachdruck darauf hinweisen will, dass sich die Geografie schrittweise ihrer philosophischen Beschäftigung entledigte. Nun denn, ich täusche mich mit Sicherheit, denn wie einmal ein Kollege zu mir sagte:

Theorien des Wirklichen und Geografizität

27

„Als Wissenschaftler betreibe ich keine Philosophie“. Peremptorisch und definitiv. Ich sah deshalb keinen Grund ihm zu antworten, dass seine „Wissenschaftlichkeit“ eine Philosophie beinhaltet, vor der er hätte lernen müssen, sich in Acht zu nehmen … oder doch zumindest, sie klarer auszudrücken. Eine Wissenschaft des Menschen, die ihre Verbindungen zur Philosophie kappt, verliert die Kontrolle über ihr Abdriften. Der Raum und das Territorium wurden von der neo-positivistischen Geografie „ge-stellt“, um einen Wert zu „pro-duzieren“. Dass die kritische Geografie diesen Prozess denunzierte reichte bei Weitem nicht aus. Stück um Stück wurde die Geografie auseinander genommen, bis sie zu einer ökonomistisch oder soziologistisch gefärbten Hilfsdisziplin verkam, die sich nur noch hinter ihren „Kartenspielen“ versteckte. Die Situation ist an sich paradox, ja geradezu absurd. Unsere Ökosysteme sind zerstört oder im Begriff zerstört zu werden; Risiken sind ubiquitär; unterbrochene Zyklen mehren sich, wir ignorieren alles. Die Dinge nehmen ihren Lauf, als ob wir uns nicht bewusst wären, dass der Mensch und die Erde ein grosses Ganzes bilden. „Ist die Rede von Mensch und Raum, dann hört sich dies an, als stünde der Mensch auf der einen und der Raum auf der anderen Seite“ (Heidegger, 2000: 158 [1958: 186]). Die quantitative Revolution der Geografie verwandelte den Raum in ein vis-àvis des Menschen, der sich seinerseits von den Zwängen der interagierenden Natur-Logiken befreit glaubte. Mit dieser Bemerkung will ich keineswegs die klassische und tatsächlich in vielen Fällen berücksichtigte „naturalistische“ Dimension der Geografie überhöhen. Ich unternehme lediglich den ernsthaften Versuch, die Beziehungen zwischen den öko-, bio- und sozio-Logiken darzustellen, die ihre Wirkung innerhalb der menschlichen Ökosysteme entfalten. ZU EINER THEORIE DER GEOGRAFIZITÄT Wir müssen an dieser Stelle einen Moment innehalten, um den zweiten Begriff des Titels zu betrachten: die „Geografizität“. Es mag erstaunen, ja geradezu komisch anmuten, diesen Begriff von Eric Dardel, einem verkannten, vergessenen und scheinbar einflusslosen Autor auszuleihen. Dabei bringt gerade dieser Begriff besser als andere die menschlichen Beschäftigungen innerhalb des Raumes und Territoriums zum Ausdruck. „Das Unbekannte zu entdecken, das Unerreichbare zu erlangen; die Sorge der Geografie ist zugleich Träger und Vorbote der objektiven Wissenschaft. Aus Liebe zum Heimatboden oder auf der Suche nach dem Fremden, eine konkrete Beziehung verbindet den Menschen und die Erde, eine Geografizität des Menschen als Modus seiner Existenz und seines sals“ (Dardel, 1952: 1–2).

Dardels Denken entwickelte sich gerade zu jener Zeit in einer Furche der klassischen Geografie, als die „Neue Geografie“ aufzutauchen begann. Dies dürfte ebenfalls die Unaufmerksamkeit erklären, mit der Dardel damals aufgenommen

28

Territorialität als Paradigma

wurde. Dabei spielt es an sich keine Rolle, ob Dardel ebenfalls auf eine humanistische Geografie hindeutete oder nicht. So oder so wird dadurch dem Wort „Geografie“ einmal mehr ein Adjektiv angehängt, was im Grunde zu vermeiden wäre. Dardel regt uns dennoch zum Nachdenken an, um zur Erkenntnis der eigentlichen Grundlage zu gelangen: der Geografizität des Menschen. Eine geografische Theorie der Wirklichkeit muss von dieser „Geografizität des Menschen“ ausgehen, „als Modus seiner Existenz und seines Schicksals“. Kurz gesagt, das Spiel der drei Logiken entwickelt sich von der Vergangenheit ausgehend über alle Zeiten hinweg. Die Neue Geografie begründete, indem sie die Geschichte grösstenteils umging, eine vermeintliche disziplinarische Selbständigkeit, die im Grunde immer eine Täuschung blieb. Die Geografizität ist ein Handlungsmodell, ein Modell der Praktiken und Kenntnisse, dessen Wurzeln im Wissensmodell der Historizität liegen. Sartre verstand dies sehr gut. „Die geografische Notwendigkeit erscheint also innerhalb der Geschichte. Die Geschichte ist genau das, wodurch es geografische Notwendigkeit gibt“ (Sartre, 2005: 197 [1983: 115]). Ritter und Ratzel hatten dies noch vor Sartre verstanden. Ihrem Beispiel wurde jedoch kaum Folge geleistet, ausser vielleicht von Reclus, dessen marginale Position innerhalb der damaligen Geografie hinlänglich bekannt ist. Populär, aber von der Universität zurückgewiesen. Ritter, Ratzel und Reclus hatten in ihren Werken eine sehr genaue Vorstellung der Geografizität. Wir jedoch wichen vor der Anstrengung zurück, eine Theorie der Geografizität auszuarbeiten, die es zumindest ermöglicht hätte, die verschiedenen Modelle der aktuellen Geografie miteinander zu verbinden, auch wenn sie nicht über das Stadium eines Gedankengebäudes hinausgekommen wäre. Gerade weil eine solche Theorie jedoch fehlt, scheinen die heutigen Geografen nicht aus der gleichen Zeit zu stammen. Ich will damit sagen, dass sich die Geografen heute nicht auf die gleiche „Kosmologie“ beziehen, um nicht erneut von einer Theorie zu sprechen. Die vorgängig erwähnte Krise der Umwelt beruht auf einer Geografizität, die die Erde zu einem „Dieses“ macht, das heisst, zu einer leblosen Materie, die es zu nutzen und zu verändern gilt. Die Welt bildet aus dieser Perspektive nicht mehr die Grundlage eines Modus’ der Existenz und des Schicksals. Für Dardel jedoch ist die Welt ein „Du“, um auf den Ausdruck Martin Bubers zurückzugreifen (Buber, 1969: 23). Ein „Du“, als Teil einer reziproken Beziehung. Die epistemologische Problematik der aktuellen Geografie entspringt der alternierenden Bewegung zwischen dem „Dieses“ und dem „Du“: „Die Welt als Erfahrung gehört dem Grundwort Ich-Es zu. Das Grundwort Ich-Du stiftet die Welt der Beziehung“ (Buber, 1966: 12 [1969: 23]). Wir benötigen, um diese Krise zu bewältigen, eine Geografizität der reziproken Relation. Damit verbunden ist ebenfalls eine Paradigma-Änderung, die sich seit mehreren Jahren anbahnt. Wir laufen dabei allerdings Gefahr unsere Fehler zu wiederholen, wenn wir nicht zur Anstrengung bereit sind, eine wirkliche Ontologie der Geografie auszuarbeiten. Jede Humanwissenschaft bewegt sich auf der Achse zwischen dem „Du“ oder dem „Dieses“, wobei heute vor allem die Beziehung „Ich-Du“ von zentraler Bedeutung zu sein scheint. Wir benötigen also ein

Theorien des Wirklichen und Geografizität

29

Paradigma, das sich auf das heimliche Einverständnis des Menschen mit der Welt bezieht, ohne jedoch die Quantifizierung und Formalisierung grundsätzlich in Frage zu stellen. GLOBALISIEREN UND AUFARBEITEN Verpasste die Geografie ein Vierteljahrhundert? Nein, sie hat mich nicht enttäuscht. Sie entsprach allerdings auch nicht meinen Erwartungen, weil sie – von ihrem Verlangen nach Modernität getrieben – ihre Theorie der Wirklichkeit von bereits formalisierten epistemologischen Gebieten auslieh. Ihre Bemühungen zielten eher auf eine Adaptation als auf eine Kreation. Statt wirklich neue Fragestellungen zu konzipieren projizierte die Geografie ihre ausgeliehenen Formen auf alte, nicht in angemessenen Begriffen neu dargestellte Probleme (Kleider machen Leute). Die „Neue Geografie“ war methodisch gesehen zu ungeduldig, weil es ihr eher um das Resultat als um den Prozess ging. Ich selbst tendiere zugegebenermassen eher in die Gegenrichtung. Das heisst, es fasziniert mich mehr, eine angemessene Vorgehensweise, als ein isoliertes Resultat zu finden. Was bedeutet dies? Dass ich mich beispielsweise eher dafür interessiere, ein globales, diachronisches Modell der Bevölkerungsentwicklung auszuarbeiten (das sich trotz aller möglichen Mängel auf die Interaktionen zwischen den öko-, bio- und sozioLogiken bezieht) als dafür, ein bereits existierendes Modell auf eine Bevölkerung eines bestimmten Gebietes anzuwenden. Weshalb? Erstens, weil ein globales Modell eine vertiefte geografische Reflexion voraussetzt, aus der sich zahlreiche weitere Probleme ergeben, die in den meisten Fällen noch nicht gelöst, ja noch nicht einmal korrekt dargestellt wurden. Zweitens, weil ein globales Modell zum unmittelbar Unerklärlichen vorstösst. Drittens, und vor allem, weil es uns dazu bringt, sinnvolle Hypothesen zu formulieren. Die Grundzüge der Geografie liegen unter solch reflexiven Prozessen verborgen, die einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung unserer Werkzeuge leisten. Einbruchdiebstähle können zwar nützlich sein, bringen eine Disziplin jedoch nicht wirklich weiter. Ich will damit sagen, dass sie es nicht wirklich erlauben, die Geografizität kollektiver Praktiken und Kenntnisse aufzudecken. In der Tat belegen viele Arbeiten, dass sich die Geografie schrittweise von der Geografizität abwandte. Die Modelle von Thünens, Webers oder Christallers, um nur die abgedroschensten zu erwähnen, wurden allmählich ihrer Geografizität beraubt. Infolge ihrer ausbleibenden Aufarbeitung bezieht sich keines dieser Modelle mehr wirklich auf die Frage der sozialen Existenz innerhalb eines Raumes oder Territoriums. Die Modelle bilden keine Instrumente mehr zur Konzeptualisierung konkreter Relationen, sondern wurden im Gegenteil zu einem schlichten Vorwand zur Geometrisierung der Welt. Der Ausdruck, eine „Modell aufzuarbeiten“ mag zwar aussergewöhnlich klingen, ich wähle ihn jedoch mit Bedacht und gutem Grund. Als Megakonzepte sind Modelle geprägt von ihrer Historizität, das heisst, einer gewissen Evolution ausgesetzt. Ein Modell ist immer auch das Produkt seiner Historizität. Dabei besteht

30

Territorialität als Paradigma

das eigentliche Drama der letzten 20 Jahre darin, dass wir oft die Geschichte insgesamt zurückwiesen und dadurch auch unsere Erklärungs-Modelle ihrer Historizität beraubten, respektive von der allgemeinen Evolution der Wissenssysteme ausklammerten. Dies ist vor allem deshalb unsinnig, weil dadurch Mauern um Produktionen errichtet werden, die notwendigerweise eine Austauschbeziehung zur Aussenwelt unterhalten müssen. „Aufarbeiten“ besitzt immer auch die Bedeutung einer Infragestellung der vormaligen, gegenwärtigen und zukünftigen Zeit. Was nicht mehr infrage gestellt werden darf wird isoliert, als ob rundherum hohe Mauern wären. Die Geografie der letzten 20 Jahre erscheint mir oft als eine Menge Antworten auf Fragen, die gar nicht gestellt wurden. Die „Neue Geografie“, wie (nebenbei bemerkt) auch die „alte“, bildet ein Netz von Antworten ohne Fragen ... Ich möchte, dass wir anfangen Fragen zu stellen. Denn Fragen sind wichtiger als Antworten. Weshalb so viele Antworten ohne wirkliche Fragen? Weshalb diese Fülle an Antworten und dieser Mangel an Fragen? Weshalb? BIBLIOGRAPHIE Buber M. (1969), Je et Tu, Aubier-Montaigne, Paris. Buber M. (1966), Ich und Du, Verlag Jakob Hegner, Köln [Originalausgabe: 1962]. Dardel E. (1952), L’homme et la terre, PUF, Paris. Glacken C.J. (1967), Traces on the Rhodian Shore: Nature and Culture in Western Thought from Ancient Times to the End of the Eighteenth Century, University of California Press, Berkeley. Heidegger M. (1958), Essais et conférences, Gallimard, Paris. Heidegger M. (2000), „Wissenschaft und Besinnung“, in, Vorträge und Aufsätze, Gesamtausgabe, Bd. 7, Vittorio Klostermann, Frankfurt. [Originalausgabe: 1953] Heidegger M. (2000), „Bauen Wohnen Denken“, in, Vorträge und Aufsätze, Gesamtausgabe, Bd. 7, Vittorio Klostermann, Frankfurt. [Originalausgabe: 1951] Putnam H. (1984), Raison, vérité et histoire, Editions de Minuit, Paris. Sartre J-P. (1983), Cahiers pour une morale, Gallimard, Paris. Sartre J-P. (2005), Entwürfe für eine Moralphilosophie, Rowohlt, Reibeck bei Hamburg [Originalausgabe: 1983].

TERRITORIALITÄT: KONZEPT ODER PARADIGMA DER SOZIALGEOGRAFIE? Claude Raffestin (1986) FRAGEN UND ZWEIFEL Es wäre angebracht, hinter jeden Begriff des Titels ein Fragezeichen zu setzen. Im Moment beschränke ich mich jedoch darauf, den Ausdruck „Sozialgeografie“ (Social Geography), dessen Inhalt insbesondere gegenüber demjenigen der „Humangeografie“ äusserst unklar ist, kritisch zu behandeln. Die Unbestimmtheit der Begriffsbedeutung geht so weit, dass „Social Geography“ und „Human Geography“ heute mehrheitlich als Synonyme betrachtet werden. Diese Begriffsüberschneidung mag im Französischen und Deutschen zwar etwas weniger ausgeprägt sein als im Englischen, die Trennwand ist aber auch hier höchstens thematischer und keineswegs theoretischer Natur. Dadurch wird vor allem die Absenz einer allgemeinen theoretischen Grundlage der Geografie deutlich. Aus diesem Grunde gelingt es der Geografie in ihrer heutigen Form auch nicht, ihre weit entwickelte, in internationalen Bibliographien zum Ausdruck gebrachte Forschungspraxis mit ihrem immer reichhaltigeren, aber auch schwerfälligeren methodischen Grundwissen, das insbesondere der Statistik und der Mathematik entliehen wurde, zu vereinbaren. Muss überhaupt noch betont werden, dass die quantitative Revolution keineswegs zu einer Weiterentwicklung der Grundproblematik oder -theorie der Geografie führte? Weiterentwickelt hat sich einzig die methodische Vorgehensweise. Diese formelle Kosmetik vermittelt zwar den Eindruck einer tief greifenden theoretischen Vision. Die Veränderungen betrafen jedoch in keiner Weise das Grundparadigma der Geografie, sondern äusserten sich einzig in der formalisierten Wiedergabe einer neuen Qualität der Herangehensweise. Nun ist zwar auch diese Entwicklung nicht zu unterschätzen, es wäre jedoch übertrieben, davon ausgehend von einer eigentlichen Theorie im Sinne eines zusammenhängenden Betrachtungsprogramms oder eines allgemeinen „Dechiffrierungs-Schlüssels“ geografischer Phänomene zu sprechen. Die Humangeografie verfügt zwar über einige theoretische Modelle, deren Erklärungsnutzen von der Struktur landwirtschaftlicher Nutzflächen oder urbaner Agglomerationen, über die Logik von Migrationsströmen bis zur räumlichen Verteilung sozialer Aktivitäten reicht. Eine grundlegende Theorie im ursprünglichen Sinne des Wortes, die diese Untertheorien zusammenführen könnte, ist jedoch nicht auszumachen. Damit will ich vor allem die Absenz einer allgemeinen Theorie zur Ökogenese des Territoriums hervorheben. Nur eine solche Theorie

32

Territorialität als Paradigma

könnte das wie und das warum der Prozesse der Territorialisierung, De- und ReTerritorialisierung von Räumen erklären. Sowohl die Gründe als auch die Modalitäten dieser Prozesse sind historisch bedingt. Wir treffen dadurch unweigerlich auf die grossen Gesellschafts-Theorien, die der Rolle des Territoriums allerdings, wenn überhaupt, meist nur einen minimalen Platz einräumen. Marx selbst hat durch sein Verschweigen jeglicher Form territorialer Morphologie einen eigentlichen Bannfluch über die Idee einer geografischen Theorie gelegt, indem er beispielsweise die Stadt-Land-Beziehung als Bezug zwischen zwei soziologischen, nicht aber zwischen zwei geografischen Kategorien betrachtete (Raffestin, 1985). Mit dieser Grundhaltung umging Marx immerhin das Risiko eines Determinismus’ des Raumes, in dessen Falle viele (und nicht die unbedeutendsten) Geografen tappten (Raffestin, 1995). Nun denn! Dabei hätte eine geografische Theorie zur Ökogenese des Territoriums rein gar nichts mit einem Determinismus des Raumes gemein, selbst wenn ihre materielle Formulierung zur Darstellung unterschiedlicher räumlicher Morphologien führen sollte, die allerdings nur als Ausdruck allgemeiner Organisationsprozesse zu verstehen wären. Die Theorien Von Thünens und Christallers beispielsweise können keinesfalls auf ein paar konzentrische Kreise, respektive Hexagone reduziert werden. Diese Figuren bringen vielmehr die Existenz übergeordneter Organisationsprinzipien zum Ausdruck. Der Zweck der Human- oder Sozialgeografie liegt nicht in der Betrachtung räumlicher Arrangements, was auch immer darüber gesagt wird. Eine solche Untersuchung stellt lediglich eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung der Geografie dar. Dies wird umso deutlicher wenn man bedenkt, dass sich nicht nur die Geografie mit der „Produktion des Territoriums“ beschäftigt. Ein Maler, ein Choreograph, ein Theater- oder Filmregisseur, eine Hausherrin die einen Tisch bereitet etc., sie alle beschäftigen sich mit räumlichen Arrangements, die in ihren mannigfachen Formen den Forschungsgegenstand einer noch zu entwickelnden Wissenschafts-Disziplin bilden, die unter der Bezeichnung Diathetik zusammengefasst werden könnte (Raffestin, 1985). Territoriale Morphologien entstehen erst durch die Kenntnisse und Praktiken der Realität des geografischen Raumes. Die Wurzeln einer Theorie zur Ökogenese des Territoriums liegen nicht innerhalb des Raumes selbst. Dieser stellt lediglich eine Art Ursprungsmaterie dar, die den menschlichen Handlungen zur Verfügung steht. Seine Gegebenheiten sind mehr oder weniger homogen, respektive mehr oder weniger gleichmässig und kompakt verteilt. Eine Theorie zur Ökogenese des Territoriums wurzelt vielmehr in den Kenntnissen und Praktiken menschlicher Gruppen, die den Raum beanspruchen, nutzen, formen und dadurch in ein Territorium verwandeln, das sich durch eine gewisse Bewohnbarkeit auszeichnet. Der Ursprung einer allgemeinen Theorie der Human- und Sozialgeografie liegt nirgendwo sonst als in den Praktiken und Kenntnissen einer Gruppe, das heisst konsequenterweise der Akteure, die diese Gruppe formen. Diese Praktiken und Kenntnisse äussern sich als Beziehungen zur Exteriorität und Alterität und werden durch die verwendeten Mediatoren moduliert. Die Ge-

Territorialität: Konzept oder Paradigma der Sozialgeografie?

33

samtheit dieser Beziehungen kann – in einer ersten, relativ wagen Annäherung – als Territorialität bezeichnet werden. Ich werde im Folgenden ausführlicher auf dieses Konzept eingehen, wobei ich mir bewusst bin, dass ich die Konfusion zwischen Human- und Sozialgeografie noch immer aufrechterhalte. Der Status der Sozialgeografie ist vor allem wegen ihrer seit längerem anhaltenden „Beheimatung“ auf dem Gebiet der Sozialstatistik äusserst unklar. Die Kartographisierung sozioökonomischer Daten, unterschiedlicher Einkommensklassen oder politischer und religiöser Gruppen allein macht noch keine Sozialgeografie aus, selbst wenn die daraus resultierenden thematischen Karten mit einem Kommentar versehen sein sollten. Eine kürzlich erschienene Publikation verdeutlicht geradezu exemplarisch, dass dadurch zwar unterschiedliche Attribute, nicht aber die wirklichen Praktiken sozialer Gruppen ausgedrückt werden können (Frémont, et al., 1984). Die klassische Sozialgeografie beschränkt sich im Normalfall darauf, Übereinstimmungen (und allenfalls Korrelationen) zwischen Attributen und Orten zu ermitteln. Man wird dabei immer auf irgendwelche Korrelationen stossen, die allerdings ausschliesslich auf konstruierten, in statistischer Form zum Ausdruck gebrachten Attributen beruhen. Diese Attribute unterscheiden sich deutlich von den als Praktiken im Raum verankerten Phänomenen. Jede grundlegendere Reflexion der Sozialgeografie muss von den Indizien, Spuren oder Zeichen ausgehen, die durch soziale Praktiken in das Territorium eingeschrieben werden. Wir müssen uns auf diese sozio-geografischen „Ablagerungen“ konzentrieren, die sowohl die Morphologie als auch die Praxis betreffen. Die Abhandlungen W. Hartkes und R. Rocheforts zum Phänomen der Sozialbrache sind diesbezüglich von zentraler Bedeutung, fanden jedoch bislang keine Fortsetzung. AUFSCHLUSSREICHE PHÄNOMENE Die erfolgreiche populärwissenschaftliche Verbreitung des Begriffs der Sozialbrache führte in den letzten Jahren zu dessen Banalisierung. An dieser Stelle ermöglicht der Blick auf die Sozialbrache eine fruchtbare Annäherung an das Phänomen der „Brachliegung“ des Territoriums, das im direkten Gegensatz zur territorialen „Inanspruchnahme“ steht. Wenngleich die Sozialbrache auf den ersten Blick statisch erscheinen mag, so basiert sie doch in Tat und Wahrheit auf Prozessen, die in sozialen Praktiken verwurzelt sowie in zielgerichtete Strategien eingebettet sind. Die Brachliegung des Territoriums muss deshalb nicht nur im Lichte vergangener, in Vergessenheit geratener Praktiken verstanden werden, von denen die Sozialbrache als sichtbares Zeugnis – gewissermassen als territorialer Überrest – zurückbleibt. Sie muss ebenfalls aus der Perspektive der zukünftig erwarteten Praktiken interpretiert werden, das heisst, als Referenz an eine Antizipation. Die Sozialbrache der Gegenwart offenbart sowohl eine Vergangenheit als auch eine Zukunft. Wir erkennen in ihr das Verblassen eines alten Systems von Beziehungen, aber auch das Auftreten eines potentiell neuen Beziehungssystems. Als Ort, der über vergangene Prozesse der Territorialisierung, über gegenwärtige

34

Territorialität als Paradigma

Prozesse der De-Territorialisierung sowie über zukünftige Prozesse der ReTerritorialisierung Aufschluss gibt, verdeutlicht die Sozialbrache ebenfalls die grundlegende Rolle endogener oder exogener Informationen sozialer Gruppen. Die Mechanismen der Brachliegung und Inanspruchnahme von Territorien betreffen nicht nur den materiellen, geografischen Raum, sie können beispielsweise auch auf der Ebene des „abstrakten Raumes der Arbeit“ auftreten, wenngleich dabei eine gewisse Mediatisierung durch einen konkreten Raum notwendig scheint. Ein Beispiel stellt die weiter oben erwähnte „Arbeit“ Rocheforts dar, deren Brachliegung von ebenso archaischen Sozialstrukturen geprägt ist, wie wir sie in Sizilien vorfinden. Die sichtbaren Phänomene der Brachliegung und der Inanspruchnahme bringen komplexe soziale Mechanismen zum Ausdruck. Sie sind die sichtbaren oder sichtbar gemachten geografischen Spitzen eines historisch gewachsenen Eisbergs. Ein Geograf, die mit territorialen Strukturen zu tun hat, läge deshalb völlig falsch, sich ausschliesslich auf die sichtbare Morphologie des Territoriums zu beziehen, da diese nur als Folge der Praktiken sozialer Gruppen verständlich ist. Die Geografie muss vielmehr dazu gebracht werden, die menschlichen Kenntnisse und Praktiken von Räumen und Territorien auszudrücken. Eine Theorie zur Ökogenese des Territoriums basiert notwendigerweise auf der Analyse der mediatisierten Beziehungen, die eine soziale Gruppe (d.h. die Gruppen-Mitglieder) zur Exteriorität und Alterität unterhält, um ausgehend von den verhandenen Ressourcen der Umwelt ihre Autonomie zu maximieren. Damit habe ich nun doch eine mögliche Definition der Territorialität aufgestellt. In Bezug auf die oben genannten Beispiele der Sozialbrache und der Arbeit bleibt zu betonen, dass im ersten Fall vor allem die Beziehungen zur Exteriorität, im zweiten Fall indes vor allem jene zur Alterität betroffen sind. Im Moment verfügt die Sozialgeografie weder auf einer induktiven noch auf einer deduktiven Ebene über eine allgemeine ökogenetische Theorie des Territoriums. In anderen Worten, wir können nicht sagen wie und warum Territorien strukturiert, destrukturiert oder restrukturiert werden, es sei denn wir stellten historische oder prospektive Überlegungen an, die allerdings nicht theoretischer Natur sind. Eine Theorie kann nicht nur als „Betrachtungsprogramm“ verstanden werden, wie ich dies weiter oben getan habe, sondern auch als „Reflexionsprogramm“. Ich wende mich im Folgenden in diese zweite Richtung, um die zwingende Notwendigkeit einer relationalen geografischen Theorie zu verdeutlichen. EINE URSPRUNGSUTOPIE Ein Reflexionsprogramm eröffnet immer auch eine Möglichkeit, ein Ensemble komplexer Mechanismen auf der Grundlage vereinfachter Verfahren zu verstehen. Eine Theorie ist demnach keine Erklärung der Realität. Sie ermöglicht höchstens die Identifikation der relevanten Aspekte einer Realität, um diese später vertieft

Territorialität: Konzept oder Paradigma der Sozialgeografie?

35

weiter zu theoretisieren. Ich schlage im Folgenden einen Tausch vor: die Substitution einer realen Konstruktion durch eine utopische Konstruktion. In einigen Ursprungsmythen, wie beispielsweise in der Entstehungsgeschichte Roms, lassen sich die Elemente einer ökogenetischen Theorie des Territoriums in epischer Form finden. Durch Romulus, als lebendes Subjekt, existiert die Zeit und der Raum Roms, denn „ohne lebendes Subjekt existiert weder Zeit noch Raum“ (Uexküll, 1956). Indem Romulus die äusserste Furche seines Feldes zieht setzt er eine „neue Zeit“ innerhalb der allgemeinen Zeit, d.h. ein neues Zusammenspiel von Verboten. Diesseits und jenseits, vorher und nachher. „Eco, hic et nunc“ sind die Worte Romulus’, weil „die Phänomenologie des Raumes und die Phänomenologie der Zeit immer vom Ort meines Körpers ausgehen. Der Körper befindet sich im Zentrum des Hier und Jetzt“ (Moles, Rohmer, 1972). Romulus greift in Raum und Zeit ein, er etabliert Normen und Verbote und er zieht eine Grenzlinie – dem Ausdruck „regere fines“ entsprechend –, die zugleich übersetzt [eine Intention], reguliert, differenziert und verbindet. Wenn wir den Mythos verlassen und uns eine utopische Situation vorstellen, als eine geografisch-mathematische Apologie heuristischer Natur, werden wir in einer andern Anordnung dieselben Komponenten wiederfinden. Auch hier benötigen wir wieder einen „Akteur“, in Form einer Gruppe, als Träger sozialer Praktiken und Kenntnisse. Aus Gründen die im Folgenden klar werden setze ich dabei voraus, dass diese Gruppe aus religiöser Überzeugung vollständig von dem „Prinzip des gleichseitigen Dreiecks“ durchdrungen ist und dass sich innerhalb der Gruppe die Ebenen des Glaubens und der sozialen Praktiken in absoluter Konkordanz befinden. Daraus folgt, dass auch die Produktion des Territoriums dieser Gruppe auf dem Prinzip des gleichseitigen Dreiecks beruht. Unsere Utopie ist vollkommen, weil die „Ideologie der Gleichseitigkeit“ perfekt umgesetzt wird, während im Gegensatz dazu die Verwirklichung einer Ideologie im realen Leben immer unvollständig bleibt. Ich gehe des Weiteren davon aus, dass sich unsere Gruppe in einer uniformen, homogenen und isotopen Ebene befindet in der – in Anbetracht der zur Verfügung stehenden Techniken – kein Ort gegenüber einem Anderen zu bevorzugen wäre. Diese klassischen Hypothesen mögen zwar unrealistisch scheinen, es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass die Irregularität der Dinge eine Realität grundsätzlich besser zum Ausdruck bringt. In der „Rauheit“ des realen Raumes ist ein Prinzip zwar ebenfalls zu beobachten, es manifestiert sich jedoch nicht in letzter Konsequenz. Zu einem bestimmten Zeitpunkt To umfasst unsere Gruppe eine Bevölkerung P, in der jedes Mitglied die Fläche eines gleichseitigen Dreiecks S benötigt, um seine Bedürfnisse abzudecken. Die Gesamtpopulation benötigt auf einer idealen Ebene die Fläche eines gleichseitigen Basisdreiecks P.S. Solange die Bevölkerung unverändert bleibt wird diese Fläche ausreichen. Falls sie jedoch wächst müssen auf dem Prinzip der Gleichseitigkeit beruhende Mittel gefunden werden, um die Fläche des Basisdreiecks zu erweitern. In diesem Fall besteht die Möglichkeit, an jeder Seite des ursprünglichen Dreiecks ein neues gleichseitiges Dreieck zu bilden, dessen Seitenlänge einem Drittel der Seitenlänge des Basisdreiecks entspricht.

36

Territorialität als Paradigma

Indem auf diese Weise alle Seiten des Basisdreiecks durch ein neues Dreieck erweitert werden, erhält unsere Figur die Form eines Davidsterns. Sollte nun die Bevölkerung erneut wachsen, wird dieser Prozess wiederum an den Seiten der neuen Dreiecke weitergeführt, etc. Wir nähern uns dadurch der bekannten Kurve Von Kochs, beziehungsweise der Figur einer Chimerischen Insel in „Schneeflocken-Form“ (Mandelbrot, 1984). Diesem Prozess der Raum-Strukturierung ist allerdings aufgrund der minimal benötigten Fläche S zur Befriedigung der individuellen Bedürfnisse jedes Gruppenmitglieds eine Grenze gesetzt. Sobald an den Seiten der bereits bestehenden Dreiecke keine neuen gleichseitigen Dreiecke der Mindestfläche S mehr gebildet werden können, wird unsere Bevölkerung gezwungenermassen in eine Krise stürzen, da ihr Wachstum nicht mehr mit dem Prinzip der Gleichseitigkeit zu vereinen sein wird.

Wir haben nun also eine Theorie zur Ökogenese des Territoriums, die – dem Totalitarismus entsprechend, den eine solche Gesellschaft voraussetzen müsste um ihre Normen und Prinzipen durchzusetzen – die Beziehung einer Gruppe zur Exteriorität (zum Raum) vollständig miteinbezieht. Dieser Theorie-Embryo, so abstrakt er auch sein mag, ermöglicht im Folgenden eine Reflexion über das Wesen der Beziehung zur Exteriorität. Dabei muss in erster Linie betont werden, dass die Beziehungen zum Raum, die diesen in ein Territorium verwandeln, keineswegs zufällig entstehen, sondern im Gegenteil durch selbst produzierte oder assimilierte Prinzipien einer Gruppe hervorgebracht werden. Wir folgern daraus, dass Gruppen ihr Territorium auf der Grundlage der verfügbaren Information, das heisst ausgehend von ihrer Semiosphäre, produzieren (Lotman, 1985). In unserem Beispiel erscheint das durch die Semiosphäre der Gruppe bestimmte Arrangement aussergewöhnlich rigide. Es handelt sich hierbei allerdings um eine Täuschung, die der Optik unseres Beispiels entspringt. Tatsächlich folgt auch die Morphologie ländlicher oder urbaner Gebiete sehr spezifischen Prinzipien, die zwar meist schlecht oder nur implizit zum Ausdruck gebracht werden, dabei jedoch die Be-

Territorialität: Konzept oder Paradigma der Sozialgeografie?

37

ziehungen zur Exteriorität nicht weniger stark prägen. In unserem Beispiel wird ebenfalls deutlich, wie die Gruppe von dem ursprünglich gegebenen Raum ausgehend ein ihren Bedürfnissen entsprechendes System dreieckiger Territorien konstruiert, da sie sich aus physischen und metaphysischen Gründen nur über die Form des gleichseitigen Dreiecks entfalten kann. Die Raum-Gliederung tendiert in diesem Fall in Richtung eines Hexagons. Damit verbunden ist das Problem wie mit den Grenzenlinien des Basisdreiecks umzugehen ist, die im Falle eines Bevölkerungswachstums ebenfalls erweitert werden müssen. Wie erwähnt ist zu erwarten, dass das angewandte Wachstumsprinzip seine Evolution im Endeffekt selbst blockiert, weil jeder Zuwachs mindestens eine Fläche S benötigt. Ich habe bisher noch nicht von den Beziehungen zur Alterität gesprochen, die neben anderen essentiellen Faktoren auch auf die Strukturierung des Territoriums (in Zentralitäten, Peripherien, Grenzen und Distanzen) zurückgehen. In unserem abstrakten Theoriebeispiel hängen die Beziehungen zur Alterität von den aufgestellten Grundprämissen ab. Damit verbunden ist die erwähnte Wachstumsblockade, die im Falle einer ausbleibenden Emigration zum Konflikt führen wird. Noch ausgeprägter als sonst erscheint in diesem Fall das Territorium als ein Gefängnis, basierend auf dem ursprünglichen Gefängnis des Raumes. Die Akteure an der Peripherie könnten natürlich versuchen, das Prinzip des gleichseitigen Dreiecks zu verlassen und auf andere Formen der territorialen Inanspruchnahme zurückzugreifen. Das heisst, sie könnten ein neues Entwicklungsmodell wählen. Dadurch entständen wiederum andere räumliche Arrangements, die jedoch unserer Vorstellung der Inanspruchnahme des Territoriums, respektive der Beziehung zur Exteriorität, keine grundlegend neue Richtung gäben. DIE TERRITORIALITÄT: KONZEPT ODER PARADIGMA? Der Ethologie entnommen, erfüllte die Territorialität ursprünglich die Rolle eines simplen Konzepts zur Behandlung materieller Territorien (wobei dem Attribut simpel hier keinerlei pejorative Bedeutung anhaftet). Dieses Stadium ist längst überschritten (Raffestin, 1981; 1982a, 1982b; Raffestin, Bresso, 1982). Das Verständnis der Territorialität als Beziehungssystem ermöglicht heute eine Neubegründung der Sozialgeografie, wie andernorts bereits aufgezeigt wurde (Racine, Raffestin, 1983). Praktiken und Beziehungen sozialer Akteure werden grundsätzlich durch Codes mediatisiert. „So wird beispielsweise die Praxis des Raum-gestaltenden Subjekts durch Wirtschaftsinstanzen mediatisiert, die ihrerseits auf den zentralen Konzepten der ‚Produktionsweise‘ oder allgemeiner der ‚Wirtschaftsformation‘ (d.h. der Gesamtheit aller Produktionsformen einer Gesellschaft) beruhen (Racine, Raffestin, 1983).

Im Falle eines Raum-benutzenden Subjekts kommt den ideologischen Organen eine grössere Bedeutung zu (Kirchen, Schulen, Medien etc.). Aus dieser Perspektive bestimmt tatsächlich das mediatisierte Beziehungssystem der Territorialität

38

Territorialität als Paradigma

das Forschungsfeld der Sozialgeografie: der Bezug zur Exteriorität und zur Alterität. Die Territorialität ist kein gewöhnliches Konzept mehr, sondern ein veritables Paradigma, das die komplexen Beziehungen zwischen einer menschlichen Gruppe und ihrer Umwelt umfasst, „wobei Umwelt hier als raumzeitliches Gebilde verstanden wird, respektive als ein Ensemble räumlicher und zeitlicher Gegebenheiten, das die Handlungen aus der Perspektive ihres Ablaufs in einem gemeinsamen raumzeitlichen Rahmen zu verbinden erlaubt“ (Racine, Raffestin, 1983).

Durch das Studium der Phänomene, die der Strukturierung konkreter und abstrakter Territorien zugrunde liegen, können die mediatisierenden Prinzipien von Beziehungen erkannt, klassiert und theoretisiert werden. Das Paradigma der Territorialität kehrt demnach die Ordnung der traditionellen geografischen Vorgehensweise um. Ihr Ausgangspunkt liegt nicht innerhalb des Raumes, sondern in den Instrumenten und Codes der Akteure, die Spuren und Indizien im Territorium hinterlassen. Eine Theorie der Ökogenese des Territoriums muss bei der Betrachtung dieser Codes ansetzen. Ich habe genau deshalb mit der Utopie des gleichseitigen Dreiecks „gespielt“, um die zentrale Bedeutung des Codes zu verdeutlichen, dessen Ursprung ich aus gutem Grunde nicht zu erklären suchte. Der „Dechiffrierungs-Schlüssel“ liegt nicht in der materiellen Realität des Raumes, sondern in der Semiosphäre, auf die eine menschliche Gruppe zurückgreift, um die materielle Realität zu verändern. Um zu handeln bezieht sich der Mensch auf einen semiotischen Raum, im weitesten Sinn des Wortes, dessen Grenze eine doppelte, konkrete und abstrakte Funktion ausübt. Diese Grenze bestimmt was verhindert und was verändert wird, respektive was in der Exteriorität zum Ausdruck kommt. Wo der Kulturraum einer Gruppe einen territorialen Charakter annimmt, äussert sich diese Grenze auf einer im elementaren Sinn räumlichen Ebene (Lotman, 1985). Diese Grenzfunktion der Semiosphäre kommt beispielsweise in multikulturellen Quartieren zum Ausdruck, in Städten, an Handelswegen oder in anderen kreolisierten Strukturen (Lotman, 1985). Von besonderem Interesse sind namentlich Territorien von geringer räumlicher Ausdehnung, in denen gleichzeitig mehrere Codes zur Anwendung gelangen, das heisst, in denen sich verschiedene Gruppen auf unterschiedliche Semiosphären beziehen. Wir finden in diesen natürlichen Laboratorien der Ökogenese des Territoriums alle Bedingungen der Vergleichbarkeit. Wenn ich von Territorien geringer Ausdehnung spreche, oder von einem mikro-geografischen Massstab, so denke ich zum Beispiel an Städte, in denen die Praktiken unterschiedlicher Gruppen eine vielfältige Morphologie hervorbringen. Dabei werden allerdings immer die gleichen, invariablen territorialen Grundformen zur Anwendung kommen. Man wird in allen Fällen gegliederte Flächen, lineare Netzwerke und Knotenpunkte finden, die die unabdingbare Grundlage sozialer Beziehungssysteme, der Territorialität, darstellen. Man könnte über das Territorium deshalb das gleiche sagen wie über die Sprache.

Territorialität: Konzept oder Paradigma der Sozialgeografie?

39

„Im Universum der Sprachen ist trotz seiner Vielfalt eine gewisse Regulierung der zu beobachtenden Unterschiede auszumachen. In jeder Sprache ist eine Art Beziehung erkennbar, die gewisse Funktionen mit gewissen Grundstrukturen vereint. Trotz ihrer scheinbar extremen Vielfalt liegen diese Strukturen innerhalb eines beschränkten Abweichungsbereichs“ (Hagège, 1985).

Die Analogie zwischen der Sprache und dem Territorium liegt also auf der Hand, umso mehr, als dass auch in der Linguistik von einem „Territorium der Zeichen“ gesprochen werden kann (Hagège, 1985). Die Merkmale der Territorialität können zweifelsohne am besten in spezifischen, klar eingeschränkten Situationen erkannt werden. Dabei denke ich im Speziellen an die Extremsituation des Gefängnisses. Wir haben es hier mit einer Situation par excellence zu tun, in der die Territorialität rigoros kodiert und von einem stark eingeschränkten raum-zeitlichen Gebilde umfasst wird. Die dadurch entstehenden Beziehungen können im folgenden Schema zusammengefasst werden (Valsangiacomo, 1985).

Theoretisch könnte die Gefängnis-Ideologie als die Absicht definiert werden, durch den Aufbau symmetrischer Beziehungen die spätere Wiedereingliederung des Gefangenen in der Zivilgesellschaft zu ermöglichen. Nun liegt bekanntlich ein Hauptmerkmal jeder Ideologie in ihrer in Wirklichkeit unvollständigen Verwirklichung. Im Bereich der Gefängnis-Praxis nimmt dieser Wesenszug geradezu überhand. Im puren Gegensatz zur eigentlichen Gefängnis-Ideologie sind hier alle entstehenden Beziehungen grundsätzlich asymmetrischer Natur. Man kann sich deshalb zu Recht fragen, ob in diesem Fall Ideologie und Utopie nicht zusammenfallen. Während die Territorialität im Normalfall sowohl asymmetrische als auch symmetrische Beziehungen umfasst, gewinnen innerhalb eines Gefängnisses die

40

Territorialität als Paradigma

asymmetrischen Merkmale die Oberhand. Die daraus resultierenden Machtbeziehungen ersticken jede Entwicklung symmetrischer Relationen bereits im Keime. Oder anders ausgedrückt, das Postulat der symmetrischen Territorialität des Gefängnisses ist rein fiktiv. In der Praxis führt die Axiomatik der Symmetrie zu einer relationalen Asymmetrie! Aus dieser Perspektive ist auch der Artikel 37, Ziff.1, des Schweizerischen Strafgesetzbuches letzten Endes utopisch: „Der Vollzug der Zuchthaus- und Gefängnisstrafe soll erziehend auf den Gefangenen einwirken und ihn auf den Wiedereintritt in das bürgerliche Leben vorbereiten“. Ungeachtet dieses Paradoxons ermöglicht das Paradigma der Territorialität einen fruchtbaren Zugang zur Gefängnis-Problematik, gerade weil es sich dabei um ein isoliertes und klar abgetrenntes „Territorium“ handelt. Damit will ich allerdings nicht sagen, dass die Gefängnisinsassen völlig von der Aussenwelt abgeschnitten wären. Ihre möglichen Interferenzen sind jedoch besonders stark kontrolliert, respektive kontrollierbar. Ich selbst habe versucht, das Paradigma der Territorialität auf die Thematik der Folter anzuwenden. Dabei wurde deutlich, dass die Problematisierung sozialer Beziehungssysteme eine interessante Möglichkeit zur Behandlung sozialer Fragen aus einer geografischen Perspektive eröffnet. „Die Möglichkeit der Folter besteht sobald eine Gesellschaft von asymmetrischen Beziehungen durchdrungen ist, die es der Macht erlauben, die Bewegungsfreiheit einzuschränken, Wohnungen zu kontrollieren sowie die Orte der Kontrolle zu vermehren“ (Raffestin, 1985).

Äusserst effizient erwies sich das Paradigma der Territorialität auch, wiederum aus einer eindeutig geografischen Perspektive, um das Phänomen der Theaterinszenierung, das heisst die Konstruktion imaginärer Territorien zu behandeln (Praplan, 1985). Diese Anwendungsbeispiele der Territorialität sind strukturell mit der dargestellten Ursprungs-Utopie vergleichbar. Sie deuten auf die Möglichkeit einer allgemeinen Theorie territorialer Inanspruchnahme, das heisst, auf die mögliche Theoretisierung der Ökogenese des Territoriums aus der Perspektive der ihr zugrunde liegenden Beziehungssysteme. Das klassische Erklärungsmodell der Sozialgeografie, das sich um die räumliche Beheimatung so genannt sozialer Phänomene kümmert, ist lediglich eine Präfiguration dessen, was eine Sozialgeografie leisten könnte, die sich auf die durch Codes mediatisierten Beziehungen konzentriert, aus denen die Strukturierungen und De-Strukturierungen des Territoriums hervorgehen. Der Raum ist eine unabdingbare Voraussetzung des menschlichen Handelns. Die geografische Notwendigkeit jedoch entwächst der Information, d.h. der Gesamtheit aller vorhandenen Codes der Handelnden. Aus diesem Grund, so scheint mir, ist die Sozialgeografie stärker durch die verbreitete Information konditioniert als durch den Raum selbst.

Territorialität: Konzept oder Paradigma der Sozialgeografie?

41

BIBLIOGRAPHIE Frémont A., Chevalier J., Hérin R., Renard J. (1984), Géographie Sociale, Masson, Paris. Hagège C. (1985), Homme de paroles, Fayard, Paris. Lotman J. (1985), La semiosfera, Massilio Editori, Venezia. Mandelbrot B. (1984), Les objets fractals, Flammarion, Paris. Moles A., Rohmer E. (1972), Psychologie de l’Espace, Castermann, Paris. Praplan B. (1985), Pour une approche géographique du Théâtre, Mémoire de Licence, Département de Géographie, Université de Genève, Genève. Racine J.-B., Raffestin C. (1983), „L’espace et la société dans la géographie sociale francophone. Pour une approche critique du quotidien“, in, Paeilinck J.H.P., Sallez A. (Hg.), Espace et localisation, Economica, Paris: 304–330. Raffestin C. (1985), „Marxisme et Géographie politique“, in, Cahiers de Géographie du Québec, Bd. 29, Nr. 77: 271–281. Raffestin C. (1981), „Les notions de limite et de frontière et la territorialité“, in, Regio Basiliensis: 119–127. Raffestin C. (1982a), „Travail et territorialité“, in, Instituto Studi Ecologica, Les rencontres de la Barbariga, Demain le travail, Economica, Paris: 147–154. Raffestin C. (1982b), „Remarques sur les notions d’Espace, de Territoire et de Territorialité“, in, Espaces et Sociétés, Nr. 41: 167–171. Raffestin C., Bresso M. (1982), „Tradition, Modernité, Territorialité“, in, Cahiers de Géographie du Québec, Bd. 26, Nr. 68: 186–198. Uexkull J. (1956), Monde humain et mondes animaux, Médiations, Paris. Valsangiacomo A. (1985), L’espace carcéral: Le prisonnier, ses besoins, ses réponses, Mémoire de licence, Département de Géographie, Université de Genève, Genève.

TERRITORIALITÄT: ABBILD DER DISKORDANZEN ZWISCHEN TRADITION UND MODERNITÄT Claude Raffestin (1984) Seit kaum zwanzig Jahren zieht der Begriff der Territorialität die Aufmerksamkeit der Humanwissenschaften auf sich. Keine zehn Jahre sind vergangen, seit die Territorialität von Disziplinen wie beispielsweise der Geografie aufgenommen wurde. Dieser Prozess, an dessen Nützlichkeit paradoxerweise nur wenige Geografen glauben, verlief im Übrigen äusserst zögerlich. Nun mag diese reservierte, um nicht zu sagen kühle Aufnahme an sich kaum von Belang sein, die ihr zugrunde liegenden Motive sind allerdings epistemologisch gesehen von zentraler Bedeutung. Welche Gründe könnten die nahezu vollständige Ablehnung der Territorialität, respektive die damit verbundene Langsamkeit der Begriffsverbreitung erklären? Könnte es sein, dass die Territorialität den Forschungsproblemen der Geografie nicht gewachsen wäre? Oder müsste der Grund im naturalistischen Ursprung des Begriffs gesucht werden, der als den Humanwissenschaften unangemessen wahrgenommen würde? Ohne hierauf eine univoke Antwort geben zu wollen glaube ich doch sagen zu können, dass die Angst vor der Territorialität vor allem darauf zurückgeht, dass diese als potentielles Paradigma zur irreparablen Spaltung der Einheit der Geografie in eine Naturwissenschaft einerseits, die physische Geografie, sowie in eine Humanwissenschaft andererseits, die Humangeografie, beiträgt. Als eine Art „Trojanisches Pferd“ beinhaltet die Territorialität die Gefahr, einen Prozess der Destrukturierung-Restrukturierung im Innern der Geografie als Wissenschaftsdisziplin auszulösen. Weshalb? Weil die Territorialität, als mediatisiertes Beziehungssystem eines Kollektivs (d.h. der umfassten Individuen) zur Exteriorität und/oder Alterität, nicht ein singuläres, sondern ein aus drei Teilen bestehendes Forschungsobjekt relationaler Natur postuliert: ein kollektives oder individuelles Subjekt, Mediatoren sowie die Exteriorität/Alterität. Die Geografie kennt trotz ihres Anspruchs, den klassischen Bezug MenschMilieu zu entwirren bisher keine relationale Problematik im eigentlichen Sinn. Deshalb konnte die Geografie auch keine wirkliche Theorie der Relation entwickeln, obschon deren Notwendigkeit aus zahlreichen Arbeiten hervorgeht (Serres, 1980: 174). Ist nicht der Mensch selbst im Grunde nichts anderes ist als ein Parasit (wobei wir diesem Begriff keinerlei pejorative Bedeutung beimessen)? Der Parasitismus ist in der Tat ein exzellentes Mittel, um das Problem der Relation zu verdeutlichen. Die Territorialität als Paradigma führte unweigerlich zu einer Rekonzeptualisierung des gesamten disziplinären Gebäudes der Geografie. Eine ziemlich unan-

44

Territorialität als Paradigma

genehme Angelegenheit, wie man sich denken kann! Umso unangenehmer, als dass dabei ganze Seiten dieses Gebäudes in sich zusammenzufallen drohen. Als „parasitärer Begriff“ birgt die Territorialität gewisse Risiken, gerade weil sie einer neuen Logik folgt. Wie dem auch sei, die Territorialität geht ihren Weg, wie man zugeben muss vor allem dank den Behavioristen. Diese Vorgehensweise mag zwar interessant sein, übersieht jedoch die zentrale Bedeutung des Mediators, da sie das Resultat (das Verhalten) dem Prozess gegenüber (dem Mechanismus der Relation) vorzieht. Noch wäre also einiges zu tun, um zu einem klareren Verständnis der Territorialität zu gelangen. Dies ist an sich vollkommen normal wenn man bedenkt, dass die Naturwissenschaften, von denen der Begriff ausgeliehen wurde, das Phänomen der animalen Territorialität seit beinahe drei Jahrhunderten behandeln, wobei ein umfassender konzeptueller Apparat entstand, der in unserem Fall noch weitgehend fehlt. Der Übergang von der animalen Territorialität zur humanen Territorialität verlief im bekannten Modus der Metapher und der Analogie, der reinen und simplen Transposition von Erklärungsmodellen. Allgemein bekannt sind beispielsweise die mit Ratten durchgeführten Arbeiten John B. Calhouns, die später auf Anregung des Autors selbst auf die Humanwissenschaften übertragen wurden. „In time, refinement of experimental procedures and of the interpretation of these studies may advance our understanding to the point where they may contribute to the making of value judgements about analogous problems confronting to human species“ (Calhoun, 1962: 148).

Ich lehne diese Analogie und Transposition nicht prinzipiell ab – wie könnte ich auch, ohne gleichzeitig jegliche Entwicklung ins Stocken zu bringen? –, erachte es jedoch als notwendig darauf hinzuweisen, dass durch die Übertragung der Resultate von Ratten auf den Menschen die fundamentale Rolle materieller und symbolischer Mediatoren vergessen wird. Tiere können ihrer Umwelt nicht entgehen, sie sind ihr ausgesetzt. Im Gegensatz dazu zeichnet sich der Mensch durch eine gewisse Flexibilität gegenüber seiner Umwelt aus und sei es nur aufgrund des absolut zentralen Mediators der Sprache. Auf eine materielle, konkrete Territorialisierung und Re-Territorialisierung kann eine abstrakte, symbolische ReTerritorialisierung folgen. Die Kultur wird als ein ultimer Raum gelebt, den es zu produzieren, zu organisieren, in einem Wort zu territorialisieren gilt. Der Mensch kann also im Gegensatz zu den Tieren die Ebene wechseln. Die ModellÜbertragung ist deshalb gefährlich, weil wir es keineswegs mit isomorphen Strukturen zu tun haben. So ist beispielsweise die Transposition der Resultate Calhouns auf die Schwarzen-Ghettos mit einer schwerwiegenden methodischen Hypothek befleckt, die zu keinem Zeitpunkt wieder gutzumachen ist. Solche Analogien bleiben oberflächlich und führen zur Entstehung von Mythen. Dessen ungeachtet stellt die humane Territorialität ein bedeutendes Phänomen dar, das es verdient hätte überdacht und konzeptualisiert zu werden. Um Missverständnissen vorzubeugen muss im Anschluss an Gadamer in erster Linie betont werden, dass „im Gegensatz zu allem anderen Lebendigen das Weltverhältnis des Menschen durch Umweltfreiheit charakterisiert ist. Solche Umweltfreiheit

Abbild der Diskordanzen zwischen Tradition und Modernität

45

schliesst die sprachliche Verfasstheit der Welt ein“ (Gadamer, 1986: 448 [1976: 297]). Genau hier (im exosomatischen Mediator als eine dritte Ebene) liegt der Unterschied zwischen der menschlichen und der animalen Territorialität. „Tiere können ihre Umwelt verlassen und die ganze Erde durchwandern, ohne dass sie damit ihre Umweltgebundenheit sprengen. Erhebung über die Umwelt dagegen ist für den Menschen ‚Erhebung zur Welt‘ und bedeutet nicht ein Verlassen der Umwelt, sondern eine andere Stellung zu ihr, ein freies, distanziertes Verhalten, dessen Vollzug jeweils ein sprachlicher ist. Eine Sprache von Tieren gibt es nur per aequivocationem“ (Gadamer, 1986: 448 [1976: 297]).

Anders gesagt, die humane Territorialität befasst sich nicht nur mit dem Bezug zu konkreten, sondern auch zu abstrakten Räumen, nicht nur mit dem Bezug zu Dingen, sondern auch zu Lebewesen. Die humane Territorialität muss folglich als umfassender und komplexer Prozess des Austauschs und/oder der Kommunikation verstanden werden, der es erlaubt, unsere Bedürfnisse an Energie und Information zu befriedigen. Wie kann die humane Territorialität nun aber beobachtet, untersucht und verstanden werden? Über die Alltäglichkeit [„quotidienneté“], die den „Ort des Konflikts darstellt zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen in unserer Gesellschaft, in unserer Epoche“ (Lefebvre, 1972: 39 [1968: 50]). Das Alltägliche ist jener „Ort“, in dem wir uns die Dinge aneignen; jener Ort aber auch, in dem wir von den Dingen angeeignet werden. „Das Alltägliche, das ist das Bescheidene und das Solide, das Selbstverständliche, das, dessen Teile und Fragmente sich in einem Stundenplan verketten“ (Lefebvre 1972: 40 [1968: 51]). Ist das „Selbstverständliche“ nicht gerade das, was wir im Allgemeinen nicht wahrnehmen, dessen Absenz wir jedoch als unerträglich empfinden? Die Alltäglichkeit bildet jenen unabdingbaren Bezugspunkt, jenes Koordinatensystem, zu dem wir uns situieren und das uns situiert… gegen unseren Willen. Jede über den Modus der Konkatenation und der Repetition konstruierte und gelebte Alltäglichkeit beruht auf dem Beziehungsnetzwerk der Territorialität. Die Alltäglichkeit bildet die sichtbare Superstruktur in der wir treiben (das „Selbstverständliche“), während die Territorialität die Infrastruktur formt, die aus jenen Praktiken und Kenntnissen gewoben ist, die für jede Handlung unerlässlich sind, ohne dabei allerdings explizit zum Ausdruck zu kommen. Man könnte sagen, dass die Territorialität aus jenen kurzoder mittelfristig invarianten Strukturen besteht, die von der Alltäglichkeit in unterschiedlichsten Formen realisiert und mannigfach „gekleidet“ werden, dabei jedoch allesamt denselben Kern aufweisen. Bringt nicht Erwin Goffman in La mise en scène de la vie quotidienne genau dies zum Ausdruck (Goffman, 1973)? Der Begriff der Inszenierung [„mise en scène“] deutet auf die Existenz von Beziehungen hin, die sehr genau begrenzt und bestimmt, um nicht zu sagen codiert sind. Inszenierung bedeutet auch Ratifizierung der zu einem bestimmten Moment, an einem bestimmten Ort und unter bestimmten Umständen notwendigen Prozesse. Die Inszenierung kann deshalb als die „Territorialität“ eines Theaterstücks verstanden werden. Wenn wir davon absehen, dass die Inszenierung das Werk eines erkenn- und identifizierbaren Regisseurs ist – während die Territorialität eine soziale Tatsache, respektive ein Ensemble nicht sofort erkenn- und identifi-

46

Territorialität als Paradigma

zierbarer sozialer Tatsachen darstellt –, so ist die Beziehung zwischen einer Inszenierung und einem Theaterstück in etwa die gleiche, wie zwischen der Territorialität und der Alltäglichkeit. Der Vergleich zwischen Spiel und realer Existenz sollte allerdings nicht überstrapaziert werden, obschon uns eine ganze humanwissenschaftliche Strömung dazu einlädt. Der Unterschied liegt in der Zeit. Im Gegensatz zum sozialen Leben zeichnet sich das Wesen des Spiels in erster Linie durch seine Diskontinuität aus. Wenn die Territorialität zu einem Paradigma der Humanwissenschaften wird, so ist dies auch deshalb weil wir glauben, uns dadurch ein Mittel zur Untersuchung der für uns unbeherrschbaren Umwelt zu verschaffen. Ich zögere keinen Moment zu betonen, dass wir es hier im Hinblick auf die nächsten zwanzig Jahre, die mit dem Problem des Raumes konfrontiert sein werden, mit einem im Entstehen begriffenen Pionier-Paradigma zu tun haben. Darauf aufbauend möchte ich nun über die Frage des Mediators, die ich anschliessend mit der Thematik der Tradition und der Modernität verbinde, das zentrale Element der Territorialität behandeln. Im Tractatus logico-philosophicus schreibt Wittgenstein, „die Grenzen meiner Sprache bestimmen die Grenzen meiner Welt“ (Wittgenstein, 1961: 141). Mit anderen Worten, die Grenzen meiner Mediatoren bestimmen die Grenzen meiner Territorialität. In Anbetracht des Isomorphismus der beiden Aussagen reicht dieser Vergleich weit über die Ebene der Analogie hinaus. Der Mediator ermöglicht die Artikulation der ternären Relation Subjekt – Mediator – Objekt. Ob es sich nun um eine Wahrnehmung oder um eine Handlung handelt, das Wesen des Mediators ist entscheidend, um sowohl den Prozess als auch das Resultat zu verstehen. Der Mediator beeinflusst sowohl die Wahrnehmung, als auch die Handlung, wobei ich bewusst nicht von einer Determinierung spreche. Der Mediator – als Instrument, Symbol, Code oder Technik – besitzt immer eine bestimmte Reichweite, die ihrerseits eine gewisse Limite begründet. Das Konzept der Territorialität führt notwendigerweise zur Wiederentdeckung der Bedeutung der Limite. Auch in diesem Zusammenhang verfügen wir allerding über keine eigentliche Theorie, obwohl eine solche zu einer unabdingbaren Voraussetzung zur Weiterentwicklung der Territorialität als Paradigma würde. Jede Limite übersetzt [eine Intention], reguliert, differenziert und… verbindet, auch wenn dies oft nicht den Anschein macht. Daraus folgt, jede Territorialität, als ein System von Limiten, ist zugleich Übersetzung, Regulierung, Differenzierung und Beziehung. Es wäre indes weit gefehlt davon auszugehen, die innerhalb einer Beziehung zur Anwendung kommenden Mediatoren stammten allesamt aus derselben Zeit. Mediatoren werden vielmehr wie Sedimente in einer Kultur abgelagert und müssen deshalb über eine Art Archäologie oder Stratigraphie verstanden werden. Diese Feststellung bringt uns unweigerlich zum Problem der Tradition und der Modernität. Unsere Alltäglichkeit besteht zugleich aus Tradition und Modernität. An diesem Ort des „Lebens“ und/oder des „Überlebens“ bildet die „physio-Logik“ (das heisst die Logik des Lebens oder genauer gesagt des Körpers) in Verbindung mit den „öko-“ und „sozio-Logiken“ eine erste Form der Tradition. Tradition in dem

Abbild der Diskordanzen zwischen Tradition und Modernität

47

Masse, als dass die Praktiken und Kenntnisse verschmelzen, die der biologischen Reproduktion zugrunde liegen. Die Menschheit brauchte effektiv mehrere Jahrhunderte, um ihre Kenntnisse der Reproduktion des Lebens explizit auszudrücken. Die biologische Reproduktion stellte deshalb lange Zeit so etwas wie ein höchstwahrscheinlich gelungenes Experiment dar. Die Tradition aktualisiert die „Praxis“, wobei gleichzeitig die „Kenntnis“ potenziert wird, die die Beherrschung und Kohärenz der Praxis sicherstellt. Dies gilt nicht nur für die physio-Logik, sondern auch für die öko- und sozio-Logik. Das Leben beruhte in der Vergangenheit auf unterschiedlichen Traditionen des Körpers, der Natur und der Gesellschaft, die sowohl die sozialen Handlungsweisen bewahrten, als auch die Arbeit umrahmten. Tatsächlich kamen diese Traditionen fast immer in erster Linie in der Arbeit, die die vorhandenen Fähigkeiten mit den durch „Erfahrungen“ gefestigten Befugnissen zusammenbrachte, zum Ausdruck. Als ursprünglicher Mediator bildete die Arbeit ein genaues Abbild der Territorialität. Der Einsatz der erwähnten Traditionen war allerdings an rigide Bedingungen geknüpft, die von den öko- und sozio-Logiken der jeweiligen Orte, Zeitpunkte und Gruppen bestimmt wurden. Eine Veränderung dieser „Logiken“ führte deshalb oft zu einer Beeinträchtigung der Effizienz der bis dahin erfolgreichen Praktiken der Tradition. Die Alltäglichkeit konnte also durch unerklärbare Veränderungen erschüttert werden, die umso schwerer wogen, als dass dabei die „traditionellen“ Gesten nicht mehr zu den erhofften Resultaten führten. Dabei musste die Alltäglichkeit schlicht jene Veränderungen aufnehmen, die auf der Ebene des Beziehungssystems der Territorialität, respektive der erwähnten öko- und sozioLogiken auftraten. Gerade weil die Tradition die Kenntnis dieser Logiken potenziert war es indes kaum möglich, den Ursprung einzelner „Katastrophen“ genau zu bestimmen, den man deshalb Ereignissen zuschrieb, die keinerlei Bezug zu den tatsächlichen Gründen aufwiesen. Mit anderen Worten, die Tradition erlaubte es infolge der fehlenden expliziten Auslegung der Kenntnisse kaum, mit der Unvorhersehbarkeit struktureller Veränderungen fertig zu werden. Die erschütterte Territorialität äusserte sich zwangsläufig, bis ein neues Gleichgewicht gefunden wurde, in Form einer tragischen Alltäglichkeit. Daraus folgt, dass die aus der Konfusion zwischen Praxis und Kenntnis resultierende Rigidität der Tradition immer auch ein gewisses Gefahrenpotential für die Autonomie sozialer Gruppen beinhaltet, die den unverständlichen Veränderungen machtlos gegenüberstehen. Die explizite Auslegung der Kenntnisse, oder besser, die Dichotomie zwischen Kenntnis und Praxis ist ein zentrales Merkmal der Modernität, die in diesem Sinne als ein dem westlichen Denken eigener Spaltungsprozess definiert werden kann. Dieser Prozess fand zwischen dem 16. und dem 17. Jahrhundert statt, wie Lenoble aufzeigen konnte. „Der Mensch des Mittelalters und der Renaissance lebt in der Natur der ‚Formen‘ und ‚Substanzen‘, die mit gewissen ‚Qualitäten‘ verbunden werden (rot, blau, warm, kalt, feucht etc.) und über deren Kombination die Diversität der Dinge geformt und erklärt werden kann. [...] Diese Natur bildet eine Ordnung, die ungefähr unseren Bedürfnissen entspricht. Der Mensch des 17. Jahrhunderts gewöhnt sich daran, in einer Welt wissenschaftlich definierter, durch quantitative Messungen erklärbar gemachter ‚Phänomene‘ zu leben. Diese Welt ist nicht

48

Territorialität als Paradigma mehr unsere Welt, sie folgt Gesetzmässigkeiten, die von unseren Wünschen losgelöst wurden. Im Grunde sind alle Phänomene äquivalent und besitzen, jedes für sich, denselben Wert“ (Lenoble, 1957).

Mir scheint der Gegensatz zwischen Tradition und Modernität kann nicht besser zum Ausdruck gebracht werden. Es steht ausser Zweifel, dass unser Alltag sukzessive von dem Prinzip der Modernität durchdrungen und modifiziert wurde. Unsere Alltäglichkeit erscheint heute jedoch vor allem auch deshalb in einem neuen Licht, weil sie nun erklärt wird. Das frappanteste Beispiel ist diesbezüglich wohl Pascals Erfindung der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Dadurch wird jenes Spiel, das so innig mit der Alltäglichkeit verbunden und so stark mit Affektivität beladen ist, durch seine Messbarkeit plötzlich „kalkulier-“ und voraussehbar. Eine singuläre, spielerische Praxis kann nun durch Kombinatorik erklärt werden. Jedes Spiel basiert auf Wahrscheinlichkeits-Berechnungen. Die Territorialität des Spielers ist deshalb an sich nachvollziehbar und verständlich. Die Modernität hat freilich nicht die gesamte Alltäglichkeit, sondern nur einzelne Inseln unseres Lebens durchdrungen. Wir stehen nicht vor einem Kontinent, sondern vor einem Archipel der Modernität. Die Modernität ermöglicht eine Kombination von Praktiken und Kenntnissen, die zuvor nicht miteinander in Verbindung gebracht wurden. Es ist dies die Geburtstunde der erfinderischen Kombinatorik, in deren ars combinatoria Leibniz ein Meister war. Das Prinzip der Modernität impliziert, ausgehend von der damit verbundenen Spaltung zwischen Praxis und Kenntnis, eine Steigerung sowohl der Autonomie als auch der Komplexität einer Gruppe. Tradition und Modernität sind in der heutigen Welt, oder genauer gesagt in der heutigen Alltäglichkeit, eng miteinander verschmolzen. Es gibt also nicht nur eine, sondern mindestens zwei Territorialitäten, das heisst, je ein von der Tradition und ein von der Modernität geprägtes Beziehungssystem. Weil wir ebenfalls berücksichtigen müssen, dass sich die Territorialität nicht nur auf das konkrete, sondern auch auf das abstrakte Territorium bezieht, respektive aus dem Gebrauch von Mediatoren resultiert, die sowohl der Tradition als auch der Modernität entstammen, ist die Sache noch komplizierter. Grundsätzlich sind vier Mediations-Modi denkbar, wobei wir unter dem abstrakten Territorium die soziale, respektive unter dem konkreten Territorium die räumliche Organisation einer Gesellschaft verstehen können. Diese Mediations-Modi entsprechen jeweils unterschiedlichen TerritorialitätsTypen, wobei insbesondere die grundlegenden Diskordanzen zwischen dem zweiten und dem dritten Modus hervorgehoben werden müssen. Die andern beiden Modi sind entweder rein theoretischer Natur oder aber repräsentieren zumindest keine allzu häufig auftretenden Territorialitäts-Typen. Die Situationen II und III sind deshalb von besonderem Interesse.

Abbild der Diskordanzen zwischen Tradition und Modernität

49

Aus der Perspektive unterschiedlicher räumlicher und zeitlicher Massstäbe wird deutlich, dass das konstruierte (konkrete) Territorium unserer urbanen Gesellschaft zuerst einmal in die übernommenen Städteformen einfloss. Zwar erbaute die industrielle Gesellschaft auch selbst einige als neu zu bezeichnende Städte, deren Zahl mutet jedoch im Vergleich zu den „geerbten“ Städten geradezu lächerlich an. Wir haben die Städte in denen wir wohnen nicht eigentlich neu erschaffen. Wir haben lediglich alte Städte neu gestaltet, respektive auf die Gebiete extra muros projiziert und „aufgebläht“. Im Gegensatz zu dieser Entwicklung, die ungefähr der Situation III unseres Schemas entspricht, kann vor allem in den Ländern der Dritten Welt meist die Situation II beobachtet werden. Michel de Certeau hat in Arts de Faire das Problem dieser Situation genau beschrieben. Vergleicht er nicht Tradition und Modernität wenn er schreibt: „Die gegenwärtige Form von Marginalität ist nicht mehr die von kleinen Gruppen, sondern eine massive, massenhafte Marginalität. Sie ist eine kulturelle Aktivität von NichtKulturproduzenten, eine unmerkliche, nicht entzifferbare und nicht symbolisierte Aktivität, die aber dennoch die einzige Möglichkeit für alle diejenigen bleibt, die die Show-Produkte, in denen sich eine produktivistische Ökonomie buchstabiert, bezahlen, indem sie sie kaufen. Sie wird universell. Diese Marginalität ist zur schweigenden Mehrheit geworden“ (De Certeau, 1988: 20 [1990: XLIII]).

De Certeaus „Nicht-Kulturproduzenten“ beziehen sich ihrem Wesen nach auf ein traditionelles abstraktes Territorium, das von der sozialen Aufspaltung zwischen Praxis und Kenntnis noch unberührt blieb. Diese Nicht-Kulturproduzenten können keine Modernität erschaffen, weil sie nicht im Besitze des Schlüssels sind, mit dem das kombinatorische Feld geöffnet werden könnte. Sie weiten deshalb den Kreis jener Gegen-Gesellschaft aus, wie es Norbert Wiener formulierte, die Zugriff auf die Objekte der Modernität besitzt, ohne jedoch an deren Produktion

50

Territorialität als Paradigma

und Kontrolle beteiligt zu sein. Ihre Territorialität ist diskordant. Sie manipulieren die Dinge der Modernität, ohne sie selbst zu erschaffen, wodurch ihre Möglichkeiten des Informations-Zugriffs paradoxerweise je länger je mehr abnehmen. De Certeau liegt hier völlig richtig. „Das Verhältnis der Prozeduren zu dem Kräftefeld, in das sie eingreifen, muss also zu einer ‚Kriegswissenschaftlichen‘ Analyse der Kultur führen. Wie das Recht, das ein Modell dafür ist, bringt die Kultur Konflikte hervor und legitimiert, verschiebt oder kontrolliert das Recht des Stärkeren“ (De Certeau, 1988: 20 [1980: XLIV]).

Auch die erwähnten Diskordanzen können „kriegswissenschaftlich“ untersucht werden, wobei jede Relation auch als Träger einer Macht zu verstehen ist. Wir können auf diese Weise alle Praktiken des Raumes untersuchen, die einer Verbindung aus Tradition und Modernität entspringen. Die Modernität schreibt sich beispielsweise auch in den Städtebau ein, der einen utopischen Diskurs zur Stadt postuliert. Dieser Diskurs artikuliert drei Vorgänge: „Die rationale Organisation muss alle physischen, geistigen oder politischen Verunreinigungen unterdrücken, die sie kompromittieren könnten. […] Eindeutige wissenschaftliche Strategien, die durch das Einebnen aller Gegebenheiten möglich geworden sind, müssen die Taktiken der praktisch Handelnden ersetzen, die je nach Gelegenheit ihr eigenes Spiel spielen und dabei – ein Lapsus der Überschaubarkeit – überall wieder die Undurchsichtigkeit der Geschichte einführen; die Schöpfung eines anonymen und universellen Subjekts, also der Stadt selber“ (De Certeau, 1988: 184 [1990: 143]).

Die Diskordanzen zwischen den Taktiken der praktisch Handelnden und den Strategien der Urbanisten stimmen ziemlich genau mit den Diskordanzen zwischen Tradition und Modernität überein, wobei zahlreiche Autoren auch auf die damit verbundenen gesellschaftlichen Kosten hinwiesen. „Wenn heute grosse Siedlungsbaugesellschaften möglichst unter Ausschaltung von Architekten, Städteplanern, von Sozialpsychologen und Psychoanalytikern ganz zu schweigen, mit Hilfe angestellter Techniker sich an das Erstellen von Wohnraum machen, dann haben wir hier jene fatale Berührung der Extreme, die so lange menschliches Schicksal bleibt, wie wir ihr Zustandekommen nicht durch eine Änderung unserer kritischen Einstellung durchschauen. Das führt zu schlimmen Folgen: der Wunsch, allen eine menschenwürdige Behausung zu schaffen, wird dadurch effektvoll zunichte gemacht, dass für alle eine Umwelt entsteht, die ein soziales Engagement gar nicht aufkommen lässt“ (Mitscherlich, 1970: 42 [1970: 54]).

Das von der Modernität geformte konkrete Territorium ist kein guter Mediator zur Förderung des sozialen Engagements. Es hemmt im Gegenteil dessen Entwicklungs-Möglichkeiten. Falls das konkrete Territorium gewisse Aspirationen nicht berücksichtigt wird es selbst zu einer Behinderung der Gruppenautonomie. Ungeachtet aller anders lautenden Befunde ist die Modernität keineswegs per se der Tradition überlegen. In Bezug auf die städtische Organisation scheint die Spaltung zwischen Praxis und Kenntnis indes geradezu verantwortungslos. „Neue Städte, neue Quartiere, Trabantensiedlungen (und was sonst noch vom wilden Wachstum der Bevölkerung zeugt) lassen sich rasch fabrizieren. Aber man muss verhältnismässig lange darin wohnen. Auch unter heutigen Rentabilitätsberechnungen noch zwei, drei und mehr Generationen“ (Mitscherlich, 1970: 43 [1970: 56]).

Abbild der Diskordanzen zwischen Tradition und Modernität

51

Die urbane Territorialität wird also insbesondere der identitätsstiftenden Relationen, das heisst der Partizipations-Möglichkeiten, beraubt. Chombart de Lauwe wies zur Erklärung dieser Diskordanzen auf den Unterschied zwischen der institutionalisiert-kodifizierten Gesellschaft einerseits sowie der alltäglichen Infragestellung dieser Codes und Institutionen andererseits hin (Chombart de Lauwe, 1982: 24). Man bemerke dabei ebenfalls die zentrale Bedeutung des Begriffs der Limite. „Diese Unterschiede können Limiten und Margen erschaffen, die eine zentrale Rolle innerhalb der sozialen Beziehungen spielen, ohne von der Bevölkerung bewusst wahrgenommen zu werden“ (Chombart de Lauwe, 1982: 25).

Die Diskordanzen zwischen Tradition und Modernität betreffen allerdings nicht nur konkrete Territorien. Das Territorium der Sprache, oft das letzte Territorium all jener, die auf der Ebene des Raumes selbst de-territorialisiert wurden, bildet einen weiteren „topos“ dieser Konflikte. So erschütterte beispielsweise die Französische Revolution, im Anschluss an die Spracherhebung Abbé Grégoires, die Territorialität rund der Hälfte aller Franzosen durch den Vorsatz, die lokalen Vernakularsprachen auszurotten, um die Verbreitung der französischen Offizialsprache durchzusetzen. Französisch stand für Modernität, während die Vernakularsprachen die Tradition verkörperten. Dieser Prozess der De-Territorialisierung/Re-Territorialisierung erstreckte sich beinahe über ein ganzes Jahrhundert. Der Übergang von der Oralität zur Skripturalität folgte einer ähnlichen, um nicht zu sagen identischen Logik. Die Veränderung des Kommunikations-Modus’ zieht immer auch eine Veränderung des Denkens nach sich (Goody, 1979). Dadurch nimmt auch die Territorialität die neuen Diskordanzen zwischen Tradition und Modernität auf. Die Skripturalität ist keineswegs als eine blosse Fortsetzung der Oralität mit anderen Mitteln zu verstehen, sondern im Gegenteil fundamental anders geartet. Sie bildet ein anderes „Territorium“, das anders konstruiert wird und wiederum andere Beziehungen begründet. Wir haben es also mit einer radikalen Modifikation der Limiten-Systeme zu tun, da die skripturale Welt grundsätzlich anders delimitiert ist als die orale Welt. Diese Liste ist nicht abgeschlossen. Ich könnte damit fortfahren weitere Beziehungssysteme unserer Alltäglichkeit zu behandeln, von der Arbeit bis zum Glauben, über die Praktiken des Wohnens. Es scheint mir jedoch nützlicher, die Aufmerksamkeit nochmals auf den allgemeinen Mechanismus der Mediatisierung zu lenken, der sich im Zentrum der Territorialität befindet. Es ist von zentraler Bedeutung, über den Modus der Mediatisierung, das heisst im Speziellen über die artikulierenden Mediatoren unserer Beziehungen nachzudenken. Dies ist umso wichtiger, als dass die einschneidenden, unsere Territorialität nachhaltig erschütternden Veränderungen dieses ausklingenden 20. Jahrhunderts vor allem auf die massive Substitution alter Mediatoren durch neue Mediatoren zurückgehen. Es handelt sich dabei sowohl um konkrete (Techniken und Instrumente), als auch um abstrakte Mediatoren (Codes und Zeichen).

52

Territorialität als Paradigma

Mediator

Subjekt

Objekt Realisation der Beziehung

Die Behavioristen sprächen nun von einer Veränderung des Verhaltens. Ihr Beitrag würde jedoch stark aufgewertet, wenn dabei explizit die Frage des Mediators behandelt würde. Diese Frage findet innerhalb des behavioristischen Ansatzes wohl gerade deshalb keine Erwähnung, weil die Wahrnehmung die Handlung exzessiv potenziert. Dabei verdeutlichen einige kürzlich erschienenen Arbeiten die fundamentale Rolle des Mediators nochmals aus unterschiedlichen Perspektiven. A. Turco und G. Zanetto konnten beispielsweise die enormen, von den gewählten Mediatoren abhängigen Verständnis-Differenzen eines bestimmten Phänomens darstellen (Turco, Zanetto, 1981). Nicollier und Simona wiederum untersuchten, basierend auf ihrer Analyse unterschiedlicher Mediatoren, wie die Modernität in die Landwirtschaft einfloss (Nicollier, Simona, 1982). Diese Arbeiten stellen meines Wissens nach zwei neuartige Versuche auf dem Gebiet der Territorialität dar. Solche empirische Analysen müssten nun vermehrt werden, um die Territorialität aus der Perspektive des Mediators besser zu veranschaulichen. Nur wenn wir dazu bereit sind, wird sich das neue Paradigma der Territorialität tatsächlich durchsetzen können. BIBLIOGRAPHIE Calhoun J.B. (1962), „Population, Density and Social Pathology“, in, Scientific American, Bd. 206: 139–148. Chombart de Lauwe P-H. (1982), La fin des villes, Calmann-Lévy, Paris. De Certeau M. (1990), Arts de faire, Gallimard, Paris. [Originalausgabe: 1980] De Certeau M. (1988), Kunst des Handelns, Merve Verlag, Berlin [Originalausgabe: 1980]. Gadamer H.G. (1976), Vérité et Méthode, Seuil, Paris. Gadamer H.G. (1986), Hermeneutik I, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Bd 1, Paul Siebeck, Tübingen [deutsche Originalausgabe: 1960]. Goffman E. (1973), La mise en scène de la vie quotidienne, Bd. 1/2, Editions de Minuit, Paris. Goody J. (1979), La raison graphique, Editions de Minuit, Paris.

Abbild der Diskordanzen zwischen Tradition und Modernität

53

Lefebvre H. (1968), La vie quotidienne dans le monde moderne, Gallimard, Paris. Lefebvre H. (1972), Das Alltagsleben in der modernen Welt, Suhrkamp, Frankfurt. Lenoble R. (1957), „Origines de la pensée scientifique moderne“, in, Histoire de la science, Gallimard, Encyclopédie de la Pléiade: 369–536. Mitscherlich A. (1970), Psychanalyse et urbanisme, Gallimard, Paris. Mitscherlich A. (1970), Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Suhrkamp, Frankfurt [deutsche Originalausgabe: 1965]. Serres M. (1980), Le parasite, Grasset, Paris. Nicollier J.L., Simona G. (1982), Paysans, territorialité: la modernisation, un chemin sans issue, Mémoire de licence, Département de Géographie, Faculté des Sciences économiques et sociales, Université de Genève, Genève. Turco A, Zanetto G. (1981), „Environnement, perception, action: la cas de Venise“, in, Percevoir l’espace vécu, vers une géographie de l’espace, Actes de la Table Ronde, Département de Géographie, Faculté des Sciences économiques et sociales, Université de Genève, Genève.

TERRITORIALITÄT ALS MEDIENTHEORIE

ELEMENTE ZU EINER THEORIE DER GRENZE Claude Raffestin (1986) DIE BEGRIFFE DER LIMITE UND DER GRENZE Die allgemeine Kategorie der Limite (lat. limes: angrenzender Weg eines Feldes) umfasst auch den Begriff der Grenze. Welchen Ursprung hat nun aber eine Limite, eine Grenze? Eine Autorität, das heisst eine Macht, die die „soziale Funktion des Rituals und die soziale Bedeutung der Linie oder Grenze [ausübt], die das Ritual zu überschreiten beziehungsweise zu übertreten gestattet“ (Bourdieu, 1990: 84 [1982: 121]). Die Limite, der Verlauf einer Linie, bestimmt eine Ordnung räumlicher und zeitlicher Natur, die nicht nur ein „diesseits“ und ein „jenseits“, sondern auch ein „vorher“ und ein „nachher“ unterscheidet. Diese doppelte Natur der Limite tritt im Ursprungsmythos Roms deutlich zu Tage. Jede Limite, jede Grenze ist intentional. Sie führt einen Willen aus; sie ist niemals arbiträr. Ihre Legitimation wurde ursprünglich durch religiöse Rituale, später durch politische Prozesse erschaffen. Benvénistes Studien indo-europäischer Institutionen verdeutlichen diese zugleich materielle und moralische Dimension des Begriffs der Limite. „Die ‚Gerade‘, ‚Rechte‘ ist die Norm; regula ist das ‚Instrument zum Ziehen der Geraden‘, zur Festlegung der Regel. [...] Im moralischen Bereich steht das Rechte und Gerade dem Krummen und Gebogenen gegenüber“ (Benvéniste, 1993: 303 [1969: 14]). „Will man die Bildung von rex und des Verbs regere richtig verstehen, so muss man von dieser ursprünglich gänzlich materiellen, aber rasch zur Entfaltung einer moralischen Bedeutung neigenden Vorstellung ausgehen. Eine zweifache Vorstellung steckt in dem wichtigen Ausdruck regere fines, einem religiösen Akt, der jeder Bautätigkeit vorangeht: regere fines bedeutet wörtlich ‚in geraden Linien die Grenzen ziehen‘. Die Handlung, die darin besteht, auf dem Grundstück den geweihten Raum abzustecken, nimmt der Oberpriester vor der Errichtung eines Tempels oder einer Stadt vor, eine Handlung, deren magischer Charakter ersichtlich ist: Es handelt sich darum, Innen und Aussen zu scheiden, das Reich des Heiligen vom Reich des Profanen, das nationale Territorium vom fremden Territorium. Diese Grenzziehung wird von demjenigen ausgeführt, der mit den höchsten Machtbefugnissen ausgestattet ist, dem rex“ (Benvéniste, 1993: 304 [1969: 14]).

Eine Limite ist immer auch Ausdruck einer realisierten Macht. Sie entspricht einer ersten Form der Machtausübung, deren Fundament in der Arbeit liegt, das heisst in dem, womit die physische und soziale Umwelt verändert werden kann. Jedes lebende und handelnde Subjekt ist in seinen Praktiken und Kenntnissen der Dinge mit dem Begriff der Limite konfrontiert. Denken impliziert ipso facto ein in der Sprache gründendes System von Limiten. „Die Grenzen meiner Sprache bestimmen die Grenzen meiner Welt“ (Wittgenstein, 1961: 141). Jede Aktion, die sich

58

Territorialität als Medientheorie

als Beziehungen zur Umwelt, das heisst als Bezug zu Lebewesen und Dingen äussert, beruht auf der Erzeugung und Beachtung von Limiten. Der Begriff der Limite ist ubiquitär. Es ist unmöglich, ja geradezu undenkbar ihm zu entkommen oder sich ihm zu entziehen. Die Limite ist eine jener Kategorien, die als invariant bezeichnet werden können. Als Dank jedoch für ihre offensichtliche Unumgänglichkeit wird der Limite entweder mit Indifferenz begegnet oder aber man entledigt sich ihrer, indem sie schlicht als arbiträr abgetan wird. Dieses Epitheton ist nicht nur falsch, sondern geradezu haltlos, wie ich im Folgenden aufzeigen werde. Zweifelsohne findet sich hier jedoch eine Erklärung dafür, weshalb wir weder über eine Geschichte, noch über eine eigentliche Theorie der Limite verfügen (Moles, Rohmer, 1972). Jede Limite begründet eine Differenz. Die Limite befindet sich deshalb im Zentrum aller Ursprungs-Mythen und Kosmologien. „Gott schied das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag“ (Genesis, 1, 4–5). Romulus tötete gar seinen Bruder, der es gewagt hatte die heilige Furche zu übertreten, die die zukünftige Stadt Rom begrenzte. Jede Schöpfung basiert auf neu eingeführten Unterteilungen mittels räumlicher und zeitlicher Limiten. Die Limite ist einerseits Träger einer Differenz. Andererseits erschafft die Differenz die Limite. Differenzen und Limiten sind lebensnotwendig. „Wo die Differenz fehlt droht Gewalt“ (Girard, 1972: 87). Die Limite wird also keineswegs durch den Verlauf einer Linie irgendwie zufällig projiziert. Sie ist vielmehr das Produkt einer Beziehung. „Jedes Subjekt spinnt seine Beziehungen wie die Fäden einer Spinne zu bestimmten Eigenschaften der Dinge und verwebt sie zu einem festen Netz, das sein Dasein trägt“ (Von Uexküll, 1934: 11 [1965: 27]). Über diese Beziehungen befriedigt ein Subjekt seine Bedürfnisse – oder versucht zumindest dies zu tun –, indem es sich mit der notwendigen Menge an Energie und Information zur Aufrechterhaltung seiner Struktur versorgt. Aus diesem Prozess wiederum ergibt sich die Abgrenzung einer Parzelle, d.h. eines Territoriums, das „die Gesamtheit aller befriedigenden Objekte“ enthält (Laborit, 1979: 94). Diese Abtrennung eines „Feldes der Freiheit“, wie es Moles und Rohmer nennen würden, ist keineswegs arbiträr, sondern beruht im Gegenteil auf vielfältigen physiologischen, biologischen, sozialen, moralischen und statistischen Gesetzmässigkeiten (Moles, Rohmer, 1972: 23–24). Wie könnte eine Existenz, die in Anlehnung an Monods Begriffsverständnis der Verbindung zwischen Notwendigkeit und Zufälligkeit entspringt, überhaupt jemals arbiträr sein? Jede Gliederung des Territoriums ist Ausdruck eines Projekts, in dem die Limiten eine das Territorium strukturierende Information darstellen. Wir schliessen uns hier Laborit an, der schreibt: „Ein angeborener Grundbesitz-Instinkt ist nicht auszumachen. Wir haben es einzig mit einem Nervensystem zu tun, das in einem Raum wirkt, der mit Befriedigung verschaffenden Objekten und Lebewesen besetzt ist“ (Laborit, 1979: 94).

Was heisst dies für uns? Dies bedeutet, dass das Nervensystem befriedigende Aktionen als Gegensatz zu anderen Aktionen memorisiert, dass dadurch ein Lern-

Elemente zu einer Theorie der Grenze

59

effekt entsteht und dass sich dabei die Rolle des Soziokulturellen mit dem Biologischen verbindet, wodurch eine bio-soziale Schnittstelle entsteht. Dabei wird das Soziologische weder auf das Biologische reduziert, noch kommt es zu einer eigentlichen Analogie zwischen den beiden. Vielmehr wird die biologische von der soziologischen Ebene umfasst (Laborit, 1979: 94). Bei allen territorialen Wesen, von den Tieren bis zum Menschen, können semische Systeme beobachtet werden, die die Markierung, die Unterteilung, die Trennung, kurz, die Differenzierung ermöglichen (Ardrey, 1966). Die Grenze im geografischen oder politischen Sinn ist nichts anderes als eine Unterkategorie der Gesamtheit aller Limiten. Die Klasse aller Grenzen liegt innerhalb der Klasse aller Limiten. In gewisser Hinsicht sind die Prozesse der Entstehung, der Entwicklung und der Stabilisierung von Grenzen bloss komplexer, scheinbar sozialisierter und vor allem historisch tiefer verwurzelt als dies bei anderen Limiten der Fall ist. Die Grenze besitzt keine univoke Bedeutung, da sie aus einem allgemeinen Gesichtspunkt sowohl über den Begriff der Zonalität als auch über jenen der Linearität definiert werden kann; als Grenzzone oder als Grenzlinie, als frontier oder als boundary. Im Gegensatz zum Englischen, wo dieser Unterschied noch klar zum Ausdruck kommt, schwankt das Französische zwischen „marche“ und „frange pionnière“, um die Bedeutung von frontier auszudrücken. Die Humangeografie tendiert dazu, sowohl die Mark [„marche“], die ihre politische Bedeutung aus der Vergangenheit bezieht, als auch die Pionierzone [„frange pionnière“], die eine noch nicht versiegte Dynamik bezeichnet, über die Wirkung von Zentrifugalkräften zu definieren. Im Gegensatz dazu bringt die Grenze [„frontière“] die Existenz von Zentripetalkräften zum Ausdruck. Im ersten Fall wirkt die Kraft zur Peripherie, im zweiten zum Zentrum. Sowohl die Mark als auch die Pionierzone sind symptomatisch für sozio-politische Beziehungen, die möglicherweise erst rudimentär, auf jeden Fall jedoch noch nicht vollständig ausgebildet sind, da sie noch immer durch sukzessive Oszillationen und Fluktuationen neue Territorien integrieren. Im Gegensatz dazu bezeichnet die Grenze eine Gesellschaft, die sich durch einen hohen Grad politischer und juristischer Maturität auszeichnet. Dem positiven Recht gehorchend wird die Grenze von einem klar definierten Zentrum aus kontrolliert (Kristof, 1967). Die Grenzzone (Mark oder Pionierzone) widerspiegelt eine mehr oder weniger marginale, in Bewegungen schwingende Gesellschaft, die – oftmals eroberungslustig, manchmal in der Defensive – mehr oder weniger aggressiv gegenüber Lebewesen und Dingen auftritt. Im Gegensatz dazu muss die Grenzlinie als Limite der souveränen, koerzitiven Staatsgewalt verstanden werden. Anders als die Grenzzone, die auf eine faktische Machtausübung zurückgeht, beruht die Grenzlinie auf einer formellen Macht juristischer Natur. Man könnte historisch gesehen versucht sein, die eine als Vorstufe der anderen zu verstehen, was allerdings nicht immer zutrifft. Es ist sowohl möglich beide gleichzeitig anzutreffen als auch denkbar, Grenzzonen und Grenzlinien an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten eines Territoriums zu finden.

60

Territorialität als Medientheorie

DIE ENTWICKLUNG DES GRENZBEGRIFFS Unser heutiges Grenzverständnis wurde vor allem von der kartographischen Repräsentation des Territoriums geprägt. Aus diesem Grunde behaupten manche, die lineare Grenze existiere erst seit Kurzem (Guillemain, 1973: 259). Allerdings, selbst wenn es stimmen sollte, dass der römische Limes keine eigentliche Grenze, sondern die Limite einer militärischen Okkupation darstellte, so präfigurierten doch bereits die in verschiedenen Teilen des römischen Reiches errichteten Mauern eine gewisse moderne Linearität. Das gleiche lässt sich im Übrigen auch von der Chinesischen Mauer sagen. Um was handelt es sich dabei? Um konstruierte Diskontinuitäten, denen aufgrund ihres enormen Ressourcen-Verschleisses immer auch eine Spur Verrücktheit anhaftete. Diese Mauern bildeten nicht wirklich eine politische Grenze im modernen Sinn, sondern eher eine Gesellschafts- oder genauer gesagt eine Zivilisationsgrenze. Den Gegensatz zwischen einer sesshaften und einer nomadischen Zivilisation akzentuierend, stellten diese Disjunktionen nicht nur zwei Räume, sondern auch zwei Zeiten, das heisst zwei kaum zu vereinbarende Rhythmen einander gegenüber. Waren diese Disjunktionen nicht „von grösserem Nutzen für die interne Organisation und Raumnutzung, als für die Abwehr auswärtiger Gefahren“, wie Paul Claval betont (Claval, 1978: 25)? In beiden Fällen lässt sich die Existenz einer Interiorität sowie einer Exteriorität erkennen, aus denen jene Zivilisationsgrenzen ihre doppelte Bedeutung als Zone und Linie ableiteten. Imperien nähren sich für gewöhnlich von einem Paradox an ihrer Peripherie. Sie errichten Limiten, um eine Ordnung und Administration aufzubauen, übertreten diese aber auch, um sich neue Räume einzuverleiben und zu unterwerfen. Falls es eine Zeit gibt in der die Realität der Grenze ignoriert wurde, oder genauer gesagt nur latent in Erscheinung trat, so ist dies das Mittelalter. Dabei spielte mit Sicherheit die politische Organisation eine zentrale Rolle, die sich weniger auf „territoriale Überlegungen als auf persönliche Beziehungen“ stützte (Guillemain, 1973: 259). Der seinem Wesen nach an Personen geknüpfte, je nachdem zuoder abnehmende Feudalbezug entschied darüber, ob man sich einer Einflusssphäre näherte oder aber von ihr entfernte. Unter diesen Bedingungen „beruhte der persönliche Staat nicht auf Grenzen, sondern auf dem Bezug zwischen dem Souverän und seinem Subjekt“ (Benvenuti, 1973: 16). Dies bedeutet freilich nicht, dass das Mittelalter keine Formen der Delimitation gekannt hätte, wie wir den in zahlreichen Texten erwähnten Grenzsteinen, Wegen, Flüssen, usw. entnehmen, die zur Bestimmung der Limiten der Rechtssprechung verwendet wurden. Diese Delimitationen formten jedoch noch keine Linearität, wie wir sie heute kennen. Die Idee einer linearen Grenze entstand ab dem 14. und 15. Jahrhundert, mit der Entwicklung des modernen Staates. Auch die etymologischen Ursprünge des Grenz-Begriffs sind in den meisten indo-europäischen Sprachen zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert zu finden („frontier“ im 13. Jh., „confine“ im 14. Jh., „Grenze“ im 15. Jh., „boundary“ im 17. Jh.). Der moderne Staat beansprucht eine lineare Grenze – zumindest als Begriff – schon allein aufgrund seines territorialen Wesens. Das Territorium wird als Gegenstand politischer Souveränität zur

Elemente zu einer Theorie der Grenze

61

Verbindung zwischen Staat und Subjekt, respektive zwischen Staat und Bürger. „Die Juristen des modernen Staates verstehen das Territorium als Gegenstand des realen Rechts“ (Benvenuti, 1973: 17). Trotzdem, noch lange nach dem Aufkommen des Nationalstaates war die Linearität der Grenze eher sichtbar denn real existent. Der Grenzverlauf mag zwar auf Karten erkennbar gewesen sein, blieb jedoch in der gelebten Realität noch unbestimmt. Der Durchbruch gelang dem Prinzip der Linearität erst im 18. Jahrhundert mit der Französischen Revolution. „Diese Bestrebungen sind seit den Vorbereitungen und Ratifizierungsgesprächen im Vorfeld des Basler Abkommens manifest. Zu einer minutiösen Bestimmung einer linearen Grenze kommt es allerdings erst mit dem Vertrag von Campo-Formio“ (Guillemain, 1973: 261).

Diese Feststellung mag zwar etwas allzu peremptorisch wirken, schliesslich liessen sich auch einige andere, weniger bekannte Beispiele einer grösstenteils verwirklichten Linearität im 18. Jahrhundert finden. Insgesamt stellt der Vertrag von Campo-Formio aber einen guten Referenzpunkt dar. Ungeachtet der zahlreichen anderslautenden Befunde entwickelte sich die Idee der natürlichen Grenze nicht im 17., sondern im 18. Jahrhundert. „Im 17. Jahrhundert lassen sich kaum Autoren finden, die die Vorstellung einer natürlichen Grenze vertreten“ (André, 1950: 2). Der zentrale Begriff des 18. Jahrhunderts ist jener der Natur. Seine Persistenz auf dem Gebiet der Grenzbestimmung ist nur noch mit den von der Natur hervorgerufenen Illusionen vergleichbar (Guichonnet, Raffestin, 1974: 19). Man kennt die berühmte Äusserung Brissots gegenüber Dumouriez: „Ich komme um von der Vorstellung zu berichten, die französische Republik möge nichts anderes als den Rhein zur Grenze haben“. Die Vorstellung einer natürlichen Grenze hält einer vertieften Prüfung allerdings nicht stand. Dennoch war ihre Signalwirkung von solcher Stärke, dass sie bis heute fortwirkt. Wenn wir hingegen davon ausgehen, dass die Grenze wie jede andere Limite das Produkt einer Beziehung darstellt, muss die Idee einer natürlichen Grenze unweigerlich verworfen werden. Wir müssten ansonsten annehmen, dass gewisse morphologische Diskontinuitäten für die Menschheit a priori, also jeglicher Handlung vorausgehend, eine Bedeutung als Grenze besässen. In Tat und Wahrheit wurde die Naturalisierung der Grenze vor allem als Instrument der Annexion und der Oppression eingesetzt. Muss überhaupt noch betont werden, dass „ohne lebendes Subjekt weder Zeit noch Raum existieren“ (Uexküll, 1965: 26)? Limiten und Grenzen entstehen durch menschliche Praktiken und Kenntnisse des Raumes. Die „Natur“ bringt allenfalls bestimmte Unebenheiten hervor, denen ein gewisser Grenzstatus zugesprochen werden kann. Dieser Status ist immer auch historisch bedingt und kann deshalb jederzeit infrage gestellt werden. Wie dem auch sei, die Idee einer natürlichen Grenze führte jedenfalls zu zahlreichen Reaktionen, aus denen ebenfalls das Verständnis der Grenze als Nationalitätslimite entstand, wie dies in Deutschland zur Zeit der Reden Fichtes an die deutsche Nation der Fall war. Im Übrigen waren auch die napoleonischen Kriege nicht unbeteiligt an der Herausbildung einer auf den Kriterien der Sprache, der Ethnie und der Kultur basierenden Vorstellung der Staatszugehörigkeit. Weitge-

62

Territorialität als Medientheorie

hend bekannt sind auch die Debatten, die durch das Nationalitäts-Prinzip im 19. Jahrhundert ausgelöst wurden. Parallel zu diesen Entwicklungen entstand das Verständnis der Grenze als Reichslimite, wie dies von Curzon bezüglich des britischen Empires in Indien propagiert wurde. Curzons Bestrebungen zielten auf eine strategische Kombination der doppelten Bedeutung der Grenze als Linie und Zone. Die Ursprünge des Grenzverständnisses als Reichslimite liegen allerdings weiter zurück. Dessen Entstehungsgeschichte kann bis zum Vertrag von Tordesillas Ende des 15. Jahrhunderts, der eine Trennlinie zwischen dem spanischen und dem portugiesischen Reich zog, zurückverfolgt werden. Bei Ratzel und seinen Epigonen der Geopolitik findet sich später eine vergleichbare, imperialistische Konzeption der Grenze als periphere Membran, die sich der Ausdehnung des Staates entsprechend verformt. In diesem Zusammenhang ist auch auf Jacques Ancels Bezeichnung der Grenze als „politische Isobare“ hinzuweisen (Ancel, 1938). Neben dem Begriff der imperialistischen Grenze entwickelte sich ebenfalls die Idee einer verhandelten und vertraglich festgelegten Grenze, als Gegenstand eines bi- oder multilateralen Dialogs. Dabei geht es an sich darum, die Gewaltanwendung zur Bestimmung einer Grenze zu umgehen, indem der Wille des Volkes über jenen des „Prinzen“ gesetzt wird. Anhänger dieser Idee waren beispielsweise die Amerikaner, deren Unabhängigkeitserklärung von einer solch kontraktuellen Gesinnung zeugt, wenngleich die Verhandlungen der kanadischen und mexikanischen Grenze nicht nur auf diesem edlen Prinzip beruhten. Diese historische Auflistung unterschiedlicher Grenztypen ist bewusst unvollständig. Sie reicht gleichwohl aus, um den relationalen, das heisst nicht arbiträren Charakter einer Grenze zu verdeutlichen. Die Grenze entwächst dem Raumbezug eines individuellen oder kollektiven Subjekts. Sie ist zugleich Praktik und Kenntnis der territorialen Realität eines bestimmten Ortes, zu einem bestimmten Zeitpunkt. Eine Veränderung des Beziehungssystems, das einer Grenze zugrunde liegt, kann auch deren Relevanz für gewisse Aktivitäten beeinträchtigen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass deshalb immer auch der Grenzverlauf geändert werden müsste, was einen Zustand konstanter Veränderung und permanenter Unordnung, das heisst eine geradezu unerträgliche Instabilität zur Folge hätte. Mangelhafte Anpassungen einer Grenze können auch durch kleine Korrekturen oder lokale Justierungen ausgeglichen werden, wie beispielsweise durch den Austausch gleichwertiger Terrains oder die Applikation juristisch-institutioneller Regulationsmechanismen. Die Grenze ist konventionell, keinesfalls jedoch arbiträr festgelegt. Wir werden im Folgenden das Problem der Grenzbestimmung aus einem technischen Gesichtspunkt weiterverfolgen. DIE BESTIMMUNG DER GRENZE Erst als sich im 19. Jahrhundert das Prinzip der Linearität endgültig durchgesetzt hatte, wurden die Regeln zur Errichtung von Grenzen detailliert ausgearbeitet. Der

Elemente zu einer Theorie der Grenze

63

Prozess der Grenzbestimmung verläuft prinzipiell in drei Etappen: Definition, Delimitation und Demarkation. Die Definition einer Grenze resultiert aus dem Zusammenspiel aller verhandelnden Parteien einer oder mehrer Übereinkünfte. Obwohl sich die verbalkonzeptuelle Definition einer Grenze durch eine hohe, oder relativ hohe Präzision bezüglich der verwendeten geografischen Begriffe und Ortsnamen auszeichnet, bleibt immer ein sensibler Unterschied zur territorialen Realität bestehen. Würde der Prozess der Grenzbestimmung hier enden, hätte die Grenze selbst in Wirklichkeit keinerlei Bedeutung. Die Delimitation einer Grenze ist das Werk der Kartographen. Durch die Bearbeitung von Karten im Makro-Massstab, oder heute auch durch die Bearbeitung von Luftaufnahmen, erstellen diese eine möglichst genaue kartographische Repräsentation der Grenze. Die Demarkation bildet die letzte Etappe der Grenzbestimmung, wobei im Gelände selbst die Karte und das Territorium, die „Repräsentation“ und das „Repräsentierte“, in Übereinstimmung gebracht werden müssen. Die Materialisierung der Demarkation kann entweder auf rudimentären Konstruktionen wie Grenzsteinen, Mauern, Hecken oder Stein-Linien beruhen, oder aber auf markante Landschaftselemente zurückgehen, falls es nicht möglich sein sollte, die Grenze direkt mit einer Unebenheit oder Diskontinuität des Reliefs zu verbinden (Boggs, 1945). Grundsätzlich muss betont werden, dass diese drei Prozesse oft durch eine lange Zeitspanne voneinander getrennt sind, respektive, dass die Bestimmung einer Grenze auf jeden Fall eine gewisse Zeit benötigt, die mitunter sehr lange dauern kann. Die meisten Grenzen des Afrikanischen Kontinents, aber auch viele andere Grenzen der Erde, sind zwar delimitiert, nicht jedoch vollständig demarkiert. Die Zeitspanne zur Bestimmung der amerikanisch-kanadischen Grenze reichte von 1792 bis 1925. Die französisch-spanische Grenze in den Pyrenäen wiederum, die praktisch seit dem 11. Jahrhundert feststand, wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts delimitiert (Dion, 1947). Welche Bedeutung ist diesen Sequenzen der Grenzbestimmung beizumessen? Damit verbunden ist in erster Linie ein beträchtlicher und oft unschätzbarer Informationsgewinn, der den Staaten nicht nur die Möglichkeit verschafft, das Ausdehnungsgebiet ihrer Souveränität genau zu bestimmen, sondern auch den grössten Teil potentieller Konfliktquellen zu eliminieren, die mit jeder Unsicherheit des Grenzverlaufs einhergehen. Dieser Informationsgewinn ist allerdings mit hohen Kosten verbunden, da sich insbesondere der Demarkationsprozess oft als langwierig und schwierig herausstellt, woraus sich ebenfalls der häufige Verzug dieser letzten Etappe erklärt. Die Demarkation ist dennoch notwendig, da sie einen unerlässlichen Ordnungs-, Stabilisierungs- und Regulationsfaktor darstellt. Die drei Phasen der Definition, Delimitation und Demarkation betreffen vor allem den Verlauf der Grenzen zu Lande, da die genaue Demarkation der Territorialgewässer oder a forteriori der Grenzen innerhalb des Luftraumes schwierig und aus vielerlei Hinsicht gar unmöglich zu konzipieren ist. Gerade deshalb sind die Definitions- und Delimitationsprozesse der See- und Luftgrenzen an einige interessante Probleme geknüpft.

64

Territorialität als Medientheorie

Im Anschluss an ihre neuen Entdeckungen begannen die grossen Seefahrernationen ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, das Meer zu „überdenken“. „Als erste erkannten die Niederlande das Bedürfnis nach einer maritimen Küstenzone, die einem einzelnen Staat zugeordnet werden könnte“ (Sanguin, 1977: 139). Im 17. Jahrhundert standen sich diesbezüglich zwei Theorien gegenüber: Hugo Grotius’ Theorie der „herrschaftsfreien Meere“ (mare liberum), sowie die Theorie der „geschlossenen Meere“ (mare clausum), die von John Selden vertreten wurde. Die zweite Theorie, britischer Inspiration, trat Ende des 17. Jahrhunderts vor allem deshalb in den Hintergrund, weil sie in offensichtlichem Widerspruch zum vorherrschenden kolonialen Expansionswillen stand (Sanguin, 1977: 139). Im 18. Jahrhundert etablierte und systematisierte der holländische Jurist Cornelius Van Bynkershoek mit De Dominio Maris Dissertatio die Terminologie der Hoheitsgewässer und des Küstenmeeres, dessen Grundprinzip noch heute grösstenteils Gültigkeit hat. Die Breite der Hoheitsgewässer wurde im 18. Jahrhundert auf drei Seemeilen festgelegt, was ungefähr der Reichweite einer Kanone entsprach. Damit verbunden war die Absicht, als Hoheitsgewässer jenes Gebiet zu bezeichnen, das ein Staat von seiner Küste aus zu kontrollieren imstande ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Prinzip allerdings in Frage gestellt, was dazu führte, dass die Dreimeilenzone 1958 nur noch von einem Teil aller Küstenstaaten unterstützt wurde (48 von 73 Staaten). Noch im selben Jahr wurde deshalb im Rahmen der ersten internationalen Seerechts-Konferenz in Genf eine Gesetzgebung für eine zusätzliche, über die Hoheitsgewässer hinausreichende 12 Meilen-Zone ausgearbeitet (Sanguin, 1977: 141), die anschliessend in einer zweiten Konferenz als Grundprinzip zur Bestimmung der staatlichen Territorialgewässer etabliert wurde. Auch dieser Konsens wurde jedoch durch Dekolonialisierungs- und Unabhängigkeitsbestrebungen einerseits, sowie aufgrund wirtschaftlicher (Fischerei und Erdölreserven) und ökologischer Beweggründe andererseits schrittweise aufgelöst. „1973, vor der Dritten Konferenz der Meeresrechte beriefen sich 7% aller 111 erfassten Küstenstaaten weltweit auf das Prinzip einer 200 Meilen-Wirtschaftszone, während 50% aller Küstenstaaten an der 12 Meilen-Zone festhielten“ (Sanguin, 1977: 141).

Seither bestehen zwischen den divergierenden nationalen Ansichten gewisse Unsicherheiten und Differenzen. Darüber hinaus kann generell in Erinnerung gerufen werden, dass die Bestimmung der Territorialgewässer auf einer Replikations-Methode beruht, die von einer konventionell festgelegten Basislinie, als Grundlage der so genannten Methode des Umschlags [„la méthode dite de l’enveloppe“], ausgeht (Guichonnet, Raffestin, 1974: 40). Innerhalb des Luftraumes ist die Grenzbestimmung sogar noch komplizierter. Bis auf welche Höhe erstreckt sich die Souveränität eines Staates? Muss die nationale Souveränität über den Luftraum als grundsätzlich beschränkt angesehen werden (Sanguin, 1977: 161)? In Anlehnung an das Bynkershoeksche Prinzip der maritimen Grenzbestimmung müsste der nationale Luftraum soweit reichen, wie er vom Boden aus verteidigt werden kann. Diesbezüglich stehen sich jedoch unterschiedliche Theorien gegenüber, die den Luftraum als mehr oder weniger

Elemente zu einer Theorie der Grenze

65

wesentlichen Bestandteil eines Staates, mit oder ohne allgemeinem Transitrecht verstehen. Trotz mehrerer Konferenzen konnte in dieser Frage bisher kein internationaler Konsens erzielt werden. Im Gegensatz dazu scheint sich zumindest hinsichtlich des kosmischen Raumes eine Limite zwischen der Atmosphäre und dem Kosmos abzuzeichnen, das heisst in einer Höhe von 40 bis 160 Kilometern. Der Status des Kosmos’ wurde zwischen 1967 und 1976 durch mehrere Konventionen festgelegt, um der territorialen Inanspruchnahme und Militarisierung des Mondes entgegenzuwirken sowie um allen Staaten die Nutzung kosmischer Ressourcen zu ermöglichen (Sanguin, 1977: 163). Diese allgemeine Ungebundenheit des kosmischen Verkehrs, im Gegensatz zu den auf nationalen Grenzen basierenden Einschränkungen des Luftverkehrs, ist speziell im Bereich der Telekommunikation von grosser Bedeutung. Wir können auf dem Gebiet der Grenzbestimmung also eine sukzessive Abnahme der Informationsgenauigkeit der Limiten zu Lande, über jene in Gewässern, bis zu den Limiten des nationalen Luftraumes erkennen. Die Information stellt dabei keineswegs ein Ziel per se dar. Sie ist von zentraler Bedeutung, um allfällige konfliktträchtige Verwirrungen zu vermeiden. Es geht einmal mehr darum, der Entropisierung sozialer Relationen entgegenzuwirken, indem möglichst viele Systeme von Limiten und Grenzen „informiert“ werden. Die Frage der Notwendigkeit eines solchen Aufwandes zur Bestimmung und Errichtung von Grenzen ist zwar legitim, die Antwort darauf aber relativ einfach. Grenzen erfüllen eine ganze Reihe von Funktionen, die durch die Existenz eines präzisen Grenzverlaufs einfacher und effizienter ausgeübt werden können. Jede Limite, jede Grenze ist funktionalisiert. Eine funktionslose Grenze besitzt keine Existenzberechtigung und wird deshalb mit der Zeit verblassen oder ganz verschwinden. Die klassische Idee einer „Verwischung“ der Grenzen, die den meisten Integrationsbewegungen wirtschaftlicher, politischer oder kultureller Natur anhaftet, hat deshalb nur dann einen Sinn, wenn gleichzeitig die mit den jeweiligen Limiten verbundenen Differenzen verschwinden. Ansonsten ist eine solche Sichtweise letztendlich banal und unbedeutend, ja geradezu haltlos. Grenzfunktionen werden über ihren Bezug zu Menschen und Dingen definiert, deren Mobilität sie kontrollieren, einschränken oder gar verunmöglichen. Grenzen sind eigentliche Instrumente. Sie können der Klasse jener semischen Systeme zugeordnet werden, die allen politischen Kollektiven zur Verfügung stehen. Drei Funktionen sind hierbei von besonderer Bedeutung: die legale Funktion, die fiskalische Funktion sowie die Kontrollfunktion. Die legale Grenzfunktion verdeutlicht vor allem die Macht der juristischen Institutionen eines delimitierten und/oder demarkierten Gebiets. Es handelt sich hierbei um jenes territoriale Gebiet, in dem das positive Recht des Staates zur Anwendung kommt. Die fiskalische Grenzfunktion kann mehrere Ziele verfolgen. Von der Definition eines nationalen Binnenmarktes, basierend auf der Besteuerung ausländischer Produkte, über den Unterhalt des Staatshaushalts, bis zur Ausbildung einer rudimentären Volkswirtschaft. Diese Grenzfunktion wird in den meisten Fällen eher negativ wahrgenommen.

66

Territorialität als Medientheorie

Die Kontrollfunktion der Grenze ist mit der Überwachung der Grenzüberquerung von Menschen und Waren verbunden. Es geht um die Kontrolle der Kapitalbewegungen, der Migrations- und der Warenströme. Jede Kontrolle basiert auf wirtschaftspolitischen, sozialen und kulturellen Kriterien. Es ist ratsam, ebenfalls auf die militärischen und ideologischen Funktionen der Grenze hinzuweisen, die sich als Mauern, aber auch als „Bambus-“ oder „eiserne Vorhänge“ materialisieren können. Die militärische Grenzfunktion ist heute nur noch für die konventionelle Landesverteidigung von Bedeutung. Die ideologische Funktion wiederum macht die Grenze zu einer eigentlichen Reichslimite, die nicht nur zwei Territorien, sondern auch zwei „Zeit-Rhythmen“, das heisst zwei raumzeitliche Organisationen trennt. Es ist davon auszugehen, dass auch in einem Kontext der Integration zumindest die Bedeutung der legalen Grenzfunktion aufrechterhalten wird. Die Vorstellung einer Verwischung der Grenzen ist deshalb eine Illusion. Eine solche Entwicklung wäre im Übrigen auch ein Fehler, da – wie vorgängig erwähnt – jede Handlung auf der Erzeugung und Beachtung von Differenzen beruht. Die affektiven Taten, die bisweilen durch Grenzen ausgelöst wurden, gehen auf ihre vergangenen und gegenwärtigen Nutzungsformen, nicht jedoch auf ihre instrumentale Natur an sich zurück. UNTERSCHIEDLICHE GRENZTYPEN Die politische Geografie kennt mehrere Grenz-Taxonomien. Einige allzu vereinfachte Klassifizierungen unterscheiden lediglich zwischen natürlichen und künstlichen Grenzen. Andere wiederum, wie beispielsweise die Typologie von Boggs oder jene von Hartshorne sind differenzierter ausgearbeitet. Boggs’ morphologische oder phänomenologische Klassifizierung, um den Ausdruck Stephen B. Jones’ zu verwenden, bildet eine sehr deskriptive, mitunter gar als objektiv zu bezeichnende Typologie, die insgesamt vier Grenzkategorien umfasst. Physische oder physiographische Grenzen folgen einer Krete, einer WasserTrennlinie, einer Wüste, einem Bach, einem Fluss, einem Kanal, etc. Die französisch-spanische Grenze entspricht in gewisser Weise und auf gewissen Abschnitten dieser Kategorie. Das Gleiche gilt für die französisch-italienische Grenze in den Alpen, wobei auch hier das physiographische Prinzip nicht systematisch zur Anwendung kommt. Die amerikanisch-mexikanische Grenze am Golf von Mexiko in El Paso fällt mit dem Rio Grande zusammen, geht später jedoch in einen geometrischen Grenztypus über. Die Bestimmung geometrischer Grenzen basiert auf astronomischen Berechnungen, auf Längen- oder Breitengraden, respektive auf darauf abgestimmten Bögen oder loxodromen Kurven. Die Teilung der Neuen Welt durch Alexander VI im Jahre 1493, der Spanien alle mehr als 100 Leguas [ca. 480 km] westlich der Azoren gelegenen Gebiete zuteilte, ist eines der ältesten Beispiele dieses Typus’. Angesichts der heftigen portugiesischen Reaktionen wurde Alexanders Teilung

Elemente zu einer Theorie der Grenze

67

allerdings wenig später überprüft und durch den Vertrag von Tordesillas korrigiert. Viele afrikanische Grenzen, die in völliger Diskordanz zu den menschlichen, ethnischen, linguistischen und tribalen Gegebenheiten stehen, können ebenfalls dem geometrischen Grenztypus zugerechnet werden. Geometrische Grenzen mögen auf den ersten Blick zwar praktisch erscheinen, dies lässt sich allerdings nicht unbedingt von ihrer Demarkation sagen. Die Delimitation anthropo-geografischer Grenzen basiert auf kulturellen, ethnischen, linguistischen, religiösen etc. Kriterien. Zu diesem Typus zählen all jene Grenzen, die unter anderem auf dem Nationalitäts-Prinzip beruhen. Dieser Grenztypus, der den Kollektiven im Allgemeinen entgegenkommt, weil er ihre Einheit zu respektieren versucht, ist weniger häufig als man denken könnte. Zu guter Letzt ist auch der komplexe Grenztypus zu erwähnen, dessen Verlauf durch mehrere Faktoren gleichzeitig bestimmt wird. In Europa gehören die meisten Grenzen zu dieser Kategorie. Häufig können entlang einer Grenze, die eine gewisse Bedeutung besitzt, unterschiedliche Grenztypen beobachtet werden. „Reine“ Grenztypen sind an sich relativ selten. Deshalb ist Boggs’ Klassifikation zwar hilfreich, gleichzeitig aber auch mit einigen Applikationsschwierigkeiten verbunden. Hartshornes Typologie unterschiedlicher Ursprünge von Grenzen – aus dem Jahre 1936 – richtet sich auf die Frage der Beziehung zwischen einer Grenze und der menschlichen Okkupationsform eines Territoriums. Dabei geht es im Grunde darum, ob eine Grenze vor, während oder nach den von einer Bevölkerung konstruierten Elementen einer humanisierten Landschaft bestimmt wurde (De Blij, 1973). Von diesem Prinzip ausgehend lassen sich „antezedente Grenzen“ (wie die amerikanisch-kanadische Grenze), „subsequente Grenzen“ (wie die meisten Europäischen Grenzen) sowie „aufgezwungene Grenzen“ (wie beispielsweise die Grenze Israels) unterscheiden. Die Linien einer Waffenruhe oder eines Waffenstillstandes sind im Allgemeinen als aufgezwungene Grenzen zu verstehen. Antezedente Grenzen bilden aus dem Gesichtspunkt der Bevölkerung eher ein Merkmal junger Regionen, während subsequente Grenzen eher ein Merkmal alter Regionen darstellen. Wir haben es hier nicht mit zwei supplementären, sondern mit zwei komplementären Typologien zu tun, die auch kombiniert, das heisst gekreuzt werden könnten. Daraus liesse sich eine Möglichkeit ableiten, das Phänomen der Grenze aus einer geo-historischen Perspektive zu behandeln. Über das Ganze gesehen sind die beiden Klassifizierungen allerdings nicht mehr zeitgemäss und ermöglichen kaum mehr eine moderne Konzeption der Grenze, wie sie gewisse Humanwissenschaften heute benötigten. Unter den heutigen Bedingungen muss über die Entwicklung einer Grenztypologie nachgedacht werden, die sich explizit auf die von einer Grenze ausgehenden Beziehungen richtet. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch auf unser Buch (Guichonnet, Raffestin, 1974: 61–63). Aus leicht verständlichen Gründen ist zu hoffen, dass Grenzen eine gewisse Beständigkeit aufweisen, das heisst, nur kleineren Veränderungen ausgesetzt sind. Dabei ist eine nicht-Modifikation des Supports, des Signifikanten, nicht unbedingt mit einer nicht-Modifikation der

68

Territorialität als Medientheorie

Bedeutung, des Signifikats, gleichzusetzen. Wie erwähnt ist die Grenze in erster Linie ein Instrument, das heisst ein semisches Element. Die Konzeption dieses Instruments kann und muss immer wieder den neuen Beziehungen angepasst werden, die ihrerseits den veränderten menschlichen Aktivitäten entspringen. Es wäre an dieser Stelle an sich relevant, das Problem der Grenzregionen und ihrer Artikulation vertieft darzustellen. Eines ist sicher, eine Grenze ist niemals per se gut oder schlecht. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit vielmehr auf die symmetrischen oder dissymmetrischen Beziehungen zwischen den Kollektiven richten, die eine Grenze je nachdem gut oder schlecht nutzen, um ihre Ziele zu erreichen. Dies bringt uns zu unserem letzten Punkt, dem Verhältnis zwischen der Grenze und der Macht. MACHT, LIMITE UND GRENZE Wir haben bereits festgehalten, dass materielle oder immaterielle, horizontale oder vertikale Systeme von Limiten eine unerlässliche Notwendigkeit darstellen. Die Tatsache, dass Limiten und Grenzen äusserst diverse Formen annehmen können, respektive Parzellen unterschiedlichster Dimensionen trennen, ändert nichts an ihrer grundsätzlichen Präsenz sowohl zwischen einzelnen Staaten als auch innerhalb einzelner Staaten. Die Gliederung des Territoriums ist immer auch Ausdruck einer Macht. Dabei unterrichten uns die territorialen Delimitationen nicht nur über die Macht selbst, von der sie eingesetzt wurden, sondern auch über die Intentionen dieser Macht. „Die Delimitationen haben keine wissenschaftliche Finalität. Sie sollen vielmehr die Kontrolle des Volkes ermöglichen. Entscheidend ist die Wahl des richtigen Kontrollmasses, das vor allem davon abhängt, was von der Bevölkerung erwirkt werden soll. Die Kontrolle ist umso detaillierter, je höher die Anforderungen der Macht sind. Umgekehrt erweitert sich das Kontrollmass, sobald die Aktionen des Herrschers nur noch einen begrenzten Lebensbereich jedes einzelnen berühren“ (Claval, 1978: 135).

Aus einer weniger reduktionistischen Perspektive lässt sich sagen, dass Delimitationen im weitesten Sinn den territorialen Rahmen eines sozialen Projekts bestimmen und dadurch ebenfalls zur Entwicklung von Ideologien beitragen. Unsere Grenz-Vorstellungen sind Teil einer als Projekt definierten, nationalen Ideologie. „Solange die nationale Ideologie lebendig bleibt, solange bleibt auch die Zeichnung der Grenzen gerechtfertigt, selbst wenn diese nur unter grössten Schwierigkeiten aufrecht zu erhalten sein sollte. Jedes Volk strebt nach Unabhängigkeit, weil nur auf diese Weise eine vollständig ausgebildete soziale Struktur entwickelt sowie eine Verteilung der Bevölkerungsmitglieder innerhalb des gesamten Spektrums unterschiedlicher Stellungen und Privilegien erreicht werden kann“ (Claval, 1978: 135).

Eine Veränderung der Macht oder Ideologie wird auch die entsprechenden Limiten-Systeme insgesamt oder partiell in eine Krise stürzen. Das heisst, die Limiten

Elemente zu einer Theorie der Grenze

69

werden der Gefahr ausgesetzt sich zu destrukturieren. Ist nicht genau dies durch die Revolution 1789 in Frankreich oder 1917 in Russland passiert? Die Macht benötigt Limiten und Grenzen, um ihr Kontrollnetz aufzuziehen, das heisst, um zu kontrollieren, zu organisieren, sich auszuweiten, ihre Ausübung zu erleichtern, aber auch um zu überwachen, einzuschliessen und mitunter gar um zu unterdrücken. Es ist deshalb wichtig, wachsam gegenüber jeder Restrukturierung der Grenz- und Limiten-Systeme zu sein. Veränderungen dieser Systeme sind niemals harmlos, sondern beeinflussen immer auch die Existenz des Menschen über seine täglich gelebte Territorialität. SKIZZE EINER LIMOLOGISCHEN THEORIE Die Limite (oder Grenze) ist eine strukturelle, um nicht zu sagen morphologische Invariante, deren Konstruktion auf der Verbindung unterschiedlicher physio-, öko- und sozio-Logiken beruht. Die Schnittstelle dieser Logiken bringt eine „Insel der Negentropie“ hervor, die eigens durch ihre Existenz ein auf die Exteriorität Bezug nehmendes System von Limiten produziert. Dieses Limiten-System erfüllt vier grundlegende Mega-Funktionen, die im Folgenden erklärt und illustriert werden sollen: Übersetzung, Regulation, Differenzierung und Beziehung. Die Limite ist Übersetzung einer Intention, eines Willens, einer ausgeübten Macht, einer Mobilisierung, etc. Die Limite erscheint zuerst als eine Spur, als Indiz; darauf aufbauend aber auch als Zeichen, als Signal. Wie gesagt, jedes Lebewesen sondert Limiten ab. Zu existieren bedeutet immer auch, Limiten zu konstruieren und hervorzubringen, sprich, von einem Teil des Raumes ausgehend ein Territorium zu erschaffen. Die Limite als Spur offenbart die Reichweite einer Aktivität und Kraft: Kohärenz und Organisation diesseits, Auflösung und Verminderung jenseits. Jede territoriale Gliederung beruht auf einem System von sich gegenseitig ausgleichenden und kompensierenden Faktoren. Nichts spräche deshalb gegen den bisher einzig als utopische Träumerei existierenden Versuch, eine mathematische Theorie der Grenze zu entwickeln. Die Grenze, respektive die Limite im Allgemeinen, kann als Ausdruck eines intermediären Zustandes zwischen Aktualisierung und Potentialisierung verstanden werden. Weil sie als eine Spur immer auch die Übersetzung einer Kraft, einer Arbeit verkörpert, lässt sich die Limite in Anlehnung an Lupasco aus einem rein energetischen Gesichtspunkt behandeln (Lupasco, 1971:70–71). Wer allerdings Arbeit sagt, sagt immer auch Information. Auf einer bestimmten Ebene der Produktion von Limiten, jenseits ihrer Bedeutung als Spur und Indiz, wird die Limite zum Zeichen einer energetischen Stabilisierung, wodurch zugleich eine Information entsteht. In diesem Übersetzungsstadium gewinnt das Signal, als Information par excellence, die Oberhand. Die Inschrift des Gefallenendenkmals in Cavour (Piemont) verdeutlicht diese Bedeutung der Grenze als Signal geradezu exemplarisch. „Im Verlangen der heiligen Limiten, die die Natur dem Vaterlande zur Grenze gab, stellten sie sich furchtlos dem ruhmvollen Tode“. Wir können im Zusammenhang mit der Limite also einen Prozess beobachten, der von der Energie zur Information führt.

70

Territorialität als Medientheorie

Am Ende dieses Prozesses, gewissermassen zum Zeitpunkt seiner Kristallisierung, wird die Grenze selbst zu einem Bezugspunkt, das heisst zu einem Instrument territorialer Taxonomie. Im politischen Jargon wurde die Grenze als Signal wiederholt zur Mobilisierung von Völkern und Nationen eingesetzt. Hauptstädte und Grenzen bilden in unseren Gesellschaften vielleicht die letzten Refugien einer vergangenen Sakralität. Zweifelsohne basiert die geschichtliche Gemeinsamkeit der Furche Romulus’ und der zeitgenössischen nationalstaatlichen Grenze auf diesem heiligen Wesen der Limite. Als Übersetzung eines sozio-politischen Projekts ist die Limite ihrem Wesen nach immer auch ideologisch. Auch die Grenze zwischen Ost und West geht aus dieser rituellen Sakralisierung hervor, die nicht nur zwei Welten erschafft und konfrontiert, sondern auch reguliert, differenziert und verbindet. Die Limite ist Regulation, weil sie nicht nur Territorien delimitiert, sondern auch „Reservoirs“, das heisst unterschiedliche Zeit-Räume trennt. Ein Territorium bildet ein Ensemble von „Ressourcen“, das der delimitierenden Gruppe zur Verfügung steht. Die Limite ist zugleich eine politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Form der Regulation. Sie demarkiert relationale Gebiete, in denen sich Praktiken und Kenntnisse, Instrumente und Codes herausbilden, die den jeweiligen kollektiven Projekten entsprechen. Eine Limite auszulöschen oder zu verwischen bedeutet immer auch, eine komplexe Ordnung in Frage zu stellen, das heisst eine Krise auszulösen, die nur durch ein neuerliches Opfer behoben werden kann, aus dem wiederum neue Limiten entstehen oder hervorgebracht werden. Die Limite ist auch deshalb Regulation, weil sie den Autonomie-Raum ihrer Begründer festlegt. Die Limite reguliert zugleich, was sie übersetzt: einen Willen oder eine Macht. Die Limite ist Regulation, weil sie auf eine Homöostasie der erwähnten Schnittstelle abzielt. Als unumgängliche Invariante kann die Limite oder Grenze nicht einfach beseitigt werden, wie dies von gewissen Anhängern einer verstärkten wirtschaftlichen Integrationspolitik bezweckt wird. Eine solche Position verwechselt die strukturelle Notwendigkeit der Limite mit der Banalität ihrer historischen Rollen. Die regulierende Limite artikuliert, verbindet und trennt zugleich. Sie handelt nach der Art eines öffnenden und schliessenden, erlaubenden und verbietenden Schalters. Die Limite ist per se weder positiv noch negativ. Sie ist je nach Kontext sowohl das Eine als auch das Andere. Es wäre deshalb falsch, ausgehend von einer bestimmten Situation, die Notwendigkeit von Limiten grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Limite ist Differenzierung, weil sie immer auch eine Differenz erschafft, deren Verlust in einer Krise mündet. In der Geschichte der Menschheit führten Übertretungen von Limiten gerade deshalb fast immer zu einer Explosion der Gewalt, weil dabei gleichzeitig die mit der Limite verbundene, unerlässliche Differenz geleugnet wurde. Eine Limite wieder zu errichten heisst auch, den Sinn ihrer Differenzierung wieder zu finden und die damit verbundene Ordnung wieder herzustellen. Keine materielle oder spirituelle Aktivität kommt ohne ein System von Limiten aus, was indes nicht bedeutet, dass Limiten immer stabil bleiben müssten. Daraus folgt lediglich, dass Limiten in irgendeiner Form immer vorhanden sind, was zweifelsohne einen zentralen Unterschied ausmacht. Die Aufhe-

Elemente zu einer Theorie der Grenze

71

bung jeglicher Differenzierung, die allgemeine Absenz von Limiten, führt zum Chaos. Aus dieser Optik wird auch der Zusammenhang zwischen Limiten und sozialen Werten deutlich. Die Limite ist ein ubiquitärer Begriff, das heisst im eigentlichen Sinne des Wortes eine absolut unabdingbare Invariante. Man könnte sagen – und hier wären wir mit jenen einverstanden, die eine Verwischung der Grenzen propagieren –, dass es nicht sosehr auf die Limiten ankommt… solange es denn Limiten gibt. Daraus folgt auch, dass die auf Limiten basierenden Differenzierungen letztlich in einer Kulturtheorie münden. Aus einem anthropologischen Gesichtspunkt ist eine Kultur nichts anderes, als eine angewandte Theorie der Limite. Als Postulat einer Nachbarschaft ist die Limite auch Beziehung. Die Limite hält unterschiedliche Territorien und Zeitdauern auseinander. Sie ermöglicht es, diese zu konfrontieren, zu vergleichen und – im Lichte der Gesellschaften die sie erschufen – überhaupt erst zu erkennen. Gleichzeitig wird die Limite selbst durch Beziehungen hervorgebracht und konditioniert, unabhängig davon, ob es sich um eine Austauschbeziehung, Zusammenarbeit oder Opposition handelt. Übersetzung, Regulation, Differenzierung und Beziehung sind die Grundprinzipien jeder Limite oder Grenze. Sie ermöglichen es, die folgenden, grundlegenden Fragen an jede Limite zu richten: Was übersetzt sie? Was reguliert sie? Was differenziert sie? Was verbindet sie? Dies ist der einzige Weg, um von einer idiographischen zu einer nomothetischen Analyse zu gelangen. Die einzige Möglichkeit also, das Partikuläre zu verlassen, um das Generelle zu erreichen. BIBLIOGRAPHIE Ancel J. (1938), Géographie des frontières, Gallimard, Paris. André L. (1950), Louis XIV et l’Europe, Albin Michel, Paris. Andrey R. (1966), The Territorial Imperative, Atheneum, New York. Benvéniste E. (1969), Le vocabulaire des institutions indo-européennes, Vol.2, Editions de Minuit, Paris. Benvéniste E. (1993), Indoeuropäische Institutionen: Wortschatz, Geschichte, Funktionen, Campus, Frankfurt. Benvenuti F. (1973), „Evoluzione storica del concetto di confine“, in, Strassoldo R. (Hg.), Confini e Regioni, Boundaries and Regions, Edizioni Lint, Trieste: 15–20. Bourdieu P. (1982), Ce que parler veut dire, Fayard, Paris. Bourdieu P. (1990), Was heisst Sprechen?, Braumüller, Wien. [Originalausgabe: 1982] Claval P. (1978), Espace et pouvoir, PUF, Paris. De Blij H-J. (1973), Systematic Political Geography, John Wiley, New York. Dion R. (1947), Les frontières de la France, Hachette, Paris. Girard R. (1972), La violence et le sacré, Grasset, Paris. Guichonnet P., Raffestin C. (1974), Géographie des frontières, PUF, Paris. Guillemain B. (1973), „De la dynamique des systèmes aux frontières linéaires“, in, Strassoldo R. (Hg.), Confini e Regioni, Boundaries and Regions, Edizioni Lint, Trieste: 259–264. Jones S-B. (1945), Boundary Making: a Handbook for Statesmen, Treaty Editors and Boundary Commissioners, Columbia University Press, Washington. Kristof L.K-D. (1967), „The nature of frontiers and boundaries“, in, De Blij H.J. (Hg.), Systematic Political Geography, John Wiley, New York: 208–223.

72

Territorialität als Medientheorie

Laborit H. (1971), L’homme et la ville, Flammarion, Paris. Laborit H. (1979), L’inhibition de l’action, Masson, Paris. Lupesco S. (1971), Du rêve, de la mathématique et de la mort, Bourgois, Paris. Moles A., Rohmer E. (1972), Psychologie de l’espace, Castermann, Paris. Sanguin A-L. (1977), La géographie politique, PUF, Paris. Turner F-J. (1963), La frontière dans l’histoire des Etats-Unis, PUF, Paris. Von Uexküll J. (1965), Mondes animaux et monde humain, Médiations, Paris. Von Uexküll J., Kriszat G. (1934), Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Verlag von Julius Springer, Berlin. Wittgenstein L. (1961), Tractatus logico-philosophicus, Gallimard, Paris.

ARBEIT UND TERRITORIALITÄT Claude Raffestin (1981) Die beiden Begriffe des Titels zu verbinden bedeutet auch, auf ein grundlegendes Problem unserer Zeit zu stossen. Sowohl die Arbeit als auch die Territorialität befinden sich gegenwärtig in einem Veränderungsprozess, es sei denn dieser sei bereits ohne unser Wissen vollständig abgeschlossen. Diese Transformation ist für den einzelnen Menschen – sie, er, ich – nur über das unverzichtbare Bezugssystem der Alltäglichkeit, als „Ort des Konfliktes zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen“ (Lefebvre, 1972: 39 [1968: 50]), zu verstehen und zu erfassen. Die Alltäglichkeit erhellt und verwirrt zugleich. Es ist dies jener Ort, in dem wir uns die Dinge aneignen, jener Ort aber auch, in dem wir von den Dingen angeeignet werden. „Das Alltägliche, das ist das Bescheidene und das Solide, das Selbstverständliche, das, dessen Teile und Fragmente sich in einem Stundenplan verketten“ (Lefebvre 1972: 40 [1968: 51]). Die Alltäglichkeit bildet jenen unabdingbaren Bezugspunkt, jenes konkrete Koordinatensystem, zu dem wir uns situieren und das uns situiert… gegen unseren Willen. An jedem Menschen, der geprägt ist von konkreten sozialen Gegebenheiten und lernen muss, die „Dinge“ dem Modus entsprechend zu benutzen, der innerhalb einer bestimmten historischen Epoche zugleich möglich und notwendig ist, hängt eine von Ambivalenz und Ambiguität durchtränkte Alltäglichkeit. Die „Dinge“ zu benutzen? Der Ausdruck ist vielleicht schlecht gewählt, weil die Dinge im Grunde alles ausser „mir selbst“ sind. Es ist dies die Alterität, als die Welt auf die ich Zugriff habe, oder auf die ich Zugriff haben kann, als die Welt des Seins, der Wörter und der Objekte. Das Wort „Ding“ erhält aus dieser Optik einen allgemeinen, grundlegenden Wert. Aber was verschafft uns Zugang zu den Dingen? Worin liegt der Schlüssel zu den Dingen? Einen Bezug zu den Dingen zu unterhalten bedeutet auch, diese mobilisieren und ordnen zu können. Mobilisieren und ordnen heisst wiederum, über den Mediator, respektive die Macht der Arbeit zu verfügen „dank der sich der Mensch exteriorisieren und durch die er sein inneres, durch Vererbung bestimmtes Programm ausführen, das heisst im etymologischen Sinn vollenden kann“ (Raffestin, Bresso, 1977: 8). Dass die Arbeit die Dinge „mobilisiert“ und „ordnet“ heisst auch, dass sie selbst Energie und Information ist. Jeder von uns kann und muss diese ursprüngliche Macht ausüben, die uns einerseits transzendiert, andererseits aber auch unseren Bezug zur Alterität begründet. Auf diesen Bezug gehen sowohl die Kreationen als auch die Destruktionen zurück, die die Jahrtausende prägten (Moscovici, 1968). Arbeit konstruiert und vernichtet, bestätigt und verneint zugleich. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an den Ausdruck eines Quebecer Dichters: „Die Arbeit war vielleicht ihre Sprache ...“. Die Arbeit kann tatsächlich in

74

Territorialität als Medientheorie

jenem Sinne als eine Sprache bezeichnet werden, als dass wir uns über sie die Dinge aneignen. Sie bildet ein originales Paar, dessen konstitutive Seiten – Energie und Information – distinkt, nicht aber dissozierbar sind. Als natürliche Kategorie bildet die Arbeit eine bio-soziale Einheit, die entscheidend an der Evolution der Schnittstelle Natur-Kultur mitwirkt (Raffestin, Bresso, 1977). Die Interrelationen zwischen dem physischen und dem humanen öko-System beruhen also auf der ihrerseits den öko-, bio- und sozio-Logiken unterworfenen Arbeit. Von dem Gesichtspunkt einer natürlichen Kategorie aus betrachtet bildet die Arbeit eine der komplexen, grundlegenden Substanzen der Gesellschaft, wobei man keineswegs Marxist sein muss, um dieser Sichtweise beizustimmen. Als eine natürliche Kategorie unterhält die Arbeit auch eine direkte Verbindung zur technischen Haltung, die sich im Gegensatz zur Wirtschaft auf das Konzept der „Konvention“, nicht aber auf jenes der „Kosten“ bezieht (Radkowski, 1980: 47–48). Weshalb? Weil „die Technik die Mittel in Funktion der zu erreichenden Ziele betrachtet“, während „die Wirtschaft die Ziele in Funktion der auszugebenden Mittel behandelt“. Wie Radkowski aufzeigt, stellen „im Falle einer technischen Relation die Ziele eine unabhängige, die Mittel jedoch eine abhängige Variabel dar, während sich im Falle einer wirtschaftlichen Relation die Dinge gerade umgekehrt verhalten“ (Radkowski, 1980: 47–48). Diese Bemerkung ist von zentraler Bedeutung weil daraus ebenfalls hervorgeht, dass sowohl die natürliche Kategorie der Arbeit als auch die technische Relation auf öko-, bio- und sozio-Logiken basieren, das heisst im Innern eines konkreten Territoriums reguliert werden. Deshalb reflektierte in vielen Gesellschaften der Raum lange Zeit die Arbeit, und umgekehrt, solange sich der Mensch an einem gegebenen Ort die Möglichkeit verschaffte, ausgehend von den ihn umgebenden Bedingungen, aus denen er seine Energie zog und über die er Information akkumulierte, seine Existenz zu sichern (Raffestin, Bresso, 1977: 79). Die Mittel, oder anders gesagt die grundlegenden sozialen Substanzen, das heisst die Arbeit und die (durch Arbeit genutzte und verwaltete) Erde waren dabei im Grunde abhängige Variabeln. Solange die wirtschaftliche Funktion von einem sozialen System umfasst, respektive auf der gleichen Ebene wie alle anderen Funktionen in einer Gesellschaft enthalten ist, kann die relationale Struktur der Territorialität als RegulationsMechanismus verstanden werden. Die Arbeit ist in diesem Fall eine natürliche Kategorie, das heisst ein grundlegender Mediator, der Zugriff auf alle „Dinge“ der Gesellschaft gewährt. Dass die Arbeit lange Zeit die Kohärenz der Territorialität aufrecht erhielt bedeutet auch, dass sie selbst noch keine Ware war. Arbeit, die zu einer mit anderen Gütern vergleichbaren Ware wird, ist keine natürliche Kategorie mehr, die die gesamte Gesellschaft durchströmt, sondern eine kauf- und verkaufbare Wirtschaftskategorie. Der primitive Regulationsmechanismus der Territorialität wird in diesem Fall durch einen neuen Regulationsmechanismus ersetzt, der Selbstregulation des Marktes. Dessen Vulgarisierung erfolgte erst kürzlich, wie wir der These Karl Polanyis entnehmen (Polanyi, 1944). Damit eine Marktwirtschaft effektiv existiert, müssen unter anderem alle nützlichen Dinge, beziehungsweise

Arbeit und Territorialität

75

alle umkämpften Objekte, vollständig in ihrer Wirtschaftsfunktion aufgehen. Die Konsequenzen dieses Prozesses sind allerdings enorm. Damit die Arbeit zur Ware werden konnte musste sowohl eine Fiktion beglaubigt, als auch eine Spaltung realisiert werden. Eine Fiktion wurde beglaubigt, indem die Arbeit nicht mehr als eine zweiseitige Einheit Energie-Information (deren Existenz auf der Schnittstelle zwischen dem physischen und dem humanen Ökosystem liegt), sondern nur noch als eine „Kraft“, das heisst als ein quantifizierbarer Strom, verstanden wurde. „In der kapitalistischen Gesellschaft siegte der Kalkül, die Quantifizierung, die Preisbildung in der Warenwelt und der ganzen quantitativ eingeebneten Welt“ (Bloch, 1984: 72 [1974: 81]).

Ungeachtet ihrer tatsächlichen Heterogenität wird die Arbeit auf diese Weise homogenisiert, also leicht messbar. Die Arbeit wird buchstäblich von der Schnittstelle Natur-Kultur „abgehoben“ und als ein Mittel zu einer unabhängigen Variabel der Wirtschaftsbeziehungen erklärt. Durch ihre Ablösung vom konkreten Territorium wird die Arbeit überall benutz- und projizierbar. Diese Fiktion stellte gleichwohl nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung dar. Die zweite Etappe des Prozesses verlangte deshalb nach der Verwirklichung einer Spaltung. Ein selbstregulierter Markt bedarf einer radikalen Dichotomie zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Sphäre (Polanyi, 1944). Natürlich korreliert dabei die Wirtschaftsfunktion immer auch mit dem sozio-politischen System, ohne allerdings in diesem selbst enthalten zu sein. Die Finalitäten des sozio-politischen Systems werden vielmehr zu einer von der Wirtschaftsfunktion abhängigen Variabel. Die Wirtschaftsfunktion entwickelt autonom ihre eigenen Finalitäten, wobei sie – um diese zu realisieren – aus den Mitteln der verfügbaren Märkte schöpft. Die wirtschaftlichen Ziele besitzen eine eigene Dynamik, die einzig durch den Marktmechanismus reguliert wird. Die Substitution des Regulationsmechanismus’ der öko-, bio- und sozioLogiken (das heisst der Territorialität) durch einen rein anthropologischen Marktmechanismus verwandelt nicht nur die Arbeit, sondern auch die Erde, das heisst die beiden grundlegenden Substanzen der Gesellschaft, in eine Ware. Es kann unter diesen Bedingungen keine dezentralisierte Regulation mehr geben. Die Regulation wird vielmehr innerhalb des Marktmechanismus’ konzentriert. Die „Bewegungen“ werden nur noch durch dessen Zeichen, die Preise, bestimmt. Die messbar und quantifizierbar gemachte Arbeit wird zu einer steten Variabel, deren Wert durch den Marktmechanismus festgelegt wird. Genau dies ist die Konsequenz der beschrieben Fiktion und Fission. Die Arbeit wird jeglicher „Treuepflicht“ enthoben. Sie verliert ihre Prägung, um „frei“ und „mobil“ zu werden. Diese scheinbare Freiheit und Mobilität der Arbeit erlauben es, sich ihr zu bemächtigen, das heisst, die Arbeit von der Gesellschaft zu trennen, um daraus ein reines Instrument zu fabrizieren. Wurden nicht die Sklaven in der Antike „instrumentum vocale“ genannt? Von der Appropriation durch die Arbeit gelangte man zur Appropriation der Arbeit; von der Macht der Arbeit zur Macht über die Arbeit.

76

Territorialität als Medientheorie

Die ursprüngliche Verantwortung der Arbeit innerhalb der Territorialität weicht einer reinen Funktionalität. Ihr Einfluss hängt von den Befehlen des Wirtschaftssystems ab. Dieses legt „Modernitäten“ und „Obsoleszenzen“ fest, indem es von seinen eigenen Zielen ausgehend unterschiedliche Produktionsfunktionen der Arbeit bestimmt. „Im Gegensatz zur schöpferischen technischen Relation wirkt die wirtschaftliche Relation, die sich innerhalb des Horizonts der von der Technik präsentierten Ziele entfaltet, immer reduzierend. Das Vorgehen der Wirtschaft zur Bestimmung ihrer Ziele basiert auf Suppression [...]. Zu dieser, auf dem Vergleich unterschiedlicher Ziele basierenden Reduktion kommt es, weil die Wirtschaft niemals ihren Zweck selbst (die Produktion von Reichtum), sondern einzig ihre Mittel zum Gegenstand hat. Nur ihre Mittel besitzen einen wirtschaftlichen ‚Wert‘, nicht jedoch ihr Zweck“ (Radkowski, 1980: 49).

Der menschlichen Arbeit wird aus dieser Perspektive ein gewisser Wert zugestanden – oder auch nicht. Den gewählten Produktionsfunktionen entsprechend wird die Arbeit je nachdem valorisiert oder devalorisiert. Dabei wird von einer Rentabilität und Rationalität ausgegangen, deren Kriterien nicht gesamtgesellschaftlich festgelegt wurden, sondern allein der Wirtschaftsfunktion entstammen. Weil die Arbeit nicht mehr an der Regulation mitwirkt, sondern selbst zu einem regulierten Objekt verkommt, besitzt sie keinen absoluten Nutzungs-Charakter mehr. Sie wird relativiert. Die erwähnte soziale Fission führt ebenfalls zur Auflösung des raumzeitlichen Rahmens, das heisst zu einer Zerstückelung der Räume und Zeiten, die von der Arbeit nicht mehr ausgeglichen werden kann. Weshalb? Weil die Arbeit des individuellen, singulären Menschen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Überdeterminierung keine soziale Bedeutung, keine Finalität mehr besitzt. Man „extrahiert“ vom Menschen eine gewisse Menge an Arbeit, als ob man Blut von seinem Körper „extrahierte“. Dieser Vergleich ist keineswegs übertrieben, wie der folgende Satz bezüglich des Bluthandels und -schmuggels im Le Monde vom 4–5 November 1979 verdeutlicht: „Herr Louranda erklärte, infolge seiner Arbeitslosigkeit seit fünf Jahren sein Blut zu verkaufen“. Die potentielle Arbeit dieses Mannes war völlig wertlos. Sein Blut jedoch besass für die multinationalen Laboratorien noch einen gewissen, wenn auch zugegebenermassen sehr kleinen Wert! Die Fortschritte der Vermarktung kennen keine Grenzen. Dadurch entsteht eine enorme Diskordanz, deren Zerreispunkt erreicht oder zumindest beinahe erreicht ist. Alle Werte und Werke unserer Gesellschaft und Umwelt wurden durch die Arbeit als natürliche Kategorie produziert. Alles worauf wir uns beziehen, oder worauf wir versuchen uns zu beziehen, ist letztlich das Produkt von Arbeit. Nun jedoch ist die Arbeit als natürliche Kategorie am Ende. Es existiert nur noch die Arbeit als Wirtschafts-Kategorie, die Arbeit als Ware. Nur, wie können wir denn nun über die Arbeit als Ware jene Werte interpretieren, die durch die Arbeit als natürliche Kategorie entstanden? Die Antwort ist, es gibt keine Möglichkeit der Interpretation mehr. Die Diskordanz schlägt vielmehr in eine Verzweiflung um, die in ihren unterschiedlichsten Formen unsere Alltäglichkeit immer mehr bestimmt.

Arbeit und Territorialität

77

Darüber hinaus bringt diese Diskordanz ebenfalls ein zentrales Paradox unserer Gesellschaft hervor. Die politische Sphäre im weitesten Sinn, die ebenfalls das Soziale und Kulturelle umfasst, bezieht sich bewusst auf die Arbeit als natürliche Kategorie, von deren Mythos sie sich nährt. Gleichzeitig jedoch interessiert sich die wirtschaftliche Sphäre nur noch für die mobile und fluide Arbeit als Ware. Auf der einen Seite wird der Gebrauchswert der Arbeit glorifiziert, während auf der anderen Seite nur noch ihr Tauschwert anerkannt wird. Wir leben wohl in mancher Hinsicht noch immer in der kulturellen Vorstellungssphäre der Renaissance, die uns Ernst Bloch zu Recht in Erinnerung ruft. „Und Tätigkeit ist nun das Signal. Es entsteht der arbeitende Mensch, der sich seiner Arbeit nicht mehr schämt. Die Adelssperre vor der Arbeit, als ob sie den Menschen schändete und entwürdigte, fällt: der homo faber, der in die Welt erzeugend-eingreifende, entsteht, auch wenn dies erzeugende Eingreifen selber als ein neuer Zustand noch nicht grundhaft reflektiert war“ (Bloch, 1984: 7–8 [1974: 6]).

Die Bedeutung dieser Konzeption wird heute allerdings immer schwächer. Wir erleben eine Regression des homo fabers, der gerade weil seine Aktivität die Welt nicht mehr verändert, immer mehr Transformationen erlebt, die er nicht oder nur schlecht versteht. Ich stelle in den vorhergehenden Zeilen keineswegs die technische, sondern vielmehr die wirtschaftliche Relation in Frage, die sich selbst freiwillig in Klammern setzte und isolierte, um unter dem Deckmantel der Reichtumsverwaltung ihren Traum von Einfluss und Macht zu verwirklichen. Diese Reichtumsverwaltung basiert wie gesehen auf der Vorstellung, die Mittel bildeten eine unabhängige Variabel, die man sich in allen möglichen, in Funktion der ausgeübten Macht variierenden Kombinationen vorstellen könne. Die politische Sphäre erschafft klar identifizierte Wesen. Die wirtschaftliche Sphäre hingegen de-personalisiert diese Wesen und produziert „an-onyme Menschen (an-onuma) ohne eigenen Namen, die auch a-topische Menschen, das heisst Menschen ohne Ort sind. Als ihrer Eigenart beraubte Individuen – der Eigenart, die der Name jedem Menschen verleiht – verfügen diese im gesamten Wohnraum über keinen Ort mehr, der ihnen als ihr Eigen zugestanden werden könnte. Da sie auf einer sozialen Ebene nicht mehr sich selbst zuordbar sind können sie auch auf einer räumlichen Ebene nicht mehr situiert werden“ (Radkowski, 1980: 38).

Man könnte meinen, diese Beschreibung betreffe nur die Arbeit von Immigranten. Wenn wir uns hier aber mal nur nicht täuschen! Die Beschreibung trifft auch immer mehr auf all jene zu, die wir als „Immigranten des Innern“ qualifizieren können, die der geografischen und sektoriellen Mobilität ausgesetzt sind, um jenem letzten Identitätsverlust, der Arbeitslosigkeit, zu entgehen. Es wird immer schlimmer! Die Formel Metro-Boulot-Dodo wird für Arbeitslose zur Formel Metro-Journaux-Dodo. Die Job-Annoncen zu zerpflücken und sich zu beeilen, eine hypothetische Arbeit zu finden bildet heutzutage eine Beschäftigung für Millionen von Männern und Frauen. Sicher, der Staat „kauft“ die unverkaufte und übrig gebliebene Arbeit-Ware zurück. Aber ist nicht gerade dies das höchste Eingeständnis der Diskordanz zwischen der politischen und der wirt-

78

Territorialität als Medientheorie

schaftlichen Sphäre? Ist dies nicht der eigentliche Beweis, dass der Staat den Punkt erreicht hat, an dem er das Wirtschaftliche zu mimen bereit ist (Guillaume, 1975)? Für all dies wird der technische Fortschritt, respektive die technische Haltung verantwortlich gemacht – oder aber man versucht zumindest, uns daran glauben zu lassen. Völlig zu Unrecht. Die technische Haltung bringt eine irreversible Rationalität zum Ausdruck, die sich die Menschheit über Jahrtausende hinweg erarbeitete (Raffestin, Bresso, 1979: 159). In Frage zu stellen ist vielmehr die wirtschaftliche Beziehung, das heisst namentlich die Tatsache, dass sich diese nur noch auf ihre eigenen Ziele, nicht aber auf das soziale System bezieht, mit dem sie zwar verbunden ist, von dem sie sich jedoch gleichzeitig aus eigenem Antrieb absondert. All dies ist doch absurd, wird man mir nun entgegnen. Sie beschreiben die wirtschaftliche Sphäre als ob sie quasi unabhängig wäre, während sie doch in Wirklichkeit da ist, um die sozialen Bedürfnisse zu befriedigen. Nein, das Wirtschafts-System ist seit einem Jahrhundert, vielleicht schon seit zwei Jahrhunderten, „ein in allen Teilen konstruiertes Werkzeug, das auf die Machtergreifung abzielt“ (Radkowski, 1980: 241). Seit 1968, wie weit zurück dieses Jahr doch scheint, haben viele durch ihre Aktionen, Fragen und Texte die illusorische Gleichung „zerstückelte Arbeit = Effizienz + Überfluss + Freizeit“ in Frage gestellt und gleichzeitig eine andere, näher an der Realität gelegene Gleichung denunziert: „zerstückelte Arbeit = Effizienz + Macht“. Mittlerweile wurde die Selbstverwaltung zu einem eigentlichen Modebegriff – was nicht eigentlich schlecht ist, ganz im Gegenteil –, ohne allerdings als solcher gelebt zu werden. Vor drei Jahren kam eine Arbeitsgruppe, die das Produktionssystem untersuchte, zum Schluss, es wäre effektiv möglich nur zwei Stunden pro Tag zu arbeiten, vorausgesetzt alle arbeiteten, arbeiteten besser, würden die Verschwendung kurzlebiger Objekte vermindern und einen Teil der obligatorischen in freie Arbeit umwandeln (Adret, 1977). All dies ist in Wirklichkeit „weit entfernt“ und „alt“. Ist es purer Zufall oder perverse Kalkulation, dass gerade im Moment eines Ideen-Überflusses zur „Wiederentdeckung“ der Arbeit eine Krise, oh wie willkommen, den Wirtschaftlern, Epigonen der Chicagoer Schule, die Tugenden des selbstregulierten Marktes und des entfesselten, hemmungslosen Liberalismus’ wieder aufzeigte? Wie schön ist doch der Markt! Wie schön ist doch die Konkurrenz! Die Resultate übertrafen die kühnsten Erwartungen. Mithilfe der gestiegenen Arbeitslosigkeit gelang es der wirtschaftlichen Sphäre, den Unternehmen, die Macht wiederzuerlangen, die sie verloren hatte. Die bereits seit 1975, also seit Langem anhaltende Krise wird weitergehen, wobei man keineswegs ein grosser Prophet sein muss, um dies zu verkünden. Sie übertreiben, niemand will eine Krise, dies ist einmal mehr völlig absurd! Nein, die Krise wird benutzt und als „soziale Katharsis“ verlängert. Die „neuen Ökonomen“ entnehmen dem Arsenal der neo-klassischen Ökonomie die entsprechenden Formeln, Modelle und Theorien, deren reduktiver Charakter ausgeprägter nicht sein könnte.

Arbeit und Territorialität

79

Diese aktuelle „Reinigung“ äussert sich als ein Zurückweichen, als eine allgemeine, die gesamte Gesellschaft erfassende Retro-Bewegung. Wirtschaft, Politik, Kultur, sie alle sind betroffen von dieser Neo-Modernität, die eine gewaltige Werte-Inversion darstellt, um wieder einen gewissen Ausgleich zu erlangen zwischen dem Markt, einem kritischen Moment sowie den gefährlich abweichenden sozialen Aspirationen. Man begriff, dass es ausreicht einem Menschen die Arbeit zu nehmen um ihn zu unterwerfen, um ihm in Erinnerung zu rufen, dass alles, also auch er selbst, letztendlich eine Ware ist. Von der machthungrigen wirtschaftlichen Sphäre ist rein gar nichts zu erwarten. Allein die politische Sphäre könnte effektiv, falls sie ihre Mimik der Wirtschaft aufgeben und ihre Machtlosigkeit einsehen würde, wenngleich eher durch eine Implosions- denn durch eine Explosions-Bewegung, neue Ziele für jene Gesellschaft vorlegen, von der sie nur noch die immer umstrittenere, formelle Repräsentantin ist. Obschon die Arbeit Gefahr läuft am Ende dieser Krise vollständig dominiert zu werden, scheint der Staat nicht zu erkennen, dass auch er selbst nicht unbeschadet aus diesem Prozess hervorgehen wird, gerade weil er bereitwillig die grundlegenden Substanzen der Gesellschaft preisgibt, zu denen auch die Arbeit gehört. Wie Michel Serres sagen würde, der Staat spielt um den Inhalt, die Wirtschaft um die Position. Dabei gewinnt immer derjenige, der um die Position spielt. Um ihr Überleben zu sichern muss die politische Sphäre in einer Territorialität verankert sein. Sie muss von einer umfassenden Regulation ausgehen, in der die Mittel, wie beispielsweise die Arbeit, eine abhängige Variabel darstellen. Die einzigen wirklichen Ressourcen der politischen Sphäre liegen in der Arbeit sowie in der Schnittstelle Natur-Kultur. Beider konnte sich die wirtschaftliche Sphäre mit dem Segen des Staates bemächtigen. Deshalb ist die politische Sphäre gezwungen, gestützt auf die befreite Arbeit, eine neue Territorialität zu erschaffen oder aber in ihrer aktuellen Form zu verschwinden. Die Akzentuierung der „klassischen bürgerlichen Lehren des Laissezfaire […] mit ihrer rigorosen formalen Trennung der politischen und ökonomischen Systeme“ (Anderson, 1979: 44 [1978: 37–38]) des 18. und 19. Jahrhunderts führte, nicht absolut, sondern relativ gesehen, zur letzten Etappe der wirtschaftlichen Domination des Politischen. Es wäre indes falsch, die politische, soziale und kulturelle Destrukturierung, respektive die Destrukturierung der Schnittstelle zwischen dem physischen und dem humanen Ökosystem als sichtbare Seite der Destrukturierung der Arbeit zu verstehen. Die Sequenzen müssen gerade umgekehrt gedacht werden, wie Radkowski schreibt. „Die grundsätzliche, der Praxis moderner Gesellschaften zugrunde liegende Sequenz führt von der Technik, als Kraft des Machens, sukzessive über die Wirtschaft und die Arbeit zur menschlichen Domination der Natur: Technik ĺ Wirtschaft ĺ Arbeit ĺ Domination. Im Gegensatz dazu verläuft die Sequenz, die die Praxis traditioneller Gesellschaften stützt in die umgekehrte Richtung: Abhängigkeit ĺ Arbeit ĺ Wirtschaft ĺ Technik“ (Radkowski, 1980: 252).

80

Territorialität als Medientheorie

Als Trägerin regulativer Information muss die Arbeit die sozialen Sequenzen bestimmen, falls die Gesellschaft aus der Perspektive einer umfassenden, durch die öko-, bio- und sozio-Logiken bestimmten Regulation erhalten werden soll. Ansonsten ... BIBLIOGRAPHIE Adret (1977), Travailler deux heures par jour, Seuil, Paris. Anderson P. (1978), L’Etat absolutiste, Bd. 1, Maspero, Paris. Anderson P. (1979), Die Entstehung des absolutistischen Staates, Suhrkamp, Frankfurt. Bloch E. (1974), La philosophie de la Renaissance, Payot, Paris. Bloch E (1984), Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance, Suhrkamp, Frankfurt (Erstausgabe: 1977). Guillaume M. (1975), Le capital et son double, PUF, Paris. Lefebvre H. (1968), La vie quotidienne dans le monde moderne, Gallimard, Paris. Lefebvre H. (1972), Das Alltagsleben in der modernen Welt, Suhrkamp, Frankfurt Moscovici S. (1968), Essai sur l’histoire humaine de la nature, Flammarion, Paris. Polanyi K. (1944), The great transformation, Viking Press, New York. Radkowski de G-H. (1980), Les jeux du désir, PUF, Paris. Raffestin C., Bresso M. (1979), Travail, Espace, Pouvoir, l’Age d’Homme, Lausanne.

SPRACHE UND TERRITORIUM Claude Raffestin (1995) AUFSATZ ZUR KULTURGEOGRAFIE Es ist bedauerlich, dass der Geografie mit der Zeit immer mehr Adjektive beigefügt wurden, die weniger die Entstehung neuer wissenschaftlicher Denkstrukturen, als vielmehr die Fülle neuer Phänomene bezeichnen, deren Studium durch kartographische Darstellungen nicht ihre Erklärung sondern einzig ihre Lokalisierung bezweckt. Die Geografie wurde von der Kartographie, ihrem ursprünglichen Hilfsinstrument, in den Hintergrund gerückt und dadurch gewissermassen von ihrer eigenen Repräsentation verschlungen. Es ist dies die Revanche der Visualisierung an der Konzeptualisierung. Mit anderen Worten, das geografische Denken scheint einzig als Kenntnis der räumlichen Verteilung oberflächlicher Phänomene zu existieren, ohne dabei die erklärenden Beziehungssysteme des Visualisierbaren offenzulegen. Die Geografie ist von einer schrecklichen gedanklichen Inversion befallen, indem sie über das Studium der räumlichen Distribution von Phänomenen Beziehungen erfindet, die unmittelbar in ihrer Repräsentation verpuffen. Aus einem anthropologischen Gesichtspunkt bringt die Lokalisierung kultureller Phänomene a priori keine andere Beziehung zum Ausdruck als jene der Präsenz oder der Absenz. Es müsste in jedem einzelnen Falle geprüft werden, ob die Charakteristika gewisser Orte tatsächlich mit den betrachteten Phänomenen eine Beziehung unterhalten, die deren Präsenz oder Absenz erklären könnte. Kann die Geografie kultureller Phänomene überhaupt etwas anderes bezwecken als die visuelle Repräsentation der Verteilung von Sprachen, Religionen, Künsten, literarischen Gattungen, Spielen, Essgewohnheiten, oder von was auch immer? Diese Frage ist von entscheidender Bedeutung, betrifft sie doch die Glaubwürdigkeit und Legitimation einer ganzen Wissenschaftsdisziplin. THEORIE UND KULTURGEOGRAFIE Eine einzig als Lokalisierung unterschiedlicher Phänomene verstande Geografie wird zur reinen Kartographie, das heisst zu einer Art Topologie. Dies ist in etwa wie wenn von der Geschichte nur noch die Chronologie übrig bliebe, was zwar nicht unbedingt uninteressant wäre, wodurch jedoch ihr erklärender Wert verloren ginge. Die Geografie kann sich nicht damit begnügen, räumliche Konkordanzen von Phänomenen aufzuzeigen. Dies wird vor allem auf einer kulturellen Ebene deutlich, da die Beziehungen zwischen Kulturen und Räumen (und/oder Territo-

82

Territorialität als Medientheorie

rien) keinesfalls vorbestimmt sind. Räume und/oder Territorien stellen lediglich einen Support dar, der mehr oder weniger stark an der Konstitution unterschiedlicher kultureller Phänomene mitwirkt. Geografisch gesprochen sind Kulturen – als Produktion, Austausch oder Aufnahme – besonders schwierig zu behandeln, da in diesem Fall das Spektrum möglicher Erklärungsansätze und Korrelationen besonders breit ist. Falls wir effektiv von einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen der Kartographie und der Geografie ausgehen, folgt daraus, dass wir ohne eine ausreichende theoretische Grundlage allenfalls über eine kulturelle Kartographie, nicht jedoch über eine eigentliche Kulturgeografie verfügen. Welche theoretische Grundlage wäre überhaupt vorhanden, um kulturelle Phänomene aus einer geografischen Perspektive zu behandeln? Paradoxerweise war die Absenz theoretischer Reflexion früher weniger ausgeprägt als heute. Dabei denke ich an die unterschiedlichen Erklärungsansätze zur Rolle des Klimas, der Psychologie, der Ethnologie oder gar an Rassentheorien, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Theoretische Überlegungen zur Rolle des Klimas beispielsweise – die im Übrigen eher den Einfluss der Latitüde als die strikte Meteorologie betreffen – spielten eine zentrale Rolle von Hippokrat bis Hellpach, über Bodin, Montesquieu und Bonstetten. Aufgrund ihres allzu allgemeinen Charakters können diese Erklärungsansätze in der Praxis allerdings nicht wirklich angewandt werden. Die wahrscheinlich am weitesten entwickelte, wenn auch nicht unbedingt überzeugendste Theorie stammt von H. Taine (1863). Taines Literatur- und Kunstinterpretation, basierend auf den Kriterien des „Zeitpunkts“, des „Milieus“ und der „Rasse“, mag zwar beschränkt sein, ihr systematischer Charakter verdeutlicht aber immerhin, dass jede theoretische Vorgehensweise auf der Vorstellung eines Systems beruht. Taines Literatur- und Kunstgeschichte Englands ist als kulturgeografischer Versuch avant la lettre zu verstehen. Dabei begreift Taine die Wechselwirkungen zwischen Geschichte, Geografie und Ethnographie keineswegs deterministisch. Er ist vielmehr an einer allgemeinen Theoriebildung interessiert, die die Analyse von Systemen zum Gegenstand hat. Taines Denken ist offensichtlich stark von den wissenschaftlichen Errungenschaften seiner Zeit geprägt: dem Jahrhundert der Verwissenschaftlichung der Geschichte, der von Humboldt geprägten Geografie als Naturwissenschaft sowie der physischen Anthropologie, deren rassistische Auswüchse unter anderem durch Gobineau später tragische Folgen haben sollten. Taine selbst ist heute in Vergessenheit geraten. Dabei hätte sein Werk zweifelsohne eine längere Nachwirkung verdient, wurde jedoch von seinen Nachfolgern und Nachahmern, Ratzel einmal ausgenommen, kaum je explizit erwähnt. Taines Einfluss ist bis heute diffus. Erstaunlich ist vor allem, dass bisher niemand explizit den Anspruch erhob, die Nachfolge seines Denkens anzutreten. Es wäre deshalb interessant, die ausbleibende Rezeption Taines genauer zu untersuchen, was aber natürlich wiederum eine andere Geschichte wäre… Die Frage nach einem umfassenden theoretischen Rahmen der Kulturgeografie bleibt indes noch immer ungelöst. Es wäre deshalb an der Zeit, die Rolle eines

Sprache und Territorium

83

neuen Paradigmas, der Territorialität, zu prüfen, das mehr als andere Ansätze befähigt wäre, ein relationales Verständnis der Geografie zu begründen. Vielleicht müsste also von einer ganz anderen Perspektive ausgegangen werden. Von einem Verständnis der Geografie zum Beispiel, als Studium der menschlichen Praktiken und Kenntnisse einer materiellen Realität, das heisst der Erde, die die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, als Teil der allgemeinen Bedürfnisse des Lebens, ermöglichen. Menschliche Bedürfnisse setzen eine aus drei Teilen bestehende Beziehung zwischen einem individuellen oder kollektiven Subjekt, einem oder mehrerer Mediatoren sowie einem oder mehrerer Ökosysteme voraus. Es ist dies die Beziehung Hand-Kopf-Materie; jene Beziehung, die ebenfalls das Trinom der Begriffe Produktion-Austausch-Aufnahme begründet, das alle menschlichen Handlungen umfasst und erschliesst. Die drei Begriffe beziehen sich sowohl auf materielle als auch auf immaterielle Phänomene. Eine literarische oder künstlerische Produktion beispielsweise unterscheidet sich nicht grundsätzlich von einer industriellen Produktion, wenn wir von ihrem eigentlichen Produkt einmal absehen. Gleichermassen unterscheidet sich die Kommunikation nicht strukturell von dem Austausch von Gütern oder Dienstleistungen. Abgesehen von den dabei angewandten Mechanismen ist auch die Nahrungsaufnahme, wobei Energie durch einen Transformationsprozess gewonnen wird, nicht grundsätzlich anders geartet als das Bestaunen eines Kunstwerks, das in der Assimilation und Adaptation von Information besteht. Vor diesem Hintergrund wird deutlich weshalb ich davon ausgehe, dass im Prinzip alle kulturellen Phänomene auf die drei Prozesse der Produktion, des Austauschs und der Aufnahme zurückgeführt werden können. Es geht mir allerdings nicht darum, dieses rudimentäre ökonomische Schema als grundlegende Problematik der Kulturgeografie zu erschliessen. Ich betone lediglich, dass alle Phänomene, die die Geografie zu ihrem Gegenstand hat (egal ob es sich dabei um die physische Geografie oder um die Humangeografie handelt), aus unterschiedlichen Prozessen der Produktion, des Austauschs und der Aufnahme hervorgehen. An dieser Stelle beschränkt sich meine Analyse auf den Bereich der Humangeografie, in den sich kulturelle Phänomene (aus einem anthropologischen Gesichtspunkt) einordnen lassen. Produzieren, austauschen und aufnehmen sind komplexe Handlungen, die sich als Beziehungssysteme zur Interiorität, Exteriorität und Alterität äussern. Wenn wir im Folgenden nun die Sprache und das Territorium miteinander verbinden, so bewegen wir uns im Rahmen dieses komplexen Dreiecks, dessen Auswirkungen sowohl auf einer materiellen als auch auf einer immateriellen Ebene liegen. Die Sprache und das Territorium stellen nicht nur zwei simple Instrumente dar. Sie umfassen im Gegenteil die Gesamtheit des erwähnten Trinoms [Produktion-Austausch-Aufnahme], das heisst, sie sind in allen individuellen und kollektiven Handlungen von Bedeutung. Es ist schwierig sich eine Situation vorzustellen, in der die Sprache und das Territorium nicht präsent wären, das heisst, in der diese beiden „Mediatoren“ nicht irgendeine Rolle als Mittel oder Zweck spielen würden.

84

Territorialität als Medientheorie

Paradoxerweise müssen die Sprache und das Territorium – als komplexe Systeme, die aus Prozessen der Produktion, des Austauschs und der Aufnahme hervorgehen – nicht unbedingt in einer spezifischen Geografie verwurzelt sein. Sie können in gewissen Gebieten zwar vorkommen, d.h. als produzierte Gegebenheiten zur Verfügung stehen, dabei jedoch von Ursachen abhängen, die ausserhalb dieses Gebietes selbst liegen. Die Wechselbeziehungen zwischen einer Sprache und einem Territorium sind in diesem Fall nur „aufgesetzt“. So wurden beispielsweise die indogermanischen Sprachen in Afrika, Asien oder Amerika in den meisten Fällen von aussen eingeführt. Sie stehen in keinem direkten Zusammenhang mit den ursprünglichen Gegebenheiten des Territoriums, in dem sie nun benutzt werden. In diesen Fällen erklärt sich das Zusammenfallen eines Territoriums und einer Sprache einzig durch die geschichtlichen Ereignisse, die am Anfang der Verbreitung einer Sprache, ihres Transfers, ihres Imports und ihrer Besetzung eines Territoriums (um nur ein paar Prozesse zu nennen) standen. Ich will damit sagen, dass a priori kein kausaler Bezug zwischen einer bestimmten Sprache und einem bestimmten Territorium besteht. Irgendein Territorium kann irgendeine Sprache beherbergen oder irgendeine Sprache kann irgendwo gesprochen werden. Es ist demzufolge auch kein direkter funktionaler Zusammenhang zwischen Sprache und Territorium auszumachen. Ihre Verbindung wird hauptsächlich von lokalen Gemeinschaften aufrechterhalten. Diese Gemeinschaften bewahren die zwangsläufig entstehende Beziehung zwischen einer Sprache und einem Territorium, indem sie sowohl die Eine als auch das Andere produzieren. Mit anderen Worten, Sprache und Territorium sind Projektionen von Bedürfnissen lokaler Gruppen. Die Kulturgeografie muss genau diese Bedürfnisse in ihr Zentrum stellen. EINE ANDERE HYPOTHESE Hinter jedem kulturgeografischen Untersuchungsgegenstand verbirgt sich die menschliche Arbeit. Ohne Arbeit keine Beziehungen zu Dingen und Lebewesen. Daraus folgt, ohne Arbeit keine Macht. Arbeit ist die ursprüngliche, grundlegende Substanz der Macht. Arbeit begründet alles, Arbeit verändert aber auch alles, selbst wenn ihre produktive Rolle manipuliert und auf destruktive Ziele gerichtet werden sollte. Als kombinierter Einsatz von Energie und Information erlaubt es die Arbeit dem Menschen, Beziehungen zu unterhalten zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Dadurch entsteht das Beziehungsnetzwerk der Territorialität, in dessen Zentrum wir die unbedingte Notwenigkeit des „Wohnens“ – als die Gesamtheit aller Antworten eines menschlichen Kollektivs auf seine Bedürfnisse – entdecken. Diese Bedürfnisse befinden sich zwangsläufig in einem konstanten Veränderungsprozess, da sie demselben Rhythmus folgen, der auch die Interiorität, Exteriorität und Alterität berührt. Dies bedeutet, dass das Beziehungssystem der Territorialität nicht als definitives Resultat verstanden werden kann, sondern im Gegenteil vielfältigen Modifikationen ausgesetzt ist, die sowohl seine konstitutiven Elemente als auch seine Grundstruktur betreffen.

Sprache und Territorium

85

Die Sprache und das Territorium sind eng mit dem Phänomen des „Wohnens“ verbunden, das Heidegger als die Versammlung des „Gevierts“ definierte (1962): Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen. Über diese poetische Definition hinaus muss vor allem der universelle Charakter der Sprache und des Territoriums hervorgehoben werden. Beide situieren sich deshalb weit über der Klasse der gewöhnlichen Instrumente, in der sie oft angesiedelt werden. Ein solcher Ansatz ist zwar nicht unbedingt falsch, bleibt jedoch zu sehr in einer rein funktionalistischen Logik verhaftet. Darüber hinaus verbindet die Sprache und das Territorium ihr gemeinsamer Ursprung in der menschlichen Arbeit, wobei im ersten Fall eine sonore, im zweiten Fall hingegen eine materielle Substanz die Projektionsfläche der Arbeit darstellt. Zu guter Letzt bleibt zu betonen, dass sowohl die Produktionsprozesse der Sprache als auch des Territoriums auf unterschiedlichen Ebenen steigender Komplexität ablaufen, deren ineinander verschachtelten Organisationsstrukturen sich gegenseitig beeinflussen. Dies ist bei der Sprache relativ einfach am Beispiel der Grammatik zu verdeutlichen. In Bezug auf das Territorium verfügen wir über keine klar definierte Grammatik. Deshalb ist die Demonstration hier etwas schwieriger und muss auf einer rein praktischen und empirischen Ebene verbleiben. Trotz dieser Übereinstimmungen wäre es indes verfrüht und wahrscheinlich auch unangebracht, die Produktion der Sprache und des Territoriums als analoge Prozesse zu behandeln, indem das Erklärungsmodell jener auch auf dieses angewandt würde. Ein solches Vorgehen wäre selbst dann unbefriedigend, wenn wir ausschliesslich auf der Ebene der Repräsentation verblieben. Zu gross wäre das Risiko, das eine als das Abbild des anderen zu halten, wo doch ihre eigentliche Gemeinsamkeit im jeweils auf unterschiedliche Voraussetzungen zurückgehenden Einfluss der Arbeit zu finden ist. Wir scheinen im Allgemeinen die Produktionsund Entstehungs-Prozesse des Territoriums besser zu kennen als jene der Sprache, deren Entwicklung erst lange nach ihrem Auftreten verstanden werden kann. Theoretisch können nicht nur unendlich viele Mitteilungen mit den Ressourcen der Sprache, sondern wohl auch eine unbegrenzte Anzahl von Territorien mit den Ressourcen des Raumes gebildet werden. Aus dem Gesichtspunkt des Territoriums ist diese Möglichkeit in der Praxis allerdings aufgrund der dabei anfallenden Material- und Energiekosten zu relativieren. Zweifelsohne liegt hier ein wichtiger Unterschied zwischen der Produktion der Sprache und jener des Territoriums. Nicht nur die jeweiligen Produktionskosten sind nicht zu vergleichen, die linguistische Produktion ist zudem von ungleich kürzerer Dauer als jene des Territoriums. Die Sprache kann sich deshalb schneller an veränderte Bedürfnisse anpassen als das Territorium. Beide können indes unter Umständen eine Vielzahl unterschiedlicher Bedürfnisse gleichzeitig abdecken, wie wir beispielsweise den vielfältigen Funktionen einzelner territorialer Elemente entnehmen. Wir können dabei von einer Unterscheidung primärer und sekundärer Funktionen ausgehen (Eco, 1972). Dieses Phänomen ist im Übrigen auch bei der Sprache zu beobachten, wo uns die Etymologie über die primären und sekundären Bedeutungen eines Wortes unter-

86

Territorialität als Medientheorie

richtet. So gesehen basieren die Archäologie und die Etymologie auf derselben Logik, wenn nicht gar auf derselben Technik. Die Ubiquität der Sprache und des Territoriums in Bezug auf die Bedürfnisse des Menschen verunmöglicht es an dieser Stelle, ihrer Bedeutung aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven erschöpfend zu behandeln, wobei die Maslow’sche Bedürfnispyramide nur eine Möglichkeit unter vielen darstellen würde. Ich werde mich deshalb auf die Rolle der Sprache und des Territoriums bezüglich des menschlichen Sicherheitsbedürfnisses konzentrieren, was an sich schon ein bedeutendes Unterfangen darstellt. Das Sicherheitsbedürfnis liegt nach den physiologischen Grundbedürfnissen an zweiter Stelle der Maslow’schen Bedürfnispyramide (Maslow, 1954). Sein Ausdruck ist keineswegs uniform, sondern im Gegenteil äusserst facettenreich. Ein solches, von den menschlichen Bedürfnissen ausgehendes Vorgehen könnte eine gewisse materialistische Verankerung einer noch zu verwirklichenden Kulturgeografie begründen. Dies dürfte Autoren wie Dan Sperber gefallen, der seinerseits versucht, soziokulturelle Phänomene auf „Körperbewegungen von Individuen sowie auf die daraus resultierenden Veränderungen der Umwelt“ zurückzuführen (Sperber, 1992). Ich frage mich allerdings, weshalb Sperber nicht einfach auf die Bedürfnisse hinweist, aus denen seine berühmten Körperbewegungen hervorgehen. Darüber hinaus bin ich auch von seiner Erklärung der Repräsentation nicht wirklich überzeugt, die scheinbar darüber entscheidet, ob eine gewisse Bewegung eher einen wirtschaftlichen oder religiösen Akt darstellt. Mir scheint eine solche im Nachhinein vorgenommene Einordnung ziemlich naiv. Ich sehe im Übrigen auch keinen Grund, eher von einer Abfolge als von einer Gleichzeitigkeit auszugehen, es sei denn man postuliere a priori eine rein mechanische Logik, die einer vertieften Prüfung allerdings kaum standhält. Eine andere Hypothese ist hier überzeugender: Um „kommuniziert“ zu werden muss ein Territorium durch Zeichen gedacht werden, die der Sprache entstammen. Die Repräsentation des Territoriums in Echtzeit, das heisst seine gleichzeitige Konstruktion auf einer sprachlichen Ebene, liegt auf der Schnittstelle zwischen der materiellen Realität und einer immateriellenVorstellung. Es ist nahe liegend davon auszugehen, dass ein Territorium im Allgemeinen vor seiner materiellen Verwirklichung bereits als Repräsentation existierte. Obwohl seine materiellen und immateriellen Dimensionen in einem permanenten Wechselspiel der gegenseitigen Beeinflussung und Adaptation stehen, bildet das effektiv realisierte Territorium indes keine genaue Kopie des erdachten Territoriums. Wir haben es vielmehr mit zwei Realitäten zu tun, von denen jede auf ihre Weise „bewohnt“ wird, ohne dass zwischen den beiden eine bi-univoke Übereinstimmung zu erkennen wäre. Jede Repräsentation wird als Teil eines Gedächtnisses, dass heisst als Bestandteil einer Kultur im Allgemeinen, bewohnt. Die Wurzeln einer Kultur liegen immer im Vorausgegangenen, dem Antezedens (Steiner, 1986). Das in seiner Gestaltung materialisierte Territorium trägt zur Sicherheit des gegenwärtigen sozialen Lebens bei. Es unterstützt die Stabilität der möglichen Beziehungsorte, schützt vor auswärtigen Gefahren und befreit vor Ängsten. Es setzt Limiten und

Sprache und Territorium

87

erschafft eine von Normen aufrechterhaltene Ordnung. Das Territorium ermöglicht es, sowohl Sicherheit in der Erinnerung, im Gedächtnis zu finden, als auch Sicherheit auf die Zukunft zu projizieren. Wir wohnen nicht im Wort „Territorium“. Wir wohnen im Gedächtnis des Territoriums, über die Wörter einer Sprache. Sprache und Territorium stellen demzufolge aus der Sicherheits-Perspektive zwei komplementäre, Zeit und Raum umfassende Universen dar. Sie tragen gemeinsam dazu bei, Zeit und Raum zu beherrschen. Beide bilden in diesem Sinne kulturelle Instrumente zur Unterteilung der Welt. Jede Kultur ist eine „Maschine“ zur Produktion von Limiten. In gewisser Weise ist jede Kultur ein System, das auf die Produktion von Sicherheit, respektive auf die Befriedigung des Sicherheitsbedürfnisses ausgerichtet ist. SPRACHE, TERRITORIUM UND LIMITE Die Limite spielt eine grundlegende Rolle in jeder Sprach- oder TerritoriumsProduktion. Wir sehen dies am Beispiel des bekannten römischen Ausdrucks „regere fines“, der nicht nur eine rein materielle Ordnung, sondern auch eine immaterielle oder moralische, das heisst zum Beispiel eine Ordnung der Werte bezeichnet. Begrenzen bedeutet immer auch – und sei es nur aufgrund der dabei hinterlassenen Spuren –, die Umwelt zu verändern. Die Gliederung des Territoriums, deren Bedeutung wir aus dem römischen Gründungsmythos kennen, ist nichts anderes als ein System von Limiten. Auch De Saussures Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat bezeichnet eine Limite, die ihrerseits eine (gleichwohl arbiträre) Ordnung begründet. Mir geht es hier keineswegs darum, der Limite eine emotionale Bedeutung beizumessen. Ich will vielmehr verdeutlichen, dass Limiten eine ganze Reihe von Funktionen erfüllen, deren elementarste jene der Differenzierung ist. Jede Limite produziert eine Differenz, die sich dem Chaos widersetzt und dazu beiträgt, das Bedürfnis nach Sicherheit zu befriedigen. Die anderen Funktionen der Limite – wenn auch nicht uninteressant, so doch weniger bedeutsam – werden an dieser Stelle beiseite gelassen. In unserem Fall führt die Behandlung der Limite ebenfalls zur Frage des Ursprungs einer Sprache, respektive eines Territoriums. Paradoxerweise ist der Ursprung einer Sprache jedoch nicht wirklich ein linguistisches Problem, gleichwie der Ursprung eines Territoriums kein eigentlich geografisches Problem darstellt. Die Produktion einer Sprache oder eines Territoriums kann sehr präzise und aufschlussreich untersucht werden, ohne auf ihren Ursprung einzugehen. Es ist zwar nicht gerade elegant, sich des Problems auf diese Art zu entledigen. Der Begriff der Limite eröffnet jedoch eine willkommene Möglichkeit zur Kompensation dieses Makels, da ohne Begrenzungen weder Sprachen noch Territorien existieren. Dem Prinzip der Metonymie folgend können wir daraus ableiten, dass der Ursprung der Limite ebenfalls dazu beiträgt, den Ursprung einer Sprache oder eines Territoriums zu erschliessen. Wir wissen in der Tat einiges über die Limite. Wir

88

Territorialität als Medientheorie

kennen beispielsweise ihren doppelten Ursprung, biologischer und sozialer Natur. Jedes Tier, das heisst auch der Mensch, produziert Limiten, die seinen Sicherheitsbereich, respektive sein Verteidigungs-Territorium definieren. Es ist dies der ursprüngliche Ausdruck ihrer Territorialität, der direkt auf den Hypothalamus zurückgeht, wie Laborit aufzeigte. Wie wissen auch, dass nicht nur Tiere, sondern vor allem auch der Mensch, ihr Territorium auf vielfältige Art und Weise markieren. Durch diese Markierungen entsteht eine primitive, auf den verwendeten Zeichen beruhende Sprachform. Es ist geradezu banal, daraus auf den bio-sozialen Ursprung der Sprache und des Territoriums zu schliessen. Beide basieren also auf einer bio-sozialen Grundlage. Dem Bedürfnis nach Sicherheit, respektive der Befriedigung dieses Bedürfnisses entspringend, begründet die Limite sowohl eine materielle als auch eine immaterielle Form der Produktion. Sprache und Territorium sind strukturelle, um nicht zu sagen morphologische Invarianten. Beide existieren immer in irgendeiner Form, ihre phänomenalen Ausprägungen variieren jedoch sowohl in der Theorie als auch in der Praxis unendlich. Mit anderen Worten, wir sehen, dass sich diese Invarianten zwar weiterentwickeln und verändern, dabei jedoch immer in irgendeiner Form präsent bleiben. Sprache und Territorium bilden das Zentrum jeder Kultur. Keine Form der Kulturgeografie kann es sich deshalb leisten, diese beiden Mega-Mediatoren zu umgehen. Ferruccio Rossi-Landi (1985: 84) illustrierte diesen Parallelismus perfekt, indem er die Prozesse der materiellen und der linguistischen Produktion auf mehreren Ebenen unterschiedlicher Komplexität darstellte. IN DER SPRACHE WOHNEN, IM TERRITORIUM WOHNEN In seiner Untersuchung der Prozesse der Realitätsproduktion durch die Arbeit konnte Rossi-Landi (1985) die Verbindung zwischen Arbeiter, Material, Instrument, Vorgang, Ziel und Produkt klar aufzeigen. Diese Verbindung widerspiegelt die notwendigen Bedingungen zur Aufrechterhaltung unserer Beziehungen zur Exteriorität und Alterität, die auf den von einem bestimmten Limiten-System ausgehenden Differenzierungen basieren. Die Instauration von Limiten führt immer auch zur Produktion eines Territoriums, das heisst, zu einer kulturellen Differenzierung der Natur, respektive der natürlichen Ökosysteme. Vereinfacht lässt sich sagen, dass die dabei entstehenden Unterteilungen konventionell festgelegt sind, das heisst auf sozialen Übereinkünften basieren, die innerhalb eines bestimmten Kollektivs Sinn machen. Die Beziehungen dieses Kollektivs zur Exteriorität und Alterität werden von den jeweiligen Regulationsmechanismen bestimmt, die eine spezifische, auf gewissen Voraussetzungen beruhende und direkt auf das Sicherheitsbedürfnis zurückgehende Ordnung begründen. Auch die Produktion der Sprache basiert auf Limiten, die von einfachen Monemen bis zu ausgefeilten, ineinander verschachtelten Kompositionen semischer Systeme reichen. Wie Sapir zu Recht festhält (1968), bezieht sich die SprachProduktion nicht auf das gesamte natürliche Ökosystem. Nicht alles was dieses

Sprache und Territorium

89

enthält wird von jener auch bezeichnet und benannt. Die enge Beziehung zwischen der Sprach-Produktion einerseits sowie der physischen und sozialen Umwelt anderseits ist zwar unübersehbar. Dies bedeutet allerdings nicht, dass diese von jener lückenlos und erschöpfend abgedeckt würde. Gerade in den sprachlichen Lücken und Mängeln werden kulturelle Unterschiede besonders deutlich. Darauf aufbauend könnte, mangels eines besseren Ausdrucks, so etwas wie ein „Paradigma der Lücke“ entworfen werden. Dabei ginge es um eine Ausdifferenzierung unterschiedlicher Kulturen in Funktion ihrer Mängel und Lücken. Zum Beispiel: Je nach Sprache wird entweder gar nichts, nur wenig oder relativ viel in Bezug auf ein bestimmtes physisches oder soziales Element produziert. Gleichermassen kann ein bestimmtes Element der Natur zu einer mehr oder weniger ausgeprägten territorialen Produktion führen. Die Entwicklung eines „Paradigmas der Lücke“ scheint vor allem deshalb sinnvoll, weil die meisten Theorien nur die Präsenz gewisser Elemente, nicht aber deren Absenz berücksichtigen. Dabei treten kulturelle Unterschiede gerade in der Abwesenheit bestimmter Phänomene besonders deutlich hervor. Eine andere Hypothese liefert hier einen Erklärungsansatz: Jedes Kollektiv bezieht sich bewusst oder unbewusst auf eine Semiosphäre, die gewisse kulturelle Merkmale mehr oder weniger leicht aufnimmt. Die auftretenden Lücken oder Mängel verdeutlichen, dass gewisse natürliche oder menschliche Elemente nicht in die Semiosphäre übersetzt wurden (Lotman, 1985). Nicht jeder zu beobachtende Gegenstand ist also gezwungenermassen das Objekt einer Territorialisierung, respektive einer Sprachproduktion. Müsste nun daraus gefolgert werden, dass jene Gegenstände effektiv keine Nützlichkeit besässen? Die Frage ist an dieser Stelle nicht zu beantworten. Zu gross wäre das Risiko, sich in zahlreichen Vermutungen zu verlieren. Es wird so oder so deutlich, dass gewisse Homologien zwischen der Sprache und dem Territorium existieren, die bisher nicht ausreichend untersucht wurden. Ich selbst werde im Folgenden versuchen, mich weiter in diese Richtung vorzuwagen. Dabei verfolge ich ebenfalls die Absicht, eine mögliche Grundlage der Kulturgeografie darzustellen. Unter Berücksichtigung der dafür notwendigen Simplifizierung geht es mir namentlich darum, die Schnittstelle zwischen Sprache und Territorium – basierend auf dem Vergleich einer Tetratopie und einer analog dazu bestimmten Tetraglossie – auszuleuchten. In Bezug auf das Territorium werde ich dabei von den folgenden Kategorien ausgehen:    

Alltags-Territorium Austausch-Territorium Referenz-Territorium Sakral-Territorium

In Bezug auf die Sprache unterscheide ich dementsprechend, in Anlehnung an Gobard, eine Vernakular-Sprache, eine Offizial-Sprache, eine Referenz-Sprache und eine Sakral-Sprache (Gobard, 1966).

90

Territorialität als Medientheorie

ALLTAGS-TERRITORIUM Das Alltags-Territorium, das Territorium des gewöhnlichen, alltäglichen Lebens, kann mit einem Ausdruck Henri Lefebvres als das „Selbstverständliche“ bezeichnet werden. Das Selbstverständliche? Der Ausdruck – und dies ist kein schlechtes Wortspiel – ist eben gerade nicht selbstverständlich, weil man ihn für Gewöhnlich wegen seiner scheinbaren Selbstverständlichkeit nicht genau definieren kann. Es handelt sich um all das, was wir immer zur Hand oder vor Augen haben und das gerade deshalb unsichtbar wird, weil es immer präsent (das heisst allzu präsent) ist. Dieses „selbstverständliche“ Territorium bildet die Grundlage zur Befriedigung unserer Bedürfnisse: der physiologischen Bedürfnisse, der Bedürfnisse nach Sicherheit, Zugehörigkeit, Zuneigung etc. Dabei zeichnet sich das AlltagsTerritorium eher durch Diskontinuität als durch Kontinuität aus. Es besteht aus einem Archipel aus Orten, die im Flusse der Adaptations-Zeit treiben, durch die wir von einem Ort zum nächsten gelangen. Diese isolierten Orte sind meist Zieloder Endpunkte. Sie machen uns blind gegenüber den durchquerten, aber nicht wirklich bewohnten, Zwischen- oder Mobilitäts-Räumen, wie beispielsweise der Metro, dem Zug, dem Auto usw. Im Allgemeinen richtet sich die Aufmerksamkeit eines Individuums nicht auf die Eigenschaften dieser Zwischen-Orte, da seine Erwartungen bereits auf den zu erreichenden Endpunkt gerichtet sind, es sei denn es gäbe hierfür spezielle Gründe, wie beispielsweise das künstlerische Schaffen eines Malers oder Schriftstellers. Das Alltags-Territorium ist sowohl das Territorium der Spannung als auch der Entspannung. Seine unmittelbare Territorialität ist zugleich trivial und spezifisch, vorher- und unvorhersehbar. Hier kann alles passieren, während doch gleichzeitig der Eindruck einer ewigen Wiederholung entsteht. Dieses Territorium der „vermischten Meldungen“ ist zu allem bereit, weil hier alles möglich scheint. Auf dem Gebiet der Linguistik entspricht das Alltags-Territorium der Alltags-, respektive der Vernakular-Sprache. Als Vernakular-Sprache können wir einen bestimmten Dialekt, die Sprache einer Minderheit oder aber jede klar abgegrenzte Sprache innerhalb einer der bedeutenden Kultursprachen (Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch, etc.) bezeichnen. Vernakuläre Sprachelemente sind im Allgemeinen für Fremdsprachige die am schwierigsten zu verstehenden Idiome, weil sie relativ wenige Wörter, dafür aber umso mehr idiosynchratische Ausdrücke und Formulierungen umfassen, die nur durch regelmässige Übung beherrschbar werden. An dieser Stelle müssen nun zwei weitere Begriffe eingeführt werden, die für das Verständnis der Funktionen der Sprache und des Territoriums von zentraler Bedeutung sind: Kommunikation und Kommunion. Sprachen erfüllen nicht nur eine Kommunikations-, sondern auch eine Kommunions-Funktion. Die Kommunikation mag zwar im Allgemeinen ausschlaggebend sein, kommt jedoch kaum ohne die Kommunion aus. Gerade in der Alltags-Sprache spielt die Kommunion eine besonders wichtige Rolle, die manchmal sogar jene der Kommunikation übertrifft. Ich könnte mich beispielsweise in einem Restaurant aus dem Gesichts-

Sprache und Territorium

91

punkt der Kommunikation auf ein striktes Minimum an Wörtern beschränken, um mein Essen zu bestellen. Ich könnte in der gleichen Situation aber auch eine sprachliche Kommunions-Beziehung herstellen, die zwar weder den Inhalt noch die Effizienz meiner Meldung verändert, dafür aber eine gewisse Konvivialität mit dem Servierpersonal erzeugt. Alltagssprachliche Formen der Höflichkeit liegen allgemein eher im Bereich der Kommunion als in jenem der Kommunikation. Es kann an dieser Stelle nun allerdings nicht darum gehen, aus einem rein quantitativen Gesichtspunkt den jeweiligen Anteil der einen oder anderen zu ermitteln, vorausgesetzt dies wäre überhaupt möglich. Ich möchte lediglich hervorheben, dass die Kommunikation zu einem grossen Teil – und insbesondere aufgrund ihrer Kommunions-Funktion – auf Redundanz beruht. Die Homologie zum Territorium liegt auf der Hand. Aus der Perspektive des Alltags-Territoriums lässt sich effektiv ein vergleichbarer Sachverhalt aufzeigen. Gewisse territoriale Produktionen richten sich ihrer Funktion nach direkt auf spezifische Aktivitäten. Im Gegensatz dazu sind allerdings auch TerritoriumsProduktionen erkennbar, die einen rein symbolischen Wert besitzen, wobei es beispielsweise um die Vermittlung des Bildes einer Macht oder Ideologie geht, mit der eine mehr oder weniger ausgeprägte Kommunions-Beziehung besteht. Wir stellen vor diesem Hintergrund fest, dass der Alltag sowohl linguistisch als auch territorial gelebt wird. Als das „Wohnen“ schlechthin ist der Alltag zugleich Reichtum und Armut, Trivialität und Spezifität, Stärke und Schwäche. AUSTAUSCH-TERRITORIUM Austausch-Territorien können je nachdem eine bestimmte Region, eine Nation oder auch die ganze Welt umfassen. Diese offenen und äusserst verformbaren Territorien, deren Entwicklung und Vergänglichkeit von der Entstehung und Häufigkeit gewisser Beziehungen abhängt, können auf unterschiedlichen Ebenen innerhalb eines Systems variabler Massstäbe betrachtet werden. Im Gegensatz zu den klar erkenn- und kartografisierbaren Alltags-Territorien sind AustauschTerritorien ständigen Veränderungen und Bewegungen unterworfen. Für die meisten Menschen stark eingeschränkt, beinhalten sie für ein paar wenige den gesamten Planeten. Austausch-Territorien sind in vielerlei Hinsicht relativ offen, wenn auch keineswegs unbestimmt, da sie in ganz besonderem Masse von der Natur der jeweils betrachteten Austausch-Beziehung abhängen. Auch hier kann der Begriff des Archipels hilfreich sein um zu verstehen, dass sich das Wesen des Austauschs nicht nur durch eine räumliche und zeitliche, sondern auch durch eine gewisse sprachliche Diskontinuität auszeichnet. Die Schweiz bildet wahrscheinlich eines der besten Beispiele eines AustauschTerritoriums, in dem die Offizial-Sprache je nach Gebiet ständig wechselt. Die Sprach-Variabilität des relativ kleinen Gebietes der Schweiz ist an sich schon grösser als in den meisten anderen Ländern. Nun wird diese Variabilität noch erhöht durch die Einführung des Englischen, als eine zusätzliche, auswärtige Offizial-Sprache. Diese „fünfte Landessprache“ ist im Begriff, die ursprünglichen

92

Territorialität als Medientheorie

Landessprachen in gewissen Austausch-Beziehungen zu ersetzen, wie dies auf der internationalen Ebene noch ausgeprägter zu beobachten ist. REFERENZ-TERRITORIUM Das Wesen des Referenz-Territoriums ist einzigartig. Es widersetzt sich einer einfachen Definition schon allein aufgrund seines doppelten, sowohl materiellen als auch immateriellen Ursprungs. „Alle Gesellschaft bedarf eines Werdegangs. Dort, wo dieser nicht von Natur aus zu Gebote steht – wo eine Gemeinschaft sich neu gebildet oder nach langen Zeiten der Auflösung, ja Unterwerfung aufs neue formiert hat, wird die Vergangenheitsform der Grammatik des Seins notgedrungen aus intellektueller und emotioneller Machtbefugnis geschaffen“ (Steiner, 1991: 11 [1986: 14]).

Das Referenz-Territorium kann zu Recht als das Territorium des Antezendens bezeichnet werden, woraus sich allerdings zahlreiche Probleme bezüglich seiner Auslegung ergeben. Es ist zum Beispiel gut möglich, dass ein ReferenzTerritorium nicht mehr materiell, sondern nur noch in individuellen oder kollektiv rekonstruierten Erinnerungen existiert, wie sowohl die Geschichte der Schwarzen in Nordamerika als auch des Staates Israel zeigt (Steiner, 1986: 14). Jede Gesellschaft kann sich auf ein ihr eigenes, dabei jedoch stark wandelbares Referenz-Territorium beziehen. In der westlichen Welt gehen die ältesten Referenz-Territorien auf die Griechen und Römer zurück. Können wir in diesem Fall überhaupt noch von einem Territorium sprechen? Wir haben es hier wohl eher mit einem Territorium der „Ruinen“ und Remanenzen zu tun, das die europäische Vorstellungskraft jahrhundertelang prägte, als mit einem Territorium, das noch im eigentlichen Sinne des Wortes „bewohnt“ würde. Diesen Unterschied zwischen Referenz-Territorium und realem Territorium bringt unfreiwillig niemand besser zum Ausdruck als Heidegger. In „Aufenthalte“, einem Aufsatz zu seiner Griechenlandreise, schreibt der deutsche Philosoph mit erstaunlicher Naivität: „Die Heimat des Odysseus? Vieles wollte sich auch hier nicht in das Bild fügen, das seit den Tagen der ersten Homerlektüre unter Anleitung eines hervorragenden Lehrers am Gymnasium in Konstanz vor dem Blick stand. Wieder fehlte wie im Hafen von Kephallenia die Gegenwart jenes Griechischen, das im Verlauf der späteren Studien und in der Auseinandersetzung mit dem antiken Denken deutlichere Züge angenommen hatte. […] Statt seiner begegnete Morgenländisches, Byzantinisches, als ein Pope uns die kleine Kirche mit dem Ikonostas zeigte und nach Empfang kleiner Gaben Kerzen anzündete“ (Heidegger, 1992: 22–23).

Wenn ich von Heideggers Naivität spreche, so ist dies keineswegs ironisch gemeint. Ich will vielmehr verdeutlichen, dass Heidegger auf einer mentalen Ebene sein Referenz-Territorium, das er besser als sonst irgendjemand kannte, auf ein reales Territorium übertrug. Seine Reaktion entspricht der banalen Enttäuschung eines Touristen, der die Differenz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit entdeckt. Heideggers Griechenland war das Land der Autoren der Texte und Bücher,

Sprache und Territorium

93

die er gelesen und über die er so lange nachgedacht hatte. Ein Griechenland, das er zwar nicht unbedingt intakt, aber doch zumindest im Grossen und Ganzen unverändert vorzufinden gehofft hatte. Seine Enttäuschung muss tatsächlich gross gewesen sein. Sie illustriert zu meiner Freude jedoch perfekt, dass sich ReferenzTerritorien wie man sieht eher auf eine Kultur, respektive auf ein allgemeines Verständnis von Raum und Zeit, als auf ein historisch gewachsenes, das heisst in einer bestimmten Historizität verwurzeltes Territorium beziehen. Wie Griechenland besass auch Italien zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert für viele Europäer die Bedeutung eines Referenz-Territoriums. Ähnliches lässt sich mit Blick auf Zentral- und Osteuropa ab dem 18. Jahrhundert von Frankreich behaupten. In etwas anderer Form bildet Amerika heute das Referenz-Territorium weiter Teile der Welt, ganz ähnlich, wie dies die UdSSR zur Zeit des Kommunismus war. Diese Referenz-Territorien werden nicht in einem materiellen, sondern in einem rein ideellen Sinn, aufgrund und anhand der Sprache, bewohnt. Heidegger bewohnte sein ganzes Leben lang über die griechische Sprache das antike Griechenland. Andere wiederum bewohnten das Italien der Renaissance über das Italienische, wie heute gewisse Zeitgenossen die Vereinigten Staaten über die angloamerikanische Sprache des Kinos und der Romane bewohnen, ohne jemals einen Fuss darin gesetzt zu haben. Gesellschaften bestehen aus Kollektiven, die aus der Perspektive ihrer Referenz-Territorien oder -Sprachen in unterschiedlichen Zeiten leben. Referenz-Objekte, man möge den Ausdruck verzeihen, beziehen sich je nachdem auf die Vergangenheit, die Gegenwart oder sogar auf die Zukunft, wie wir den Referenzen an utopische Welten entnehmen. SAKRAL-TERRITORIUM Wie ich im Folgenden aufzeige sind Sakral-Territorien und Sakral-Sprachen vor allem, wenn auch nicht nur, eng mit der Religion verknüpft. Das Alte Testament bildet in Verbindung mit dem Hebräischen das komplexe Sprach-Territorium der Juden, aus dem jenes „Buch“ hervorging, das alle Elemente beinhaltet die ihr Überleben bis heute ermöglichten. Das Christentum übernahm sowohl das Alte Testament als auch das Hebräische, fügte diesen jedoch das Neue Testament sowie das Griechische hinzu, wobei die bedeutenden Pilgerstädte Jerusalem und Rom die entsprechenden Sakral-Territorien darstellen. Auch der Islam brachte mit dem Arabischen, dem Koran und der Pilgerstadt Mekka eine Sakral-Sprache sowie ein Sakral-Territorium hervor. Die Kenntnis des Arabischen, wird durch den Koran selbst gefördert, da dessen Rezitation in der Sprache Mohammeds eine Grundanforderung an jeden guten Muslim darstellt. In allen drei heiligen Büchern kommt es zu einer Fusion zwischen Sprache und Territorium. Beide werden im eigentlichen Sinne des Wortes „bewohnt“. Wir müssen an dieser Stelle auf die vorgängig erwähnte Unterscheidung zwischen Kommunikation und Kommunion zurückzukommen. Diese Unterscheidung ist hier von besonderer Bedeutung, weil das Sakrale als die Verbindung schlecht-

94

Territorialität als Medientheorie

hin zwischen Kommunikation und Kommunion zu verstehen ist. Mehr noch: Diese Verbindung neigt im Sakralen zu einer absoluten Verbindlichkeit, wie der Blick auf alle möglichen religiösen Fundamentalismen zeigt. Diese Bemerkung deutet gleichzeitig aber auch auf ein erstaunliches Paradox: Als ursprüngliches Postulat der Sicherheit wird das Sakrale in fundamentalistischer Form selbst zu einem Unsicherheitsfaktor, indem es alle Bereiche des Sozialen usurpiert und alles eliminiert, was sich scheinbar nicht mit ihm verträgt. Die Unsicherheit entwächst dem Rückzug des Sakralen auf sich selbst, wobei all jene Verbindungen zur Alterität gekappt werden, die ihm eine Differenz entgegenstellen. Der Anspruch, eine absolute Limite darzustellen schliesst die Existenz all dessen aus, was ausserhalb des Sakralen liegt. An diesem Punkt wird das Sakrale zur Negation der Kommunikation und Kommunion mit der Aussenwelt. Der Ursprung des Sakralen liegt indes nicht nur in der Religion. Auch Staaten können über die Begriffe des „Volkes“ und der „Nation“ eine gewisse Sakralität erschaffen. Darüber hinaus wird die Entwicklung einer weltlichen, in politischen Mythen verwurzelten Sakralität auch durch Ausdrücke wie „republikanische Mystik“, „faschistische Mystik“ oder „heiliger Egoismus“ bezeugt. Die Konstitution einer sakralen Form des Politischen über das Volk und die Nation geht vor allem auf die Französische Revolution zurück, die ihrerseits eine Sprache (respektive mehrere Sprachen) sowie ein Territorium (respektive mehrere Territorien) hervorbrachte. Die „Heiligsprechung“ politischer Sprachen und Territorien basiert auf Mechanismen, die unterschiedlichen ideologischen Kosmologien entstammen. Vergleichbar mit der Hieromantie offenbaren diese Mechanismen einen Fixpunkt, respektive ein fixes Zentrum, das sich im Gegensatz zur Religion nicht ausserhalb, sondern innerhalb des Menschen situiert und dadurch zu einem Prozess der Autosakralisierung führt. Der moderne Nationalstaat heiligte sein Territorium. Zahlreiche politische Grenzen der Erde werden heute kontrolliert und verteidigt, wie früher die Mauern von Tempeln und Städten. Es ist daher kein Zufall, dass der religiöse Ausdruck des „Sanktuariums“ heute ebenfalls im Militärjargon Verwendung findet. Ein vergleichbarer Prozess lässt sich im Übrigen seit Abbé Grégoires Spracherhebung im Rahmen der französischen Revolution auch im Bereich der Sprache beobachten. Um die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte über das Französische als Einheitssprache zu verbreiten, sollten alle nicht französischen Sprachen und Sprachvarianten, die so genannten patois, ausgerottet werden. Analoge Beispiele lassen sich im 19. und 20. Jahrhundert auch in Amerika sowie im Anschluss an die Oktoberrevolution in Sowjetrussland finden. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls auf Ratzels Begriff des „Lebensraumes“ hinzuweisen, von dem sich ein Bogen bis zur Geopolitik Haushofers und seiner Epigone spannen lässt. Gemeinsam ist allen Beispielen ihr von der Vorstellung eines „ZivilisationsKampfes“ und einer „Werte-Verteidigung“ durchtränktes politisches Vokabular. Politische Sakral-Sprachen werden durch offizielle Feste, grandiose Zeremonien und Defilees mit den entsprechenden Sakral-Territorien verbunden. Die dabei angewandte Liturgie soll den Glauben des Volkes an die Grösse und Macht

Sprache und Territorium

95

der Institutionen wecken und festigen. Die Persistenz dieser laizistischen Sakralität beruht auf abstrakten, die sprachlichen oder territorialen „Verbote“ bestimmenden Limiten, deren Übertretung in weltlichen Gefängnissen und Lagern sanktioniert wird. Man wird in diesen Ausführungen die zahlreichen Verbindungen zwischen der dargestellten Tetratopie sowie der entsprechenden Tetraglossie bemerkt haben. Zwar stimmen nicht alle Elemente der Einen exakt mit jenen der Anderen überein. Es wäre aber dennoch möglich, jedes kulturelle System ausgehend von den Beziehungen zwischen Sprache und Territorium in Form von „Orgelpfeifen“ zu visualisieren: Die besprochenen Elemente könnten dabei bezugnehmend auf ein bestimmtes Gebiet als „Balken“ unterschiedlicher Höhe dargestellt werden, der Häufigkeit ihrer Beziehung in der Zeit sowie der betroffenen Fläche innerhalb eines territorialen Systems entsprechend. Wir können deshalb tatsächlich, so scheint mir, von territorialen und linguistischen Instrumenten sprechen, die jeweils bestimmte Beziehungen hervorbringen. In ihrer Gesamtheit definieren diese Beziehungen die (auf diese Weise in unserer Figur visualiserbare) Territorialität sozialer Gruppen. Auf der Grundfläche unserer Figur zeichnet sich eine Art Archipel ab, dessen Inseln – als die Projektions-Orte der Arbeit – den unterschiedlichen sozialen Aktivitäten innerhalb des betrachteten Gebiets entsprechen (RossiLandi, 1985). Trotz seiner Rudimentarität besitzt ein solches Analyse-Raster den Vorteil, die Sprache und das Territorium unabhängig von der Kartographie miteinander zu verbinden. Die Gemeinsamkeit aller betrachteten Aktivitäten liegt in der Arbeit, die alle kulturellen und territorialen Instrumente hervorbringt. Falls eine Kulturgeografie überhaupt möglich sein sollte, so muss sie über diese, durch die Arbeit ermöglichten Beziehungen erschlossen werden. SKIZZE EINES FORSCHUNGSPROGRAMMS? Der scheinbaren Ambition des Untertitels zum Trotz stellt dieser Abschnitt nichts anderes dar als einen vorläufigen Versuch der Konklusion. Jedes Kollektiv, das sich gezwungenermassen eine Territorialität konstruiert, steht in seinen Handlungen vor dem Problem, die verfügbare Sprache sowie das verfügbare Territorium zu nutzen. Obwohl weder dieses noch jene jemals perfekt sein können, entwickelt sich doch die Gesamtheit aller Beziehungen einer Gesellschaft über diese beiden zentralen Mediatoren der Territorialität. Daraus erklärt sich vielleicht ebenfalls die geschichtliche Suche nach der perfekten Sprache, respektive dem perfekten Territorium. Die Thematik der perfekten Sprache wurde in einem kürzlich erschienenen Werk Umberto Ecos (1993) ausgiebig behandelt. Es wäre nicht uninteressant, das gleiche aus der Perspektive des Territoriums zu versuchen, wobei alle utopischen Territorien der Ideengeschichte in Betracht zu ziehen wären, deren Ziel immer auch in der Herstellung einer idealen Matrize lag, die den Gesellschaften eine reibungsfreie Geschichte, das heisst den Austritt aus der Geschichte, ermöglichen

96

Territorialität als Medientheorie

sollte. Wir gelangen auf diese Weise zum scheinbar unschuldigen Thema eines Endes der Geschichte, an dem sich Fukuyama kürzlich versuchte (Fukuyama, 1992). Utopien sind Teil unserer Geschichte und Kultur. Angesichts ihrer Existenz, als Ausdruck einer allgemeinen sozialen Aspiration, sei für einen kurzen Moment die Frage erlaubt, auf welche Weise wir uns denn ein mögliches Ende der Geschichte vorzustellen hätten. Im Grunde lässt sich ein direkter Zusammenhang erkennen zwischen der Unmöglichkeit eines Endes der Geschichte einerseits, sowie den zwei biblischen Mythen der Erbsünde und der babylonischen Sprachverwirrung andererseits, d.h. der Vertreibung aus dem Paradies und dem Turmbau zu Babel. Erst der doppelte Verlust seines perfekten Territoriums und seiner Ursprungssprache wirft den Menschen in die Geschichte, ohne Hoffnung darauf, diese durch menschliche Mittel jemals wieder verlassen zu können. Diese Bemerkungen liegen keineswegs ausserhalb der Thematik der Kulturgeografie, die mich zurzeit beschäftigt. Der arme Adam entdeckt im Moment seiner Vertreibung den Zwang der Arbeit; jene Arbeit, die seine Nachfahren mit dem Turmbau zu Babel gegen Gott selbst einzusetzen versuchen. Arbeit ist weder gut noch schlecht. Sie ist letztlich das einzige, was dem Menschen noch bleibt um entweder Gutes oder Schlechtes zu erzeugen. Darin verborgen liegt die ganze Tragik der Kultur. Die menschliche Kultur wird von einem Dreieck umschlossen, dessen Spitzen durch die Arbeit, die Sprache und das Territorium begrenzt sind. Eine Reformulierung des Forschungsprogramms der Kulturgeografie muss zwangsläufig von diesem Dreieck ausgehen. Dabei ist zu beachten, dass jedes dieser drei Elemente abwechselnd die Rolle eines Mediators einnehmen kann. Diese Feststellung ist von entscheidender Bedeutung. Wenn wir uns beispielsweise für die Kultur vor dem 18. Jahrhundert interessieren, müssen wir uns in erster Linie über deren Verbindung mit der ruralen Lebenswelt klar werden. Die Ursprünge der Kultur liegen in der Ruralität. Erst mit der Zeit hinterliess die Industrie ihre Spuren, indem sie einem neuen Typus der Arbeit zum Durchbruch verhalf, wie dies auch in der futuristischen Malerei zum Ausdruck kommt. Der Dienstleistungssektor begründete wiederum einen neuen Kulturtypus, der sich stärker an der Simulation und reinen Erfindung orientiert. Unsere kulturelle Entwicklung bezieht sich nicht mehr direkt auf die ursprüngliche, sondern nur noch auf eine „erfundene“ Natur. Die Ökologiebewegung wäre demnach nichts anderes als der Versuch, mit einem fabulösen, konservativen Kraftakt jene Natur wiederzubeleben, die die Kultur längst aus den Augen verlor. Im Übrigen: Wurden diese Modifikationen der Arbeit nicht in erster Linie von der Sprache und dem Territorium aufgenommen und zum Ausdruck gebracht? Ich gebe gerne zu, dass wir uns damit ziemlich weit von der klassischen Kulturgeografie entfernen, glaube aber, dass gerade solche Erfahrungen zu einem neuen Verständnis der menschlichen Kultur führen, das für die Geografie von zentralem Nutzen sein könnte.

Sprache und Territorium

97

BIBLIOGRAPHIE Andler D. (Hg.) (1992), Introduction aux sciences cognitives, Gallimard, Paris. Eco U. (1972), La structure absente, Mercure de France, Paris. Eco U. (1993), La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea, Editori Laterza, Roma. Fukuyama F. (1992), La fin de l’histoire et le dernier homme, Flammarion, Paris. Gobard M. (1966), L’aliénation linguistique, analyse tétraglossique, Flammarion, Paris. Heidegger M. (1962), Chemins qui ne mènent nulle part, Gallimard, Paris. Heidegger M. (1992), Sejours, Aufenthalte, Éd. du Rocher, Paris. Lotman J.M. (1985), La semiosfera, Marsilio, Venezia. Maslow A.H. (1954), Motivation and Personality, Harper & Row, New York. Rossi-Landi F. (1985), Metodica filosofica e scienza dei segni, Bompiani, Milano. Sapir E. (1968), „Les sciences cognitives, les sciences sociales et le matérialisme“, in, Andler D. (Hg.), Introduction aux sciences cognitives, Gallimard, Paris. Steiner G. (1986), Dans le château de Barbe-Bleue. Notes pour une définition de la culture, Gallimard, Paris. Steiner G. (1991), In Blaubarts Burg, Europaverlag, Wien [Originalausgabe: 1971]. Taine H. (1863), Histoire de la littérature anglaise, Bd. 1, Editions Bibliopolis, Paris.

TERRITORIALITÄT SOZIALER PRAKTIKEN UND KENNTNISSE

ZUR ROLLE DER WISSENSCHAFT UND TECHNIK INNERHALB DES PROZESSES DER TERRITORIALISIERUNG Claude Raffestin (1997) GENEALOGIE DES PROBLEMS Trotz ihrer scheinbaren Aussichtslosigkeit ist die Suche nach den Ursprüngen im Grunde unerlässlich, weil wir die Realität immer von einer Idee oder einem Bild ausgehend – einer Idee oder einem Bild der Natur beispielsweise – zu erfassen versuchen. Unser Denken ist heute zwar nicht mehr mit jenem der alten Griechen zu vergleichen, wurde aber doch stark von Anaximanders Geometrisierung des Universums geprägt. „Ebenso wie sie eine Landkarte, eine pinax, einen Plan von der ganzen Erde zeichnen und so die Gestalt der bewohnten Welt mit ihren Ländern, Meeren und Flüssen vor Augen führen, entwerfen sie auch mechanische Modelle des Universums wie jene Sphäre, die Anaximander einigen zufolge angefertigt haben soll“ (Vernant, 1982: [1990: 120]).

Genau dies ruft uns jedenfalls Agathemeros in Erinnerung: „Anaximander von Milet, Schüler des Thales’, brachte als erster die Kühnheit auf, den bewohnten Teil der Erde auf einem Reissbrett zu zeichnen. Das durchaus erstaunliche Objekt wurde später von dem bedeutenden Entdecker Hekatäus von Milet durch einige Präzisierungen ergänzt“ (Dumont, 1988: 26).

Selbst die rudimentärste Karte ist bereits eine erste Form der „Territorialisierung“, die nach einer zumindest ansatzweise entwickelten wissenschaftlichen und technischen Konzeptualisierung verlangt, um zu einer Repräsentation zu gelangen. Die Karte ist nicht nur eines der ältesten Modelle, sondern vor allem auch ein technisches Element, das ausgehend von einer techno-wissenschaftlichen Praxis einen Prozess der Territorialisierung zum Ausdruck bringt, dessen Ausgangspunkt bei den Vorsokraten und im Speziellen bei Anaximander liegt. Die Karte zeugt von einem ersten Domestikations-Simulations Prozess der Welt. Man gelangt nicht nur von der Realität zur Karte sondern auch, wenngleich die Reversibilität hier keineswegs perfekt ist, von der Karte zur Realität. Als deformierte, wenn auch kohärente Repräsentation des Territoriums erscheint die Karte als eine Karikatur der Welt. Mit andern Worten, die Karte erweist sich als eine Simulation im etymologischen Sinn des Wortes. Sie täuscht eine Realität vor, die keine ist, woraus sich ebenfalls die bekannte Formel „die Karte ist nicht das Territorium“ erklärt, die uns Borgès in einer bemerkenswerten Abhandlung vor Augen führte. Die Geburt der Karte verdeutlicht, dass die beiden Prozesse der Domesti-

102

Praktiken und Kenntnisse

kation und Simulation prinzipiell, wenn auch in unterschiedlichem Masse, der techno-wissenschaftlichen Praxis und Kenntnis innewohnen. Wir können demnach zwei komplementäre Bewegungen unterscheiden. Die De-Realisierung einer gegebenen Realität, des Ausgangspunktes, sowie die Realisierung eines Projekts. Wir befinden uns seit den Griechen, genauer genommen seit den Vorsokraten, in diesem Spannungsfeld zwischen De-Realisierung und Realisierung, das heisst in einem Kreationsprozess paralleler Welten, die wir als simuliert oder virtuell bezeichnen können. Das Gegenteil der Virtualität ist nicht die Realität, sondern die Aktualität. „Virtualität und Aktualität sind schlicht zwei grundverschiedene Arten des Seins“ (Lévy, 1995: 13). Die Menschheit steht vor der Welt wie vor einem gigantischen, zusammenzusetzenden Puzzle oder Mosaik, aus dem allerdings nicht nur ein bestimmtes, wiederzufindendes Bild, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Bilder entstehen können. Es gibt nicht nur die eine, sondern eine Vielzahl möglicher Verbindungen. Jede menschliche Kultur beinhaltet mindestens ein Verbindungs-Projekt, das von sich aus eine Differenz zu allen andern Kulturen begründet. Jede Kultur bildet ein zugleich kohärentes und relevantes System von Differenzen, das gewisse Elemente zur Geltung bringt – also überhöht – während gleichzeitig andere Elemente beiseite gelassen – also ausgeschlossen – werden. Eine Kultur erschafft sowohl ein Gedächtnis als auch ein Vergessen, sie aktualisiert und potenziert zugleich. Durch die auf den Körper der Erde, des Menschen und der Gesellschaft projizierte Arbeit erzeugt jede Gesellschaft ihre eigene Diversität. Wissenschaft und Technik erscheinen aus dieser Optik als Systeme zur Kreation einer mehr oder weniger dauerhaften Diversität. Dabei sind die wissenschaftlichen und technischen Konstruktionen heute aufgrund ihrer immer schneller werdenden Evolution von immer kürzerer Dauer. Diese Bemerkung mag zwar an sich trivial scheinen, ist aber doch von zentraler Bedeutung, da sie uns die Wissenschaft und Technik als ständig überarbeitete Konstruktionen, die sich in immer schnelleren Rhythmen auf die heutigen Gesellschaften auswirken, zu verstehen ermöglicht. Diese Konstruktionen produzieren, indem sie von verschiedenen sozialen Gruppen jeweils unterschiedlich verwendet werden, eine immer grössere Diversität. Diversität zu erzeugen heisst auch, Differenzen zu produzieren, die von der Energie und Information geprägt, wenn nicht gar bestimmt werden, über die eine menschliche Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort verfügt. Die Geo-Diversität, als die Formen der Erde, die Bio-Diversität, als die Formen des Lebens, sowie die Sozio-Diversität, als die Formen der Gesellschaft, bilden gemeinsam jene „Materie“, auf die die Prozesse der Kultur, unter anderem wissenschaftlicher und technischer Natur, unablässig abzielen. Ich werde im Folgenden auf die beiden dabei angewandten Prozesse eingehen: die Domestikation und die Simulation. Jede menschliche Handlung basiert gleichzeitig, wenn auch in unterschiedlichen Proportionen, auf Prozessen der Domestikation und der Simulation. Wir konstatieren in Anlehnung an Moscovicis Kategorien eines organischen, mechanischen und synthetischen, respektive kybernetischen Naturzustandes, die in allgemeiner aber doch nützlicher Weise den Bezug des Menschen zur Natur beschreiben, dass innerhalb des Übergangs von einem Naturzustand

Wissenschaft, Technik und Territorialisierung

103

zum nächsten der relative Anteil der Domestikation tendenziell schwindet, während gleichzeitig jener der Simulation sukzessive steigt (Moscovici, 1968). Jeder Naturzustand kann, um bei der Metapher des Puzzles oder des Mosaiks zu bleiben, als eine Neuordnung der verschiedenen „Teile“ verstanden werden, aus denen – den jeweils unterschiedlich stark ausgeprägten Prozessen der Domestikation und der Simulation entsprechend – immer wieder ein neues Bild der Welt und ihrer Diversität entsteht. DER PROZESS DER DOMESTIKATION Der erste Gedanke, der einem im Zusammenhang mit der Domestikation in den Sinn kommt, ist jener der Zähmung, der Abhängigkeit und der Unterwerfung. Indem wir den Begriff auf lebende Organismen und Ökosysteme anwenden, heben wir ebenfalls deren Beherrschung und Benutzung durch den Menschen hervor. Die Domestikation produziert belebte Systeme, die nicht mehr ohne den Menschen auskommen, beziehungsweise verschwinden, sobald sich der Mensch nicht mehr um sie kümmert. „Wir können von einer vollständigen Domestikation ausgehen, falls eine tief greifend transformierte Pflanze oder ein tief greifend transformiertes Tier ohne den Beistand des Menschen nicht mehr in der Lage ist sich zu schützen, zu ernähren oder zu reproduzieren“ (Barrau, 1990: 36).

Dies bedeutet, dass sich domestizierte Organismen oder Ökosysteme grundsätzlich von ihrem Zustand vor der menschlichen Intervention unterscheiden. Dass ihr Fortbestand vom Menschen abhängt heisst auch, dass dieser einige ihrer Eigenschaften bevorzugte, während gleichzeitig andere Eigenschaften, die für sein Projekt keine Nützlichkeit besassen, eliminiert wurden. Durch die Domestikation produziert der Mensch – einem Gesetz der Hypertrophie oder Atrophie folgend – eine Diversität, die immer auch zum Verlust gewisser Eigenschaften führt. Der Mensch kann, von einer gegebenen Bio-Diversität ausgehend, über die Arbeit ein anderes Bild des Lebens, das heisst eine andere, in ihren Interrelationen und Morphologien modifizierte Bio-Diversität produzieren. Dieser Eingliederungsprozess des Lebens in die menschliche Geschichte, dessen Zeit-Vektor irreversibel ist, impliziert eine Abhängigkeit von der menschlichen Zeit, respektive eine Veränderung des zeitlichen Massstabs der domestizierten Arten und Ökosysteme. Anstelle des ursprünglichen Zeitmassstabs tritt ein Massstab, der über die soziale Verwendung des domestizierten „Objekts“ definiert ist. Aus einem gegebenen, aus seiner natürlichen Zeit herausgelösten, belebten Objekt wird ein neues Objekt produziert und in die soziale Zeit der domestizierenden Gruppe eingegliedert. Dieses domestizierte Objekt ist effektiv eine Neubildung, deren Prägung das kulturell umrahmte Intentions-System der domestizierenden Gruppe widerspiegelt. Die neu produzierte Bio-Diversität ist auf ihre soziale Nutzung zugeschnitten. Ein Ende der Domestikation jedoch genügt – im Falle einer Verän-

104

Praktiken und Kenntnisse

derung der sozialen Nutzungsformen beispielsweise – und die produzierte BioDiversität wird insgesamt in Frage gestellt. Im Falle eines Nachlassens oder Verschwindens jener Nutzungsformen wird der Mensch nicht mehr die notwendige Energie und Information zur Existenzsicherung der domestizierten Objekte aufbringen, die auf sich selbst gestellt schlicht zugrunde gehen und sterben. Die produzierte Bio-Diversität ist zeitlich instabil, da ihre Lebenszeiten ausschliesslich über ihre soziale Nutzung bestimmt werden. Die Domestikation betrifft allerdings nicht nur die Modifikation der zeitlichen Massstäbe. Auch der räumliche Massstab wird verändert. Weil die Ressourcen insgesamt begrenzt sind führt der Prozess der Domestikation ebenfalls zu einer Selektion der Orte, auf die der Mensch seine Anstrengungen richtet. Dieser Prozess setzt anstelle eines Massstabs der natürlichen Verbreitung einen Massstab der sozialen Nutzung des Raumes. Es geht dabei also um die Geo-Diversität, wobei es infolge der Exaltation, respektive der gleichzeitigen Vernachlässigung bestimmter Orte, zu einer eigentlichen Neuproduktion von „Räumen“ kommt. Die im Terrain sichtbaren Lokalisierungs-Entscheide sind in manchen Fällen geradezu verblüffend. Weshalb wird von zwei an sich in ihren Eigenschaften vergleichbaren Nachbarorten einer gegenüber dem anderen vorgezogen? Zweifelsohne könnte auf eine solche Frage immer irgendeine historische Antwort gefunden werden. Diese verwiese letzten Endes immer auf die Kultur, die selbst jedoch nicht immer eine univoke Antwort bereithält, es sei denn jene einer Modifikation der Nutzungsformen, die von einem neuen Intentions-System, beispielsweise politischer oder wirtschaftlicher Natur, induziert wurde. Wie schon in Bezug auf die Zeit erweist sich die Geo-Diversität also auch aus der Perspektive des Raumes als instabil. Eine diachronische Lesart der produzierten Geo-Diversitäten könnte verdeutlichen – falls sie unternommen würde –, dass die geografische Notwendigkeit primär historisch bedingt ist. Eine Ebene, ein Berg oder ein Fluss wurden im Laufe der Zeit von den sie „benutzenden“ Gesellschaften immer wieder anders dekliniert. Von der gleichen, gegebenen Geo-Diversität ausgehend produziert der Mensch unablässig neue Geo-Diversitäten, die im Grunde nichts anderes sind als umgeformte und umgeordnete Bilder der ursprünglichen Geo-Diversität. Diese Bilder können, um eine graphische Metapher zu verwenden, als eine Art Anamorphose bezeichnet werden, deren explizites oder implizites Deformations-Modell es wieder zu finden gälte. Sie sind Karikaturen der Natur, das heisst relevante und kohärente, gleichzeitig aber auch deformierte Systeme von Differenzen. Jedes Modell ist wie gesagt eine Karikatur. Dies trifft auf die produzierte Diversität im Vergleich zur ursprünglich gegebenen Diversität gleich mehrfach zu: „Es ist die Kunst des Karikaturisten, diese oft nicht erkennbare Bewegung wahrzunehmen und in vergrösserter Form für alle sichtbar zu machen. Seine Disproportionen und Deformationen existierten bereits ansatzweise in der Natur, konnten sich jedoch, von einer grösseren Kraft verdrängt, nicht wirklich entfalten“ (Bergson, 1990: 20).

Die Domestikation ähnelt unbewusst der Kunst des Karikaturisten. Entspricht sie nicht einer impliziten, pragmatischen Theorie der Karikatur, die auf die Natur abzielt, das heisst auf eine gegebene Geo-Diversität, um durch Hypertrophie oder

Wissenschaft, Technik und Territorialisierung

105

Atrophie – das heisst einem Gesetz allometrischen Wachstums folgend – eine neue Diversität zu produzieren? Die Diversitäts-Produktion erscheint aus dieser Perspektive als ein Spiel der Massstäbe. Sie geht von einem gegebenen Objekt im Massstab 1/1 aus, von dem sie gewisse Eigenschaften auswählt, deren Massstäbe im Vergleich zum Ganzen variiert werden. Diese einzelnen Elemente werden im Massstab 1/n behandelt, wobei n im Falle der Atrophie grösser als 1, respektive im Falle der Hypertrophie kleiner als 1 sein muss. Das produzierte, domestizierte Objekt ist also im eigentlichen Sinne des Wortes eine Karikatur des ursprünglich gegebenen Objekts. Die produzierte Diversität resultiert aus jenem Spiel der Massstäbe, das von kulturellen, wissenschaftlichen und technischen Entscheiden abhängt, die zur Erfüllung einer bestimmten Nutzungsfunktion den Akzent je nachdem auf diese oder jene Eigenschaft des ursprünglichen Objekts legen. Die kulturellen Entscheide, die die Natur des gegebenen Objekts modifizieren, sind in diesem Fall mit kartographischen Projektionen vergleichbar, die die Repräsentation eines geografischen Objekts verändern. Über die Domestikation modifiziert der Mensch nicht nur die Bio- und GeoDiversität, sondern auch sich selbst, da sich seine Beziehungen in einer veränderten Umwelt entwickeln. Durch sein Handeln praktiziert der Mensch unwissentlich und unwillentlich eine Art der Selbst-Domestikation, die sowohl seinen Körper, als auch sein Denken modifiziert. Die Erwähnung dieser Problematik, die im Folgenden nicht weiter ausgeführt wird, soll hier lediglich die multiplen Folgen der Domestikation verdeutlichen. Pierre Lévy zufolge haben „drei Virtualisierungs-Prozesse die menschliche Gattung hervorbracht: die Entwicklung der Sprache, das Wachstum der Technik sowie die Komplexifizierung der Institutionen“ (Lévy, 1995: 69). Die Karte ist nicht nur eine Sprache, sondern auch eine Technik, die als Machtinstrument eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. So kann die Karte von der Politik beispielsweise als Bild-Instrument zur Überhöhung und Akkreditierung politischer Mythen verwendet werden. Als Sprache ist die Karte sowohl zur Wahrheit als auch zur Lüge befähigt. Die deutsche Geopolitik der Zwischenkriegszeit beherrschte dieses „wunderbare“, vor allem jedoch gefährliche Spiel geradezu meisterhaft. Als Vorstufe der Annexion ganzer Kollektive konnte die Karte sogar zur De-Territorialisierung sozio-politischer Beziehungen eingesetzt werden, wodurch wir ebenfalls zum Prozess der Simulation gelangen. DER PROZESS DER SIMULATION Wenngleich die Domestikation lange Zeit eine entscheidende Rolle innerhalb der Justierungs-Prozesse der sozialen und physischen Umwelt spielte, um diese in „Territorien des Lebens“ zu verwandeln, so war doch der andere Prozess, jener der Simulation, nie völlig abwesend, da sich in jedem Vorhaben einer DiversitätsProduktion immer auch ein implizites oder explizites Projekt oder Basismodell finden lässt.

106

Praktiken und Kenntnisse

Die Simulation geht nicht wie die Domestikation von einem Massstab 1/1 aus, um mit ihrem Objekt durch Deformationen zu spielen, sondern von einem reduzierten Bild eines zu produzierenden Objekts. Dieses reduzierte Bild basiert auf einem Massstab 1/n (wobei n grösser als 2 ist). Im Gegensatz zur regressiven Methode der Domestikation wirkt die Simulation immer progressiv. Wir können in Anlehnung an Moscovicis Kategorisierung unterschiedlicher Naturzustände von einer kontinuierlichen Steigerung des relativen Anteils der Simulation vom organischen über den mechanischen zum synthetischen/kybernetischen Naturzustand ausgehen. Die zunehmende Bedeutung der Simulation korreliert positiv mit jener der wissenschaftlichen und technischen Erfindungstätigkeit, wobei die Grenze des Simulationsprozesses wohl erst mit einer komplett menschengemachten Paralell-Welt im Massstab 1/1 erreicht wäre! Ein verrücktes Unterfangen, das an Borgès’ bereits erwähnten Apolog erinnert, in dem der Herrscher eine Karte im Massstab seines Reiches zeichnen lässt. Der Logiker kann sich dabei bezeichnenderweise die Frage nicht verkneifen, „wohin denn nun mit dieser ‚neuen Welt‘, die die gegebene Welt verdoppelt?“ Von der logischen Unmöglichkeit einmal abgesehen wäre es in diesem Fall, und nur in diesem Fall, tatsächlich möglich, von einem Minimum gegebener Diversität, zu einem Maximum produzierter Diversität zu gelangen. Wären wir überhaupt in der Lage, uns besser um die produzierte, als um die ursprünglich gegebene Diversität zu kümmern? Es ist zu bezweifeln. Wer kennt nicht das Experiment der Biosphäre 2 in den USA, bei dem mehrere Männer und Frauen in einer Reihe komplett menschengemachter Ökosysteme leben sollten, um sich der Autonomie des menschlichen Lebens zu vergewissern? Man wurde sich ziemlich rasch und trotz der Präsenz zahlreicher Pflanzen des damit verbundenen Sauerstoff-Problems bewusst. Obwohl im Nachhinein der Grund des Versagens ausfindig gemacht werden konnte musste unverzüglich Sauerstoff eingelassen werden, um die „Bewohner“ der Biosphäre 2 vor dem Erstickungstode zu retten. Obwohl Vico wohl zu Recht betonte, dass man nur das selbst Fabrizierte gut kennt, bleibt auch diese Kenntnis gezwungenermassen fragmentär. Die Interrelationen der produzierten Elemente entziehen sich einem genauen Verständnis, da sie ein von unseren Kenntnissen losgelöstes Eigenleben entfalten. Der menschliche Wille zur Beherrschung des gesamten Prozesses geht auf den unrealistischen Wunsch zurück, jedes Risiko von vornherein auszuschliessen. Dieser zwangsläufig nur partiell erfüllbare Wunsch nährt unseren Willen zur Kenntnis. Die Geschichte wird auch mit der Simulation nicht beendet. Im Gegenteil, die Simulation treibt die Geschichte an. Der Versuch jedes Risiko zu eliminieren treibt uns in die Utopie. Die Beziehung zwischen Simulation und Utopie ist kein Zufall. Die Utopie, die sich auf eine „perfekte“ oder zumindest auf eine von ihren Urhebern als perfekt betrachtete Situation bezieht, ist eine gute Illustration der Simulation, da sie aus Elementen und Merkmalen konstruiert wurde, die von realen Objekten entliehen, von ihrem Kontext getrennt sowie neu kombiniert und geordnet wurden, um eine neue Einheit zu bilden. Als rein intellektuelle Simulationen generierten die antiken Uto-

Wissenschaft, Technik und Territorialisierung

107

pien bis auf wenige Ausnahmen keine realen Transformationen der Welt. Sie produzierten vielmehr eine virtuelle Diversität, deren Inkorporation in die gesellschaftliche Vorstellungswelt das kollektive Gedächtnis nachhaltig prägte. Die Geschichte der idealen Stadt von Hippodamos von Milet bis zu Le Corbusier wäre eine fantastische Einführung zur Problematik der Simulation (Vercelloni, 1994). Mit dem Aufkommen des Maschinismus’, der Synthesen-Chemie sowie des Computers, unter anderem, entwickelte sich die Simulation zu einem Prozess zentraler Bedeutung in unserer Technik-Gesellschaft. Im Grunde ist die Simulation ein algorithmischer, Bilder und Modelle generierender Explorationsprozess zur Erfindung von „Naturen“, deren Massstäbe in Funktion einer geplanten Nützlichkeit bestimmt werden. Durch diesen Prozess wurden zehn Tausende von Materialien produziert, die zuvor nie in natürlicher Form existierten sondern einzig das Resultat komplexer Synthesen darstellen. Darüber hinaus wurden speziell mithilfe der Genetik die Formen des Lebens korrigiert, modifiziert und sogar neu erfunden. Gentechnisch veränderte Pflanzen wie Mais oder Soja zeugen als jüngste Beispiele davon, rufen aber wie man weiss auch einige ängstliche Reaktionen hervor. Die auf diese Weise produzierte Diversität ist nicht nur Teil unserer Umwelt, sondern in einigen Fällen auch für deren partielle Destruktion verantwortlich. Eines ist sicher: Wir können diese Diversität nicht beherrschen, weil wir in den meisten Fällen keine Ahnung haben von ihren möglichen Auswirkungen, die wir oft viel später überhaupt erst entdecken. Wer kennt nicht das Beispiel des DDT, das zwar Millionen von Menschenleben rettete, sich aber letztlich aufgrund der längerfristig vergifteten Nahrungskette gegen das menschliche Leben richtete? Viele andere, weniger bekannte Beispiele könnten in diesem Zusammenhang ebenfalls angeführt werden. Die Auswirkungen der Simulation auf den Körper der Erde, des Menschen und der Gesellschaft sind offensichtlich äusserst riskant. Nach und nach konzipierte und fabrizierte der Mensch über die Simulation ganze Ökosysteme, deren Diversität von Grund auf menschengemacht ist. Die Stadt ist zweifelsohne das symptomatischste Beispiel diesbezüglich. Sie spielt im Übrigen eine so bedeutende Rolle in unserem Alltag, dass für eine steigende Zahl ihrer Bewohner der Bezug zur ursprünglich gegebenen Diversität immer seltener wird. Der Stadtmensch taucht ein in ein fabriziertes Universum, das ihn beinahe völlig umfasst und durchdringt. Seine Beziehungen sind viel stärker durch die menschlich produzierte, als durch die in ihren Überresten immer unsichtbarer werdende natürlich kreierte Diversität konditioniert. Angesichts der aktuellen Probleme drängt sich der Schluss auf, dass sich die Stadt sowohl ihren Bewohnern als auch den mit ihrer Verwaltung betrauten politischen Ämtern immer mehr entzieht. Dies heisst jedoch nicht, dass die Stadt plötzlich von einem unkontrollierbaren Eigenleben erfüllt wäre. Die Stadt wurde vielmehr zu einem Ort multipler Relationen, die von Sphären in einem Extremstadium der Verselbstständigung begründet werden. Das Spiel der legalen und illegalen Märkte überantwortet die Stadt dem Geld, dessen Ströme nicht nur die urbanen Morphologien errichten und verändern, sondern auch das soziokulturelle Gewebe modifizieren und zerstören, das heisst eine veritable Transformation des sozialen Lebens begründen. Das Geld wurde in seinen mannigfachen Formen als

108

Praktiken und Kenntnisse

figurierte Repräsentation des realen Reichtums zu einem mächtigen Simulacrum unserer Zeit. Die monetären Techniken sind äusserst einflussreiche Faktoren der Territorialisierung, De- und Re-Territorialisierung, wurden allerdings kaum je aus dieser Perspektive untersucht. Dabei ist zu bemerken, dass oft selbst die auf Geldgeschäfte spezialisierten Ökonomen von den monetären Techniken überrollt werden, die von den Praktikern in der Tat umgesetzt werden. Die gegenwärtigen Formen der Simulation beginnen im Übrigen beinahe immer mit zwei Geld-Spielen: Es geht zuerst einmal darum, die Kosten einer bestimmten Diversitäts-Produktion zu berechnen, um anschliessend die daraus zu erwartenden Geldgewinne abzuschätzen. Es wurde für Ökonomen zu etwas völlig Selbstverständlichen, den „natürlichen“ Reichtum, das heisst die natürlich kreierte Diversität, aus einer monetären Sicht zu evaluieren. Alles hat einen Preis, respektive alles kann einen Preis haben; vom Inorganischen zum Organischen, vom Objekt zum Menschen. Vor allem in der Stadt verdrängt der Tauschwert immer mehr den Gebrauchswert. Daraus erklärt sich ebenfalls die Instabilität unserer Verhältnisse, die auf immer kurzfristigeren Überlegungen beruhen. Für die Domestikation sind die realen Dinge noch von grosser Bedeutung. Die Simulation hingegen bezieht sich vorwiegend auf die Zeichen der Dinge, woraus sich ebenfalls die steigende Rolle des Geldes erklärt. Die Nutzungs-Regulation eines „Dings“ situiert sich nicht mehr in diesem Ding selbst, sondern in den Geldmitteln, die dieses repräsentieren. Damit ist der Weg frei für eine vollständig durch Kapital-Ströme, die sich von einem Punkt des Planeten zum nächsten bewegen, konditionierte DiversitätsProduktion. Die Zirkulation und Akkumulation des Geldes bestimmt von nun an die Diversitäts-Produktion. Nichts mehr ist sicher vor diesen Umwälzungen. Die Kapital-Inhaber und Besitzer der wissenschaftlichen Information bemächtigen sich der Bio-Diversität der Länder des Südens. Das heisst, die Bio-Diversität wird genetisch konfisziert, um durch gross angelegte Manipulations-Operationen als Gegenstand lukrativer Märkte ausgebeutet zu werden. Ohne ins Detail gehen zu wollen kann hier exemplarisch auf das Beispiel Madagaskars verwiesen werden, dessen Bio-Diversität unter mehr oder weniger wissenschaftlichen Vorwänden von einigen multinationalen Konzernen kontrolliert wird. Nachdem der Norden in der Vergangenheit einen Grossteil seiner eigenen natürlichen Bio-Diversität zerstörte, entdeckt er nun deren wirtschaftliche Bedeutung und versucht, sich ihrer erneut zu bemächtigen. Gleichzeitig modifiziert er die Sozio-Diversität, die seinen Projekten im Weg sein könnte. Das heisst, er versucht die Bevölkerungen zu homogenisieren, deren Differenzen ihm irrelevant scheinen. Mit der Sozio-Diversität geschieht also dasselbe, wie zuvor mit der BioDiversität, die als inkompatibel mit den propagierten Nutzungsformen erachtet wurde. Daraus erklärt sich ebenfalls das Verschwinden der Praktiken und Kenntnisse traditioneller Kulturen. Nur, wer könnte vorgeben zu wissen, ob wir des Beitrags dieser traditionellen Kulturen in Zukunft nicht doch bedürfen? Wer könnte wissen, ob dieser Beitrag nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, um bei der vorgängig beschriebenen zyklischen Logik zu bleiben, seinerseits als „Objekt“ des Marktes dem Norden von Nutzen sein könnte?

Wissenschaft, Technik und Territorialisierung

109

Kommt es nicht effektiv seit Jahren zu immer mehr Versuchen, die traditionelle Sozio-Diversität wieder zu erfinden, um daraus ein Markt-Objekt des Tourismus’ und der Freizeitindustrie zu produzieren? Es handelt sich dabei freilich nur noch um Bilder, deren Reproduktion nichts mehr mit der gelebten Realität zu tun hat. Die Simulation erschafft nicht nur immer mehr Bilder; sie zwingt uns auch, diese in Ermangelung eines Besseren zu bewohnen und zu durchdringen. Selbst wenn die Anekdote Potemkins, der mit seinen Schein-Dörfern Katharina II über den Zustand Russlands täuschen wollte, nicht authentisch sein sollte: Dieser könnte doch als der eigentliche Vater der Simulation auf dem Gebiet einer 1/1 produzierten Sozio-Diversität gelten. TERRITORIALISIERUNG, DE-TERRITORIALISIERUNG UND RE-TERRITORIALISIERUNG Die Entstehungsgeschichte der menschlichen Ökosysteme besteht aus einer langen Abfolge von Domestikations- und Simulationsprozessen, die zur Produktion von Territorien auf die natürlichen Ökosysteme projiziert wurden. Ein Territorium ist im Vergleich zu einem natürlichen Ökosystem nichts anderes als das Resultat einer durch Mediatoren – in der Wissenschaft und Technik verwurzelte Praktiken und Kenntnisse – ermöglichten Projektion menschlicher Arbeit. Die technowissenschaftlichen Praktiken und Kenntnisse wurden stets auch zur Reorganisation der natürlichen Ökosysteme eingesetzt, um diese in menschliche Ökosysteme zu verwandeln. Diese Reorganisation ist das Resultat einer Territorialisierung, die ihrerseits durch neue wissenschaftliche und technische Mediatoren in Frage gestellt (De-Territorialisierung) und neugeordnet (Re-Territorialisierung) werden kann. An diesem Punkt unserer Diskussion ist es fast unumgänglich, Wissenschaft und Technik klar voneinander abzugrenzen. „Die herrschende Kultur unternahm wenig bis gar nichts, um Wissenschaft und Technik zu unterscheiden. Die Wissenschaft offenbart neue Horizonte für unser Verständnis der Welt, in der wir leben. Die Technik untersucht die praktischen Anwendungen, die sich aus dem Verständnis eines bestimmten Aspekts der Weltbeschaffenheit ergeben“ (Zichichi, 1996: 17).

Im gleichen Zusammenhang, aber anders formuliert: „Die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Technik geht an sich darauf zurück, dass die erste auf eine Produktion von Kenntnissen abzielt, während die zweite ein effizientes Vorgehen bezweckt. Oft verbindet die beiden allerdings ein gemeinsamer Wille zur Kenntnis, da auch die Technik immer ein gewisses Wissen über die Einheiten und Phänomene impliziert, auf die sie sich bezieht um ihre Ziele zu erreichen“ (Russo, 1978: 1112).

Der Dualismus zwischen Kenntnis und effizientem Vorgehen mag zwar historisch begründet sein. Er ist jedoch weniger eindeutig als man denken könnte. Einerseits ist die Technik nicht nur eine systematische Anwendung der Wissenschaft; andererseits, und vor allem, bedarf der wissenschaftliche Fortschritt selbst oft einer

110

Praktiken und Kenntnisse

Weiterentwicklung der Technik. Wir sehen dies unter anderem am Beispiel der Längengrad-Berechnung (Sobel, 1996). Um die Phänomene der Territorialisierung, De- und Re-Territorialisierung durch wissenschaftliche und technische Domestikations- und Simulationsprozesse zu veranschaulichen werde ich im Folgenden in groben Zügen auf die Entwicklung der Agrar-Ökosysteme eingehen, mit denen noch bis vor zweihundert Jahren mindestens 80% der Bevölkerung eng verbunden waren. Die Domestikation natürlicher Ökosysteme führte seit dem Ende des Mesolithikums zur Produktion von Agrarlandschaften, in denen sich Landwirtschaft und Viehzucht in jeweils unterschiedlichen Verhältnissen mischten. Die ältesten Agrartechniken schufen durch Rodungen nicht nur ein ideales Milieu für Weizen, Gerste und Hirse, sondern auch für Leguminosen wie Linsen, Erbsen und Bohnen, ganz zu schweigen von der Rebe, die bis in die frühe Bronzezeit zurückverfolgt werden kann. Daneben waren wahrscheinlich die Ziege und das Schaf die ersten von der Viehzucht domestizierten Tierarten. Die frühesten Verbindungen von Weizen und Gerste, zusammen mit Schafen, Ziegen und Schweinen, spielten zweifelsohne eine zentrale Rolle in der Entwicklung der ersten permanenten Dörfer. Diese Transformationen der natürlichen Ökosysteme, verbunden mit dem Aufkommen gewisser Installationen, bildeten die Voraussetzung zur Entwicklung neuer Territorien, deren Bio-Diversität schon in alter Zeit infolge der damaligen Entscheide reduziert wurde. Die Anbau-Praktiken der griechischen Welt verblieben lange Zeit in einem ziemlich primitiven Zustand. Die Rudimentarität der verfügbaren Instrumente, wie beispielsweise des Pflugs, gestattete noch keine Vertiefung der normalerweise im Frühling, Sommer und Herbst stattfindenden Bodenbearbeitung. Die Agrarlandschaft der Griechen beruhte vor allem auf dem Olivenbaum und der Weinkultur, beinhaltete aber auch zahlreiche Fruchtbaum-Arten. Pferde und Rinder waren hingegen noch nicht in genügendem Masse vorhanden, weil sich die Viehzucht fast ausschliesslich auf Kleintiere beschränkte. Sie mussten deshalb speziell eingeführt werden. Die Römer, die wie die Griechen und Karthager an den Kulturraum des Mittelmeeres gebunden waren, kannten schon einige Verbesserungen ihrer Agrarpraktiken. Dabei ist vor allem die neben der Brachliegnung als klassische Regulationsform zwar seltene, aber immerhin bekannte und praktizierte Dreifelderwirtschaft für Leguminosen hervorzuheben. Auch die Weinlandschaften wurden durch die römischen Agrartechniken weiterentwickelt. Mit dem Mittelalter begannen die grossen Rodungen, aus denen eine Landwirtschaft hervorging, die einen guten Drittel ihrer Böden als Brachen stilllegte. Diese Rodungen führten zu einer enormen De-Territorialisierung und Schädigung der Wälder, die auch als Weideland stark in Anspruch genommen wurden. Die damit verbundene Re-Territorialisierung schuf indes Platz für neue Pflanzenarten, wie beispielsweise den Hafer, der ebenso wie die Perfektionierung der Bespannung entscheidend zur Entwicklung der Pferdezucht beitrug. Diese agrare ReTerritorialisierung führte sowohl zu einer deutlichen Extension der landwirtschaftlichen Nutzflächen, als auch zu einer weiteren Domestikation neuer Pflanzenarten.

Wissenschaft, Technik und Territorialisierung

111

Die Renaissance kannte kaum nennenswerte Veränderungen ihrer Agrartechniken. Eine Ausnahme bildete vielleicht die Aufnahme des schweren Pflugs in ihr Instrumentarium, woraus sich einige neue Möglichkeiten der Kultivierung dicker und schwerer Böden ergaben. Zudem ermöglichte die verbesserte Bewässerung einen wirksameren Unterhalt der Wiesen, was wiederum zu einer Weiterentwicklung der Viehzucht führte. Die grossen Veränderungen der Renaissance gingen indes auf die Einführung neuer Pflanzen zurück. Diese entstammten nicht nur dem amerikanischen Kontinent, sondern auch, und vor allem, der Kreation kultivierter und essbarer Sorten aus ehemals kaum geniessbaren Wildpflanzen. Diese Domestikation neuer Pflanzenarten fand oft in italienischen Gärten statt, die als Transitzonen eine bedeutende Rolle innerhalb der damaligen botanischen Revolution spielten. Die Domestikation der aus dem Orient stammenden, über die süditalienischen Städte oder Venedig eingeführten Pflanzen wurde so möglich. Zu erwähnen wäre beispielsweise die bereits von den Arabern perfektionierte Artischocke, die Ende des 15. Jahrhunderts über Neapel nach Florenz und Anfang des 16. Jahrhunderts nach Frankreich gelangte. Das gleiche lässt sich sowohl von der Melone sagen, die seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in Avignon Erwähnung findet, als auch von dem aus dem Orient stammenden Blumenkohl im 16. Jahrhundert. Andere Domestikationen sind hingegen tatsächlich italienischen Ursprungs: der römische Salat (Romana), der Kopfsalat, der Kürbis, der Gartenkürbis, die Aubergine, Möhre und Rübe, die früher in Wäldern gesammelten Erdbeeren, die Himbeeren sowie die immer häufiger kultivierten Johannisbeeren. Zudem wurden auch mehrere Nutzpflanzen wiederentdeckt, wie beispielsweise die Luzerne (die für landwirtschaftliche Kunstwiesen von zentraler Bedeutung ist), die Esparsette und der rote Klee. All diese pflanzlichen und tierischen Domestikationen trugen in einem kaum zu ermittelnden Ausmass – wir verfügen diesbezüglich oft über keine genauen Untersuchungen – zur Modifikation, das heisst zur De- und Re-Territorialisierung der Agrarlandschaften bei. Die bedeutendsten Agrar-Transformationen gehen zweifelsohne auf das 18. Jahrhundert und insbesondere auf dessen zweite Hälfte zurück, als dank der Umzäunung eine Reihe neuer Agrartechniken möglich wurde. Eine dieser neuen, ihrerseits eine Re-Territorialisierung begründenden Techniken betraf die Verwendung von Hackfrüchten, die die Erde zugleich säubern und bereichern. Die Kartoffel erlangte erst dank dem Einsatz verbesserter Setzlinge eine zentrale Bedeutung. Die Rübe wiederum begründete eine eigentliche Revolution, da sie als potenzielle Tiernahrung, wie schon die vorgängig erwähnten Kunstwiesen, entscheidend zur Förderung der Viehzucht beitrug. Die Fortschritte im Bereich der Nutztier-Domestikation beruhten ebenfalls auf der Entwicklung neuer SelektionsMethoden. Daneben war auch die Agrarlandschaft grossen Veränderungen unterworfen, die vor allem auf den starken Rückgang der Brachliegung zurückgingen. Die neue Dreifelderwirtschaft, bestehend aus Kunstwiesen, Hackfrüchten und Getreide, entstand Mitte des 18. Jahrhunderts. Aus all diesen Modifikationen gingen wiederum neue Regulations-Systeme hervor. Die Fortschritte der Mechanik und der Chemie des 19. Jahrhunderts akzentuierten diese De- und Re-Territorialisierungsprozesse nochmals, um letztlich im

112

Praktiken und Kenntnisse

20. Jahrhundert zu einer neuen Form der Agrarlandschaft, als ein ständig in Funktion der Marktbedürfnisse verändertes industrielles Produkt, zu gelangen. Zwecks einer erleichterten Nutzung landwirtschaftlicher Maschinen kam es im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg sowohl zu einer Abschleifung der Böschungen, als auch zu einer Ausdehnung der Parzellen der Knicklandschaft. Die regulierende Bedeutung der Knicklandschaft geriet dabei vor lauter Sorge um eine Ertragserhöhung völlig in Vergessenheit. Böschungen sind nicht nur in ihrer Funktion als Umzäunung von Feldern von Bedeutung. Als Bereiche erhöhter Bio-Diversität bilden sie oft reichhaltigere biologische Milieus als die umrahmten Felder selbst. Daneben sind Böschungen auch für das Klima sowie als Windschutz und Wasserspeicher für Pflanzen nützlich, wobei sie ebenfalls die Bodenerosion durch Wind und abfliessendes Wasser eindämmen. Die enormen Veränderungen der Agrarlandschaften in den letzten fünfzig Jahren waren nicht mehr nur wie in der Vergangenheit das Resultat einer Domestikation tierischer und pflanzlicher Arten, sondern immer mehr das Produkt einer Simulation, das heisst einer Konstruktion neuer Agrar-Ökosysteme zum Zweck einer deutlichen Ertragssteigerung. Diese Konstruktionen beruhten auf der Kombination neuartiger, von den Landwirten selbst nicht mehr beherrschter Agrartechniken. Die Autonomie der Bauern verringerte sich dadurch zusehends, weil die Modelle der Agrarwelt immer häufiger ausschliesslich in Laboratorien konzipiert und industriell ausgearbeitet wurden. Die heutige städtisch-industrielle Zivilisation kontrolliert und bestimmt die Landwirtschaft geradezu nach Belieben. Im Gegensatz zur Abundanz funktionaler Information herrscht heute ein Mangel an regulativer Information, woraus sich zahlreiche Probleme ergeben. Eine genauere Betrachtung des Ackerbodens zeigt beispielsweise – wenngleich sich die Landwirtschaft auch ausserhalb des Erdreiches weiterentwickeln kann –, wie stark der Einsatz chemischer Produkte dessen Struktur und Lebensinhalt modifiziert. Hinzu kommt, dass die Böden infolge des wegen seiner Schwere oft ungeeigneten Agrar-Maschinismus’ einer deutlichen Zunahme der ErosionsPhänomene ausgesetzt sind. Vergessen wir also nicht, dass zumindest aus dem Gesichtspunkt des Menschen die über lange Zeit entstandenen Böden in nur wenigen Jahrzehnten irreparabel zerstört werden können. Die zunehmende Desertifizierung ist nur eine der möglichen Folgen dieser Zerstörungen, die der Landwirtschaft insgesamt wichtige Ressourcen entziehen und wohl zu einer menschlich gesehen endgültigen De-Territorialisierung führen. Der Boden ist nicht nur irgendeine Unterlage, sondern eine „belebte Dicke“, die durch die verwendeten Techniken oft grosse Schäden erleidet. Dabei wüsste man eigentlich, dass nur ein Viertel der Landmasse der Erde (deren Bevölkerungswachstum unvermindert anhält) überhaupt kultivierbar ist. Die Technik ist nicht allein für diesen Zustand verantwortlich. Sie ist dies jedoch indirekt als Folge ihrer sozialen Nutzung. Die Bedeutung regulativer Information ist insgesamt zu schwach. Oder anders gesagt, die funktionale Information beruht auf allzu einseitigen Überlegungen, die allein das Ziel einer Erträgserhöhung verfolgen. Die Probleme der Rinderzucht in Europa zeugen davon in trauriger Eloquenz. Ein grosser Teil des Rinderbestandes ist von der Mast mit Tiermehl

Wissenschaft, Technik und Territorialisierung

113

betroffen, die möglicherweise den „Wahnsinn“ auslöst. Das Problem betrifft allerdings nicht nur die Tiere, sondern – wie man heute befürchtet – die gesamte Nahrungskette. Nicht nur Agrar-Ökosysteme werden durch Simulations-Prozesse transformiert und oft komplett neu erschaffen. Gestützt auf wissenschaftliche Kenntnisse versucht sich die städtisch-industrielle Gesellschaft nun auch ganz allgemein an der Herstellung lebensgrosser Natur-Fragmente oder gar vollständig ausgebildeter Ökosysteme. Grosse Tourismus-Anbieter sind beispielsweise in der Lage, die von potentiellen Kunden gewünschten Ökosysteme durch Marktstudien zu prognostizieren und entsprechend zu produzieren. Dabei werden nicht nur Retouchen an den natürlichen Gegebenheiten angebracht, sondern im Gegenteil eigentliche und vollumfängliche, mit Gebäuden zu vergleichende Konstruktionen realisiert. Auf diese Weise treiben gewisse Tourismus-Unternehmen die Simulation bis zur Errichtung tropischer Ökosysteme in unseren Gegenden, mit auf 29 Grad warm geheizten Bädern, künstlichen Wellen sowie mit den entsprechenden Tieren und Pflanzen, wie beispielsweise Bananen, Schildkröten, etc. All dies verursacht einen gewaltigen Energieverbrauch. Die Tropen sind nun also vor unserer Haustür – zu einem erschwinglichen Preis. Es handelt sich dabei allerdings weniger um eine Produktion von Ökosystemen im eigentlichen Sinn, als vielmehr um eine Produktion von Landschafts-Bildern, deren Ursprünge zwei Jahrhunderte zurückreichen, wie Girardin in seinem Werk zur Komposition der Landschaft aufzeigen konnte. Der domestizierende Mensch mag sich zwar, indem er die ursprünglichen Massstäbe der Biosphäre durch seine eigenen ersetzte, in einen bestimmten raumzeitlichen Rahmen eingegliedert haben. Er hat gleichzeitig aber auch einen Teil seiner Existenzgrundlagen zerstört. Die menschliche Expansion basierte auf sukzessiven „Lichtungen“, die von der Umwelt getrennt wurden und deren Gleichgewicht ohne allzu grosse Probleme bis zur industriellen Revolution Bestand hatte, wenngleich bereits früher hin und wieder irreparable Schäden auftauchten. Die facettenreiche Exaltation der Natur im 18. Jahrhundert zeugt von der Malaise der westlichen Gesellschaft, deren techno-wissenschaftliche Modelle nicht nur ihr Denken, sondern auch ihre Existenz durchdrangen. Eine noch zu verfassende Geschichte der Bilder der Natur würde zeigen, in welchem Masse der Mensch effektiv seine Bezugspunkte verlor. Man weiss nicht mehr wirklich was die Natur ist und doch wird diese zum Gegenstand aller möglichen Diskurse, Nostalgien und Sorgen. Der von der Malerei entliehene Begriff der Landschaft wurde nicht zufällig zum neuen Horizont, vor dem sich sowohl literarische als auch wissenschaftliche Vorhaben entfalten. Als Bild par excellence begründet die Landschaft von sich aus ein Paradigma, das noch zwei Jahrhunderte später in literarische, natur- und humanwissenschaftliche Beschreibungen einfliessen wird. Die Beschreibung der Landschaft ist allerdings nicht als die Beschreibung eines Teiles der Natur, sondern als etwas völlig anderes zu verstehen: Als die – durch die Exteriorität mediatisierte – Suche des Menschen nach seiner Essenz. Es ist dies unser Erbe der griechischen Philosophie, die sich seit den Vorsokraten bemühte, aus den Lebensströmen der Phänomene eine stabile Essenz der Dinge zu extrahie-

114

Praktiken und Kenntnisse

ren, woraus sich, in Verbindung mit den neu entwickelten Formen der Beschreibung, eine beschleunigte Produktion von Natur-Bildern ergab (Averincev, 1994). Die Bevorzugung der Essenz gegenüber der Existenz, der Repräsentation gegenüber dem Referenten, bildet wahrscheinlich eine zentrale Grundlage der Simulation, deren Entwicklung sich infolge der heutigen, nie dagewesenen Krise der Bio-Sphäre noch weiter verschnellert. Nach all den Destruktionen seines natürlichen Erbes – das wir noch immer grundsätzlich missverstehen – befasst sich der moderne Mensch nun mit der Idee einer Neuerfindung dessen, was er vorgängig beschädigte oder gar zerstörte. Diese Neuerfindung ist allerdings selbst äusserst riskant, da die ihr zugrunde liegenden Modelle nur eine unzureichende Kenntnis der Interaktionen der öko-, bio- und sozio-Logiken (die die Gesamtheit aller durch den Menschen beeinträchtigten Zyklen bestimmen) zum Ausdruck bringen. Die Unsicherheit und Instabilität der aus Simulationsprozessen resultierenden Bilder ist an sich unumgänglich. Das typischste Beispiel dieser Simulation in actu betrifft wohl die Tätigkeit von Architekten und Urbanisten, deren „erfundene“ Landschaften aufgrund der vorgängig erwähnten Faktoren im Allgemeinen nur von kurzer Dauer und von beschränkter räumlicher Ausdehnung sind. Ein anderes, immer häufigeres Beispiel dieser Art der Simulation ist die Konstruktion beinahe kompletter touristischer Landschaften. Dabei werden zuerst unterschiedliche Exotismus-Modelle im Massstab 1/n konzipiert und durch MarketingStrategien getestet, um die urbane Klientel, die im Massstab 1/1 die Verwirklichung ihrer geheimsten und verrücktesten Wünsche vorzufinden erwartet, mit grösstmöglicher Sicherheit zu „fesseln“. Wir bewohnen nicht mehr die Natur, sondern nur noch Bilder der Natur, respektive lebensgrosse Szenerien, die den veränderten Geschmäckern und Präferenzen angepasst werden. Wir halten uns nicht mehr in den Dingen auf. Wir durchqueren diese nur noch, im Sinne einer Durchquerung von Szenerien, wie im Falle der potemkinschen Dörfer, die sich zur Aufrechterhaltung der gewünschten Illusion im Rhythmus Katharinas II bewegten. Es ist höchste Zeit uns zu fragen, ob die Krise der Natur vielleicht gar nicht dieser selbst entspringt, sondern mit unserer Präferenz der Bilder der Natur zusammenhängt. Betonte Jonas demnach zu Recht die drohende Substitution des homo sapiens’ durch den homo faber? Der Mensch braucht nicht nur ein Diesseits, sondern auch ein Jenseits. Er braucht nicht nur eine Natur – wenngleich seine Handlungen das Gegenteil suggerieren –, sondern auch eine Idee der Natur. Dies erklärt, weshalb diese Idee im Gegensatz zu den wirklichen Dingen geradezu unverwüstlich ist. Wäre die Geschichte unserer Beziehungen zur Natur demnach nichts anderes als die Chronik eines Exils? Eines Exils von der ursprünglich „gegebenen“ Natur, das uns immerzu zur Vorstellung neuer „produzierter“ Naturen zwingt? Diese produzierten Naturen lassen sich nicht mehr in die traditionelle Beschreibung einfügen, da sie per Definition vor ihrer materiellen Verwirklichung bereits „Beschreibung“ waren. Sie sind zugleich aber auch „Erzählung“, wenn immer sie in „epischer“ Form von ihrer Geburt berichten. Wäre die Chronik der simulierten Erfindungen also eine moderne Form der Heldendichtung?

Wissenschaft, Technik und Territorialisierung

115

BIBLIOGRAPHIE Averincev S.S. (1994), Atene e Gerusalemme. Contrapposizione e incontro di due principi creativi, Donzelli Editore, Rom. Barrau J. (1990), „Les hommes dans la nature: esquisse d’une histoire naturelle des sociétés et de moeurs humaines“, in, Poirier J. (Hg.), Histoire de moeurs I, Gallimard, Paris: 9–58. Bergson H. (1990), Le rire. Essai sur la signification du comique, PUF, Paris. Bergson H. (1972), Das Lachen, Arche, Zürich [Originalausgabe: 1921]. Borgès J.L. (1951), Histoire universelle de l’infamie. Histoire de l’éternité, Christian Bourgois, Paris. Dumont J-P. (Hg.) (1988), Les Présocratiques, Gallimard, Paris. Lévy P. (1995), Qu’est-ce que le virtuel?, La Découverte, Paris. Moscovici P. (1968), Essai sur l’histoire humaine de la nature, Flammarion, Paris. Russo F. (1978), „Science et technique“, in, Gille B. (Hg.), Histoire des techniques, Paris, Gallimard: 1111–1145. Sobel D. (1996), Longitudine, Rizzoli, Milano. Vernant J-P. (1990), Les origines de la pensée grecque, PUF, Paris [Originalausgabe: 1962]. Vernant J-P. (1982), Die Entstehung des griechischen Denkens, Suhrkamp, Frankfurt. Zichichi A. (1996), Scienza ed emergenze planetarie, Rizzoli, Milano.

STATISTIK, RAUM, MACHT Claude Raffestin (2003) Wenngleich jeder weiss oder zumindest zu wissen glaubt was „Macht“ ist, so ist doch im Grunde niemand in der Lage, eine allgemein akzeptierte Definition der Macht aufzustellen. Wie dem auch sei. Wenn man sich – verbunden mit dem Risiko einer Identifikations-Verweigerung der Macht – schon nicht auf eine minimale Definition einigen kann, so sind doch zumindest die beiden konstitutiven Elemente sowohl der Macht als auch der Arbeit hervorzuheben: Energie und Information. Macht ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, als informierte Energie. Sie ist als solche befähigt, die Umwelt und die darin entstehenden Beziehungen zu verändern. Falls man sich vorübergehend auf diese Machtkonzeption einlässt, wird entgegen den oft anders lautenden Befunden schnell klar, dass Macht nicht besessen, sondern ausgeübt wird. Macht manifestiert sich innerhalb von Beziehungen, das heisst innerhalb jedes Austausch- und Kommunikationsprozesses zwischen mindestens zwei, meistens jedoch mehreren Akteuren. Die Analyse einer Machtbeziehung ist komplex, weil dabei nicht nur unterschiedliche Formen der Energie, sondern auch unterschiedliche Formen der Information – von wissenschaftlichen Kenntnissen über emotionale Informationen bis zu Symbolen und Archetypen – berücksichtigt werden müssen. Falls Macht tatsächlich aus einer Kombination und Manipulation von Energie und Information besteht, wird deutlich, ohne im Übrigen auf unterschiedliche Machtformen einzugehen, weshalb der Raum und die Statistik hier zu Recht Erwähnung finden. Der Statistik geht es um die Kenntnis des Raumes, als Grundlage menschlicher Praktiken sowie als Ursprung zahlreicher Ressourcen (Lebewesen und materielle Ressourcen). Der Raum ist in diesem Sinn eine potentielle Quelle statistischer Information, kann jedoch per Definition niemals Gegenstand einer erschöpfenden Analyse sein. Die Statistik setzt demnach eine aussergewöhnliche Kompetenz der Auswahl voraus, um sich eine optimale, wenn auch gezwungenermassen partielle und fragmentarische Kenntnis der Realität zu verschaffen. Der Wert der Statistik liegt in erster Linie in genau dieser Fertigkeit: auszuwählen, was erfasst zu werden verdient. Die Aufzeichnungen einer Zählung oder Beobachtung dienen immer auch dazu, die Pluralität des Konkreten auf einen abstrakten Indikator zu reduzieren. Dies verdeutlichen beispielsweise die im 17. Jahrhundert verfassten Arbeiten John Graunts und William Pettys zur Bevölkerung im Allgemeinen sowie zu deren Sterblichkeit im Speziellen. Bezugnehmend auf die Enzyklopädie Diderots und d’Alemberts lässt sich das Gleiche auch hinsichtlich des 18. Jahrhunderts sagen: „Politische Arithmetik“, als die „Ausführung nützlicher Studien zur Kunst Völker

118

Praktiken und Kenntnisse

zu regieren“. Oder „Arithmetische Politik“, als die „Anwendung arithmetischer Berechnungen auf die Subjekte und Nutzer der Politik“. Obschon das 17. und 18. Jahrhundert die gemeinhin akzeptierten Bezugspunkte der modernen Statistik darstellen, ist ebenfalls von einer Statistik avant la lettre auszugehen, da die Menschheit schon sehr früh das zwingende Bedürfnis verspürte, Dinge und Lebewesen durch Symbolisierungen – durch Zahlzeichen vor der Entwicklung eigentlicher Zahlensysteme – zu kontrollieren. Sowohl die Einen als auch die Anderen sind Instrumente der Macht, wie beispielsweise die zur Zählung und Aufzeichnung in Knochen und Holz eingeritzten Kerben. Diese bis zu 40‘000 Jahre alten Kerben bildeten lange vor der Entwicklung der Schrift eine erste Form der Komptabilität. Die Zählung ist also ungleich älter als die Schrift, erhielt jedoch durch deren Erfindung, respektive durch die damit verbundene Steigerung ihres kommunikativen Werts, ein beträchtliches zusätzliches Gewicht. „Wahrscheinlich gehorchte die Entwicklung der Schrift grösstenteils den Bedürfnissen der Komptabilität. Die Schrift [...] ist eine Erfindung der Buchhalter der expansiven sumerischen Gesellschaft, die allzu viele und allzu diverse Wirschaftsoperationen aufzustellen hatten, als dass sie diese ausschliesslich dem Gedächtnis hätten überlassen können“ (Ifrah, 1994: 196).

Der Bezug zwischen der Schrift und der Statistik ist viel enger als für gewöhnlich, basierend auf einer allzu vereinfachten Sicht der Vergangenheit, angenommen wird. „Was ist eine Kultur anderes als eine Reihe von Kommunikations-Handlungen? Eine Veränderung der Kommunikationsformen ist oft von gleicher Bedeutung wie eine Veränderung des Produktionsmodus’. Neue Formen der Kommunikation begründen nicht nur eine Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen Individuen, sondern auch einen Ausbau der Speicher-, Analyse- und Kreations-Möglichkeiten auf dem Gebiet des Wissens“ (Goody, 1979: 86).

Die Statistik muss ebenso wie die Schrift auch als ein Mittel zur Entstehung und Entwicklung der Möglichkeiten kritischer Einflussnahme verstanden werden. „Dass sich das Gesagte vor den Augen aller entfaltete, erweiterte ebenfalls die Möglichkeiten kritischer Einflussnahme“ (Goody, 1979: 86–87). Goody betont zu Recht die radikal veränderten Bedingungen der Informations-Speicherung. Die mit der Aufzeichnung statistischer Daten verbundenen zeitlichen Vergleichsmöglichkeiten begründeten in der Tat eine grundlegend neue Sichtweise der Dinge. Gleichermassen ermöglichte es die Schrift aufgrund ihrer Fähigkeit einer zumindest teilweisen Bewahrung der Vergangenheit, sich dieser zu erinnern, ein Bild der Vergangenheit zu konstruieren sowie dieses zu aktualisieren und im gegebenen Falle zu benutzen. Die grosse Frage jedoch nach dem Warum der Zählung bleibt offen. Weshalb zählen wir? Eine Frage, die gerade wegen der Unbegrenztheit aller möglicher Erklärungen nicht zu beantworten ist! Ich werde mich dennoch der Gefahr aussetzen und eine Antwort in interrogativer Form vorschlagen. Wäre es nicht denkbar, dass die Zählung, und davon ausgehend die Statistik, auf die Angst vor dem Unbekannten zurückginge? Die Angst vor dem Verborgenen, die Angst vor dem zufällig Entstandenen, die Angst vor dem Vergessenen? Eine reine Hypothese,

Statistik, Raum, Macht

119

zweifelsohne ... Keinesfalls jedoch darf die Erfindung der Wahrscheinlichkeitstheorie in eben jenem 17. Jahrhundert vergessen werden, die ein Mittel zur Verringerung, wenn nicht gar zur Beseitigung der Angst vor dem Unbekannten darstellte. Durch Zählungen und Wahrscheinlichkeitsberechnungen konnten von nun an wertvolle Kenntnisse gewonnen werden, die die Rolle eines Anti-Zufalls spielten, um auf einen Ausdruck Pierre Massés zurückzugreifen (Massé, 1973). Genau deshalb betrachtete sich wohl die Bevölkerung in ihren Bewegungen seit Jahrtausenden als ein „faszinierendes Objekt“, über das möglichst viele Informationen zusammengetragen werden sollten. Vor allem die Machthaber – ob Chef, Prinz, König oder moderner Staat – erlagen dieser Faszination auch deshalb, weil vor der berühmten demografischen Transition und dem damit einhergehenden substantiellen Bevölkerungswachstum jede Kenntnis des eigenen Umfangs sowohl aus Überlebens- als auch aus Machtgründen von entscheidender Bedeutung war. Darüber hinaus war die quantitative Kenntnis gewisser Phänomene auch aus einem rein ökonomischen Gesichtspunkt von Nutzen: ohne demographisches Grundwissen keine korrekt berechneten Leibrenten. Im gleichen Zusammenhang, wenn auch auf einer anderen Ebene, muss hier ebenfalls an die bekannte Formulierung Jean Bodins in seinen Six Livres de la République des 16. Jahrhunderts erinnert werden: „Kraft und Reichtum hängt nur an dem Menschen“. Dieser Ausdruck veranschaulicht geradezu exemplarisch die Weltkonzeption vor der Bevölkerungsentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts. Bis vor zwei Jahrhunderten bezogen sich Friedensverhandlungen eher auf die (damals sehr geringen) Bevölkerungszahlen, als auf die Grösse der hinzugewonnen oder verlorenen Territorien. Dies änderte sich erst im 20. Jahrhundert grundlegend, als vor dem Hintergrund des neuen demographischen Regimes, das menschliche Verluste aller Art schneller verheilen liess, der Wert von Territorien über jenen der Bevölkerung gestellt wurde. Wir können uns auch auf das Alte Testament berufen, um das hohe Alter der Vorstellung Bodins zu verdeutlichen. Gott selbst befahl Mose in der Wüste Sinai: „Nehmet die Summe der ganzen Gemeinde der Kinder Israel nach ihren Geschlechtern und Vaterhäusern und Namen, alles, was männlich ist, von Haupt zu Haupt, von zwanzig Jahren an und darüber, was ins Heer zu ziehen taugt in Israel; ihr sollt sie zählen nach ihren Heeren, du und Aaron“ (4 Mose 1: 2–3).

Das genaue Ergebnis dieser Zählung betrug 603'550! Davon ausgeschlossen waren bekanntermassen, und ebenfalls auf Anordnung Gottes, nur die Leviten. Als heiliger Akt ging die Erfassung und Zählung der Bevölkerung auf einen Befehl Gottes zurück, wie dies auch König David zu spüren bekam (Samuel 2: 24). Die Frage der Volkszählung lässt sich im Übrigen auch im Lukas Evangelium finden. „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war“ (Lukas, 2: 1–2).

Die Römer hingegen hatten während der Revolte der Zeloten ebendiesen Faktor, den heiligen Charakter jeder Zählung, scheinbar vernachlässigt und vergessen.

120

Praktiken und Kenntnisse

Die Statistik ist nicht nur aus vielerlei Hinsicht ein Anti-Zufall. Sie ist ebenfalls ein mächtiges rationales Mittel um sich den Mythen entgegenzustellen, die die Geschichte der Menschheit dominierten; das heisst, um die Angst und Beklemmung vor dem Unbekannten zu bekämpfen. Ich werde mich an dieser Stelle freilich hüten, vor Berufsstatistikern sämtliche Mythen offen zu legen, mit denen sie sich in ihrem Alltag herumzuschlagen haben! Erinnern wir uns lediglich an die ersten Armuts-Studien einiger Schweizerkantone. Die Resultate dieser Studien waren vielerorts so besorgniserregend, dass die politischen Verantwortlichen sie zuerst grundsätzlich leugneten, um später angsterfüllt die Konsequenzen ihrer Bekanntmachung zu überwachen. Weshalb diese Angst? Zweifelsohne deshalb, weil die Armut als eine Art Gegen-Leistung erscheint, die sich nicht mit der Vorstellung der Schweiz als eines der reichsten Länder der Welt verträgt. Es ist im Allgemeinen zwar erlaubt auf die positiven Leistungen hinzuweisen, gleichzeitig jedoch müssen die negativen Leistungen verschwiegen und vertuscht werden, sofern sie nicht mit den vorherrschenden „politischen Projekten“ übereinstimmen. Als Stolperstein des statistischen Fortschritts neigt die Aufdeckung der Realität in einem etwas allzu ungeschminkten Licht oft dazu, das Wohlbefinden der Macht zu stören. In der Schweiz wird man sich wohl noch an den Skandal erinnern, den Dürrenmatt mit seiner prononcierten Rede vor einer fachkundigen Politikerversammlung wenige Wochen vor seinem Tod provozierte, indem er anlässlich einer Preisübergabe an Vaclav Havel die Disfunktionen der helvetischen Freiheit anprangerte (Dürrenmatt, 1990). Der Bezug zwischen der Macht und der Statistik erinnert stark – unter ansonsten gleichen Bedingungen – an Dürrenmatts Beispiel. Dieser Bezug ist jedenfalls nicht ohne Ambiguität, da die Macht ihrem Wesen nach immer ideologisch ist, das heisst auf die Produktion von Projekten abzielt. Solange die Statistik diesen Projekten entspricht wird sie akzeptiert und kann veröffentlicht und verbreitet werden. Sollte sie jedoch dazu neigen diesen Projekten zu widersprechen, so wird sie die politische Macht zwar nicht unbedingt zurückzuhalten oder zu verstecken, aber doch zumindest zu minimieren oder zu marginalisieren suchen. Der Umgang mit der Statistik ist immer auch ein Prüfstein für das Wesen und Ausmass einer Demokratie. In der heutigen Zeit entscheidet der Staat anstelle Gottes, wenn auch zweifelsohne mit weniger Weisheit, was erfasst zu werden verdient. Die Zählung ist in beiden Fällen das Vorrecht einer (absoluten oder zeitlich begrenzten) Macht, die sich ein möglichst umfassendes Informationsmonopol zu verschaffen trachtet. Statistiken sind deshalb immer auch ein Abbild des Staates, der sie erstellen liess. „Die Statistik ist weder ein schlichtes Verzeichnis, noch eine simple Beschreibung oder Zusammentragung von Quellen. Sie ist vielmehr eine Information, die gewisse Kenntnisse und Entscheide begünstigt. Die Statistik ist also auch keine gewöhnliche Aufzählung, geschweige denn ein lebloses Gemälde. Sie ist im Gegenteil eine kommentierte und illustrierte Analyse einer gegebenen Realität. [...] Ein System kohärenter, zusammenhängender Informationen, [...], die Synthese einer komplexen Realität. Schliesslich ist die Statistik auch keine administ-

Statistik, Raum, Macht

121

rative Spielerei, sondern eine Dienstleistung für eine Vielzahl möglicher Nutzer“ (Malaguerra, 1996: 7).

Kurz gesagt, wir können das Wesen eines Staates immer auch über sein statistisches System dechiffrieren, das je nachdem eine mehr oder weniger genaue Aufzeichnung, Aktualisierung und Kenntnis der sozialen, ökonomischen und kulturellen Mechanismen (um nur einige wenige zu erwähnen) erlaubt. Der Einblick in die Aufzeichnungs-Präferenzen eines Staates ist nicht nur interessant, sondern geradezu aufschlussreich und instruktiv. Schliesslich besitzen nicht alle Vorräte und Ströme die gleiche Bedeutung für die Kenntnis einer bestimmten räumlichen oder territorialen Realität. Gleichermassen beruht auch die Methode einer Volkszählung oder -befragung nicht nur auf wissenschaftlichen Überlegungen. Dabei ist heute als Folge der abnehmenden Attraktivität rein zahlenmässiger Bevölkerungs-Bestimmungen eine klare Bevorzugung weniger kostspieliger Erhebungen zu beobachten. An dieser Stelle liessen sich zweifelsohne zahlreiche weitere Beispiele anführen, wenn nicht meine Zeit an sich beschränkt wäre. Ich werde mich deshalb auf einige zusätzliche Bemerkungen zur Umwelt beschränken, deren Zustand bekanntermassen lange Zeit nicht ausreichend dokumentiert war. Obwohl dies mittlerweile aufgrund des gesteigerten Umweltbewusstseins verbessert wurde ist nach wie vor unklar, ob die verfügbaren Daten der Entscheidungsfindung tatsächlich dienlich und angemessen sind. Darüber hinaus tragen wohl auch die kürzlichen Budgetstreichungen des Bundesamtes für Umwelt, Wald und Landschaft nicht wirklich zur Beruhigung der Bevölkerung bei. Es muss vielmehr gefragt werden, welche Statistiken es tatsächlich auszuarbeiten gälte, um die nachhaltige Entwicklung richtig zu messen. Diese Bemerkungen verdeutlichen, dass das epistemische, Entscheidungen vorschlagende Subjekt oft (zu Recht oder zu Unrecht) von dem sozialen, um nicht zu sagen politischen Subjekt, das über die Natur und das Ausmass der Beobachtung entscheidet, konditioniert wird. Der Ursprung jeder statistischen Repräsentation, die im wahrsten Sinne des Wortes einer Verhandlung und einem Kompromiss zur Erstellung der „Zahl“ gleichkommt, liegt in den Machtbeziehungen zwischen der Politik, der Gesellschaft und der Wissenschaft. Die Zahl ist meist, wenn auch nicht immer, das effizienteste und wirtschaftlichste Mittel einer Repräsentation. Sie spielt sowohl bei der Entscheidungsfindung als auch bei der Kontrolle der Auswirkungen dieser Entscheide eine zentrale Rolle. Deshalb versucht die Macht unablässig, die Lebewesen und Dinge über das Mittel der Zahl auszudrücken. Dadurch entsteht eine bestimmte Repräsentation, die ein von ihrem Referenten losgelöstes Eigenleben entfaltet. Diese Repräsentation ist gewissermassen eine Karikatur, aus der wiederum neue Limiten hervorgehen und die in einer neuen Sprache zum Ausdruck bringt, was sonst weder bewältigt noch überhaupt erkannt werden könnte. Als Repräsentation ist jede Statistik auch eine Karikatur der Dinge und des Lebens, weil sie immer gewisse Eigenschaften unterdrückt, während sie gleichzeitig andere potenziert. Repräsentationen ähneln ihrer Funktionalität entsprechend per Definition einer Art Atrophie oder

122

Praktiken und Kenntnisse

Hyper-Atrophie, weil sie aus einem unerschöpflichen Ensemble ein bestimmtes Element (oder mehrere Elemente) auswählen, zugleich jedoch den Rest vernachlässigen. Sowohl statistische als auch kartographische Repräsentationen sind nichts anderes als deformierte, wenn auch kohärente Bilder der Realität. Dies gilt offensichtlich für alle zu einem Modell werdenden Repräsentationen, die eine gewisse Ersatz-, das heisst konsequenterweise auch Austauschfunktion der Realität übernehmen. Eine Repräsentation verhält sich zur Realität wie Geld gegenüber realen Gütern. Der Wert einer Repräsentation besteht solange sie als das repräsentierte Ding selbst akzeptiert wird. Karten und Statistiken verbindet also ihr Wesen als Bild. Beide sind im Grunde aussichtslose Unterfangen, die zwangsläufig als historische Dokumente enden. Selbst wenn wir von der Möglichkeit eines mehr oder weniger in Echtzeit vollzogenen Überarbeitungsprozesses ausgingen, ist kaum an eine permanente Aktualisierung dieser Bilder zu denken, es sei denn die dabei anfallenden Kosten könnten durch aussergewöhnliche Vorteile kompensiert werden. Im Allgemeinen finden jedoch gerade diejenigen statistischen und kartographischen Bilder keine Verbreitung, für die ein Staat die höchsten Kosten auf sich zu nehmen bereit ist. Anders verhalten sich die Dinge nur dann, wenn die Transparenz selbst den entscheidenden Faktor zur Erfüllung eines bestimmten Zieles darstellt, wobei auch hier das Gegenteil zu beobachten ist. So werden in gewissen Fällen zur Vortäuschung von Transparenz erhebliche Kosten in Kauf genommen, während gleichwohl nur Zugriff auf eine deformierte Pseudo-Realität gewährt wird. In Anbetracht der zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen und technischen Mittel, die selbst den elaboriertesten Formen des Betrugs entgegenzuwirken erlauben, kann ein solches Unterfangen allerdings nicht allzu lange funktionieren. Muss überhaupt noch an die statistischen und kartographischen Bilder der Länder jenseits des eisernen Vorhangs vor 1989 erinnert werden? Täuschung, Verstellung und Lüge sind offensichtlich unumgängliche Praktiken, sobald es zur Manipulation einer Sprache kommt, da Sprachen nicht nur der Wahrheit, sondern auch dem Betrug dienlich sein können. Sprachen bilden per Definition eine Art „Oberfläche“. Sie gewähren nicht Zugang zu einem Ding selbst, sondern nur (indirekt und mediatisiert) zu einem Teil dieses Dings. Sowohl die Statistik als auch die Karte bilden eine „Oberfläche“ ohne Tiefe, die immer mehrere Interpretationsniveaus zulässt. Wurde nicht der geblendete Kyklop Polyphemos, der aus der Höhle tretend seine Schafe abtastete um Odyseus und seine Kameraden nicht entkommen zu lassen, selbst zu einem Opfer jener Oberfläche der Dinge? Man könnte dabei sogar von einer doppelten Erblindung sprechen, da Polyphemos nicht nur sein fleischliches, sondern vor blinder Wut auch sein geistiges Auge verlor. Sind wir nicht oft selbst mit Blindheit geschlagen, wenn wir – die elementaren Prinzipien der Komparabilität missachtend – dem Vergleich von Dingen zustimmen, die an sich nicht vergleichbar sind? Ich würde nun gewiss nicht daraus folgern, der Staat selbst besässe wie Polyphemos nur ein Auge und könnte dem Beispiel Odyseus’ folgend geblendet

Statistik, Raum, Macht

123

werden, um ihm zu entkommen. De facto erblindet der Staat manchmal auch ohne unser Zutun, wobei er – beziehungsweise seine Bevölkerung – oft teuer für seine „oberflächliche“ Seite bezahlt. Die staatliche Entscheidungs-Unfähigkeit führt in den meisten Fällen zu schwerwiegenden Problemen oder gar tragischen Verspätungen. Wie oft mussten nicht die Kollektive unter den statistischen Versäumnissen der staatlichen Institutionen leiden? Eine verfehlte Planung grundlegender statistischer Entscheide, das heisst eine inadäquate statistische Verwaltung, hat fast immer katastrophale gesellschaftliche Folgen. Man kennt ebenfalls Borgès’ Lehrfabel zur Karte, die im Endeffekt, in einem Massstab 1/1, ihre instrumentale Nützlichkeit verliert (Borgès, 1951: 129–130). Es geht also nicht darum „alles“ zu zählen. Entscheidend ist vielmehr in Funktion der verschiedenen Bedürfnisse eines sich hier und jetzt, heute und morgen selbst verwaltenden Kollektivs „richtig“ zu zählen. Sowohl die Wahl eines angemessenen kartographischen Massstabs, als auch die Bestimmung der notwendigen Statistiken, ist mit dem Risiko verbunden, im gegenteiligen Fall das Vertrauen in die verfügbaren Instrumente zu zerstören. BIBLIOGRAPHIE Bodin, J. (1986), Six Livres de la République, Fayard, Paris [Originalausgabe: 1583]. Borgès J.L. (1985), Histoire universelle de l’infamie. Histoire de l’éternité, Christian Bourgois, Paris. Dürrenmatt, F. (1990), „Rede zur Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an Václav Havel, gehalten am 22. November 1990 im Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon“, in, Du, Januar 1990: 14–18. Ifrah G. (1994), Histoire universelle des chiffres, Laffont, Paris. Goody J. (1979), La raison graphique, la domestication de la pensée sauvage, Editions de Minuit, Paris. [Originalausgabe: 1977]. Malaguerra C. (1996), „En Suisse, les statistiques continuent de souffrir du ‚non‘ à l’Europe“, in, Journal de Genève et Gazette de Lausanne, Jeudi Economie, Novembre 1996: 7. Massé P. (1973), La crise du Développement, Gallimard, Paris.

HETERODOXE ÜBERLEGUNGEN ZUR GLOBALISIERUNG Claude Raffestin (2006) VON DEN DINGEN ZU DEN WORTEN Zwischen der Verwendung eines Wortes und seiner Aufnahme in die Wörterbücher besteht eine Zeitdifferenz, die nicht immer einfach zu ermitteln ist. Der Begriff der „Globalisierung“ stammt laut Robert aus dem Jahre 1968. Ihm ging 1963 der „Mondialismus“ voraus, ein Synonym, das zwar dieselbe semantische Konstellation, gleichzeitig aber auch einige sensible Bedeutungsdifferenzen aufweist. Gleichermassen wurde das religiös konnotierte Adjektiv „universalistisch“ aus dem Jahre 1684 zum „Universalismus“ des Jahres 1823. Es versteht sich indes von selbst, dass etwas nicht allein deshalb weniger existiert, nur weil kein Begriff zu seiner Bezeichnung vorhanden ist. Der Beginn des aktuellen Globalisierungsprozesses essenziell wirtschaftlicher Natur wird von einigen Autoren auf das dritte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts datiert, als sich die Güterpreise auf einen Einheitswert einzupendeln begannen (Vercelli, Borghesi, 2005: 17–18). Noch vor dieser, bereits die heutigen Verhältnisse vorwegnehmenden Tendenz lassen sich jedoch zahlreiche Globalisierungsphänomene finden, die hier ebenfalls in Betracht zu ziehen sind, wenngleich sie ihren Zeitgenossen nicht immer bewusst waren. Die Agrarrevolution sowie die urbane und industrielle Revolution, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, müssen allesamt als Phänomene der Globalisierung verstanden werden. Diese Entwicklungen wurden wahrscheinlich vor allem deshalb nicht als Globalisierungsphänomene wahrgenommen, weil ihre langsame Verbreitung es nicht erlaubte, sich ihrer innerhalb des damaligen raum-zeitlichen Kontextes ausreichend bewusst zu werden. Der differenzielle zeitliche Ablauf dieser Vorgänge verunmöglichte es, ihren globalisierenden Charakter wahrzunehmen, da der Betrachtungs-Massstab immer auch selbst an der Erschaffung eines Phänomens mitwirkt. Ich werde mich darüber hinaus ebenfalls hüten, die mit der Technik, der Wissenschaft und der Kultur verbundenen Globalisierungsphänomene zu vergessen, deren Rolle im 19. Jahrhundert, ausgehend von ihrer Verbreitung und Vulgarisierung durch gewisse Autoren, von zentraler Bedeutung war. Falls Alexander von Humboldt wieder unter uns wäre bräuchte er wahrscheinlich nicht allzu lange, um nach einer anfänglichen Phase der Verwunderung zum Verständnis zu gelangen, dass sich die von ihm bezweckte globale Vision der Erde in die allgemeine Entwicklung eines Universalismus’ der Wissenschaft und der Kultur einschrieb. Das gleiche kann wohl auch von Elisée Reclus gesagt werden, dessen Werk sich in dieselbe Bewegung einordnen lässt. Beide hätten es

126

Praktiken und Kenntnisse

wahrscheinlich im vollen Bewusstsein dieses „globalisierenden“ Phänomens verstanden, dieses über die Prinzipien der Interrelation und der Interaktion, die sie selbst besser als Andere veranschaulicht hatten, explizit zu benennen. Wahrscheinlich haben beide sogar daran gedacht, ohne dies allerdings in die Tat umzusetzen. Wieso hätten sie dies auch tun sollen, waren sie sich doch der „Globalisierung der Kenntnisse“ absolut bewusst. STRÖME VON KENNTNISSEN UND INFORMATIONEN Zumindest was ihren Ursprung betrifft, handelt es sich bei allen vorgängig erwähnten Globalisierungs-Phänomenen um Systeme von Kenntnissen und Informationen. Die mit der Landwirtschaft, der Stadt und der Industrie verbundenen Kenntnisse und Informationen sind kontinuierlichen, mehr oder weniger raschen Veränderungen unterworfen. Die zweifelsohne zur Zeit dieser GlobalisierungsPhänomene aufgetretenen Veränderungen und Umwälzungen wurden in den meisten Fällen allerdings erst später verstanden und vollständig integriert. Natürlich begründen alle Phänomene der Globalisierung auch eine Neuordnung der materiellen Systeme. Gleichzeitig, und vor allem, handelt es sich dabei jedoch um eine von den neuen Möglichkeiten der Informations-Kombination ausgehende Reorganisation der immateriellen Systeme. Die Kenntnisse selbst müssen nicht einmal neu, sondern nur auf eine neue Weise kombinierbar sein. Dabei kann es sich sowohl um funktionale Informationen, die im weitesten Sinn auf eine „Produktion“ ausgerichtet sind, als auch um regulative Informationen handeln, die auf die Vermeidung möglicher Dysfunktionen der diversen, in ihrem funktionalen Zustand aufrecht zu erhaltenden Strukturen abzielen. Während wir im Übrigen bei traditionellen Gesellschaften eine direkte Verbindung, oder anders ausgedrückt eine Fusion zwischen den Praktiken und Kenntnissen beobachten können, lässt sich im Gegensatz dazu bei den modernen oder post-modernen Gesellschaften eine Aufspaltung der beiden erkennen. In Anlehnung an Serge Moscovici kann die menschliche Geschichte der Natur als Abfolge sukzessiver Globalisierungs-Schritte verstanden werden, die einander ersetzten, gleichzeitig aber auch wichtige Spuren in der Existenz des Menschen sowie in den von diesem gegenwärtig oder ehemals bewohnten Orten hinterliessen (Moscovici, 1977). In seiner Behandlung des organischen, mechanischen und synthetischen/kybernetischen Naturzustandes bezieht sich Moscovici auf jene Revolutionen/Evolutionen, die die Gesamtheit aller Beziehungen einer Gesellschaft zur Natur, wie es Moscovici nennt, respektive die Beziehungen dieser Gesellschaft zu sich selbst, umformten. Im Laufe dieser allmählichen Umbildungen veränderten sich ebenfalls die Modelle und Theorien, auf die sich die Menschheit bezog, oder wenn man will die „Bilder“, an denen sich ihre Handlungen orientierten. Entscheidend ist, dass sich mit der Zeit der Abstand oder besser die „Distanz“ zwischen den vom Menschen geschaffenen Repräsentationen einerseits sowie der Materialität der Dinge andererseits immer weiter ausdehnte. In jedem Übergang von einem Naturzustand zum

Heterodoxe Überlegungen zur Globalisierung

127

nächsten verengte sich der Bezug zu den Zeichen der Dinge, auf Kosten der Beziehungen zur materiellen Realität selbst. Unsere Beziehungen zu den Dingen wurden dadurch immer undeutlicher, das heisst zunehmend von den sie repräsentierenden Zeichen verdeckt. Dies führt letztendlich dazu, dass wir uns nur noch in einer Welt der Zeichen bewegen und dabei Gefahr laufen, die Beziehungen zur Realität immer mehr zu verlieren. Man vergisst, dass die Modelle und Theorien, beziehungsweise die „Bilder“, zwar umgebildet, nicht aber „bewohnt“ werden können. Weshalb? Weil diese Bilder nichts anderes sind als kohärente, gleichzeitig aber auch deformierte Repräsentationen, die durch unterschiedliche Typen der Sprache, in einem gegebenen Massstab und in Abhängigkeit der aufrecht zu erhaltenden Funktionen zum Ausdruck gebracht werden. Ich spreche bewusst von Sprachen im Plural, weil wir effektiv über unterschiedliche Sprachen verfügen: plastische Sprachen (Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen oder Photographien), formelle Sprachen (wie im Falle der logisch-mathematischen Sprache) oder auch einfach die natürliche Sprache. Die materielle Realität oder Struktur wird durch unterschiedliche Geschwindigkeiten und Zeitdauern rhythmisch differenziert. Im Gegensatz dazu verkörpert die Repräsentation dieser Struktur eine als Bild zu qualifizierende Momentaufnahme. Indem wir mit der Vielfältigkeit unterschiedlicher Sprachen und Massstäbe spielen (wobei „Massstab“ hier eine allgemeinere Bedeutung besitzt als in der Kartographie), erhalten wir eine Vielzahl unterschiedlicher Bilder, die naturgemäss die Zeit erstarren lassen. Diese Bilder sind zwangsläufig historische Dokumente, die möglicherweise stark von der Realität abweichen. Historische Dokumente, gewiss, aber auch „Ausschnitte“, die uns über diesen oder jenen Aspekt einer Struktur aufzuklären vermögen. Als Mittel, um zu einer Praktik und Kenntnis der Wirklichkeit zu gelangen, besitzt das Bild dieselben Qualitäten wie das Geld, das uns eine Möglichkeit verschafft, einen Wert gegen das Zeichen eines Wertes, oder umgekehrt, zu tauschen. Eine Repräsentation, die zu einem bestimmten Zeitpunkt kaum von Bedeutung ist, muss nicht unbedingt auch in Zukunft von geringem Wert sein. Im Gegenteil, der Wert einer Repräsentation vergrössert sich, falls die Zugänglichkeit des repräsentierten Objekts in seiner ursprünglichen Form abnimmt oder gar völlig verschwindet. Ebenso wie das Geld ein Zeichen von Reichtum darstellt, respektive ein Mittel zu dessen Zirkulation, ist auch die Repräsentation ein Zeichen einer Realität, respektive ein Mittel zu deren Kenntnis und Verbreitung. Wir können in diesem Fall einen homothetischen Vergleich zur Landschaft anstellen, die ihrerseits sowohl das Zeichen eines Landes, als auch ein Mittel zu dessen Bekanntmachung und Verbreitung ist, dabei jedoch nicht mit dem eigentlichen Territorium verwechselt werden darf. Das Territorium wurde zur Landschaft, indem es „gedacht“ zu werden begann. „Damit beginnen gedacht zu werden“ bedeutet auch, eine Distanz zu einem Ding einzunehmen, das zum Zweck seiner Austauschbarkeit verändert wird. Es wird verändert, um kommuniziert zu werden. Diese Veränderung basiert immer auch auf einer sprachlichen Vermittlung, wobei die entstehenden Repräsentationen wie erwähnt einer Art Geld gleichkommen, das uns Zugang zur nicht unmittelbar erfassbaren Wirklichkeit verschafft. Ebenso wie das Geld eine Unterteilung im Sinne einer Fragmentierung

128

Praktiken und Kenntnisse

des realen Reichtums begründet, ermöglicht das Bild eine Unterteilung der materiellen Realität im Hinblick auf deren Kommunikation. Eine Repräsentation erhält vor allem dann ein beträchtliches Gewicht, wenn es ihr gelingt, in den Köpfen einer Gesellschaft eine verbindliche Validität zu erlangen. Speziell interessant ist der Hinweis auf den dabei zur Anwendung kommenden, aus einer gewissen Sicht leicht paradoxen Mechanismus, wonach die materielle Realität nur dann wirklich an Wichtigkeit und Bedeutung gewinnt, wenn sich ihre Repräsentation tatsächlich durchzusetzen vermochte, das heisst, wenn es dieser Repräsentation irgendwie gelang, die materielle Realität selbst zu ersetzen. Erst dann funktionierte der „Mechanismus der Geld-Produktion“ effektiv, da selbst im Falle eines zufälligen, zweifelsohne katastrophalen Verschwindens des materiellen Gegenstandes die Zeichen der Repräsentation noch immer vorhanden wären, um sich diesen in Erinnerung zu rufen und allenfalls neu zu erschaffen. Diese letzte Hypothese ist zwar problematischer, wenn auch keineswegs vollkommen abwegig. DIE AKTUELLE GLOBALISIERUNG Der Prozess der Globalisierung, dem wir uns heute gegenübersehen, ist „eine technische Revolution, in deren Mittelpunkt die Informationstechnologien stehen [und die damit] begonnen hat, die materielle Basis der Gesellschaft in zunehmendem Tempo umzuformen. Volkswirtschaften auf der ganzen Welt sind heute global interdependent. Das hat zu einer neuen Form der Beziehung zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft geführt, die nun in das System einer variablen Geometrie eingefügt sind“ (Castells, 2001: 1 [1998: 21]).

Manuel Castells versucht ab den ersten Seiten seines Buches, die gegenwärtige Globalisierung als steigende Beeinflussung der Arbeit durch das Kapital, als Niedergang der Arbeiterbewegung sowie als Individualisierung und Diversifizierung der Arbeitsverhältnisse zu erklären. Es ist rückblickend auf meine vorgängigen Ausführungen allerdings zu bedauern, dass Castells nicht verstand, oder nicht verstehen wollte, dass die Globalisierung seiner Definition entsprechend eine formidable (das heisst eine im etymologischen Wortsinn „zu Ängsten führende“) Transformation, ja eine regelrechte Mutation der Beziehungen zu den Dingen einerseits, sowie eine Verdinglichung der Beziehungen zu den Menschen andererseits begründet. Zweifelsohne wurden Menschen und Dinge schon immer, wenn auch in unterschiedlichem Masse, durch das deformierende Prisma der Zeichen betrachtet. Die Kombination jener zwei „Geld“-Arten, der Repräsentation und dem pekuniären Geld, die zur Auslöschung der materiellen Realität neigen, ist allerdings von besonderer Brisanz. Dieses doppelte System von Bildern prallt ohne Unterlass aufeinander, wobei sich die Dinge in etwa so verhalten, als ob man sich am folgenden Tag eines im Fernsehen betrachteten Filmes über das Verhältnis zwischen Fiktion und Werbung (die zwischen den einzelnen Szenen eingeschobenen wurde) Gedanken machte. Der Referent, in diesem Falle der Film, wird

Heterodoxe Überlegungen zur Globalisierung

129

bis zur Unkenntlichkeit verwischt, was ebenfalls zu einer Störung des Erinnerungsvermögens führen kann. An einer bestimmten Stelle lässt Castells, so scheint mir, beinahe versteckt einen Satz einfliessen, der möglicherweise einen Schlüssel zum Verständnis der Absichten seiner Aussagen und Beschreibungen darstellt: „Als Folge dieser nicht abgeschlossenen Generalüberholung des kapitalistischen Systems haben wir die globale Integration der Finanzmärkte beobachtet“ (Castells, 2001: 2 [1998: 22]).

Diese beiläufige Bemerkung ist von zentraler Bedeutung, verständlich wird die Signifikanz der Finanzströme aber nur über eine vollständige Lektüre von Castells Netzwerkgesellschaft. In seinen Ausführungen diesbezüglich geht Castells allerdings nicht speziell auf die Bedeutung der Zeichen ein, wenngleich sich diese natürlich auch auf der Ebene des Wissens und der Information finden lassen. „Während ein höheres Wissensniveau normalerweise zu einem höheren Ausstoss pro eingesetzter Einheit führen wird, ist es unter dem Informationalismus das Streben nach Wissen und Information, das charakteristisch ist für die technologische Produktionsfunktion. [...] Der zentrale historische Faktor, der das informationstechnologische Paradigma beschleunigt, gelenkt und geprägt, und der zu den damit einhergehenden gesellschaftlichen Formen geführt hat, war und ist aber der Prozess der kapitalistischen Neustrukturierung, der sich seit den 1980er Jahren vollzieht. Aus diesem Grund lässt sich das neue techno-ökonomische System adäquat als informationeller Kapitalismus bezeichnen“ (Castells, 2001 18–19 [1998: 39–40]).

Sowohl die Informationstechnologien als auch das Wissen sind unter diesen Voraussetzungen nur Mittel zum Zweck, was Castells selbst zu einem späteren Zeitpunkt deutlich zum Ausdruck bringt: „Diejenigen, die als erste und unmittelbar von dieser Neustrukturierung profitierten, waren just die Akteure der techno-ökonomischen Transformation: die Hochtechnologie-Firmen und die Finanzkonzerne“ (Castells, 2001: 103 [1998: 113]).

Gemessen am Brottoinlandprodukt ist eine gewaltige proportionale Ausdehnung der internationalen Finanzströme zu beobachten: „Das Kapital wird rund um die Uhr durch global integrierte Finanzmärkte dirigiert, die erstmals in der Geschichte in Echtzeit arbeiten: Transaktionen in Höhe von Milliarden US$ werden in den elektronischen Schaltkreisen auf dem ganzen Globus innerhalb von Sekunden abgewickelt“ (Castells, 2001: 109 [1998: 123]).

Unter diesen Voraussetzungen ist das wichtigste und signifikanteste Element des globalen Netzwerks „das Geld, [das] nahezu gänzlich unabhängig von der Produktion einschliesslich der Produktion von Dienstleistungen geworden [ist], weil es in die Netzwerke elektronischer Interaktionen höherer Ordnung entschlüpft ist, die selbst von ihren eigenen Managern nur schwerlich verstanden werden“ (Castells, 2001: 532 [1998: 530]).

Ich will kein Schreckensszenario an die Wand malen. Dennoch drängen sich einige Fragen zur Rolle des Geldes innerhalb der Globalisierung auf. Als entmaterialisierte und flüssige Substanz ist Geld kein Ziel per se, wenngleich die spekulative Geldvermehrung heute zu einer bedeutenden Beschäftigung wurde. Macht ist nicht an Geld allein, sondern an die Informations-Zirkulation gebunden, die ihrer-

130

Praktiken und Kenntnisse

seits auf die Ausrichtung der Finanzströme zurückgeht. Die Disponibilität der Geldmittel sowie die Möglichkeiten, diese in Umlauf zu bringen (um als erster einen oft verschämt als technologischen Vorsprung bezeichneten Vorteil zu erlangen) steuern die Kenntnis- und Informations-Produktion. Die bedeutendste Arbeit ist heute jene der Erfindung und Innovation, die über Geldmittel erwerb- und kontrollierbar ist. Die Welt ist beunruhigt, das heisst, die Nationalstaaten zeigen sich angesichts der beinahe absoluten amerikanischen Kontrolle des Internets äusserst besorgt. Nichts versinnbildlicht das Ausmass der Zirkulation jenes doppelten Zeichensystems besser als dieses „Netz“. Alles ist hier völlig von der Wirklichkeit getrennt, ohne dass sich jemand darum zu kümmern scheint. Niemand scheint zu bemerken, dass alles falsch oder gefälscht sein könnte, da jeder scheinbar von einer blinden Zuversicht getragen wird. Wer würde es schon wagen den König als nackt zu bezeichnen, wenn dem tatsächlich so wäre? Um die aktuellen Entwicklungen besser zu verstehen muss nochmals auf einige Banalitäten hingewiesen werden: Die Kenntnisse der Dinge sind, ebenso wie das (Äquivalenzen bildende) Geld, nichts anderes als „Zeichen“. Wie das Geld selbst bilden auch diese Kenntnisse eine Art „Währung“, um die Realität in Form von Bildern – unter anderem als Modelle und Theorien – in Umlauf zu bringen. Üblicherweise erlangen diese Bilder, in einer bestimmten Gesellschaft zumindest, für eine bestimmte Zeit eine gewisse Verbindlichkeit. Diese Zeit hängt im Allgemeinen von der „Betriebsdauer“ ab, während der die jeweiligen Bilder eine bedeutende Gewinnmarge, das heisst einen Mehrertrag an Geldmitteln, abzuwerfen versprechen. Ein Bedeutungsverlust, respektive ein Kurssturz dieser Bilder wird auch die entsprechenden Geldströme in eine neue Richtung leiten. Die dadurch ausgelösten Prozesse basieren auf informationellen Strukturen, aus denen wiederum neue Zeichen hervorgehen. Wir befinden uns heute in einer Gesellschaft der Zeichen. Ich will damit sagen, dass das „Ideelle“ eine grössere Bedeutung besitzt als das „Materielle“. Das eine ersetzt deshalb – wenn immer möglich – das andere. Die Globalisierung postuliert eine Gesellschaft der Zeichen, weil ihr funktionaler Fortlauf die Entwicklung eines generalisierten Systems von Äquivalenzen sowie eine möglichst umfassende, mit den Ressourcen des Systems zu vereinbarende Fluidität der Zeichen voraussetzt. Dies ist nur dann möglich, wenn die Realität selbst dazu neigt „vergessen“, oder wenn man will „verdrängt“ zu werden, was wiederum nur zum Preis einer Trennung zwischen Realität und Zeichen denkbar ist. Verliert die „Wirklichkeit“ deshalb an Bedeutung? Im Gegenteil. Die „Wirklichkeit“ wird gerade wegen ihrer abnehmenden Sichtbarkeit immer mehr zu einem Vorwand, Zeichen aller Art zu produzieren. Wir erleben zurzeit eine semische Inflation, wobei effektiv eine gewisse Homologie zwischen einer monetären und einer semischen Inflation besteht. Diese semische Inflation resultiert aus der Notwendigkeit einer konstanten Produktion von „Neuheiten“, die ihrerseits unablässig neue Geldmittel generieren. Zwischen der Neophilie und der Globalisierung besteht ein direkter Zusammenhang. Die Macht liegt in den Händen jener, die die Produktion, den Austausch und die Aufnahme von Zeichen kontrollieren, weshalb

Heterodoxe Überlegungen zur Globalisierung

131

heute unaufhörlich Zeichen durch Zeichen produziert, ausgetauscht und konsumiert werden. Die Globalisierung kann als eine Produktion von Zeichen durch Zeichen definiert werden. Dabei handelt es sich nicht um irgendwelche Zeichen, sondern um Zeichen der grundlegenden Dinge, die die Basis unserer Existenz darstellen. DIE ZEICHEN DER „GRUNDLEGENDEN DINGE“ Es sind dies die Zeichen der grundlegenden Logiken, die den Planeten im Laufe der Zeit strukturierten (beziehungsweise noch immer strukturieren) und über ihre Interaktionen und Interrelationen unsere Welt produzierten. Diese Logiken entstanden zu unterschiedlichen Zeiten: zuerst die öko-Logik, dann die bio-Logik und schliesslich die anthropo-Logik. Gemeinsam bilden diese drei grossen LogikEnsembles die wesentlichen Grundlagen der materiellen Realität. Sie, diese Formen der Globalisierung per se, gilt es zu repräsentieren, um zu einem Verständnis der Welt zu gelangen. Als Struktur und Grundlage unserer Existenz sind diese Logiken einerseits von substanzieller Bedeutung, andererseits aber auch Gegenstand heftiger Kämpfe und deshalb immer auch bedroht. Sich ihrer zu bemächtigen heisst auch, in unser Leben einzugreifen und über unser Leben zu bestimmen. Genau deshalb war (und ist) die Repräsentation dieser grossen LogikEnsembles die zentrale Aufgabe, gewissermassen das übergeordnete Ziel, jeder Kultur. Jede Kultur beteiligte sich ursprünglich an der Konstruktion von Mythen, das heisst von Bildern, die wir als nicht-wissenschaftlich bezeichnen können, die jedoch in vielen Fällen den Ausgangspunkt wissenschaftlicher Bilder (Theorien und Modelle) darstellen. Diese Theorien und Modelle sind selbst nichts anderes als kohärente, gleichzeitig aber auch deformierte Repräsentationen, das heisst „Karikaturen“ der Wirklichkeit. Wir brauchen diese Bilder, Mythen oder wissenschaftlichen Konstruktionen, um die Wirklichkeit verstehen, erklären und verändern zu können. Ich weiss wohl, dass die Idee der Karikatur an sich negativ behaftet ist, benutze sie hier jedoch im Sinne eines Messwerts, den ein Beobachter von einer bestimmten Dimension der Wirklichkeit ermittelt, um diese zu kommunizieren und dadurch – unter Berücksichtigung seiner konzeptuellen Ressourcen – die Bedingungen einer relativen Objektivität zu schaffen. In diesem ursprünglichen Sinn reduziert sich die Bedeutung einer Karikatur auf ihr deformiertes, gleichwohl aber eine Synthese erschaffendes Wesen. Vergessen wir nicht, dass Zustimmung und Akzeptanz nicht auf einer „forcierten Ähnlichkeit“ beruhen, sondern auf die „Kohärenz der De-Formation“ zurückgehen. Auf dem Gebiet der Wissenschaft sind die Informationen und Kenntnisse der grundlegenden Dinge in besonderem Masse von Historizität geprägt. Ihre Bedeutung ist oft zeitlich begrenzt, wenngleich einige wenige wissenschaftliche Erkenntnisse über Jahrhunderte hinweg Gültigkeit besassen. Die Akkumulation von Informationen und Kenntnissen über die grundlegenden Dinge begründet ein Arsenal von Instrumenten, das uns erlaubt, Beziehungen zu den Zeichen der materiellen Realität, nicht jedoch zur materiellen Realität selbst, zu unterhalten.

132

Praktiken und Kenntnisse

Anders gesagt, wir leben eher in den und durch die Zeichen, als in der und durch die Realität. Wie oft beziehen wir uns im Laufe eines Tages nicht eher auf Zeichen, als auf die realen Dinge selbst, die wir noch nicht einmal zu Gesicht bekamen? Es wäre sinnlos überhaupt zu versuchen, ein entsprechendes Inventarium aufzustellen, da dies in den allermeisten Fällen zutrifft. So banal diese Bemerkung auch sein mag, sie befindet sich doch im Zentrum einer gefährlichen Problematik, die alles was wir berühren in ein doppeltes semisches System verwandelt. Gleichwie der König Midas, der beinahe verhungerte weil seine Berührungen alles in Gold verwandelten, laufen wir heute Gefahr alles durch unsere unablässigen Zeichen-Schöpfungen zu zerstören. Gewiss, die Produktion von Zeichen ist an sich unvermeidlich. Wir jedoch scheinen gleichzeitig den Bezug zur Realität zu verlieren. Gerade weil wir in den und durch die Zeichen leben, deren WahrheitsWahrscheinlichkeit und Wert wir im Allgemeinen unfähig sind zu bestimmen, kommt es zu allen nur möglichen und denkbaren Missverständnissen, falschen Äquivalenzen und Täuschungen. Unser Handeln führt zu den Katastrophen von Morgen, weil wir die Zeichen der grundlegenden Dinge manipulieren ohne zu überlegen, ob diese Zeichen selbst Träger sind eines bedeutenden Aspekts der repräsentierten Realität. Überhaupt, wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese, in unseren Köpfen eine verbindliche Validität erlangenden Zeichen als eine gute Repräsentation der materiellen Realität erweisen werden, mit der wir im Begriffe sind zu spielen? Welcher Wert ist unter diesen Umständen unseren Urteilen beizumessen und welche Relevanz besitzt unser Handeln, das von diesen Urteilen ausgeht? Mit anderen Worten, wie hoch ist die Repräsentations-Wahrscheinlichkeit unserer Zeichen-Realität? Eigentlich wäre den täglich von uns verwendeten Informationen mit grösster Vorsicht zu begegnen. Das heisst, die Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit und Repräsentativität ist eher gering. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine vor rund dreissig Jahren mit einem sowjetischen Akademiker geführte Diskussion über den Umweltzustand seines Landes. Den Ausführungen dieses Geografen zufolge, dessen Name ich gnädigerweise verschweigen werde, befand sich die Sowjetunion zu jener Zeit in einem ökologischen Zustand, der besser nicht hätte sein können. Dabei verfügte man bereits damals über genug Informationen um zu erkennen, dass die Wahrheits-Wahrscheinlichkeit dieses Diskurses nicht allzu hoch sein konnte, wenngleich es noch schwierig war, das genaue Ausmass der Täuschung zu erkennen. Die sowjetischen Statistiken wurden effektiv in beinahe allen Belangen im grossen Stil gefälscht, um eine günstige, um nicht zu sagen utopische Lage vorzutäuschen. Obschon sich die Situation seither verbesserte sind wir auch heute noch weit von einer befriedigenden Wahrheits-Wahrscheinlichkeit entfernt. Statistiker wissen nur zu gut, dass ihre demographischen Daten je nach Ort und Zeit nicht allzu verlässlich sind. Trotz dieser Selbstkritik wäre es indes falsch zu glauben, die von den westlichen Industrienationen in Bezug auf bestimmte grundlegende Realitäten produzierten Zeichen könnten nicht vom gleichen Syndrom befallen werden, respektive befallen gewesen sein. Obwohl die Wahrheits-Wahrschein-

Heterodoxe Überlegungen zur Globalisierung

133

lichkeit hier wohl etwas höher sein dürfte, ist niemand wirklich immun gegenüber jenen abgewerteten „Geld-Arten“, die unseren Bezug zur Wirklichkeit kompromittieren. Man könnte den Eindruck gewinnen, diese Bemerkungen führten zu einer Neuauflage der alten Debatte über die Kriterien der Wahrheitsfindung, im Sinne einer Diskussion des Wirklichen und Falschen, respektive der Bedeutung der Ideologie, die in jedem Repräsentationsprozess eine Rolle spielt. Die eigentliche Frage zielt indes auf die Gründe des immer grösser werdenden Intervalls zwischen den zum Konsum freigegebenen Zeichen einerseits sowie der Realität, als Referent der Zeichen, andererseits. Die Distanz zwischen den Zeichen und der Realität tendierent gegen „unendlich“, falls die Akteure selbst keinerlei Möglichkeit besitzen, die Realität jemals zu erreichen. Anders als man vielleicht denken könnte wird heute der Zugriff auf die Realität immer schwieriger. Wir haben es also weder mit einem Problem der Wahrheitsfindung, noch mit einem ideologischen Problem zu tun, sondern mit etwas völlig anderem, das zusammengefasst als ein doppeltes Verhältnis zum Ausdruck gebracht werden kann. Repräsentation/materielle Realität Geld/realer Reichtum Unser Bezug zur materiellen Realität befindet sich in einer Krise, weil wir jene manipulieren ohne uns dessen bewusst und ohne im Stande zu sein, unsere Verwendung der Realität richtig zu beurteilen. Diese Krise geht nicht primär darauf zurück, dass unsere Erfahrung der Dinge immer stärker durch Zeichen mediatisiert wird. Jede Kultur zielt ihrem Wesen nach auf die Produktion und Manipulation von Zeichen. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass eine Kultur ebenfalls – und vielleicht in erster Linie – einen Bezug zur Materie und zur Realität begründet. Eine Kultur ist gerade deshalb Produktion, Austausch und Aufnahme von Zeichen, weil ihre Wurzeln in der Produktion, dem Austausch und der Aufnahme materieller und immaterieller, realer und imaginärer Elemente liegen. Wir treffen also auf das Problem des Referenten. In der Linguistik, um auf eine alte Definition zurückzugreifen, bezeichnet man als einen Referenten bekanntermassen „das, worauf ein linguistisches Zeichen in der extralinguistischen Realität verweist, der Unterteilung dieser Realität durch die Erfahrungen einer menschlichen Gruppe entsprechend“ (Larousse, 1973: 415). Wir haben heute immer weniger Zugang zu diesen Erfahrungen. Der Abstand zwischen den Zeichen und ihren Referenten wird naturgemäss durch den zweiten Teil des erwähnten doppelten Verhältnisses, der sich auf die monetäre Repräsentation des realen Reichtums bezieht, noch vergrössert. Das Äquivalenzen zwischen allen Dingen bildende Geld ist selbst ein Zeichensystem. Die Äquivalenz zwischen der Realität und dem Geldmittel verbirgt, dass dieses nur ein Zeichen von Reichtum darstellt, nicht jedoch Reichtum an sich verkörpert. Niemand könnte in Abrede stellen, dass die Erfindung des Geldes einem fantastischen Fortschritt gleichkam für die Zirkulation des Reichtums. Heute drängt sich jedoch die Frage auf, ob nicht das immer abstrakter werdende monetäre Instrument den Kontakt zur Wirklichkeit mehr und mehr verliert, respektive, den Ver-

134

Praktiken und Kenntnisse

lust des Kontaktes zur Wirklichkeit immer stärker akzentuiert. Denken wir nur an das von der Wirtschaft erfundene Recht auf Umweltverschmutzung, das gekauft, verhandelt und weiterverkauft werden kann, ungeachtet und ohne den geringsten Miteinbezug der menschlichen Realität, die der Umwelt zugrunde liegt! Unsere Hypothese besagt, dass die auf dem doppelten Verhältnis Repräsentation/materielle Realität – Geld/realer Reichtum basierende Globalisierung einen abstrakten Apprehensions-Modus bildet, der immer weniger auf die Regulation der Umwelt Bezug nimmt. Weshalb? Weil nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung überhaupt noch in der Lage ist zu verstehen, was „Umwelt“ bedeutet. Entscheide werden immer häufiger auf der Grundlage dieses doppelten Verhältnisses getroffen, das aus dem ebenso einfachen wie überzeugenden Grund keinerlei Bezug zur Realität mehr aufweist, weil die beiden Teile des Ensembles linguistische Repräsentation/monetäre Äquivalenz auf substanziell vergleichbaren Strukturen basieren. Beide Teile rufen nach einer Strukturierung, die die „Ablösung“ des Zeichens von der Realität fördert. Die beiden Zeichensysteme stärken sich durch diesen doppelten Prozess des Ineinandergreifens gegenseitig, wobei sie sowohl die Fluidität der Information als auch des Geldes sicherstellen. Auf diese Weise wird die Kohärenz der Globalisierung scheinbar aufrechterhalten. In Tat und Wahrheit jedoch werden die in der Realität auftretenden Diversitäten und Differenzen auf der Zeichen-Ebene zum Teil verwischt und erscheinen deshalb weniger deutlich: das Strukturelle übertrumpft das Faktische. Natürlich bestehen die realen Diversitäten auch weiterhin, sie werden jedoch auf der Betrachtungsebene der Zeichen nicht mehr miteinbezogen. Die erwähnten drei Logiken, die die Diversität überhaupt erst hervorbringen, können folglich auf einer abstrakten Ebene durch aufgezwungene Assimilierungen und Äquivalenzen manipuliert werden. Es wird deshalb immer schwieriger, ja geradezu unmöglich, sich der zum Teil irreparablen Schäden und Zerstörungen, die der Mensch den Umwelt-Realitäten heute zufügt, bewusst zu werden. Überhaupt wird es in vielerlei Hinsicht immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich, den „Zustand der Welt“ zu kennen, der in Form von Bildern und Modellen zu uns gelangt, deren Gültig- und Verbindlichkeit nur bis zur nächsten, ihre relative Inadaptation zutage fördernden Krise währt. Die betroffenen Bilder werden in diesem Fall auf weniger Interesse stossen, was wiederum die Geldströme in neue Richtung lenkt. Daraus werden abermals neue Kreationen hervorgehen, die basierend auf den informationellen Strukturen neue Zeichen produzieren. Die im Rahmen der Globalisierung kreierten Zeichen müssen keinen direkten Bezug zu einem Referenten mehr aufweisen. Die Dichotomie zwischen Realität und Zeichen verliert ihre Bedeutung, da die Realität selbst in den meisten Fällen übergangen und zu einem reinen Vorwand zur Produktion von Zeichen degradiert wird. Im Endeffekt wird diese Zeichen-Produktion die Destruktionen, denen die grossen Logiken der realen Ökosysteme ausgesetzt sind, nur noch kaschieren. Man beschränkt sich darauf, neue Morphologien zu produzieren, die die Krise der realen Ökosysteme übertünchen. Jene Morphologien basieren nicht auf real neuen Prozessen. Im Gegenteil, sie werden noch immer von jenen Strömungen geprägt, die aufgrund ihrer Unersetzbarkeit in eine Krise stürzten.

Heterodoxe Überlegungen zur Globalisierung

135

Wir haben es hier mit dem bekannten Marketing-Problem eines sich schlecht verkaufenden Produkts zu tun: man ändert in einem solchen Fall schlicht dessen Erscheinungsbild und Werbung. Die Macht liegt in den Händen jener, die das gesamte doppelte Verhältnis der beiden Zeichen-Systeme kontrollieren. Die entscheidende Frage ist, ob die Manipulation der beiden Zeichen-Systeme ebenfalls eine Möglichkeit zur Berücksichtigung des raum-zeitlichen Rahmens bietet, wobei nicht nur die räumlichen, sondern auch die zeitlichen Massstäbe in Betracht zu ziehen wären. Nein! Die Manipulation erlaubt es eben gerade nicht, die beiden Massstab-Systeme gleichzeitig miteinzubeziehen. Es ist effektiv nicht möglich, Äquivalenzen zwischen realen Elementen zu bilden, die auf unterschiedlichen zeitlichen Logiken basieren: Ursprünglich bestimmte allein die öko-Logik 15.5% der Entstehungszeit der Erde. Anschliessend wurden 84.4% der Erdzeit von der bio-Logik beherrscht. Die dritte Logik, die anthropo-Logik, tauchte erst vor ein paar hunderttausend Jahren auf. Die drei Logiken stehen in einem Verhältnis der gegenseitigen Beeinflussung, wobei die Auswirkungen der Letzten – trotz ihres späten Auftretens – das gesamte Erdsystem mit Schwindel erregender Geschwindigkeit durcheinander brachten. Gemeinsam definieren diese Logiken die Bedingungen unserer Existenz auf der Schnittstelle zwischen Umwelt, Biosphäre und Gesellschaft. Es scheint folglich von Anfang an eine Verbindung zwischen diesen grossen Logiken und der Globalisierung zu geben: zuerst die öko-Logik, dann die bio-Logik und zuletzt die anthropo-Logik. Während die ersten beiden ein globalisiertes Lebens-Feld hervorbrachten, führte die dritte Logik nicht nur zu dessen „Kulturalisierung“, sondern auch zur eigentlichen Vollendung der Globalisierung. Wir folgern daraus, dass alle Kulturen ein gewisses Globalisierungs-Potential in sich tragen. Nur die wenigsten jedoch vermochten dieses auch zu aktualisieren. Der Ursprung einer Kenntnis begründet immer auch eine Ordnung, im Sinne einer symbolischen Klassifizierung. Daraus geht nicht nur hervor, dass vor der Entwicklung einer solchen Ordnung keine eigentliche Globalisierung stattfinden kann, sondern auch, dass nicht nur eine bestimmte Form der Globalisierung denkbar ist. Es ist also nicht nur jene Globalisierung möglich, die auf der Konvergenz der beiden erwähnten Zeichensysteme beruht. Das reale System der drei Logiken versetzt uns in die Lage, sowohl die raumzeitliche Evolution der Bedingungen des Lebens zu verfolgen, als auch eine wirtschaftliche Evaluation der aus einer Extension oder Reduktion dieser Bedingungen hervorgehenden Vorteile oder Schäden vorzunehmen. Dieses doppelte System der Repräsentation-Evaluation muss allerdings eine hohe WahrheitsWahrscheinlichkeit aufweisen, da ansonsten das gesamte System in sich zusammenzufallen droht. Es ist dies eine Bedingung sine qua non, um die wirtschaftlichen und soziokulturellen Entscheide zum Zweck einer nachhaltigen und kulturell akzeptablen Entwicklung sowohl global als auch lokal in die richtigen Bahnen zu lenken. Das heisst, der Miteinbezug der drei Logiken aus der Perspektive ihrer Interrelationen und Interaktionen bildet eine Vorbedingung für die in unserer globalisierten Welt immer wichtiger werdende Analyse unseres „ökologischen Fussabdrucks“.

136

Praktiken und Kenntnisse

Die grossen Logiken gelangen in Form von Bildern zu uns. Wir müssen uns jedoch klar werden, dass wir diese Logiken – auch ohne uns dessen bewusst zu sein – allein schon dadurch zerstören, indem wir unsere Entscheidungen nicht mehr auf die materiellen Realitäten, sondern nur noch auf die Zeichen abstützen, die diese repräsentieren. Die globalisierte Wirtschaft nimmt keine Rücksicht mehr auf die materiellen Realitäten. Sie kümmert sich nur noch um die GeldMaximierung, um unser Handeln immer mehr und besser auf die InformationsProduktion auszurichten und dadurch unsere Interventionsmacht über den gesamten Planeten auszudehnen. Die Zerstörung des materiellen Reichtums ist viel schlimmer als die ineffiziente Rentabilisierung von Geldmitteln. Dennoch ist momentan eine klare Präferenz für den Weg der Rentabilität zu beobachten. Ungeachtet der wachsenden Zerstörung der Ökosysteme gelten unsere Bestrebungen nur noch dem Zweck einer zumindest 15prozentigen Rendite. Die ganze Welt träumt deshalb von den Wachstumsraten Chinas, die sich durchschnittlich zwischen 8 und 9 Prozent bewegen. Wie viel jedoch müsste davon wieder abgezogen werden, um auch die damit verbundenen Zerstörungen mit einzurechnen? Die aktuellen Umweltkatastrophen sprechen diesbezüglich, nicht nur in China, eine deutliche Sprache. Weil sich die Globalisierung ausschliesslich um Zeichen, nicht jedoch um die materiellen Realitäten kümmert, bietet sie kaum noch Raum für eine einigermassen erträgliche Entwicklung. Die Wirtschaft der Zeichen beruht fast ausschliesslich auf funktionalen Informationen. Die regulativen Informationen zur Umwelt, in der sich die Wirtschaftsaktivitäten abspielen, werden nicht mehr berücksichtigt. In Betracht gezogen wird nur noch die Finanzrendite. Alle anderen Sorgen werden ausgeblendet. Verdeutlicht nicht die exzessive CO2-Produktion Amerikas genau dies? Vor lauter Sorge um ein allgemeines Wachstum wird der damit verbundene Anstieg der Zerstörungen komplett ignoriert. Zweifelsohne wurden gerade deshalb Gesundheitsprobleme im Zusammenhang mit der Globalisierung bislang kaum je zum Gegenstand spezieller Untersuchungen. Wenn Castells schreibt, dass „unsere Gesellschaften immer mehr durch den bipolaren Gegensatz zwischen dem Netz und dem Ich strukturiert sind“ (Castells, 2001: 3 [1998: 24–26]), so sagt er damit nicht nur sehr viel, sondern auch sehr wenig. Sehr viel besagt Castells Bemerkung durch ihre Betonung der gegenwärtigen Verherrlichung des Netzes, von dem noch vor 25 Jahren kaum jemand sprach. Das Ich bildet im Gegensatz dazu nur noch eine Art Seifenblase, die irgendwie entsteht, zerplatzt und wieder neu geformt wird, ohne dass wir diesen Ablauf wirklich verstünden. Aus vielerlei Hinsicht wurde das Ich zu einer reinen Funktion der Gesellschaft, das heisst der Techniken in deren Gebrauch. Die Globalisierung ist auch der Sieg des besagten doppelten Zeichen-Netzes. Dieses verschafft dem Individuum nicht nur die Illusion einer gewissen Unabhängigkeit. Es umschliesst und durchdringt den einzelnen Menschen auch vollständiger, als dies die Modelle der Vergangenheit jemals konnten. Am besorgniserregendsten an dieser „Mondialisierung“ ist allerdings weniger ihre „totalisierende“ Form, als vielmehr ihre Tendenz, die Autonomie der Völker immer mehr einzuschränken. Die Völker werden heute von zahlreichen Regeln eingeschnürt,

Heterodoxe Überlegungen zur Globalisierung

137

die oft von Internationalen Organisationen des Typs WTO gestützt werden, die sich eher um die Mächtigen als um die Schwachen kümmern. Wir können diesen Organisationen heute kaum mehr entrinnen, es sei denn durch noch zu erfindende Praktiken von „Finten“, was allerdings wieder eine andere Geschichte wäre! Die Gefahr besteht, dass wir in Zukunft nur noch die „globalen Zerstörungen“ verwalten, anstatt uns um den Reichtum unserer Existenz-Grundlagen zu kümmern. Wenn wir nicht aufpassen, wird uns die Globalisierung tatsächlich noch soweit bringen. BIBLIOGRAPHIE Castells M. (1998), La société en réseaux. L’ère de l’information, Bd. 1, Fayard, Paris. Castells M. (2001), Die Netzwerkgesellschaft. Das Informationszeitalter, Leske+Budrich, Opladen [Originalausgabe: 1996]. Larousse (1973), Dictionnaire de linguistique, Librairie Larousse, Paris. Moscovici P. (1968), Essai sur l’histoire humaine de la nature, Flammarion, Paris. Vercelli A., Borghesi S. (2005), La sostenibilità dello sviluppo globale, Corocci editore, Roma.

CLAUDE RAFFESTIN: KONTEXTUALISIERUNG UND AUSBLICK Francisco R. Klauser Die Versuchung ist gross, die vorliegende Textsammlung hier mit einem abschliessenden Fazit abzurunden. Ich werde dieser Versuchung widerstehen. Wie einleitend erwähnt besteht meine Absicht nicht darin, eine detailliert ausgearbeitete Synthese Claude Raffestins Werk zur Territorialität zu entwickeln. Die hier zusammengefassten Artikel begründen lediglich einen persönlichen Versuch der Einordnung einiger konzeptueller Bausteine, nicht jedoch eine eigentliche Theorie zur Territorialität. Die Logik dieser Einordnung wurde bereits in der Einleitung dieses Bandes dargestellt. Es geht an dieser Stelle ausschliesslich darum, dem Leser einige zusätzliche Elemente zur Kontextualisierung Claude Raffestins vorzulegen. Dazu werden im Folgenden drei Hauptaspekte unterschieden. Ich werde erstens kurz auf den politischen Bezug Raffestins eingehen. Tatsächlich sind dessen Arbeiten nicht nur epistemologisch begründet, wie in der Einleitung hervorgehoben, sondern auch von einer politischen Problematik sensu latu geleitet. Zweitens – und vor allem – wird es im Folgenden darum gehen, das Werk Claude Raffestins innerhalb eines weiter gefassten Netzwerkes von Autoren zu positionieren, deren Arbeiten sich explizit auf Raffestin beziehen. Die damit verbundene Frage der ehemaligen und aktuellen Anwendungen der Theorien Raffestins wird mit Bezug auf den französischen, italienischen und portugiesischen Sprachraum behandelt1 . Davon ausgehend werde ich drittens in einigen Punkten andeuten, welche Bedeutung Raffestins Arbeiten heute im deutschsprachigen Raum zukommen könnte. RAFFESTINS POLITISCHER BEZUG In der Einleitung dieser Textsammlung wurde verschiedentlich Raffestins Absicht hervorgehoben, eine vertiefte theoretische Reflexion innerhalb der Französischen Humangeografie auszulösen. Raffestins Kritik an der Geografie der 80er und 90er Jahre wurde vor allem in den ersten drei Artikeln dieses Bandes deutlich. Im

1

Ich bedanke mich bei zahlreichen Kollegen, deren Hinweise in diesen Abschnitt miteinflossen. Ich denke dabei im Speziellen an Alexandre Gillet, Juliet Fall, Ruggero Crivelli und Bertrand Lévy in der Schweiz; an Elena DellAgnese, Mario Angelo Neve und Egidio Dansero in Italien; an Marcos Aurelio Saquet in Brasilien; und an Masato Mori in Japan.

140

Geografie der Territorialität

Gegensatz dazu wurde bisher der zweite zentrale Beweggrund Raffestins Arbeiten vernachlässigt: Raffestins politischer Bezug. Raffestins Werk ist keinesfalls als Theorie zum Selbstzweck zu verstehen. Wiederholt und mit Nachdruck forderte Raffestin eine engagierte, „unmittelbare“ Geografie – eine géographie „immédiate“ (Raffestin, 1980: 245) –, die ihre theoretischen Werkzeuge in den Dienst des Verständnisses alltäglicher Machtphänomene stellt. Raffestins Plädoyer für eine Geografie, die sich um das scheinbar Belanglose und Triviale kümmert, aus dem sich die vielfältigen sozialräumlichen Machtbeziehungen einer Gesellschaft ergeben und ablesen lassen, wird in Pour une géographie du pouvoir (Raffestin, 1980) besonders deutlich. „Die Geografie muss sich wie jede andere Wissenschaft immer wieder auf die Dinge und Lebewesen besinnen. Sie muss es verstehen ‚unmittelbar‘ zu sein, sich auf die ‚vermischten Meldungen‘ zu konzentrieren, wie man im journalistischen Jargon sagt. Die unwichtige banale Tatsache erhält durch häufige Wiederholung eine enorme Bedeutung, weil sie uns über die Strukturen, respektive über die Veränderungen dieser Strukturen, unterrichtet. Die Repetition produziert ihre Ordnung, und sei es jene des Untolerierbaren. Eine unmittelbare politische Geografie muss sich auf eben jene scheinbar belanglosen Tatsachen konzentrieren, um die Machtbeziehungen aufzudecken, die über die Dauer die Gesellschaft verändern in der sie sich entwickeln. Nur in diesem Sinne wird die Geografie wirklich zu einer Bezugsinstanz. Nur in diesem Sinne wird erkennbar, ob sie als Lieferant theoretischer Analyse-Mittel zu etwas anderem taugt als zur simplen Protokollierung“ (Raffestin, 1980: 245).

In zahlreichen Publikationen – von Fragen zur Ökologie (Raffestin, 1995) bis zur Problematik des Krieges (Raffestin, 2005) und der Folter (Raffestin, 1985) – setzte Raffestin selbst seine Forderung nach einer philosophisch begründeten, sich kritisch auf die Aktualität beziehenden Geografie in die Tat um. Immer ging es ihm dabei darum, das Konzept der Territorialität mit unterschiedlichen sozialen, politischen, ökologischen und wirtschaftlichen Problemen zu verbinden. Ein Beispiel: „Durch aufmerksame Beobachtung und Lektüre der Territorialität ist der Geograf in der Lage, die Eventualität von Folter zu erkennen. Er ist dann nicht mehr nur Beobachter, sondern wird zu einem kritischen Bewusstsein, konfrontiert mit der Notwendigkeit der Denunziation. Geografen wie Alexander von Humboldt und Elisée Reclus waren ebendies, indem sie die Sklaverei des 19. Jahrhunderts stigmatisierten“ (Raffestin, 1985: 43).

Im Grunde umkreisen Raffestins „politische Schriften“ immer wieder die gleichen Grundfragen, in deren Zentrum sich das Konzept der Territorialität, respektive die per Definition damit verbundene Problematik individueller oder kollektiver Autonomie befindet (Raffestin, 1984). Eine Geografie der Territorialität ist für Raffestin immer auch eine engagierte, unmittelbare, auf die sozialräumlichen Machtbeziehungen fokussierte und dadurch per se politische „Geografie der Autonomie“ (Raffestin, 1980: 245). „Der Mensch bildet als Mitglied einer Gesellschaft in seiner alltäglichen Existenz den eigentlichen Forschungsgegenstand der politischen Geografie. Auf dem Spiel steht eine ‚Geografie der Autonomie‘. Einer solchen Geografie geht es nicht darum, das Individuum vor die Gesellschaft zu stellen. Vielmehr will sie diesem erlauben, seine Identität und Differenz innerhalb des ihn umgebenden Kollektivs zu wahren. Dafür sind theoretische Instrumente notwendig,

Schlusswort

141

die die Machtbeziehungen analysierbar machen, die die soziale Welt jener Individuen charakterisieren“ (Raffestin, 1980: 245).

Die Bedeutung der Autonomie-Problematik in Raffestins Werk kommt explizit auch in seiner Definition der Territorialität zum Ausdruck. Raffestin versteht Territorialität wie erwähnt als „mediatisiertes Beziehungssystem eines kollektiven oder individuellen sozialen Subjekts zur Alterität, Exteriorität und Interiorität, zur Aufrechterhaltung seiner Autonomie, ausgehend von den vorhandenen Ressourcen seiner Umwelt“ (Raffestin, 1990: 12). Autonomie – die „Kapazität der freien Wahl“ (Raffestin 2000: 14), respektive die Möglichkeit frei gewählter Beziehungen zur Alterität, Exteriorität und Interiorität – stellt für Raffestin das eigentliche Ziel von Territorialität dar. Autonomie bezeichnet für Raffestin also ein möglichst freies, durch Mediatoren ermöglichtes – und zugleich beschränktes – Verhältnis zu den Dingen und Lebewesen, als Gegenstand einer Wahl. Wir gelangen dadurch wiederum zum ‘œ‡’– †‡• ‡†‹ƒ–‘”•, dessen Eigenschaften und ”‡œ‡ ƒ—…Š †‹‡ ”‡œ‡ †‡” ‡œ‹‡Š—‰‡ œ—” š–‡”‹‘”‹–¡–ǡ Ž–‡”‹–¡– —† –‡”‹‘”‹–¡–, respektivedie Grenzen der—–‘‘‹‡•‘œ‹ƒŽ‡”–‡—”‡ˆ‡•–legen. Aus einer im elementaren Sinne räumlichen Perspektive lässt sich sagen: Die durch die verwendeten Mediatoren entstehende Organisation des Territoriums (als räumlich verankertes System von Limiten) bestimmt immer auch die Grenzen der Automie einer Gesellschaft. Das Territorium (als Produkt und Produzent von Territorialität) bestimmt eine zugleich räumliche und zeitliche Ordnung, als Grundvoraussetzung, aber auch als Einschränkung, der Möglichkeiten autonomer Beziehungen. Wie Raffestin sagt: „Es ist deshalb wichtig, wachsam gegenüber jeder Restrukturierung der Grenz- und LimitenSysteme zu sein. Veränderungen dieser Systeme sind niemals harmlos, sondern beeinflussen immer auch die Existenz des Menschen über seine täglich gelebte Territorialität“ (Raffestin, 1986b: 17).

Es erstaunt vor diesem Hintergrund nicht, dass sich Raffestin selbst lange Zeit aktiv mit der Stadt- und Raumplanung auseinandersetzte, wobei hier exemplarisch auf den von ihm mitverfassten Raumplanungsbericht der Genfer Gemeinde Lancy aus dem Jahre 1994 verwiesen sei (Chatelain, Milleret, Raffestin, 1994). Raffestins politische Postur wird allerdings auch mit Blick auf seine zahlreichen Medienbeiträge deutlich. In jüngerer Zeit (zwischen 1997 und 2000, während Raffestins Zeit als Vize-Rektor der Universität Genf) ist in diesem Zusammenhang auch seine regelmässige Kolumne in der Westschweizer Zeitung 24heures zu erwähnen. Auch hier fällt wieder Raffestins kritische Auseinandersetzung mit Fragen der Gegenwart auf. Sein Engagement äussert sich dabei allerdings weniger in Form ostentativ gelebter Ideologie- oder Parteizugehörigkeit, sondern vielmehr als kritische Anteilnahme des intellektuellen Fragestellers, der im ernsten Spiel mit seinen theoretischen Instrumenten die sozialen Praktiken und Kenntnisse, das allzu Selbstverständliche der Alltäglichkeit, zu hinterfragen, zu differenzieren und zu erklären sucht. In den Worten Raffestins „Mein Unterfangen lässt sich wohl als „umherstreifend“ [„buissonnière“] bezeichnen. Gleich wie man die Schule schwänzt kann man auch auf eine umherstreifende, „schwänzerische“ Art

142

Geografie der Territorialität denken, wenngleich dabei der Eindruck einer Verzettelung entsteht. In Tat und Wahrheit lassen sich im Rückblick auf meine Arbeiten und Artikel einige Fixpunkte erkennen, die ich zu unterschiedlichen Zeiten aufgreife. Mein Problem ist effektiv, dass ich eine Theorie der Geografie auszuarbeiten versuche, mit der sich die aktuellen Geschehnisse behandeln lassen. Dies bedeutet, dass ich nicht nur ein ‚Analyseraster‘, wie man heute sagt, sondern ein eigentliches System zu finden hoffe, in das sich das nicht unmittelbar Erklärbare des ‚Schaumes‘ unserer Alltäglichkeit einordnen lässt. Damit die Geografie effektiv einen Beitrag zur zeitgenössischen Debatte leisten kann benötigt sie eine intellektuelle Rigorosität, die ihrerseits nach einer allgemeinen Theorie verlangt. Darauf ziele ich ab, im Bewusstsein der Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens (Raffestin, 1997a: 92).

URSPRÜNGE UND WEITERFÜHRUNGEN Die hier angestrebte Kontextualisierung Raffestins verlangt ebenfalls nach einer Behandlung sowohl der zahlreichen Formen des persönlichen Austauschs und der Zusammenarbeit, die zu Raffestins Theorien beitrugen, als auch der unterschiedlichen Anwendungen und Weiterführungen von Raffestins Theorien. Ich werde im Folgenden auf diese Fragen eingehen, bin mir allerdings der Beschränktheit und Subjektivität des dadurch generierten Bildes bewusst. Tatsächlich wäre zur Behandlung dieser Fragen eine umfassendere und systematischere Herangehensweise nötig als dies hier möglich ist. An dieser Stelle müssen ein paar Abschnitte genügen, um dem Leser einen ersten Eindruck der Ursprünge, Anwendungen und Weiterführungen von Raffestins Denken zu vermitteln. Die folgenden Ausführungen sind geografisch gegliedert. Ich werde zuerst auf Raffestins Umfeld in der Genfer und Westschweizer Geografie eingehen, um darauf kurz auf einige Autoren zu verweisen, die heute in dieser Region mit den Theorien Raffestins weiterarbeiten. Darauf aufbauend werde ich schrittweise Raffestins Bedeutung in Frankreich, Italien und Brasilien beleuchten. Diese Auswahl trägt in erster Linie der Tatsache Rechnung, dass Raffestins Texte hauptsächlich in diesen Ländern publiziert wurden. Pour une géographie du pouvoir beispielsweise wurde neben seiner Originalversion in Französisch auch in einer italienischen sowie in einer portugiesischen Übersetzung (in Brasilien) veröffentlicht. An dieser Stelle sei allerdings auch erwähnt, dass einzelne Artikel Raffestins in den letzten Jahren auch in Englisch (Raffestin, 2001; Raffestin, 2007) und erstaunlicherweise in Japanischʹ erschienen.

2

Akio Onjo übersetzte mehrere Artikel Raffestins ins Japanische (letzter Zugriff auf alle Webseiten: Februar 2010): http://www.lit.osaka-cu.ac.jp/geo/pdf/space10/space10_07onjo.pdf http://www.lit.osaka-cu.ac.jp/geo/pdf/space06/06raffestin.pdf http://www.lit.osaka-cu.ac.jp/geo/pdf/space01/06raffestin.pdf http://www.lit.osaka-cu.ac.jp/geo/pdf/space01/07raffestin.pdf

Schlusswort

143

Genf und Westschweiz Raffestins Geografie der Territorialität ist nicht zu verstehen, ohne die zahlreichen Formen der Zusammenarbeit und des persönlichen Austauschs hervorzuheben, die seine langjährige Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Genf prägten. Ich möchte mit dieser Bemerkung indes keinesfalls den Eindruck einer in irgendeiner Form existierenden „Genfer Schule der Geografie“ erwecken. Allzu konfliktuell verlief insbesondere die langjährige departementsinterne Koexistenz von Claude Raffestin und Antoine Bailly, zwei Geografen, die wie wenige sonst die Westschweizer Geografie der 80er und 90er Jahre prägten. Dennoch sei hier auf einige Genfer und Westschweizer Persönlichkeiten verwiesen, die an der Ausarbeitung und Weiterführung von Raffestins Denken mitwirkten. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang auf Louis Prieto, einen Genfer Linguisten der Nachfolgergeneration Ferdinand de Saussures, zu verweisen. Prietos Einfluss auf Raffestin wurde von diesem selbst mehrfach zum Ausdruck gebracht (z.B. Raffestin, 1997b). Eng mit der Linguistik und Semiologie Luis Prietos verbunden ist auch der Genfer Geografe Charles Hussy, dessen Arbeiten zur Semiotik der Kartografie in vielerlei Hinsicht Raffestins strukturalistischsemiologisches Denken reflektieren (Hussy, 1998; 2001). Gemeinsam publizierten Hussy und Raffestin in den 80er Jahren auch einige Arbeiten wirtschaftsgeografischer Prägung (Hussy, Mercier, Raffestin, 1985). Wie Raffestin ist auch Charles Hussy der Geografie in Genf heute noch als Professor Emeritus verbunden, wobei an dieser Stelle unbedingt auch auf die Arbeit seiner Frau Joceline Hussy hinzuweisen ist. Joseline Hussys Dissertation Le défi de la Territorialité blieb krankheitsbedingt leider unvollendet, übte aber doch Anfang der 90er Jahre beträchtlichen Einfluss auf Raffestins Werk aus (Hussy, 2001). Innerhalb des Genfer Umfeldes Claude Raffestins sind hier ebenfalls drei weitere Geografen zu nennen, die über viele Jahre in persönlichem Austausch mit Raffestin standen: Ruggero Crivelli, Bertrand Lévy und Angelo Barampama. Ruggero Crivelli kann einerseits mit Raffestins Arbeiten zur „Kulturgeografie der Alpen“ in Verbindung gebracht werden (Crivelli, Raffestin, 1992). Diese Thematik befindet sich noch heute im Zentrum der geografischen Lehre und Forschung der Universität Genf (Debarbieu, Fasel, 2008). Andererseits verfasste Crivelli aber auch einige theoretische Arbeiten zur Territorialität, wie beispielsweise seine Aufsätze zum Bezug zwischen „Territorialität und Netzwerk“ (Crivelli, 2007), zur Bedeutung der Zeit innerhalb der Territorialität (Crivelli, 2001) und zum Konzept der „Alltäglichkeit“ (Crivelli, 1986). Bertrand Lévys Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf die Humanistische Geografie, respektive auf die Beziehung zwischen Geografie und Literatur (Lévy, 1989). Lévys Arbeiten zur Territorialität beschäftigten sich deshalb vor allem mit deren existentiellen Dimension; eine Problemstellung die er beispielsweise – und zum Teil gemeinsam mit Raffestin – mit der Thematik der „Idealen Stadt“ (Lévy, Matos, Raffestin, 2002) und des Tourismus (Lévy, Raffestin, 1999) verband. Angelo Barampama wiederum interessierte sich vor allem für eine Lektüre der

144

Geografie der Territorialität

Territorialität aus der Perspektive der Politischen Geografie (Barampama, Raffestin, 1998). Bezugnehmend auf die Westschweizer Geografie im Allgemeinen ist natürlich auch der Lausanner Geografe Jean-Bernard Racine zu erwähnen. Der gleichen Generation wie Charles Hussy und Claude Raffestin angehörend verfasste Racine über die Jahre hinweg zahlreiche gemeinsame Arbeiten mit Raffestin (Racine, Raffestin, 1977; Racine, Raffestin, Ruffy, 1978; Racine, Raffestin, 1983; Racine, Raffestin, 1990). Speziell hervorzuheben ist ebenfalls Racines Einleitung zur Sonderausgabe der Zeitschrift Cahiers Géographiques zum Thema der Territorialität (Racine, 2002) anlässlich der Pensionierung Claude Raffestins. Daneben ist zurzeit wohl Jean Ruegg einer jener Geografen der Westschweiz, dessen Arbeiten am deutlichsten von Raffestin geprägt sind. Ich denke diesbezüglich vor allem an Rueggs Forschung im Bereich der Stadt- und Raumplanung (Ruegg, 2000), aber auch an zahlreiche andere Publikationen, von der Problematik des „geografischen Massstabs“ (Ruegg, 2007), bis zu jener der Regulation öffentlicher Räume (Ruegg, Klauser, November, 2007). In den letzten Jahren wurden Raffestins Theorien auch von einer jungen Generation Westschweizer Geografen aufgegriffen, wobei ich speziell Juliet Fall, Alexandre Gillet und meine eigenen Arbeiten erwähnen möchte. Juliet Fall ging beispielsweise auf Raffestins Arbeiten zur Problematik der Grenze ein (Fall, 2005a), thematisierte Raffestins Behandlung Michel Foucaults (Fall, 2005b) und untersuchte die fehlende Rezeption Raffestins in der französischen Geografie der 80er und 90er Jahre (Fall, 2007). Alexandre Gillet wiederum konzentrierte sich auf Raffestins Auseinandersetzung mit der „Geografizität“ des Menschen in der Tradition Martin Heideggers und Eric Dardels (Gillet, 2008; 2009). Tatsächlich wurde diese philosophisch-existentielle Seite Raffestins bisher kaum anderweitig aufgegriffen. Es ist deshalb zu hoffen, dass Gillets Untersuchungen hierzu Anstoss zu geben vermögen. In meinen eigenen Arbeiten ging es vor allem darum, das Konzept der Territorialität mit der Sicherheits- und Überwachungsproblematik öffentlicher Räume zu verbinden (Klauser, 2006). Last but not least sei hier ebenfalls auf CollecTer verwiesen, eine Gruppe ehemaliger Geografiestudenten der Universität Genf, die in den letzten Jahren als „Collectif de réfléxion autour de la territorialité“ Raffestins Artikel online zugänglich machten (http://www.unige. ch/ses/geo/recherche/groupes/CollecTer.html). Frankreich In Frankreich blieben Raffestins Arbeiten lange Zeit marginalisiert. Wie Juliet Fall aufzeigt (Fall, 2007) wurde Raffestin zwar gelesen, nicht aber in den Kanon der konvenablen Autoren aufgenommen. Pour une géographie du pouvoir beispielsweise wurde in rascher Abfolge von Hervé Le Bras (1981), Yves Lacoste (1981), Paul Villeneuve (1982) und Paul Claval (1983) begutachtet und aus unterschiedlichen Gründen mehr oder weniger deutlich verworfen. Interessanterweise wurden Raffestin dabei Dinge vorgeworfen – zum Beispiel sein von Michel Fou-

Schlusswort

145

cault inspiriertes Machtverständnis, respektive sein Bestreben philosophischer Reflexion – die ihm in den letzten Jahren im englischsprachigen Raum hoch angerechnet wurden (Söderström, Philo, 2004; Crampton, Elden, 2007). Die Marginalisierung Raffestins innerhalb der französischen Geografie bedeutet allerdings nicht, dass seine Arbeit nicht doch, und zum Teil mit markanter Wertschätzung, Erwähnung gefunden hätte. Speziell zu nennen sind die Beiträge Guy di Méos (2000) und Xavier Piolles (1991; 2001), die wiederholt auf Raffestins Territorialitäts-Konzeption eingingen. Wie andernorts bereits dargestellt (Klauser, 2008) übten Raffestins Arbeiten zur Territorialität auch einen diffuseren Einfluss auf die französische Geografie aus. So lässt sich heute interessanterweise ein klarer Unterschied zwischen dem anglophonen Territorialitäts-Verständnis als „Verhalten und Strategie der Kontrolle und Verteidigung von Räumen“ (Sack, 1986; Malmbergs, 1980), sowie dem frankophonen (explizit relationalen) Verständnis der Territorialität als Beziehungsgeflecht sozialer Akteure feststellen (Tizon, 1996; Poche, 1996). Obwohl dabei nicht immer explizit auf Raffestin verwiesen wird, ist doch dessen Werk im Allgemeinen als Grundlage des relationalen frankophonen Ansatzes akzeptiert. Diesbezüglich ist ebenfalls auf die zentrale Position Raffestins innerhalb des Paragrafen zur Territorialität des Dictionnaire de la Géographie von Lévy und Lussault zu verweisen (Lévy, Lussault, 2003). Heute wird vor allem Pour une géographie du pouvoir relativ häufig in der französischen Geografie-Literatur erwähnt. Dennoch fehlt eine systematische Rezeption Raffestins noch immer grösstenteils. Dabei darf allerdings Olivier Orains kürzlich erschienene Abhandlung zur französischen Geografie des 20. Jahrhunderts nicht vergessen werden, die Raffestin einen zentralen Platz einräumt (Orain, 2009). Trotz Orains Werk wird es in Frankreich in der nahen Zukunft aber wohl kaum zu einer vertieften Diskussion Claude Raffestins kommen. Italien Am interessantesten und weitreichsten ist die Verbreitung Raffestins in Italien. Dabei spielten einerseits die zahlreichen italienischen Übersetzungen Raffestins eine Rolle. Einige Bücher und Artikel wurden von Raffestin sogar direkt auf Italienisch verfasst, wie beispielsweise Territorialita e paradigma centro-periferia (Racine, Raffestin, Ruffy, 1978) oder Dalla nostalgia del territorio al desiderio di paessagio (Raffestin, 2005). Andererseits ist in diesem Zusammenhang auch Raffestins persönlicher Bezug zu Italien zu erwähnen. Heute verbringt Raffestin mit seiner italienischen Frau die meiste Zeit in der Nähe Turins. Während Pour une géographie du pouvoir in der französischen Geografie kaum gefördert wurde, gelang dem Werk in Italien sowie (im Folgenden aufgezeigt) in Brasilien der Durchbruch. Raffestin gilt heute als einer der zentralen Eckpfeiler der italienischen Geografie. Sein Werk wurde seit den frühen 80er Jahren bis in die jüngste Zeit immer wieder aufgegriffen und behandelt. Der Einfluss Raffestins auf die italienische Geografie ist also stark, in seiner Selbstver-

146

Geografie der Territorialität

ständlichkeit aber auch diffus. In Bezug auf die ältere Generation italienischer Geografen müssen hier vor allem drei Namen genannt werden: Giuseppe Dematteis (1985; 2001), Franco Farinelli (1992, 2001, 2003) und Angelo Turco (1984; 2001). Giuseppe Dematteis‘ Le metafore della terra (Dematteis, 1985) beispielsweise ist in zentralen Punkten von Raffestin beeinflusst (Dell’Agnese, 2008). Speziell hervorzuheben ist Dematteis‘ Nähe zu Raffestins Machtverständnis, respektive seine von Raffestin übernommene Unterscheidung zwischen Geo-Struktur (materielle Realität) und mega-Geografie (als Semiosphäre) (Dell’Agnese, 2008: 444). Überhaupt scheint Raffestins semiologisches und medientheoretisches Denken in Italien deutlichere Spuren hinterlassen zu haben als in der Schweiz oder in Frankreich, was ebenfalls an den Arbeiten Farinellis (1992; 2003) und Guarrasis (1998) abzulesen ist. Darüber hinaus lässt sich bei vielen italienischen Geografen auch eine deutliche Nähe zu Raffestins Verständnis der Produktionsprozesse von Territorien, respektive der Territorialisierungsprozesse von Räumen beobachten (z.B. Farinelli, 2001). Angelo Turco wiederum ist in seinen Schriften zur Regionalisierung (1984) und zur Thematik der „Soziotopie“ (2001) von Raffestin beeinflusst. Bezugnehmend auf die jüngere Generation italienischer Geografen lässt sich insbesondere Elena Dell'Agnese, Mario Angelo Neve und Egidio Dansero erwähnen. Ich möchte exemplarisch auf je eine Publikation dieser Autoren eingehen:  Dell’Agneses Aufsatz „Geo-graphing: Writing Worlds“ (Dell’Agnese, 2008) vergleicht und problematisiert verschiedene geografische Explikationsansätze der Machtbeziehung Mensch-Raum. Dabei geht Dell’Agnese auch vertieft auf Raffestins Bedeutung für die Epistemologie der Geografie innerhalb und ausserhalb Italiens ein.  Mario Angelo Neves Artikel „Il remo e lo stampo. Il processo TDR“ (Neve, 2010) behandelt vor allem Raffestins Verständnis der Prozesse der Territorialisierung, De- und Reterritorialisierung von Räumen. Mit Blick auf Raffestins Arbeiten unterstreicht Neve die zentrale Bedeutung, aber auch die Notwendigkeit einer Rekonzeptualisierung dieser Prozesse.  Emilio Dansero und Alfredo Mela veranschaulichen Raffestins Verständnis der Territorialisierung am Beispiel der Olympischen Winterspiele 2006 in Turin (Dansero, Mela, 2007). Der primär thematisch ausgerichtete Beitrag steht hier stellvertretend für die zahlreichen italienischen Geografen, die seit den frühen 80er Jahren Raffestins Theorien auf räumliche und raumpolitische Phänomene anwandten (siehe auch Bobbio, Dansero, 2008). Die Auswahl dieser drei komplementären Beiträge ist zwar beschränkt, soll hier aber doch die zentrale Position Raffestins in der italienischen Geografie verdeutlichen. Darüber hinaus vermitteln die drei Aufsätze ebenfalls einen ersten Eindruck der breiten Palette möglicher Anwendungen und Weiterführungen der Theorien Claude Raffestins.

Schlusswort

147

Brasilien Im Gegensatz zur breiten und tiefen Wirkung Raffestins in Italien ist dessen Einfluss auf die brasilianische Geografie eher „schmal“. Dieses Attribut bezieht sich allerdings nicht auf das Spektrum brasilianischer Geografen, in deren Werk Spuren Raffestins auftauchen, sondern auf die beschränkte Anzahl der in Brasilien übersetzten und rezipierten Werke Raffestins. Der zentrale Unterschied zwischen der Wirkung Raffestins in Italien und Brasilien geht auf die Anzahl übersetzter Artikel zurück. Im Grunde beschränkt sich das rezipierte Repertoire Raffestins in portugiesisch auf die 1993 erschienene Übersetzung von Pour une géographie du pouvoir (Raffestin, 1993). Umso mehr erstaunt die wichtige Position Raffestins innerhalb der brasilianischen Geografie. Auch in Brasilien wurde vor allem Raffestins Verständnis der Territorialisierung von Räumen aufgegriffen und auf unterschiedliche Themenbereiche angewandt. Nennenswerte Publikationen beginnen mit Becker in den 80er Jahren (Becker, 1988) und führen über de Souza (1995) und Corrêa (1996) bis zu Saquet in der jüngsten Zeit (Saquet, 2000; 2007). Marcos Aurelio Saquet kann wahrscheinlich als jener brasilianische Geografe bezeichnet werden, der in den letzten Jahren am intensivsten Raffestins französische und italienische Aufsätze behandelte und zum Teil sogar übersetzte (Raffestin, 2009). Speziell zu erwähnen sind ebenfalls Saquets Anwendungen der Theorien Raffestins auf Fragen der Landwirtschaft und der Raumpolitik Brasiliens (Saquet, Sinhorini, 2008), respektive sein kürzlich publiziertes Interview mit Raffestin (Saquet, 2009). AUSBLICK In der deutschen Geografie wurde Raffestin trotz der intensivierten Raumdiskussion der letzten Jahre bisher bis auf wenige Ausnahmen nicht aufgegriffen (Werlen, 1995; 1997). Ebendeshalb ist die Frage der möglichen Bedeutung Raffestins hier von besonderem Interesse. Ich möchte diesen Band daher mit einer kurzen Diskussion von drei Hauptargumenten beschliessen, die gemeinsam den Wert einer vertieften Rezeption Claude Raffestins unterstreichen. Analytische Relevanz Mein erstes Argument bezieht sich auf den Erklärungsnutzen der Theorien Raffestins. Nicht von ungefähr beinhaltet diese Textsammlung auch drei thematisch ausgerichtete Artikel, die einen allgemeinen Eindruck der analytischen Relevanz einer Geografie der Territorialität im Sinne Claude Raffestins vermitteln sollen. Natürlich geht dieses Argument auch auf den erwähnten politischen Bezug Raffestins zurück. Raffestins energische Forderung nach einer strikten intellektuellen Rigorosität und konsequenten Theoriebildung der Geografie ist auch Abbild

148

Geografie der Territorialität

seiner Vision einer gesellschaftspolitisch engagierten Wissenschaft. Sinn und Zweck der (geografischen) Theorie liegt für Raffestin in ihrer politischanalytischen Relevanz. Raffestins Werk zur Territorialität zielt also primär auf die Fabrikation eines kohärenten Arsenals von Werkzeugen zur Differenzierung, Explikation und Kritik der Machtphänomene unseres Alltags. Eine Rezeption Raffestins muss an diesem Punkt ansetzen und kritisch nach dem Erklärungsgehalt seiner Konzepte fragen. Gerade deshalb sind auch die oben erwähnten Anwendungen und Weiterführungen von Raffestins Theorien in französischer, italienischer und portugiesischer Sprache von besonderer Bedeutung. Wenden wir nun den Blick auf Raffestin selbst und fragen nach seinen Analysen und Untersuchungen, so entdecken wir einen weitgespannten thematischen Bogen von der Geografie der Alpen über die Thematik der Raumplanung und der Ökologie bis zur Problemstellung der Folter, des Krieges, etc. Dabei fällt allerdings auch auf, dass Raffestin selbst seine Theorien kaum je einer detaillierten empirischen Prüfung unterzog. Hier wäre allenfalls eine Lücke zu schliessen, indem durch präzise Fallstudien die konzeptuellen Bausteine Raffestins im Einzelnen verbunden, ausgefeilt, getestet und illustriert würden. Speziell interessant wäre zum Beispiel, die Beziehung zwischen den Konzepten der Territorialität und der Alltäglichkeit, respektive zwischen den Begriffen der Energie und der Information (als variable Komponenten der Macht im Sinne Raffestins) zu zerlegen, zu verfeinern und zu operationalisieren. Territorium und Territorialität Mein zweites Argument bezieht sich auf den möglichen konzeptuellen Impuls Raffestins zu einer Neubetrachtung der Bedeutung von „Territorialität“ und „Territorium“. Beide Konzepte erhalten von Raffestin einen viel grundsätzlicheren Sinngehalt als dies für gewöhnlich der Fall ist. Wie gesehen versteht Raffestin Territorien nicht nur als Einfluss- und Hoheitsgebiete politischer Macht, sondern als Ensemble territorialisierter Räume konkreter und abstrakter Natur. Territorialität wiederum wird von Raffestin nicht nur als Strategie und Verhalten der Kontrolle und Verteidigung von Räumen (Sack, 1986; Malmberg, 1980), sondern als mediatisiertes Beziehungsgeflecht sozialer Akteure verstanden. Territorialität ist für Raffestin kein simples Konzept. Seine Theorie der Territorialität verfolgt eine grundlegendere Absicht, die auf die Ausarbeitung einer geografischen Ontologie zur Beziehung Mensch-Raum abzielt (Raffestin, 1989: 28). Es geht Raffestin um die Entwicklung eines relational-medialen Betrachtungsprogramms der Geografie, das diese von der Behandlung von Räumen als vis-à-vis des Menschen zum Verständnis der mediatisierten sozialräumlichen Beziehungen von Individuen und sozialen Gruppen führen soll. Raffestins im Vergleich zu anderen Autoren differierendes Verständnis von „Territorium“ und „Territorialität“ ist sowohl eine Chance, als auch ein Problem. Einerseits ist zu hoffen, dass Raffestins Geografie der Territorialität Anstoss zu

Schlusswort

149

einer konstruktiven gegenseitigen Befruchtung unterschiedlicher Begriffsverständnisse geben könnte. Dabei wäre insbesondere die Komplementarität von Sacks, Malmbergs und Raffestins Ansätzen genauer zu prüfen. Andererseits ist zu befürchten, dass eine einzig auf die Konzepte des „Territoriums“ und der „Territorialität“ fokussierte Diskussion der theoretischen Ambition Raffestins letztlich nicht gerecht wird. Tatsächlich scheint Raffestins Geografie der Territorialität viel näher mit der heutigen Raumdebatte der deutschen Sozialwissenschaft verbunden, als mit der traditionellen Literatur zu den Begriffen des Territoriums und der Territorialität. Dies bringt mich zu meinem dritten und letzten Hauptargument. Relationaler Raum und Räumlichkeit sozialer Existenz Ohne an dieser Stelle vertieft auf die deutsche Raumdebatte der letzten Jahre einzugehen, möchte ich doch mit Verweis auf das relational-medientheoretische Denken Raffestins dessen potentielle Bedeutung in diesem Zusammenhang unterstreichen. Mindestens vier Gründe unterstützen dieses Argument. Der erste Grund geht im Wesentlichen auf Raffestins pionierhafte Verbindung philosophischer und geografischer Reflexion zurück. Ich denke dabei nicht nur an Raffestins Lektüre des Machtverständnisses Michel Foucaults oder der Seinslehre Martin Heideggers, sondern auch an seine Verwendung der Phänomenologie Merleau-Pontys, des Französischen Strukturalismus‘ Lévy Strauss‘, der Linguistik Roland Barthes, respektive Louis Prietos, und natürlich der Semiologie Jury Lotmans. Im englischsprachigen Raum flossen einige theoretische Beiträge Raffestins bereits in konzeptuelle Debatten zu Martin Heidegger und Michel Foucault ein (Crampton, Elden, 2007). Eine Rezeption Claude Raffestins könnte allerdings noch weiter gehen. Von Interesse wäre nicht nur eine grundsätzliche Würdigung von Raffestins geografischem „Verbindungs-Projekt“ sozialtheoretischer und philosophischer Reflexion, sondern vor allem auch eine vertiefte kritische Beurteilung von dessen Relevanz im Hinblick auf das Verständnis sozialräumlicher Existenz. Gerade für die deutsche Geografie, die in der aktuellen Raumdebatte zum Teil heftiger sozialwissenschaftlicher Konkurrenz ausgesetzt ist, könnte Raffestins Entwurf einer philosophisch begründeten, relational-medial verstandenen Geografie der Territorialität von besonderem Interesse sein. Der zweite mögliche Beitrag Raffestins zur deutschen Raumdiskussion betrifft im Speziellen sein relational-medientheoretisches Denken, das in seiner Originalität und Systematik zweifelsohne von hohem Wert sein könnte. Vertieft zu prüfen wären insbesondere die Resonanzen und Dissonanzen zwischen Raffestins Geografie der Territorialität und anderen, in der deutschen Literatur prominenter positionierten Beiträgen zur Relationalität des Raumes, respektive zur Räumlichkeit sozialer Existenz. Exemplarisch sei hier auf Martina Löws Raumsoziologie (Löw, 2001) und auf Peter Sloterdijks Sphären-Trilogie (Sloterdijk, 1998; 1999; 2004) verwiesen, die beide (trotz aller offensichtlichen Differenzen) eine zentrale Grundproblematik mit Raffestin teilen: Die Frage nach der Konstitution

150

Geografie der Territorialität

relational verstandener Räumlichkeit. Vor allem bei Raffestin und Sloterdijk geht diese Frage ebenfalls mit einer expliziten und systematischen Behandlung der Mediatisierungsprozesse sozialräumlicher Beziehungen einher (Klauser, 2010). Erinnert die folgende programmatische Aussage Peter Sloterdijks nicht im Grunde an Raffestins Suche nach der Geografizität des Menschen, respektive an seine Definition der Territorialität als mediatisiertes Beziehungssystem zur Alterität, Exteriorität und Interiorität? „Gesucht wird also eine Theorie der existentiellen Geräumigkeit, man könnte auch sagen: eine Theorie der Interintelligenz oder des Aufenthalts in Beseelungssphären. Diese Lehre vom intimen Beziehungsraum müsste klarmachen, wieso ein Leben immer ein Leben-inmittenvon-Leben ist. In-Sein ist also zu denken als das Zusammensein von Etwas mit Etwas in Etwas. Folglich wird hier – wir wiederholen die These – nach dem gefragt, was man in aktueller Terminologie eine Medientheorie nennt. Was sind Medientheorien anderes als Vorschläge, das Wie und Wodurch des Zusammenhangs von verschiedenen Existierenden in einem gemeinsamen Äther zu erläutern?“ (Sloterdijk, 1998: 552).

Solche und ähnliche Überschneidungen und Resonanzen gezielt weiterzuverfolgen wäre zweifelsohne ein faszinierendes Unterfangen ... Der dritte Grund für die Bedeutung Raffestins innerhalb der aktuellen Raumdebatte liegt in seiner fokussierten Behandlung der „semiotischen Räume“ des Menschen, als Dechiffrierungsschlüssel sozialer Raumschöpfungen. Auch hier lässt sich im Übrigen eine gewisse Verwandtschaft zwischen Raffestins Geografie der Territorialität und Sloterdijks Sphären-Theorie erkennen. Raffestins Betonung der Semiosphäre als Mediator sozialer Raumschöpfungen könnte speziell auch einen interessanten, wenn auch herausfordernden, Beitrag zur Diskussion des Raumverständnisses Henri Lefebvres leisten (Schmid, 2005). Raffestins semiologische Haltung wird auch in seiner vielleicht provokativsten Forderung zur Epistemologie der Geografie deutlich: Tatsächlich betrachtet Raffestin weniger den Raum in seiner Materialität, als vielmehr die mediatisierende Semiosphäre sozialer Gruppen und Individuen als den eigentlichen Forschungsgegenstand der Geografie. Diese Aussage weiterzudenken wäre ebenso heikel wie produktiv. „Der Raum ist eine unabdingbare Voraussetzung des menschlichen Handelns. Die geografische Notwendigkeit jedoch entwächst der Information, d.h. der Gesamtheit aller vorhandenen Codes der Handelnden. Aus diesem Grund, so scheint mir, ist die Sozialgeografie stärker durch die verbreitete Information konditioniert als durch den Raum selbst (Raffestin, 1986a: 96).

Der vierte und letzte Grund der hier erwähnt zu werden verdient betrifft den von Raffestin wiederholt hervorgehobenen Zusammenhang zwischen einer relationalmedialen Geografie der Territorialität einerseits, und einer Geografie der sozialräumlichen Pratiken und Kenntnisse andererseits. „Der Ursprung einer allgemeinen Theorie der Human- und Sozialgeografie liegt nirgendwo sonst als in den Praktiken und Kenntnissen einer Gruppe, das heisst konsequenterweise der Akteure, die diese Gruppe formen. Diese Praktiken und Kenntnisse äussern sich als Beziehungen zur Exteriorität und Alterität und werden durch die verwendeten Mediatoren moduliert“ (Raffestin, 1986a: 92).

Schlusswort

151

Bezugnehmend auf die deutsche Geografie erinnert diese Bemerkung vor allem an Benno Werlens konsequente Ausarbeitung einer handlungszentrierten Sozialgeografie. Es wäre tatsächlich interessant, die Resonanzen zwischen Raffestins relationalen Theorie der Territorialität und Werlens Handlungs-Geografie vertieft zu beleuchten, umso mehr, als dass Werlen selbst in seinen Schriften mehrfach auf Raffestin verweist (Werlen, 1995; 1997). Daraus könnte sich ebenfalls eine grundsätzlichere Reflexion ergeben bezüglich der möglichen Berührungspunkte eines relationalen und eines handlungszentrierten Raumverständnisses. In diesem Zusammenhang – wie im Übrigen auch in Bezug auf meine anderen vorgängigen Ausführungen – gilt allerdings zu beachten, dass zwischen Raffestin und der aktuellen deutschen Raumdebatte nicht nur eine Sprach- und eine Landesgrenze, sondern auch eine Zeitdifferenz von (je nach Artikel) bis zu 30 Jahren liegt. Daraus ergibt sich eine Spannung, die nicht zu unterschätzen ist. Zweifelsohne ist die deutsche Raumdebatte heute in manchen Punkten weiter und tiefer vorgedrungen, als dies in gewissen Artikeln dieser Sammlung ersichtlich wird. So mag beispielsweise Raffestins Kritik an der quantitativ-positivistischen Geografie der 80er und 90er Jahre heute zum Teil überholt wirken. Vor allem die älteren Aufsätze Raffestins müssen deshalb immer auch als historische Dokumente verstanden werden, deren Aussagen aus der Perspektive ihres damaligen Kontextes zu interpretieren sind. Dennoch, gerade weil Raffestin in der deutschen Raumdebatte bislang kaum aufgegriffen wurde; gerade weil sein Werk bis in die frühen 80er Jahre zurückreicht und Aufschluss gibt über so manchen Ursprung heutiger Diskussionen; gerade weil seine pionierhafte Verbindung geografischer und philosophischer Reflexion heute so anders wie damals wahrgenommen wird; gerade weil Raffestin so unbeirrt eine allgemeine Theorie zur Territorialität als Grundlage und zugleich unerreichbaren Horizont der Geografie auszuarbeiten trachtete; und gerade weil (vielleicht ebendeshalb) sein Werk über drei Jahrzehnte von einer erstaunlichen Kohärenz und Systematik zeugt, ist eine Rezeption Claude Raffestins heute von grosser Bedeutung. BIBLIOGRAPHIE Barampama A., Raffestin C. (1998), „Espace et pouvoir“, in, Bailly A.S. (Hg.), Les concepts de la géographie, A. Colin, Paris: 63–71. Becker B. (1988), „A Geografia e o resgate da Geopolítica“, in, Revista Brasileira de Geografia, Nr. 50, Bd. 2: 99–125. Bobbio L., Dansero E. (2008), The Tav and the valle di Susa: Competing Geographies, Umberto Allemandi & C., Turin. Chatelain G., Milleret P., Raffestin C. (1994), Plan directeur 1994 de la commune de Lancy, rapport final, Gemeinde Lancy, Dezember 1994. Claval P. (1983), „Pour une Géographie du pouvoir“, in, Political Geography Quarterly, Bd. 2, Nr. 1: 93–94. Corrêa R. (1996), „Territorialidade e corporação: um exemplo“, in, Santos M., Souza M.A.A. de, Silveira M.L. (Hg.), Território globalização e fragmentação, Hucitec, São Paulo: 251–256.

152

Geografie der Territorialität

Crampton J.W., Elden S. (Hg.) (2007), Space, Knowledge and Power. Foucault and Geography, Ashgate, Aldershot. Crivelli R. (1986), „La quotidianità“, in, Copeta C. (Hg.), Esistere ed abitare. Prospettive umanistiche nella geografia francofona, Angeli, Mailand: 90–107. Crivelli R., Raffestin C. (1992), „Blanche-Neige et les sept nains ou la transformation des Alpes en patrimoine commun“, in, Revue de Géographie Alpine, Bd. 80, Nr. 4: 215–227. Crivelli R. (2007), „Chemins de fer et autoroutes, ou la recherche de l’infini: Essai sur la géometrie de la vie quotidienne“, in, Geografie, ANALELE ùTIINTIFICE ALE UNIVERSITĂğII „AL I. CUZA“, Bd. 53, Nr. 2: 117–130. Crivelli R. (2001), „L’espace, lest du temps“, in, Vodoz L. (Hg.), NTIC et Territoires, Presses polytechniques et universitaires romandes, Lausanne: 77–86. Dansero E., Mela A. (2007), „Olympic Territorialization: the case of Torino 2006“, in, Revue de Geographie Alpine/Journal of Alpine Research, Bd. 95, Nr. 3: 16–26. Debarbieux B., Rudaz G. (2008), „Linking mountain identities throughout the world: the experience of Swiss communities“, in, Cultural Geographies, Bd. 15, Nr. 4: 497–517. Dell’Agnese E. (2008), „Geo-graphing: Writing Worlds“, in, Cox K.R., Low M., Robinson J. (Hg.), The Sage Handbook of Political Geography, Sage, London: 439–454. Dematteis G. (1985), Le metafore della Terra. La geografia umana tra mito e scienza, Feltrinelli, Mailand. Dematteis G. (2001), „Per une geografia della territorialità attiva e dei valori territoriali“, in, Bonora P. (Hg.), Slot quaderno 1. Appunti, discussioni, bibliografie, Baskerville, Bologna: 11–30. Di Méo G. (2000), „Que voulons nous dire quand nous parlons d’espace?“, in, Lévy J., Lussault M. (Hg.), Logique de l’espace, esprit des lieux, Éditions Belin, Paris: 37–48. Fall J.J. (2005a), Drawing the Line: Nature, Hybridity and Politics in Transboundary Spaces, Ashgate, Aldershot. Fall J.J. (2005b), „Michel Foucault and Francophone geography: circulations, conversions and disappearances”, in, EspacesTemps.net, 15.09.2005, http://espacestemps.net/document15 40.html. Fall J.J. (2007), „Lost geographers: power games and the circulation of ideas”, in, Progress in Human Geography, Bd. 31, Nr. 2: 195–216. Farinelli F. (1992), I segni del mondo. Immagine cartografica e discorso geografico in età moderna, La Nuova Italia, Firenze. Farinelli F. (2001), „L’invention du territoire“, in, Cahiers Géographiques, Nr. 4: 209–214. Farinelli F. (2003), Geografia. Un’introduzione ai modelli del mondo, Enaudi, Turin. Gillet A. (2008), Le cairn et l’espace ouvert: géographie, géopoétique, géographicité, Dissertation, Geografisches Departement, Universität Genf. Gillet A. (2009), „Redire le monde“, in, Autre SUD, Nr . 45. Guarrasi V. (1989), Geografia culturale e semiotica della cultura, Atti del XXIV Congresso Geografico Italiano, Torino, 26-31 maggio 1986, Pàtron, Bologna: 285–292. Hussy C., Mercier C., Raffestin C. (1985), „Centralité et concentration“, in, Cahiers de géographie du Québec, Bd. 29, Nr. 76: 9–28. Hussy C. (1998), „Signifier and Signified: Between Insignificance and Operability“, in, Semiotica Bd. 122, Nr. 3–4: 297–308. Hussy C. (Hg.) (2001), „La territorialité: Une théorie à constuire“, Thematisches Sonderheft der Zeitschrift Cahiers Géographiques, Nr. 4, Université de Genève, Genf. Hussy J. (2001), „Le défi de la territorialité (extrait)“, in, Cahiers Géographiques, Nr. 4: 217–259. Klauser F. (2006), Die Videoüberwachung öffentlicher Räume, Campus, Frankfurt. Klauser F. (2008), „Rethinking the relationships between society and space: a review of Claude Raffestin's conceptualisation of human territoriality“, Working Paper Nr. 37, Social Sciences Research Centre, National University of Galway, Galway, http://www.nuigalway.ie/research/ ssrc/documents/territoriality_working_paper_francisco_klauser.pdf

Schlusswort

153

Klauser F. (2010), „Splintering Spheres of Security: Peter Sloterdijk and the Contemporary Fortress City“, in, Environment and Planning D: Society and Space, Bd. 28, Nr. 2. Lacoste Y. (1981), „Hérodote a lu: Paul Claval, Espace et pouvoir; Claude Raffestin, Pour une géographie du pouvoir“, in, Hérodote, Nr. 22: 154–157. Le Bras H. (1981), „Pour une géographie du pouvoir, C.Raffestin“, in, Population, Nr. 36: 1201. Lévy B. (1989), Géographie humaniste et littérature: L’espace existential dans la vie et l’œuvre de Hermann Hesse (1877-1962), Ed. Le Concept moderne, Genf (mit einem Vorwort von Claude Raffestin). Lévy B., Raffestin C. (Hg.) (1999), Ma ville idéale, Ed. Metropolis, Genf. Lévy B., Matos R., Raffestin S. (Hg.) (2002), Le tourisme à Genève. Une géographie humaine, Ed. Metropolis, Genf. Lévy J., Lussault M. (2003), Dictionnaire de la Géographie, Bélin, Paris. Löw M. (2001), Raumsoziologie, Suhrkamp, Frankfurt. Malmberg T. (1980), Human Territoriality: Survey of Behavioural Territories in Man with Preliminary Analysis and Discussion of Meaning, Mouton, The Hague. Neve M. (2010) „Il remo e lo stampo. Il processo TDR“, in, Barbanti R., Boi L., Neve M. (Hg.), Paesaggi della complessità, Mimesis ed., Milano. Orain O. (2009), De plain-pied dans le monde. Ecriture et réalisme dans la géographie française au XXe siècle, l’Harmattan, Paris. Piolle X. (1991), „Proximité géographique et lien social, de nouvelles formes de territorialité?“, in, L’espace géographique, Nr. 4: 349–358. Piolle X. (2001), „Les NTIC dans la mouvance de la déterritorialisation: contribution personnelle à l’émergence d’un nouveau regard scientifique“, in, Vodoz L. (Hg.) NTIC et Territoires, Presses polytechniques et universitaires romandes, Lausanne: 131–146. Poche B. (1996), L’espace fragmenté. Eléments pour une analyse sociologiques de la territorialité, l’Harmattan, Paris. Racine J-B., Raffestin C. (1977), „Réponses aux questions de Foucault“, in, Hérodote, Nr. 6: 15– 19. Racine J-B., Raffestin C., Ruffy V. (1978), Territorialita e paradigma centra-periferia. La svizzera e la Padania, Ed. Unicopli, Milano. Racine J-B., Raffestin C. (1983), „L’espace et la société dans la géographie sociale francophone. Pour une approche critique du quotidien“, in, Paelinck J.H.P., Sallez A. (Hg.), Espace et localisation, Economica, Paris: 304–330. Racine J-B., Raffestin C. (1990), Nouvelle géographie de la Suisse et des Suisses, Bd 1 und 2, Payot, Lausanne. Racine J-B. (2002), „La territorialité, référentiel obligé de la géographie? Une Théorie encore à construire“, in, Cahiers Géographiques, Nr. 4: 5–16. Raffestin C. (1980), Pour une géographie du pouvoir, Litec, Paris. Raffestin C. (1984), „Territoriality. A Reflection of the Discrepancies Between the Organization of Space and Individual Liberty“, in, International Political Science Review, Bd. 5, Nr. 2: 139–146. Raffestin C. (1985), „Territorialité et torture“, in, La torture, le corps et la parole, Actes du IIIe Colloque interuniversitaire sur les droits de l’homme, Ed. Universitaires de Fribourg, Fribourg: 37–45. Raffestin C. (1986a), „Territorialité: Concept ou paradigme de la géographie sociale?“, in, Geographica Helvetica, Nr. 2: 91–96. Raffestin C. (1986b), „Eléments pour une théorie de la frontière“, in, Diogène, Nr 134: 3–21. Raffestin C. (1989), „Théories du réel et géographicité“, in, EspacesTemps, Nr. 40–41: 26–31. Raffestin C. (1990), „Une nouvelle géographie de la Suisse: pour qui, pour quoi?“, in, Raffestin, C., Racine, J.B. (Hg.), Nouvelle Géographie de la Suisse et des Suisses, Payot, Lausanne: 3– 6. Raffestin C. (1993), Por uma geografia do poder, Ática, São Paulo.

154

Geografie der Territorialität

Raffestin C (1995), „Les conditions d’une écologie juste“, in, Revue européenne des sciences sociales, Bd. 23, Nr. 102: 5–15. Raffestin C. (2000), „Catastrophes naturelles ou catastrophes humaines?“, in, Actes du 5e Colloque transfrontalier CLUSE, Genf: 11–18. Raffestin C. (1997a), „Une géographie buissonnière“, in, EspaceTemps, Nr. 64–65: 87–93. Raffestin C. (1997b), „Dans les parages de Luis Prieto“, in, Cahiers Ferdinand de Saussure, Nr. 50: 145–161. Raffestin C. (2001), „From text to image“, in, J. Lévy (Hg.), From geopolitics to global politics: a French connection, Frank Cass, London: 7–34. Raffestin C. (2005), „Conflits et guerres“, in, Baudouï R., Grichting A. (Hg.), Urbicide – urgence – durabilité, Actes du colloque de l’IAUG du 9 et 10 novembre 2000, IAUG, Genève: 9–11. Raffestin C. (2005), Della nostalgia del territorio al desiderio di paesaggio. Elementi per una teoria del paesaggio, Aliean Editrice, Florenz. Raffestin C. (2007), „Could Foucault have Revolutionized Geography?“, in, Crampton J.W., Elden S. (Hg.), Space, Knowledge and Power. Foucault and Geography, Ashgate, Aldershot: 129– 137. Raffestin C. (2009), „A produção das estruturas territoriais e sua representação“, in, Saquet M.A., Sposito E.S. (Hg.), Territórios e territorialidades: teorias, processos e conflitos, Editora Expressão Popular, São Paulo. Ruegg J. (2000), Zonage et propriété foncière, ADEF, Paris. Ruegg J. (2007), „L'échelle géographique pour articuler le réseau et la surface“, in, Faure A., Leresche J.-P., Nahrath S. (Hg.), L'action publique à l'épreuve des changements d'échelles: les nouvelles focales du politique, l'Harmattan, Paris: 57–70. Ruegg J., Klauser F., November V. (2007), „Du citoyen et de la civilité. Réflexions à partir de l'exemple de la vidéosurveillance“, in, Lien Social et Politique, Nr 57: 127–139. Sack R.D. (1986), Human Territoriality: Its Theory and History, Cambridge University Press, Cambridge. Saquet M.A. (2000), „O tempo, o espaço e o território“, in, Souza E., Souza A. (Hg.), Paisagem, território, região, Edunioeste, Cascavel: 103–114. Saquet M.A. (2007), Abordagens e concepções de território, Expressão popular, São Paulo. Saquet M.A., Sinhorini J. (2008), „Modernização da agricultura: territorialização, mundanças, dominação“, in, Terr@ Plural, Bd. 2, Nr. 2: 183–197. Saquet M.A. (2009), „Entrevista con Claude Raffestin“, in, Revista Formação, Nr. 15, Bd. 1: 1–5. http://www4.fct.unesp.br/pos/geo/revista/artigos/1_raffestin.pdf. Schmid C. (2005), Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes, Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Sloterdijk P. (1998), Sphären I, Blasen, Suhrkamp, Frankfurt. Sloterdijk P. (1999), Sphären II, Globen, Suhrkamp, Frankfurt. Sloterdijk P. (2004), Sphären III, Schäume, Suhrkamp, Frankfurt. Söderström O., Philo C. (2004), „Social geography: looking for geography in its spaces“, in, Benko G., Strohmayer U. (Hg.), Human Geography: A History for the Twenty-First Century, Blackwell, Oxford: 105–138. Söderström O. (2007), „From mosaic to network: social and cultural geography in Switzerland“, in, Social and Cultural Geography, Bd. 8, Nr. 4: 635–648. Souza M. J. L. de (1995), „O território: sobre espaço e poder, autonomia e desenvolvimento“, in, De Castro I.E., Gomes, P.C., Corrêa R.L (Hg.), Geografia: Conceitos e temas, Bertrand Brasil, Rio de Janeiro. Tizon P. (1996), „Qu’est-ce que le territoire?“, in, Di Méo, G. (Hg.), Les territoires du quotidien, l’Harmattan, Paris: 17–34. Turco A. (1984), Regione e Regionalizzazione, Franco Angeli, Milano. Turco A. (2001), „Sociotopies: institutions géographiques de la subjectivité“, in, Cahier de Géographie du Québec, Bd. 45, Nr. 125: 269–284.

Schlusswort

155

Villeneuve P. (1982), „Commentaire sur Pour une géographie du pouvoir“, in, Cahiers de Géographie du Québec, Bd. 26, Nr. 68: 266–267. Werlen B. (1995), Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum, Bd. 1, Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Werlen B. (1997), Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Globalisierung, Region und Regionalisierung, Bd. 2, Franz Steiner Verlag, Stuttgart.

NACHWEIS DER URSPRÜNGLICHEN DRUCKORTE Raffestin C. (1989), „Théories du réel et géographicité“, in, EspacesTemps, Nr. 40–41: 26–31. Raffestin C. (1986), „Territorialité: Concept ou paradigme de la géographie sociale?“, in, Geographica Helvetica, Nr. 2: 91–96. Raffestin C. (1984), „La territorialité: miroir des discordances entre tradition et modernité“, in, Revue de l’Institut de Sociologie, Université de Bruxelles, Nr. 3–4: 437–447. Raffestin C. (1986), „Eléments pour une théorie de la frontière“, in, Diogène, Nr. 134: 3–21. Raffestin C. (1981), „Travail et territorialité“, in, Bakonyi M., Bresso M., Moeschler P., Raffestin C. (Hg.), Demain le travail, Paris, Economica: 247–257. Raffestin C. (1995), „Langue et territoire. Autour de la géographie culturelle“, in, Werlen B. (Hg.), Kulturen und Raum. Festschrift für Professor Albert Leemann, Zürich, Verlag Rüegger: 87–104. Raffestin C. (1997), „Le rôle des sciences et des techniques dans les processus de territorialisation“, in, Revue européenne des sciences sociales, Bd. 35, Nr. 108: 93–106. Raffestin C. (2003), „Statistique, espace, pouvoir“, in, Swiss Statistical Society Bulletin, Nr. 47: 7–10. Raffestin C. (2006), „Réflexions hétérodoxes sur la globalisation“, in, Revue européenne des sciences sociales, Bd. 44, Nr. 134: 247–257.

LITERATURVERZEICHNIS DER ARTIKEL RAFFESTINS Adret (1977), Travailler deux heures par jour, Seuil, Paris. Ancel J. (1938), Géographie des frontières, Gallimard, Paris. Anderson P. (1978), L’Etat absolutiste, Bd. 1, Maspero, Paris. Anderson P. (1979), Die Entstehung des absolutistischen Staates, Suhrkamp, Frankfurt. Andler D. (Hg.) (1992), Introduction aux sciences cognitives, Gallimard, Paris. André L. (1950), Louis XIV et l’Europe, Albin Michel, Paris. Andrey R. (1966), The Territorial Imperative, Atheneum, New York. Averincev S.S. (1994), Atene e Gerusalemme. Contrapposizione e incontro di due principi creativi, Donzelli Editore, Rom. Barrau J. (1990), „Les homes dans la nature: esquisse d’une histoire naturelle des sociétés et de moeurs humaines“, in, Poirier J. (Hg.), Histoire de moeurs I, Gallimard, Paris: 9–58. Benvéniste E. (1969), Le vocabulaire des institutions indo-européennes, Bd. 2, Editions de Minuit, Paris. Benvéniste E. (1993), Indoeuropäische Institutionen: Wortschatz, Geeschichte, Funktionen, Campus, Frankfurt. Benvenuti F. (1973), „Evoluzione storica del concetto di confine“, in, Strassoldo R. (Hg.), Confini e Regioni, Boundaries and Regions, Edizioni Lint, Trieste: 15–20. Bergson H. (1972), Das Lachen, Arche, Zürich. Bergson H. (1990), Le rire. Essai sur la signification du comique, PUF, Paris. Bloch E. (1974), La philosophie de la Renaissance, Payot, Paris. Bloch E. (1984), Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance, Suhrkamp, Frankfurt. Bodin J. (1986), Six Livres de la République, Fayard, Paris. Borgès J.L. (1985), Histoire universelle de l’infamie. Histoire de l’éternité, Christian Bourgois, Paris. Bourdieu P. (1982), Ce que parler veut dire, Fayard, Paris. Bourdieu P. (1990), Was heisst Sprechen?, Braumüller, Wien. Buber M. (1966), Ich und Du, Verlag Jakob Hegner, Köln. Buber M. (1969), Je et Tu, Aubier-Montaigne, Paris. Calhoun J.B. (1962), „Population, Density and Social Pathology“, in, Scientific American, Bd. 206: 139–148. Castells M. (1998), La société en réseaux. L’ère de l’information, Bd. 1, Fayard, Paris. Castells M. (2001), Die Netzwerkgesellschaft. Das Informationszeitalter, Leske+Budrich, Opladen. Chombart de Lauwe P-H. (1982), La fin des villes, Calmann-Lévy, Paris. Claval P. (1978), Espace et pouvoir, PUF, Paris. Dardel E. (1952), L’homme et la terre, PUF, Paris. De Blij H-J. (1973), Systematic Political Geography, John Wiley, New York. De Certeau M. (1990), Arts de faire, Gallimard, Paris. De Certeau M. (1988), Kunst des Handelns, Merve Verlag, Berlin. Dion R. (1947), Les frontières de la France, Hachette, Paris. Dumont J-P. (Hg.) (1988), Les Présocratiques, Gallimard, Paris. Dürrenmatt, F. (1990), „Rede zur Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an Václav Havel, gehalten am 22. November 1990 im Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon“, in, Du: 14– 18. Eco U. (1972), La structure absente, Mercure de France, Paris. Eco U. (1993), La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea, Editori Laterza, Roma.

160

Geografie der Territorialität

Frémont A., Chevalier J., Hérin R., Renard J., (1984), Géographie Sociale, Masson, Paris. Fukuyama F. (1992), La fin de l’histoire et le dernier homme, Flammarion, Paris. Gadamer H.G. (1976), Vérité et Méthode, Seuil, Paris. Gadamer H.G. (1986), Hermeneutik I, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Bd 1, Paul Siebeck, Tübingen. Girard R. (1972), La violence et le sacré, Grasset, Paris. Glacken C.J. (1967), Traces on the Rhodian Shore: Nature and Culture in Western Thought from Ancient Times to the End of the Eighteenth Century, University of California Press, Berkeley. Gobard M. (1966), L’aliénation linguistique, analyse tétraglossique, Flammarion, Paris. Goffman E. (1973), La mise en scène de la vie quotidienne, Bd. 1&2, Editions de Minuit, Paris. Goody J. (1979), La raison graphique, la domestication de la pensée sauvage, Editions de Minuit, Paris. Guichonnet P., Raffestin C. (1974), Géographie des frontières, PUF, Paris. Guillaume M. (1975), Le capital et son double, PUF, Paris. Guillemain B. (1973), „De la dynamique des systèmes aux frontières linéaires“, in, Strassoldo R. (Hg.), Confini e Regioni, Boundaries and Regions, Edizioni Lint, Trieste: 259–264. Hagège C. (1985), Homme de paroles, Fayard, Paris. Heidegger M. (1958), Essais et conférences, Gallimard, Paris. Heidegger M. (1962), Chemins qui ne mènent nulle part, Gallimard, Paris. Heidegger M. (1992), Sejours, Aufenthalte, Éd. du Rocher, Paris. Heidegger M. (2000), „Wissenschaft und Besinnung“, in, Vorträge und Aufsätze, Gesamtausgabe, Bd. 7, Vittorio Klostermann, Frankfurt. Heidegger M. (2000), „Bauen Wohnen Denken“, in, Vorträge und Aufsätze, Gesamtausgabe, Bd. 7, Vittorio Klostermann, Frankfurt. Ifrah G. (1994), Histoire universelle des chiffres, Laffont, Paris. Jones S-B. (1945), Boundary Making: a Handbook for Statesmen, Treaty Editors and Boundary Commissioners, Columbia University Press, Washington. Kristof L.K-D. (1967), „The nature of frontiers and boundaries“, in, De Blij H.J. (Hg.), Systematic Political Geography, John Wiley, New York: 208–223. Laborit H. (1971), L’homme et la ville, Flammarion, Paris. Laborit H. (1979), L’inhibition de l’action, Masson, Paris. Larousse (1973), Dictionnaire de linguistique, Librairie Larousse, Paris. Lefebvre H. (1968), La vie quotidienne dans le monde moderne, Gallimard, Paris. Lefebvre H. (1972), Das Alltagsleben in der modernen Welt, Suhrkamp, Frankfurt. Lenoble R. (1957), „Origines de la pensée scientifique moderne“, in, Histoire de la science, Gallimard, Encyclopédie de la Pléiade: 369–536. Lévy P. (1995), Qu’est-ce que le virtuel?, La Découverte, Paris. Lotman J.M. (1985), La semiosfera, Marsilio, Venezia. Lupesco S. (1971), Du rêve, de la mathématique et de la mort, Bourgois, Paris. Mandelbrot B. (1984), Les objets fractals, Flammarion, Paris. Malaguerra C. (1996), „En Suisse, les statistiques continuent de souffrir du ‚non’ à l’Europe“, in, Journal de Genève et Gazette de Lausanne, Jeudi Economie, Novembre 1996: 7. Maslow A.H. (1954), Motivation and Personality, Harper & Row, New York. Massé P. (1973), La crise du Développement, Gallimard, Paris. Mitscherlich A. (1970), Psychanalyse et urbanisme, Gallimard, Paris. Mitscherlich A. (1970), Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Suhrkamp, Frankfurt. Moles A., Rohmer E. (1972), Psychologie de l’espace, Castermann, Paris. Moscovici P. (1968), Essai sur l’histoire humaine de la nature, Flammarion, Paris. Nicollier J.L., Simona G. (1982), Paysans, territorialité: la modernisation, un chemin sans issue, Mémoire de licence, Département de Géographie, Faculté des Sciences économiques et sociales, Université de Genève, Genève.

Literaturverzeichnis

161

Polanyi K. (1944), The great transformation, Viking Press, New York. Praplan B. (1985), Pour une approche géographique du Théâtre, Mémoire de Licence, Département de Géographie, Université de Genève, Genève. Putnam H. (1984), Raison, vérité et histoire, Editions de Minuit, Paris. Racine J.-B., Raffestin C. (1983), „L’espace et la société dans la géographie sociale francophone. Pour une approche critique du quotidien“, in, Paeilinck J.H.P, Sallez A. (Hg.), Espace et localisation, Economica, Paris: 304–330. Radkowski de G-H. (1980), Les jeux du désir, PUF, Paris. Raffestin C. (1981), „Les notions de limite et de frontière et la territorialité“, in, Regio Basiliensis: 119–127. Raffestin C. (1982a), „Travail et territorialité“, in, Instituto Studi Ecologica (Hg.), Les rencontres de la Barbariga, Demain le travail, Economica, Paris: 147–154. Raffestin C. (1982b), „Remarques sur les notions d’Espace, de Territoire et de Territorialité“, in, Espaces et Sociétés, Nr. 41: 167–171. Raffestin C. (1985), „Marxisme et Géographie politique“, in, Cahiers de Géographie du Québec, Bd. 29, Nr. 77: 271–281. Raffestin C., Bresso M. (1979), Travail, Espace, Pouvoir, l’Age d’Homme, Lausanne. Raffestin C., Bresso M. (1982), „Tradition, Modernité, Territorialité“, in, Cahiers de Géographie du Québec, Bd. 26, Nr. 68: 186–198. Rossi-Landi F. (1985), Metodica filosofica e scienza dei segni, Bompiani, Milano. Russo F. (1978), „Science et technique“, in, Gille B. (Hg.), Histoire des techniques, Paris, Gallimard: 1111–1145. Sanguin A-L. (1977), La géographie politique, PUF, Paris. Sapir E. (1968), „Les sciences cognitives, les sciences sociales et le matérialisme“, in, Andler D. (Hg.), Introduction aux sciences cognitives, Gallimard, Paris. Sartre J-P. (1983), Cahiers pour une morale, Gallimard, Paris. Sartre J-P. (2005), Entwürfe für eine Moralphilosophie, Rowohlt, Reibeck bei Hamburg. Serres M. (1980), Le parasite, Grasset, Paris. Sobel D. (1996), Longitudine, Rizzoli, Milano. Steiner G. (1986), Dans le château de Barbe-Bleue. Notes pour une définition de la culture, Gallimard, Paris. Steiner G. (1991), In Blaubarts Burg, Europaverlag, Wien. Taine H. (1863), Histoire de la littérature anglaise, Bd. 1, Editions Bibliopolis, Paris. Turco A, Zanetto G. (1981), „Environnement, perception, action: la cas de Venise“, in, Percevoir l’espace vécu, vers une géographie de l’espace, Actes de la Table Ronde, Département de Géographie, Faculté des Sciences économiques et sociales, Université de Genève, Genève. Turner F-J. (1963), La frontière dans l’histoire des Etats-Unis, PUF, Paris. Vercelli A., Borghesi S. (2005), La sostenibilità dello sviluppo globale, Corocci editore, Roma. Vernant J-P. (1990), Les origines de la pensée grecque, PUF, Paris. Vernant J-P. (1982), Die Entstehung des griechischen Denkens, Suhrkamp, Frankfurt. Von Uexkull J. (1956), Monde humain et mondes animaux, Médiations, Paris. Von Uexküll J., Kriszat G. (1934), Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Verlag von Julius Springer, Berlin. Valsangiacomo A. (1985), L’espace carcéral: Le prisonnier, ses besoins, ses réponses, Mémoire de licence, Département de Géographie, Université de Genève, Genève. Wittgenstein L. (1961), Tractatus logico-philosophicus, Gallimard, Paris. Zichichi A. (1996), Scienza ed emergenze planetarie, Rizzoli, Milano.