Cicero: Über das Schicksal [“On Fate”] 9783110474138

In the Hellenistic age the problem of fate was discussed by Stoics, Epicureans, and New Academics as a problem relating

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Cicero: Über das Schicksal [“On Fate”]
 9783110474138

Table of contents :
Frontmatter......Page 1
Inhalt......Page 5
EINFÜHRUNG......Page 7
TEXT UND ÜBERSETZUNG......Page 85
VERZEICHNIS DER TEXTKRITISCH KOMMENTIERTEN STELLEN......Page 159
ANMERKUNGEN......Page 161
LITERATUR......Page 367
PERSONENREGISTER......Page 377

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SAMMLUNG TUSCULUM

Herausgeber: Niklas Holzberg Bernhard Zimmermann

Wissenschaftlicher Beirat: Günter Figal Peter Kuhlmann Irmgard Männlein-Robert Rainer Nickel Christiane Reitz Antonios Rengakos Markus Schauer Christian Zgoll

MARCUS T ULLIUS CICERO ÜBER DAS SCHICKSAL DE FATO Lateinisch-deutsch

Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Hermann Weidemann

DE GRUYTER

ISBN 978-3-11-047118-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047413-8 Library of Congress Control Number: 2019936570 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Für Einbandgestaltung verwendete Abbildungen: Cologny (Genève), Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 52: 6v/7r (www.e-codices.unifr.ch) Satz im Verlag Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

INHALT EINF ÜHRUNG

1. Die Entstehung der Schrift De fato und ihre literarische Form 7 2. Der stoische Schicksalsbegriff und die Relevanz des Schicksalsproblems für die Logik, die Naturphilosophie und die Ethik 11 3. Die drei großen hellenistischen Philosophenschulen der Stoa, des Epikureismus und der Neuen Akademie 15 4. Der Aufbau der Schrift De fato und die vier Abschnitte ihres Hauptteils 19 4.1 Erster Abschnitt (§§ 5–11a): Die Sympathielehre der Stoiker und ihre Theorie der Mantik 20 4.2 Zweiter Abschnitt (§§ 11b–20a): Die Modaltheorie des Diodoros Kronos als Herausforderung für Chrysipp 26 4.3 Dritter Abschnitt (§§ 20b–38): Die Prinzipien der Kausalität und der Bivalenz 51 4.4 Vierter Abschnitt (§§ 39–45): Die Zustimmungslehre Chrysipps 58 5. Pseudo-Plutarch und Alexander von Aphrodisias über das Schicksal 71 6. Zur Rezeptionsgeschichte der Schrift De fato 77

TEXT UND ÜBERSETZUNG  85 VERZEICHNIS DER TEXTKRI TISCH KOMMEN TIERTEN STELLEN  159 ANMERKUNGEN  161

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Inhalt

LI TERAT UR  367 PERSONENREGISTER  377

EINF ÜHRUNG 1. Die Entstehung der Schrift De fato und ihre literarische Form Ciceros Schrift über das Schicksal entstand kurz nach dem einen und nicht lange vor dem anderen von zwei Ereignissen, die manch einer seiner Zeitgenossen als Fügungen des Schick­sals betrachtet haben mag. Erst wenige Wochen oder Monate vor ihrer Abfassung war am 15. März des Jahres 44 v. Chr. Cäsar ermordet worden und der römische Staat, um dessen Erhaltung als freiheitliche Republik Cicero sich vergeblich bemüht hatte, dadurch in eine schwere Krise geraten; und schon etwa eineinhalb Jahre nach ihrer Abfassung traf am 7. Dezember des Jahres 43 v. Chr. ihren Verfasser, dem sein Einsatz für die Verwirklichung seiner politischen Ideale zum Verhängnis wurde, dasselbe Geschick wie seinen politischen Gegner, indem auch er einem Mordanschlag zum Opfer fiel. Daß die Abfassung von De fato in die Zeit nach der Ermordung Cäsars fällt, läßt sich der Vorrede zu ihr entnehmen, in der dieses von Cicero als »Untergang Cäsars« (§ 2)1 bezeichne1

In den modernen Ausgaben von De fato ist die Schrift sowohl in 20 Kapitel als auch in 48 Paragraphen eingeteilt, wobei die Kapitel zur Unterscheidung von den mit arabischen Ziffern bezeichneten Paragraphen in der Regel mit römischen Ziffern bezeichnet sind. (In der von Giomini besorgten Teubner-Ausgabe [1975] sind die Kapitel mit fett gedruckten arabischen Ziffern bezeichnet.) Gewöhnlich wird die Schrift nur nach der Einteilung in Paragraphen zitiert, die allerdings nicht selten recht willkürlich ist, wobei die Hinzufügung des Buchstabens »a« oder des Buchstabens »b« zu einer Paragraphenziffer der Unter­scheidung zwischen zwei inhaltlich nicht zusammengehörenden Teilen des betreffenden Paragraphen dient. Die Anmerkungen, die Pease in der Einleitung zu seiner Ausgabe der Schrift De natura deorum zu zwei Gesamtausgaben der Werke Ciceros macht, von denen die eine 1618 in Hamburg und die andere 1633 in Genf erschienen ist

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te Ereignis ausdrücklich erwähnt wird. Die Vorrede gibt in der Frage nach der Abfassungszeit der Schrift noch weitere Aufschlüsse. Cicero präsentiert den Inhalt der Schrift in ihr nämlich als den Inhalt eines von ihm gehaltenen Vortrags, den er auf seinem Landgut in Puteoli, dem heutigen Pozzuoli in der Nähe von Neapel, im Rahmen eines Gesprächs mit dem ehemaligen Cäsarianer Aulus Hirtius stattfinden läßt, den er zu seinem Zuhörer macht. Da er Hirtius, den Cäsar noch persönlich für das Jahr 43 zum Konsul bestimmt hatte, als »designierten Konsul« (§ 2) bezeichnet, muß er die Schrift noch vor dessen Amtsantritt, also noch im Jahre 44, abgefaßt haben. Was uns über seine Unternehmungen in der Zeit nach Cäsars Tod bekannt ist, läßt vermuten, daß er De fato spätestens im Juni dieses Jahres während eines Aufenthalts auf seinem Landgut bei Tusculum zum Abschluß brachte, also schon kurz nach den Besuchen, die ihm, wie wir aus seinen Briefen wissen, Hirtius in der Zeit vom 17. April bis zum 17. Mai dieses Jahres abstattete, in der er sich, von einem achttägigen Zwischenaufenthalt auf seinem Landgut bei Pompeji abgesehen, auf dem Puteolanum und dem benachbarten Cumanum, dem dritten der drei Landgüter, die er am Golf von Neapel besaß, aufhielt.2 Mit der Abfassung der Schrift De fato führte Cicero ein großangelegtes Vorhaben zu Ende, zu dem er mit der Abfassung der Schrift über das Wesen der Götter (De natura deorum) den Grundstein gelegt und das er mit der Abfassung der Schrift (vgl. I 1955: 94), lassen vermuten, daß beide Einteilungen auf das frühe 17. Jahrhundert zurückgehen. Für den Hinweis auf diese Anmerkungen bin ich David Paul Marwede dankbar, dem ich zugleich dafür danken möchte, daß er mir seinen Kommentar zu De fato in digitalisierter Form zugänglich gemacht hat. 2 Vgl. Philippson 1939: 1161, Yon 1933: II–V, Marwede 1984: 1–3, Sharples 1991: 5f., Bayer 2000: 96, Schallenberg 2008: 38–41. Zu Ciceros Puteolanum vgl. Schmidt 1972: 50–53 (1899: 486–489).



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über die Weissagung (De divi­natione), in der er die Absicht äußert, es mit der Abfassung einer Schrift über das Schicksal zum Abschluß zu bringen (vgl. De div. II 3), fortgeführt hatte. Die Schrift De fato war also von ihm als der dritte Teil einer Trilogie geplant, die sie zusammen mit den beiden anderen Schriften bilden sollte, mit denen sie thematisch eng zusammenhängt. Zwischen ihr und den beiden anderen Schriften besteht allerdings, was ihre literarische Form betrifft, ein Unter­schied, auf den Cicero in der Vorrede zu ihr näher eingeht. In De natura deorum und De divinatione läßt Cicero die Teilnehmer an den Dialogen, als die er diese Schriften gestaltet hat, zusammenhängende Vorträge halten, in denen sie nacheinander ihre gegensätzlichen Standpunkte in der zur Diskussion stehenden Frage darlegen. In der Schrift über das Wesen der Götter argumentiert Cotta als Anwalt der Neuen Akademie im ersten Buch gegen die von Velleius vorgetragene Lehre der Epikureer und im dritten Buch gegen die im zweiten von Balbus vorgetragene Lehre der Stoiker, und in der Schrift über die Weissagung bekämpft Cicero selbst vom neuakademischen Standpunkt aus im zweiten Buch die stoische Lehre, die im ersten Buch sein Bruder Quintus vorgetragen hat. Von dieser Art des Dialogs, für die es charakteristisch ist, daß in Rede und Gegenrede das Für und Wider einer bestimmten Auffassung erörtert wird, unterscheidet sich die Gesprächsform, die Cicero für die Gestaltung von De fato gewählt hat und die er zuvor bereits für die Gestaltung der einzelnen Bücher der Tusculanae disputationes gewählt hatte, darin, daß sich in ihrem Falle der eine Gesprächspartner in der Rolle des Dozenten von dem die Rolle des Hörers spielenden anderen eine These vorlegen läßt, mit der er sich in einem Vortrag, der das Ziel hat, sie zu widerlegen, ausführlich auseinandersetzt. Die erste dieser beiden Gesprächsformen beschreibt Cicero in der Vorrede zu De fato mit den Worten: »In anderen Büchern,

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nämlich in denjenigen, die vom Wesen der Götter handeln, und desgleichen in denjenigen, die ich über die Weissagung veröffentlicht habe, bin ich so vorgegangen, daß jeweils in einer zusammenhängenden Rede entwickelt wurde, was für den einen und was für den anderen von zwei (einander entgegengesetzten) Standpunkten spricht« (§ 1b); und eine Beschreibung der zweiten läßt er Hirtius mit den Worten geben: »Deine Tuskulanischen Disputationen zeigen, daß du dir die Gepflogenheit der Akademiker zu eigen gemacht hast, gegen eine aufgestellte These zu disputieren« (§ 4). Um eine akademische – genauer gesagt: eine neuakademische – Gepflogenheit handelt es sich freilich nicht nur bei dem Disputieren »gegen eine aufgestellte These« (contra propositum), von dem er Hirtius sprechen läßt, sondern auch bei dem Argumentieren »für den einen und für den anderen von zwei (einander entgegengesetzten) Standpunkten« (in utramque partem), von dem er selber spricht. Die Form des Dialogs, die diese Art des Argumentierens darstellt, übernahmen die Neuakademiker von Aristoteles, auf den sie nach Cicero (vgl. De or. III 80, De fin. V 10, Tusc. disp. II 9) zurückgeht.3 Was die andere Form des neuakademischen Dialogs betrifft, die Cicero in den Tusculanae disputationes und in De fato verwendet hat, so ist sie nur in einem sehr eingeschränkten Sinne dialogisch. »Vom Dialog«, bemerkt Max Pohlenz zu ihrer Verwendung in diesen beiden Schriften, »bleibt dabei nicht viel übrig. Ein paar Wechselreden zu Anfang, eine gelegentliche Wendung an den Hörer, die einen Abschnitt in der Darstellung bezeichnet, das ist alles.«4 3 Zu dieser Form des Dialogs, zu ihrem Verhältnis zum platonisch-sokratischen Dialog und zum Unterschied zwischen ihr und der anderen der beiden Formen des in der Neuen Akademie praktizierten Dialogs vgl. Pohlenz 1912: 20–22. Auf S. 21 ist in Anm. 1 »D. L. [= Diogenes Laertios, Vitae philosophorum] V, 3« in »D. L. IV, 28« zu korrigieren. 4 Pohlenz 1912: 22.



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Wie in den Tuskulanischen Disputationen, so ist es auch in der Schrift über das Schicksal Cicero selbst, der dem Hörer gegenüber die Rolle des Dozenten spielt, und wie wir in den Vorreden zu den einzelnen Büchern der Tusculanen erfahren, welche These in ihnen jeweils zur Debatte steht, so wird Cicero auch in dem verlorengegangenen Teil der nur teilweise erhalten gebliebenen Vorrede zu De fato den Lesern mitgeteilt haben, um welche These es in dieser Schrift geht. Offensichtlich ist es die von den Stoikern vertretene These, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht, die er Hirtius hat aufstellen lassen; denn mit dieser These setzt er sich in dem Vortrag, den er ihm hält, auseinander.5 2. Der stoische Schicksalsbegriff und die Relevanz des Schicksalsproblems für die Logik, die Naturphilosophie und die Ethik Was die Stoiker unter Schicksal verstehen, beschreibt Cicero in seiner Schrift über die Weis­sagung durch den Mund des Quintus folgendermaßen: »Schicksal aber nenne ich das, was die Griechen heimarmene, d.  h. ›geordnete Ursachenreihe‹, nennen, weil (es darin besteht, daß) eine Ursache in Verknüpfung mit der anderen eine Wirkung aus sich hervorbringt. Es ist dies die immerwährende Wirklichkeit, die sich von aller Ewigkeit her ausbreitet. Da sich dies so verhält, ist nichts geschehen, wofür nicht schon zuvor gegolten hätte, daß es in Zukunft geschehen wird, und ebenso wird auch in Zukunft nichts geschehen, wo5 Vermutlich hat er Hirtius diese These am Anfang des Textes aufstellen lassen, der in der Lücke B (d. h. zwischen § 4 und § 5) verlorengegangen ist, also am Ende der Vorrede (vgl. Schallenberg 2008: 94f., Mayet 2010: 268, 274f.).

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von die Natur nicht die Ursachen enthielte, die genau es bewirken« (De div. I 125).6 Wie diese Beschreibung zeigt, ist der stoische Begriff des Schicksals insofern ein naturphilosophischer Begriff, als er mit Hilfe des Begriffs der Ursache definiert ist. Um ihre Auffassung vom Schicksal als einer geordneten Reihe von Ursachen (ordo seriesque causarum) etymologisch zu untermauern, bringen die Stoiker, wie aus der zitierten Beschreibung ebenfalls hervorgeht, das Wort, das im Griechischen zur Bezeichnung des Schicksals dient, mit dem Wort εἱρμός (»Verknüpfung«, »Reihe«; lat.: series) in Verbindung. Mit diesem Wort ist das Wort εἱμαρμένη, das »die feminine Form des substantivierten Partizips Perfekt Passiv von μείρεσθαι (›zugeteilt bekommen‹, lat.: merere/mereri)«7 darstellt, jedoch in keiner Weise verwandt. »Ursprünglich stand εἱμαρμένη mit dem später weggelassenen Wort μοῖρα (›Los‹, ›Anteil‹) zusammen, so daß εἱμαρμένη [μοῖρα] im eigentlichen Sinne ›das zugeteilte Los‹, ›der zugewiesene Anteil‹ bedeutet«.8 Was das lateinische Wort fatum betrifft, so ist es »das substantivierte Partizip Perfekt Passiv von fari (›sagen‹, ›sprechen‹) und bedeutet wörtlich übersetzt ›das Gesagte‹«.9 Zur Bezeichnung des Schicksals wird es daher von Hause aus in einem Sinne gebraucht, in dem der »Schicksalsspruch«10 mit ihm gemeint ist, d. h. die 6 Fatum autem id appello, quod Graeci εἱμαρμένην, id est ordinem seriemque causarum, cum causae causa nexa rem ex se gignat. Ea est ex omni aeternitate fluens veritas sempiterna. Quod cum ita sit, nihil est factum, quod non futurum fuerit, eodemque modo nihil est futurum, cuius non causas id ipsum efficientes natura contineat (Übersetzung: H.  W.). – Soweit kein anderer Übersetzer genannt ist, sind sowohl in der Einführung als auch in den Anmerkungen alle fremdsprachigen Texte antiker oder moderner Autoren, die auf deutsch zitiert sind, in meiner eigenen Übersetzung zitiert. 7 Schallenberg 2008: 12. 8 Ebd.; vgl. Yon 1933: XIf. 9 Schallenberg 2008: 10. 10 Otto 1909: 2048.



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von einer Gottheit oder einem göttlichen Seher verkündete Weissagung.11 Es hat also ursprünglich eine mythisch-religiöse Bedeutung, die sich von der philosophischen Bedeutung, die Cicero ihm gibt, wenn er es als Übersetzung des im stoischen Sinne verstandenen Wortes εἱμαρμένη verwendet, deutlich unterscheidet.12 Die stoische Lehre vom Schicksal, mit der sich Cicero in De fato auseinandersetzt, ist freilich keine ausschließlich naturphilosophische Theorie, sondern eine Theorie, in der auch logische und ethische Fragen eine Rolle spielen. Sie steht also mit jeder der drei Disziplinen Logik, Physik und Ethik in Beziehung, in die man die Philosophie im Zeitalter des Helle­nismus einzuteilen pflegte. Mit der Logik steht sie insofern in Beziehung, als die logische These, daß jede Aussage schon immer einen Wahrheitswert hatte, d. h. schon immer wahr oder falsch war, für die Stoiker mit der naturphilosophischen These, daß alles, was geschieht, schon immer eine Ursache hatte, steht und fällt, die aus ihrer Sicht wiederum mit der These steht und fällt, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht. Die Beziehung der stoischen Schicksalstheorie zur Naturphilosophie und ihre Beziehung zur Logik hängen also eng miteinander zusammen. Mit der Ethik steht diese Theorie insofern in Beziehung, als die These, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht, mit der ethischen These un­vereinbar zu sein scheint, daß das, was beim Vollzug einer menschlichen Handlung geschieht, aufgrund einer freien Entscheidung des Menschen geschieht, der diese Handlung vollzieht, und damit als etwas, für das der betreffende Mensch die Verantwortung trägt. 11 »Das Schicksal hat also die Bezeichnung fatum deshalb bekommen, weil es als Spruch, Weissagung aus dem Munde göttlicher Seher verkündet wird« (Otto 1909: 2049). 12 Vgl. Schallenberg 2008: 10–13; siehe auch Yon 1933: X–XII.

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Da der erhalten gebliebene Teil der Vorrede zu De fato mitten in einem Abschnitt beginnt, in dem Cicero auf die Bedeutung hinweist, die der Frage nach dem Schicksal für die Ethik und die Logik zukommt, liegt die Annahme nahe, daß in den fehlenden Sätzen dieses Abschnitts auch die naturphilosophische Relevanz des Schicksalsproblems zur Sprache kam.13 Philippson hat den Vorschlag gemacht, den verlorengegangenen Anfang dieses Ab­schnitts folgendermaßen zu ergänzen: 〈Fati vis ad omnes philosophiae partes valet. Nam num omnia fato fiant, physicorum est inquirere. Dubitatur deinde, num si id credatur, voluntas nostra sit libera, quae quaestio ἠθική videtur esse〉 quia pertinet ad mores etc.14 (»〈Die Bedeutung, die [der Frage nach] dem Schicksal zukommt, betrifft alle Teile der Philo­sophie. Denn zu untersuchen, ob alles durch das Schicksal geschieht, ist Sache der Natur­philosophen. Zweifel hegt man sodann, ob wir, wenn man glauben darf, daß dies der Fall ist, einen freien Willen haben, und diese Frage ist offenbar ēthikē [d. h. eine ethische Frage]〉, weil sie sich auf die Sittlichkeit bezieht« usw.). Dem Abschnitt, in dem Cicero auf die Relevanz des Schicksalsproblems für die drei Teil­gebiete der Philosophie hinweist, muß ein Abschnitt vorangegangen sein, in dem er darauf hingewiesen hat, daß die vorliegende Schrift das von ihm als fatum bezeichnete Schicksal zum Thema hat und daß er mit dieser Bezeichnung das griechische Wort εἱμαρμένη wieder­gibt. Möglicherweise hat er in diesem Abschnitt auch den Begriff 13 Vgl. Platz 1973: 6 (Anm. 1), Schallenberg 2008: 86, Mayet 2010: 263f. 14 Philippson 1934: 1032. Gadamer hat die von Philippson vorgeschlagene Ergänzung, ohne Philippson zu erwähnen, übernommen (vgl. 1965: 224 [1989: 240]). Zwei untaugliche Ergänzungsvorschläge anderer Autoren und den ebenso untauglichen Versuch eines Autors, die Worte, mit denen der überlieferte Text beginnt, so zu interpretieren, daß sich eine Ergänzung erübrigt, hat Schallenberg kritisch beleuchtet (vgl. 2008: 82–85).



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des Schicksals, wenn nicht genau definiert, so doch zumindest umrißhaft bestimmt und zugleich begründet, weshalb er es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Thema Schicksal zu behandeln.15 3. Die drei großen hellenistischen Philosophenschulen der Stoa, des Epikureismus und der Neuen Akademie Cicero erörtert das Schicksalsproblem unter den drei Aspekten, die es für die Stoiker als ein die Logik, die Naturphilosophie und die Ethik betreffendes Problem hat, in einer Weise, die uns einen guten Einblick in die Diskussion gewährt, die in den drei großen Philosophen­schulen des die letzten drei vorchristlichen Jahrhunderte umfassenden hellenistischen Zeit­alters über die­ ses Problem geführt wurde. Denn er beschränkt sich nicht dar­auf, es in Auseinandersetzung mit der Lehre der Stoiker zu erörtern, sondern setzt sich auch mit dem der stoischen Auffassung diametral entgegengesetzten Standpunkt der Epikureer auseinander und bekennt sich selbst zu der von den Neuakademikern vertretenen Position, die eine skeptische Gegenposition zu den beiden dogmatischen Positionen der Stoiker und der Epikureer darstellt. Das Schicksalsproblem wird uns in seiner Schrift also nicht nur unter drei verschiedenen Aspekten vor Augen gestellt, sondern wir werden mit ihm auch aus drei verschiedenen Perspektiven konfrontiert. Was die drei Schulen betrifft, aus deren Blickwinkel wir dieses Problem zu Gesicht bekommen, so werden im Falle der Stoa Zenon, Kleanthes, Chrysipp und Poseidonios, im Falle der epikureischen Schule deren Gründer Epikur und im Falle der Neuen Akademie Arkesilaos und Karneades in De fato namentlich erwähnt. Cicero erwähnt außerdem einen Mann, der einen 15 Vgl. Schallenberg 2008: 85f., Mayet 2010: 264f., 266f.

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großen Einfluß auf die Stoa und einen gewissen Einfluß wohl auch auf die beiden anderen Schulen ausübte, nämlich den Dialektiker Diodoros mit dem Beinamen Kronos.16 Diodor, der zusammen mit den von Cicero erwähnten Vertretern der drei hellenistischen Philosophenschulen im folgenden kurz vorgestellt werden soll17, war nicht nur ein Dialek­tiker in dem Sinne, daß er die Dialektik beherrschte, d. h. die Logik, verstanden als die Kunst, im Gespräch mit einem Partner, von dem man sich gezielt gestellte Fragen beantworten läßt, korrekt zu argumentieren, sondern er war auch ein Dialektiker in dem Sinne, daß er einer Philosophenschule angehörte, deren Mitglieder deshalb, weil sie die Kunst der Dialektik in besonderem Maße pflegten, Dialektiker genannt wurden. Als Logiker waren die Mitglieder dieser Schule Vorläufer und Wegbereiter der stoischen Logiker. Der Gründer der stoischen Schule, Zenon von Kition, dem ein großes Interesse an der Logik nachgesagt wird, war ein Schüler Diodors. Kleanthes übernahm nach Zenons Tod die Leitung der stoischen Schule. Sein Nachfolger als Schulleiter war Chrysipp, der für die Stoa eine so große Bedeutung hatte, daß man ihn als den zweiten Gründer der Schule ansah, ohne den sie nicht wirklich existiert hätte.18 Hält man sich an die übliche Einteilung der Geschichte der Stoa in die Periode der alten, die Periode der mittleren und die Periode der neueren oder späten Stoa, so sind Zenon, Kleanthes und Chrysipp Stoiker der ersten dieser drei Perioden, während Poseidonios zusammen mit seinem Lehrer Panaitios der zweiten Periode angehört. Durch Poseidonios ist Cicero in16 Zu Diodoros Kronos und seinem Einfluß auf die hellenistische Philosophie vgl. Sedley 1977, Long/Sedley I 1987: 189, 446, Schofield 1999: 331; siehe auch Weidemann 2000. 17 Zu den im folgenden vorgestellten Philosophen vgl. Schallenberg 2008: 17–31. 18 Vgl. Hossenfelder 1985: 44f.



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sofern beein­flußt, als er bei ihm studierte19, was er in De fato, wo er ihn als seinen »Lehrer« bezeichnet (§ 5), anklingen läßt. Das Wirken der späten Stoiker, zu denen beispielsweise Seneca und Epiktet gehören, fällt in eine Zeit, die schon außerhalb der hellenistischen Epoche im engeren Sinne liegt, nämlich in den Zeitraum der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte. Nicht lange vor der Stoa, die um das Jahr 300 v.  Chr. gegründet wurde, gründete Epikur seine Schule. Sie »war straff und hierarchisch organisiert. Ihre Mitglieder, zu denen auch Frauen und Sklaven zählten, lebten in enger Gemeinschaft nach festen Regeln, bis hin zu eigenen Feiertagen, so daß nach außen der Eindruck einer religiösen Vereinigung entstehen mochte«.20 Was das Schicksalsproblem betrifft, so unterscheiden sich die Epikureer von den Stoikern nicht nur darin, daß sie die These, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht, bestreiten, sondern auch darin, daß sie die beiden Thesen bestreiten, mit denen diese These sowohl nach ihrer als auch nach stoischer Auffassung auf das engste verbunden ist, nämlich einerseits die These, daß alles, was geschieht, schon immer eine Ursache hatte, und andererseits die These, daß jede Aussage schon immer einen Wahrheitswert hatte. Cicero, der die erste dieser drei Thesen ebenfalls bestreitet, verwirft in der Überzeugung, daß sie zwar aus der zweiten, aber nicht aus der dritten folgt, zwar die zweite, hält aber an der dritten fest, womit er sich die Auffassung des Neuakademikers Karneades zu eigen macht, dessen Lehrvorträge ihm bei der Abfassung von De fato in erster Linie als Quelle dienten.21 19 Er hörte ihn 78/77 v. Chr. bei einem Besuch in Rhodos (vgl. Sharples 1991: 163f., Marwede 1984: 103f., Schäublin 2013: 296). 20 Hossenfelder 1985: 100f. 21 Die Lehrvorträge des Karneades, der darauf verzichtete, seine Gedanken schriftlich festzuhalten, wurden von seinem Schüler Kleitomachos aufgezeichnet, durch dessen inzwischen verlorengegangene Aufzeichnungen ihr

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Die Neue (oder Neuere) Akademie genannte Schule, der Karneades angehörte, ist die Schule Platons in der neuen geistigen Ausrichtung, die ihr Arkesilaos, der »Initiator« ihrer »zweihundertjährigen skeptizistischen Periode«22, im dritten vorchristlichen Jahrhundert da­durch gab, daß er sich von dem an den späteren Schriften Platons orientierten dogmatischdoktrinären Platonismus der älteren Akademiker abwandte und den aporetisch-skeptischen Platonismus wiederzubeleben versuchte, den der das vermeintliche Wissen anderer in Frage stellende und für sich selbst nur das Wissen, nichts zu wissen, beanspruchende Sokrates der platonischen Frühdialoge verkörpert.23 »Arkesilaos, der bei Polemon gehört hatte«, läßt Cicero im dritten Buch seiner Schrift De oratore den Redner Crassus sagen, »griff zum ersten Mal aus den vielfältigen Schriften Platons und aus den sokratischen Dialogen ganz besonders den Gedanken auf, daß es nichts Sicheres gebe, das mit den Sinnen oder mit dem Geist erfaßt werden könne. Man berichtet von ihm, er habe in einer Sprache von ganz außerordentlicher Anmut jedes geistige und jedes sinnliche Urteil verworfen und es sich als erster zur Aufgabe gemacht – obwohl dies ja ganz und gar sokratisch war  –, nicht seine eigene Auffassung kundzutun, sondern jeweils gegen die Auffassung, zu der sich jemand anders bekannt hatte, zu argumentieren. Hieraus ging diese jüngere Akademie hervor, in der Karneades als ein Mann von Inhalt Cicero zugänglich war (vgl. Schallenberg 2008: 28). Die Ansicht, daß Karneades für De fato – abgesehen von dem der Sympathielehre des Poseidonios gewidmeten Einschub (§§ 5–6), der wahrscheinlich auf Poseidonios selbst zurückgeht (vgl. Philippson 1934: 1038) – Ciceros Gewährsmann ist, hat Schallenberg, der die über die Frage nach den Quellen dieser Schrift geführte Dis­kussion kritisch aufgearbeitet hat (vgl. 2008: 47–77), überzeugend anderen Ansichten gegenüber verteidigt (vgl. 2008: 62–68, 72f., 77). 22 Hossenfelder 1985: 191. 23 Vgl. Long/Sedley I 1987: 5, 445f.



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geradezu göttlicher Geistesschnelle und Sprachgewalt auftrat« (De or. III 67f.).24 Karneades, »der größte Philosoph des zweiten Jahrhunderts v. Chr.«25, war nach Arkesilaos der bedeutendste Vertreter der Neuen Akademie. Der Stoiker Chrysipp, der Neuakademiker Karneades und Epikur, die übrigens keine Zeit­genossen waren – Chrysipp (281/77–208/04 v. Chr.) wurde nur wenige Jahre, bevor Epikur (341–270 v.  Chr.) starb, und Karneades (214/13–129/28 v.  Chr.) wiederum nur wenige Jahre vor dem Tod Chrysipps geboren –, spielen in De fato die Hauptrollen. Nebenrollen spielen Diodoros Kronos, der nicht viel älter gewesen sein dürfte als Epikur, und der Stoiker Posei­donios, dessen Schüler Cicero war. Der Stoiker Kleanthes wird nur am Rande als Chrysipps Lehrer erwähnt (§ 14), und Zenon und Arkesilaos werden zusammen mit Theophrast, der als Nachfolger des Aristoteles die Schule der Peripatetiker leitete, lediglich als Beispiele an­geführt (§ 7). 4. Der Aufbau der Schrift De fato und die vier Abschnitte ihres Hauptteils Aufgrund des lückenhaften Zustandes, in dem uns der Text der Schrift De fato überliefert ist – es fehlt sowohl am Anfang (Lücke A) als auch am Ende (Lücke D) sowie nach den einleitenden Paragraphen 1–4 (Lücke B) und vor den abschließenden Paragraphen 46–48 (Lücke C) ein mehr oder weniger großes Textstück  –, ist es nicht leicht, den Plan, nach dem Cicero diese Schrift aufgebaut hat, zu rekonstruieren und sie 24 Zu den Neuakademikern Arkesilaos und Karneades vgl. auch die letzten zwei noch erhal­ten gebliebenen Paragraphen des ersten Buches von Ciceros Academici libri (Ac. I 45f.). 25 Schofield 1999: 323.

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diesem Plan entsprechend zu gliedern. Erschwert wird eine solche Gliederung auch dadurch, daß der Aufbau der Schrift zwar die Absicht ihres Verfassers verrät, das Schicksalsproblem in seiner Relevanz für die Logik, die Naturphilosophie und die Ethik zu erörtern, daß die drei Aspekte, die dieses Problem als ein für jede dieser drei philosophischen Disziplinen relevantes Problem hat, von Cicero aber nicht in thematisch klarer Abgrenzung voneinander behandelt werden, sondern in ihrem wechselseitigen Zusammenhang und ihrer Verflochtenheit miteinander. Auch wenn die Grenzen zwischen Logik, Naturphilosophie und Ethik, was die Rolle betrifft, die diese drei Teilbereiche der Philosophie in De fato spielen, fließend sind, läßt sich der Hauptteil der Schrift doch im Hinblick darauf, daß bald der eine und bald der andere Bereich in ihm eine vorherrschende Rolle spielt, in vier größere Abschnitte einteilen. Von diesen vier Abschnitten bezieht sich sowohl der erste, von dem nur ein Rest erhalten ge­blieben ist (§§ 5–11a), als auch der dritte (§§ 20b–38) hauptsächlich auf die Naturphilo­sophie, während im zweiten (§§ 11b–20a) die Logik und im vierten, dessen letzter Teil ver­ lorengegangen ist (§§ 39–45), die Ethik im Mittelpunkt steht. Daß »im Laufe der Abhandlung diese drei Teilgebiete immer wieder ineinandergreifen«26, zeigt sich vor allem im ersten und im dritten Abschnitt. 4.1 Erster Abschnitt (§§ 5–11a): Die Sympathielehre der Stoiker und ihre Theorie der Mantik Der erhalten gebliebene Rest des ersten Abschnitts hat das zum Gegenstand, was Cicero, der damit das von den Stoikern 26 Schallenberg 2008: 79.



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mit dem Wort συμπάθεια Gemeinte umschreibt, die naturae contagio (§  5) oder die contagio rerum (§  7) nennt27, d.  h. den naturgegebenen Kontakt der Dinge miteinander, den Zusammenhalt, der in der Natur unter den Dingen herrscht. Es geht hier also um die stoische Lehre von der »Sympathie des Alls«28, der zufolge der Kosmos einen »einzigen großen Organismus« bildet, »in dem alle Teile (von den größten bis zu den kleinsten) mit allen Teilen und dem Ganzen in Verbindung stehen und an allem teilhaben, alles ›mitleiden‹, was irgendwo zur Geltung kommt«.29 Die Feststellung, die Cicero am Ende des Abschnitts mit den Worten trifft: »All das« – nämlich: »daß man guten Willen hat, sich Mühe gibt und auf Zucht und Ordnung hält« – »würde zunichte, sollte durch das in der Mantik angewandte Verfahren bestätigt werden, daß das Schicksal eine ihm von Natur aus zukommende Macht besitzt« (§ 11a), deutet darauf hin, daß der 27 In De divinatione und De natura deorum, wo er auch auf die griechische Bezeichnung συμπάθεια hinweist (De div. II 34, 124, 142; De nat. deor. III 28), hat Cicero – ab­gesehen von der Stelle De div. II 33: … sit aliqua in natura rerum contagio (»… in der Natur unter den Dingen irgendein Zusammenhalt herrscht« oder »… im Ganzen des Natur­geschehens irgendein Zusammenhalt herrscht« [vgl. Marwede 1984: 98]) – Um­schreibungen gewählt, die mit Hilfe der Wörter cognatio (»Verwandtschaft«), coniunctio (»Verbindung«), concentus (»Einklang«), consensus (»Übereinstimmung«), convenientia (»Harmonie«) und continuatio (»Zusammenhang«) gebildet sind (vgl. Schallenberg 2008: 100 [Anm. 94], Schäublin 2013: 355). Zu der umstrittenen Frage, ob das Wort contagio, das eigentlich »Berührung«, »Einwirkung«, »Einfluß« bedeutet, an den Stellen, an denen es als ein von Cicero zur Wiedergabe des stoischen Sympathiebegriffs verwendeter Ausdruck überliefert ist, durch eine Buchstabenvertauschung aus dem Wort cognatio entstanden ist, vgl. Marwede 1984: 97–99, Schallenberg 2008: 100 (Anm. 93). 28 Schäublin 2013: 355. 29 Ebd. – Zur Sympathielehre der Stoiker vgl. Yon 1933: 30f., Platz 1973: 7–13, Talanga 1986: 87–90.

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Abschnitt als ganzer in erster Linie der stoischen Theorie der »Mantik« (divinatio) gewidmet war, daß Cicero die Sympathie­ lehre der Stoiker in ihm also im größeren Rahmen einer Auseinandersetzung mit der stoischen Lehre von der Kunst der Weissagung erörtert hat.30 Das übergeordnete Ziel des Abschnitts ist offenbar eine Kritik an dem von den Stoikern unternommenen Versuch, unter Berufung auf die angebliche Erfahrungstatsache, daß die Mantik die Zukunft vorherzusagen erlaubt, einen Beweis dafür zu erbringen, daß alles, was in der Welt geschieht, durch eine umfassende Sympathie miteinander verbunden ist, und damit auch einen Beweis dafür, daß alles, was in der Welt geschieht, durch das Schicksal geschieht.31 Daß die stoische Lehre von der Mantik der übergeordnete Gesichtspunkt ist, unter dem sich Cicero im ersten Abschnitt mit der Sympathielehre der Stoiker auseinandersetzt, läßt sich nicht nur dem aus §  11a zitierten Satz entnehmen, mit dem dieser Abschnitt endet, sondern geht auch aus dem Teil dieses Abschnitts hervor, in dem Cicero auf die von Poseidonios als Belege für das Vorhandensein einer kosmischen Sympathie angeführten Beispiele eingeht (§§ 5–6). Denn bei der zweiten der beiden Gruppen, in die Cicero diese Beispiele einteilt, handelt es sich um eine Gruppe von Ereignissen, deren Eintreten Poseidonios offenbar als die Erfüllung einer Prophezeiung betrachtete.32 Da es im Falle dieser Ereignisse reichlich ge­künstelt und somit wenig plausibel ist, Beispiele für die Erfüllung von Vorhersagen in ihnen zu sehen, sind sie in Ciceros Augen untauglich, auch nur eine im Kosmos waltende Sym­pathie, geschweige denn eine das Weltgeschehen bestimmende Schicksalsmacht 30 Vgl. Marwede 1984: 6–8, 12f., Schallenberg 2008: 79, 98. 31 Vgl. Yon 1933: XIX, XXXVII, 6 (Anm. 2). 32 Vgl. Yon 1933: XIX (Anm. 1), Philippson 1934: 1034, Sharples 1991: 163.



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zu bezeugen. Was die erste der beiden Gruppen betrifft, in die er die von Poseidonios angeführten Beispiele einteilt, ist Cicero hingegen zu einem Zugeständnis bereit. Als Zeugen für das Wirken des Schicksals lassen sich die Phänomene, um die es sich bei den Beispielen dieser Gruppe handelt, seiner Meinung nach zwar ebensowenig aufrufen wie die Beispiele der zweiten Gruppe – auch in ihrem Fall »kann keine Rede davon sein, daß eine Schicksalsmacht am Werk ist« (vis est nulla fatalis: § 5) –, aber in ihnen bekundet sich doch immerhin so etwas wie eine kosmische Sympathie; bei ihnen »macht sich«, so Cicero wörtlich, »der in der Natur (unter den Dingen) herrschende Zusammenhalt geltend, den ich durchaus nicht leugne« (naturae contagio valet, quam ego non tollo: ebd.). Cicero erkennt also zwar an, daß es in der Natur einen gewissen Zusammenhalt unter den Dingen gibt, aber dieser Zusammenhalt ist seiner Überzeugung nach bei weitem nicht so eng und so umfassend, daß er ein auf das Wirken des Schicksals zurück­gehender, lückenloser Zusammenhang wäre, der alles und jedes mit allem und jedem anderen verbindet. Cicero bestreitet, mit anderen Worten, daß die fatalistischen Merkmale33, 33 Das Wort »fatalistisch«, das ebenso wie das Wort »deterministisch« eine Weltanschauung charakterisiert, der zufolge die Entwicklung der Welt von Anfang an für alle Zukunft festgelegt ist, wird nicht selten in einer Bedeutung gebraucht, die sich von der Bedeutung des Wortes »deterministisch« – abgesehen davon, daß der zu ihr gehörende Hinweis auf das Schicksal nicht zur Bedeutung dieses Wortes gehört – folgendermaßen unterscheidet: Während die Entwicklung der Welt einer fatalistischen Weltanschauung zufolge durch­gängig in einer Weise festgelegt ist, die es dem Menschen unmöglich macht, sie durch sein Handeln zu beeinflussen, ist sie einer deterministischen Weltanschauung zufolge durch­gängig in einer Weise festgelegt, die den Menschen in einer ebenfalls durchgängig fest­ gelegten Weise auf sie Einfluß nehmen läßt (vgl. Sharples 1983: 10 [Anm. 50], Schallen­berg 2008: 14f.). Auf die Schicksalstheorie der Stoiker trifft das Wort »fatalistisch« nur dann zu, wenn es nicht in dem beschriebenen Sin-

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die der Sympathiebegriff bei den Stoikern enthält, zum Inhalt dieses Begriffs gehören, und löst diesen Begriff damit von seiner Verkoppelung mit der Schicksalsidee.34 Diese Entfatalisierung des stoischen Sympathiebegriffs bestimmt auch Ciceros Ausein­andersetzung mit der Sympathielehre Chrysipps in den Paragraphen 7–11a. Die Bemerkung, er wolle »wieder auf die Fallstricke Chrysipps zurückkommen« und »ihm zunächst, was speziell seine Lehre von dem (in der Natur) unter den Dingen herrschenden Zusammenhalt betrifft, antworten« (§ 7), mit der Cicero zu diesem Thema überleitet, läßt erkennen, daß er Chrysipps Sympathielehre und die Argumente, auf die sie sich stützt, bereits in der Lücke zwischen den Paragraphen 4 und 5 referiert hat35, so daß seine Auseinandersetzung mit der Lehre des Poseidonios »nur eine Einlage«36 darstellt. Wie aus seiner Kritik an Chrysipp her­vorgeht, mißfällt ihm an dessen Sympathielehre, daß sie die kausale Rolle überbewertet, die natürliche Faktoren wie Umwelt und Veranlagung beim Verhalten eines Menschen spielen. Solche Faktoren, hält er Chrysipp entgegen, sind zwar maßgebliche Ursachen dafür, daß uns bestimmte Verhaltensweisen näherliegen als andere, aber nicht auch dafür, daß wir uns tatsächlich so verhalten, wie wir es tun. Die kosmische Sympathie, aufgrund deren unser Ver­halten von solchen Faktoren beeinflußt ist, macht uns nicht ne verstanden wird, sondern in einem der Bedeutung des Wortes »deterministisch« entsprechenden Sinn, also nur dann, wenn die Auffassung mit ihm gemeint ist, daß die Entwicklung der Welt vom Schicksal durchgängig in einer Weise bestimmt ist, die den Menschen in einer ebenfalls durchgängig vom Schicksal bestimmten Weise Einfluß auf sie nehmen läßt. In dieser Bedeutung wird das Wort »fatalistisch« hier und im folgenden gebraucht. 34 Vgl. hierzu Reinhardt 1926: 242f. 35 Vgl. Philippson 1934: 1033, Marwede 1984: 12. 36 Philippson 1934: 1034; vgl. Bayer 2000: 116, Mayet 2010: 273.



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zu Marionetten des Schicksals, die dem Einfluß solcher Faktoren wehrlos ausgeliefert sind, sondern läßt uns die Freiheit, uns dem Einfluß, den solche Faktoren auf unser Verhalten haben, zu widersetzen.37 Mit dieser Korrektur an der Sympathielehre Chrysipps oder, vorsichtiger ausgedrückt, an der Sympathielehre, die er Chrysipp zuschreibt, rückt Cicero noch einmal den ethischen Aspekt des Schicksalsproblems ins Blickfeld, den er, wie sein auf die »Zustimmungen« (assensiones) bezogener Hinweis »… mit denen ich mich schon am Anfang meines Vortrags befaßt habe« im vierten Abschnitt (§ 40) zeigt, bereits in dem verlorengegangenen Teil des ersten Abschnitts, also in der Lücke B, ins Spiel gebracht haben muß. Die Lehre von den Zustimmungen, der zufolge der Willensakt, den man vollzieht, wenn man eine bestimmte Handlung ausführen will, darin besteht, daß man der Vorstellung zustimmt, die man von dieser Handlung hat, ist ein zentraler Bestandteil der stoischen Ethik. Offenbar gehört diese Lehre, die Cicero im vierten Abschnitt behandelt, zu den Lehren Chrysipps, deren Be­handlung er in § 7 mit den Worten »…  das übrige werden wir dann später durchgehen« ankündigt, d.  h. zu den Lehren Chrysipps, mit denen er sich auseinandersetzen will, nachdem er zu dessen Sympathielehre Stellung genommen hat. Zu diesen »übrigen« Lehren gehört auch die Logik Chrysipps. Ob er auch in ihrem Falle seiner Auseinandersetzung mit ihr, die er im zweiten Abschnitt beginnt und im dritten fortführt, in dem in der Lücke B verloren­ gegangenen Teil des ersten Abschnitts ein Referat über sie vorausgeschickt hat, wie er dies im Falle der Sympathielehre und

37 »Cicero replies that it is one thing to say that these factors influence our behaviour, another to say that they determine it in every detail« (Sharples 1991: 164).

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im Falle der Zustimmungslehre getan zu haben scheint, wissen wir nicht.38 4.2 Zweiter Abschnitt (§§ 11b–20a): Die Modaltheorie des Diodoros Kronos als Herausforderung für Chrysipp Der Chrysipps Logik gewidmete zweite Abschnitt dreht sich um ein logisches Problem, das mit der Lehre von der Mantik zusammenhängt, nämlich um die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Wahrheitswert zukunftsbezogener Aussagen und der Modalität der in ihnen ausgesagten Sachverhalte. Genauer gesagt, geht es in diesem Abschnitt um die nach Ciceros Darstellung von Diodoros Kronos bejahend und von Chrysipp verneinend beantwortete Frage, ob das, was in einer wahren zukunftsbezogenen Aussage ausgesagt wird, notwendig und das, was in einer falschen zukunftsbezogenen Aussage ausgesagt wird, unmöglich ist. In Ciceros Augen hat Chrysipp, der sich seiner Meinung nach, wenn er konsequent gewesen wäre, Diodor hätte anschließen und auf diese Frage ebenfalls eine bejahende Antwort geben müssen, vergeblich versucht, dieser Konsequenz auszuweichen. Was uns Cicero über die Modaltheorie Diodors berichtet, stimmt mit dem, was wir aus anderen Quellen über diese Theo­ rie wissen39, nur teilweise überein, nämlich nur insofern, als er 38 Zum mutmaßlichen Inhalt des in der Lücke B verlorengegangenen Textes, dessen Umfang beträchtlich sein muß, vgl. Schallenberg 2008: 94–99, ­Mayet 2010: 268–276. 39 Die wichtigsten Texte, denen wir unsere Kenntnis der Modaltheorie Dio­ dors verdanken, sind bei Hülser (FDS) zusammen mit einer deutschen Übersetzung unter den Nummern 988, 989, 992 und 993 (vgl. auch Nr. 1008) und bei Long/Sedley (LS) zusammen mit einer englischen Übersetzung unter den Nummern 38A–C und 38E zusammengestellt.



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Diodor die Auffassung zuschreibt, daß das und nur das, was bereits der Fall ist oder irgend­wann einmal der Fall sein wird, möglich ist und daß somit das, was weder schon der Fall ist noch jemals der Fall sein wird, unmöglich ist (vgl. §§ 12, 13, 17b). Anstelle der Auffassung, daß das, was bereits der Fall ist oder irgendwann einmal der Fall sein wird, notwendig ist, die Cicero ihm ebenfalls zuschreibt40, schreibt Boethius ihm die Auffassung zu, daß das und nur das, was der Fall ist und niemals nicht der Fall sein wird, notwendig ist, also das und nur das, was der Fall ist und immer der Fall sein wird.41 Daß Diodor diese und nicht die ihm von Cicero zugeschriebene Auffassung vertreten hat, wird man angesichts seiner Kompetenz als Logiker daraus schließen dürfen, daß diese Auffassung im Gegensatz zu derjenigen, die Cicero ihm zuschreibt, eine mit seiner Auffassung darüber, was möglich ist und was nicht, logisch äquivalente Auffassung darüber ist, was notwendig ist und was nicht.42 40 Daß Cicero Diodor nicht die Notwendigkeit von allem, was geschieht oder geschehen wird, sondern lediglich die Notwendigkeit von allem, was geschehen wird, behaupten läßt (vgl. § 13), ist eine bloße Nachlässigkeit, die er sich auch erlaubt, wenn er Diodor statt der Behauptung, daß nichts, was nicht geschehe und nicht geschehen werde, geschehen könne, die Behauptung in den Mund legt, daß nichts geschehen könne, was nicht geschehen werde (vgl. ebd.; siehe hierzu Long/Sedley I 1987: 234). 41 Vgl. FDS 988, LS 38C. 42 Wenn es genau dann möglich ist, daß p, wenn es der Fall ist oder irgendwann einmal der Fall sein wird, daß p (Mp ↔ Fp), ist es genau dann nicht möglich, daß nicht-p, und damit notwendig, daß p, wenn nicht gilt, daß es der Fall ist oder irgendwann einmal der Fall sein wird, daß nicht-p, wenn also gilt, daß es der Fall ist und immer der Fall sein wird, daß p (Np [:= ∼M∼p] ↔ Gp [:= ∼F∼p]); und wenn es genau dann notwendig ist, daß p, wenn es der Fall ist und immer der Fall sein wird, daß p (Np ↔ Gp), ist es genau dann nicht notwendig, daß nicht-p, und damit möglich, daß p, wenn nicht gilt, daß es der Fall ist und immer der Fall sein wird, daß nicht-p, wenn also gilt, daß es der Fall ist oder irgendwann einmal der Fall sein wird, daß  p (Mp  [:=  ∼N∼p]  ↔ Fp  [:=  ∼G∼p]). – Der Satzbuchstabe p vertritt einen

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Cicero scheint ebenso wie der Autor, auf dessen Zeugnis sich sein Bericht über die Modaltheorie Diodors stützt, verkannt zu haben, daß Diodor die Modalbegriffe der Möglichkeit und der Not­wendigkeit in einer Weise mit Hilfe temporaler Begriffe definiert hat, die den definitorischen Zusammenhang, der zwischen ihnen insofern besteht, als es genau dann möglich ist, daß p, wenn es nicht notwendig ist, daß nicht-p, und genau dann notwendig, daß p, wenn es nicht möglich ist, daß nicht-p (Mp ↔ ∼N∼p, Np ↔ ∼M∼p), bewahrt. Um die Richtigkeit seiner Definition des Möglichkeitsbegriffs zu beweisen, hat Diodor, was Cicero unerwähnt läßt, ein unter dem Namen κυριεύων λόγος, der gewöhnlich mit »Meisterargument« übersetzt wird, aber eigentlich »Herrscherargument« bedeutet, berühmt gewordenes Argument entwickelt. Von diesem Argument ist uns lediglich überliefert, und zwar durch den Stoiker Epiktet (ca. 55–135 n. Chr.), daß die beiden Sätze (P1)  »Alles, was wahr geworden ist, ist notwendig«43 beliebigen Aussagesatz, der sich, wie z. B. der Satz »Kypselos herrscht in Korinth« (vgl. De fato, § 13), auf eine unbestimmte Gegenwart bezieht und daher einer näheren zeitlichen Bestimmung bedarf. M und N dienen in der Bedeutung »Es ist (jetzt) möglich, daß …« bzw. »Es ist (jetzt) notwendig, daß …« als (temporalisierte) Modal­operatoren, F und G in der Bedeutung »Es ist (jetzt) der Fall oder wird irgendwann einmal der Fall sein, daß …« bzw. »Es ist (jetzt) der Fall und wird immer der Fall sein, daß …« als zeitlogische Zukunftsoperatoren und P und H, die weiter unten verwendet werden, in der Bedeutung »Es ist (jetzt) der Fall oder schon irgendwann einmal der Fall gewesen, daß (es wahr ist, daß) …« bzw. »Es ist (jetzt) der Fall und schon immer der Fall gewesen, daß (es wahr ist, daß) …« als zeitlogische Vergangenheitsoperatoren (zur Verwendung von G und H in der genannten Bedeutung vgl. Prior 1967: 68 und 178, § 7.2). 43 Der griechische Wortlaut der Prämisse P1 (πᾶν παρεληλυθὸς ἀληθὲς ἀναγκαῖόν ἐστιν) läßt es zu, sie in dem Sinne zu verstehen, daß alles, was bis einschließlich jetzt wahr geworden ist, (jetzt) notwendig ist, also nicht nur alles, was irgendwann einmal der Fall gewesen ist, sondern auch alles, was jetzt der Fall ist. Daß sie in diesem Sinne zu verstehen ist, wird man



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und (P2) »Aus etwas Möglichem folgt nichts Unmög­liches« in ihm als Prämissen dienen und daß der Satz (K) »Es gibt nichts Mögliches, was weder wahr ist noch wahr sein wird« seine Konklusion bildet.44 Die mutmaßliche Argumen­tation Diodors läßt sich am besten rekonstruieren, wenn man von der plausiblen Annahme ausgeht, daß mit P1 gemeint ist: »Alles, was der Fall ist oder schon irgendwann einmal der Fall gewesen ist, ist notwendigerweise der Fall oder schon irgendwann einmal der Fall gewesen« (Pα → NPα), mit P2: »Wenn notwendigerweise dann, wenn etwas bestimmtes Erstes der Fall ist, etwas unmögliches Zweites der Fall ist, ist auch jenes Erste unmöglich« (N(α → β) → (∼Mβ → ∼Mα)) und mit K: »Nichts ist möglich, was weder der Fall ist noch jemals der Fall sein wird« (∼Fp → ∼Mp).45 Vermutlich hat Diodor sein Beweisziel anhand des Beispiels der zukünftigen Herrschaft eines potentiellen Herrschers46 auf deshalb annehmen dürfen, weil Diodor sie andernfalls nur unter der Bedingung hätte benutzen können, daß die Zeit kein Kontinuum bildet, sondern diskret ist, was sein Argument in einem Punkt angreifbar gemacht hätte, in dem es in der Antike von niemandem angegriffen worden zu sein scheint. Bezeichnenderweise hielten es die Stoiker, nach deren Auffassung die Zeit nicht diskret ist, dem Zeugnis Epiktets zufolge aus anderen Gründen nicht für beweiskräftig (vgl. hierzu Weidemann 2008: 141, 2012: 42). 44 Vgl. FDS 993, LS 38A. In Long/Sedley I 1987 ist auf S. 231 in Z. 6 »something which« in »something possible which« zu korrigieren. Die Sätze P2 und K habe ich in Hülsers Über­setzung, den Satz P1 hingegen in meiner eigenen Übersetzung zitiert. 45 Die bei der Formalisierung der Prämissen P1 und P2 verwendeten Buchstaben α und β dienen als metasprachliche Variablen, die für Satzbuchstaben stehen und für Formeln, die (wie z. B. Fp oder P∼Fp) aus Satzbuchstaben und logischen Konstanten gebildet sind. Das »Folgen« (ἀκολουθεῖν) von etwas aus etwas anderem, von dem in der Prämisse P2 die Rede ist, ist im Sinne einer strikten Implikation zu verstehen, d. h. in dem Sinne, daß etwas notwendigerweise von etwas anderem impliziert wird. 46 Diesem Beispiel dürfte Diodors Argument seinen Namen verdanken. Mög-

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einem Weg zu erreichen versucht, der sich, wenn man seine Argumentation in der Weise verallgemeinert, daß man anstelle des Satzes, mit dem er sein Beispiel formuliert hat, den Satzbuchstaben p verwendet, in die folgenden Argumenta­ tionsschritte gliedern läßt47: (1) Wenn es weder der Fall ist noch jemals der Fall sein wird, daß  p, ist es wahr geworden (d.  h. wahr oder irgendwann einmal wahr gewesen), daß es weder der Fall ist noch jemals der Fall sein wird, daß p (∼Fp → P∼Fp). (2)  Wenn dies wahr geworden ist, ist es aber (aufgrund der Prämisse P1) notwendig, daß es wahr geworden ist, und somit unmöglich, daß es nicht wahr geworden ist (P∼Fp → NP∼Fp [:= ∼M∼P∼Fp]). (3) Wenn dies unmöglich ist, ist es aber (aufgrund der Prämisse P2) auch unmöglich, daß p (∼M∼P∼Fp → licherweise sollte sein Name aber nicht nur auf das vermutlich in ihm verwendete Herrscher-Beispiel hindeuten, sondern zugleich zum Ausdruck bringen, daß es in dem Sinne ein herrschendes Argument ist, daß man sich dem Zwang seiner Logik beugen und es als logisch korrekt anerkennen muß (vgl. Gaskin 1995: 221f.). 47 Die folgende Rekonstruktion der mutmaßlichen Argumentation Diodors geht in ihren Grundzügen auf Arthur Norman Prior, den Begründer der modernen Zeitlogik, zurück, von dessen Rekonstruktion sie sich lediglich darin unterscheidet, daß sie Diodor sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft als einen den gegenwärtigen Zeitpunkt mit ein­schließenden Zeitraum betrachten läßt und es ihm dadurch erspart, neben der unten erwähnten Zusatzprämisse P3 noch eine weitere zusätzliche Prämisse in Anspruch zu nehmen, auf die er nach Priors Rekonstruktion ebenfalls angewiesen wäre (vgl. Prior 1967: 32–34, 49). Zu dieser Modifikation der Rekonstruktion Priors und zur Verteidigung seiner Formalisierung der Konklusion des Arguments gegen die z. B. in Weidemann 1993 (vgl. 326f.) von mir vertretene Ansicht, in der von ihm verwendeten Formel sei Mp durch MFp (und folglich in der Formel, mit der er die Zusatzprämisse P3 wiedergibt, das erste Vorkommnis von p durch Fp) zu ersetzen, vgl. in Weidemann 2008 den Anhang »The Master Argument Reconsidered« (141–144) sowie Weidemann 2012: 39–47. Zu der hier vorgelegten Rekonstruktion vgl. auch Weidemann 2013: 82–88 und Schallenberg 2008: 17–22.



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∼Mp); denn es ist ja notwendigerweise dann, wenn es der Fall ist, daß p, nicht wahr geworden ist, daß es weder der Fall ist noch jemals der Fall sein wird, daß p. (4) Es ist folglich (wie die Konklusion K besagt), wenn es weder der Fall ist noch jemals der Fall sein wird, daß p, nicht möglich, daß p (∼Fp → ∼Mp). Wenn Diodor in dieser Weise argumentiert hat, gehört zu den Prämissen seines Arguments noch eine dritte, die Epiktet deshalb nicht zu erwähnen brauchte, weil das für die Stoiker un­antastbare logische Prinzip, daß jede Aussage zu jedem Zeitpunkt entweder wahr oder falsch ist, – das in der modernen Logik so genannte Bivalenzprinzip48 – es rechtfertigt, sie heran­zuziehen49, nämlich die Prämisse »Notwendigerweise ist es dann, wenn etwas der Fall ist, nicht wahr geworden, daß es weder der Fall ist noch jemals der Fall sein wird, sondern wahr und schon immer wahr gewesen, daß es der Fall ist oder irgendwann einmal der Fall sein wird« (N(p → HFp [:= ∼P∼Fp])). In einer dem Wortlaut der Sätze P1, P2 und K ent­sprechenden Formulierung würde diese Prämisse einfach lauten: (P3) »Daraus, daß etwas wahr ist, folgt, daß es nicht wahr geworden ist, daß es weder wahr ist noch wahr sein wird«. Diodors mutmaßliche Argumentation läßt sich nun präziser durch folgende Ableitung wieder­geben: 48 Vgl. zu diesem Prinzip den folgenden Abschnitt (4.3). In dem durch den Zusatz »zu jedem Zeitpunkt« präzisierten Sinne, in dem es als »temporalisiertes Prinzip der Bivalenz« be­zeichnet werden kann (vgl. Bobzien 1993: 64, Anm. 1), ist dieses Prinzip in der antiken Logik deshalb zu verstehen, weil ein antiker Logiker, wenn er von der Wahrheit oder der Falschheit einer Aussage spricht, im Unterschied zu einem modernen Logiker nicht eine zeitlose, sondern eine an die Zeit gebundene Wahrheit bzw. Falschheit meint (vgl. Bobzien 1986: 25f., 38, 125 [Anm. 20], Mayet 2010: 167). 49 Vgl. Sedley 1977: 98. Statt der Prämisse, die Epiktet unerwähnt läßt, bezeichnet Sedley die These, die durch die Konklusion des Meisterarguments negiert wird, als dessen dritte Prämisse (vgl. 1977: 97).

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(1) ∼Fp → P∼Fp (Theorem der Zeitlogik)50, (2) P∼Fp → ∼M∼P∼Fp (aus P1 [α/∼Fp] mit Hilfe der Regel, die Nβ definitionsgemäß durch ∼M∼β zu ersetzen erlaubt), (3) ∼M∼P∼Fp → ∼Mp (aus P2 [α/p, β/∼P∼Fp] und P3 mit Hilfe der Abtrennungsregel [modus ponens]),

(4) ∼Fp  → ∼Mp (aus (1), (2) und (3) mit Hilfe der Ketten­ schlußregel).

Cicero erwähnt zwar nicht das Meisterargument selbst, beruft sich aber bei seiner Kritik an der Art und Weise, in der sich Chrysipp mit der Modaltheorie Diodors auseinandersetzt, auf die These, die in diesem Argument als erste Prämisse fungiert, sowie auf eine Variante der These, die seine zweite Prämisse bildet, nämlich auf die These, daß das, was aus etwas Notwendigem folgt, auch seinerseits notwendig ist, wobei er darauf hinweist, daß Chrysipp zwar die erste, aber nicht die zweite dieser beiden Thesen als wahr anerkannte (vgl. §  14). Dieser Hinweis ist insofern aufschlußreich, als er auf plausible Weise zu erklären erlaubt, weshalb Cicero Diodor irrtümlich die Auffassung zuschreibt, alles, was der Fall ist oder irgendwann einmal der Fall sein wird, sei notwendig.51 Vermutlich geht Ciceros Bericht über die Modaltheorie Dio­ dors auf einen Gewährsmann zurück, der zu zeigen versuchte, daß man mit Hilfe des Meisterarguments die Richtigkeit der genannten Auffassung beweisen kann, wenn man seine Prä50 Ein zeitlogisches Theorem ist der Satz (1) natürlich nur dann, wenn die zeitlogischen Operatoren in der oben beschriebenen Bedeutung verwendet werden, in der sie sich in einer den Bezug zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit einschließenden Weise auf die Zukunft oder die Vergangenheit beziehen. 51 Zu anderen Erklärungsversuchen vgl. Sedley 1977: 99, 116 (Anm. 140), Schallenberg 2008: 125–127, Weidemann 2008: 143f., 2012: 46f.



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missen so modifiziert, daß sie folgende Gestalt annehmen: (P1′)  »Alles, was nicht falsch geworden ist, ist notwendig«, d. h.: »Alles, was der Fall ist und schon immer der Fall gewesen ist, ist notwendigerweise der Fall und schon immer der Fall gewesen« (Hα [:= ∼P∼α] → NHα), (P2′) »Was aus etwas Notwen­digem folgt, ist ebenfalls notwendig«, d.  h.: »Wenn notwendigerweise dann, wenn etwas not­wendiges Erstes der Fall ist, etwas bestimmtes Zweites der Fall ist, ist auch dieses Zweite notwendig« (N(α → β) → (Nα → Nβ)), (P3′) »Daraus, daß etwas wahr ist oder wahr sein wird, folgt, daß es nicht falsch geworden ist, daß es wahr ist oder wahr sein wird«, d. h.: »Notwendigerweise ist es dann, wenn etwas der Fall ist oder irgendwann einmal der Fall sein wird, wahr und schon immer wahr gewesen, daß es der Fall ist oder irgendwann einmal der Fall sein wird« (N(Fp → HFp [:= ∼P∼Fp])). Die aus dieser Modifikation seiner Prämissen resultierende Version des Meisterarguments – nennen wir sie die Notwendigkeitsversion oder kurz die N-Version dieses Arguments – läßt sich durch folgende Ableitung wieder­geben: (1) Fp  → HFp (aus P3′ mit Hilfe der Regel, die Nα zu α ab­ zuschwächen erlaubt), (2) HFp → NHFp (aus P1′ [α/Fp]), (3) NHFp → NFp (aus P2′ [α/HFp, β/Fp] und dem zeitlogischen Theorem N(HFp  → Fp)52 mit Hilfe der Abtrennungsregel [modus ponens]), (4) Fp → NFp (aus (1), (2) und (3) mit Hilfe der Kettenschluß­ regel). 52 In der abgeschwächten Form ∼Fp  → P∼Fp wird dieses mit N(∼Fp  → P∼Fp) logisch äquivalente Theorem auch in der ursprünglichen Fassung des Meisterarguments benutzt.

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Wenn man die Prämissen des Meisterarguments in der beschriebenen Weise modifiziert, erhält man zwar die gewünschte Konklusion (K′) »Alles, was der Fall ist oder irgendwann einmal der Fall sein wird, ist notwendig« (Fp → NFp)53; seine Prämissen in dieser Weise zu modifizieren ist jedoch nur im Falle der zweiten und der dritten zulässig, und zwar im Falle der zweiten deshalb, weil P2′ mit P2 logisch äquivalent ist, und im Falle der dritten deshalb, weil P3′ ebenso durch das Bivalenzprinzip legitimiert wird wie P3. Die Ersetzung von P1 durch P1′ ist unter den Voraussetzungen, von denen Diodor ausgeht, deshalb unzulässig, weil im Rahmen seiner Modaltheorie zwar P1, aber nicht P1′ wahr ist. Notwendig zu sein – genauer gesagt: jetzt notwendig zu sein – heißt dieser Theorie zufolge ja, von jetzt an immer der Fall zu sein; und es gilt zwar für alles, was jetzt der Fall ist oder schon irgendwann einmal der Fall war, daß es von jetzt an immer der Fall sein wird, daß es der Fall ist oder schon irgendwann einmal der Fall war (Pα → GPα), aber es gilt keineswegs für alles, was jetzt der Fall ist und schon immer der Fall war, daß es von jetzt an immer der Fall sein wird, daß es der Fall ist und schon immer der Fall war (Hα → GHα).54 Ciceros Gewährsmann für die Modaltheorie Diodors hat das Meisterargument offenbar aus der Perspektive einer Modal­ theorie betrachtet, die im Unterschied zu derjenigen Diodors die Antwort auf die Frage, was gegenwärtig möglich und was 53 Um die Konklusion K′ in Analogie zur Konklusion K (∼Fp  → ∼Mp) im Sinne von Fp  → Np verstehen zu können, müßte man in der N-Version des Meisterarguments anstelle des Theorems N(HFp → Fp) die zusätzliche Prämisse N(HFp → p) heranziehen, die jedoch offensichtlich falsch ist (vgl. Weidemann 2008: 142f., 2012: 45). 54 Was schon irgendwann einmal der Fall war, kann niemals aufhören, schon irgendwann einmal der Fall gewesen zu sein; was schon immer der Fall war, kann hingegen irgend­wann einmal aufhören, schon immer der Fall gewesen zu sein.



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gegenwärtig notwendig ist, nicht davon abhängig macht, was gegenwärtig der Fall ist und was in Zukunft der Fall sein wird, sondern davon, was zu jedem einzelnen Zeitpunkt auf den verschiedenen Wegen der Fall ist, auf denen sich die Welt unter den gegenwärtig gegebenen Umständen in Zukunft entwickeln kann und in der Vergangenheit entwickelt haben konnte. Nach dieser Theorie, der die Vor­stellung zugrunde liegt, daß in der Gegenwart für die zukünftige Entwicklung der Welt mehrere, den sich verzweigenden Ästen eines Baumes vergleichbare Wege offenstehen, die in der Vergangenheit einen gemeinsamen Verlauf hatten, ist das, was auf irgendeinem dieser Wege der Fall ist, war oder sein wird, gegenwärtig möglich und das, was auf jedem dieser Wege der Fall ist, war oder sein wird, gegenwärtig notwendig. Wie man sich leicht klarmachen kann, ist im Rahmen dieser Theorie nicht nur P1, sondern auch P1′ wahr. P1 und P1′ werden im Meisterargument und dessen N-Version allerdings in einer ganz speziellen Weise als Prämissen benutzt, nämlich so, daß sie auf den Fall ange­wandt werden, in dem es sich bei dem die Vergangenheit betreffenden Sachverhalt, der ihnen zufolge dann, wenn er besteht, notwendigerweise besteht, um den Sachverhalt handelt, daß eine auf die Zukunft bezogene Aussage bereits in der Vergangenheit wahr war. Ob es zutrifft, daß eine solche Aussage dann, wenn sie bereits in der Vergangenheit wahr war, notwendiger­weise wahr war, hängt davon ab, an welche Bedingung man die Wahrheit einer solchen Aussage knüpft. Knüpft man die Wahrheit einer zukunftsbezogenen Aussage lediglich an die Bedingung, daß das, was in ihr vorhergesagt wird, tatsächlich eintreffen wird, so trifft es nicht zu, daß jede zukunftsbezogene Aussage, die wahr war, notwendigerweise wahr war; denn unter der genannten Bedingung wahr gewesen zu sein heißt ja nicht, auf jedem der zum gegenwär-

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tigen Zeitpunkt möglichen Wege der Weltentwicklung wahr gewesen zu sein, sondern es heißt lediglich, auf demjenigen dieser Wege wahr gewesen zu sein, auf dem die Entwicklung der Welt tatsächlich weitergehen wird. Um notwendigerweise und damit auf jedem dieser Wege wahr gewesen zu sein – sei es irgendwann einmal oder schon immer –, muß eine zukunfts­ bezogene Aussage in der Weise wahr gewesen sein, daß sie zu jedem Zeitpunkt, zu dem sie wahr war, auf jedem der zu ihm möglich gewesenen Wege der Weltentwicklung wahr war, also in der Weise, daß sie zu jedem dieser Zeitpunkte notwendigerweise wahr war. Ihre Wahrheit muß somit an die Bedingung geknüpft sein, daß das, was in ihr vorhergesagt wird, nicht nur tatsächlich, sondern unter allen Umständen eintreffen wird. Man kann den Begriff der an diese stärkere Bedingung geknüpften Wahrheit als starken Wahrheitsbegriff und den Begriff der an jene schwächere Bedingung geknüpften Wahrheit als schwachen Wahrheits­begriff bezeichnen. Wie aus De fato deutlich hervorgeht, verbanden die Stoiker und die Epikureer mit der Rede davon, daß eine zukunftsbezogene Aussage wahr ist, den starken Wahrheitsbegriff, den, wie das neunte Kapitel seiner Schrift Peri hermeneias zeigt, bereits Aristoteles mit ihr verbunden hatte55, während die Neuakademiker den schwachen Wahr­heitsbegriff mit ihr verbanden, der offenbar auf sie zurückgeht und den Cicero von ihnen übernahm.56 55 Vgl. Weidemann 2014: 255–260, 2015: 199–202. 56 Zu der wichtigen Rolle, die der Unterschied zwischen diesen beiden Wahrheitsbegriffen in der hellenistischen Philosophie spielt, vgl. White 1983. – Groneberg will den starken Wahrheitsbegriff, den er irrtümlich mit dem »P-System« A. N. Priors in Verbindung bringt (vgl. 2009: 516f., 522f.), nicht nur vom schwachen Wahrheitsbegriff unterschieden wissen, sondern auch von einem von ihm so genannten »kausalen Wahrheitsbegriff« (2009: 522), unter dem er eine »Abart des starken Wahrheitsbegriffs« (ebd.) versteht, die im Unter­schied zu ihm die Wahrheit einer auf die Zukunft oder die



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Legt man den starken Wahrheitsbegriff zugrunde, so sind zwar P1 und P1′ auch in der speziellen Form wahr, in der sie behaupten, jede zukunftsbezogene Aussage, die irgendwann einmal bzw. schon immer wahr war, sei notwendigerweise irgendwann einmal bzw. schon immer wahr gewesen; aber P3 und P3′ sind dann falsch. Denn daß es notwendigerweise dann, wenn es der Fall ist, daß p, bzw. notwendigerweise dann, wenn es der Fall ist, daß Fp, bis jetzt schon immer wahr war, daß Fp, trifft ja nur dann zu, wenn bis jetzt schon immer wahr gewesen zu sein nicht heißt, bis jetzt zu jedem Zeitpunkt auf jedem der zu ihm möglich gewesenen Wege der Weltentwicklung wahr gewesen zu sein, sondern lediglich, bis jetzt zu jedem Zeitpunkt auf demjenigen der zum jetzigen Zeitpunkt möglichen Wege der Welt­entwicklung wahr gewesen zu sein, der sich in Zukunft Vergangenheit bezogenen Aussage nicht an die Bedingung knüpft, daß es auf jedem der zum gegenwärtigen Zeitpunkt möglichen Wege der Weltentwicklung so sein wird bzw. so gewesen ist, wie sie aussagt, sondern an die Bedingung, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon Ursachen dafür vorhanden sind, daß es so sein wird, wie sie aussagt, bzw. noch Wirkungen davon, daß es so gewesen ist, wie sie aussagt, wobei die zweite dieser beiden Bedingungen zwar im Falle zukunftsbezogener, aber nicht auch im Falle vergangenheitsbezogener Aussagen genau dann erfüllt ist, wenn die erste erfüllt ist (vgl. ebd.; zu dem nach C.  S.  Peirce benannten zeitlogischen System P, in dem anstelle des starken Wahrheitsbegriffs ein starkes Futur benutzt wird [»Es wird der Fall sein, daß …« := »Es wird unter allen Um­ständen der Fall sein, daß …«], vgl. Weidemann 2014: 321–324). In der irrigen Annahme, für den starken Wahrheitsbegriff gelte zwar nicht »prospektiv«, aber »in Retrospektive«, daß eine zukunftsbezogene Aussage »immer schon wahr war« (2009: 523), unterstellt Groneberg Cicero zu Unrecht, er attackiere bei seiner Kritik am Wahrheitsverständnis der Stoiker und der Epikureer »nicht einen starken Wahrheitsbegriff im Allgemeinen, sondern speziell einen kausalen« (ebd.). Für den von Groneberg als »kausal« bezeichneten Wahrheitsbegriff kann man sich allenfalls auf Jan Łukasiewicz berufen, dem Groneberg ihn auch zuschreibt (vgl. 2009: 522); den Philosophen der Antike war er offensichtlich fremd.

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nach und nach als der wirkliche erweisen wird, also nur dann, wenn bis jetzt schon immer wahr gewesen zu sein heißt, bis jetzt schon immer im schwachen Sinne dieses Wortes wahr gewesen zu sein. P3 und P3′ sind also nur dann wahr, wenn die Rede vom Wahrsein einer Aussage im Sinne des schwachen, P1 und P1′ hingegen nur dann, wenn sie im Sinne des starken Wahrheitsbegriffs verstanden wird. Das Meisterargument ist somit ebenso wie seine N-Version unbeschadet der Tatsache, daß es logisch korrekt ist, also unbeschadet der Tatsache, daß seine Konklusion logisch aus seinen Prämissen folgt, aus der Sicht der beschriebenen Modaltheorie deshalb nicht beweis­ kräftig, weil seine erste und seine dritte Prämisse im Rahmen dieser Modaltheorie nicht beide wahr sein können.57 Die Idee einer in eine Vielzahl möglicher Wege verzweigten Entwicklung der Welt ist in der modernen Logik die Leitidee des kombinierten zeit- und modallogischen Systems, das man erhält, wenn man das modallogische System S5 mit einem zeitlogischen System kom­biniert, das für die Vergangenheit eine lineare und für die Zukunft eine nichtlineare zeitliche Struktur voraussetzt.58 In der antiken Philosophie läßt sich diese Idee 57 Was das in der ursprünglichen Version des Meisterarguments benutzte Theorem ∼Fp → P∼Fp betrifft, so ist es nur dann mit HFp → Fp logisch äquivalent, wenn mit den Worten »Es ist wahr gewesen, daß …« gemeint ist: »Es ist im schwachen Sinne wahr gewesen, daß …«. Ist mit diesen Worten gemeint: »Es ist im starken Sinne wahr gewesen, daß …« (d. h. »Es ist der Fall gewesen, daß es notwendigerweise im schwachen Sinne wahr ist, daß …«), so verliert es in der Form ∼Fp → P∼Fp seine Gültigkeit und bleibt nur noch in der Form HFp → Fp gültig, in der es, verstärkt zu N(HFp → Fp), in der N-Version des Meisterarguments benutzt wird. 58 Die auch kurz KZM-Logik genannte kombinierte Zeit- und Modallogik befaßt sich mit Modalaussagen, in denen nicht von einer zeitlos bestehenden Möglichkeit oder Not­wendigkeit die Rede ist, sondern von einer Möglichkeit oder einer Notwendigkeit, die insofern an die Zeit gebunden ist, als es zu jedem Zeitpunkt von den zu ihm gegebenen Umständen abhängt,



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zwar nicht als eine Idee nachweisen, die jemals ausdrücklich formuliert worden wäre; mit ihrer Hilfe lassen sich jedoch, was die Frage nach den Bedingungen für die Wahrheit einer Aussage und den Bedingungen für die Möglichkeit und die Notwendigkeit des in einer Aussage ausgesagten Sachverhalts anbelangt, sowohl die Auffassung des Aristoteles, als auch, soweit sie uns bekannt sind, die Auffassungen der führenden Denker der hellenistischen Zeit so gut nach­vollziehen, daß die Annahme naheliegt, daß sich diese Philosophen, ohne sie zu thematisieren und sich den Einfluß, den sie auf ihr Denken gehabt zu haben scheint, bewußt zu machen, an ihr orientiert haben.59 Was Chrysipp betrifft, so konnte er, wenn er seine Modaltheorie unter dem Einfluß dieser Idee entwickelt hat, im Geob sie zu ihm besteht oder nicht. Gegenstand dieser Logik sind also weder die Modalitäten der logischen noch die Modalitäten der analytischen (oder seman­tischen) Möglichkeit und Notwendigkeit, sondern die Modalitäten der physischen (oder temporalisierten) Möglichkeit und Notwendigkeit. Zur KZM-Logik im einzelnen vgl. Kreter 2006: 28–37 sowie Weidemann 2007: 215–217, 2014: 251–255. 59 Vgl. die Abbildungen am Ende des vorliegenden Abschnitts. – Zum mutmaßlichen Ein­fluß der genannten Idee auf Aristoteles vgl. Weidemann 2014: 251–260, 2015: 199–202. Die von Mayet in kritischer Absicht gestellte Frage, inwieweit sich diese Idee »ver­einbaren lässt mit der für die Stoiker bezeugten Auffassung der immer wiederkehrenden, bis in die letzte Einzelheit exakt gleich verlaufenden Weltzyklen von einer ἐκπύρωσις zur nächsten« (2010: 23), ist leicht zu beantworten: Sie läßt sich mit dieser Auffassung in der Gestalt vereinbaren, die sie erhält, wenn man die verschiedenen möglichen Wege der Welt­entwicklung sozusagen als Rundwege betrachtet, die alle zu ihrem gemeinsamen Aus­gangspunkt zurückführen, so daß nach jedem der in gleichen zeitlichen Abständen wiederkehrenden Weltbrände von diesem Punkt aus die gleiche tatsächliche Entwicklung der Welt von neuem stattfindet und die gleichen möglichen Entwicklungen der Welt von neuem stattfinden können. Zu dem Vorschlag, die fragliche Idee im Hinblick auf die stoische Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen in dieser Weise zu modifizieren, vgl. White 1980b: 294.

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gensatz zu Diodor die erste Prämisse des Meisterarguments nicht nur in ihrer ursprünglichen Form P1, sondern auch in ihrer modifizierten Form P1′, also in der Form Hα  → NHα, akzeptieren. Denn in dieser Form, in der sie im Rahmen der Modal­theorie Diodors besagt, daß es dann, wenn es bis jetzt immer der Fall war, daß α, von jetzt an zu jedem Zeitpunkt der Fall sein wird, daß es bis zu ihm immer der Fall war, daß  α, besagt sie im Rahmen einer an der genannten Idee orientierten Modaltheorie, daß es dann, wenn es bis jetzt immer der Fall war, daß α, jetzt auf jedem der zum jetzigen Zeitpunkt möglichen Wege der Weltentwicklung der Fall ist, daß es bis jetzt immer der Fall war, daß α. Mit den für die Stoiker überlieferten Definitionen der Modalbegriffe, nach denen der in einer Aussage A ausgesagte Sachverhalt S (a) genau dann möglich ist, wenn A das Wahrsein zuläßt und nicht durch äußere Umstände daran gehindert wird, wahr zu sein, (b) genau dann unmöglich, wenn A das Wahrsein nicht zuläßt oder durch äußere Umstände daran gehindert wird, wahr zu sein, (c) genau dann notwendig, wenn A das Falschsein nicht zuläßt oder durch äußere Umstände daran gehindert wird, falsch zu sein, und (d) genau dann nicht notwendig, wenn A das Falschsein zuläßt und nicht durch äußere Umstände daran gehindert wird, falsch zu sein60, ist diese Lesart der These P1′ gut vereinbar. Denn es bietet sich an, diese Definitio­nen so zu interpretieren, daß es sich erstens bei A um eine Aussage handelt, die sich – sofern sie nicht unabhängig 60 Die Kenntnis dieser Definitionen verdanken wir Diogenes Laertios (FDS 914 [75], LS 38D) und Boethius (FDS 988). Zu den einschlägigen Texten vgl. Frede 1974: 107–114, Bobzien 1986: 44a, 45–49, 1993: 76f., 1998: 112f. – Genaugenommen sind es nach stoischer Auffassung die (von den Stoikern axiōmata genannten) Aussagen selbst, die möglich, unmöglich usw. sind, nämlich in dem Sinne, daß es für sie möglich, unmöglich usw. ist, wahr zu sein (vgl. Bobzien 1986: 50f.).



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von äußeren Umständen allein aufgrund ihrer Form oder ihres Inhalts wahr oder falsch ist – entweder als eine Aussage der Form (i) »Es ist (jetzt) der Fall, daß p« auf den gerade gegenwärtigen Zeitpunkt t bezieht, zu dem das Bestehen von S behauptet wird, oder als eine Aussage einer der beiden Formen (ii) »Es war (irgendwann/immer) der Fall, daß p« und (iii) »Es wird (irgendwann/immer) der Fall sein, daß p« auf den Zeitraum vor t oder den Zeitraum nach t, daß zweitens mit der Rede davon, daß A das Wahr- oder das Falschsein zuläßt, gemeint ist, daß die Bedingungen dafür, daß A wahr bzw. falsch ist, auf­grund der Form und des Inhalts von A erfüllbar sind, und daß drittens unter den äußeren Umständen, die A am Wahrsein oder am Falschsein hindern oder nicht hindern, Umstände zu verstehen sind, die zu t gegeben sind und die es dann, wenn S zu t unmöglich oder notwendig ist, verhindern und dann, wenn S zu t möglich oder nicht notwendig ist, nicht verhindern, daß A zu t wahr bzw. falsch ist, die es also verhindern bzw. nicht verhindern, daß es (i) zu t der Fall bzw. nicht der Fall ist, (ii) vor t der Fall bzw. nicht der Fall war oder (iii) nach t der Fall bzw. nicht der Fall sein wird, daß p. Wenn sie im Sinne dieser Interpretation zu verstehen sind, tionen der Modalbegriffe, was besagen die stoischen Defini­ ihren jeweiligen zweiten Teil betrifft, dasselbe wie die Defi­ nitionen, mit denen man heute die Begriffe der an die Zeit gebundenen physischen (oder temporalisierten) Modalitäten zu bestimmen pflegt. Die Rede davon, daß im Falle einer Aus­sage A, die aufgrund ihrer Form und ihres Inhalts sowohl wahr als auch falsch sein kann, die zum Zeitpunkt t gegebenen Umstände es nicht verhindern, daß A zu t (a) wahr oder (d) falsch ist, läßt sich in die Rede davon übersetzen, daß A (a) auf irgend­ einem bzw. (d) nicht auf jedem der Wege, die unter den zu t gegebenen Umständen für die Entwicklung der Welt möglich sind, zu t wahr ist, und die Rede davon, daß die zu t gegebenen

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Umstände es ver­hindern, daß A zu t (b) wahr oder (c) falsch ist, in die Rede davon, daß A (b) auf keinem bzw. (c) auf jedem dieser Wege zu t wahr ist. Die hier vorgelegte Interpretation der fraglichen Definitionen konkurriert mit einer Inter­pretation, nach der diese Definitionen in folgendem Sinne zu verstehen sind: Der Sachverhalt S ist zum Zeitpunkt t (a) genau dann möglich und (d) genau dann nicht notwendig, wenn die Aussage A es zuläßt, daß sie irgendwann wahr bzw. falsch ist, und wenn sie zum Zeitpunkt t oder zu irgendeinem späteren Zeitpunkt nicht durch äußere Umstände daran gehindert wird, zu ihm wahr bzw. falsch zu sein; und er ist zum Zeitpunkt t (b) genau dann unmöglich und (c) genau dann notwendig, wenn die Aussage A es nicht zuläßt, daß sie jemals wahr bzw. falsch ist, oder wenn sie zum Zeitpunkt t und zu jedem späteren Zeitpunkt durch äußere Umstände daran gehindert wird, zu ihm wahr bzw. falsch zu sein.61 Sollten die fraglichen Definitionen in diesem Sinne zu verstehen sein, gäbe es zwischen der Modaltheorie der Stoiker und derjenigen Diodors eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit. Auch nach der stoischen Theorie hätten dann nämlich die Bedingungen dafür, daß der in einer Aussage aus­gesagte Sachverhalt gegenwärtig eine bestimmte Modalität besitzt (also gegenwärtig mög­lich, unmöglich, notwendig oder nicht notwendig ist), einen anderen Bezug zur Zeit als die Bedingungen dafür, daß die betreffende Aussage gegenwärtig einen bestimmten Wahrheits­wert besitzt (also gegenwärtig wahr oder falsch ist). Denn im Un61 Vorgelegt wurde diese Interpretation, die Jedan und Schallenberg übernommen haben (vgl. Jedan/Strobach 2002: 46, Schallenberg 2008: 133), von Bobzien (vgl. 1993: 76–80, 1998: 112–116), die mit ihr stillschweigend eine früher von ihr vorgelegte Interpretation modi­fiziert (vgl. Bobzien 1986: 72–100, bes. 99f.). Die logischen Formeln, mit denen sie ihre Interpretation in Bobzien 1993 (80) formalisiert hat, sind in Bobzien 1998 (115, Anm. 43) und in Jedan/Strobach 2002 (46) teilweise fehlerhaft wiedergegeben.



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terschied zu den aus­schließlich auf die Gegenwart bezogenen Bedingungen für die gegenwärtige Wahrheit oder die gegenwärtige Falschheit einer Aussage würden sich die Bedingungen für die gegen­wärtige Möglichkeit oder die gegenwärtige Notwendigkeit eines Sachverhalts dann auch nach der Theorie der Stoiker nicht allein auf den gegenwärtigen Zeitpunkt beziehen, sondern auf den die Gegenwart und die Zukunft umfassenden Zeitraum.62 Dies hätte zur Folge, daß auch aus stoischer Sicht nicht bei jeder vergangenheitsbezogenen Aussage der Form Hα, bei der die Bedingungen für ihre Wahrheit erfüllt sind, auch die Bedingungen für die Notwendigkeit des in ihr ausgesagten Sachverhalts erfüllt wären, so daß die These P1′ auch in den Augen der Stoiker falsch wäre. Diese Interpretation wird nur scheinbar durch die Begründung gestützt, mit der sich Chrysipp nach dem Zeugnis des Aristoteles-Kommentators Alexander von Aphrodisias weigerte, die im Meisterargument als zweite Prämisse fungierende These P2, die Alexander als ein von Aristoteles aufgestelltes und bewiesenes modallogisches Gesetz gegen ihn ver­teidigt63, als ein solches Gesetz anzuerkennen. Wie das Beispiel der (strikten) Implikation »Wenn Dion gestorben ist, ist dieser gestorben« zeige, soll Chrysipp argumentiert haben, könne aus etwas Möglichem sehr wohl etwas Unmögliches folgen. Denn zu Dions Lebzeiten sei diese Implikation unter der Voraussetzung, daß sich das Demonstrativpronomen »dieser« auf Dion beziehe, zwar wahr und das, was ihr (falscher) Vordersatz be62 Vgl. Bobzien 1993: 79 (Anm. 36), 1998: 115 (Anm. 43). 63 Aristoteles hat die These P2 im ersten Buch seiner Ersten Analytik aufgestellt und bewiesen (Anal. pr. I 15, 34 a 5–12; vgl. zu diesem Text Ebert/ Nortmann 2007: 41f. [Übersetzung] und 543–548 [Kommentar]). In den sogenannten normalen Systemen der modernen Modallogik ist die These P2 ein mit Hilfe ihrer Variante P2′, die ein Axiom dieser Systeme ist, beweisbares Theorem.

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sagt, auch möglich, da es ja irgendwann einmal wahr werden könne, daß Dion gestorben ist; aber das, was ihr (eben­falls falscher) Nachsatz besagt, sei unmöglich, da die zu Dions Lebzeiten mit ihm gemachte Aussage infolge dessen, daß das Pronomen »dieser« seinen Bezugsgegenstand verliere, wenn Dion sterbe, mit Dions Tod zugrunde gehe.64 Offenbar ließ sich Chrysipp, wenn er in dieser Weise argumentiert hat, von der Über­legung leiten, daß die Aussage, die zu Dions Lebzeiten mit dem unter Bezugnahme auf Dion geäußerten Satz »Dieser ist gestorben« gemacht wird, im Unterschied zu der zu Dions Leb­zeiten mit dem Satz »Dion ist gestorben« gemachten Aussage, die es zuläßt, daß sie einmal wahr wird, und die auch nicht durch äußere Umstände daran gehindert wird, einmal wahr zu werden, es nicht zuläßt, daß sie jemals wahr wird. Diese fragwürdige Überlegung, die nur vor dem Hintergrund der esoterischen Aussagentheorie der Stoiker verständlich ist65, vermag die erwähnte Interpretation der stoischen Definitionen der Modalbegriffe deshalb nicht zu stützen, weil Chrysipp mit ihr an diesen Definitionen unter der Hand eine Änderung vor­nimmt, ohne die er den Versuch, die These P2 durch ein Gegenbeispiel zu widerlegen, gar nicht hätte unternehmen können. Seine Überlegung unterstellt näm64 Vgl. FDS 994, LS 38F. Der Text, der Alexanders Referat enthält (vgl. zu diesem Referat Frede 1974: 48f., 56, 87f., 116, Bobzien 1986: 18f., 105–112, Wildberger 2006: I 174, II 732, Mayet 2010: 130–132), hat Parallelen in drei von späteren Autoren stammenden Texten, die Hülser unter den Nummern 995, 996 und 997 in seine Sammlung auf­genommen hat. – Bobzien sieht ihre Interpretation der stoischen Definitionen der Modal­begriffe durch die von Alexander referierte Argumentation Chrysipps bestätigt (vgl. 1993: 79, 1998: 114f.). 65 Vgl. zu dieser Theorie die Anmerkungen zu § 1a. – Das von Chrysipp angeführte Bei­spiel, das Long und Sedley als ein »ingenious counter-example« gegen die These P2 be­zeichnen (Long/Sedley I 1987: 236), hat diese Bezeichnung nicht verdient, da es kein wirkliches (geschweige denn ein geniales) Gegenbeispiel gegen diese These ist.



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lich, daß den Definitionen (a) und (b) zufolge nicht das Vermögen oder Unvermögen einer Aussage, wahr zu sein, und die Ab- oder Anwesenheit äußerer Hindernisse dafür, daß sie wahr ist, darüber entscheiden, ob der in ihr ausgesagte Sachverhalt möglich oder unmöglich ist, sondern ihr Vermögen oder Unvermögen, wahr zu sein oder irgendwann einmal wahr zu werden, und die Ab- oder An­wesenheit äußerer Hindernisse dafür, daß sie wahr ist oder irgendwann einmal wahr wird. In welchem Sinne auch immer Chrysipp die genannten Definitionen verstanden wissen wollte, er glaubte es jedenfalls nur dadurch vermeiden zu können, die von ihm für falsch gehaltenen Thesen K und K′, die durch das Meisterargument und dessen N-Version bewiesen werden sollen, als wahr anerkennen zu müssen, daß er die Wahrheit der zweiten Prämisse dieses Arguments bestritt.66 Epikur hingegen, den seine Verachtung für die Logik davon abgehalten zu haben scheint, zu diesem Argument ausdrücklich Stellung zu nehmen, ging der Sache nach einer Anerkennung der offenbar auch von ihm mißbilligten Thesen K und K′ da­durch aus dem Weg, daß er sich weigerte, die Prämisse P3 und deren Variante P3′ zu akzep­tieren.67 66 Daß Chrysipp diese Prämisse nicht als wahr anerkannte (genauer gesagt: daß er die Allgemeingültigkeit der These bestritt, die sie darstellt), wissen wir sowohl durch Epiktet, der sie in der Form P2 erwähnt (vgl. FDS 993, LS 38A), als auch durch Cicero, von dem sie in der Form P2′ erwähnt wird (vgl. De fato, § 14). Die Ansicht, der die Konklusion K und ihre Variante K′ Ausdruck verleihen, bezeichnet Cicero, der dabei Chrysipp direkt anspricht, als »die euch (Stoikern) so verhaßte Meinung Diodors« (De fato, § 13). 67 Daß Epikur, den Cicero einen Verächter der Logik nennt (vgl. Ac. II [Lucullus] 97), diesen Standpunkt vertrat, läßt sich der Kritik entnehmen, die Cicero, nachdem er dargelegt hat, wie die beiden Thesen K und K′ seiner Meinung nach zu verstehen sind, mit den Worten an ihm übt: »Epikur bräuchte nämlich, wenn er zugäbe, daß jede Aussage entweder wahr oder falsch ist, deshalb nicht zu befürchten, daß notwendigerweise alles durch das Schicksal geschieht« (§ 19).

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Cicero selbst hält die beiden Thesen K und K′ für harmlos, da er sie in einem Sinne versteht, in dem sie auf die für jemanden, der nur den schwachen Wahrheitsbegriff gelten läßt, ­triviale Behauptung hinauslaufen, daß eine auf einen zukünftigen ­Zeitpunkt bezogene Aussage dann, wenn sie durch das, was zu diesem Zeitpunkt der Fall sein wird, wahr gemacht wird, ebenso bis zu diesem Zeitpunkt schon immer wahr gewesen sein muß, wie eine auf einen vergangenen Zeitpunkt bezogene Aussage dann, wenn sie durch das, was zu diesem Zeitpunkt der Fall gewesen ist, wahr gemacht wird, von diesem Zeitpunkt an für immer wahr sein muß (vgl. §§ 17b, 18a, 20a). Es liegt auf der Hand, daß diese Deutung der beiden fraglichen Thesen, die sie aus ihrem logischen Zusammenhang mit den Prämissen, von denen sie jeweils abhängen, herauslöst, ihren Sinn verfehlt. Cicero hat nicht nur die beiden Thesen K und K′ mißdeutet, sondern er ist auch insofern einem Mißverständnis erlegen, als er nicht durchschaut hat, daß die Modaltheorie Diodors aufgrund ihrer Eigenart nur die erste dieser beiden Thesen zu beweisen erlaubt und daß die zweite, die zu beweisen auch gar nicht in Diodors Absicht lag, im Rahmen seiner Modal­theorie sogar falsch ist. Im Rahmen dieser Theorie, die das, was zu einem gegebenen Zeit­punkt notwendig ist, als das definiert, was von dem betreffenden Zeitpunkt an immer der Fall sein wird, besagt die These K′ ja, daß es, wenn etwas jetzt der Fall ist oder irgendwann ein­mal der Fall sein wird, von jetzt an immer der Fall sein wird, daß es der Fall ist oder irgend­wann einmal der Fall sein wird (Fp → GFp), was keineswegs zutrifft.68 68 Nach Sedley läßt sich die These K′ mit Diodors Definition des Notwendigkeitsbegriffs in Einklang bringen, wenn man diese Definition so interpretiert, daß ihr zufolge ein Aus­sagesatz, der sich auf einen bestimmten zukünftigen Zeitpunkt bezieht, genau dann etwas Notwendiges aussagt,



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Die von Cicero verkannte Eigenart der Modaltheorie Dio­ dors, die bereits von dem Autor, dem Cicero seine Kenntnis dieser Theorie verdankt, und überhaupt von den Philosophen der hellenistischen Zeit verkannt worden zu sein scheint, besteht darin, daß diese Theorie voraus­setzt, daß es zu jedem Zeitpunkt nur einen einzigen Weg gibt, auf dem sich die Welt weiter­entwickeln kann, nämlich denjenigen, auf dem sie sich tatsächlich weiterentwickeln wird. Die einzelnen Stationen dieses Weges spielen in Diodors Modaltheorie dieselbe Rolle, die dieser Weg als solcher zusammen mit einer Reihe alternativ zu ihm möglicher Wege in einer Theorie spielt, die auf der Voraussetzung beruht, daß zu jedem Zeitpunkt für die weitere Ent­wicklung der Welt mehrere Wege offenstehen, die bis zu diesem Zeitpunkt gemeinsam ver­laufen sind und sich von ihm an verzweigen.69 Nicht das ist nach Diodor zu einem gegebewenn er vom Zeitpunkt seiner Äußerung bis zu diesem Zeitpunkt immer wahr bleibt (vgl. 2005: 247). Gegen diese Interpretation spricht jedoch, daß Diodors Definitionen der Modalbegriffe, nach denen der Unterschied zwischen Mög­lichkeit und Notwendigkeit darin besteht, daß genau das möglich ist, was in Sätzen aus­gesagt wird, die wahr sind oder irgendwann einmal wahr sein werden, und genau das notwendig, was in Sätzen ausgesagt wird, die wahr sind und immer wahr sein werden, offenbar voraussetzen, daß die Sätze, auf deren Wahrheit in ihnen Bezug genommen wird, zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Wahrheitswerte haben können. Da nur zeitlich unbestimmte Aussagesätze ihren Wahrheitswert mit der Zeit ändern können, will Diodor seine Definitionen der Modalbegriffe offenbar nur auf das angewandt wissen, was in solchen Sätzen ausgesagt wird, so daß es sich verbietet, sie auch auf das, was in zeitlich bestimmten Sätzen ausgesagt wird, anzuwenden (vgl. Weidemann 2012: 46, Anm. 30). 69 Die Ansicht, daß die einzelnen Stationen des Weges, auf dem sich die Welt tatsächlich weiterentwickeln wird, bei Diodor die fragliche Rolle spielen, dürfte seiner Modaltheorie besser gerecht werden als die von mir in Weidemann 2008 (144; vgl. 2012: 42, 47, 2013: 87) vertretene Ansicht, daß diese Rolle bei ihm den einzelnen Zeitpunkten zufällt, zu denen die einzelnen Stationen dieses Weges erreicht werden.

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nen Zeitpunkt möglich, was unter der Voraussetzung, daß es zu dem betreffenden Zeitpunkt eine Vielzahl solcher Wege gibt, auf irgendeinem von ihnen zu diesem Zeitpunkt der Fall ist, vor ihm der Fall war oder nach ihm der Fall sein wird, sondern möglich ist nach Diodor zu einem gegebenen Zeitpunkt das, was auf dem wirklichen Weg der Weltentwicklung zu dem betref­fenden Zeitpunkt der Fall ist oder zu irgendeinem späteren Zeitpunkt der Fall sein wird. Unter der Voraussetzung, daß es nur einen einzigen möglichen Weg der Weltentwicklung gibt, nämlich den wirklichen, sind die Prämissen des Meisterarguments zwar alle zusammen wahr, so daß dieses Argument im Rahmen der Modaltheorie Diodors nicht nur logisch korrekt, sondern auch beweiskräftig ist; damit, daß seine Beweiskraft an die genannte Voraus­ setzung gebunden ist, ist sie aber an die Voraussetzung gebunden, daß die Entwicklung der Welt streng determiniert ist. Diodor, der kein erklärter Determinist war, da er die deter­ ministische Auffassung, alles, was in Zukunft geschehen wird, werde notwendigerweise ge­schehen, die Cicero ihm zuschreibt (vgl. De fato, § 13), nicht vertreten hat und auf der Grundlage seiner Definitionen der Modalbegriffe auch gar nicht hätte vertreten können, war also insofern ein Determinist malgré lui, als seine Modaltheorie auf der von ihm offenbar nicht hinlänglich durchschauten deterministischen Voraussetzung beruht, daß die Zukunft ebenso wie die Vergangenheit eine lineare zeitliche Struktur aufweist. Da Chrysipp davon überzeugt war, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal ge­schieht, mag es verwunderlich erscheinen, daß er sich dagegen sträubte, die angeblich von Diodor vertretene Auffassung zu teilen, daß nicht nur alles Vergangene notwendigerweise geschehen ist, sondern daß auch alles Zukünftige notwendigerweise geschehen wird. Wie vor allem im vierten Abschnitt von De fato deutlich wird, in dem wir über ihn



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erfahren, er habe, »um sowohl der Notwendigkeit entrinnen als auch am Schicksal festhalten zu können« (§ 41), verschiedene Arten von Ursachen unterschieden, wollte er um keinen Preis zu »denjenigen« gehören, »die das Schicksal so ins Spiel bringen, daß sie ihm die Notwendigkeit beigesellen« (§ 42). Die von den Gegnern der stoischen Lehre als inkonsistent empfundene Konzeption eines, wie man sagen könnte, notwendigkeitsfreien Schicksals war für die Stoiker selbst deshalb nicht widersprüchlich, weil sie die Welt und das, was in ihr geschieht, sozusagen durch eine Bifokalbrille betrachteten, die sie das Weltgeschehen einerseits aus der Ferne, d. h. aus einer umfassenden, göttlichen Perspektive, und andererseits aus der Nähe, d. h. aus einem eingeschränkten, menschlichen Blickwinkel, sehen ließ. Aus der göttlichen Perspektive betrachtet, präsentierte sich ihnen die Entwicklung der Welt als eine Abfolge von Welt­zuständen, von denen jeder durch die ihm vorhergehenden Zustände bis ins kleinste Detail kausal determiniert ist und daher notwendigerweise auf sie folgt; aus der menschlichen Per­spektive betrachtet, die den kausalen Zusammenhang dessen, was sich unmittelbar vor unseren Augen abspielt, mit dem Weltgeschehen im ganzen unserem Blick weitgehend ent­ zieht, stellten sich hingegen bestimmte einzelne Abläufe von Ereignissen als indeterminiert und nicht notwendig für sie dar, so daß sie die Auffassung vertreten konnten, daß zwar in einer gewissen Hinsicht alles, aber in einer gewissen anderen Hinsicht nicht alles, was durch das Schicksal geschieht, mit Notwendigkeit geschieht.70 Der einen dieser beiden Hinsichten 70 Vgl. Long 1971: 176f., Long/Sedley I 1987: 393, Jedan/Strobach 2002: 48–56, Schallen­berg 2008: 128–136, Jedan 2009: 31–48, 183 (Anm. 26). Um den stoischen Standpunkt, zu dessen Erläuterung Long die Metapher der »bifocal lenses« (1971: 176) gebraucht, richtig zu verstehen, muß man also zwei Arten von Modalbegriffen unterscheiden, nämlich die Begriffe der auf die Gesamtheit des Weltgeschehens bezogenen »universalen« (oder »totalen«)

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entspricht die Vorstellung einer linearen, der anderen die Vorstellung einer verzweigten Zukunft. In seiner Schrift über die Weissagung verleiht Cicero der Vorstellung einer linearen Zu­kunft dadurch Ausdruck, daß er Quintus im Namen der Stoiker den Ablauf der Zeit, durch den zukünftige Ereignisse früher oder später zu gegenwärtigen und schließlich zu vergan­genen Ereignissen werden, mit dem Abrollen eines aufgerollten Seils vergleichen läßt (vgl. De div. I 127). Das stoische Bild des sich nach und nach entrollenden Seils ist ein Bild für den wirklichen Weg in die Zukunft, zu dem es für Chrysipp nur aus einer eingeschränkten Perspektive, die nicht die Gesamtheit der für ein Geschehen kausal relevanten Faktoren be­rücksichtigt, sondern von einem gewissen Teil dieser Faktoren abstrahiert, Alternativen gibt und der für Diodor der einzig mögliche Weg in die Zukunft ist. Für Epikur und für Karneades ist dieser Weg ebenso wie für Aristoteles nur einer von mehreren möglichen Wegen in die Zukunft, von denen jeder die Chance hat, der wirkliche zu werden, ohne bereits in der Gegen­wart der wirkliche zu sein. Er ist für sie also ein Weg, der nie als ganzer wirklich ist, sondern von dem immer nur ein Teil, der freilich immer größer wird, wirklich geworden ist. Bei Karneades, dessen Standpunkt sich Cicero in De fato Modalitäten und die Begriffe der auf einer Abstraktion von einem gewissen Teil des Weltgeschehens beruhenden »abstraktiven« (oder »partialen«) Modalitäten (vgl. Jedan/Strobach 2002: 50, Schallenberg 2008: 135). Unklar ist, ob die stoischen Definitionen der Modalbegriffe speziell auf die abstraktiven Modalitäten zugeschnitten sind, wie Jedan annimmt (vgl. Jedan/ Strobach 2002: 55), oder ob sie auch die universalen Modalitäten erfassen sollen. Jedenfalls ist es, wie Jedan in Auseinandersetzung mit der gegenteiligen Ansicht Bobziens (vgl. Bobzien 1998: 136–139) gezeigt hat, nicht der Unterschied zwischen logischen und physischen Modalitäten, den sich die Stoiker bei ihrem Versuch, Schicksal und Nichtnotwendigkeit miteinander zu vereinbaren, zunutze machten (vgl. Jedan/Strobach 2002: 48–50).



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zu eigen macht, genießt dieser Weg insofern eine Sonderstellung, die er bei Aristoteles und Epikur nicht besitzt, als er bei ihm auch diejenigen Aussagen über die Zukunft bereits in der Gegenwart als wahr oder als falsch zu bewerten erlaubt, die sich auf kontingent-zukünftige Ereignisse beziehen, d.  h. auf Ereignisse, die weder mit Notwendigkeit eintreten noch mit Notwendigkeit ausbleiben, sondern sowohl eintreten als auch ausbleiben können. Die beschriebenen vier Standpunkte lassen sich folgendermaßen veranschaulichen:



Aristoteles, Epikur

Diodor



Chrysipp

Karneades, Cicero

4.3 Dritter Abschnitt (§§ 20b–38): Die Prinzipien der Kausalität und der Bivalenz Mit der Logik Chrysipps setzt sich Cicero auch noch im dritten Abschnitt auseinander. Im Vordergrund seiner Auseinandersetzung mit ihr steht in diesem Abschnitt allerdings der Zusammenhang, der zwischen ihr und der Naturphilosophie

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Chrysipps besteht. Logik und Naturphilosophie hängen bei Chrysipp insofern eng zusammen, als er die für diese beiden Teilgebiete der Philosophie grundlegenden Prinzipien, nämlich das Bivalenzprinzip, dem zufolge jede Aussage genau einen der beiden Wahrheitswerte hat, also entweder wahr oder falsch ist, und das Kausalitätsprinzip, dem zufolge alles, was geschieht, eine Ursache hat, in einer Form für gültig hält, in der sie sich, was die Wahrheit oder Falschheit von Aussagen über einzelne Ereignisse betrifft, gegenseitig bedingen. Daß jede auf ein bestimmtes Ereignis bezogene Aussage entweder wahr oder falsch ist, heißt nach seinem Verständnis des Bivalenzprinzips nämlich, daß jede derartige Aussage in dem starken Sinne schon immer entweder wahr oder falsch war, daß ihre Wahrheit oder Falschheit darauf beruht, daß es entweder für das Eintreten oder für das Ausbleiben des Ereignisses, auf das sie sich bezieht, schon immer eine Ursache gab; und daß alles, was geschieht, eine Ursache hat, heißt nach seinem Verständnis des Kausalitätsprinzips, daß alles, was geschieht, in dem starken Sinne verursacht ist, daß es schon immer eine Ursache hatte, daß es also durch die Glieder einer Ursachenkette verursacht ist, die sich endlos in die Vergangenheit erstreckt. Cicero, der bestreitet, daß die beiden Prinzipien in der starken Form gültig sind, in der Chrysipp sie für gültig hält, erkennt sie nur in einer schwächeren Form als gültig an, nämlich das Bivalenzprinzip in einer Form, in der es zuläßt, daß eine auf ein bestimmtes Ereignis bezogene Aussage schon immer wahr oder falsch war, ohne daß es schon immer eine Ursache gegeben haben müßte, die sie wahr oder falsch gemacht hätte, und das Kausalitätsprinzip in einer Form, in der es zuläßt, daß ein Geschehen verursacht ist, ohne daß es durch eine endlose Reihe aufeinanderfolgender Ursachen verursacht wäre. Wenn Cicero erklärt: »Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob eine natürliche Ursache es von Ewigkeit her wahr macht, daß das



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in Zukunft Geschehende geschehen wird, oder ob sich auch das, was in Zukunft geschieht, ohne daß es von Ewigkeit her natürliche Ursachen hätte, als etwas verstehen läßt, für das gilt, daß es wahr ist, (daß es geschehen wird)« (§ 32a), so beschreibt er damit die Meinungsverschiedenheit, die in der Frage nach der Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen zwischen Chrysipp auf der einen Seite und Karneades, dem er sich in dieser Frage anschließt, auf der anderen Seite besteht. Im Gegensatz zu Chrysipp, nach dessen Ansicht eine auf die Zukunft bezogene Aussage nur dann wahr ist, wenn Ursachen vorliegen, die bewirken und damit garantieren, daß das, was in ihr vorhergesagt wird, eintreffen wird, vertritt Karneades die von Cicero gebilligte Auffassung, daß die Wahrheit einer solchen Aussage lediglich an die Bedingung geknüpft ist, daß das Vorhergesagte tatsächlich eintreffen wird. Wahr zu sein heißt also für Chrysipp, im Sinne des starken, für Karneades hingegen, im Sinne des schwachen der beiden Wahrheitsbegriffe wahr zu sein, die bei der Analyse von Diodors Meisterargument einander gegenübergestellt wurden. Von Karneades hat Cicero nicht nur seinen schwachen Wahrheitsbegriff und sein auf diesem Wahrheitsbegriff beruhendes Verständnis des Bivalenzprinzips übernommen, sondern auch sein Verständnis des Kausalitätsprinzips. Daß es »keine Bewegung ohne Ursache gibt« (§§ 20b, 23b), wie dieses Prinzip besagt, daß also nichts ohne Ursache geschieht, heißt nach der von ihm geteilten Auffassung des Karneades nicht, daß alles, was geschieht, »aufgrund von Ursachen« geschieht, »die von Ewigkeit her das Zukünftige bestimmen« (§ 21b). Bereits im vorangehenden Abschnitt hatte er darauf hingewiesen, daß beispielsweise die Aussage »Karneades wird zur Akademie hinabgehen« zwar »nicht aufgrund ewiger, aus Naturnot­ wendigkeit entspringender Ursachen wahr ist«, aber »dennoch nicht ohne Ursachen« (§  19), daß keine Ursachen zu haben,

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die Glieder einer ewigen Ursachenkette sind, also nicht heißt, überhaupt keine Ursachen zu haben. Daß Karneades, den er hier lediglich als Beispiel anführt, sein Gewährsmann ist, macht er im vorliegenden Abschnitt an einer Stelle deutlich, an der er unter Berufung auf ihn die Epikureer mit den Worten kritisiert: »Denn wenn sie zugeben würden, daß es keine Bewegung ohne Ursache gibt, müßten sie ja deswegen nicht auch zugeben, daß alles, was geschieht, durch (ihm äußerliche und ihm) vorhergehende Ursachen geschieht« (§ 23b). Was Cicero veranlaßt, die Kritik, die er am Ende des zweiten Abschnitts (§§  18b–20a) an Epikur geübt hat, im dritten Abschnitt wiederaufzunehmen und weiterzuführen, ist der Um­stand, daß seiner Ansicht nach bereits Epikur die beiden Prinzipien der Bivalenz und der Kausalität so verstanden hat wie Chrysipp, nämlich so, daß sie mit dem Glauben an das Schicksal stehen und fallen. In den Augen Ciceros gehen Epikur und Chrysipp zwar insofern von einer gemeinsamen Voraussetzung aus, als sie beide davon überzeugt sind, daß sowohl das Bivalenzprinzip als auch das Kausalitätsprinzip dann und nur dann gültig ist, wenn es das, was die Stoiker Schicksal nennen, gibt; aber sie ziehen in seinen Augen aus dieser Über­ zeugung unterschiedliche Konsequenzen: Während Chrysipp, da er an das Schicksal glaubt, an beiden Prinzipien festhält und seinen Glauben an das Schicksal sogar unter Berufung auf die Gültigkeit des Bivalenzprinzips zu rechtfertigen versucht (vgl. §§ 20b–21b, § 26a), bestreitet Epikur, da er nicht an das Schicksal glaubt, daß die beiden Prinzipien uneingeschränkt gültig sind (vgl. §§ 18b, 19, 21b, 22). Dadurch, daß Cicero die beiden Prinzipien im Anschluß an Karneades in einem Sinne versteht, in dem sie unabhängig davon gültig sind, ob es das Schicksal gibt oder nicht, sieht er sich in der Lage, in Übereinstimmung mit Chrysipp und abweichend von Epikur ohne Einschränkung an ihnen festzuhalten



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und zugleich in Überein­stimmung mit Epikur und abweichend von Chrysipp darauf zu verzichten, an das Schicksal zu glauben. Was Epikur betrifft, so scheint Cicero ihn allerdings insofern falsch eingeschätzt zu haben, als er zwar das Bivalenzprinzip, aber nicht auch das Kausalitätsprinzip, wie Cicero ihm in Anlehnung an Karneades unterstellt, in einem fatalistischen Sinne verstanden zu haben scheint.71 Ciceros Kritik an Epikur richtet sich vor allem gegen die für die epikureische Atomtheorie charakteristische Lehre von der Bahnabweichung der Atome, über die wir, da uns von Epikur selbst keine Äußerung zu ihr überliefert ist, leider nur aus zweiter Hand informiert sind.72 Nach Epikur gibt es schlechterdings nichts, was nicht entweder ein Körper wäre oder die einen Körper umgebende Leere, wobei jeder Körper entweder selbst ein Atom (d. h. ein unteilbarer Elementarkörper) ist oder ein Körper, der aus Atomen aufgebaut ist. Da die Atome nach seiner Theorie durch ihr Gewicht in eine Bewegung versetzt werden, die sie auf parallel verlaufenden Bahnen mit derselben Geschwindigkeit durch den leeren Raum fallen läßt, ist nach den Zeugnissen, die uns über seine Lehre von der atomaren Bahn­abweichung informieren, zweierlei für ihn erklärungsbedürftig, nämlich einerseits, wie es möglich ist, daß die Atome so miteinander in Berührung kommen, daß zusammengesetzte Körper aus ihnen entstehen, und andererseits, wie es möglich ist, daß der rationale Teil der menschlichen Seele, der ebenso aus Atomen besteht wie der Leib des Menschen und der vernunftlose Teil seiner Seele, sich so bewegt, daß seine Bewegung den Vollzug eines freien Willensaktes darstellt. 71 Näheres hierzu in den Anmerkungen zu §§ 22–25. 72 Zu dieser Lehre und der in der Forschung umstrittenen Frage, welche Rolle sie für Epikur bei dem Versuch spielt, die Freiheit des menschlichen Willens zu erklären, vgl. Schallen­berg 2008: 172–187.

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Um beides erklären zu können, schrieb Epikur unseren Quellen zufolge den Atomen die Fähigkeit zu, gelegentlich ganz spontan geringfügig von ihrer Bahn abzuweichen. Nach Cicero, der in De fato lediglich den Versuch Epikurs erwähnt, mit Hilfe seiner Abweichungs­theorie die Möglichkeit freier Willensakte zu erklären73, ist es »seine Befürchtung, es gäbe, wenn ein Atom immer nur aufgrund der ihm mit Naturnotwendigkeit zukommenden Schwere dahinflöge, keine Freiheit für uns Menschen, da sich unser Geist dann so bewegen würde, wie er durch die Bewegung der Atome dazu gezwungen würde«, die »Epikur dazu bewog, diese Theorie aufzustellen« (§  23a). Cicero hält diese Theorie vor allem deshalb für verfehlt, weil sie seiner Meinung nach die Verwerfung des Kausalitätsprinzips nach sich zieht und damit auch die Verwerfung des Prinzips, daß nichts aus dem Nichts entstehen kann (vgl. §§ 18b, 22). In seine Kritik an Chrysipp hat Cicero einen Exkurs eingeflochten, in dem er über ein gegen den Schicksalsglauben der Stoiker gerichtetes Argument, das uns unter der Bezeich­nung 73 Diesen Versuch erwähnt Cicero auch in De nat. deor. I 69. Wenn er Epikur dort behaupten läßt, »ein Atom weiche, wenn es aufgrund seines Gewichts und seiner Schwere in gerader Richtung nach unten falle, ein wenig (von seiner Bahn) ab« (atomum, cum pondere et gravitate directo deorsus feratur, declinare paululum), so unterstellt er ihm damit keines­wegs, wie Maso meint (vgl. 2005: 260–262, 266; 2008: 87, 103; 2012: 136f.), die in sich widersprüchliche Ansicht, ein Atom bewege sich ständig geradlinig abwärts und weiche zugleich ständig von seiner Bahn ab, sondern er schreibt ihm in Übereinstimmung mit Lukrez, dessen einschlägige Verse er sicherlich vor Augen hatte (vgl. Maso 2008: 83f.), die Auffassung zu, daß ein Atom bei seiner geradlinigen Abwärtsbewegung zu un­bestimmten Zeiten und an unbestimmten Orten – also, auch wenn er dies nicht aus­drücklich sagt, nur gelegentlich – minimal von seiner geraden Bahn abweicht. Von dem Versuch Epikurs, mit Hilfe der Abweichungstheorie die Entstehung zusammen­ gesetzter Körper zu erklären, ist bei Cicero in De fin. I 19f. die Rede.



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»Untätigkeitsargument« überliefert ist, und den Versuch Chrysipps, es zu widerlegen, berichtet (§§ 28b–30). Nachdem er anschließend über den von Karneades unternommenen Versuch berichtet hat, dieses Argument durch ein besseres Argument zu ersetzen, nimmt er das von Karneades vorgebrachte Argument zum Anlaß, den Stoikern gegenüber noch einmal die Auffassung der Neuakademiker zu verteidigen, daß das Bivalenzprinzip unabhängig davon gültig ist, ob alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht, daß seine Gültigkeit also nicht an die Voraussetzung gebunden ist, daß alles, was geschieht, aufgrund von Ur­sachen geschieht, die dem verursachten Geschehen als Glieder einer endlos langen Ursachen­kette vorhergehen und es damit vorhersehbar und vorhersagbar machen (§§ 31–33). Die Ursachenketten, die nach Ansicht der Stoiker alles, was gegenwärtig geschieht, und alles, was in Zukunft geschehen wird, mit allem, was in der Vergangenheit geschehen ist, kausal verknüpfen, sind in vielen Fällen, wie Cicero in §§ 34–37a zu zeigen versucht, gar keine Ketten von Ursachen im eigentlichen Sinne dieses Wortes. Ihre Glieder sind nämlich in vielen Fällen keine Ereignisse, die sich so zueinander verhalten, daß das Stattfinden eines jeden von ihnen als die Erfüllung einer hinreichenden Bedingung dafür, daß das nächste statt­findet, das Stattfinden des nächsten notwendigerweise bewirkt, sondern Ereignisse, die sich lediglich so zueinander verhalten, daß das Stattfinden eines jeden von ihnen als die Erfüllung einer notwendigen Bedingung dafür, daß das nächste stattfindet, ein mögliches Hindernis für das Stattfinden des nächsten beseitigt. Mit einer harschen Kritik an Epikurs Einschränkung der ­Gültigkeit des Bivalenzprinzips und des mit ihm logisch äquivalenten Prinzips, daß von den Gliedern eines jeden kontra­ diktorischen Aussagenpaares das eine wahr und das andere falsch ist (§§ 37b–38), schließt der dritte Abschnitt.

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Einführung 4.4 Vierter Abschnitt (§§ 39–45): Die Zustimmungslehre Chrysipps

Im vierten Abschnitt setzt sich Cicero mit dem seiner Meinung nach mißlungenen Versuch Chrysipps auseinander, den Glauben an die allumfassende Macht des Schicksals mit dem Glauben an die Freiheit des menschlichen Willens in Einklang zu bringen. Daß der Mensch auch dann imstande ist, freie Willensakte zu vollziehen, wenn alles, was geschieht, durch das Schicksal und damit aufgrund vorhergehender Ursachen geschieht, versucht Chrysipp da­durch zu zeigen, daß er erläutert, wie die These, daß alles, was geschieht, aufgrund vorher­ gehender Ursachen geschieht, genau zu verstehen ist. Den Worten zufolge, mit denen Cicero ihn in § 41 zitiert, unterscheidet Chrysipp zwei Arten von Ursachen, von denen er nicht die erste, sondern die zweite meint, wenn er davon spricht, daß alles, was geschieht, aufgrund »vorhergehender Ursachen« (causae antecedentes) geschieht. Bei den Ursachen der ersten Art handelt es sich um »vollendete, nämlich dem Rang nach als erste wirksame Ursachen« (causae perfectae et principales), bei den Ursachen der zweiten Art hingegen um »mit­helfende, nämlich dem Rang nach als nächste wirksame Ursachen« (causae adiuvantes et proximae). Chrysipp will die fragliche These also nicht in dem Sinne verstanden wissen, daß alles, was geschieht, aufgrund vorhergehender Ursachen geschieht, die als vollendete etwas in primärer Weise bewirken, sondern in dem Sinne, daß alles, was geschieht, aufgrund vorher­gehender Ursachen geschieht, die als mithelfende etwas in sekundärer Weise bewirken. Was die beiden Paare von Ausdrücken, mit denen Cicero die von Chrysipp unterschie­denen Arten von Ursachen bezeichnet, genau bedeuten, welchen griechischen Ausdrücken sie entsprechen und ob es tatsächlich nur zwei Arten von Ur-



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sachen sind, die mit ihnen bezeichnet werden sollen, oder womöglich vier, ist eine schwierige und in der Forschung umstrittene Frage.74 Der Bericht, den uns Cicero in den Paragraphen 41–43 darüber gibt, wie Chrysipp die fragliche Unterscheidung auf den Fall der Verursachung eines Willensaktes anwendet, legt es nahe, sie folgendermaßen zu interpretieren: Chrysipp unterscheidet nicht vier, sondern zwei Arten von Ursachen, und zwar in der Weise, daß er zu ihrer Bezeichnung zwei Paare von Ausdrücken verwendet, von denen je­weils der erste durch den zweiten näher bestimmt wird. Jede Ursache, die zu einer dieser beiden Arten gehört, ist insofern auf eine oder mehrere Ursachen der jeweils anderen Art an­gewiesen, als eine vollendete Ursache nur zusammen mit mindestens einer mithelfenden Ur­sache und eine mithelfende Ursache nur zusammen mit genau einer vollendeten Ursache eine Wirkung hervorbringen kann. Sowohl vollendete als auch mithelfende Ursachen können also immer nur als Teilursachen einer Gesamtursache wirksam sein, wobei sie je nachdem, ob sie vollendet oder mithelfend sind, den entscheidenden Beitrag oder nur einen untergeordneten Beitrag zur Wirksamkeit dieser Gesamtursache leisten. Genauer gesagt, ist jede Ursache, die zu einer der beiden genannten Arten gehört, eine für sich allein notwendige und zusammen mit einer oder mehreren Ursachen der jeweils anderen Art hinreichende Bedingung dafür, daß eine bestimmte Wirkung zustande kommt, für deren Zustandekommen sie dann, wenn es sich bei ihr um eine vollendete Ursache handelt, in erster Linie und dann, wenn es sich bei ihr 74 Zu dieser Frage und den verschiedenen Antworten, die auf sie gegeben wurden, vgl. Frede 1980: 234–246 (1987: 138–147), Görler 1987, Long/Sedley I 1987: 341f., Schröder 1989: 209–221, 1990: 8f., 24–26, 153f., Sharples 1991: 198–201, Sedley 1993: 322–324, Bob­zien 1999: 204–206, 224–236, Schallenberg 2008: 240–251, Mayet 2010: 184–188, Koch 2011: 415–421, Maso 2014: 16–20, 164–166.

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um eine mithelfende Ursache handelt, in zweiter Linie verantwortlich ist. Was nun die Verursachung des Willensaktes betrifft, den man vollzieht, wenn man eine bestimmte Handlung ausführen will, so besteht ein solcher Willensakt nach Chrysipp darin, daß man der Vorstellung zustimmt, die man von der betreffenden Handlung hat. Diese Vorstellung ist also eine der beiden Ursachen, die zusammenwirken müssen, damit der in der Zustimmung zu ihr bestehende Willensakt zustande kommt. Für diesen Willensakt ist sie aber keine rangmäßig als erste wirksame, sondern nur eine rangmäßig als nächste wirksame Ursache, und zwar diejenige rangmäßig als nächste wirksame Ursache, die an ihn »unmittel­bar angrenzt« (§ 44), die also das letzte Glied einer Kette sekundär wirksamer Ursachen bildet, die dem verursachten Willensakt vorhergehen und ihn daher zu einem vom Schicksal bestimmten Akt machen. Auf die Frage, welcher kausale Faktor beim Prozeß der Verursachung eines Willensaktes die Rolle der primär wirksamen Ursache spielt, gibt Chrysipps Erläuterung dieses Prozesses, die Cicero in §  43 zitiert, zwar keine ausdrückliche Antwort; Aufschluß in dieser Frage gibt jedoch die Art und Weise, in der Chrysipp die »Bewegung des Geistes«, als die Cicero den Vollzug eines Willensaktes beschreibt (vgl. §§ 23b, 25, 39, 48), mit der Bewegung einer rollenden Walze und der Bewegung eines sich drehenden Kreisels vergleicht (vgl. §§ 42–43). Dieser Vergleich, über den nicht nur Cicero in De fato, sondern auch Aulus Gellius (2. Jh. n. Chr.), der allerdings die Drehbewegung eines Kreisels unerwähnt läßt, in seinen Noctes Atticae berichtet75, ist offenbar folgendermaßen zu verstehen: Wie dafür, daß 75 Der Bericht des Gellius ist in FDS 998, in LS 62D und in Sharples’ Appendix C (1991: 96–100) wiedergegeben. Zu den beiden Berichten vgl. Bobzien 1998: 258–271.



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eine Walze rollt und ein Kreisel sich dreht, der äußere Anstoß, der sie in Bewegung versetzt, als Sekundär­ursache und ihre »Natur« (§  42) – d.  h. ihre geometrische Form – als Primär­ ursache verant­wortlich ist, so ist für den Vollzug des Willensaktes, den ich vollziehe, wenn ich der Vorstellung zustimme, die ich von einer bestimmten Handlung habe, diese Vorstellung als Sekundär­ursache und die »Natur« meines Geistes76 – d. h. meine Sinnes- und Wesensart, also mein Charakter – als Primär­ ursache verantwortlich. Ein Willensakt kommt nach Chrysipp somit durch das Zusammenwirken zweier kausaler Faktoren zustande, von denen der entscheidende ihn, auch wenn ihn der andere zu einem vom Schicksal bestimmten Akt macht, zu einem Akt macht, den der Mensch, der ihn vollzieht, aus eigenem Antrieb und damit frei vollzieht. Mit der Auffassung, daß Willensakte in einer Weise vom Schicksal bestimmt sind, die ihren Vollzug nicht notwendig macht, sondern zuläßt, daß sie frei vollzogen werden, hat Chrysipp nach Cicero einen Kompromiß zwischen zwei miteinander konkurrierenden an­deren Auffassungen zu finden versucht, nämlich einen Kompromiß zwischen der determi­nistischen Auffassung, daß Willensakte in einer Weise vom Schicksal bestimmt sind, die ihren Vollzug notwendig macht und daher 76 So, wie Cicero ihn zitiert, drückt sich Chrysipp insofern ungenau aus, als er, statt zu sagen, der menschliche Geist werde sich, nachdem er (durch eine Vorstellung) von außen ange­stoßen worden ist, aufgrund seines eigenen Wesens und seiner eigenen Natur bewegen, sagt: »die Zustimmung … wird sich …, nachdem sie von außen angestoßen worden ist, … aufgrund ihres eigenen Wesens und ihrer eigenen Natur bewegen« (§ 43 [vgl. hierzu Marwede 1984: 233, Schallenberg 2008: 247, Anm. 511]). Im Lateinischen wird die Ungenauigkeit dieser Ausdrucksweise dadurch gemildert, daß das Wort assensio nicht nur »Zustimmung« bedeuten kann, sondern auch »Zustimmungsvermögen«: »Die Verbal­substantive auf -io können auch den Begriff der Art und Weise, der Fähigkeit oder Möglichkeit, etwas zu tun, enthalten« (Burkard/Schauer 2012: 9).

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nicht zuläßt, daß sie frei vollzogen werden, und der libertarischen Auffassung, daß Willensakte frei vollzogen werden und daher in keiner Weise vom Schicksal bestimmt sind (vgl. § 39).77 In Ciceros Augen ist Chrysipp mit seinem Ver­such, zwischen den Vertretern dieser beiden Auffassungen zu vermitteln, gescheitert, da es ihm nicht gelungen ist, die von ihm gebilligte Ansicht der Libertarier, daß Willensakte nicht notwendigerweise, sondern frei vollzogen werden, zu übernehmen, ohne zusammen mit der von ihm ebenfalls gebilligten Ansicht der Deterministen, daß Willensakte vom Schicksal bestimmt sind, ungewollt auch die von ihm mißbilligte deterministische Ansicht zu über­nehmen, daß Willensakte so vom Schicksal bestimmt sind, daß das Schicksal ihren Vollzug notwendig macht (vgl. ebd.). Die Behauptung, Chrysipp habe den menschlichen Willen bei dem Versuch, dem Schicksal eine Macht über ihn einzuräumen, die ihn nicht dem Zwang der Notwendigkeit unterwirft, sondern seine Freiheit bewahrt, ungewollt der Notwendigkeit preisgegeben und seiner Frei­ heit beraubt, wird von Cicero in dem erhalten gebliebenen Teil des vierten Abschnitts nirgendwo begründet. Da er sie wohl kaum unbegründet gelassen hat, wird man annehmen dürfen, daß in dem in der Lücke C verlorengegangenen Schlußteil des vierten Abschnitts eine Begründung für sie zu finden war. Vermutlich hat Cicero dort in der Weise an die Kritik angeknüpft, die er im ersten Abschnitt (§§  7–11a) an der Sympathielehre Chrysipps übt, daß er Chrysipp vorgeworfen hat, unseren Charakter von den Einflüssen auf seine Beschaffenheit, die von unserer Veranlagung und unserer Umwelt ausgehen, so sehr abhängig gemacht zu haben, daß die wiederum von unserem Charakter abhängigen 77 Zu den Bezeichnungen dieser beiden Auffassungen vgl. Schallenberg 2008: 14f., 221–225.



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Willensakte, die wir vollziehen, keine frei vollzogenen Akte unseres Willens sein können.78 Des näheren dürfte Cicero seine Kritik an dem von Chrysipp unternommenen Vermitt­ lungsversuch etwa folgendermaßen begründet haben: Die Freiheit, die Chrysipp unserem Willen dadurch einräumt, daß er für unsere Willensakte in erster Linie die Beschaffenheit unseres Charakters verantwortlich macht, hebt er gegen seine Absicht dadurch wieder auf, daß er für die Beschaffenheit unseres Charakters in erster Linie kausale Faktoren verant­wortlich macht, die uns äußerlich sind, was er allerdings dadurch verschleiert, daß er die Ursachen, auf die nach seiner das Weltgeschehen im ganzen berücksichtigenden Sympathie­lehre die Beschaffenheit des menschlichen Charakters letztlich zurückzuführen ist, in seiner Zustimmungslehre, die von den Auswirkungen der im Kosmos herrschenden Sympathie auf den Charakter und das Verhalten des Menschen abstrahiert, völlig ausblendet. Chrysipp verkennt, daß unsere charakterliche Beschaffenheit insofern, als sie für unsere Willensakte die Primärursache ist, ihrerseits in dem Beitrag, den wir selbst zur Bildung und Entwicklung unseres Charakters 78 Vgl. hierzu Philippson 1934: 1036f., Eisenberger 1979: 165–169, Donini 1989: 140–144, Schröder 1990: 146–152, Sharples 1991: 21f., 165f., 193f., 1995: 256, Sedley 1993: 321–325, Weidemann 2003: 121f., Schallenberg 2008: 293f. – »The Stoics«, bemerkt Long, »are at one with Aristotle in relating the concept of human action to moral character. Actions meriting praise or blame are the results of conscious choice, and what men choose depends upon their character. But the Stoics also argue that character itself cannot be isolated from the law of cause and effect. The moral history of a man includes not only, with Aristotle, all his deliberate acts but also the inherited nature and external causes which help to form his character« (1971: 193). »Unlike Aristotle the Stoics recognise that ›causes beyond those in us‹ (EN III 1113b 17ff.) must be accorded a place in establishing the moral character« (1971: 188; vgl. 187: »an act of will is not independent of character and the causes which go to form that«).

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leisten, ihre Primärursache hat. Wie er das Zustandekommen eines Willensaktes darauf zurückführt, daß die charakterliche Beschaffenheit des Menschen, der ihn vollzieht, als seine Primärursache mit einer Vorstellung zusammenwirkt, die das letzte Glied einer Kette sekundär wirksamer Ursachen bildet, so hätte er die charakterliche Be­schaffenheit, die ein Menschen besitzt, ihrerseits darauf zurückführen sollen, daß der Um­gang des betreffenden Menschen mit den an der Bildung seines Charakters beteiligten äußerlichen Einflüssen als ihre Primärursache mit diesen lediglich als Sekundärursachen fungierenden äußerlichen Einflüssen zusammenwirkt. Was den Prozeß der Verursachung eines Willensaktes betrifft, so sind die Worte, mit denen Cicero in §  43 Chrysipps ­Erläuterung dieses Prozesses zitiert, den Worten sehr ähnlich, mit denen er in § 25 referiert, wie Karneades diesen Prozeß erläutert. Auch an dieser Stelle wird die »Bewegung des Geistes«, die der Vollzug eines Willensaktes darstellt, mit der Bewegung eines Körpers verglichen, der sich aufgrund seiner eigenen Natur bewegt, wobei dieser Ver­gleich ebenso wie in § 43 insofern ungenau formuliert ist, als im Falle des sich bewegenden (d. h. etwas wollenden und damit der Vorstellung von dem, was er will, zustimmenden) Geistes statt von seiner Natur von der Natur seiner Bewegung die Rede ist.79 Mit der in § 25 referierten Aussage, wie für die Bewegung eines Atoms dessen »Natur«, die »von der Art« sei, »daß es sich aufgrund seines Gewichts und seiner Schwere bewegt«, die Ursache sei, so sei auch für eine freie Willensbewegung unseres Geistes ihre ­»Natur«, die »von der Art« sei, »daß sie in unserer Macht steht und uns Gehorsam leistet«, die Ursache, scheint Karneades auf den ersten Blick im wesentlichen dasselbe zu meinen wie Chrysipp mit der in § 43 zitierten Aussage, so, wie eine Walze, die einen 79 Vgl. Marwede 1984: 176f.



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äußeren Anstoß bekommen habe, »aufgrund ihrer eigenen Natur« (suapte natura: § 42) rolle, werde sich auch unsere Zustimmung zu einer Vorstellung, nachdem sie von dieser »angestoßen« worden sei, »im übrigen aufgrund ihres eigenen Wesens und ihrer eigenen Natur (suapte vi et natura) bewegen« und somit »in unserer Macht stehen«.80 Nun hat Karneades, dem sich Cicero mit seiner Kritik an Chrysipp anschließt, allerdings eine ganz andere Auffassung von der Freiheit des menschlichen Willens als Chrysipp. Das, was er nach dem Referat Ciceros sagt, muß daher in einem anderen Sinne zu verstehen sein als das, was Chrysipp dem Zitat Ciceros zufolge sagt. Da Karneades wiederholt hervorhebt, daß es für die Bewegungen unseres Willens zwar eine Ursache gibt, aber keine Ursache, die unserem Willen äußerlich wäre (vgl. §§ 23b–25), kann man den Unterschied zwischen dem von ihm und dem von Chrysipp vertretenen Standpunkt folgendermaßen beschreiben81: Mit der Rede davon, daß eine freie Willensbewegung unseres Geistes »eine ihr eigene Natur von der Art hat, daß sie in unserer Macht steht und uns Gehorsam leistet« (§ 25), meint Karneades nicht nur – wie Chrysipp, wenn er davon spricht, daß unsere Zustimmung zu einer Vor­stellung in unserer Macht steht –, daß wir Macht über unsere Willensakte haben, sondern er meint damit im Gegensatz zu Chrysipp auch und vor allem, daß wir die Macht, die wir über unsere Willensakte haben, nicht dem Schicksal verdanken und damit Ursachen, die außerhalb von uns liegen, sondern uns selbst. Was uns frei wollen läßt, was wir wollen, ist nach Karneades ein Wille, der einem Charak­ter entspringt, den wir uns selbst geschaffen haben, nach Chrysipp hingegen ein Wille, der auf 80 Vgl. Donini 1989: 141f. Zu dem Ausdruck suapte vi et natura vgl. Marwede 1984: 234. 81 Vgl. hierzu Donini 1989: 142f., Sharples 1991: 177, 2012: 61f.

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einem Charakter beruht, den letztlich äußere Umstände zu dem gemacht haben, was er ist. In den Augen des Karneades und auch in Ciceros Augen wäre die Freiheit unseres Willens, wenn sie mit der Fähigkeit einer von außen angestoßenen Walze, von sich aus zu rollen, und der Fähigkeit eines von außen angestoßenen Kreisels, sich von sich aus zu drehen, vergleichbar wäre, keine Freiheit, die diesen Namen verdient.82 Mit Kant gesprochen, der ein an die Beispiele Chrysipps erinnerndes Beispiel anführt, das den Freiheitsbegriff Chrysipps treffend karikiert, würde sie dann »im Grunde nichts besser als die Freiheit eines Braten­wenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet«.83 Das erhalten gebliebene Anfangsstück des vierten Abschnitts endet mitten in einem Teil­abschnitt (§§ 44–45), in dem Cicero darauf hinweist, daß diejenigen, die zwar die Ansicht Chrysipps, die Zustimmung zu einer Vorstellung habe in der betreffenden Vorstellung eine ihr vorhergehende Ursache, durch 82 Natürlich ist der freie Vollzug eines Willensaktes auch mit dem freien Fall eines Atoms nicht wirklich vergleichbar; aber im Unterschied zu der Walze und dem Kreisel Chrysipps, die erst durch die äußere Einwirkung von jemandem, der sie hergestellt hat, zu Körpern geworden sind, die sich nach einem äußeren Anstoß von sich aus bewegen, ist das von Karneades in Anlehnung an die Atomtheorie Epikurs als Beispiel angeführte Atom, ganz abgesehen davon, daß es keines äußeren Anstoßes bedarf, von Anfang an und sozusagen von Hause aus ein Körper, der sich von sich aus bewegt. 83 Kant, KpV, A 174. – Was Karneades betrifft, so nimmt er mit seinem Freiheitsbegriff in gewisser Weise den Freiheitsbegriff Kants vorweg. »Mit seiner Lehre von der (absoluten) Spontaneität der Seele«, so Platz (1973: 45), »weist Karneades der Freiheit einen Weg, der seine Vollendung und Legitimierung eigentlich erst in der Philosophie der Neuzeit gefunden hat, nämlich in der Freiheitslehre Kants. Grundlage der Kantischen Freiheits­ lehre ist die Überlegung: es herrscht nicht nur eine einzige Kausalität, die Naturkausalität, sondern es gibt überdies eine Kausalität aus Freiheit.« Vgl. hierzu Kant, KpV, A 32, 82, 96f.



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die sie nicht erzwungen werde, teilen, aber seiner Ansicht, die Zustimmung zu einer Vorstellung sei vom Schicksal bestimmt, widersprechen, nur scheinbar anderer Meinung sind als er. Da diese Leute – gemeint sind die Libertarier – der Ansicht, daß die Zustimmung zu einer Vorstellung vom Schicksal bestimmt ist, gerade deshalb wider­sprechen, weil sie die Ansicht teilen, daß eine Vorstellung die Zustimmung zu ihr nicht erzwingt, unterscheidet sich ihr Standpunkt nach Cicero von demjenigen Chrysipps lediglich darin, daß ihm ein engerer Begriff dessen zugrunde liegt, was vom Schicksal bestimmt ist. Im Gegensatz zu Chrysipp haben die Libertarier einen Begriff des vom Schicksal Bestimmten, unter den nicht alles fällt, was ihm vorhergehende Ursachen hat, sondern nur das, was ihm vorhergehende Ursachen hat, die uns nicht erlauben, Einfluß auf es zu nehmen, sondern es ohne unser Zutun herbeiführen. Aufgrund seiner Unvollständigkeit läßt der überlieferte Text des vierten Abschnitts leicht übersehen, daß Cicero die in der Zustimmungslehre zwischen Chrysipp und den Libertariern bestehende sachliche Übereinstimmung, auf die mit der Bemerkung hinweist, »die beiden Parteien« seien sich »nur in Worten, aber nicht in der Sache uneinig« (§ 44), nur für eine vordergründige Übereinstimmung gehalten haben kann, hinter der sich ein grundlegender Dissens zwischen Chrysipp und den Libertariern verbirgt. Vermutlich hat er in dem in der Lücke C verlorengegangenen Text klargestellt, daß die Libertarier zwar in Übereinstimmung mit Chrysipp unsere Willensakte dadurch dem Zwang der Notwendigkeit zu entziehen ver­suchen, daß sie in erster Linie die Beschaffenheit unseres Charakters für sie verantwortlich machen, daß sie aber im Gegensatz zu Chrysipp, der für die Beschaffenheit unseres Charak­ters, auch wenn seine Zustimmungslehre dies vertuscht, in erster Linie von außen auf ihn einwirkende Ursachen verantwortlich macht und dadurch die Notwendigkeit sozusagen durch die Hintertür wieder her-

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einläßt84, der Notwendigkeit diese Hintertür dadurch versperren, daß sie für die Beschaffenheit unseres Charakters uns selbst die Hauptverantwortung tragen lassen. Daß die spöttischen Worte, mit denen Cicero im Nachwort seiner Schrift Epikurs Theorie der Bahnabweichung der Atome einer abschließenden Kritik unterzieht (§§  46–48), aufgrund der Lücke C unmittelbar auf die so versöhnlich klingenden Worte folgen, mit denen er im vierten Abschnitt auf die in der Frage nach der Verursachung eines Willensaktes zwischen Chrysipp und den Libertariern bestehende sachliche Übereinstimmung hinweist, ist ein überlieferungsgeschichtlicher Zufall, durch den man sich nicht darüber hinwegtäuschen lassen darf, daß eine Aussöhnung mit den Stoikern für ihn letztlich ebensowenig in Frage kommt wie eine Verständigung mit den Epikureern.85 Die nachstehende Gliederung faßt den vorstehenden Überblick über den Inhalt des von De fato erhalten gebliebenen Textes zusammen.86 84 Die Behauptung, bei Chrysipp komme »dadurch, daß der Charakter durch eine Vielzahl vorausgehender Kausalfaktoren vollständig determiniert ist, […] das Fatum gewisser­maßen durch die ›Hintertür‹ wieder herein« (Schallenberg 2008: 293), ist nur korrekt, wenn das den Zwang der Notwendigkeit mit sich bringende Fatum der Deterministen gemeint ist, zwischen denen und den Libertariern Chrysipp zu vermitteln versucht; denn nur dieses Fatum und nicht das von ihm propagierte notwendigkeitsfreie Fatum, dem er sozusagen Tür und Tor öffnet, will Chrysipp ja von unseren Willensakten fernhalten. 85 Mit Recht sieht Donini in der »conciliation« zwischen Chrysipp und den Libertariern, von der Yon spricht (1933: XXX), nur eine »provvisoria conciliazione« (1989: 142) und in den Paragraphen 41–43, in denen diese »provisorische Versöhnung« vorbereitet wird, »un passagio provvisorio e intermedio dell’argomento« (1989: 144). 86 Gliederungen dieses Textes finden sich auch in Marwede 1984 (6f.), Sharples 1991 (16), Bayer 2000 (102–105), Schallenberg 2008 (81), Mayet 2010 (261f.) und Maso 2014 (26–31). Mayet hat auch den möglichen Aufbau der vollständigen Schrift skizziert (vgl. 2010: 284–286). Zum möglichen Inhalt



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Lücke A (Anfang der Vorrede) A. Fragment der Vorrede: Einleitende Bemerkungen zur Relevanz des Schicksalsproblems für die Ethik und die Logik, zur Form des Gesprächs, als das die Schrift De fato gestaltet ist, zum Rahmen dieses Gesprächs und zu dem von Cicero gewählten Gesprächspartner (§§ 1–4) Lücke B (Ende der Vorrede, Anfang des Hauptteils) B. Fragment des Hauptteils: Auseinandersetzung mit der These der Stoiker, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht, unter dem naturphilosophischen, dem logischen und dem ethischen Aspekt dieser These (§§ 5–45) I. Die Sympathielehre der Stoiker und ihre Theorie der Mantik (§§ 5–11a) 1. Die Sympathielehre des Poseidonios (§§ 5–6) 2. Die Sympathielehre Chrysipps (§§ 7–11a) II. Die Modaltheorie des Diodoros Kronos als Herausforderung für Chrysipp (§§ 11b–20a) 1. Chrysipps Auseinandersetzung mit der Modaltheorie Diodors (§§ 11b–17a) 2. Ciceros Verharmlosung der modallogischen Thesen Dio­ dors und seine Kritik an Epikurs fatalistischem Verständnis des Bivalenzprinzips (§§ 17b–20a) III. Die Prinzipien der Kausalität und der Bivalenz (§§ 20b–38) 1. Chrysipp als Verfechter und Epikur als Leugner der Allgemeingültigkeit des fatalistisch verstandenen Bivalenzprinzips und Chrysipps fatalistisches Verständnis des Kausalitätsprinzips (§§ 20b–21b) der verlorengegangenen Passagen vgl. Marwede 1984: 9–18, Schallenberg 2008: 82–86, 94–99, 290–295, 296f., Mayet 2010: 263–283, Maso 2014: 32–35.

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Einführung 2. Epikurs Theorie der Bahnabweichung der Atome und sein von Karneades als fatalistisch kritisiertes Verständnis des Kausalitätsprinzips (§§ 22–25) 3. Die am Wahrheitsbegriff des Karneades orientierte Kritik Ciceros an Chrysipps fatalistischem Verständnis des Bivalenzprinzips (§§ 26a–28a) 4. Das antifatalistische Untätigkeitsargument und der von Chrysipp unternommene Versuch, es zu widerlegen (§§ 28b–30) 5. Karneades’ Versuch, das Untätigkeitsargument durch ein besseres Argument zu ersetzen, und sein Verständnis des Bivalenzprinzips in einem Sinne, in dem es unabhängig davon gültig ist, ob alles, was geschieht, von jeher kausal determiniert und vorhersagbar ist oder nicht (§§ 31–33) 6. Der Begriff der Ursache als der Begriff dessen, was etwas anderes als eine für es hinreichende Bedingung notwendigerweise bewirkt, und der Unterschied zwischen hinreichenden und notwendigen Bedingungen (§§ 34–37a) 7. Epikurs Einschränkung der Gültigkeit des Bivalenzprinzips (§§ 37b–38)

IV. Die Zustimmungslehre Chrysipps (§§ 39–45) 1. Chrysipps Versuch, den Glauben an das Schicksal mit dem Glauben an die Freiheit des menschlichen Willens zu vereinbaren, und ein antifatalistisches Argument seiner Gegner (§§ 39–40) 2. Der Versuch Chrysipps, das Argument seiner Gegner mit Hilfe einer Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten von Ursachen zu widerlegen (§§ 41–43) 3. Die in der Zustimmungslehre zwischen Chrysipp und seinen Gegnern bestehende sachliche Übereinstimmung (§§ 44–45) Lücke C (Ende des Hauptteils, Anfang des Nachworts?)



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C. Fragment des Nachworts: Abschließende Kritik an der Atomtheorie Epikurs (§§ 46–48) Lücke D (Ende des Nachworts)

5. Pseudo-Plutarch und Alexander von Aphrodisias über das Schicksal Ciceros Schrift über das Schicksal ist von den zahlreichen diesem Thema gewidmeten Abhandlungen, die im Zeitalter des Hellenismus verfaßt wurden, die einzige und von allen in der Antike über dieses Thema verfaßten Abhandlungen die älteste, die uns, wenn auch nur fragmentarisch, erhalten geblieben ist. Zu den Autoren, von denen wir wissen, daß sie in der hellenistischen Epoche bereits vor Cicero über dieses Thema schrieben, und zwar als griechischsprachige Autoren unter dem Titel Περὶ εἱμαρμένης, gehören Epikur und die Stoiker Zenon von Kition, Chrysipp und Poseidonios.87 Aus der nachhellenistischen Zeit besitzen wir zwei Περὶ εἱμαρμένης (»Über das Schicksal«) betitelte Schriften, von denen die eine, die man fälschlich Plutarch zugeschrieben hat, von einem anonymen Mittelplatoniker stammt, der sie vermutlich in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts n.  Chr. anfertigte, während die um die Wende vom zweiten zum dritten nachchristlichen Jahrhundert entstandene andere, deren Titel durch den Zusatz καὶ τοῦ ἐφ’ ἡμῖν (»und über das, was in unserer Macht steht«, »und über das, wofür wir verantwortlich sind«) erweitert ist,

87 Vgl. Gundel 1912: 2624f. In seinen von seinem Schüler Kleitomachos aufgezeichneten Lehrvorträgen hat auch Karneades das Thema Schicksal behandelt (vgl. Gundel 1912: 2625).

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den bedeutenden Aristoteliker Alexander von Aphrodisias zum Verfasser hat.88 Was diese beiden Schriften mit Ciceros Schrift De fato verbindet, ist der Umstand, daß auch in ihnen die stoische Schicksalslehre bekämpft wird, mit der sich ihre Verfasser im Unterschied zu Cicero allerdings auseinandersetzen, ohne die Stoa oder einen ihrer Anhänger beim Namen zu nennen.89 Abgesehen davon, daß eine Auseinandersetzung mit der Lehre Epikurs, zu der Cicero ja ebenfalls Stellung nimmt, in ihnen fehlt, unterscheiden sich die Schriften Pseudo-Plutarchs und Alexanders von der Schrift Ciceros vor allem darin, daß ihre Verfasser nicht die Existenz des Schicksals in Zweifel ziehen oder gar leugnen, sondern lediglich den Begriff des Schicksals anders bestimmen als die Stoiker, wobei sie diejenigen Merkmale des stoischen Schicksalsbegriffs zu beseitigen versuchen, durch die sie die Freiheit des menschlichen Wollens und Handelns und das Vorhandensein von Möglichkeiten, die sowohl verwirklicht werden als auch unverwirklicht bleiben können und daher nicht not­wendigerweise zur Verwirklichung gelangen, bedroht sehen. Vergleicht man ihre Schriften miteinander, so gewinnt man den Eindruck, daß die antistoische Schicksalstheorie, die Alexander unter Berufung auf Aristoteles entwickelt, weiter von der stoischen entfernt ist als die diejenige 88 Für die Schrift Pseudo-Plutarchs sei auf die von Valgiglio besorgte zweisprachige Ausgabe verwiesen (1993; griechisch-italienisch) und für die Schrift Alexanders auf die zwei­sprachigen Ausgaben von Sharples (1983; griechisch-englisch), Thillet (1984; griechisch-französisch) und Zierl (1995; griechisch-deutsch). Zur Übersetzung des erweiterten Titels der Schrift Alexanders vgl. Sharples 1983: 3, 9. Zur Datierung der Schrift Pseudo-­ Plutarchs, von der Talanga behauptet, daß sie »etwa 150 Jahre nach Ciceros Tod verfaßt wurde« (1986: 150), in die zweite Hälfte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts vgl. Thillet 1984: LXXXIV, Valgiglio 1993: 41. 89 Vgl. hierzu Sharples 1983: 20, Thillet 1984: LXXXII–XC, Valgiglio 1993: 31.



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Pseudo-Plutarchs, der sich zwar ausschließlich auf Platon beruft, aber in Wirk­lichkeit eine eklektische Auffassung vertritt, die eine Mischung aus platonischen, aristote­lischen und auch stoischen Lehren darstellt.90 Während Alexander die These, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal oder, wie er wörtlich sagt, »dem Schicksal gemäß« (καθ’ εἱμαρμένην: 171, 20; 186, 13f.; 191, 5f.; 202, 2; 210, 13; 211, 29) geschieht, ebenso wie Cicero ohne Einschränkung verwirft91, ist diese These nach Pseudo-Plutarch, der zwei verschiedene Bedeutungen unterscheidet, in der man den Ausdruck »dem Schicksal gemäß« verstehen kann, je nachdem, in welcher dieser beiden Bedeutungen man ihn versteht, wahr oder falsch. Das Schicksal ist nach ihm insofern mit einem Gesetz vergleichbar, das für bestimmte menschliche Verhaltensweisen bestimmte Rechtsfolgen vorsieht, als es mit bestimmten Geschehnissen bestimmte Konsequenzen ver­knüpft, die durch sie bedingt sind. Wie sowohl die gesetzlich geregelten Verhaltensweisen eines Menschen als auch ihre rechtlichen Folgen von den Gesetzen, die sie regeln, umfaßt werden, aber nur ihre rechtlichen Folgen im eigentlichen Sinne diesen Gesetzen gemäß sind, nämlich in dem Sinne, daß sie von diesen Gesetzen vorgeschrieben sind, so wird zwar alles, was geschieht, vom Schicksal umfaßt, aber nur die vom Schicksal mit bestimmten Gescheh­nissen verknüpften Konsequenzen sind im eigentli-

90 Bezeichnenderweise ist der Schicksalsbegriff Alexanders in den Augen des Neuplatonikers Proklos der Begriff eines zu »schwachen« Schicksals (vgl. Sharples 1983: 27f.). Zum Eklektizismus Pseudo-Plutarchs vgl. Valgiglio 1993: 29–32. 91 »Man muß also«, stellt Alexander am Ende des 36. Kapitels seiner Schrift fest, »die These verwerfen, daß alles dem Schicksal gemäß geschieht« (ἀν­ αιρετέον 〈ἄρα〉 τὸ πάντα γίνεσθαι καθ’ εἱμαρμένην: 210, 13). Vgl. auch die Kapitel 7, 16, 21, 31 und 38.

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chen Sinne dem Schicksal gemäß, nämlich in dem Sinne, daß sie vom Schicksal verfügt sind. Die fragliche These ist also nur dann wahr, wenn der Ausdruck »dem Schicksal gemäß« (καθ’ εἱμαρμένην: 570 C  1.7.9, E  1.5; 572 F  3) nicht in seiner engeren und eigentlichen Bedeutung verstanden wird, sondern in der weiteren Bedeutung »vom Schicksal umfaßt« oder »im Schicksal enthalten« (ἐν τῇ εἱμαρμένῃ: 570 C  2, ἐντὸς τῆς εἱμαρμένης: 572 E  9). Da das, was durch frei gewolltes menschliches Handeln geschieht, und überhaupt das, was nicht notwendigerweise geschieht, sondern sowohl geschehen als auch nicht geschehen kann, lediglich etwas vom Schicksal Umfaßtes ist, das, wenn es geschieht, bestimmte Folgen hat, die sich dem Schicksal gemäß aus ihm ergeben, ist das Wirken des Schicksals nach Pseudo-Plutarch damit, daß der Mensch einen gewissen Entscheidungs- und Handlungsspielraum besitzt, und überhaupt damit, daß es in der Welt einen Spielraum einander entgegengesetzter und miteinander um ihre Verwirklichung konkurrierender Möglichkeiten gibt, durchaus ver­einbar.92 Diese im Mittelplatonismus verbreitete »konditionale Schicksalstheorie«, wie man sie mit Sharples nennen kann93, ist zwar trotz ihrer antistoischen Ausrichtung der Schicksalstheorie Chrysipps insofern ähnlich, als auch sie eine kompatibilistische (d. h. die Wirksamkeit des Schicksals als eine mit 92 Vgl. die Kapitel 4–6 und 8 der Schrift Pseudo-Plutarchs und den Kommentar Valgiglios, besonders seine Anmerkungen 109, 115, 117 und 120 zum fünften Kapitel (1993: 144–146). In Valgiglios Übersetzung der Stelle 570 C 2f. ist »Se dunque ›ciò che è nel fato‹ significa che« (1993: 83, Z. 14) in »Se dunque ›tutto secondo il fato‹ significa che« zu korrigieren (vgl. 1993: 144, Anm. 109). 93 Vgl. zu dieser Theorie, für die Sharples die Bezeichnungen »doctrine of conditional fate« (1983: 13, 167), »conditional-fate doctrine« (1983: 14) und »theory of conditional fate« (1983: 27) gebraucht, Sharples 1983: 13f.; siehe auch Schallenberg 2008: 59.



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Nichtnotwendigkeit und Freiheit verträgliche Gegebenheit betrach­tende) Theorie des Schicksals ist94; davon, daß zwischen ihr und der Theorie Chrysipps eine weitgehende Übereinstimmung besteht, wie man behauptet hat95, kann jedoch angesichts der Tatsache, daß nach Chrysipp auch das, was nach PseudoPlutarch lediglich vom Schicksal umfaßt wird, dem Schicksal gemäß geschieht, keine Rede sein. Pseudo-Plutarch selbst weist auf diesen entscheidenden Unterschied zwischen der stoischen und der mittelplatonischen Auffassung ausdrücklich hin, wenn er im letzten Kapitel seiner Schrift seinen Gegnern vorwirft, daß ihre Theorie »alles nicht nur als etwas im Schicksal Enthaltenes, sondern auch als etwas dem Schicksal Gemäßes ansieht« (Kap. 11, 574 D 7f.).96 Die verschiedenen Aspekte des Schicksalsproblems – Pseudo-Plutarch spricht von den »vielen bekannten naturphilosophischen, ethischen und logischen Fragen« (τὰ πολλὰ ζητή­ ματα φυσικά τε καὶ ἠθικὰ καὶ διαλεκτικά: Kap. 3, 568 F 8f.), die sich bezüglich der Wirk­samkeit des Schicksals stellen – werden in den drei uns erhalten gebliebenen antiken Schick94 Der kompatibilistische Charakter dieser Theorie kommt deutlich darin zum Ausdruck, daß Pseudo-Plutarch am Anfang des sechsten Kapitels seiner Schrift eine Untersuchung dar­über ankündigt, wie das in unserer Macht Stehende, das Zufällige, das Mögliche, das Kontingente (d. h. das nicht notwendige Mögliche) und andere Dinge dieser Art aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dem, wodurch das dem Schicksal gemäß Geschehende bedingt ist, »sowohl selbst bewahrt werden als auch ihrerseits das Schicksal bewahren dürften« (αὐτά τε σῴζοιτ’ ἂν καὶ τὴν εἱμαρμένην σῴζοι: 570 E 9f.). 95 »Pseudo-Plutarchos’ Ansichten über die Heimarmene stimmen mit den chrysippeischen«, so Talanga (1986: 150f.), »weitgehend überein.« 96 Sharples hebt die »crucial difference«, die zwischen der stoischen und der mittelplatoni­schen Auffassung besteht, mit Recht hervor (1983: 14; vgl. auch 1991: 180). Nach Talanga »versucht Chrysippos« die »vielleicht ältere stoische Meinung«, die Pseudo-Plutarch seinen Gegnern zuschreibt, »zu überwinden« (1986: 150), was wohl kaum zutrifft.

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salsschriften in sehr unterschiedlicher Weise berücksichtigt. Dem logischen Aspekt des Problems, den Pseudo-Plutarch und Alexander zugunsten des naturphilosophischen und des ethischen Aspekts vernachlässigen, schenkt nur Cicero die ihm gebührende Aufmerksamkeit. Das den Stoikern heilige Bivalenzprinzip, das im Mittelpunkt seiner Beschäftigung mit diesem Aspekt des Problems steht, wird von Pseudo-Plutarch, der es »die vielzitierte Sentenz, daß jede Aussage entweder wahr oder falsch ist« (τὸ πολυθρύλητον τοῦτο, ὅτι πᾶν ἀξίωμα ἢ ἀληθές ἐστιν ἢ ψευδές: Kap. 11, 574 F 2–4) nennt, nur beiläufig und von Alexander über­haupt nicht erwähnt; und was die Modalbegriffe der Möglichkeit und der Notwendigkeit betrifft, auf die Cicero in seinem Bericht über die Auseinandersetzung Chrysipps mit der Modaltheorie Diodors eingeht, so sind sie für Pseudo-Plutarch und Alexander, die sie, ohne auf Diodor Bezug zu nehmen, zusammen mit den Begriffen der Kontingenz (d. h. der mit der Möglichkeit des Gegenteils verbundenen Möglichkeit) und der Zufälligkeit untersuchen, weniger unter modallogischen Gesichtspunkten von Interesse als vielmehr im Hinblick auf die Rolle, die sie einerseits in der Naturphilosophie und andererseits, da Kontingenz eine Voraussetzung für Freiheit und Verantwortlichkeit ist, in der Ethik spielen.97 Was den naturphilosophischen und den ethischen Aspekt des Schicksalsproblems an­belangt, gibt es einen wichtigen Be97 Vgl. bei Pseudo-Plutarch die Kapitel 6–8 und bei Alexander die Kapitel 7–10 sowie die einschlägigen Stellen in den Kapiteln 2, 5, 12, 13 (181.13f., nicht: 3f.), 20, 28, 36 und 38, auf die Sharples hinweist (1983: 22, Anm. 145). Bei Alexander kommt der logische Aspekt des Schicksalsproblems noch am ehesten im zweiten Teil des zehnten Kapitels seiner Schrift zur Geltung (177, 7 – 178, 7). Er setzt sich dort mit einer den Wahrheitswert zukunftsbezogener Aussagen und den modalen Status der in ihnen ausgesagten Sach­ verhalte betreffenden Auffassung auseinander, die »zumindest gewisse Stoiker« (Frede 1974: 47) vertraten.



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rührungspunkt zwischen den Schriften Alexanders und Ciceros, den die Abhandlung Pseudo-Plutarchs nicht mit ihnen teilt. Wie Cicero unter Be­rufung auf Karneades hervorhebt, daß ein frei vollzogener Willensakt deshalb nicht ohne Ursache vollzogen wird, weil die Natur des Willens seine Ursache ist (vgl. §§  23b–25), so betont Alexander im Anschluß an Aristoteles, daß eine aus freiem Willen vollzogene Hand­lung deshalb nicht ohne Ursache vollzogen wird, weil sie im Handelnden selbst ihre Ursache hat (vgl. Kap. 15). Nach beiden Autoren wird das Kausalitätsprinzip durch die Freiheit des menschlichen Willens also deshalb nicht verletzt, weil es dafür, daß ein Mensch etwas frei will, zwar keine ihm und seinem Willen äußerlichen Ursachen gibt, wohl aber eine innere Ursache, nämlich die Natur seines Willens und damit ihn selbst. »Wer […] aufgrund eines aus eigener Überlegung gezogenen Schlusses einer Sache zustimmt«, hält Alexander, der sich dabei stoischer Terminologie bedient, den Stoikern entgegen, »ist sich selbst Ursache der Zu­ stimmung (αὐτὸς αὑτῷ τῆς συγκαταθέσεως αἴτιος)« (Kap. 15; 186, 10–12).98 6. Zur Rezeptionsgeschichte der Schrift De fato Bekanntlich »haben die Büchlein« der Aufnahme entsprechend, die sie bei ihren Lesern finden, »ihre je eigenen Schick98 Übersetzung: Zierl 1995: 81. – Zu der zwischen den Paragraphen 23–25 der Schicksals­schrift Ciceros und dem Kapitel 15 der Schicksalsschrift Alexanders bestehenden Paralle­lität vgl. Sharples 1983: 147f., 1991: 177. Im Gegensatz zu Thillet (vgl. 1984: CIX) will Sharples nicht ausschließen, daß sich Alexander im 15. Kapitel seiner Schrift nicht nur von Aristoteles inspirieren ließ, mit dessen Auffassung die Auffassung des Karneades in der Frage, um die es in diesem Kapitel geht, übereinstimmt, sondern daß er darüber hinaus auch aus einer neuakademischen Quelle schöpfte.

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sale« (habent sua fata libelli).99 Was Ciceros Schrift über das Schicksal betrifft, so gehören zu den Lesern, die sie im Laufe der Jahrhunderte rezipiert haben, so namhafte Gelehrte wie Aurelius Augustinus und Gottfried Wilhelm Leibniz. Der folgende Bericht über die Beschäftigung dieser beiden Gelehrten mit ihr, der durch einen Bericht über zwei Beispiele für ihre Aufnahme in gelehrten Kreisen des ausgehenden Mittel­alters und der beginnenden Neuzeit ergänzt wird, soll einen kleinen Einblick in ihre Rezep­tionsgeschichte geben. Augustinus, der vielleicht noch den vollständigen Text von De fato lesen konnte, jeden­falls aber einen größeren Teil des Textes als wir, hat die Schrift – statt auf sie zu verweisen, verweist er allerdings auf De natura deorum und De divinatione – im fünften Buch seines in den Jahren 413–426 entstandenen Hauptwerks De civitate dei (»Der Gottesstaat«) herangezogen, und zwar nicht nur in den Kapiteln 2 und 8, aus denen die beiden Fragmente 3 und 4 stammen, sondern vor allem auch im neunten Kapitel, in dem er gegen Cicero, dem er eine unbegründete Furcht vor den angeblich deterministischen Kon­ sequenzen des Vorherwissens Gottes vorwirft, die Vereinbarkeit des göttlichen Vorherwissens mit der Freiheit des menschlichen Willens verteidigt.100 Augustinus gehört zu den antiken Autoren, die uns Fragmente von De fato aufbewahrt haben, d. h. Texte, bei denen es sich mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit um Zitate aus den verlorengegan99 Dieses geflügelte Wort bildet die zweite Hälfte eines Verses, dessen erste Hälfte lautet: Pro captu lectoris (»Je nachdem, wie der Leser sie aufnimmt«). Über die Herkunft dieses Verses informiert Bartels (1992: 86), von dem die Übersetzung seiner beiden Hälften über­nommen wurde. 100 Vgl. Yon 1933: XXXVIIIf., Sharples 1991: 25. Sharples weist darauf hin, daß das Thema des göttlichen Vorher­wissens, das für Augustinus von so großem Interesse ist, in De fato zwar berührt wird (vgl. §§ 32b–33), in dieser Schrift aber nur eine untergeordnete Rolle spielt.



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genen Abschnitten von De fato handelt oder um Paraphrasen, die sich auf diese Abschnitte be­ziehen.101 Ein gutes Jahrtausend nach ihrer Rezeption durch Augustinus wurde Ciceros Schicksals­schrift bei einem Gelehrtenstreit in Erinnerung gebracht, der in den Jahren 1465–1475 an der Universität Löwen über die Frage nach dem Wahrheitswert von Aussagen über kontingent-zukünftige Ereignisse und über das Problem der Vereinbarkeit der in dieser Frage von Aristoteles im neunten Kapitel seiner Schrift Peri hermeneias vertretenen Auffassung mit der christlichen Glaubenslehre geführt wurde. Unter ausdrück­licher Berufung auf De fato wies ein maßgeblich an diesem Streit beteiligter Magister der Artistenfakultät namens Petrus de Rivo auf die gegensätzlichen Auffassungen hin, die Chrysipp und Epikur in der genannten Frage vertraten, wobei er anmerkte, daß Cicero in dieser Frage derselben Meinung gewesen sei wie Chrysipp, Aristoteles hingegen allem Anschein nach derselben Meinung wie Epikur.102 In der Mitte des 16. Jahrhunderts wurde die Schicksalsschrift Ciceros selbst zum Gegenstand eines erbitterten Gelehrtenstreits, der sich um mehrere ihre Auslegung betreffende Fragen drehte. Als Gegner standen sich in diesem Streit zwei französische Kommentatoren der Schrift gegenüber: der vor allem als Logiker bekannt gewordene Philosoph Petrus Ramus (Pierre de la Ramée), den sein Übertritt vom Katholizismus zum Calvinismus 1572 bei dem an den Hugenotten verübten Massaker der Bartholomäusnacht das Leben kostete, und der Humanist Hadrianus Turnebus (Adrien Turnèbe). Nachdem Ramus in der 1554 erschienenen zweiten Auflage seines 1550 in erster Auflage publizierten Kommentars den Kommentar des Turnebus, der 101 Vgl. zu diesen Texten Marwede 1984: 244–248, Sharples 1991: 161–163, Schallenberg 2008: 43–46, Maso 2014: 180–184, Calanchini 2015: 75–78, 133. 102 Vgl. Baudry 1950: 71f., 79 (1989: 37f., 46).

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1552 erschienen war, in einer Weise herangezogen hatte, durch die sich der von ihm nicht beim Namen genannte Turnebus provoziert fühlte, kam es 1556 zu einem Schlagabtausch zwischen den beiden Kontrahenten, der in drei Streitschriften stattfand, die alle in diesem Jahr veröffentlicht wurden, einer ersten, in der Turnebus an dem von Ramus verfaßten Kommentar Kritik übte, einer zweiten, in der Ramus auf diese Kritik mit einer Gegenkritik reagierte, und einer dritten, in der Turnebus noch einmal auf diese Gegenkritik antwortete.103 Leibniz, dessen Beschäftigung mit De fato etwas ausführlicher besprochen zu werden verdient, ist in seinen erstmals 1710 veröffentlichten Essais de Théodicée104 an mehreren Stellen auf die Schrift eingegangen, allerdings in einer Weise, die vermuten läßt, daß er sie nicht im Original gelesen, sondern nur die umfangreichen Auszüge aus ihr studiert hat, die der Philosoph Pierre Bayle, auf den er in der Theodizee fortwährend zu sprechen kommt, in seinem 1697 in erster Auflage und 1702 in einer zweiten, erweiterten Auflage erschienenen Dictionnaire historique et critique wörtlich zitiert. Alle Informationen, die Leibniz brauchte, um so, wie er es in der Theodizee tut, auf De 103 G. H. Moser hat in einem Anhang zu seiner 1828 in Frankfurt erschienenen Ausgabe von De fato den Kommentar des Turnebus, den Bayer in gekürzter Form abschnittsweise den erläuternden Anmerkungen seiner Ausgabe beigegeben hat, zusammen mit einigen Auszügen aus den drei Streitschriften von 1556 abgedruckt (653–685) und ein­leitend über den Streit zwischen Ramus und Turnebus berichtet (655f.; vgl. Bayer 2000: 106). Magnus Schallenberg, dem ich auch den Zugang zu einer Reihe anderer für mich schwer erreichbarer Publikationen verdanke, hat mir die von Moser besorgte Ausgabe dankenswerterweise in digitalisierter Form zugänglich gemacht. 104 Vollständig lautet der Titel dieser Schrift, auf den das von Leibniz gebildete Wort »Theo­dizee« zurückgeht, Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’Homme et l’Origine du Mal (»Eine der Rechtfertigung Gottes dienende Abhandlung über Gottes Güte, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Bösen«).



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fato Bezug nehmen zu können – in den Paragraphen 169 und 170 zitiert er einzelne Abschnitte aus De fato 12, 13, 17 und 21, und in den Paragraphen 303, 304, 308, 320–322 und 331–333 referiert er den Inhalt einzelner Stellen aus De fato 18, 22–25, 39 und 41–43 –, konnte er in diesem im Laufe des 18. Jahrhunderts, in dem es einen außerordentlich großen Einfluß hatte, noch mehrmals neu aufgelegten Wörterbuch in den beiden Artikeln »Chrysippe« und »Épicure« finden, auf die er auch ausdrücklich hinweist (vgl. §§ 169, 170, 333).105 Daß sich Leibniz über die Auffassungen, die in den von ihm herangezogenen Passagen von De fato für die dort erwähnten Philosophen bezeugt werden, seine eigene Meinung ge­bildet hat, zeigen besonders deutlich die Paragraphen 308 und 322 der Theodizee, in denen er sich mit der Theorie der Willensfreiheit auseinandersetzt, die Cicero in De fato 23–25 Karneades zuschreibt.106 Seine Auseinandersetzung mit dieser Theorie, nach der ein frei vollzogener Willensakt zwar keine äußere, 105 Der in der ersten Auflage noch fehlende Artikel »Chrysippe« wurde erst in der zweiten Auflage hinzugefügt. – Für die Vermutung, daß sich Leibniz »mit Ciceros De fato nur anhand der von Bayle (im Dictionnaire) verwendeten Exzerpte beschäftigt hat« (Platz 1973: 135), spricht nach Platz vor allem zweierlei: Erstens habe Leibniz in den vor der Theodizee verfaßten Schriften nach ihrer Kenntnis nur an einer einzigen Stelle auf De fato hingewiesen, nämlich in der Einleitung zu einer 1670 von ihm besorgten Edition, und zweitens nehme er in der Theodizee nur auf solche Stellen aus De fato Bezug, die Bayle in seinem Wörterbuch zitiere (vgl. 1973: XI). Der Plausibilität ihrer Vermutung tut es keinen Abbruch, daß Leibniz, wie ich mit dankenswerter Unterstützung der Leibniz-Forschungsstelle Münster ermitteln konnte, vor der Abfassung der Theodizee noch ein zweites Mal auf De fato Bezug genommen hat, nämlich in seinen wahrscheinlich 1689 angefertigten Exzerpten aus dem Buch The True Intellectual System of the Universe von R. Cudworth (London 1678), in denen er zwei in diesem Buch zitierte Sätze aus De fato 13 und 32 notiert hat (Akademie-Ausgabe, VI. Reihe, 4. Band, Teil B, Berlin 1999, N. 351, S. 1954). 106 Vgl. hierzu Platz 1973: 134–138.

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aber doch eine innere Ursache hat, beruht auf der wohl kaum zutreffenden Annahme, Karneades habe dem menschlichen Willen eine Freiheit zugeschrieben, die darin besteht, daß er Willensakten gegenüber, die alternativ zueinander möglich sind, völlig indifferent ist. Da er von dieser Annahme ausgeht, bestreitet Leibniz, daß die Freiheitstheorie des Karneades derjenigen Epikurs, der sich seiner Meinung nach eben­falls von der falschen Vorstellung einer »liberté de pleine indifférence« (§ 320) leiten ließ, tatsächlich, wie Cicero und im Anschluß an ihn auch Bayle meint, überlegen ist. Während er diese Theorie in §  308 mit der Begründung kritisiert, daß Willensakte, die Akte eines völlig indifferenten Willens wären, auch dann determiniert wären, wenn sie keine äußere Ursache hätten, sondern durch die Natur unserer Seele verursacht wären, weist er sie in § 322 mit der Begründung als absurd zurück, daß solche Willensakte, wenn es sie denn gäbe, nicht nur keine äußere, sondern auch keine innere Ursache hätten, also ohne jede Ursache vollzogen würden.107 Wie Leibniz im folgenden Paragraphen klarstellt, ist die menschliche Seele nach seiner Auffassung sehr wohl die Ursache für die von ihr vollzogenen Willensakte, die sie aber, wie er betont, nur deshalb verursachen kann, weil sie ihnen und ihren möglichen Alternativen gegenüber nicht indifferent ist, sondern in sich selbst Gründe dafür findet, sie anstelle der 107 Platz, die meint, Leibniz habe Karneades mißverstanden, weil er ihm in § 322 fälschlich die Behauptung in den Mund lege, »die Seele könne ohne äußeren oder inneren Grund handeln« (1973: 135), also Willensakte vollziehen, die weder eine äußere noch eine innere Ursache haben, dürfte ihrerseits Leibniz mißverstanden haben, dessen Worte zwar zu ihrem Mißverständnis verleiten, aber offenbar in dem Sinne zu verstehen sind, daß die innere Ursache, die frei vollzogene Willensakte nach Karneades haben, keine Ursache für sie sein kann, wenn es sich bei ihnen um Akte eines völlig indifferenten Willens handelt.



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alternativ zu ihnen möglichen Willensakte zu vollziehen. Mit dieser Auffassung, nach der Freiheit nicht Indifferenz ist, sondern Selbstbestimmung, vertritt Leibniz nicht, wie er meint, eine der Theorie des Karneades entgegengesetzte Auffassung, sondern eine Auffassung, mit der er bei Karneades offene Türen einrennt.108 Das zunehmende Interesse, das der Philosophie des Helle­ nismus in den letzten Jahr­ zehnten entgegengebracht wurde, hatte eine verstärkte Beschäftigung mit Ciceros philoso­ phischen Schriften zur Folge, die zu den wichtigsten Quellen für unsere Kenntnis der helle­nistischen Philosophie gehören.109 Die Schrift De fato ist anerkanntermaßen die schwierigste unter diesen Schriften110 und bedarf daher in besonderem Maße der Erläuterung. In den er­läuternden Anmerkungen der vorliegenden Ausgabe wird versucht, sie dem Leser unter Berücksichtigung der wichtigsten Forschungsergebnisse in ihren Grundzügen zu erschließen. Der deutschen Übersetzung wurde ein lateinischer Text zugrunde gelegt, der an mehreren Stellen von demjenigen abweicht, den die von Giomini besorgte TeubnerAusgabe bietet. Über die wichtigsten textkritischen Entscheidungen, die bei seiner Gestaltung getroffen wurden, geben die Anmerkungen zu den Passagen Auskunft, die im Verzeichnis der text­kritisch kommentierten Stellen aufgeführt sind.

108 Wie Platz mit Recht betont, teilt Leibniz mit Karneades, seiner Kritik an dessen Freiheits­theorie zum Trotz, die Auffassung, daß »Freiheit Bestimmung durch sich selbst ist« (1973: 138). 109 Vgl. Hossenfelder 1985: 192. 110 »De Fato is recognized to be the most difficult of Cicero’s philosophic works« (Marwede 1984: iv); vgl. Sharples 1995: 271 (»… the most terse and logically complex of any of Cicero’s philosophical works«).

TEXT UND ÜBERSETZUNG

De fato I 1 … quia pertinet ad mores, quod ἦθος illi vocant. Nos eam partem philosophiae de moribus appellare solemus, sed decet augentem linguam Latinam nominare moralem. Explicandaque vis est ratioque enuntiationum, quae Graeci ἀξιώματα vocant; 5 quae de re futura cum aliquid dicunt deque eo, quod possit fieri aut non possit, quam vim habeant, obscura quaestio est, quam περὶ δυνατῶν philosophi appellant, totaque est λογική, quam rationem disserendi voco. Quod autem in aliis libris feci, qui sunt de natura deorum, 10 itemque in iis, quos de divinatione edidi, ut in utramque partem perpetua explicaretur oratio, quo facilius id a quoque probaretur, quod cuique maxime probabile videretur, id in hac disputatione de fato casus quidam, ne facerem, impedivit. 2 Nam cum essem in Puteolano Hirtiusque noster, consul 15 designatus, isdem in locis, vir nobis amicissimus et his studiis,

über das schicksal I 1 … weil sie sich auf die Sittlichkeit bezieht, die sie dort (in Griechenland) ēthos nennen. Wir pflegen diesem Teil der Philosophie den Namen de moribus (»Von der Sittlichkeit«) zu geben; es ist aber durchaus angebracht, die lateinische Sprache zu bereichern und ihn als moralis (d. h. als den moralphilosophischen Teil) zu bezeichnen. Zu erläutern gilt es auch, wie es mit der Bedeutung der Aussagen, die bei den Griechen axiōmata heißen, bestellt ist. Welche Bedeutung sie haben, wenn sie über etwas Zukünftiges etwas aussagen und über das, was geschehen kann oder nicht, ist eine Frage, die intensiver Klärung bedarf. Die Philosophen geben ihr den Namen peri dynatōn (»Über das Mögliche«), und sie ist ganz und gar logikē (d. h. eine Frage der Logik), die ich Theorie der Argumentation nenne. In anderen Büchern, nämlich in denjenigen, die vom Wesen der Götter handeln, und ebenso in denjenigen, die ich über die Weissagung veröffentlicht habe, bin ich so vorgegangen, daß jeweils in einer zusammenhängenden Rede entwickelt wurde, was für den einen und was für den anderen von zwei (einander entgegengesetzten) Standpunkten spricht, damit es einem jeden leichter fiele, das anzunehmen, was ihm am ehesten annehmbar zu sein schien. Was die vorliegende Disputation über das Schicksal betrifft, so hat ein bestimmter Vorfall mich daran gehindert, auf diese Weise in ihr vorzugehen. 2 Als ich nämlich auf meinem Landgut in Puteoli weilte und mein Freund Hirtius, der designierter Konsul war, sich in derselben Gegend aufhielt – er ist ein Mann, der eng mit mir befreundet ist und sich genau den Beschäftigungen widmet,

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in quibus nos a pueritia viximus, deditus, multum una eramus, maxime nos quidem exquirentes ea consilia, quae ad pacem et ad concordiam civium pertinerent. Cum enim omnes post interitum Caesaris novarum perturbationum causae quaeri viderentur iisque esse occurrendum putaremus, omnis fere nostra 5 in his deliberationibus consumebatur oratio, idque et saepe alias et quodam liberiore, quam solebat, et magis vacuo ab interventoribus die. Cum ad me ille venisset, primo ea, quae erant cotidiana et quasi legitima nobis, de pace et de otio. II 3 Quibus actis, »Quid ergo?« inquit ille, »quoniam oratorias 10 exercitationes non tu quidem, ut spero, reliquisti, sed certe philosophiam illis anteposuisti, possumne aliquid audire?« »Tu vero«, inquam, »vel audire vel dicere; nec enim, id quod recte existimas, oratoria illa studia deserui, quibus etiam te incendi, quamquam flagrantissimum acceperam, nec ea, quae 15 nunc tracto, minuunt, sed augent potius illam facultatem. Nam cum hoc genere philosophiae, quod nos sequimur, magnam habet orator societatem; subtilitatem enim ab Academia mutuatur et ei vicissim reddit ubertatem orationis et ornamenta

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mit denen ich von Jugend an mein Leben verbracht habe –, waren wir viel zusammen, wobei wir vor allem Maßnahmen ausfindig zu machen versuchten, die dem Frieden und der Eintracht unter den Bürgern dienen könnten. Denn da man nach dem Untergang Cäsars nach allen möglichen Gründen für neue Unruhen Ausschau zu halten schien, wir aber solchen entgegentreten zu sollen glaubten, verwandten wir beinahe unser ganzes Gespräch darauf, hierüber zu beratschlagen; und wie oftmals sonst, so geschah dies auch an einem Tag, an dem wir mehr Freizeit hatten als gewöhnlich und uns nicht so viele Besucher störten. Als er zu mir gekommen war, ging es zunächst um die Themen, die bei uns an der Tagesordnung und sozusagen unsere Pflichtübung waren, nämlich um den Frieden und die öffentliche Ruhe. II 3 Nachdem dies erledigt war, sagte er: »Wie steht es also? Da du zwar deine rhetorischen Übungen, wie ich hoffe, nicht eingestellt, aber ihnen doch sicherlich die Philosophie vorgezogen hast, kann ich da nicht etwas von dir zu hören bekommen?« »Gewiß«, sagte ich, »kannst du etwas von mir zu hören bekommen oder auch selbst das Wort ergreifen. Denn weder habe ich, was du ganz richtig siehst, jene rhetorischen Studien aufgegeben, für die ich auch dich entflammt habe, obwohl ich dich eigentlich schon als jemanden, in dem das Feuer der Begeisterung für sie brannte, bei mir aufgenommen hatte, noch tut das, was ich jetzt betreibe, jener (rednerischen) Fähigkeit Abbruch, sondern ist ihr eher förderlich. Mit dem Typ Philosophie, zu dessen Anhängern ich gehöre, verknüpft den Redner nämlich ein enges Bündnis; borgt er sich doch von der Akademie die auf Feinheiten achtende Denkweise und gibt ihr im Austausch dafür die Fülle der Beredsamkeit und den redneri-

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dicendi. Quam ob rem«, inquam, »quoniam utriusque studii nostra possessio est, hodie utro frui malis, optio sit tua.« Tum Hirtius: »Gratissimum«, inquit, »et tuorum omnium simile; nihil enim umquam abnuit meo studio voluntas tua. 4 Sed quoniam rhetorica mihi vestra sunt nota teque in iis et 5 audivimus saepe et audiemus atque hanc Academicorum contra propositum disputandi consuetudinem indicant te suscepisse Tusculanae disputationes, ponere aliquid, ad quod audiam, si tibi non est molestum, volo.« »An mihi«, inquam, »potest quicquam esse molestum, quod 10 tibi gratum futurum sit? Sed ita audies, ut Romanum hominem, ut timide ingredientem ad hoc genus disputandi, ut longo intervallo haec studia repetentem.« »Ita«, inquit, »audiam te disputantem, ut ea lego, quae scrip15 sisti. Proinde ordire.« »Considamus hic.« III 5 … 〈In his exemplis Posidonii〉, quorum in aliis, ut in Antipatro poeta, ut in brumali die natis, ut in simul aegrotantibus fratribus, ut in urina, ut in unguibus, ut in reliquis eius modi, naturae contagio valet, quam ego non tollo, vis est nulla 20

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schen Schmuck. Es sei daher«, sagte ich, »da ich ja in jedem der beiden Studienbereiche zu Hause bin, ganz deiner Wahl überlassen, von welchem du dir heute lieber Genuß verschaffen lassen möchtest.« Darauf entgegnete Hirtius: »Das ist mir sehr recht, und daß du mir diesen Gefallen tust, sieht dir ganz ähnlich; denn noch nie hatte ich irgend etwas auf dem Herzen, auf das du nicht bereitwillig eingegangen wärest. 4 Da mir nun aber deine Redekunst bekannt ist und ich dich bei ihrer Ausübung ja schon oft gehört habe und auch noch oft hören werde und da überdies deine Tuskulanischen Disputationen zeigen, daß du dir die Gepflogenheit der Akademiker zu eigen gemacht hast, gegen eine aufgestellte These zu disputieren, würde ich gerne, wenn es dir nicht lästig ist, eine These aufstellen, um zu hören, was du zu ihr zu sagen hast.« »Könnte mir denn«, erwiderte ich, »irgend etwas lästig sein, womit ich dir einen Gefallen tun würde? Du wirst mich jedoch so hören, wie sich eben ein Römer anhört, einer, der schüchtern an diese Art des Disputierens herangeht, einer, der nach einer langen Pause diese Studien wiederaufnimmt.« »So«, entgegnete er, »werde ich dir beim Disputieren zuhören, wie ich das, was du geschrieben hast, lese. Fang also ruhig an!« »So laß uns denn hier Platz nehmen.« III 5 … 〈Bei diesen von Poseidonios angeführten Beispielen〉, bei denen sich im Falle der einen Gruppe, etwa beim Dichter Antipater, bei den am Tag der Wintersonnenwende Geborenen, bei den zur selben Zeit von einer Krankheit befallenen Brüdern, beim Urin, bei den Fingernägeln und bei den übrigen Beispielen dieser Art, der in der Natur (unter den Dingen) herrschende Zusammenhalt geltend macht, den ich durchaus

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fatalis; in aliis autem fortuita quaedam esse possunt, ut in illo naufrago, ut in Icadio, ut in Daphita; quaedam etiam Posidonius – pace magistri dixerim – comminisci videtur, sunt quidem absurda. Quid enim? Si Daphitae fatum fuit ex equo cadere atque ita 5 perire, ex hocne equo, qui, cum equus non esset, nomen habebat alienum? Aut Philippus hasne in capulo quadrigulas vitare monebatur? Quasi vero capulo sit occisus. Quid autem magnum aut naufragum illum sine nomine in rivo esse lapsum? Quamquam huic quidem hic scribit praedictum in aqua 10 esse pereundum. Ne hercule Icadii quidem praedonis video fatum ullum; nihil enim scribit ei praedictum. 6 Quid mirum igitur ex spelunca saxum in crura eius incidisse? Puto enim, etiam si Icadius tum in spelunca non fuisset, saxum tamen illud casurum fuisse. Nam aut nihil omnino est fortui- 15 tum, aut hoc ipsum potuit evenire fortuna. Quaero igitur, atque hoc late patebit, si fati omnino nullum nomen, nulla natura,

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nicht leugne, kann keine Rede davon sein, daß eine Schicksalsmacht am Werk ist. Was die andere Gruppe betrifft, so kann es sich bei einigen Beispielen um bloße Zufälle handeln, etwa bei jenem Schiffbrüchigen, bei Ikadios oder bei Daphitas, und einige scheinen auch – mit Verlaub gesagt, denn schließlich spreche ich von meinem Lehrer! – Hirngespinste des Poseidonios zu sein; jedenfalls sind sie albern. Denn was würdest du wohl sagen? Wenn es dem Daphitas vom Schicksal bestimmt war, von einem Pferd zu stürzen und so ums Leben zu kommen, war dann sein Sturz von diesem Pferd gemeint, das, da es ja kein (echtes) Pferd war, nur in einem übertragenen Sinne so genannt wurde? Oder war es bei Philipp etwa dieses winzige Viergespann auf dem Schwertgriff, das zu meiden er gemahnt wurde? Als ob man ihn mit einem Schwertgriff getötet hätte! Oder was hat es schon zu bedeuten, daß jener (von Poseidonios) nicht beim Namen genannte Schiffbrüchige in einen Bach gefallen ist? Freilich schreibt er in seinem Fall immerhin, es sei ihm vorhergesagt worden, daß es seine Bestimmung sei, im Wasser ums Leben zu kommen. Fürwahr, nicht einmal beim Räuber Ikadios sehe ich auch nur die Spur einer Schicksalsbestimmung! Denn in seinem Fall schreibt Poseidonios ja gar nichts darüber, daß ihm etwas vorhergesagt worden wäre. 6 Was ist also verwunderlich daran, daß von der Decke einer Höhle ein Felsbrocken auf seine Beine fiel? Ich bin nämlich der Meinung, daß auch dann, wenn sich Ikadios damals nicht in der Höhle aufgehalten hätte, jener Felsbrocken gleichwohl heruntergefallen wäre. Denn entweder ist überhaupt nichts zufällig, oder gerade dies konnte sich durch Zufall ereignen. Ich frage mich also, und diese Frage wird von großer Tragweite sein: Wenn das Schicksal etwas ganz und gar Namenloses, Wesenloses und Machtloses wäre und die meisten oder

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nulla vis esset, et forte, temere, casu aut pleraque fierent aut omnia, num aliter, ac nunc eveniunt, evenirent? Quid ergo attinet inculcare fatum, cum sine fato ratio omnium rerum ad naturam fortunamve referatur? IV 7 Sed Posidonium, sicut aequum est, cum bona gratia di- 5 mittamus; ad Chrysippi laqueos revertamur, cui quidem primum de ipsa contagione rerum respondeamus, reliqua postea persequemur. Inter locorum naturas quantum intersit videmus; alios esse salubris, alios pestilentis, in aliis esse pituitosos et quasi redun- 10 dantis, in aliis exsiccatos atque aridos; multaque sunt alia, quae inter locum et locum plurimum differant. Athenis tenue caelum, ex quo etiam acutiores putantur Attici, crassum Thebis, itaque pingues Thebani et valentes. Tamen neque illud tenue caelum efficiet, ut aut Zenonem quis aut Arcesilam aut 15 Theophrastum audiat, neque crassum, ut Nemea potius quam Isthmo victoriam petat. 8 Diiunge longius: Quid enim loci natura afferre potest, ut in porticu Pompei potius quam in Campo ambulemus? Tecum

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sogar alle Geschehnisse durch blinden Zufall und von ungefähr stattfänden, wäre ihr Verlauf dann ein anderer als der, der er jetzt ist? Was bringt es also, das Schicksal einzuschalten, wenn sich auch ohne (Rückgriff auf) das Schicksal für alle Dinge in der Natur oder im Zufall eine vernünftige Erklärung finden läßt? IV 7 Aber von Poseidonios wollen wir uns jetzt, wie es recht und billig ist, im guten verabschieden und wieder auf die Fallstricke Chrysipps zurückkommen! Ihm wollen wir zunächst, was speziell seine Lehre von dem (in der Natur) unter den Dingen herrschenden Zusammenhalt betrifft, antworten; das übrige werden wir dann später durchgehen. Wie sehr sich verschiedene Orte in ihrer natürlichen Beschaffenheit voneinander unterscheiden, sehen wir ja. Wir sehen, daß die einen der Gesundheit förderlich, die anderen ihr abträglich sind, daß die Menschen an den einen reich an Körpersäften sind und gleichsam von ihnen überströmen, während sie an den anderen ausgetrocknet und ausgedorrt sind; und noch vieles andere gibt es, was von Ort zu Ort höchst unterschiedlich ist. In Athen ist die Luft dünn und fein, weshalb man die Athener auch für scharfsinniger hält (als andere Leute); hingegen hat sie in Theben eine hohe Dichte, und deshalb hält man die Thebaner für geistlose, stämmige Burschen. Gleichwohl wird weder jene dünne Luft bewirken, daß es gerade Zenon, Arkesilaos oder Theophrast ist, bei dem jemand Vorlesungen hört, noch jene sehr dichte Luft, daß jemand lieber in Nemea nach dem Sieg strebt als auf dem Isthmos. 8 Spiele ruhig noch mehr solcher Disjunktionen durch: Was kann denn die natürliche Beschaffenheit eines Ortes dazu beitragen, daß ich lieber in der Säulenhalle des Pompeius spazierengehe als auf dem Marsfeld, lieber in deiner Begleitung als

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quam cum alio? Idibus potius quam Kalendis? Ut igitur ad quasdam res natura loci pertinet aliquid, ad quasdam autem nihil, sic astrorum affectio valeat, si vis, ad quasdam res, ad omnis certe non valebit. »At enim, quoniam in naturis hominum dissimilitudines 5 sunt, ut alios dulcia, alios subamara delectent, alii libidinosi, alii iracundi aut crudeles aut superbi sint, alii 〈a〉 talibus vitiis abhorreant, quoniam igitur«, inquit, »tantum natura a natura distat, quid mirum est has dissimilitudines ex differentibus 10 causis esse factas?« V 9 Haec disserens, qua de re agatur et in quo causa consistat, non videt. Non enim, si alii ad alia propensiores sunt propter causas naturalis et antecedentis, idcirco etiam nostrarum voluntatum atque appetitionum sunt causae naturales et antecedentes. Nam nihil esset in nostra potestate, si ita se res habe- 15 ret. Nunc vero fatemur, acuti hebetesne, valentes imbecilline simus, non esse id in nobis. Qui autem ex eo cogi putat, ne ut sedeamus quidem aut ambulemus voluntatis esse, is non videt, quae quamque rem res consequatur. Ut enim et ingeniosi et tardi ita nascantur antecedentibus causis itemque valentes et 20

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in Begleitung eines anderen, lieber in der Monatsmitte als am Monatsersten? Wie also die natürliche Beschaffenheit eines Ortes gewisse Dinge beeinflußt, gewisse andere hingegen nicht, so mag sich auch die Konstellation der Gestirne durchaus, wenn man so will, auf gewisse Dinge auswirken; eine Auswirkung auf alle wird sie sicherlich nicht haben. »Aber es gibt doch, was das Naturell der einzelnen Menschen betrifft, eine Reihe von Unähnlichkeiten: Den einen bereiten süße Dinge Genuß, den anderen Dinge, die etwas bitter schmecken, die einen sind ausschweifend, die anderen jähzornig, grausam oder hochmütig, während wiederum andere solchen Lastern abgeneigt sind. Da sich also«, sagt er (d. h. Chrysipp), »das Naturell (des einen) vom Naturell (des anderen) so sehr unterscheidet, was ist da schon verwunderlich daran, daß diese Unähnlichkeiten von unterschiedlichen Ursachen hervorgebracht worden sind?« V 9 Indem er so argumentiert, sieht er überhaupt nicht, worum es hier geht und was hier zur Debatte steht. Es ist nämlich keineswegs so, daß es, wenn aufgrund natürlicher und vorhergehender Ursachen die Neigungen der einen mehr in diese und die der anderen mehr in jene Richtung gehen, deshalb auch dafür, daß wir etwas wollen und begehren, natürliche und vorhergehende Ursachen gibt. Denn nichts stünde in unserer Macht, wenn es sich so verhielte. Nun gestehen wir freilich gerne zu, daß es nicht an uns liegt, ob wir scharfsinnig oder stumpfsinnig, kräftig oder schwächlich sind. Wer aber glaubt, man könne hieraus den Schluß ziehen, daß nicht einmal dafür, daß wir sitzen oder gehen, unser Wille zuständig sei, der sieht einfach nicht, was jeweils woraus folgt. Auch wenn nämlich geistvolle Menschen ebenso wie geistig träge aufgrund vorhergehender Ursachen als so veranlagte Men-

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imbecilli, non sequitur tamen, ut etiam sedere eos et ambulare et rem agere aliquam principalibus causis definitum et constitutum sit. 10 Stilponem, Megaricum philosophum, acutum sane hominem et probatum temporibus illis accepimus. Hunc scribunt 5 ipsius familiares et ebriosum et mulierosum fuisse, neque haec scribunt vituperantes, sed potius ad laudem; vitiosam enim naturam ab eo sic edomitam et compressam esse doctrina, ut nemo umquam vinolentum illum, nemo in eo libidinis vestigium viderit. Quid? Socraten nonne legimus quem ad modum 10 notarit Zopyrus physiognomon, qui se profitebatur hominum mores naturasque ex corpore, oculis, vultu, fronte pernoscere? Stupidum esse Socraten dixit et bardum, quod iugula concava non haberet, obstructas eas partes et obturatas esse dicebat; addidit etiam mulierosum, in quo Alcibiades cachinnum dici- 15 tur sustulisse. 11 Sed haec ex naturalibus causis vitia nasci possunt, exstirpari autem et funditus tolli, ut is ipse, qui ad ea propensus fuerit, a tantis vitiis avocetur, non est id positum in naturali-

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schen geboren werden und desgleichen kräftige und schwächliche, folgt doch hieraus keineswegs, daß durch rangmäßig als erste wirksame Ursachen auch bestimmt und festgelegt ist, daß sie sitzen, daß sie gehen und daß sie überhaupt irgend etwas verrichten. 10 Von Stilpon, einem zu den Megarikern gehörenden Philosophen, haben wir aus der Überlieferung das Bild eines recht scharfsinnigen und bei seinen Zeitgenossen anerkannten Mannes. Über ihn schreiben diejenigen, die ihm nahestanden, es habe etwas von einem Trunkenbold und einem Weiberheld in ihm gesteckt. Dies schreiben sie jedoch nicht, um ihn zu tadeln, sondern vielmehr zu seinem Lob; denn seine lasterhafte Natur sei durch Geistesbildung so von ihm gebändigt und unterdrückt worden, daß niemand ihn jemals betrunken, niemand an ihm jemals Spuren sinnlicher Lust gesehen habe. Aber wie ist es erst bei Sokrates? Kann man nicht nachlesen, zu was für einer Figur der Physiognom Zopyros ihn abgestempelt hat, der sich anheischig machte, den Charakter und das Naturell eines Menschen am Körperbau, an den Augen, am Gesichtsausdruck und an der Stirn genau zu erkennen? Dumm sei Sokrates, sagte er, und schwer von Begriff, weil er im Bereich der Schlüsselbeine keine Vertiefungen habe. Diese Partien (seines Körpers) seien zugebaut und verstopft, sagte er, und dann fügte er auch noch hinzu, er habe eine Schwäche für das schöne Geschlecht, woraufhin Alkibiades in lautes Lachen ausgebrochen sein soll. 11 Freilich können die genannten Fehler sehr wohl aus natürlichen Ursachen entstehen; daß sie aber ausgerottet und von Grund auf beseitigt werden, so daß selbst derjenige, der einen Hang zu ihnen hatte, sich von solchen Fehlern abbringen läßt, das beruht nicht auf natürlichen Ursachen, sondern darauf,

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bus causis, sed in voluntate, studio, disciplina. Quae tolluntur omnia, si vis et natura fati ex divinationis ratione firmabitur. VI Etenim si est divinatio, qualibusnam a perceptis artis proficiscitur? – Percepta appello, quae dicuntur Graece θεωρήματα – Non enim credo nullo percepto aut ceteros artifices 5 versari in suo munere, aut eos, qui divinatione utantur, futura praedicere. 12 Sint igitur astrologorum percepta huius modi: »Si quis verbi causa oriente Canicula natus est, is in mari non morietur.« Vigila, Chrysippe, ne tuam causam, in qua tibi cum Diodoro, 10 valente dialectico, magna luctatio est, deseras. Si enim est verum, quod ita conectitur: »Si quis oriente Canicula natus est, is in mari non morietur«, illud quoque verum est: »Si Fabius oriente Canicula natus est, Fabius in mari non morietur.« Pugnant igitur haec inter se, Fabium oriente Canicula natum 15 esse et Fabium in mari moriturum; et quoniam certum in Fabio ponitur, natum esse eum Canicula oriente, haec quoque pugnant, et esse Fabium et in mari esse moriturum. Ergo haec quoque coniunctio est ex repugnantibus: »Et est Fabius et in

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daß man guten Willen hat, sich Mühe gibt und auf Zucht und Ordnung hält. All das würde zunichte, sollte durch das in der Mantik angewandte Verfahren bestätigt werden, daß das Schicksal eine ihm von Natur aus zukommende Macht besitzt. VI Es stellt sich ja, wenn es die Mantik gibt, die Frage, von welcher Art denn die wissenschaftlichen Grundsätze sind – Grundsätze nenne ich, was im Griechischen theōrēmata heißt –, die ihren Ausgangspunkt bilden. Denn daß sie, ohne dabei von irgendeinem Grundsatz auszugehen, Vorhersagen über die Zukunft machen, kann ich von denjenigen, welche die Mantik praktizieren, ebensowenig glauben, wie ich von den Fachleuten auf den übrigen Wissensgebieten glauben kann, daß sie ihre Arbeit verrichten, ohne dies zu tun. 12 Nehmen wir also einmal an, die Grundsätze der Astrologen seien (Sätze) wie dieser: »Wenn jemand« – sagen wir: »beim Aufgang des Sirius« – »geboren ist, wird er nicht im Meer sterben.« Paß gut auf, Chrysipp, daß du deinen Standpunkt, über den du mit der Logikkoryphäe Diodor in heftigem Streit liegst, nicht aufgibst! Wenn nämlich die Implikation wahr ist, die folgendermaßen lautet: »Wenn jemand beim Aufgang des Sirius geboren ist, wird er nicht im Meer sterben«, so ist auch diese wahr: »Wenn Fabius beim Aufgang des Sirius geboren ist, wird Fabius nicht im Meer sterben.« Folglich sind die beiden Sachverhalte, daß Fabius beim Aufgang des Sirius geboren ist und daß Fabius im Meer sterben wird, unverträglich miteinander; und da man bei Fabius als sicher annehmen kann, daß er beim Aufgang des Sirius geboren ist, sind auch die beiden Sachverhalte unverträglich miteinander, daß Fabius (jetzt) existiert und daß er im Meer sterben wird. Daß sie aus zwei nicht miteinander verträglichen Gliedern besteht, gilt somit auch für

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mari Fabius morietur«, quod, ut propositum est, ne fieri quidem potest. Ergo illud: »Morietur in mari Fabius« ex eo genere est, quod fieri non potest. Omne ergo, quod falsum dicitur in futuro, id fieri non potest. VII 13 At hoc, Chrysippe, minime vis, maximeque tibi de hoc 5 ipso cum Diodoro certamen est. Ille enim id solum fieri posse dicit, quod aut sit verum aut futurum sit verum, et quicquid futurum sit, id dicit fieri necesse esse, et quicquid non sit futurum, id negat fieri posse. Tu et quae non sint futura, posse fieri dicis, ut frangi hanc gemmam, etiamsi id numquam futu- 10 rum sit, neque necesse fuisse Cypselum regnare Corinthi, quamquam id millesimo ante anno Apollinis oraculo editum esset. At si ista comprobabis divina praedicta, et quae falsa in futuris dicentur, in iis habebis, ut ea fieri non possint, [ut si dicatur Africanum Carthagine potiturum], et si vere dicatur de 15 futuro idque ita futurum sit, dicas esse necessarium; quae est tota Diodori vobis inimica sententia. 14 Etenim si illud vere conectitur: »Si oriente Canicula natus es, in mari non moriere«, primumque quod est in conexo:

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die konjunktive Aussage »Sowohl dies ist der Fall, daß Fabius (jetzt) existiert, als auch dies, daß Fabius im Meer sterben wird«, was so, wie es vorgelegt ist, gewiß nicht geschehen kann. Folglich gehört das, (was der Satz) »Fabius wird im Meer sterben« (aussagt), zur Gattung dessen, was nicht geschehen kann. Alles, was bezüglich der Zukunft falsch ausgesagt wird, kann folglich nicht geschehen. VII 13 Aber dies, Chrysipp, willst du ganz und gar nicht, und vor allem dies ist es ja auch, worüber du dich mit Diodor streitest. Dieser behauptet nämlich, daß nur das geschehen könne, was entweder schon wirklich geschehe oder einmal wirklich geschehen werde; und alles, was geschehen werde, behauptet er, geschehe notwendigerweise, während alles, was nicht geschehen werde, auch nicht geschehen könne. Du hingegen behauptest, auch das, was nicht geschehen werde, könne geschehen, z. B. könne dieser Edelstein da zerbrechen, auch wenn dies niemals der Fall sein werde, und es sei auch nicht notwendig gewesen, daß Kypselos in Korinth herrschen würde, obwohl dies schon tausend Jahre zuvor durch einen Orakelspruch Apollos verkündet worden sei. Aber wenn du göttliche Vorhersagen wie diese als zuverlässig anerkennst, wirst du einerseits das, was bezüglich der Zukunft falsch ausgesagt wird, zu dem zählen müssen, was nicht geschehen kann, [wie wenn z. B. ausgesagt würde, (Scipio) Africanus werde Karthago einnehmen], während du andererseits von etwas, das wahr über die Zukunft ausgesagt wird und das somit auch so sein wird, (wie es ausgesagt wird), sagen mußt, es sei notwendig; und dies ist ganz die euch (Stoikern) so verhaßte Meinung Diodors. 14 Es wird ja, wenn die Aussage »Wenn du beim Aufgang des Sirius geboren bist, wirst du nicht im Meer sterben« eine

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»Natus es oriente Canicula« necessarium est – omnia enim vera in praeteritis necessaria sunt, ut Chrysippo placet dissentienti a magistro Cleanthe, quia sunt immutabilia nec in falsum e vero praeterita possunt convertere –, si igitur, quod primum in conexo est, necessarium est, fit etiam, quod consequitur, 5 necessarium. Quamquam hoc Chrysippo non videtur valere in omnibus; sed tamen, si naturalis est causa, cur in mari Fabius non moriatur, in mari Fabius mori non potest. VIII 15 Hoc loco Chrysippus aestuans falli sperat Chaldaeos ceterosque divinos neque eos usuros esse con〈exis, sed con〉- 10 iunctionibus, ut 〈non〉 ita sua percepta pronuntient: »Si quis natus est oriente Canicula, is in mari non morietur«, sed potius ita dicant: »Non et natus est quis oriente Canicula et is in mari morietur.« O licentiam iocularem! Ne ipse incidat in Diodorum, docet 15 Chaldaeos, quo pacto eos exponere percepta oporteat. Quaero enim, si Chaldaei ita loquantur, ut negationes infinitarum coniunctionum potius quam infinita conexa ponant, cur idem medici, cur geometrae, cur reliqui facere non possint. Medicus in primis, quod erit ei perspectum in arte, non ita proponet: 20

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wahre Implikation ist und wenn die Aussage »Du bist beim Aufgang des Sirius geboren«, die in dieser Implikation als Vordersatz fungiert, notwendig ist – nach der Auffassung, die Chrysipp im Gegensatz zu seinem Lehrer Kleanthes vertritt, ist nämlich alles Wahre in der Vergangenheit notwendig, da das Vergangene unabänderlich ist und sich nicht von etwas Wahrem in etwas Falsches verwandeln kann –, es wird also, wenn der Vordersatz der fraglichen Implikation notwendig ist, auch ihr Nachsatz notwendig. Nun ist Chrysipp allerdings der Meinung, dies gelte nicht in allen Fällen; aber gleichwohl kann, wenn es eine natürliche Ursache dafür gibt, daß Fabius nicht im Meer sterben wird, Fabius nicht im Meer sterben. VIII 15 An diesem Punkt weiß Chrysipp nicht mehr ein noch aus und hofft, die Chaldäer und die übrigen Weissager ließen sich hinters Licht führen und sie würden künftig keine Implikationen, sondern Konjunktionen verwenden, so daß sie ihre Grundsätze nicht so formulieren würden: »Wenn jemand beim Aufgang des Sirius geboren ist, wird er nicht im Meer sterben«, sondern es vorzögen, sich folgendermaßen auszudrücken: »Es ist nicht sowohl der Fall, daß jemand beim Aufgang des Sirius geboren ist, als auch der Fall, daß er im Meer sterben wird.« Wie lächerlich, was er sich da herausnimmt! Um nicht selbst in das Fahrwasser Diodors zu geraten, schulmeistert er die Chaldäer, wie sie ihre Grundsätze eigentlich zu formulieren hätten. Ich frage mich nämlich, warum denn, falls die Chaldäer so reden sollten, daß sie es vorzögen, statt unbestimmter Implikationen Negationen unbestimmter Konjunktionen zu äußern, dasselbe nicht auch die Ärzte, die Geometer und alle anderen (Fachleute) tun könnten. Der Arzt zunächst einmal würde dann die Erkenntnisse, die er bei der Ausübung seiner

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»Si cui venae sic moventur, is habet febrim«, sed potius illo modo: »Non et venae sic 〈cui〉 moventur et is febrim non habet.« Itemque geometres non ita dicet: »In sphaera maximi orbes medii inter se dividuntur«, sed potius illo modo: »Non et sunt in sphaera maximi orbes et ii non medii inter se dividun- 5 tur.« 16 Quid est, quod non possit isto modo ex conexo transferri ad coniunctionum negationem? Et quidem aliis modis easdem res efferre possumus. Modo dixi: »In sphaera maximi orbes medii inter se dividuntur«; possum dicere: »Si in sphaera maxi- 10 mi orbes erunt«, possum dicere: »Quia in sphaera maximi orbes erunt«. Multa genera sunt enuntiandi, nec ullum distortius quam hoc, quo Chrysippus sperat Chaldaeos contentos Stoicorum causa fore. IX 17 Illorum tamen nemo ita loquitur; maius est enim has 15 contortiones orationis quam signorum ortus obitusque perdiscere. Sed ad illam Diodori contentionem, quam περὶ δυνατῶν appellant, revertamur, in qua, quid valeat id quod fieri possit, anquiritur. Placet igitur Diodoro id solum fieri posse, quod aut 20

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Kunst gewonnen hat, nicht so vorlegen, (daß er beispielsweise sagen würde): »Wenn bei jemandem der Puls in der und der Weise schlägt, hat er Fieber«, sondern vielmehr in folgender Form: »Es ist nicht sowohl der Fall, daß bei jemandem der Puls in der und der Weise schlägt, als auch der Fall, daß er kein Fieber hat.« Ebenso würde sich der Geometer nicht so ausdrücken: »Auf einer Kugel halbieren sich die Großkreise gegenseitig«, sondern vielmehr in folgender Form: »Es ist nicht sowohl der Fall, daß sich auf einer Kugel Großkreise befinden, als auch der Fall, daß sie sich nicht gegenseitig halbieren.« 16 Was gibt es, das nicht auf diese Weise von einer Implikation in die Negation einer Konjunktion umgeformt werden könnte? Und gewiß können wir dieselben Sachverhalte auch noch auf andere Weisen zum Ausdruck bringen. Soeben sagte ich: »Auf einer Kugel halbieren sich die Großkreise gegenseitig.« Ich könnte auch sagen: »Wenn sich auf einer Kugel Großkreise befinden, (…)«; und ich könnte auch sagen: »Da sich auf einer Kugel Großkreise befinden, (…)«. Es gibt eine Vielzahl von Ausdrucksweisen, aber keine ist verschrobener als diejenige, von der Chrysipp hofft, daß sich die Chaldäer den Stoikern zuliebe mit ihr abfinden werden. IX 17 Von denen redet jedoch keiner so; denn es ist eine größere Sache, diese geschraubten Formulierungen auswendig zu lernen als die (Daten der) Auf- und Untergänge der Gestirne. Aber laß uns doch wieder zu jener Auseinandersetzung mit Diodor peri dynatōn (»über das Mögliche«), wie man (in Philosophenkreisen) sagt, zurückkehren, bei der es um die Frage geht, was es mit dem auf sich hat, was geschehen kann. Diodor ist also der Auffassung, nur das könne geschehen, was entweder schon wirklich geschehe oder einmal wirklich gesche-

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verum sit aut verum futurum sit. Qui locus attingit hanc quaestionem, nihil fieri, quod non necesse fuerit, et, quicquid fieri possit, id aut esse iam aut futurum esse, nec magis commutari ex veris in falsa posse ea, quae futura, quam ea, quae facta sunt, sed in factis immutabilitatem apparere, in futuris 5 quibusdam, quia non appareat, ne inesse quidem videri, ut in eo, qui mortifero morbo urgeatur, verum sit: »Hic morietur hoc morbo«, at hoc idem, si vere dicatur in eo, in quo vis morbi tanta non appareat, nihilo minus futurum sit. Ita fit, ut commutatio ex vero in falsum ne in futuro quidem 10 ulla fieri possit. Nam »Morietur Scipio« talem vim habet, ut, quamquam de futuro dicitur, tamen ut id non possit convertere in falsum; [de homine enim dicitur, cui necesse est mori]. 18 Sic si diceretur: »Morietur noctu in cubiculo suo vi oppressus Scipio«, 〈non minus〉 vere diceretur; id enim fore diceretur, 15 quod esset futurum; futurum autem fuisse ex eo, quia factum est, intellegi debet. Nec magis erat verum »Morietur Scipio«

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hen werde. Die Position, die er damit bezieht, steht mit der strittigen These in Zusammenhang, daß nichts geschehe, was nicht notwendigerweise habe geschehen müssen, daß alles, was geschehen könne, entweder schon stattfinde oder noch stattfinden werde und daß das, was noch geschehen wird, sich ebensowenig von etwas Wahrem zu etwas Falschem verändern könne wie das, was bereits geschehen ist, nur daß diese Unveränderlichkeit bei schon Geschehenem klar zutage liege, während sie bei gewissen zukünftigen Ereignissen deshalb, weil sie bei ihnen nicht klar erkennbar sei, auch nicht vorzuliegen scheine; so sei es z. B. im Falle eines Menschen, der von einer todbringenden Krankheit befallen sei, wahr (zu sagen): »Dieser wird an der und der Krankheit sterben«, aber wenn genau dasselbe im Falle eines Menschen wahrheitsgemäß ausgesagt werde, bei dem nicht klar erkennbar sei, daß seine Krankheit eine so große Wirkungskraft habe, werde es nichtsdestominder geschehen. Somit ergibt sich, daß auch bei Zukünftigem keinerlei Veränderung von etwas Wahrem zu etwas Falschem stattfinden kann. Die Aussage »Scipio wird sterben« (beispielsweise) hat ja eine Bedeutung von der Art, daß sie sich, obwohl sie eine Aussage über die Zukunft ist, dennoch nicht in etwas Falsches verwandeln kann; [bezieht sie sich doch auf einen Menschen, der (als solcher) notwendigerweise sterben muß]. 18 Würde aber ausgesagt: »Scipio wird bei Nacht in seinem Schlafgemach als Opfer einer Gewalttat sterben«, so wäre diese Aussage nicht minder wahr; denn daß es geschehen werde, würde dann ja von etwas ausgesagt, für das tatsächlich gelten würde, daß es geschehen wird. Daß aber einmal für es galt, daß es geschehen würde, muß man einfach daraus ersehen, daß es geschehen ist. Somit war die Aussage »Scipio wird sterben« nicht eher wahr als die Aussage »Scipio wird auf die erwähnte

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quam »Morietur illo modo«, nec magis necesse mori Scipioni quam illo modo mori, nec magis immutabile ex vero in falsum »Necatus est Scipio« quam »Necabitur Scipio«. Nec, cum haec ita sint, est causa, cur Epicurus fatum extimescat et ab atomis petat praesidium easque de via deducat et 5 uno tempore suscipiat res duas inenodabiles, unam, ut sine causa fiat aliquid, ex quo exsistet, ut de nihilo quippiam fiat, quod nec ipsi nec cuiquam physico placet, alteram, ut, cum duo individua per inanitatem ferantur, alterum e regione mo10 veatur, alterum declinet. 19 Licet enim Epicuro concedenti omne enuntiatum aut verum aut falsum esse non vereri, ne omnia fato fieri sit necesse; non enim aeternis causis naturae necessitate manantibus verum est id, quod ita enuntiatur: »Descendet in Academiam Carneades«, nec tamen sine causis; sed interest inter causas fortuito 15 antegressas et inter causas cohibentis in se efficientiam naturalem. Ita et semper verum fuit »Morietur Epicurus, cum duo et septuaginta annos vixerit, archonte Pytharato«, neque tamen

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Art und Weise sterben«, und für Scipio war es nicht eher notwendig, daß er sterben würde, als es notwendig für ihn war, daß er auf die erwähnte Art und Weise sterben würde, und nicht eher war es für die Aussage »Scipio ist getötet worden« unmöglich, sich von von einer wahren zu einer falschen Aussage zu verändern, als für die Aussage »Scipio wird getötet werden«. Es gibt aber keineswegs deshalb, weil dem so ist, für Epikur einen Grund, sich vor dem Schicksal zu fürchten und bei den Atomen Hilfe zu suchen, indem er sie von ihrer Bahn abweichen läßt, womit er sich zwei unauflösliche Schwierigkeiten zugleich einhandelt, nämlich zum einen die, daß etwas ohne Ursache geschieht, woraus ja folgt, daß etwas aus dem Nichts entsteht, was weder nach seiner eigenen Meinung noch nach der Meinung irgendeines Naturphilosophen der Fall sein kann, und zum andern die, daß dann, wenn zwei atomare Körperchen durch den leeren Raum fallen, das eine sich geradlinig fortbewegt, das andere hingegen (von seiner Bahn) abweicht. 19 Epikur bräuchte nämlich, wenn er zugäbe, daß jede Aussage entweder wahr oder falsch ist, deshalb nicht zu befürchten, daß notwendigerweise alles durch das Schicksal geschieht. Denn nicht aufgrund ewiger, aus Naturnotwendigkeit entspringender Ursachen ist wahr, was in dem Satz »Karneades wird zur Akademie hinabgehen« ausgesagt wird, und dennoch ist es nicht ohne Ursachen wahr. Aber es besteht ein Unterschied zwischen Ursachen, die (ihrer Wirkung) zufällig vorausgegangen sind, und Ursachen, die eine natürliche Wirkungskraft in sich haben. Somit war zwar die Aussage »Epikur wird, nachdem er 72 Jahre gelebt hat, in der Amtszeit des Archonten Pytharatos sterben« schon immer wahr, aber es gab dennoch keine schicksalhaften Ursachen dafür, daß es sich so zutragen

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erant causae fatales, cur ita accideret, sed quod ita cecidit, certe casurum, sicut cecidit, fuit. 20 Nec ii, qui dicunt immutabilia esse quae futura sint nec posse verum futurum convertere in falsum, fati necessitatem confirmant, sed verborum vim interpretantur. At qui introdu- 5 cunt causarum seriem sempiternam, ii mentem hominis voluntate libera spoliatam necessitate fati devinciunt. X Sed haec hactenus; alia videamus. Concludit enim Chrysippus hoc modo: »Si est motus sine causa, non omnis enuntiatio, quod ἀξίωμα dialectici appellant, aut vera aut falsa erit; causas 10 enim efficientis quod non habebit, id nec verum nec falsum erit; omnis autem enuntiatio aut vera aut falsa est; motus ergo sine causa nullus est. 21 Quod si ita est, omnia, quae fiunt, causis fiunt antegressis; id si ita est, fato omnia fiunt; efficitur igitur fato fieri, quaecum- 15 que fiant.« Hic primum si mihi libeat assentiri Epicuro et negare omnem enuntiationem aut veram esse aut falsam, eam plagam potius accipiam quam fato omnia fieri comprobem; illa enim

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würde, sondern einfach deshalb, weil es sich so zugetragen hat, galt mit Sicherheit, daß es sich so, wie es sich zugetragen hat, zutragen würde. 20 Diejenigen, die behaupten, das Zukünftige sei unveränderlich und etwas die Zukunft betreffendes Wahres könne sich nicht in etwas Falsches verwandeln, bekräftigen also nicht die Notwendigkeit des Schicksals, sondern erläutern lediglich die Bedeutung von Wörtern. Diejenigen hingegen, die eine sich in ewige Zeiten erstreckende Ursachenreihe einführen, berauben den menschlichen Geist seiner Willensfreiheit und legen ihm die Fesseln der Notwendigkeit des Schicksals an. X Aber hierzu nur soviel; richten wir unser Augenmerk nun auf etwas anderes! Chrysipp schließt nämlich folgendermaßen: »Wenn es eine Bewegung ohne Ursache gibt, kann nicht jede Aussage – das, was bei den Logikern axiōma heißt – entweder wahr oder falsch sein; denn (eine Aussage über) etwas, das keine (es) bewirkenden Ursachen hat, ist weder wahr noch falsch. Nun ist aber jede Aussage entweder wahr oder falsch. Also gibt es keine Bewegung ohne Ursache. 21 Wenn dies aber der Fall ist, geschieht alles, was geschieht, aufgrund von Ursachen, die (ihren Wirkungen) vorausgegangen sind; und wenn dies der Fall ist, geschieht alles durch das Schicksal. Somit ergibt sich, daß, was auch immer geschieht, durch das Schicksal geschieht.« Sollte mir hier zum ersten Mal der Sinn danach stehen, Epikur zuzustimmen und zu bestreiten, daß jede Aussage entweder wahr oder falsch ist, so ließe ich mir wohl eher diesen Stoß versetzen, als daß ich anerkennen würde, daß alles durch das Schicksal geschieht. Denn über die erstere Ansicht könnte

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sententia habet aliquid disputationis, haec vero non est tolerabilis. Itaque contendit omnis nervos Chrysippus, ut persuadeat omne ἀξίωμα aut verum esse aut falsum. Ut enim Epicurus veretur, ne, si hoc concesserit, concedendum sit fato fieri, quae- 5 cumque fiant – si enim alterum utrum ex aeternitate verum sit, esse id etiam certum et, si certum, etiam necessarium; ita et necessitatem et fatum confirmari putat –, sic Chrysippus metuit, ne, si non obtinuerit omne, quod enuntietur, aut verum esse aut falsum, non teneat omnia fato fieri et ex causis 10 aeternis rerum futurarum. 22 Sed Epicurus declinatione atomi vitari necessitatem fati putat. Itaque tertius quidam motus oritur extra pondus et plagam, cum declinat atomus intervallo minimo – id appellat ἐλάχιστον –; quam declinationem sine causa fieri, si minus 15 verbis, re cogitur confiteri. Non enim atomus ab atomo pulsa declinat. Nam qui potest pelli alia ab alia, si gravitate feruntur ad perpendiculum corpora individua rectis lineis, ut Epicuro placet? Sequitur enim, ut [si] alia ab alia numquam depellatur,

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man noch mit sich reden lassen; aber die letztere ist bestimmt nicht haltbar. Chrysipp bietet also seine ganze Kraft auf, um (seine Gegner) davon zu überzeugen, daß jedes axiōma entweder wahr oder falsch ist. Denn wie Epikur befürchtet, er müßte, wenn er dies zugäbe, auch zugeben, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht – wenn nämlich von zwei (einander widersprechenden axiōmata) genau eines von Ewigkeit her wahr wäre, müßte es seiner Meinung nach auch sicher sein und, wenn es sicher wäre, auch notwendig, und so glaubt er, daß sowohl die Notwendigkeit (von allem) als auch das Schicksal bestätigt würden –, so hat Chrysipp Angst, er könnte, wenn er nicht daran festhielte, daß alles, was ausgesagt wird, entweder wahr oder falsch ist, auch nicht daran festhalten, daß alles durch das Schicksal geschieht und aufgrund von Ursachen, die von Ewigkeit her das Zukünftige bestimmen. 22 Epikur indessen glaubt, durch die Abweichung eines Atoms (von seiner Bahn) lasse sich die Notwendigkeit des Schicksals vermeiden. Und so kommt außer (den beiden durch) Gewicht und Stoß (zustande gebrachten Bewegungen) noch eine gewisse dritte Art von Bewegung zustande, wenn ein Atom um die kleinstmögliche Spanne – er nennt sie elachiston – (von seiner Bahn) abweicht. Wenn nicht durch das, was er sagt, so doch durch die Sachlage wird er zu dem Eingeständnis gezwungen, daß diese Abweichung ohne Ursache erfolgt. Ein Atom weicht ja nicht etwa deshalb (von seiner Bahn) ab, weil es von einem anderen Atom angestoßen worden wäre. Denn wie könnte denn ein Atom von einem anderen angestoßen werden, wenn die atomaren Körperchen aufgrund ihrer Schwere in geraden Linien senkrecht nach unten fallen, wie Epikur sich das vorstellt? Wenn nämlich keines ein anderes auch nur berührt, so

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〈si〉 ne contingat quidem alia aliam; ex quo efficitur, ut iam [si] sit atomus eaque declinet, declinare sine causa. 23 Hanc Epicurus rationem induxit ob eam rem, quod veritus est, ne, si semper atomus gravitate ferretur naturali ac necessaria, nihil liberum nobis esset, cum ita moveretur animus, 5 ut atomorum motu cogeretur. Id Democritus, auctor atomorum, accipere maluit, necessitate omnia fieri, quam a corporibus individuis naturalis motus avellere. XI Acutius Carneades, qui docebat posse Epicureos suam causam sine hac commenticia declinatione defendere. Nam cum 10 docere〈n〉t esse posse quendam animi motum voluntarium, id fuit defendi melius quam introducere declinationem, cuius praesertim causam reperire non possunt; quo defenso facile Chrysippo possent resistere. Cum enim concessissent motum nullum esse sine causa, non concederent omnia, quae fierent, 15 fieri causis antecedentibus; voluntatis enim nostrae non esse causas externas et antecedentis.

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hat dies zur Folge, daß auch keines von einem anderen jemals weggestoßen wird, woraus wiederum folgt, daß die Atome, vorausgesetzt, daß es sie überhaupt gibt und sie (von ihrer Bahn) abweichen, ohne Ursache (von ihr) abweichen. 23 Was Epikur dazu bewog, diese Theorie aufzustellen, ist seine Befürchtung, es gäbe, wenn ein Atom immer nur aufgrund der ihm mit Naturnotwendigkeit zukommenden Schwere dahinflöge, keine Freiheit für uns Menschen, da sich unser Geist dann so bewegen würde, wie er durch die Bewegung der Atome dazu gezwungen würde. Demokrit, der Erfinder der Atome, wollte dies lieber hinnehmen, daß alles mit Notwendigkeit geschieht, als den atomaren Körperchen ihre natürlichen Bewegungen entreißen. XI Als ein scharfsinnigerer Denker erwies sich Karneades, der zu zeigen versuchte, daß die Epikureer ihren Standpunkt auch ohne diese der Phantasie entsprungene Bahnabweichung (der Atome) verteidigen könnten. In der Tat hätten sie, da sie ja zu zeigen versuchten, daß es so etwas wie eine freie Willensbewegung unseres Geistes geben könne, besser daran getan, diese Ansicht zu verteidigen, als die Bahnabweichung einzuführen, zumal sie keine Ursache für sie ausfindig machen können. Mit der Verteidigung dieser Ansicht könnten sie Chrysipp leicht Widerstand leisten. Denn wenn sie zugeben würden, daß es keine Bewegung ohne Ursache gibt, müßten sie ja deswegen nicht auch zugeben, daß alles, was geschieht, durch (ihm äußerliche und ihm) vorhergehende Ursachen geschieht; denn für unseren Willen, (könnten sie erklären), gebe es keine (ihm) äußerlichen und (ihm) vorhergehenden Ursachen.

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24 Communi igitur consuetudine sermonis abutimur, cum ita dicimus, velle aliquid quempiam aut nolle sine causa; ita enim dicimus »sine causa«, ut dicamus sine externa et antecedente causa, non sine aliqua; ut, cum vas inane dicimus, non ita loquimur, ut physici, quibus inane esse nihil placet, sed ita, ut 5 verbi causa sine aqua, sine vino, sine oleo vas esse dicamus, sic, cum sine causa animum dicimus moveri, sine antecedente et externa causa moveri, non omnino sine causa dicimus. De ipsa atomo dici potest, cum per inane moveatur gravitate et pon10 dere, sine causa moveri, quia nulla causa accedat extrinsecus. 25 Rursus autem, ne omnes physici irrideant 〈nos〉, si dicamus quicquam fieri sine causa, distinguendum est et ita dicendum, ipsius individui hanc esse naturam, ut pondere et gravitate moveatur, eamque ipsam esse causam, cur ita feratur. Similiter ad animorum motus voluntarios non est requirenda externa 15 causa; motus enim voluntarius eam naturam in se ipse continet, ut sit in nostra potestate nobisque pareat, nec id sine causa; eius rei enim causa ipsa natura est.

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24 Wir gebrauchen unsere Sprache also, wenn wir sagen, daß jemand etwas ohne Ursache wolle oder nicht wolle, nicht so, wie man sie gemeinhin zu gebrauchen pflegt. Denn wenn wir sagen: »ohne Ursache«, meinen wir damit: »ohne eine (dem Willen) äußerliche und (ihm) vorhergehende Ursache« und nicht: »ohne irgendeine Ursache«. Wie wir, wenn wir von einem Gefäß sagen, es sei leer, nicht so sprechen wie die Naturphilosophen, nach deren Auffassung das Leere das (reine) Nichts ist, sondern so, daß wir damit meinen, daß das Gefäß beispielsweise ohne Wasser, ohne Wein oder ohne Öl sei, so meinen wir, wenn wir von unserem Geist sagen, er bewege sich ohne Ursache, daß er sich ohne eine (ihm) vorhergehende und (ihm) äußerliche Ursache bewege, und nicht, daß er sich ganz und gar ohne Ursache bewege. Selbst vom Atom könnte man, da es sich aufgrund seiner Schwere und seines Gewichts durch den leeren Raum bewegt, sagen, daß es sich ohne Ursache bewege, weil ja keine Ursache von außen hinzukomme. 25 Aber auch hier müssen wir uns, um nicht zum Gespött sämtlicher Naturphilosophen zu werden, wenn wir sagen, etwas geschehe ohne Ursache, wiederum differenzierter ausdrücken und sagen, dem Atom sei eine Natur von der Art eigen, daß es sich aufgrund seines Gewichts und seiner Schwere bewegt, und sie selbst sei die Ursache dafür, daß es in dieser Weise dahinfliegt. Ebenso dürfen wir auch für die freien Willensbewegungen unseres Geistes keine (ihnen) äußerliche Ursache verlangen. Denn die freie Willensbewegung hat eine ihr eigene Natur von der Art, daß sie in unserer Macht steht und uns Gehorsam leistet, aber nicht ohne Ursache; denn es ist ja gerade ihre Natur, die hierfür die Ursache ist.

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26 Quod cum ita sit, quid est, cur non omnis pronuntiatio aut vera aut falsa sit, nisi concesserimus fato fieri, quaecumque fiant? »Quia futura vera«, inquit, »non possunt esse ea, quae causas, cur futura sint, non habent; habeant igitur causas neces5 se est ea, quae vera sunt; ita, cum evenerint, fato evenerint.« XII Confectum negotium, si quidem concedendum tibi est aut fato omnia fieri aut quicquam fieri posse sine causa. 27 An aliter haec enuntiatio vera esse non potest: »Capiet Numantiam Scipio«, nisi ex aeternitate causa causam serens hoc erit effectura? An hoc falsum potuisset esse, si esset ses- 10 centis saeculis ante dictum? Et si tum non esset vera haec enuntiatio: »Capiet Numantiam Scipio«, ne illa quidem eversa esset vera haec enuntiatio: »Cepit Numantiam Scipio«. Potest igitur quicquam factum esse, quod non verum fuerit futurum esse? Nam ut praeterita ea vera dicimus, quorum superiore 15 tempore vera fuerunt instantia, sic futura, quorum consequenti tempore vera erunt instantia, ea vera dicemus.

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26 Weshalb sollte unter diesen Umständen nur dann für jede Aussage gelten, daß sie entweder wahr oder falsch ist, wenn wir zugeben, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht? »Deshalb«, sagt er (d. h. Chrysipp), »weil es im Falle derjenigen Ereignisse nicht wahr sein kann, daß sie in Zukunft stattfinden, die keine Ursachen dafür haben, daß sie in Zukunft stattfinden. Es ist also notwendig, daß diejenigen Ursachen hierfür haben, bei denen dies wahr ist, und somit werden sie, wenn sie eingetreten sein werden, durch das Wirken des Schicksals eingetreten sein.« XII Da können wir die Akten über diese Angelegenheit schließen, wenn wir dir zugeben müssen, (Chrysipp), daß entweder alles durch das Schicksal geschieht oder etwas auch ohne Ursache geschehen kann. 27 Oder sollte die Aussage »Scipio wird Numantia erobern« etwa unter keiner anderen Bedingung wahr sein können als der, daß sich von Ewigkeit her eine Ursache an die andere reiht, um dies schließlich zu bewirken? Oder hätte dies etwa falsch sein können, wenn es schon vor Tausenden von Jahren vorhergesagt worden wäre? Und wenn damals die Aussage »Scipio wird Numantia erobern« nicht wahr gewesen wäre, so wäre auch nach der Zerstörung jener Stadt die Aussage »Scipio hat Numantia erobert« nicht wahr. Kann also irgend etwas geschehen sein, ohne daß es schon zuvor wahr gewesen wäre, daß es geschehen wird? Denn wie wir von etwas sagen, es sei wahr, daß es in der Vergangenheit geschehen ist, wenn es zu einem früheren Zeitpunkt einmal wahr gewesen ist, daß es gegenwärtig geschieht, so werden wir auch von etwas sagen müssen, es sei wahr, daß es in Zukunft geschehen wird, wenn es zu einem späteren Zeitpunkt einmal wahr sein wird, daß es gegenwärtig geschieht.

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28 Nec, si omne enuntiatum aut verum aut falsum est, sequitur ilico esse causas immutabilis easque aeternas, quae prohibeant quicquam secus cadere, atque casurum sit. Fortuitae sunt causae, quae efficiant, ut vere dicantur, quae ita dicentur: »Veniet in senatum Cato«, non inclusae in rerum natura atque 5 mundo; et tamen tam est immutabile venturum, cum est verum, quam venisse; nec ob eam causam fatum aut necessitas extimescenda est. Etenim erit confiteri necesse, si haec enuntiatio: »Veniet in Tusculanum Hortensius« vera non est, sequitur, ut falsa sit. Quorum isti neutrum volunt, quod fieri non 10 potest. Nec nos impediet illa ignava ratio, quae dicitur; appellatur enim quidam a philosophis ἀργὸς λόγος, cui si pareamus, nihil omnino agamus in vita. Sic enim interrogant: »Si fatum tibi est ex hoc morbo convalescere, sive tu medicum adhibueris sive 15 non adhibueris, convalesces; 29 item, si fatum tibi est ex hoc morbo non convalescere, sive tu medicum adhibueris sive non adhibueris, non convalesces; et alterutrum fatum est; medicum ergo adhibere nihil attinet.«

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28 So folgt denn daraus, daß jede Aussage entweder wahr oder falsch ist, nicht ohne weiteres, daß es unveränderliche und ewige Ursachen gibt, die verhindern, daß irgend etwas anders verläuft, als es tatsächlich verlaufen wird. Es sind zufällige Ursachen, die bewirken, daß eine Aussage wie »Cato wird in den Senat kommen« wahr ist, Ursachen, die keine festen Bestandteile des Naturgeschehens und der Weltordnung sind; und dennoch ist Catos Kommen, wenn es wahr ist, daß er kommen wird, ebenso unabänderlich wie sein Gekommensein, (wenn es wahr ist, daß er gekommen ist); aber dies ist kein Grund, vor dem Schicksal oder der Notwendigkeit in Furcht zu geraten. In der Tat wird man das Eingeständnis machen müssen: Wenn die Aussage »Hortensius wird auf sein Landgut bei Tusculum kommen« nicht wahr ist, so folgt daraus, daß sie falsch ist. Diese (Epikureer) da sind der Meinung, sie sei keines von beidem, was ein Ding der Unmöglichkeit ist. Uns wird auch das bekannte Untätigkeitsargument, wie man es nennt, keine Hindernisse in den Weg legen. Es gibt ja ein Argument, das bei den Philosophen argos logos (»untätig machendes Argument«) heißt. Würden wir uns von ihm leiten lassen, so würden wir in unserem Leben rein gar nichts tun. Man holt sich nämlich, (wenn man es vorbringt), nach folgendem Muster formulierte Antworten auf (entsprechend gestellte) Fragen ein: »Wenn es dir vom Schicksal bestimmt ist, von dieser Krankheit zu genesen, so wirst du von ihr genesen, ob du nun einen Arzt hinzuziehst oder nicht. 29 Ebenso wirst du, wenn es dir vom Schicksal bestimmt ist, von dieser Krankheit nicht zu genesen, nicht von ihr genesen, ob du nun einen Arzt hinzuziehst oder nicht. Nun ist dir aber eines von beidem vom Schicksal bestimmt. Also hat es keinen Sinn, einen Arzt hinzuzuziehen.«

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XIII Recte genus hoc interrogationis ignavum atque iners nominatum est, quod eadem ratione omnis e vita tolletur actio. Licet etiam immutare, ut fati nomen ne adiungas et eandem tamen teneas sententiam, hoc modo: »Si ex aeternitate verum hoc fuit: ›Ex isto morbo convalesces‹, sive adhibueris medicum 5 sive non adhibueris, convalesces; itemque, si ex aeternitate falsum hoc fuit: ›Ex isto morbo convalesces‹, sive adhibueris medicum sive non adhibueris, non convalesces«; deinde cetera. 30 Haec ratio a Chrysippo reprehenditur. »Quaedam enim 10 sunt«, inquit, »in rebus simplicia, quaedam copulata. Simplex est: ›Morietur illo die Socrates‹; huic, sive quid fecerit sive non fecerit, finitus est moriendi dies. At si ita fatum sit: ›Nascetur Oedipus Laio‹, non poterit dici: ›sive fuerit Laius cum muliere sive non fuerit‹; copulata enim res est et confatalis.« Sic enim 15 appellat, quia ita fatum sit et concubiturum cum uxore Laium et ex ea Oedipum procreaturum. Ut, si esset dictum: »Luctabi-

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XIII Man hat diese Art der Einholung von Antworten auf (entsprechend gestellte) Fragen deshalb mit Recht als untätig und träge machend bezeichnet, weil sie eine Argumentation darstellt, durch die jegliche Aktivität aus unserem Leben verbannt wird. Um das Wort »Schicksal« nicht einfließen zu lassen und dennoch denselben Gedankengang beizubehalten, kann man (das Argument) auch folgendermaßen umformulieren: »Wenn die Aussage ›Du wirst von dieser Krankheit genesen‹ von Ewigkeit her wahr gewesen ist, so wirst du von dieser Krankheit genesen, ob du nun einen Arzt hinzuziehst oder nicht. Und ebenso wirst du, wenn die Aussage ›Du wirst von dieser Krankheit genesen‹ von Ewigkeit her falsch gewesen ist, nicht von dieser Krankheit genesen, ob du nun einen Arzt hinzuziehst oder nicht«; usw. 30 Bei Chrysipp stößt das fragliche Argument auf Kritik. »Von dem, was der Fall ist«, sagt er, »ist nämlich manches einfach (d. h. bedingungslos der Fall), anderes hingegen (mit einer Bedingung) verknüpft. Einfach ist (z. B. das, was in dem Satz ausgesagt wird): ›Sokrates wird an jenem Tag sterben‹; ist doch, ob er nun etwas dazu beiträgt oder nicht, der Tag seines Todes für ihn festgesetzt. Wenn jedoch vom Schicksal bestimmt sein sollte, (was in dem Satz ausgesagt wird): ›Dem Laios wird (ein Sohn namens) Ödipus geboren werden‹, so wird man nicht sagen können: ›ob Laios nun mit einer Frau verkehrt oder nicht‹; denn daß dies der Fall ist, ist (mit einer Bedingung) verknüpft und konfatal (d. h. zusammen mit der Erfüllung dieser Bedingung vom Schicksal bestimmt).« So nennt er dies deshalb, weil die Schicksalsbestimmung seiner Meinung nach hier von der Art ist, daß es sowohl vom Schicksal bestimmt ist, daß Laios mit seiner Ehefrau schlafen wird, als auch, daß er mit ihr den Ödipus zeugen wird. Man würde

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tur Olympiis Milon« et referret aliquis: »Ergo sive habuerit adversarium sive non habuerit, luctabitur«, erraret; est enim copulatum »luctabitur«, quia sine adversario nulla luctatio est. Omnes igitur istius generis captiones eodem modo refelluntur. »Sive tu adhibueris medicum sive non adhibueris, conva- 5 lesces« captiosum; tam enim est fatale medicum adhibere quam convalescere. Haec, ut dixi, confatalia ille appellat. XIV 31 Carneades genus hoc totum non probabat et nimis inconsiderate concludi hanc rationem putabat. Itaque premebat alio modo nec ullam adhibebat calumniam; cuius erat haec 10 conclusio: »Si omnia antecedentibus causis fiunt, omnia naturali colligatione conserte contexteque fiunt; quod si ita est, omnia necessitas efficit; id si verum est, nihil est in nostra potestate; est autem aliquid in nostra potestate; at, si omnia fato fiunt, omnia causis antecedentibus fiunt; non igitur fato 15 fiunt, quaecumque fiunt.« 32 Hoc artius astringi ratio non potest. Nam si quis velit idem referre atque ita dicere: »Si omne futurum ex aeternitate verum est, ut ita certe eveniat, quem ad modum sit futurum,

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sich ja z. B. auch irren, wenn man jemandem, der behauptet: »Milon wird bei den Olympischen Spielen ringen«, entgegnen würde: »Also wird er ringen, ob er nun einen Gegner hat oder nicht«; denn daß er ringen wird, ist (mit einer Bedingung) verknüpft, da ohne Gegner kein Ringkampf stattfinden kann. Alle Trugschlüsse dieser Art lassen sich also auf dieselbe Weise widerlegen. (Zu schließen:) »… so wirst du genesen, ob du nun einen Arzt hinzuziehst oder nicht« heißt, trügerisch zu schließen; denn einen Arzt hinzuzuziehen ist ebenso vom Schicksal bestimmt wie zu genesen. Chrysipp bezeichnet dergleichen, wie gesagt, als konfatal. XIV 31 Karneades mißbilligte diese ganze Art der Argumentation und hielt es für allzu unbedacht, auf diese Weise Schlüsse zu ziehen. Deshalb übte er in anderer Weise Druck (auf die Stoiker) aus, ohne dabei irgendwelche Kniffe anzuwenden. Der Schluß, den er zog, lautete: »Wenn alle Dinge aufgrund von Ursachen geschehen, die (ihnen) vorhergehen, geschehen alle Dinge so, daß sie Glieder ununterbrochener Ketten auf natürliche Weise miteinander verbundener Ereignisse sind. Wenn dem aber so ist, bewirkt alles die Notwendigkeit, und wenn dies wahr ist, steht nichts in unserer Macht. Nun gibt es aber Dinge, die in unserer Macht stehen. Wenn jedoch alles durch das Schicksal geschieht, geschehen alle Dinge aufgrund von Ursachen, die (ihnen) vorhergehen. Also geschieht nicht alles, was geschieht, durch das Schicksal.« 32 Besser könnte man das Argument nicht auf den Punkt bringen. Denn wenn jemand mit folgenden Worten dasselbe sagen wollte: »Wenn für alles, was in Zukunft geschieht, gilt, daß es von Ewigkeit her wahr ist, (daß es geschehen wird), so daß es mit Sicherheit so geschehen wird, wie es in Zukunft

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omnia necesse est colligatione naturali conserte contexteque fieri«, nihil dicat. Multum enim differt, utrum causa naturalis ex aeternitate futura vera efficiat, an etiam sine aeternitate naturali futura quae sint, ea vera esse possint intellegi. Itaque dicebat Carneades ne Apollinem quidem futura pos- 5 se dicere nisi ea, quorum causas natura ita contineret, ut ea fieri necesse esset. 33 Quid enim spectans deus ipse diceret Marcellum eum, qui ter consul fuit, in mari esse periturum? Erat hoc quidem verum ex aeternitate, sed causas id efficientis non habebat. Ita 10 ne praeterita quidem ea, quorum nulla signa tamquam vestigia exstarent, Apollini nota esse censebat, quo minus futura. causis enim efficientibus quamque rem cognitis posse denique sciri, quid futurum esset. Ergo nec de Oedipode potuisse Apollinem praedicere nullis in rerum natura causis praepositis, cur ab eo 15 patrem interfici necesse esset, nec quicquam eius modi.

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geschieht, geschehen alle Dinge notwendigerweise so, daß sie Glieder ununterbrochener Ketten auf natürliche Weise miteinander verbundener Ereignisse sind«, würde er nur nichtssagende Worte machen. Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob eine natürliche Ursache es von Ewigkeit her wahr macht, daß das in Zukunft Geschehende geschehen wird, oder ob sich auch das, was in Zukunft geschieht, ohne daß es von Ewigkeit her natürliche Ursachen hätte, als etwas verstehen läßt, für das gilt, daß es wahr ist, (daß es geschehen wird). Karneades pflegte daher zu sagen, nicht einmal Apollo könne zukünftige Ereignisse vorhersagen, es sei denn, es handle sich um solche, deren Ursachen die Natur so in sich enthalte, daß es notwendig sei, daß sie stattfinden. 33 Im Hinblick worauf könnte denn selbst dieser Gott vorhersagen, daß jener Marcellus, der dreimal Konsul war, im Meer ums Leben kommen werde? Dies war zwar von Ewigkeit her wahr, hatte aber keine Ursachen, die es (von Ewigkeit her) bewirkt hätten. Und so vertrat er (d. h. Karneades) die Ansicht, nicht einmal solche vergangenen Ereignisse, von denen nichts mehr vorhanden sei, was nach Art einer (von ihnen hinterlassenen) Spur als Anzeichen für sie dienen könnte, seien Apollo bekannt, von zukünftigen Ereignissen ganz zu schweigen. Erst dann, wenn man im Falle eines jeden Ereignisses die es bewirkenden Ursachen erkannt habe, könne man nämlich wissen, was in Zukunft geschehen werde. Somit habe Apollo weder von Ödipus, da es ja im Ganzen des Naturgeschehens keine im voraus vorliegenden Ursachen gegeben habe, die es notwendig gemacht hätten, daß sein Vater von ihm getötet werden würde, dies vorhersagen können noch irgend etwas anderes dergleichen.

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XV Quocirca, si Stoicis, qui omnia fato fieri dicunt, consentaneum est huiusmodi oracla ceteraque, quae a divinatione ducuntur, comprobare, iis autem, qui, quae futura sunt, ea vera esse ex aeternitate dicunt, non idem dicendum est, vide, ne non eadem sit illorum causa et Stoicorum; hi enim urgentur 5 angustiis, illorum ratio soluta ac libera est. 34 Quod si concedatur nihil posse evenire nisi causa antecedente, quid proficiatur, si ea causa non ex aeternis causis apta ducatur? Causa autem ea est, quae id efficit, cuius est causa, ut vulnus mortis, cruditas morbi, ignis ardoris. Itaque non sic 10 causa intellegi debet, ut, quod cuique antecedat, id ei causa sit, sed quod cuique efficienter antecedat; nec quod in Campum descenderim, id fuisse causae, cur pila luderem, nec Hecubam causam interitus fuisse Troianis, quod Alexandrum genuerit, nec Tyndareum Agamemnoni, quod Clytaemestram. Hoc enim 15

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XV Wenn es daher zwar für die Stoiker, die behaupten, alles geschehe durch das Schicksal, folgerichtig ist, Weissagungen dieser Art und alles übrige, was sich von der Mantik herleitet, als zuverlässig anzuerkennen, diejenigen hingegen, die lediglich behaupten, für das, was in Zukunft geschieht, gelte von Ewigkeit her, daß es wahr ist, (daß es geschehen wird), nicht in dasselbe Horn zu blasen brauchen, so dürfte der Standpunkt der letzteren doch wohl kaum derselbe sein wie derjenige der Stoiker. Diese werden nämlich durch die Enge (ihres Systems) in Bedrängnis gebracht, die Theorie jener hingegen ist ungebunden und frei. 34 Wenn man nun zugäbe, daß nichts ohne eine (ihm) vorhergehende Ursache geschehen kann, was wäre damit gewonnen, wenn man eine solche Ursache für eine Ursache halten müßte, die nicht von (einer) ewigen (Reihe weiterer) Ursachen abhängt? Eine Ursache ist aber das, was dasjenige bewirkt, dessen Ursache es ist. So ist z. B. eine Verwundung für den Tod, schlechte Verdauung für eine Krankheit und Feuer für Glut die Ursache. Man darf (die Rede von einer) Ursache daher nicht so verstehen, daß jeweils das, was etwas anderem vorhergeht, die Ursache für es ist, sondern muß sie so verstehen, daß jeweils das, was etwas anderem als etwas vorhergeht, das es bewirkt, die Ursache für es ist. Somit kann man weder sagen, der Umstand, daß ich zum Marsfeld hinunterging, sei für mich die Ursache dafür gewesen, daß ich (dort) Ball spielte, noch kann man von Hekabe sagen, sie sei, weil sie den (Paris) Alexander gebar, für die Trojaner, oder von Tyndareos, er sei, weil er die Klytämnestra zeugte, für Agamemnon die Ursache des Untergangs gewesen. (Wenn man) in dieser Weise (reden dürfte), könnte man nämlich auch von dem Mann, der gut ge-

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modo viator quoque bene vestitus causa grassatori fuisse dicetur, cur ab eo spoliaretur. 35 Ex hoc genere illud est Ennii: »Utinám ne⁀in némore Pélió secúribús caesae⁀áccidíssent ábiegnae⁀ád terrám trabés!«

5

Licuit vel altius: »Utinam ne in Pelio nata ulla umquam esset arbor!« Etiam supra: »Utinam ne esset mons ullus Pelius!« Similiterque superiora repetentem regredi infinite licet. »Neve⁀índe návis ínchoándi⁀exórdiúm coepísset …!«

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Quorsum haec praeterita? Quia sequitur illud: »Nam númquam⁀era⁀érrans méa domo⁀écferrét pedém, Medéa,⁀animo⁀aégro,⁀amóre saévo saúciá«, non ut eae res causam afferrent amoris. XVI 36 Interesse autem aiunt, utrum eius modi quid sit, sine 15 quo effici aliquid non possit, an eius modi, cum quo effici aliquid necesse sit. Nulla igitur earum est causa, quoniam nulla

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kleidet auf Reisen ging, sagen, er sei für den Wegelagerer die Ursache dafür gewesen, daß dieser ihn seiner Kleider beraubte. 35 Zu dieser Klasse (von Beispielen) gehören auch die bekannten Verse des Ennius: »O wenn doch nur in Pelions Wald von Äxten nicht Gefällt zur Erd’ die Tannenstämme wär’n gestürzt!« Er hätte auch noch weiter ausholen (und sagen) können: »O wenn doch auf dem Pelion nie ein Baum gewachsen wäre!« Sogar noch weiter hätte er zurückgehen können (und sagen): »O wenn es doch gar keinen Berg Pelion gegeben hätte!« Und in diesem Stil könnte man im Rückgriff auf immer Früheres unendlich weit zurückgehen. »Und wenn doch dort des Schiffes Werdegang nicht hätt’ Begonnen …!«, (heißt es bei Ennius weiter). Worauf zielen (die Verse, in denen er auf) diese vergangenen Ereignisse (zurückgreift)? (Er hat sie) mit Rücksicht darauf (geschrieben), daß (auf sie) die Verse folgen: »Denn nie wär’ irrend meine Herrin durchgebrannt, Medea, kranken Herzens, wund von Liebespein«, nicht etwa in der Absicht, daß die (in ihnen) erwähnten Ereignisse die Ursache für die Liebe (der Medea) angeben sollten. XVI 36 Nun sagen sie (d. h. die Stoiker) aber (selbst), es sei ein Unterschied, ob etwas von der Art ist, daß ohne es etwas anderes nicht bewirkt werden kann, oder von der Art, daß mit ihm etwas anderes notwendigerweise bewirkt wird. Keines der genannten Ereignisse ist also eine Ursache, da ja keines das,

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eam rem sua vi efficit, cuius causa dicitur. Nec id, sine quo quippiam non fit, causa est, sed id, quod, cum accessit, id, cuius est causa, efficit necessario. Nondum enim ulcerato serpentis morsu Philocteta quae causa in rerum natura continebatur, fore, ut is in insula Lemno linqueretur? Post autem 5 causa fuit propior et cum exitu iunctior. 37 Ratio igitur eventus aperit causam. Sed ex aeternitate vera fuit haec enuntiatio: »Relinquetur in insula Philoctetes«, nec hoc ex vero in falsum poterat convertere. Necesse est enim in rebus contrariis duabus – contraria 10 autem hoc loco ea dico, quorum alterum ait quid, alterum negat –, ex iis igitur necesse est invito Epicuro alterum verum esse, alterum falsum; ut »Sauciabitur Philocteta« omnibus ante saeculis verum fuit, »Non sauciabitur« falsum; nisi forte volumus Epicureorum opinionem sequi, qui tales enuntiationes 15 nec veras nec falsas esse dicunt aut, cum id pudet, illud tamen dicunt, quod est impudentius, veras esse ex contrariis diiunc-

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wovon es angeblich die Ursache ist, aus eigener Kraft bewirkt. Denn nicht etwas, ohne das etwas anderes nicht geschieht, ist ja eine Ursache, sondern etwas, das, wenn es sich eingefunden hat, dasjenige, dessen (angebliche) Ursache es ist, mit Notwendigkeit bewirkt. Welche Ursache sollte denn (beispielsweise), bevor Philoktet durch einen Schlangenbiß verwundet wurde, im Ganzen des Naturgeschehens dafür enthalten gewesen sein, daß es dazu kommen würde, daß man ihn auf der Insel Lemnos zurückläßt? Danach aber war eine Ursache vorhanden, die dem näherstand, was sich am Ende ergab, und enger damit verbunden war. 37 Die Art und Weise, wie etwas ausgegangen ist, bringt also die Ursache (dafür, daß es so ausgegangen ist) ans Licht. Doch war von Ewigkeit her die Aussage wahr: »Philoktet wird auf der Insel zurückgelassen werden«, und dies konnte sich nicht von etwas Wahrem in etwas Falsches verwandeln. Es ist nämlich notwendig, daß im Falle gegensätzlicher Paare (von Aussagen) – als gegensätzlich bezeichne ich an dieser Stelle Paare, deren eines Glied etwas behauptet und deren anderes dies bestreitet –, es ist also notwendig, daß von den beiden Gliedern solcher Paare, auch wenn Epikur sich dagegen sträubt, das eine wahr ist und das andere falsch. So war z. B. die Aussage »Philoktet wird verwundet werden« schon vor allen Zeiten wahr und die Aussage »Er wird nicht verwundet werden« falsch – es sei denn, wir wollten uns die Ansicht der Epikureer zu eigen machen, die behaupten, solche Aussagen seien weder wahr noch falsch, oder, wenn ihnen die Scham dies verbietet, doch immerhin, was allerdings noch schamloser ist, behaupten, es seien zwar die aus den Gliedern gegensätzlicher Paare gebildeten Disjunktionen wahr, aber von

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tiones, sed, quae in his enuntiata essent, eorum neutrum esse verum. 38 O admirabilem licentiam et miserabilem inscientiam disserendi! Si enim aliquid in eloquendo nec verum nec falsum est, certe id verum non est; quod autem verum non est, qui potest 5 non falsum esse? Aut, quod falsum non est, qui potest non verum esse? Tenebitur 〈igitur〉 id, quod a Chrysippo defenditur, omnem enuntiationem aut veram aut falsam esse. Ratio ipsa coget et ex aeternitate quaedam esse vera et ea non esse 10 nexa causis aeternis et a fati necessitate esse libera. XVII 39 Ac mihi quidem videtur, cum duae sententiae fuissent veterum philosophorum, una eorum, qui censerent omnia ita fato fieri, ut id fatum vim necessitatis afferret, in qua sententia Democritus, Heraclitus, Empedocles [Aristoteles] fuit, altera eorum, quibus viderentur sine ullo fato esse animorum 15 motus voluntarii, Chrysippus tamquam arbiter honorarius medium ferire voluisse, sed applicat se ad eos potius, qui necessitate motus animorum liberatos volunt; dum autem verbis

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den beiden Aussagen, die in ihnen enthalten seien, sei keine wahr. 38 Was für eine Dreistigkeit, über die man nur den Kopf schütteln kann, und was für eine Ahnungslosigkeit auf dem Gebiet des (logisch korrekten) Argumentierens, die einem nur leid tun kann! Wenn nämlich etwas ausgesagt wird, das weder wahr noch falsch ist, so ist es sicherlich nicht wahr. Wie kann aber etwas, das nicht wahr ist, nicht falsch sein? Oder wie kann etwas, das nicht falsch ist, nicht wahr sein? Man wird also an dem von Chrysipp verteidigten Grundsatz festhalten müssen, daß jede Aussage entweder wahr oder falsch ist. Die Vernunft selbst wird zu dem Schluß kommen müssen, daß für gewisse Dinge gilt, daß (Aussagen über) sie von Ewigkeit her wahr sind, daß sie nicht an (eine) ewige (Reihe von) Ursachen geknüpft sind und daß sie frei sind von der Notwendigkeit des Schicksals. XVII 39 Meiner Ansicht nach ist es nun jedenfalls so: Da es unter den alten Philosophen zwei verschiedene Lehrmeinungen gab, nämlich einerseits die Meinung derjenigen, die der Ansicht waren, alles geschehe in der Weise durch das Schicksal, daß das Schicksal den Zwang der Notwendigkeit mit sich bringe, eine Meinung, die Demokrit, Heraklit und Empedokles [und Aristoteles] vertraten, und andererseits die Meinung derjenigen, die glaubten, es gebe freie Willensbewegungen unseres Geistes, die vom Schicksal völlig unabhängig seien, wollte Chrysipp wie ein ehrenamtlicher Schiedsrichter einen Mittelweg einschlagen. Er schließt sich jedoch eher denjenigen an, welche die Bewegungen unseres Geistes von der Notwendigkeit befreit wissen wollen, gerät aber bei dem Gebrauch, den er von seiner eigenen Terminologie macht, derart in Schwie-

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utitur suis, delabitur in eas difficultates, ut necessitatem fati confirmet invitus. 40 Atque hoc, si placet, quale sit, videamus in assensionibus, quas prima oratione tractavi. Eas enim veteres illi, quibus omnia fato fieri videbantur, vi effici et necessitate dicebant. Qui 5 autem ab iis dissentiebant, fato assensiones liberabant negabantque fato assensionibus adhibito necessitatem ab his posse removeri; iique ita disserebant: »Si omnia fato fiunt, omnia fiunt causa antecedente, et, si appetitus, illa etiam, quae appetitus sequuntur, ergo etiam as- 10 sensiones. At, si causa appetitus non est sita in nobis, ne ipse quidem appetitus est in nostra potestate; quod si ita est, ne illa quidem, quae appetitu efficiuntur, sunt sita in nobis. Non sunt igitur neque assensiones neque actiones in nostra potestate, ex quo efficitur, ut nec laudationes iustae sint nec vituperationes 15 nec honores nec supplicia.« Quod cum vitiosum sit, probabiliter concludi putant non omnia fato fieri, quaecumque fiant.

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rigkeiten, daß er ungewollt die Notwendigkeit des Schicksals bekräftigt. 40 Was dies nun genau heißt, wollen wir uns, wenn es dir recht ist, am Beispiel der Zustimmungen näher ansehen, mit denen ich mich schon am Anfang meines Vortrags befaßt habe. Von ihnen behaupteten ja diejenigen alten Philosophen, die glaubten, alles geschehe durch das Schicksal, daß sie mit zwingender Notwendigkeit verursacht würden. Diejenigen hingegen, die den entgegengesetzten Standpunkt vertraten, befreiten die Zustimmungen vom Schicksal und bestritten, daß man, wenn man das Schicksal auf die Zustimmungen Einfluß nehmen lasse, die Notwendigkeit von ihnen fernhalten könne. Sie argumentierten folgendermaßen: »Wenn alles durch das Schicksal geschieht, geschieht alles durch eine (ihm) vorhergehende Ursache, und wenn dies für die Impulse (zu unseren Handlungen) gilt, so gilt es auch für das, worauf diese Impulse folgen, also auch für unsere Zustimmungen. Wenn nun aber die Ursache für einen Handlungsimpuls nicht bei uns liegt, so steht auch der betreffende Handlungsimpuls selbst nicht in unserer Macht, und wenn dem so ist, liegt auch das, was durch den betreffenden Handlungsimpuls bewirkt wird, nicht bei uns. Es stehen also weder unsere Zustimmungen noch unsere Handlungen in unserer Macht, und hieraus ergibt sich als Fazit, daß weder Lob noch Tadel gerechtfertigt sind und weder Ehrenerweisungen noch Strafen.« Da diese Auffassung ihrer Meinung nach verkehrt ist, halten sie es für plausibel, die Schlußfolgerung zu ziehen, daß nicht alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht.

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XVIII 41 Chrysippus autem, cum et necessitatem improbaret et nihil vellet sine praepositis causis evenire, causarum genera distinguit, ut et necessitatem effugiat et retineat fatum. »Causarum enim«, inquit, »aliae sunt perfectae et principales, aliae adiuvantes et proximae. Quam ob rem, cum dicimus 5 omnia fato fieri causis antecedentibus, non hoc intellegi volumus: causis perfectis et principalibus, sed: causis adiuvantibus [antecedentibus] et proximis.« Itaque illi rationi, quam paulo ante conclusi, sic occurrit: Si omnia fato fiant, sequi illud quidem, ut omnia causis fiant 10 antepositis, verum non principalibus causis et perfectis, sed adiuvantibus et proximis. »Quae si ipsae non sint in nostra potestate, non sequitur, ut ne appetitus quidem sit in nostra potestate. At hoc sequeretur, si omnia perfectis et principalibus causis fieri diceremus, ut, cum eae causae non essent in 15 nostra potestate, ne ille quidem esset in nostra potestate.«

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XVIII 41 Chrysipp aber nimmt, da er einerseits die Notwendigkeit (allen Geschehens) zurückweist, andererseits aber nichts geschehen lassen will, ohne daß im voraus Ursachen dafür vorgelegen hätten, eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Ursachen vor, um sowohl der Notwendigkeit entrinnen als auch am Schicksal festhalten zu können. »Von den Ursachen«, sagt er, »sind ja die einen vollendete, nämlich dem Rang nach als erste wirksame Ursachen, die anderen hingegen mithelfende, nämlich dem Rang nach als nächste wirksame Ursachen. Wir wollen daher, wenn wir behaupten, alles geschehe durch das Schicksal aufgrund vorhergehender Ursachen, unter diesen Ursachen nicht vollendete, also rangmäßig als erste wirksame Ursachen verstanden wissen, sondern mithelfende, also rangmäßig als nächste wirksame Ursachen.« Und so erhebt er gegen das Argument, das ich kurz zuvor angeführt habe, folgenden Einwand: Wenn alles durch das Schicksal geschehe, so folge daraus zwar, daß alles aufgrund vorgeschalteter Ursachen geschehe, (womit) aber nicht (gemeint sei): aufgrund (vorgeschalteter) Ursachen, die rangmäßig als erste wirksam und vollendet sind, sondern: aufgrund (vorgeschalteter) Ursachen, die mithelfend und rangmäßig als nächste wirksam sind. »Auch wenn diese nicht in unserer Macht stehen«, (sagt er), »so folgt daraus doch nicht, daß auch der Handlungsimpuls nicht in unserer Macht steht. Dies würde jedoch folgen, wenn wir behaupten würden, alles geschehe aufgrund (vorgeschalteter) Ursachen, die vollendet, also rangmäßig als erste wirksam sind, so daß deshalb, weil diese Ursachen nicht in unserer Macht stünden, auch er nicht in unserer Macht stünde.«

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42 Quam ob rem, qui ita fatum introducunt, ut necessitatem adiungant, in eos valebit illa conclusio; qui autem causas antecedentis non dicent perfectas neque principalis, in eos nihil valebit. Quod enim dicantur assensiones fieri causis antepositis, id quale sit, facile a se explicari putat. Nam quamquam 5 assensio non possit fieri nisi commota viso, tamen, cum id visum proximam causam habeat, non principalem, hanc habet rationem, ut Chrysippus vult, quam dudum diximus: non ut illa quidem fieri possit nulla vi extrinsecus excitata – necesse est enim assensionem viso commoveri –, sed revertitur ad 10 cylindrum et ad turbinem suum, quae moveri incipere nisi pulsa non possunt. Id autem cum accidit, suapte natura, quod superest, et cylindrum volvi et versari turbinem putat. XIX 43 »Ut igitur«, inquit, »qui protrusit cylindrum, dedit ei principium motionis, volubilitatem autem non dedit, sic visum 15 obiectum imprimet illud quidem et quasi signabit in animo suam speciem, sed assensio nostra erit in potestate, eaque, quem ad modum in cylindro dictum est, extrinsecus pulsa,

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42 Deshalb wird jener Schluß zwar gegenüber denjenigen beweiskräftig sein, die das Schicksal so ins Spiel bringen, daß sie ihm die Notwendigkeit beigesellen; aber gegenüber denjenigen, die, wenn sie von vorhergehenden Ursachen sprechen, keine vollendeten Ursachen meinen, also keine, die rangmäßig als erste wirksam sind, wird er keinerlei Beweiskraft haben. Wenn nämlich von den Zustimmungen gesagt werde, sie kämen durch vorgeschaltete Ursachen zustande, so glaubt er (d. h. Chrysipp), leicht erklären zu können, was dies genau heißt. Denn obwohl eine Zustimmung nur zustande kommen könne, wenn eine Vorstellung die Anregung zu ihr gegeben habe, hat es mit ihr, so Chrysipp, da diese Vorstellung nur eine rangmäßig als nächste wirksame Ursache für sie ist und keine rangmäßig als erste wirksame, doch die Bewandtnis, von der ich gerade eben sprach: Es ist zwar nicht so, daß sie zustande kommen könnte, ohne durch eine Kraft von außen einen Anreiz empfangen zu haben – es ist nämlich notwendig, daß eine Zustimmung durch eine Vorstellung angeregt wird –, aber er kommt (in diesem Zusammenhang) wieder auf seine Walze und seinen Kreisel zurück, die (ja auch) nur dann anfangen können, sich zu bewegen, wenn sie zuvor angestoßen worden sind; ist dies aber einmal geschehen, so ist es jeweils ihre eigene Natur, glaubt er, aufgrund deren ansonsten die Walze rollt und der Kreisel sich dreht. XIX 43 »Wie also jemand, der eine Walze fortgestoßen hat«, sagt er, »dieser zwar den Bewegungsanfang, aber nicht die Rollfähigkeit gegeben hat, so wird auch jene Vorstellung unserem Geist, wenn sie sich (ihm) darbietet, zwar ihr Erscheinungsbild aufdrücken und gleichsam einprägen, aber die Zustimmung (zu ihr) wird in unserer Macht stehen, und zwar wird sie sich, wie dies bereits im Falle der Walze gesagt wurde,

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quod reliquum est, suapte vi et natura movebitur. Quod si aliqua res efficeretur sine causa antecedente, falsum esset omnia fato fieri; sin omnibus, quaecumque fiunt, veri simile est causam antecedere, quid afferri poterit, cur non omnia fato fieri fatendum sit? Modo intellegatur, quae sit causarum distinctio 5 ac dissimilitudo.« 44 Haec cum ita sint a Chrysippo explicata, si illi, qui negant assensiones fato fieri, 〈non〉 fateantur tamen eas non sine viso antecedente fieri, alia ratio est; sed si concedunt anteire visa, nec tamen fato fieri assensiones, quod proxima illa et conti- 10 nens causa non moveat assensionem, vide, ne idem dicant. Neque enim Chrysippus, concedens assensionis proximam et continentem causam esse in viso positam neque eam causam esse ad assentiendum necessariam, concedet, ut, si omnia fato fiant, omnia causis fiant antecedentibus et necessariis; 15 itemque illi, qui ab hoc dissentiunt, confitentes non fieri assensiones sine praecursione visorum, dicent, si omnia fato

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nachdem sie von außen angestoßen worden ist, im übrigen aufgrund ihres eigenen Wesens und ihrer eigenen Natur bewegen. Wenn nun irgend etwas zustande käme, ohne daß ihm eine Ursache vorherginge, so träfe es nicht zu, daß alles durch das Schicksal geschieht. Wenn aber allem, was geschieht, aller Wahrscheinlichkeit nach eine Ursache vorhergeht, welchen Grund wird man dann noch vorbringen können, aus dem man das Zugeständnis, alles geschehe durch das Schicksal, angeblich nicht zu machen braucht? Es gilt nur, klar zu erkennen, worin die einzelnen Ursachen sich voneinander unterscheiden und worin ihre Ungleichartigkeit besteht.« 44 So hat Chrysipp dies also erklärt. Sollten daher diejenigen, die bestreiten, daß die Zustimmungen durch das Schicksal zustande kommen, nicht das Zugeständnis machen, daß sie gleichwohl nicht zustande kommen, ohne daß ihnen eine Vorstellung vorherginge, so ist das eine andere Angelegenheit. Wenn sie jedoch einräumen, daß (den Zustimmungen) Vorstellungen vorhergehen, aber (sagen), die Zustimmungen kämen gleichwohl nicht durch das Schicksal zustande, weil jene rangmäßig als nächste wirksame Ursache, die unmittelbar (an sie) angrenze, die Zustimmung nicht herbeiführe, so dürften sie doch wohl dasselbe sagen (wie Chrysipp). Denn auch Chrysipp, der zwar einräumt, daß die rangmäßig als nächste wirksame Ursache der Zustimmung, die unmittelbar (an sie) angrenzt, in der Vorstellung zu finden ist, aber nicht, daß diese Ursache das Zustimmen notwendig macht, wird ja nicht einräumen, daß dann, wenn alles durch das Schicksal geschieht, alles aufgrund (ihm) vorhergehender und (es) notwendig machender Ursachen geschieht; und ebenso werden diejenigen, die anderer Meinung sind als er, wenn sie eingestehen, daß ohne vorausgegangene Vorstellungen keine

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fierent eius modi, ut nihil fieret nisi praegressione causae, confitendum esse fato fieri omnia; ex quo facile intellectu est, quoniam utrique patefacta atque explicata sententia sua ad eundem exitum veniant, verbis eos, non re dissidere. 45 Omninoque, cum haec sit distinctio, ut quibusdam in rebus 5 vere dici possit, cum hae causae antegressae sint, non esse in nostra potestate, quin illa eveniant, quorum causae fuerint, quibusdam autem in rebus causis antegressis in nostra tamen esse potestate, ut illud aliter eveniat, hanc distinctionem utrique approbant, sed alteri censent, quibus in rebus, cum 10 causae antecesserint, non sit in nostra potestate, ut aliter illa eveniant, eas fato fieri, quae autem in nostra potestate sint, ab iis fatum abesse … XX 46 Hoc modo hanc causam disceptari oportet, non ab atomis errantibus et de via declinantibus petere praesidium. 15 »Declinat«, inquit, »atomus.« Primum cur? Aliam enim quan-

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Zustimmungen zustande kommen, sagen müssen, man habe, wenn alles in der Weise durch das Schicksal geschähe, daß nur aufgrund einer vorausgegangenen Ursache etwas geschähe, in der Tat einzugestehen, daß alles durch das Schicksal geschieht. Hieraus ist leicht zu ersehen, daß sich die beiden Parteien, da sie ja, nachdem sie ihre jeweilige Meinung offengelegt und verdeutlicht haben, zum selben Ergebnis kommen, nur in Worten, aber nicht in der Sache uneinig sind. 45 Kurz gesagt, ist der Unterschied, (auf den es hier ankommt), der, daß man in gewissen Fällen wahrheitsgemäß behaupten kann, es stehe, weil die und die Ursachen vorausgegangen seien, nicht in unserer Macht, das Eintreten der Ereignisse, für die sie Ursachen gewesen seien, zu verhindern, wohingegen man in gewissen anderen Fällen wahrheitsgemäß behaupten kann, es stehe, auch wenn Ursachen (für einen bestimmten Verlauf eines Ereignisses) vorausgegangen seien, gleichwohl in unserer Macht zu bewirken, daß es einen anderen Verlauf nimmt. Diesen Unterschied erkennen zwar beide Parteien an, aber die eine Partei ist der Ansicht, diejenigen Fälle, in denen es, weil Ursachen vorhergegangen sind, nicht in unserer Macht steht zu bewirken, daß die betreffenden Ereignisse anders verlaufen, seien Fälle, (in denen) die (betreffenden Ereignisse) vom Schicksal bestimmt sind, hingegen bleibe das Schicksal in denjenigen Fällen, (in denen) die (betreffenden Ereignisse) in unserer Macht stehen, aus dem Spiel … XX 46 Auf diese Weise muß man in dieser Streitsache zu einer abschließenden Entscheidung kommen, statt bei umherirrenden und von ihrer Bahn abweichenden Atomen Hilfe zu suchen. »Das Atom«, sagt er (d. h. Epikur), »weicht (von seiner Bahn) ab.« (Da frage ich mich) zuerst: Warum eigentlich?

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dam vim motus habebant a Democrito impulsionis, quam plagam ille appellat, 〈aliam〉 a te, Epicure, gravitatis et ponderis. Quae ergo nova causa in natura est, quae declinet atomum? Aut num sortiuntur inter se, quae declinet, quae non? Aut cur minimo declinent intervallo, maiore non? Aut cur declinent 5 uno minimo, non declinent duobus aut tribus? Optare hoc quidem est, non disputare. 47 Nam neque extrinsecus impulsam atomum loco moveri et declinare dicis, neque in illo inani, per quod feratur atomus, quicquam fuisse causae, cur ea non e regione ferretur, nec in 10 ipsa atomo mutationis aliquid factum est, quam ob rem naturalem motum sui ponderis non teneret. Ita cum attulisset nullam causam, quae istam declinationem efficeret, tamen aliquid sibi dicere videtur, cum id dicat, quod omnium mentes asper15 nentur ac respuant. 48 Nec vero quisquam magis confirmare mihi videtur non modo fatum, verum etiam necessitatem et vim omnium rerum sustulisseque motus animi voluntarios quam hic, qui aliter obsistere fato fatetur se non potuisse, nisi ad has commenticias

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Für ihre Bewegung bekamen die Atome ja einerseits von Demokrit die Kraft des Impulses, die dieser als Stoß bezeichnet, und andererseits von dir, Epikur, die Kraft der Schwere und des Gewichts. Was für eine neue Ursache gibt es also in der Natur, die das Atom (von seiner Bahn) abweichen lassen könnte? Oder losen die Atome etwa unter sich, welches abweichen soll und welches nicht? Oder warum sollten sie nur um die kleinstmögliche Spanne abweichen und nicht um eine größere? Oder warum sollten sie nur um eine einzige kleinstmögliche Spanne abweichen und nicht um zwei oder drei? Wunschdenken ist das, nicht Rede-und-Antwort-Stehen im Disput! 47 Denn du behauptest ja weder, ein Atom ändere deshalb, weil es von außen angestoßen worden sei, seine Position und weiche (von seiner Bahn) ab, noch behauptest du, es habe in jener Leere, durch die das Atom falle, irgendeine Ursache dafür gegeben, daß es nicht geradlinig falle, und auch im Atom selbst hat ja keine Veränderung stattgefunden, die der Grund dafür sein könnte, daß es seine natürliche, von seinem Gewicht herrührende Bewegung nicht beibehielte. Obwohl er somit keine Ursache angeben konnte, die diese Bahnabweichung (der Atome) hätte bewirken können, glaubt er dennoch, etwas Bedeutungsvolles zu sagen, sagt aber in Wirklichkeit nur etwas, das niemandem in den Kopf will und den gesunden Menschenverstand beleidigt. 48 Es scheint mir aber auch niemand nicht nur das Schicksal, sondern auch den allumfassenden Zwang der Notwendigkeit mehr zu bekräftigen und die freien Willensbewegungen unseres Geistes gründlicher vernichtet zu haben als dieser (Epikur), der gestehen muß, keine andere Möglichkeit gesehen zu haben, sich dem Schicksal zu widersetzen, als die, zu diesen seiner Phantasie entsprungenen Bahnabweichungen (der Ato-

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declinationes confugisset. Nam, ut essent atomi, quas quidem esse mihi probari nullo modo potest, tamen declinationes istae numquam explicarentur. [Nam] 〈Aut num〉, si atomis, ut gravitate ferantur, tributum est necessitate naturae, quod omne pondus nulla re impediente moveatur et feratur necesse 5 est, illud quoque necesse est, declinare, quibusdam atomis vel, si volunt, omnibus naturaliter? …

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me) seine Zuflucht zu nehmen. Denn selbst dann, wenn es die Atome wirklich gäbe – daß es sie gibt, kann man mir freilich in keiner Weise glaubhaft machen –, ließen sich diese Bahnabweichungen doch niemals erklären. Oder ist es etwa, wenn den Atomen die Eigenschaft, infolge ihrer Schwere frei zu fallen, durch eine naturbedingte Notwendigkeit verliehen ist, weil jeder Gegenstand, der etwas wiegt, sich notwendigerweise im freien Fall (nach unten) bewegt, wenn ihn nichts daran hindert, für gewisse Atome oder, wenn sie (d. h. die Epikureer) so wollen, für alle auch von Natur aus notwendig, (von ihrer Bahn) abzuweichen? …

Fragmenta 1. Gellius, Noct. Att. VII 2,15 Itaque M. Cicero in libro, quem de fato conscripsit, cum quaestionem istam diceret obscurissimam esse et implicatissimam, Chrysippum quoque philosophum non expedisse se in ea 〈ait〉 5 his verbis: »Chrysippus, aestuans laboransque, quonam 〈hoc modo〉 explicet, et fato omnia fieri et esse aliquid in nobis, intricatur [hoc modo].«

2. Servius, ad Verg. Aen. III 376 »… volvitque vices«: Definitio fati secundum Tullium, qui ait: 10 »Fatum est conexio rerum per aeternitatem se invicem tenentium, quae suo ordine et lege variatur, ita tamen, ut ipsa varietas habeat aeternitatem.«

3. Augustinus, De civ. dei V 8 Illi quoque versus Homerici huic sententiae suffragantur, quos 15 Cicero in Latinum vertit: »Táles súnt hominúm mentés, qualí pater ípse Iúppiter aúctiferás lustrávit lúmine térras.«

fragmente 1. Gellius, Noct. Att. VII 2, 15 Und so sagt Marcus Cicero in dem Buch, das er über das Schicksal verfaßt hat, als er dort bemerkt, diese Frage sei äußerst undurchsichtig und verwickelt, mit folgenden Worten, daß sich auch der Philosoph Chrysipp aus der Verstrickung in sie nicht habe lösen können: »Chrysipp, der weder ein noch aus weiß und seine liebe Not damit hat, wie er es erklären soll, daß einerseits alles durch das Schicksal geschieht und andererseits etwas bei uns liegt, kommt in die Bredouille.«

2. Servius, ad Verg. Aen. III 376 »… und er (d. h. Jupiter) bestimmt in ihrem Ablauf die Wechselfälle (des Schicksals)«: Die Definition des Schicksals in der Formulierung des Tullius (Cicero), der sagt: »Das Schicksal ist die Verknüpfung der sich über ewige Zeiten hin wechselseitig festhaltenden Ereignisse, die sich nach ihrer eigenen Ordnung und ihrem eigenen Gesetz wandelt, jedoch so, daß dieser Wandel selbst von ewiger Dauer ist.«

3. Augustinus, De civ. dei V 8 Diese Ansicht stützen auch die bekannten Verse Homers (Od. XVIII 136–137), die Cicero ins Lateinische übertragen hat: »So ist der Menschen Sinn, wie Vater Jupiter selber Jeweils im Tageslicht ließ die fruchtbare Erde erstrahlen.«

154

FRAGMENTA

Nec in hac quaestione auctoritatem haberet poetica sententia; sed quoniam Stoicos dicit vim fati asserentes istos ex Homero versus solere usurpare, non de illius poetae, sed de istorum philosophorum opinione tractatur, cum per istos versus, quos disputationi adhibent, quam de fato habent, quid sentiant esse 5 fatum apertissime declaratur, quoniam Iovem appellant, quem summum deum putant, a quo conexionem dicunt pendere fatorum.

4. Augustinus, De civ. dei V 2 Cicero dicit Hippocratem, nobilissimum medicum, scriptum 10 reliquisse quosdam fratres, cum simul aegrotare coepissent et eorum morbus eodem tempore ingravesceret, eodem levaretur, geminos suspicatum; quos Posidonius Stoicus, multum astrologiae deditus, eadem constitutione astrorum natos eademque conceptos solebat asserere. Ita, quod medicus pertinere cre- 15 debat ad simillimam temperiem valetudinis, hoc philosophus astrologus ad vim constitutionemque siderum, quae fuerat, quo tempore concepti natique sunt.

FRAGMENTE

155

Freilich hätte in dieser Frage die Ansicht eines Dichters kein Gewicht. Da er (d. h. Cicero) aber sagt, die Stoiker pflegten, wenn sie der Macht des Schicksals das Wort redeten, von diesen Versen aus Homer Gebrauch zu machen, ist es nicht die Meinung jenes Dichters, sondern die Meinung dieser Philosophen, um die es sich hier handelt, insofern diese Verse, die sie bei der Diskussion heranziehen, die sie über das Schicksal führen, ganz deutlich zu erkennen geben, was das Schicksal ihrer Ansicht nach ist; denn sie geben ihm ja den Namen Jupiters, den sie für den höchsten Gott halten und von dem sie behaupten, die Verknüpfung der vom Schicksal bestimmten Ereignisse sei von ihm abhängig.

4. Augustinus, De civ. dei V 2 Cicero bemerkt, der hochberühmte Arzt Hippokrates habe eine Notiz darüber hinterlassen, daß er im Falle zweier Brüder aufgrund dessen, daß sie gleichzeitig erkrankt seien und ihre Krankheit sich zur selben Zeit verschlimmert und zur selben Zeit wieder gebessert habe, zu der Vermutung gekommen sei, sie seien Zwillinge. Von diesen Brüdern pflegte der Stoiker Poseidonios, der sich mit Leib und Seele der Astrologie verschrieben hatte, zu behaupten, sie seien unter derselben Sternenkonstellation geboren und auch unter derselben empfangen worden. Was der Arzt für etwas mit ihrer ganz ähnlichen körperlichen Verfassung Zusammenhängendes hielt, das hielt also der Sterndeuterphilosoph für etwas, das mit dem Einfluß der Gestirnskonstellation, die zum Zeitpunkt ihrer Empfängnis und ihrer Geburt jeweils bestand, zusammenhängt.

156

FRAGMENTA 5. Macrobius, Sat. III 16, 3–4

Et ne vilior sit testis poeta, accipite assertore Cicerone, in quo honore fuerit hic piscis apud P. Scipionem Africanum illum et Numantinum. Haec sunt in dialogo de fato verba Ciceronis: »Nam cum esset apud se ad Lavernium Scipio unaque Pontius, 5 allatus est forte Scipioni acipenser, qui admodum raro capitur, sed est piscis, ut ferunt, in primis nobilis. Cum autem Scipio unum et alterum ex iis, qui eum salutatum venerant, invitavisset pluresque etiam invitaturus videretur, in aurem Pontius: ›Scipio‹, inquit, ›vide, quid agas; acipenser iste paucorum ho- 10 minum est.‹«

FRAGMENTE

157

5. Macrobius, Sat. III 16, 3–4 Und damit es nicht zu wenig für euch zählt, wenn ihr nur einen Dichter als Zeugen habt (d. h. den zuvor erwähnten Plautus; vgl. Sat. III 16, 1–2), laßt euch doch von Cicero bezeugen, wie sehr dieser Fisch von dem berühmten Publius Scipio Africanus Numantinus geschätzt wurde. Das sind die Worte Ciceros in seinem Dialog über das Schicksal: »Denn als sich Scipio auf seinem Landgut bei Lavernium aufhielt und Pontius zu Gast hatte, wollte es der Zufall, daß ihm ein Stör gebracht wurde, ein Fisch, den man recht selten fängt, der aber, wie die Leute sagen, ein ganz besonderer Leckerbissen ist. Als Scipio nun den einen oder anderen von denen, die vorbeigekommen waren, um ihm guten Tag zu sagen, zu Tisch bat und auch noch weitere einladen zu wollen schien, flüsterte ihm Pontius ins Ohr: ›Scipio, gib acht, was du tust! Der Stör, den du da servierst, ist etwas für ein Mahl in kleinem Kreise!‹«

VERZEICHNIS DER TEXTKRI TISCH KO M M E N T I E R T E N S T E L L E N § 1a: totaque est λογική

164

§ 5:

167

〈In his exemplis Posidonii〉

§ 12: quod, ut propositum est, ne fieri quidem potest

187–188

§ 14: Quamquam hoc Chrysippo non videtur … mori non potest

195

§ 15:

neque eos usuros esse con〈exis, sed con〉iunctionibus, ut 〈non〉 ita sua percepta pronuntient

205

§ 15:

»Non et venae sic 〈cui〉 moventur et is febrim non habet«

§ 17b: [de homine enim dicitur, cui necesse est mori]

205 215–216

§ 18a: 〈non minus〉 vere diceretur

216

§ 19: »Descendet in Academiam Carneades«

220

§ 22: ut [si] alia ab alia numquam depellatur, 〈si〉 ne contingat quidem alia aliam

229–230

§ 23b: cum docere〈n〉t

237

§ 27: ne illa quidem eversa esset vera haec enuntiatio: »Cepit Numantiam Scipio«

250–257

§ 27: fuerunt instantia … erunt instantia

247–248

§ 34: si ea causa non ex aeternis causis apta ducatur

276

§ 35: non ut eae res causam afferrent amoris

279–283

§ 39: Democritus, Heraclitus, Empedocles [Aristoteles]

305–308

§ 40: illa etiam, quae appetitus sequuntur

311–317

§ 41: Quae si ipsae non sint in nostra potestate

323–324

§ 44: si illi … 〈non〉 fateantur tamen eas non sine viso antecedente fieri, alia ratio est

332–336

§ 44: Neque enim Chrysippus, concedens … neque eam causam esse ad assentiendum necessariam, concedet, ut

336–341

160

Textkritik

§ 45: ut aliter illa eveniant

349

§ 46: Aliam enim quandam vim motus habebant a Democrito impulsionis …, 〈aliam〉 a te, Epicure, gravitatis et ponderis § 48: [Nam] 〈Aut num〉 … omnibus naturaliter?

355

242–243, 355–359

fr. 2: conexio rerum per aeternitatem se invicem tenentium

361

Spitze Klammern machen die Ergänzung nicht überlieferter, aber vermutlich echter, eckige Klammern hingegen die Tilgung überlieferter, aber vermutlich unechter Buchstaben oder Wörter kenntlich. In der Übersetzung, in der die im lateinischen Text vorgenommenen Ergänzungen und Tilgungen nur teilweise kenntlich gemacht sind, schließen runde Klammern Zusätze ein, die der Verdeutlichung und dem besseren Verständnis dienen. Zu textkritischen Fragen, auf die in der vorliegenden Ausgabe nicht eingegangen wird, vgl. in den Ausgaben von Bayer (2000), Giomini (1975) und Sharples (1991) den textkritischen Apparat.

ANMERKUNGEN §§ 1–4. Diese vier Paragraphen, auf die bereits in den ersten beiden Abschnitten der Einführung näher eingegangen wurde, enthalten das, was von der nur bruchstückhaft überlieferten Vorrede der Schrift erhalten geblieben ist. Dem Hinweis auf die Relevanz des Schicksalsproblems für die Ethik und die Logik, mit dem das erhalten gebliebene Textstück beginnt, muß ein Hinweis darauf vorangegangen sein, daß dieses Problem auch für die dritte der drei Disziplinen relevant ist, in die sich die Philosophie für die hellenistischen Philosophen gliedert, also auch für die von ihnen Physik genannte Naturphilosophie. § 1a. Im ersten Teil des ersten Paragraphen macht Cicero seine römischen Leser mit einigen Vokabeln bekannt, die zum Wortschatz der griechischen Philosophie gehören. (1) ἦθος (»Charakter«, »Sittlichkeit«). Diesem Wort entspricht das lateinische mores (der Plural von mos). Cicero nimmt die Tatsache, daß das zu dem Substantiv, das es darstellt, gehörende Adjektiv ἠθικός (»charakterlich«, »sittlich«) im lateinischen Vokabular seiner Zeit keine Entsprechung hat, zum Anlaß, das Adjektiv moralis zu bilden und durch diese Neubildung »die lateinische Sprache«, wie er sagt, »zu bereichern«. (2) ἀξίωμα (»Aussage«). Dieses von Cicero im Plural angeführte Wort ist ein Fachausdruck der stoischen Logik, mit dem die Stoiker das bezeichnen, was sie unter einer Aussage verstehen. Eine Aussage im Sinne dessen, was die Stoiker ein axiōma nennen, ist kein Aussagesatz, sondern das, was ein solcher Satz unter den Umständen, unter denen er geäußert wird, als das unter diesen Umständen mit ihm Gemeinte bezeichnet. Was mit einem Aussagesatz unter den Umständen, unter denen er geäußert wird, gemeint ist, welches axiōma er also unter diesen

162

Anmerkungen § 1a

Umständen bezeichnet, hängt nach den Stoikern dann, wenn er ein indexikalischer Satz ist, d. h. ein Satz, der »mindestens ein Element enthält, dessen Sachbezug gemäß einer Regel mit bestimmten Komponenten des Äußerungskontextes variiert« (Künne 1982: 41), nur von einem Teil derjenigen Umstände seiner Äußerung ab, von denen es abhängt, ob das mit ihm Gemeinte, also das von ihm bezeichnete axiōma, wahr oder falsch ist. Denn diejenigen Umstände seiner Äußerung, die zusammen mit seiner Bedeutung den Zeitpunkt oder Zeitraum bestimmen, auf den er sich bezieht, gehören nach stoischer Auffassung zwar zu den Umständen, von denen es abhängt, welchen Wahrheitswert das von ihm bezeichnete axiōma hat, aber nicht auch zu den Umständen, von denen es abhängt, welches axiōma er bezeichnet. Die zeitlichen Umstände, unter denen ein indexikalischer Aussagesatz geäußert wird, gehören für die Stoiker, mit anderen Worten, nicht zu den Umständen, die für die Identität des von ihm bezeichneten axiōma relevant sind, sondern nur zu den Umständen, die für das Wahr- oder Falschsein des axiōma relevant sind, das er bezeichnet. Während der Satz »Dieser ist gestorben« in einer Situation, in der man ihn unter Bezugnahme auf Dion äußert, ein anderes axiōma bezeichnet als in einer Situation, in der man sich auf eine andere Person mit ihm bezieht, bezeichnet der Satz »Dion ist gestorben« unabhängig davon, ob er in der Zeit vor oder in der Zeit nach Dions Tod geäußert wird, stets dasselbe axiōma. Mit der beschriebenen Auffassung ist untrennbar die Ansicht verbunden – und die Stoiker waren so konsequent, diese Ansicht auch zu vertreten  –, daß es axiōmata gibt, die ihren Wahrheitswert wechseln. Das von dem Satz »Dion ist gestorben« bezeichnete axiōma beispielsweise wechselt seinen Wahrheitswert insofern, als es vor Dions Tod falsch und nach Dions Tod wahr ist. Nicht untrennbar mit der beschriebenen



Anmerkungen § 1a

163

Auffassung verbunden ist eine andere Ansicht, die von den Stoikern merkwürdigerweise ebenfalls vertreten wird, nämlich die Ansicht, daß es axiōmata gibt, die irgendwann zugrunde gehen. Die, wie uns überliefert ist, von Chrysipp angestellte Überlegung, das axiōma, das der Satz »Dieser ist gestorben« bezeichnet, wenn man ihn zu Dions Lebzeiten unter Bezugnahme auf Dion äußert, gehe mit dem Tod Dions zugrunde, da man das Demonstrativpronomen »dieser« nach Dions Tod nicht mehr verwenden könne, um auf Dion Bezug zu nehmen, beruht auf der wenig plausiblen Annahme, daß der Satz »Dieser ist gestorben« selbst dann, wenn man sich mit ihm auf Dion bezieht, ein anderes axiōma bezeichnet als der Satz »Dion ist gestorben« (vgl. hierzu den Abschnitt 4.2 der Einführung). Was die Stoiker über die von ihnen so genannten axiōmata lehren, zeigt, daß sich ihr Aussagenbegriff weder mit dem Begriff dessen deckt, was ein Aussagesatz unabhängig davon, unter welchen Umständen er geäußert wird, bedeutet, noch mit dem Begriff dessen, was ein Aussagesatz unter den Umständen, unter denen er geäußert wird, in dem Sinne aussagt, daß er mitteilt, was der Fall ist, wenn er unter diesen Umständen etwas Wahres aussagt. (Im Falle eines indexikalischen Satzes geht aus dieser Mitteilung hervor, worauf sich unter den Umständen, unter denen er geäußert wird, die indexikalischen Elemente beziehen, die er enthält, auf welchen Gegenstand sich also z. B. das Wort »dieser« und auf welchen Zeitraum sich z. B. die Vergangenheitsform des Ausdrucks »ist gestorben« bezieht.) Das stoische axiōma ist in dem semiotischen Niemandsland ansässig, das die allgemeine Bedeutung eines Aussagesatzes von der unter den Umständen seiner Äußerung mit ihm gemachten Aussage oder, wie man mit Künne sagen kann (vgl. 1982: 46–52), seinen linguistischen Sinn von seinem propositionalen Gehalt trennt. Als etwas, das weder das eine noch das andere ist, sitzt es sozusagen zwischen zwei Stühlen. (Zur stoischen

164

Anmerkungen § 1a

Aussagentheorie vgl. Frede 1974: 32–117 [bes. 34–36, 44–49], Bobzien 1986: 6f., 11–39, Long/Sedley I 1987: 205f.) (3) λογικός, -ή, -όν (»logisch«), δυνατός, -ή, -όν (»möglich«). Vom ersten dieser beiden Wörter macht Cicero insofern einen zweideutigen Gebrauch, als er es einerseits (als Prädikatsnomen von quaestio) adjektivisch gebraucht, um die von den hellenistischen Philosophen so genannte Frage περὶ δυνατῶν (»über das Mögliche«) als eine logische (d.  h. zur Logik gehörende) Frage zu beschreiben, und andererseits (als Bezugswort des Relativsatzes quam rationem disserendi voco) substantivisch, um die λογική (τέχνη scil., d. h. die philosophische Disziplin der Logik) zu bezeichnen. Da das Constructio ad sensum genannte sprachliche Phänomen, das hier in einer besonderen Form vorliegt, bei Cicero nicht ungewöhnlich ist (zu den üblicheren Formen dieses Phänomens vgl. Burkard/Schauer 2012: 329–332 [§ 260], bes. 1c), erübrigt sich die von Marwede (vgl. 1984: 71, 80) im Anschluß an C. L. Kayser für erforderlich gehaltene Änderung der überlieferten Worte totaque est λογική (»und sie ist ganz und gar logisch [d. h. eine Frage der Logik]«) in totaque est λογικῆς (»und sie gehört ganz und gar zur Logik«) (vgl. Sharples 1991: 159). Daß die von ihm hier »Theorie der Argumentation« (ratio disserendi) genannte »Abteilung der Philosophie« (philosophiae pars: De fin. I 22) in Griechenland »die logikē (d. h. die logische) genannt wird« (λογική dicitur: ebd.), teilt Cicero seinen Lesern auch in der Schrift über das höchste Gut und das höchste Übel (De finibus bonorum et malorum) mit, in der er sie als eine Theo­ rie beschreibt, »die das fragend praktizierte Argumentieren zum Gegenstand hat« (quae est quaerendi ac disserendi: ebd.; vgl. hierzu die Anmerkungen zu §§  28b–30). (Glei, der ratio disserendi mit »Wissenschaft vom ›Zerpflücken‹« übersetzt [1993: 323, vgl. 338], bemerkt in einer Fußnote, in der er die Übersetzung von disserere mit »zerpflücken«, womit er »das



Anmerkungen §§ 1b–4

165

›Zerpflücken‹ […] von Sätzen« [1993: 323f.] meint, zu rechtfertigen versucht, sie erscheine »vielleicht zu tendenziell [sic]« [1993: 324, Anm. 14]. Offenbar meint er: »zu tendenziös«, was diese die Logik im Namen Ciceros verunglimpfende Übersetzung auch tatsächlich ist.) §§ 1b–4. Im zweiten Teil von § 1 und in §§ 2–4 erläutert Cicero, weshalb er für die Schrift über das Schicksal, die er in der Schrift über die Weissagung als ein Werk ankündigt, das diese Schrift und diejenige über das Wesen der Götter zu einer Trilogie ergänzen soll (vgl. De div. II 3), eine andere literarische Form gewählt hat als für die beiden zuletzt genannten Schriften, nämlich nicht die Form eines Gesprächs zwischen einem Referenten, der darlegt, »was für den einen«, und einem Korreferenten, der darlegt, »was für den anderen von zwei (einander entgegengesetzten) Standpunkten spricht« (§ 1b), sondern die Form eines Gesprächs, das ein Dozent, der es unternimmt, »gegen eine aufgestellte These zu disputieren« (§  4), mit einem Hörer führt, der ihm diese These vorgelegt hat (vgl. zu diesen beiden Gesprächsformen den ersten Abschnitt der Einführung). Bei der These, gegen die sich der Vortrag richtet, den in De fato der Dozent Cicero dem Hörer Hirtius hält, handelt es sich offenbar um die These, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht. Da Cicero in De divinatione seinen Bruder Quintus bemerken läßt, für diese These werde »an anderer Stelle« argumentiert werden (De div. I 127; vgl. II 19: »doch dar­ über ein andermal« [Schäublin 2013: 151]), liegt die Annahme nahe, daß er ursprünglich die Absicht hatte, De fato ebenso wie De divinatione als ein auf zwei Bücher verteiltes Streitgespräch anzulegen, das so hätte verlaufen sollen, daß Quintus im ersten Buch für und er selbst im zweiten Buch gegen die fragliche These argumentiert hätte (vgl. Yon 1933: VIIIf., Marwede 1984: 82f., Schallenberg 2008: 35f.).

166

Anmerkungen §§ 1b–4

Cicero rechtfertigt die Form, die er seiner »Disputation über das Schicksal« gegeben hat, in § 1b damit, daß »ein bestimmter Vorfall« (casus quidam) ihn »daran gehindert« habe, in dieser Schrift so vorzugehen wie in De natura deorum und De divinatione. Mit dem fraglichen Vorfall meint er offenbar das, was sich bei dem Besuch, den Hirtius ihm abstattete, zutrug, als Hirtius ihn, nachdem sie zunächst über aktuelle politische Fragen miteinander gesprochen hatten, auf seine Beschäftigung mit der Rhetorik und der Philosophie ansprach und schließlich die Bitte an ihn richtete, ihm eine philosophische These vor­ legen und sein Plädoyer gegen sie hören zu dürfen (vgl. Marwede 1984: 82). Dieser Vorfall ist natürlich nur eine literarische Fiktion; aber diese Fiktion hat einen realen Hintergrund, der sich in dem von Cicero inszenierten Gespräch zwischen Hirtius und ihm widerspiegelt. Wenn sich Cicero in diesem Gespräch nämlich von Hirtius auf seine »rhetorischen Übungen« (§ 3) und auf seine Hirtius bekannte »Redekunst« (§ 4) ansprechen läßt, so spielt er damit auf die Tatsache an, daß Hirtius im Frühjahr 44 zusammen mit seinem späteren Amtskollegen Pansa bei ihm zu Besuch war und daß er mit den beiden designierten Konsuln, die sich bei ihm »vor dem Antritt ihres Amtes […] den letzten rednerischen Schliff erwerben wollten« (Schmidt 1972: 52 [1899: 488]), Übungsreden abhielt (vgl. Philippson 1939: 1161); und wenn er sich und Hirtius zum Auftakt ihres Gesprächs darüber diskutieren läßt, welche »dem Frieden und der Eintracht unter den Bürgern« dienliche »Maßnahmen« sie ergreifen könnten, um den »nach dem Untergang Cäsars« drohenden »Unruhen« entgegenzutreten (§ 2), so verrät er dem Leser damit, welcher wirkliche Vorfall sich hinter dem fingierten Vorfall verbirgt, den er dafür verantwortlich macht, daß seine Schicksalsschrift nicht die Form aufweist, die er ursprünglich für sie vorgesehen hatte.



Anmerkungen §§ 5–6

167

Was Cicero tatsächlich dazu bewog, seinen ursprünglichen Plan zu ändern, war offenbar die durch die Ermordung Cäsars eingetretene Veränderung der politischen Lage (vgl. Philippson 1939: 1161f.). In einer Situation, in der die Beschäftigung mit der Politik für ihn wieder vordringlich wurde, hatte es zwei Vorteile für ihn, die geplante Schrift über das Schicksal so anzulegen, daß sie im wesentlichen aus einem von ihm selbst gehaltenen Vortrag besteht, bei dem Hirtius, zu dem die Rolle eines zweiten Vortragenden ohnehin nicht gepaßt hätte, die Rolle des Zuhörers spielt: Einerseits war eine solche Anlage der Schrift für ihn mit einem geringeren zeitlichen Aufwand verbunden, und andererseits konnte er sich davon, daß er Hirtius als seinen Gesprächspartner auftreten ließ, womit er ihm die Ehre erwies, ihm die Schrift zu widmen (vgl. Philippson 1939: 1162), einen größeren Erfolg bei seinem Bemühen erhoffen, den ehemaligen Anhänger und Günstling Cäsars für die republikanische Sache zu gewinnen (vgl. Yon 1933: III, VIIf., Schallenberg 2008: 89f.). »Man darf vermuten«, so Bayer (2000: 111), »daß Cicero […] in der jäh veränderten politischen Situation das vorbereitete Material durch einen glücklichen Regieeinfall in eine zur Veröffentlichung geeignete Form brachte, von der er sich zudem auch einen politischen Ertrag versprach.« §§ 5–6. Die Anfangsworte des ersten Satzes von § 5 sind in der Lücke B verlorengegangen. In der vorliegenden Übersetzung wurde die von Philippson vorgeschlagene Ergänzung »In his exemplis Posidonii« (1934: 1034) übernommen: »Bei diesen von Poseidonios angeführten Beispielen«. Für Poseidonios belegen die fraglichen Beispiele, daß in der Natur der von den Stoikern Sympathie genannte Zusammenhalt unter den Dingen herrscht, womit sie in seinen Augen zugleich Belege dafür sind, daß alles, was in der Welt geschieht, vom Schicksal bestimmt ist. Cicero teilt diese Beispiele, zu denen er vermutlich in dem

168

Anmerkungen §§ 5–6

in der Lücke B verlorengegangenen Text nähere Angaben gemacht hat, in zwei Gruppen ein. (1) Was die Beispiele der ersten Gruppe betrifft, so gesteht Cicero zwar zu, daß sich in ihrem Falle »der in der Natur (unter den Dingen) herrschende Zusammenhalt geltend macht« (§ 5), bestreitet aber, daß sie sich auf das Wirken des Schicksals zurückführen lassen. Worin der fragliche Zusammenhalt, also die von den Stoikern so genannte Sympathie, im Falle dieser Beispiele seiner Ansicht nach genau besteht, wird deutlich, wenn man die knappen Andeutungen, mit denen er auf diese Beispiele Bezug nimmt, durch das ergänzt, was uns andere Quellen über sie verraten (vgl. Reinhardt 1926: 242–244, Marwede 1984: 96f., 246, Sharples 1991: 162f., Schallenberg 2008: 101). Der Dichter Antipater aus Sidon, ein Zeitgenosse des Poseidonios, soll jedes Jahr an seinem Geburtstag einen Fieberanfall erlitten haben und an einem solchen Anfall schließlich auch an seinem Geburtstag gestorben sein. Von »den am Tag der Wintersonnenwende Geborenen«, über die wir nicht mehr wissen als das, was sich der vorliegenden Stelle entnehmen läßt, scheint man geglaubt zu haben, sie seien deshalb, weil sie an dem fraglichen Tag geboren wurden, für bestimmte Krankheiten besonders anfällig. Über »die zur selben Zeit von einer Krankheit befallenen Brüder« teilt uns Augustinus unter Berufung auf Cicero mit, daß sie einer von Hippokrates hinterlassenen Notiz zufolge »gleichzeitig erkrankt seien und ihre Krankheit sich zur selben Zeit verschlimmert und zur selben Zeit wieder gebessert habe«, was Hippokrates, der als Arzt der Meinung gewesen sei, dies hänge »mit ihrer ganz ähnlichen körperlichen Verfassung« zusammen, habe vermuten lassen, daß sie Zwillinge seien, während Poseidonios als der passionierte Astrologe, der er gewesen sei, einen Zusammenhang »mit dem Einfluß der Gestirnskonstellation« habe sehen wollen, »die zum Zeitpunkt ihrer Empfängnis und ihrer Geburt



Anmerkungen §§ 5–6

169

jeweils bestand« (De civ. dei V 2 = De fato, fr. 4). Der Urin und die Fingernägel schließlich haben für Poseidonios insofern Beispielcharakter, als ihre Untersuchung in der Medizin seiner Zeit dem Zweck der Diagnose und der Prognose von Krankheiten diente. Augustinus, der im Anschluß an seinen Bericht über die bei­ den Brüder ausführlich darlegt, weshalb er die medizinische Erklärung des Hippokrates für viel plausibler hält als die astro­ logische des Poseidonios, bezieht sich, wenn er diesen Bericht mit den Worten einleitet: »Cicero bemerkt« (Cicero dicit), vermutlich auf eine Stelle in De fato, die zu dem in der Lücke B verlorengegangenen Text gehört. Vermutlich hat bereits Cicero an dieser Stelle die beiden Erklärungen einander gegenüber­ gestellt und der medizinischen vor der astrologischen den Vorzug gegeben. Die nach der Lehre der Stoiker im Kosmos waltende Sympathie, die er im Falle der genannten Beispiele anzuerkennen bereit ist, besteht für ihn im Falle dieser Beispiele offenbar darin und nur darin, daß es sowohl zwischen der körperlichen Veranlagung, die ein Mensch von Geburt an mitbringt, und der gesundheitlichen Verfassung, in der er sich im Laufe seines Lebens befindet, als auch zwischen dem Gesundheitszustand eines Menschen und der Beschaffenheit bestimmter Stoffe und Teile seines Körpers einen gewissen kausalen Zusammenhang gibt. Wie der von Poseidonios unternommene Versuch, das Phänomen der gleichzeitigen Erkrankung der beiden Brüder astrologisch zu erklären, zeigt, geht das, was die Stoiker unter kosmischer Sympathie verstehen, über naturwissenschaftlich erklärbare Zusammenhänge dieser Art weit hinaus. (2) Nicht nur keine Belege für die Existenz einer alles bestimmenden Schicksalsmacht, sondern nicht einmal Belege für die Existenz einer kosmischen Sympathie sind nach Cicero die Beispiele der zweiten Gruppe, die er in zwei Untergruppen einteilt, nämlich in solche, bei denen es sich »um bloße

170

Anmerkungen §§ 5–6

Zufälle handeln kann« (§  5), und solche, die »Hirngespinste des Poseidonios zu sein scheinen« (ebd.). Die vier Beispiele, auf die er, nachdem er drei von ihnen aufgezählt hat, kurz eingeht, gehören alle zur ersten Untergruppe. Poseidonios hat sie offenbar als Beispiele für die Erfüllung von Vorhersagen angeführt, die auf unerwartete Weise in Erfüllung gingen (vgl. Reinhardt 1926: 240–242, Harrison 1983, Marwede 1984: 102–105, Sharples 1991: 163f., Schallenberg 2008: 101–104). Im Falle des anonymen Schiffbrüchigen, von dem nur das bekannt ist, was uns Cicero an der vorliegenden Stelle über ihn mitteilt, ging die Prophezeiung, er werde im Wasser den Tod finden, wider Erwarten dadurch in Erfüllung, daß er, nachdem er einen Schiffbruch überlebt hatte, in einem Bach ertrank. Über den Räuber Ikadios, bei dem es sich vermutlich um den gefürchteten Piraten dieses Namens handelt, von dem in einem Fragment aus den Satiren des Lucilius die Rede ist, erfahren wir bei Cicero lediglich, daß »von der Decke einer Höhle ein Felsbrocken auf seine Beine fiel« und daß Poseidonios »gar nichts darüber schreibt, daß ihm etwas vorhergesagt worden wäre«. Vermutlich war es in seinem Fall die von Poseidonios nicht ausdrücklich erwähnte Vorhersage, ihm würden die Beine gebrochen werden, die sich insofern auf unerwartete Weise erfüllte, als man angesichts der Verbrechen, deren er sich schuldig gemacht hatte, erwartet hätte, daß ihm statt bei einem Steinschlag in einer Höhle bei der Hinrichtung am Kreuz die Beine gebrochen werden würden (vgl. zu dieser Pointe des Beispiels Harrison 1983: 454). Im Falle von Daphitas und Philipp geben uns andere Quellen nähere Auskunft über das, was bei Cicero nur angedeutet ist. Bei beiden soll es ein Spruch des delphischen Orakels gewesen sein, der sich auf unerwartete Weise erfüllte, nämlich bei Daphitas, einem Sophisten, der das Orakel, ohne daß er ein Pferd besessen hätte, das er hätte verlieren können, zum



Anmerkungen §§ 5–6

171

Spaß gefragt haben soll, ob er sein Pferd wiederfinden werde, die Prophezeiung, er werde durch den Sturz von einem Pferd sein Leben verlieren, und bei dem Makedonenkönig Philipp, dem Vater Alexanders des Großen, die in eine entsprechende Mahnung zur Vorsicht gekleidete Vorhersage, ein Viergespann werde ihm zum Verhängnis werden. Daphitas wurde zur Strafe dafür, daß er den König Attalos von Pergamon verspottet hatte, von einem Felsen mit dem Namen Hippos (»Pferd«) gestürzt, und Philipp wurde bei der Hochzeit seiner Tochter mit einem Schwert ermordet, auf dessen Griff ein Viergespann abgebildet war. Dem nüchternen Blick, mit dem Cicero sie betrachtet, stellen sich diese vier Beispiele nicht als Beispiele für Ereignisse dar, durch deren Eintreten eine Vorhersage auf unerwartete Weise in Erfüllung ging, sondern als Beispiele für Ereignisse, bei denen es der Zufall wollte, daß ihr Eintreten mit der Erfüllung einer Vorhersage eine gewisse oberflächliche Ähnlichkeit hatte. Da sie mit den Vorhersagen, die durch ihr Eintreten angeblich erfüllt wurden, in Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun haben, sind sie weit davon entfernt, das Wirken des Schicksals oder auch nur so etwas wie eine kosmische Sympathie unter Beweis zu stellen. Es ist nicht, wie Cicero heute wohl sagen würde, die Macht des Schicksals, die sich in ihnen zeigt, sondern die Ironie des Schicksals. Von den beiden rhetorischen Fragen, mit denen Cicero in §  6 seine Auseinandersetzung mit der Sympathielehre des Poseidonios abschließt, ist die erste, die er als eine Frage »von großer Tragweite« bezeichnet, falsch gestellt. Denn er lädt uns mit dieser Frage ja zu einem Gedankenexperiment ein, aus dem er uns mit der zweiten Frage eine Lehre zu ziehen nahelegt, die man aus ihm nur dann ziehen kann, wenn man nicht die Launen des Zufalls allein, sondern zusammen mit ihnen auch die Gesetze der Natur in Gedanken die Rolle spielen läßt, die

172

Anmerkungen §§ 5–6

nach stoischer Auffassung das Wirken des Schicksals spielt. Das Gedankenexperiment, zu dem wir mit der Frage eingeladen werden, ob »dann, wenn das Schicksal etwas ganz und gar Namenloses, Wesenloses und Machtloses wäre und die meisten oder sogar alle Geschehnisse durch blinden Zufall und von ungefähr stattfänden, ihr Verlauf ein anderer wäre als der, der er jetzt ist«, soll uns ja lehren, daß »sich auch ohne (Rückgriff auf) das Schicksal für alle Dinge in der Natur oder im Zufall eine vernünftige Erklärung finden läßt«, so daß es überflüssig ist, »das Schicksal einzuschalten«. Cicero hätte die Frage, die uns zu diesem Gedankenexperiment anregen soll, daher so stellen müssen, daß er hätte fragen müssen, ob sich dann, wenn es das Schicksal nicht gäbe und alles, was geschieht, aufgrund natürlicher Ursachen oder durch Zufall geschähe, am Lauf der Dinge irgend etwas ändern würde. Das Nein, das er als Antwort auf sie erwartet, darf er von seinen Lesern jedenfalls nur dann erwarten, wenn er sie nicht wörtlich genommen, sondern in diesem Sinne verstanden wissen will. Daß man sie in diesem Sinne verstehen und ihm eine Unachtsamkeit bei ihrer Formulierung zugute halten muß, geht nicht zuletzt daraus hervor, daß die von Poseidonios angeführten Beispiele für ihn, abgesehen von denjenigen, die er für »Hirngespinste« seines Lehrers hält, teils Beispiele für »bloße Zufälle« und teils Beispiele für den »in der Natur (unter den Dingen) herrschenden Zusammenhalt« sind. Mit der Auffassung, daß dieser natürliche Zusammenhalt unter den Dingen Platz für Geschehnisse läßt, die zufällig stattfinden, wird Cicero seiner Überzeugung, daß nichts ohne Ursache geschieht, keineswegs untreu. Denn neben der Existenz von Ursachen, »die eine natürliche Wirkungskraft in sich haben« (§ 19), erkennt er auch die Existenz von Ursachen an, »die (ihrer Wirkung) zufällig vorausgegangen sind« (ebd.). Was er unter diesen »zufälligen Ursachen« (§ 28a), die er als Ursachen



Anmerkungen §§ 7–11a

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beschreibt, »die keine festen Bestandteile des Naturgeschehens und der Weltordnung sind« (ebd.), verstanden wissen will, läßt sich am besten anhand des Ikadios-Beispiels verdeutlichen, zu dem er bemerkt, daß seiner Meinung nach »auch dann, wenn sich Ikadios damals nicht in der Höhle aufgehalten hätte, jener Felsbrocken gleichwohl heruntergefallen wäre« (§ 6). Hinter dieser Bemerkung verbirgt sich offenbar folgende Überlegung: Das Sichaufhalten des Räubers in der Höhle und das Herunterfallen des Felsbrockens, der ihm die Beine brach, sind zwei Ereignisse, die zwar zeitlich zusammentrafen, aber unabhängig voneinander stattfanden und unabhängig vonein­ ander wirksame Ursachen hatten. Zufällig fand daher weder das eine noch das andere dieser beiden Ereignisse statt, sondern zufällig war nur ihr zeitliches Zusammentreffen, und nur für dieses waren ihre jeweiligen Ursachen, die für sie selbst keineswegs zufällig waren, auch zufällige Ursachen. Nicht der Steinschlag in der Höhle als solcher ereignete sich zufällig und wurde zufällig verursacht, sondern der Steinschlag in der Höhle zu einem Zeitpunkt, zu dem sich gerade der Räuber in ihr aufhielt, und nicht der Aufenthalt des Räubers in der Höhle als solcher war ein Zufall und hatte zufällige Ursachen, sondern sein Aufenthalt in der Höhle zu einem Zeitpunkt, zu dem es einen Steinschlag in ihr gab. §§ 7–11a. Nach dem Exkurs, den seine Auseinandersetzung mit der Sympathielehre des Poseidonios im vorangehenden Abschnitt darstellt, setzt sich Cicero in diesem Abschnitt mit der Sympathielehre Chrysipps auseinander, mit der er seine Leser bereits in dem in der Lücke B verlorengegangenen Text näher bekannt gemacht haben muß. Die »Fallstricke Chrysipps« (Chrysippi laquei: § 7), auf die er hier »wieder zurückkommen« will, – anderswo spricht er von den »Fallstricken der Stoiker« (laquei Stoicorum: Tusc. disp. V 76) und den »Fallstricken ihrer

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Anmerkungen §§ 7–11a

Disputationen und Argumentationen« (disputationum suarum atque interrogationum laquei: De or. I 43) – sind die für die verfängliche Art und Weise, in der die Stoiker zu argumentieren pflegten, charakteristischen Spitzfindigkeiten (vgl. Sharples 1991: 164). Wie Poseidonios, so vertritt in den Augen Ciceros auch Chrysipp die Lehre von der kosmischen Sympathie in einer überzogenen und unhaltbaren Form, aus der es den wahren Kern, der in ihr steckt, herauszuschälen gilt. Da uns der Text keinen direkten Einblick in Ciceros Verständnis der Sympathie­ lehre Chrysipps gewährt, sondern uns das Bild, das er sich von ihr macht, nur im Spiegel der Kritik sehen läßt, die er an ihr übt, stellt sich die Frage, worin seine Kritik an ihr genau besteht. Die Art und Weise, in der er sich mit ihr auseinandersetzt, legt es nahe, seine Äußerungen so zu verstehen – und in diesem Sinne werden sie gewöhnlich auch verstanden (vgl. z. B. Sedley 1993: 321f., Bobzien 1998: 296f., Schallenberg 2008: 105–107) –, daß er Chrysipp vorwirft, die Einflüsse, denen ein Mensch durch seine Veranlagung und seine Umwelt ausgesetzt ist, zwar mit Recht für sein Naturell und für diejenigen Eigenschaften seines Charakters, aufgrund deren er zu bestimmten Verhaltensweisen neigt und anderen abgeneigt ist, aber zu Unrecht auch für sein tatsächliches Verhalten als primär wirksame Ursachen verantwortlich zu machen. Ioppolo, die es für verfehlt hält, den Text in dieser Weise zu interpretieren, ist der Meinung, Cicero gebe mit den Äußerungen, mit denen er nach dieser Interpretation den genannten Vorwurf gegen Chrysipp erhebt, in Wirklichkeit den Standpunkt wieder, den Chrysipp selbst vertritt. Kritisiert wird Chrysipp ihrer Meinung nach im vorliegenden Abschnitt lediglich an zwei Stellen, nämlich im ersten Satz von § 9 (»Indem er so argumentiert, sieht er überhaupt nicht, worum es hier geht und was hier zur Debatte steht«) und im letzten Satz von § 11a



Anmerkungen §§ 7–11a

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(»All das würde zunichte, sollte durch das in der Mantik angewandte Verfahren bestätigt werden, daß das Schicksal eine ihm von Natur aus zukommende Macht besitzt«). Die Kritik Ciceros beschränkt sich ihrer Meinung nach also auf den Vorwurf, Chrysipp räume dem Schicksal dadurch, daß er sich zum Beweis seiner umfassenden Wirksamkeit auf die angeblich von ihm garantierte Erfüllung der von den Weissagern verkündeten Orakel berufe, eine Macht über den Menschen ein, die ihn seiner Fähigkeit beraube, durch guten Willen und Selbstdisziplin die Schwächen seines Charakters zu überwinden (vgl. Ioppolo 2002: 230–233). Nach Ioppolo sprechen vor allem zwei Gründe gegen die vorherrschende Interpretation: Erstens, meint sie, wiederhole Cicero in §  9 nahezu wörtlich eine These, die er Chrysipp bereits in den Paragraphen 7 und 8 zugeschrieben habe, und zweitens sei das, was er in §  9 im Anschluß an seine im ersten Satz geäußerte Kritik darlege, deshalb ungeeignet, den von Chrysipp vertretenen Standpunkt anzugreifen, weil Chrysipp, wie aus den Paragraphen 41–43 zu ersehen sei, ja gerade den Standpunkt vertrete, daß die »natürlichen und vorhergehenden Ursachen« (causae naturales et antecedentes: §  9), die für das Naturell eines Menschen und seine Neigungen verantwortlich sind, für die Entscheidungen, die er trifft, und die Handlungen, die er vollzieht, keine »rangmäßig als erste wirksame Ursachen« (principales causae: ebd.) sind, sondern lediglich zweitrangige Ursachen (vgl. Ioppolo 2002: 231f.). Ein gewichtiger Einwand gegen die vorherrschende Inter­ pretation ist lediglich der zuletzt genannte; denn bei der Wiederholung aus den Paragraphen 7 und 8, die Cicero in §  9 vornimmt, muß es sich ja nicht um die Wiederholung einer These handeln, die er Chrysipp schon zuvor zugeschrieben hat, sondern sie kann durchaus auch die Wiederholung einer von ihm schon zuvor geäußerten Kritik an Chrysipp sein. Daß es

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Anmerkungen §§ 7–11a

tatsächlich eine Kritik an Chrysipp ist, die er in §  9 wiederholt – auch Görler, von dem Ioppolo irrtümlich das Gegenteil behauptet (vgl. 2002: 231, Anm. 16), ist übrigens der Meinung, daß Cicero in §  9 »gegen Chrysipp argumentiert« (1987: 261, Anm. 18)  –, geht deutlich daraus hervor, daß sich der zweite Satz von § 9 (»Es ist nämlich keineswegs so, daß es, wenn aufgrund natürlicher und vorhergehender Ursachen die Neigungen der einen mehr in diese und die der anderen mehr in jene Richtung gehen, deshalb auch dafür, daß wir etwas wollen und begehren, natürliche und vorhergehende Ursachen gibt«) begründend an den ersten Satz dieses Paragraphen anschließt. Zweifellos will Cicero im zweiten Satz nicht die Auffassung Chrysipps wiedergeben, sondern den Vorwurf begründen, den er im ersten Satz mit den Worten »Indem er so argumentiert, sieht er überhaupt nicht, worum es hier geht und was hier zur Debatte steht« gegen ihn erhoben hat. (Die mit »was hier zur Debatte steht« übersetzte Wendung in quo causa consistat ist insofern doppeldeutig, als sie auch bedeuten kann: »worin eine Ursache besteht«. Nach Sedley läßt der Kontext vermuten, daß Cicero mit dieser Doppeldeutigkeit spielt [vgl. 1993: 315, Anm. 7].) Das Gewicht, das dem auf die Paragraphen 41–43 gestützten Einwand Ioppolos gegen die vorherrschende Interpretation zukommt, vermag unter diesen Umständen nicht den Ausschlag für ihre eigene Interpretation zu geben. Die vorherrschende Interpretation wird durch das Gewicht dieses Einwands jedoch mit dem Problem belastet, daß Cicero ihr zufolge eine Kritik an der Sympathielehre Chrysipps übt, der er in den Paragraphen 41–43 mit seinem Bericht über die Zustimmungslehre Chrysipps zumindest auf den ersten Blick selbst den Boden entzieht. Befriedigend läßt sich dieses Problems wohl kaum durch die Annahme lösen, mit principalis causa sei in §  9 etwas anderes gemeint als in § 41, was Sedley im Gegensatz zu Marwede,



Anmerkungen §§ 7–11a

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der den Ausdruck in § 9 nicht in der Bedeutung »rangmäßig als erste wirksame Ursache«, sondern in der Bedeutung »ursprüngliche (d.  h. angeborene Charakterzüge hervorbringende) Ursache« verstanden wissen will (vgl. 1984: 112), mit Recht bezweifelt (vgl. 1993: 322, Anm. 30). Die plausibelste Lösung des genannten Problems dürfte vielmehr in der Annahme liegen, daß Cicero die Zustimmungslehre Chrysipps für eine Theorie hält, die seine Kritik an der von Chrysipp vertretenen Sympathie­lehre nur zum Schein gegenstandslos macht. Nach dem, was uns Cicero in den Paragraphen 41–43, in denen er Chrysipp teilweise selbst zu Wort kommen läßt, mitteilt, ist der von Chrysipp »Zustimmung« (συγκατάθεσις, assensio) genannte Willensakt, mit dem ein Mensch einwilligt, eine bestimmte Handlung zu vollziehen, und damit auch der Vollzug dieser Handlung selbst in erster Linie durch die charakterliche Beschaffenheit des betreffenden Menschen verursacht und nur in zweiter Linie durch die in ihm hervorgerufene Vorstellung, die fragliche Handlung zu vollziehen. Chrysipp scheint diese Vorstellung als das letzte Glied einer Ursachenkette betrachtet zu haben, durch deren vorhergehende Glieder zwar sie selbst in erster Linie, aber die von ihr nur in zweiter Linie verursachte Zustimmung des betreffenden Menschen ebenfalls nur in zweiter Linie verursacht wird. Zu den Gliedern dieser Ursachenkette gehören offenbar auch die kausalen Faktoren, denen der betreffende Mensch sein Naturell und diejenigen Züge seines Charakters verdankt, aufgrund deren er bestimmte Neigungen hat und für bestimmte Eindrücke empfänglich ist. Auch diese Faktoren sind zwar dafür, daß die Vorstellung, eine bestimmte Handlung zu vollziehen, in ihm hervorgerufen wird, aber nicht auch dafür, daß er dieser Vorstellung zustimmt, primäre Ursachen; denn primär verursacht wird seine Zustimmung zu ihr ja durch die Beschaffenheit seines Charakters als ganze, zu der neben denjenigen Charaktereigenschaften, die ihm sozusagen in die Wiege

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Anmerkungen §§ 7–11a

gelegt worden sind, auch und vor allem diejenigen gehören, die er durch seine bisherige Lebensweise erworben hat. Cicero scheint nun die auf das engste mit der Theorie der Mantik verknüpfte Schicksalstheorie Chrysipps, nach der das Schicksal so mächtig ist, daß sein Wirken eine genaue Vorhersage der Zukunft ermöglicht, für unvereinbar mit der Auffassung zu halten, unser Wollen und Handeln habe in der Beschaffenheit unseres Charakters eine rangmäßig als erste wirksame Ursache, der die für unser Naturell und unsere Charakter­ anlagen verantwortlichen Ursachen lediglich als zweitrangige Ursachen vorhergehen. Für eine primäre Ursächlichkeit unseres Charakters, die sich nicht auf die Wirksamkeit dieser Ursachen zurückführen ließe, die also zugleich eine Erstursächlichkeit wäre, gibt es für Cicero in einer von einem allmächtigen Schicksal beherrschten Welt keinen Platz (vgl. hierzu den Abschnitt 4.4 der Einführung). Bei der Kritik, die Cicero nach der Standardinterpretation in §§  7–9 äußert, dürfte es sich also nicht um eine Kritik an einer Auffassung handeln, die er Chrysipp zu Unrecht unterstellt, sondern um eine Kritik an einer Auffassung, die in seinen Augen eine Konsequenz der Schicksalslehre Chrysipps ist, von der Chrysipp nicht wahrhaben will, daß seine Schicksalslehre sie nach sich zieht. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so stünde der Standardinterpretation auch nicht entgegen, daß die Auffassung, die Cicero ihr zufolge in §§ 7–9 kritisiert, mit der Auffassung unvereinbar ist, wir seien dazu fähig, durch guten Willen und Selbstkontrolle unserer Charakterfehler Herr zu werden, die er doch, wie Ioppolo zu bedenken gibt (vgl. 2002: 233), für eine Auffassung halten muß, die Chrysipp teilt, da sein in § 11a gegen Chrysipp erhobener Vorwurf, die von ihm propagierte Allmacht des Schicksals mache unsere Fähigkeit zur Überwindung unserer charakterlichen Schwächen zunichte, andernfalls keinen Sinn hätte.



Anmerkungen §§ 7–11a

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Wenn Cicero die Auffassung, die er in §§ 7–9 kritisiert, für eine Auffassung hält, die Chrysipp zwar nicht billigt, auf die ihn seine Schicksalstheorie aber dennoch festlegt, so unterstellt er Chrysipp mit der Kritik, die er in diesen Paragraphen äußert, keineswegs die Ansicht, die durch unsere Veranlagung und unsere Umwelt verursachten Züge unseres Charakters ­seien ihrerseits nach dem Schema eines »automatischen ReizReaktions-Mechanismus« (Bobzien 1998: 296, 299; vgl. 297) wiederum Ursachen für unsere Handlungen, sondern seiner Kritik liegt dann vermutlich folgende Überlegung zugrunde: Chrysipps Versuch, das heikle Problem, wie wir, wenn wir der Herrschaft des Schicksals unterworfen sind, frei und für das, was wir tun, verantwortlich sein können, mit Hilfe seiner Zustimmungslehre zu lösen, scheitert daran, daß wir unter den Voraussetzungen, von denen er ausgeht, der Vorstellung, eine bestimmte Handlung zu vollziehen, nur dann zustimmen können, wenn es vom Schicksal bestimmt ist, daß wir ihr zustimmen, also nur dann, wenn nicht nur ihre Entstehung in uns, sondern auch unsere Zustimmung zu ihr letzten Endes durch Ursachen bewirkt wird, die außerhalb von uns liegen und für deren Wirkungen daher, auch wenn wir in erster Instanz selbst die Verantwortung für sie tragen, in letzter Instanz das Schicksal verantwortlich ist. Dadurch, daß Chrysipp den Vollzug einer Handlung von der Zustimmung des Handelnden abhängig macht, vermeidet er es zwar, unsere Handlungen als Reaktionen zu mißdeuten, die aufgrund unserer charakterlichen Beschaffenheit durch die von unseren Vorstellungen auf uns ausgeübten Reize automatisch ausgelöst werden; aber die Verantwortung, die er uns damit für unsere Handlungen tragen läßt, ist deshalb illusorisch, weil über eine Zustimmung, die wir einer Vorstellung nur geben können, wenn es vom Schicksal bestimmt ist, daß wir sie ihr geben, letztlich das Schicksal Herr ist und nicht wir selbst.

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Anmerkungen §§ 7–11a

Chrysipp hätte eine auf dieser Überlegung beruhende Kritik vermutlich mit folgender Begründung zurückgewiesen, die Cicero allerdings, da er ein ganz anderes Freiheitsverständnis hat als Chrysipp, wohl kaum überzeugt hätte (vgl. hierzu Sharples 1991: 9f.; 10, Anm. 1): Das Schicksal macht uns dadurch, daß es uns die Möglichkeit gibt, das, was wir nach seinem Willen tun sollen, auch selbst tun zu wollen, für das, was wir tun, verantwortlich. Nur dann, wenn wir von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und das tun wollen, wovon das Schicksal will, daß wir es tun, sind wir frei, da wir andernfalls gegen unseren Willen tun müssen, was wir nach dem Willen des Schicksals tun sollen. In diesem Sinne dürfte das bekannte stoische Gleichnis von dem an einen fahrenden Wagen angebundenen und von diesem Wagen, wenn er ihm nicht von sich aus hinterherläuft, hinterhergezogenen Hund zu verstehen sein, mit dessen Hilfe nach dem Zeugnis Hippolyts von Rom (2./3.  Jh. n.  Chr.) Zenon und Chrysipp ihre Schicksalstheorie zu stützen versuchten (LS 62A). Die von Bobzien vertretene Ansicht, dieses Gleichnis stamme weder von Zenon noch von Chrysipp, sondern aus der späten Stoa und solle weder die Allmacht des Schicksals noch deren Vereinbarkeit mit der menschlichen Freiheit veranschaulichen, sondern lediglich zeigen, daß man gut beraten sei, wenn man darauf verzichte, sich gegen sein Geschick aufzulehnen (vgl. Bobzien 1998: 351–357), ist auf berechtigte Kritik gestoßen (vgl. Sharples 2005, Jedan 2009: 36f., 182 [Anm. 16]). Obwohl es im vorliegenden Abschnitt nicht mehr um die Sympathielehre des Poseidonios geht, sondern um diejenige Chrysipps, ist es angesichts der Tatsache, daß von diesen beiden Stoikern zwar der erstere für seine astrologischen Ambitionen bekannt ist (vgl. Augustinus, De civ. dei V 2 = De fato, fr. 4), daß wir über das Verhältnis des letzteren zur Astrologie aber nicht viel mehr wissen als das, was sich dem folgenden Abschnitt



Anmerkungen §§ 11b–17a

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(§§ 11b–17a) entnehmen läßt (vgl. Ioppolo 2002: 229), unter den Interpreten umstritten, ob sich Cicero auf ihn oder auf Posei­ donios bezieht, wenn er in § 8 beiläufig und ohne erkennbares Motiv bemerkt: »… so mag sich auch die Konstellation der Gestirne durchaus, wenn man so will, auf gewisse Dinge auswirken; eine Auswirkung auf alle wird sie sicherlich nicht haben« (vgl. Bobzien 1998: 293, Anm. 124). Ioppolo spricht sich mit Recht dafür aus, in der fraglichen Bemerkung nicht ein Echo der Sympathielehre des Poseidonios zu sehen, sondern ein Zeugnis dafür, daß die Gestirnskonstellation, unter der ein Mensch geboren wurde, auch in den Augen Chrysipps zu den seinen Charakter beeinflussenden Umweltfaktoren zählt (vgl. 2002: 229f., 237, 243). Die »Konstellation der Gestirne« (astrorum affectio: § 8) spielt für Chrysipp, so Ioppolos plausible Vermutung, neben der Veranlagung, die ein Mensch von Geburt an mitbringt, die Rolle eines kausalen Faktors, auf den es zurückzuführen ist, daß sich Menschen, die aufgrund dessen, daß sie unter denselben geographischen und klimatischen Bedingungen leben, bestimmte gemeinsame Charakterzüge aufweisen, durch bestimmte andere charakterliche Eigenschaften voneinander unterscheiden. Zu den im vorliegenden Abschnitt angeführten Beispielen vgl. Sharples 1991: 165f., Schallenberg 2008: 105f., 111f. Das in §  10 angeführte Zopyros-Beispiel, das Cicero bereits in den Tuskulanischen Disputationen angeführt hat (Tusc. disp. IV 80), wird auch in der Schicksalsschrift des Alexander von Aphrodisias erwähnt (Kap. 6; 171, 11–16). §§ 11b–17a. In §§ 11b–14, dem ersten der beiden Teilabschnitte, in die sich dieser Abschnitt gliedert, versucht Cicero zu zeigen, daß Chrysipp dadurch, daß er die Mantik in den Dienst seiner Schicksalstheorie stellt, gegen seine Absicht zu einem Anhänger der Modaltheorie des Diodoros Kronos wird (zu Diodors

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Anmerkungen §§ 11b–17a

Modaltheorie, über die Cicero einen teilweise unzutreffenden Bericht gibt, vgl. den Abschnitt 4.2 der Einführung). In §§ 15– 17a versucht er zu zeigen, daß es Chrysipp nicht gelingt, dies durch eine Umformulierung der »wissenschaftlichen Grundsätze« (percepta artis: § 11b), auf denen die Mantik beruht, zu vermeiden. Mit dem in der vorliegenden Übersetzung durch »Grundsatz« wiedergegebenen Wort perceptum (§§  11b, 12, 15), das eigentlich »Erfaßtes«, »Wahrgenommenes« bedeutet, hat Cicero das griechische Wort θεώρημα (»Theorem«, »Lehrsatz«, »Grundsatz«) in enger Anlehnung an dessen ursprüngliche Bedeutung »Angeschautes« ins Lateinische übersetzt. (Vgl. hierzu Yon 1933: 33f., Mayet 2010: 82f. [Anm. 194]. Hamelin zitiert aus einer Galen [2. Jh. n.  Chr.] zugeschriebenen Schrift eine auch von Mayet zitierte Definition, nach der ein θεώρημα »est ce que la raison a découvert dans l’enchaînement des phénomènes et élevé à l’universalité« [1978: 98].) Von den drei Sätzen, die Cicero im vorliegenden Abschnitt als Beispiele für wissenschaftliche Grundsätze anführt, ist der erste (»Wenn jemand beim Aufgang des Sirius geboren ist, wird er nicht im Meer sterben«: §§  12, 15), bei dem es umstritten ist, ob es sich bei ihm um ein fiktives Beispiel handelt (vgl. Bayer 2000: 123, Marwede 1984: 118, Bobzien 1998: 146, Mayet 2010: 83) oder ob er bereits Chrysipp als Beispiel diente (vgl. Magris 1994: 85 [Anm. 39], Ioppolo 2002: 242), ein speziell die Astrologie betreffender Grundsatz der Mantik, der zweite (»Wenn bei jemandem der Puls in der und der Weise schlägt, hat er Fieber«: § 15) ein Grundsatz der Medizin und der dritte (»Auf einer Kugel halbieren sich die Großkreise gegenseitig« [d. h. »Wenn zwei Kreise auf einer Kugel größtmögliche Kreise sind, halbieren sie sich gegenseitig«]: §§ 15, 16) ein Grundsatz der Geometrie. Bei den ersten beiden dieser drei Sätze handelt es sich um generalisierte Konditionalaussagen (genauer gesagt: um ge-



Anmerkungen §§ 11b–17a

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neralisierte konditionale Perioden) der Form (∀x)(Ax  → Bx), d. h. um Aussagen der Form »Für jedes x gilt, daß dann, wenn x A ist (wenn x ein Mensch ist, der beim Aufgang des Sirius geboren ist, bzw. ein Mensch, bei dem der Puls in der und der Weise schlägt), x B ist (x ein Mensch ist, der nicht im Meer sterben wird, bzw. ein Mensch, der Fieber hat)«, und beim dritten Satz um eine generalisierte Konditionalaussage der Form (∀x)‌(∀y)‌((∃z)‌(Cxz & Cyz) → Dxy), d. h. um eine Aussage der Form »Für jedes x und jedes y gilt, daß dann, wenn x und y bezüglich irgendeines z C sind (wenn x und y auf irgendeiner Kugel z Großkreise sind), x bezüglich y D ist (x ein y halbierender und seinerseits von y halbierter Kreis ist)«. Die ersten beiden Sätze bringen die durch Beobachtung gewonnene, also auf Erfahrung beruhende Erkenntnis zum Ausdruck, daß zwischen dem, was von irgendeinem Menschen in ihrem Vordersatz ausgesagt wird, und dem, was von demselben Menschen in ihrem Nachsatz ausgesagt wird, ein Zusammenhang besteht, der es erlaubt, daraus, daß auf einen bestimmten Menschen das in ihrem Vordersatz Ausgesagte zutrifft, darauf zu schließen, daß auf diesen Menschen auch das in ihrem Nachsatz Ausgesagte zutrifft. Sie sind also empirische Sätze, was damit in Einklang steht, daß in der Antike vor allem die Mantik und die Medizin, also die beiden Disziplinen, für deren Grundsätze sie als Beispiele angeführt werden, als empirische Wissenschaften galten (vgl. Frede 1974: 86). »Beide«, so Frede (ebd.), »beanspruchten, auf Grund sorgfältiger, sich über lange Zeiträume erstreckender Beobachtung ein System von allgemeinen Aussagen zu entwickeln, welches ihnen auch erlaubte, Prognosen zu stellen.« (Nach Bobzien hielt Chrysipp die Grundsätze der Mantik im Unterschied zu denen der Medizin, die er für Sätze hielt, von denen die meisten nur in der Regel, aber nicht ausnahmslos gültig sind, insgesamt für allgemeingültig [vgl. 1998: 160, 164, 174].)

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Anmerkungen §§ 11b–14

§§ 11b–14. Um zu zeigen, daß Chrysipp, wenn er die Grundsätze der Mantik anerkennt, auch die modallogischen Thesen Diodors anerkennen muß, bringt Cicero in diesem Abschnitt ein Argument vor, das er in § 12 in einer ausführlicheren und in § 14 in einer kürzeren Version präsentiert, wobei er voraussetzt, daß die generalisierte Konditionalaussage, die der von ihm als erste Prämisse benutzte astrologische Grundsatz darstellt, im Sinne einer generalisierten strikten Implikation zu verstehen ist, d. h. im Sinne einer generalisierten konditionalen Notwendigkeitsaussage. Man kann die beiden Versionen dieses »Fabius-Arguments« (Schallen­berg 2008: 118, 137) durch die beiden folgenden Ableitungen wiedergeben. (M := Es ist [jetzt] möglich, daß …; N := Es ist [jetzt] notwendig, daß …; a := Fabius, b := du; A := wurde beim Aufgang des Sirius geboren, E := existiert [d. h. lebt jetzt], S  :=  wird im Meer sterben; US: prädikatenlogische Regel der universellen Spezialisierung, R1 – R5: Regeln der modalen Aussagenlogik, die folgende Ableitungsschritte erlauben: R1 die definitionsgemäße Ersetzung von N(p → q) durch ∼M(p & ∼q), R2 den Schluß von Nq auf N(p → q), R3 den Schluß von ∼M(q & r) und N(p → q) auf ∼M(p & r), R4 den Schluß von ∼M(p & q) und Np auf ∼Mq und R5 den Schluß von N(p → q) und Np auf Nq. Die mit einem Asteriskus [*] gekennzeichneten Aussagen hat Cicero nicht ausdrücklich formuliert.) Ableitung I (Version A, § 12) (1a) (∀x)N(Ax → ∼Sx) (»Daß jemand, wenn er beim Aufgang des Sirius geboren wurde, nicht im Meer sterben wird, ist notwendig«): Prämisse 1 (2a) N(Aa → ∼Sa) (»Daß Fabius, wenn er beim Aufgang des Sirius geboren wurde, nicht im Meer sterben wird, ist notwendig«): aus (1a), US



Anmerkungen §§ 11b–14

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(3a) ∼M(Aa & Sa) (»Daß Fabius beim Aufgang des Sirius geboren wurde, ist unverträglich damit [d. h. unmöglich zusammen damit der Fall], daß Fabius im Meer sterben wird«): aus (2a), R1 (p/Aa, q/∼Sa) (4a) N(Aa) (»Daß Fabius beim Aufgang des Sirius geboren wurde, ist sicher [d. h. jetzt notwendig]«): Prämisse 2 (5a)* N(Ea → Aa) (»Daß Fabius, wenn er existiert, beim Auf­ gang des Sirius geboren wurde, ist sicher«): aus (4a), R2 (p/Ea, q/Aa) (6a) ∼M(Ea & Sa) (»Daß Fabius existiert, ist unverträglich damit, daß Fabius im Meer sterben wird«): aus (3a) und (5a), R3 (p/Ea, q/Aa, r/Sa) (7a)* N(Ea) (»Daß Fabius existiert, ist sicher«): Prämisse 3 (8a) ∼M(Sa) (»Daß Fabius im Meer sterben wird, ist unmög­ lich«): aus (6a) und (7a), R4 (p/Ea, q/Sa); Konklusion aus den Prämissen 1, 2 und 3 Ableitung II (Version B, § 14) (1b)* (∀x)N(Ax → ∼Sx) (»Daß jemand, wenn er beim Aufgang des Sirius geboren wurde, nicht im Meer sterben wird, ist notwendig«): Prämisse 1 (2b) N(Ab  → ∼Sb) (»Daß du, wenn du beim Aufgang des Sirius geboren wurdest, nicht im Meer sterben wirst, ist notwendig«): aus (1b), US (3b) N(Ab) (»Daß du beim Aufgang des Sirius geboren wur­ dest, ist notwendig«): Prämisse 2 (4b) N(∼Sb) (»Daß du nicht im Meer sterben wirst, ist not­ wendig«): aus (2b) und (3b), R5 (p/Ab, q/∼Sb); Konklusion aus den Prämissen 1 und 2

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Anmerkungen §§ 11b–14

Nach dieser Rekonstruktion, die sich enger an den Text Ciceros anlehnt als die in Weidemann 2012 (35–38) vorgelegte (vgl. auch Schallenberg 2008: 118–123, 137f.), sind beide Versionen des Fabius-Arguments logisch korrekt. Die Konklusionen der beiden Versionen sind, wenn man davon absieht, daß der in der Version A verwendete Eigenname »Fabius« in der Version B durch das Personalpronomen »du« ersetzt ist, logisch äquivalent. Die Ansicht, Cicero bringe in den Paragraphen 12 und 14 zwei verschiedene Argumente vor, von denen nur das zweite logisch korrekt sei (vgl. Donini 1973: 336f., Bobzien 1998: 145, 150–153), hat Kreter mit Recht als unbegründet zurückgewiesen (vgl. 2006: 135f. [Anm. 251], 144f. [Anm. 262]). Was in der Version A die beiden Aussagen (5a) und (7a) betrifft, die Cicero nicht ausdrücklich formuliert hat, so ist die Annahme, daß er sie in Gedanken ergänzt wissen will, aus folgendem Grund naheliegend: Das in der Aussage (4a) von ihm verwendete Wort »sicher« (certum), das er wohl auch in ihnen verwendet hätte, wenn er sie formuliert hätte, bedeutet in der Version A dasselbe wie das Wort »notwendig« (necessarium) in der Version B (vgl. Kreter 2006: 139, Anm. 255), nämlich die Notwendigkeit des Vergangenen (unter Einschluß des gerade Gegenwärtigen), die darin besteht, daß das, was bis jetzt geschehen ist, jetzt nicht mehr abzuändern ist (vgl. den Hinweis auf diese Notwendigkeit in § 14). Wenn es nun, wie (4a) besagt, jetzt nicht mehr abzuändern ist, daß Fabius beim Aufgang des Sirius geboren wurde, so ist es natürlich auch, wie (5a) besagt, jetzt nicht mehr abzuändern, daß Fabius, wenn er jetzt lebt, beim Aufgang des Sirius geboren wurde. Da er nun einmal unter diesen Umständen geboren wurde, kann er jetzt nicht leben, ohne unter diesen Umständen geboren zu sein (vgl. Schallenberg 2008: 120, Weidemann 2012: 36). (Zu dem verfehlten Versuch, (5a) unter Berufung darauf zu rechtfertigen, daß das Schicksal die Umstände, unter



Anmerkungen §§ 11b–14

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denen ein Mensch geboren wurde, zu einem wesentlichen Bestandteil seiner Existenz mache, vgl. die Kritik Kreters [2006: 144f., Anm. 262] und Schallenbergs [2008: 120f., Anm. 171].) Daß es auch, wie (7a) besagt, jetzt nicht mehr abzuändern ist, daß Fabius jetzt lebt, konnte Cicero deshalb stillschweigend voraussetzen, weil einen Beweis dafür zu führen, daß Fabius nicht im Meer sterben kann, ja nur unter der Voraussetzung sinnvoll ist, daß Fabius noch nicht gestorben ist (vgl. Kreter 2006: 141f., 156f.). Was den quod-Satz betrifft, der den Satz Ergo haec quoque coniunctio est ex repugnantibus: »Et est Fabius et in mari Fabius morietur«, quod, ut propositum est, ne fieri quidem potest (§ 12) abschließt, so ist Mayet, die ihn ausführlich analysiert, sowohl darin zuzustimmen, daß es sich bei ihm nicht um einen Kausalsatz handelt, wie z. B. Bayer (vgl. 2000: 23) und Bobzien (vgl. 1998: 150f.) annehmen, sondern um einen Relativsatz, als auch darin, daß er sich nicht auf die Konjunktion »Et est Fabius et in mari Fabius morietur« als ganze bezieht, wie z. B. Marwede annimmt (vgl. 1984: 127f.), sondern nur auf das zweite Glied dieser Konjunktion (vgl. Mayet 2010: 102–105). Unnötig ist jedoch der von ihr im Anschluß an W. Stroh gemachte Vorschlag, das handschriftlich überlieferte ut propositum est in ut pr〈imum〉 positum est zu ändern (vgl. 2010: 104), was den fraglichen quodSatz besagen ließe, daß das im zweiten Konjunktionsglied Ausgesagte, »sobald das erste gesetzt ist«, nicht geschehen kann. Denn in seiner überlieferten Gestalt, in der er besagt, daß das im zweiten Konjunktionsglied Ausgesagte »so, wie es vorgelegt ist« (ut propositum est), nämlich als etwas mit dem notwendigerweise bestehenden Sachverhalt, der im ersten Konjunktionsglied ausgesagt wird, Unverträgliches, nicht geschehen kann, hat dieser Satz ja einen guten Sinn. Vermutlich will Cicero mit ihm den Schluß von (6a) und (7a) auf (8a) formulieren, wobei er die für ihn selbstverständliche Tatsache, daß das im ersten

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Anmerkungen §§ 11b–14

Konjunktionsglied (also in dem Satz »est Fabius«) Ausgesagte notwendigerweise der Fall ist, unerwähnt läßt. Hamelin, der propositum als ein das erste Konjunktionsglied (»l’antécédent […] de la proposition conjonctive« [1978: 25]) bezeichnendes Substantiv aufzufassen und ut propositum est im Sinne von »dès que l’antécédent est donné« zu verstehen vorschlägt (ebd.; vgl. jedoch 1978: 99, wo er die Übersetzung »comme il est manifeste« erwägt), meint zu Unrecht, der quod-Satz besage bereits in seiner überlieferten Gestalt das, was Mayets Konjektur ihn besagen läßt. Calanchini, die ihn mit »was gemäß Vordersatz nicht einmal geschehen kann« übersetzt (2015: 23; vgl. 86), schließt sich Hamelin mit dieser Übersetzung offenbar an. Was den Schluß von (3a) und (5a) auf (6a) anbelangt, so möchte ihn Kreter, der zwar anerkennt, daß er logisch gültig ist, aber meint, man könne für (5a) nicht »leicht eine Begründung angeben« (2006: 145, Anm. 262), vermeiden. Nun darf man zwar, worauf Kreter auch hinweist, statt von (3a) und (5a) auch von (3a) und (4a) auf (6a) schließen; Kreter möchte jedoch auch ­diesen Schluß vermeiden, da er »zwar – rein logisch gesehen – gültig, aber völlig unmotiviert« wäre (2006: 144; vgl. 144–147, Anm. 262). Kreter schlägt daher vor, bei dem Versuch, die Version A des Fabius-Arguments zu rekonstruieren, von der Annahme auszugehen, daß das Perfekt von nasci (»geboren werden«) an den ersten vier der fünf Stellen, an denen es in § 12 in der Form natus est oder der Form natum esse vorkommt, im Sinne von »er wurde geboren und existiert (d.  h. lebt jetzt)« als ein präsentisch-resultatives Perfekt und nur an der letzten im Sinne von »er wurde geboren« als ein historisches Perfekt aufzufassen ist (vgl. 2006: 134f.). Seine auf dieser Annahme beruhende Rekonstruktion läßt sich, wenn man die von ihm benutzte logische Notation in die hier verwendete übersetzt, durch folgende Ableitung wiedergeben (vgl. 2006: 147; 148, Abb. 19):



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Ableitung I′ (Version A nach F. Kreter) (1′a) (∀x)N((Ax & Ex) → ∼Sx) (»Daß jemand, wenn er beim Aufgang des Sirius geboren wurde und existiert, nicht im Meer sterben wird, ist notwendig«): Prämisse 1 (2′a) N((Aa & Ea)  → ∼Sa) (»Daß Fabius, wenn er beim Aufgang des Sirius geboren wurde und existiert, nicht im Meer sterben wird, ist notwendig«): aus (1′a), US (3′a) ∼M(Aa & Ea & Sa) (»Daß Fabius beim Aufgang des Sirius geboren wurde und existiert, ist unverträglich damit [d. h. unmöglich zusammen damit der Fall], daß Fabius im Meer sterben wird«): aus (2′a), R1 (p/Aa & Ea, q/∼Sa) (4′a) N(Aa) (»Daß Fabius beim Aufgang des Sirius geboren wurde, ist sicher [d. h. jetzt notwendig]«): Prämisse 2 (5′a) ∼M(Ea & Sa) (»Daß Fabius existiert, ist unverträglich damit, daß Fabius im Meer sterben wird«): aus (3′a) und (4′a), R4 (p/Aa, q/Ea & Sa) (6′a)* N(Ea) (»Daß Fabius existiert, ist sicher«): Prämisse 3 (7′a) ∼M(Sa) (»Daß Fabius im Meer sterben wird, ist un­mög­ lich«): aus (5′a) und (6′a), R4 (p/Ea, q/Sa); Konklusion aus den Prämissen 1, 2 und 3 Kreter räumt zwar ein, daß der plötzliche Wechsel von einem präsentisch-resultativen zu einem historischen Perfekt, der beim Übergang von (3′a) zu (4′a) stattfindet, gegen seine Rekonstruktion spricht (vgl. 2006: 141), gibt aber zu bedenken, daß Cicero in § 12 »sehr wahrscheinlich eine griechische ­Quelle übersetzt« (2006: 147) und daß die beiden Bedeutungen des lateinischen Perfekts, die seine Übersetzung der ersten Prämisse doppeldeutig machen, im Griechischen auf das Perfekt und den Aorist verteilt sind, weshalb diese Prämisse in der von

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ihm übersetzten Quelle, in der sie vermutlich ebenfalls unter Verwendung des Perfekts formuliert war, eindeutig im Sinne von (1′a) zu verstehen gewesen sein dürfte (vgl. 2006: 151). Was bei Ciceros Wiedergabe des griechischen Perfekts durch ein lateinisches »zwangsläufig verloren geht«, so Kreter, »ist die Eindeutigkeit, mit der das griechische Original einen gegenwärtigen Zustand als Ergebnis eines vorausgegangenen Geschehens zum Ausdruck bringt« (ebd.). Unabhängig davon, ob die Version A des Fabius-Arguments im Sinne der Ableitung I oder im Sinne der Ableitung I′ zu verstehen ist, stellt sich die Frage, weshalb in dieser Version auf die gegenwärtige Existenz von Fabius, deren Erwähnung unter logischen Gesichtspunkten, wie die Version B zeigt, völlig überflüssig ist, ausdrücklich Bezug genommen wird. Kreter gibt hierfür folgende Erklärung (vgl. 2006: 152–157, 195f.): Die Version A geht vermutlich in einer Form, in der sie anstelle des Eigennamens »Fabius« ein von Cicero durch diesen Namen ersetztes Pronomen enthielt, nämlich entweder das Demonstrativpronomen »dieser« oder – wie die Version B – das Personalpronomen »du«, auf einen Zeitgenossen Chrysipps zurück, der mit ihr das Meisterargument des Diodoros Kronos (vgl. zu diesem Argument die im Abschnitt 4.2 der Einführung vorgelegte Rekonstruktion) so umzugestalten versuchte, daß es gegen den Einwand gefeit ist, den Chrysipp gegen seine zweite Prämisse, also gegen die These, daß aus etwas Möglichem nichts Unmögliches folgt, erhoben hatte. Chrysipp hatte gegen diese These eingewandt, daß sie sich durch ein Gegenbeispiel widerlegen lasse, nämlich durch die (strikte) Implikation »Wenn Dion gestorben ist, ist dieser gestorben«, die zwar, wenn sie zu Dions Lebzeiten unter Bezugnahme auf ihn geäußert werde, wahr sei und deren Vordersatz auch etwas besage, das möglich sei, deren Nachsatz aber etwas Unmögliches besage, da die mit ihm gemachte Aussage



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zugrunde gehe, wenn Dion sterbe (vgl. hierzu die Anmerkungen zu § 1a und den Abschnitt 4.2 der Einführung). Ausgehend von der Überlegung, daß dann, wenn der Satz »Dieser ist gestorben« etwas Unmögliches besagt, der Satz »Dieser ist nicht gestorben« und somit auch der Satz »Dieser lebt« etwas Notwendiges besagt und daß Entsprechendes auch für die beiden Sätze »Du bist gestorben« und »Du lebst« gilt (vgl. zu dieser Überlegung Frede 1974: 87f., Sorabji 1980: 264, Bobzien 1998: 153, Kreter 2006: 152–154), konstruierte nun derjenige, auf den die Version A des Fabius-Arguments in ihrer ursprünglichen Form zurückgeht, so Kreters Vermutung, in der Absicht, Chrysipp »gleichsam ›mit seinen eigenen Waffen zu schlagen‹« (2006: 155), ein Argument, gegen das Chrysipp nicht nur den genannten Einwand nicht mehr erheben konnte, sondern in dem darüber hinaus auch noch eine von ihm selbst stammende Idee, nämlich die »Idee, die Behauptung ›Dieser ist gestorben‹ als unmöglich zu betrachten« (2006: 154), »geschickt« (ebd.) gegen ihn verwendet wird. Nun ist das Fabius-Argument in der Form, die Kreter als seine Urform betrachtet, zwar in der Tat gegen den Einwand immun, den Chrysipp gegen die These erhob, daß aus etwas Möglichem nichts Unmögliches folgt; gegen diesen Einwand ist es in dieser Form aber nicht etwa deshalb immun, wie Kreter meint, weil der Satz »Daß dieser (jetzt) lebt, ist (jetzt) notwendig« oder der Satz »Daß du (jetzt) lebst, ist (jetzt) notwendig« zu seinen Prämissen gehört, sondern aus einem ganz anderen Grund. Weshalb Chrysipp in dem von ihm angeführten Beispiel ein Beispiel sah, das nicht nur zeigt, daß die fragliche These nicht in allen Fällen gültig ist, sondern auch, daß sie speziell in denjenigen Fällen nicht gültig ist, in denen sie im Meisterargument als Prämisse fungiert, ist uns zwar nicht überliefert; die Vermutung liegt aber nahe, daß er die fragliche These in

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ihrer Funktion als Prämisse des Meisterarguments deshalb mit Hilfe des Dion-Beispiels widerlegen zu können glaubte, weil er dieses Argument in einer Form vor Augen hatte, in der in ihm (wie nach Kreter im Fabius-Argument in dessen ursprünglicher Form) davon die Rede war, daß mit einem bestimmten Menschen, auf den mit dem Pronomen »dieser« oder dem Pronomen »du« Bezug genommen wurde, das und das der Fall ist, beispielsweise davon, daß Kypselos – ein Tyrann aus dem siebten vorchristlichen Jahrhundert (vgl. Marwede 1984: 136, Sharples 1991: 167f.), dessen Herrschaft in Korinth Cicero in § 13 als Beispiel anführt – in Korinth herrscht. Damit die fragliche These im Falle dieses Beispiels gültig ist, darf (wenn es mit Hilfe des Pronomens »dieser« formuliert ist) die folgende strikte Implikation nicht so beschaffen sein, daß dann, wenn sie wahr ist, das, was ihr Vordersatz besagt, möglich, aber das, was ihr Nachsatz besagt, unmöglich ist: »Notwendigerweise ist es dann, wenn dieser in Korinth herrscht, wahr und schon immer wahr gewesen, daß dieser in Korinth herrscht oder irgendwann einmal dort herrschen wird.« Chrysipp hätte diese Implikation, die man erhält, wenn man in der dritten Prämisse des Meisterarguments – also in der These N(p → HFp) (»Notwendigerweise ist es dann, wenn es der Fall ist, daß  p, wahr und schon immer wahr gewesen, daß es der Fall ist oder irgendwann einmal der Fall sein wird, daß p«) – für p den Satz »Dieser herrscht in Korinth« einsetzt, nun zwar für eine Implikation gehalten, die dann, wenn sie zu Lebzeiten des Kypselos unter Bezugnahme auf ihn geäußert worden wäre, wahr gewesen wäre und deren Vordersatz dann auch etwas Mögliches besagt hätte; daß das, was ihr Nachsatz besagt, dann ebenfalls möglich gewesen wäre, hätte er aber vermutlich mit der Begründung bestritten, die mit dem Satz »Dieser herrscht in Korinth oder wird irgendwann einmal dort herrschen« gemachte Aussage könne unmöglich schon immer



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wahr gewesen sein, da sie vor der Geburt desjenigen, der mit »dieser« gemeint ist, ja noch gar nicht existiert habe. (Angesichts der von den Stoikern vertretenen Auffassung, daß es Aussagen gibt, die vergehen können, liegt die Annahme nahe, daß es nach ihrer Auffassung »auch Aussagen gibt, die erst entstehen, weil die für ihre Verwendung notwendigen Umstände erst von einem gewissen Zeitpunkt ab gegeben sein können« [Frede 1974: 49]. Wie Chrysipp die Ansicht, die im Meisterargument als zweite Prämisse benutzte These, daß aus etwas Möglichem nichts Unmögliches folgt, sei in den Fällen, in denen sie in diesem Argument als Prämisse benutzt werde, ungültig, mit Hilfe seiner Lehre, daß es Aussagen gibt, die vergehen können, begründet haben könnte, hat White anhand eines Beispiels zu zeigen versucht, das seinen Zweck allerdings nur unter der Voraussetzung erfüllt, daß Chrysipp auch die mit Sätzen der Form »Es ist jetzt [d. h. zu diesem Zeitpunkt] der Fall, daß p« gemachten Aussagen für vergänglich hielt, was, wie White einräumt, alles andere als sicher ist [vgl. 1985: 112–114].) Wenn nun das Meisterargument in den Augen Chrysipps letztlich daran scheitert – jedenfalls dann, wenn ein mit Hilfe des Pronomens »dieser« oder des Pronomens »du« formuliertes Beispiel in ihm angeführt wird –, daß es auf die Wahrheit einer noch gar nicht existierenden Aussage rekurriert, so kann man es vor der Kritik Chrysipps zwar in der Tat dadurch schützen, daß man ihm die Form gibt, von der Kreter annimmt, daß sie die ursprüngliche Form des Fabius-Arguments ist; daß es in dieser Form vor Chrysipps Kritik geschützt ist, liegt aber einfach daran, daß es in dieser Form auf keine Aussage rekurriert, die sich entweder auf die Zeit vor der Geburt oder die Zeit nach dem Tod des mit »dieser« bzw. »du« gemeinten Menschen bezieht, und somit weder auf eine Aussage, die in den Augen Chrysipps noch gar nicht entstanden wäre, noch auf eine Aussage, die in seinen Augen bereits vergangen wäre.

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Um die Kritik Chrysipps abzuwehren, hätte derjenige, der sich die Version A des Fabius-Arguments ausgedacht hat, die gegenwärtige Existenz des von Cicero Fabius genannten Menschen, auf deren Erwähnung es ihm nach Kreter gerade ankam, also gar nicht zu erwähnen brauchen. Vielleicht hat er sie nur deshalb erwähnt, weil er damit unterstreichen wollte, daß sich das Argument auf einen Zeitpunkt bezieht, zu dem der Mensch, von dem in ihm die Rede ist, bereits geboren, aber noch nicht gestorben ist. Dies würde auch erklären, weshalb die Erwähnung der gegenwärtigen Existenz dieses Menschen in der auf das Wesentliche beschränkten Version B unterblieben ist. Was das Dion-Beispiel mit dem Meisterargument und dem Fabius-Argument verbindet, ist also vermutlich nicht der Gedanke, daß dann, wenn der Satz »Dieser ist gestorben« etwas Unmögliches besagt, der Satz »Dieser lebt« etwas Notwendiges besagen muß, sondern der Gedanke, daß die mit dem Satz »Dieser ist gestorben« gemachte Aussage dann, wenn sie mit dem Tod des Menschen, der mit »dieser« gemeint ist, vergeht, nicht schon immer existiert haben, sondern erst mit der Geburt dieses Menschen entstanden sein kann. Die Art und Weise, in der Cicero das Fabius-Argument in §  14 präsentiert, macht deutlich, daß er es in der Version B deshalb für logisch korrekt hält, weil seine Konklusion »Es ist notwendig, daß du nicht im Meer sterben wirst« aufgrund des modallogischen Gesetzes, daß dann, wenn der Vordersatz α einer wahren strikten Implikation etwas Notwendiges besagt, auch ihr Nachsatz β etwas Notwendiges besagt (N(α → β) → (Nα → Nβ)), aus der strikten Implikation »Wenn jemand beim Aufgang des Sirius geboren ist, wird er nicht im Meer sterben«, die er in der speziellen Form des Satzes »Wenn du beim Aufgang des Sirius geboren bist, wirst du nicht im Meer sterben« anführt, als erster Prämisse und dem Satz »Es ist notwendig, daß du beim Aufgang des Sirius geboren bist« als zweiter Prä-



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misse logisch folgt und daher mit Hilfe der Regel R5, die auf jenem Gesetz beruht, aus diesen beiden Prämissen abgeleitet werden darf (vgl. die obige Ableitung II). Cicero weist nun in § 14 darauf hin, daß Chrysipp zwar die von seinem Lehrer Kleanthes verworfene These »Alles Wahre in der Vergangenheit ist notwendig« billigte – also die These, aus der sich unter der Voraussetzung, daß der mit »du« angeredete Mensch tatsächlich beim Aufgang des Sirius geboren ist, die erwähnte zweite Prämisse ergibt –, daß er aber die Allgemeingültigkeit des erwähnten modallogischen Gesetzes bestritt. Dieser Hinweis zeigt, daß das Fabius-Argument dem Meisterargument strukturell sehr ähnlich ist; denn was uns Cicero mit diesem Hinweis mitteilt, deckt sich mit dem, was uns der Stoiker Epiktet (ca. 55–135 n. Chr.) über Chrysipps Stellungnahme zum Meisterargument berichtet. Epiktets Bericht zufolge fungiert in diesem Argument die These »Alles Wahre in der Vergangenheit ist notwendig« als erste Prämisse und das mit dem erwähnten modallogischen Gesetz logisch äquivalente Gesetz, daß dann, wenn der Nachsatz β einer wahren strikten Implikation etwas Unmögliches besagt, auch ihr Vordersatz α etwas Unmögliches besagt (N(α → β) → (∼Mβ → ∼Mα)), als zweite Prämisse (vgl. FDS 993, LS 38A). (Was das Textstück Quamquam hoc Chrysippo non videtur valere in omnibus; sed tamen, si naturalis est causa, cur in mari Fabius non moriatur, in mari Fabius mori non potest betrifft, das Calanchini von § 14 nach § 12 hinter … quod, ut propositum est, ne fieri quidem potest zu versetzen vorschlägt [vgl. 2015: 22, 26, 71], so gibt es keinen Grund, diesem von ihr auch gar nicht begründeten Vorschlag zu folgen.) Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen den beiden Argumenten geht allerdings noch weiter; denn die von Epiktet, für  den sie sich von selbst verstand, nicht erwähnte These »Notwendigerweise ist es dann, wenn etwas der Fall ist, wahr

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und schon immer wahr gewesen, daß es der Fall ist oder irgendwann einmal der Fall sein wird« (N(p  → HFp)), die im Meisterargument als dritte Prämisse dient, hat ein Gegenstück in dem astrologischen Grundsatz, der die erste Prämisse des Fabius-Arguments bildet. Wie jene These, so fungiert auch dieser Grundsatz als ein Brückenprinzip; denn beide haben die Aufgabe, die Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft dadurch zu überbrücken, daß sie die Notwendigkeit, die das Vergangene unabänderlich macht, als eine Notwendigkeit, die das Zukünftige unvermeidlich macht, von der Vergangenheit auf die Zukunft übertragen. Wie Prior treffend bemerkt, ist das Fabius-Argument ebenso wie das Meisterargument »gegen diejenigen gerichtet, die zwar den Standpunkt vertreten, daß wir keine Kontrolle über die Vergangenheit haben, aber der Meinung sind, wir hätten eine gewisse Kontrolle über die Zukunft; und in beiden Fällen ist der Trick offenbar der, die von ihnen zugestandene Notwendigkeit mittels einer Aussage von der Vergangenheit in die Zukunft zu transportieren, die diese beiden Zeiträume notwendigerweise miteinander verbindet« (Prior 1967: 116). (Die Besonderheit der Modaltheorie Diodors bringt es mit sich, daß die Notwendigkeit des Vergangenen im Falle des Meisterarguments genaugenommen dadurch, daß sie in die Gegenwart transportiert wird, zu einer die Zukunft betreffenden Notwendigkeit wird, nämlich zur Notwendigkeit dessen, was gegenwärtig der Fall ist und auch in Zukunft immer der Fall sein wird. Die These N(p  → HFp) überträgt damit, daß sie die Unmöglichkeit des Sachverhalts, daß HFp, auf den Sachverhalt, daß p, überträgt, die Notwendigkeit des Sachverhalts, daß ∼HFp (:= P∼Fp), auf den Sachverhalt, daß  ∼p, dessen mit der Unmöglichkeit des Sachverhalts, daß  p, äquivalente Notwendigkeit nach Diodor darin besteht, daß es weder der Fall ist noch jemals der Fall sein wird, daß p [vgl. Weidemann 2012: 44].)



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Im Falle beider Argumente ist die als Brückenprinzip fungierende Aussage eine strikte Implikation, also eine konditionale Notwendigkeitsaussage. Die konditionale Notwendigkeit, mit der es ihr zufolge der Fall ist, daß dann, wenn das zutrifft, was ihr Vordersatz besagt, auch das zutrifft, was ihr Nachsatz besagt, ist jedoch jeweils eine andere. Wenn es, wie die mit der Aussage N(P∼Fp  → ∼p) logisch äquivalente Aussage N(p  → HFp) behauptet, mit Notwendigkeit der Fall ist, daß es dann, wenn es wahr ist oder irgendwann einmal wahr gewesen ist, daß ∼Fp, wahr ist, daß ∼p, so ist dies mit einer semantischen (d. h. auf der Bedeutung des Wortes »wahr« beruhenden) Notwendigkeit der Fall; wenn es hingegen, wie die Aussage (∀x)N(Ax → ∼Sx) behauptet, mit Notwendigkeit der Fall ist, daß jemand dann, wenn er beim Aufgang des Sirius geboren ist, nicht im Meer sterben wird, so ist dies mit einer kausalen (d. h. auf dem Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung beruhenden) Notwendigkeit der Fall. Man kann daher die zuerst genannte Aussage eine »semantische« und die zuletzt genannte eine »kausale« strikte Implikation nennen (vgl. White 1985: 86f.). Die Bemerkung »… aber gleichwohl kann, wenn es eine natürliche Ursache dafür gibt, daß Fabius nicht im Meer sterben wird, Fabius nicht im Meer sterben« (§ 14), mit der Cicero Chrysipps Versuch, einer Anerkennung der modallogischen Thesen Diodors unter Berufung darauf auszuweichen, daß das modallogische Gesetz N(α → β) → (Nα → Nβ) nicht allgemeingültig sei, zurückweist, läßt vermuten, daß er Chrysipp ein Verständnis der astrologischen Grundsätze zuschreibt, dem zufolge solche Sätze eine gewisse kausale Beziehung zum Ausdruck bringen (vgl. White 1985: 87, Mayet 2010: 138–141). Wie seine Schrift über die Weissagung (De divinatione) zeigt, ist er sich freilich darüber im klaren, daß es keine unmittelbare Kausalbeziehung ist, also keine Beziehung zwischen einer Ursache und deren Wirkung, die nach Chrysipp in solchen Sätzen zum Ausdruck

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kommt, sondern eine Beziehung, die unmittelbar eine Zeichenbeziehung und nur mittelbar eine Kausalbeziehung ist, nämlich eine Beziehung zwischen einem Zeichen für die Existenz einer Ursache und deren Wirkung. Daß ein bestimmter Mensch beim Aufgang des Sirius geboren ist, bewirkt nach Chrysipps Verständnis der astrologischen Grundsätze nicht, daß der betreffende Mensch nicht im Meer sterben wird, sondern zeigt lediglich an, daß es eine Ursache, die dies bewirkt, gibt. Nicht die Stoiker, wie Sedley behauptet (vgl. 1993: 321, Anm.  29), dem sich Mayet mit der Einschränkung, daß die ­»Beweislage […] nicht ganz eindeutig« sei, anschließt (vgl. 2010: 144–148, Zitat: 147), sondern die Chaldäer, d. h. die von Cicero in De div. II 87–99 kritisierten Astrologen, sind der Ansicht, die bei der Geburt eines Menschen bestehende Gestirnskonstellation verursache spätere Ereignisse in seinem Leben (vgl. Bobzien 1998: 165–170, Ioppolo 2002: 236f., Schallenberg 2008: 150f.). Nach stoischer Auffassung »nehmen« die Weissager, soweit »ihre Kenntnis vom Lauf der Dinge auf Beobachtung beruht«, »auch wenn sie die Ursachen selbst nicht wahrnehmen, doch Zeichen für die Ursachen und Merkmale von ihnen wahr« (De div. I 127; vgl. Donini 1973: 344f., Marwede 1984: 145f., Mayet 2010: 143f.). Um die Pointe des Einwands zu sehen, den Cicero am Ende von § 14 mit der Bemerkung, gleichwohl könne Fabius, wenn es eine natürliche Ursache dafür gebe, daß er nicht im Meer sterben werde, nicht im Meer sterben, gegen Chrysipp erhebt – Bobzien hält diese Bemerkung für »strangely unfitting« (1998: 171) und Mayet für »obskur« (2010: 134) –, muß man sich das Meisterargument in der Gestalt vorstellen, die es hätte, wenn es anhand des Fabius-Beispiels unter Verwendung des Pronomens »du« formuliert wäre, wenn also in der im Abschnitt 4.2 der Einführung vorgelegten Rekonstruktion dieses Arguments der Satzbuchstabe p für den Satz »Du stirbst im Meer« stehen



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würde. In dem so formulierten Meisterargument, in dem anstelle des astrologischen Grundsatzes, der im Fabius-Argument als Brückenprinzip fungiert, die mit der These N(P∼Fp → ∼p) logisch äquivalente These N(p → HFp) diese Funktion erfüllen würde, wäre es nicht die Notwendigkeit des Sachverhalts, daß der mit »du« angeredete Mensch beim Aufgang des Sirius geboren ist, die auf den Sachverhalt übertragen würde, daß dieser Mensch nicht im Meer stirbt (daß ∼p), sondern die Notwendigkeit des Sachverhalts, daß die mit dem Satz »Weder stirbst du jetzt im Meer noch wirst du jemals im Meer sterben« gemachte Aussage wahr ist oder irgendwann einmal wahr gewesen ist (also die Notwendigkeit des Sachverhalts, daß P∼Fp); und somit wäre es auch nicht die Unmöglichkeit, daß der mit »du« angeredete Mensch nicht beim Aufgang des Sirius geboren ist, die auf den Sachverhalt übertragen würde, daß dieser Mensch im Meer stirbt (daß p), sondern die Unmöglichkeit des Sachverhalts, daß die mit dem Satz »Du stirbst jetzt im Meer oder wirst irgendwann einmal im Meer sterben« gemachte Aussage wahr ist und schon immer wahr gewesen ist (also die Unmöglichkeit des Sachverhalts, daß HFp). Chrysipp hätte nun vermutlich bestritten, daß von der Unmöglichkeit des Sachverhalts, daß HFp, auf die Unmöglichkeit des Sachverhalts, daß  p, geschlossen werden darf, und zwar mit der Begründung, daß der zuerst genannte Sachverhalt – der These, daß aus etwas Möglichem nichts Unmögliches folgt, zum Trotz – auch dann unmöglich sei, wenn der zuletzt genannte möglich ist. Den Sachverhalt, daß HFp, hätte Chrysipp ja vermutlich nicht deshalb für unmöglich gehalten, weil es unter der Voraussetzung, daß der mit »du« angeredete Mensch weder jetzt im Meer stirbt noch jemals im Meer sterben wird, nicht bis jetzt schon immer wahr gewesen sein kann, daß dieser Mensch jetzt im Meer stirbt oder irgendwann einmal im Meer sterben wird, sondern unmöglich wäre der Sachverhalt,

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daß HFp, in seinen Augen vermutlich deshalb gewesen, weil er die mit dem Satz »Du stirbst jetzt im Meer oder wirst irgendwann einmal im Meer sterben« gemachte Aussage als eine Aussage betrachtet hätte, die vor der Geburt des mit »du« angeredeten Menschen noch gar nicht existierte und daher nicht schon immer wahr gewesen sein kann. Chrysipps Versuch, den Transport der zugestandenen Notwendigkeit des Vergangenen in die Zukunft, der sowohl im Falle des Meisterarguments als auch im Falle des Fabius-Arguments »offenbar der Trick ist« (Prior 1967: 116), auf diese Weise zu blockieren und Diodor damit »auszutricksen«, scheitert im Falle des Fabius-Arguments daran, daß der Sachverhalt, dessen Notwendigkeit es von der Vergangenheit in die Zukunft zu transportieren gilt, in diesem Fall nicht darin besteht, daß eine auf die Zukunft bezogene Aussage wahr geworden ist, sondern darin, daß ein auf die Zukunft bezogenes Ereignis stattgefunden hat, nämlich ein Ereignis, das sich in der Weise auf die Zukunft bezieht, daß es ein Zeichen für die Existenz einer natürlichen Ursache ist, die in der Zukunft eine bestimmte Wirkung hervorbringen wird; und genau dies ist die Pointe des Einwands, den Cicero gegen Chrysipp erhebt, wenn er ihm entgegenhält: »aber gleichwohl kann, wenn es eine natürliche Ursache dafür gibt, daß Fabius nicht im Meer sterben wird, Fabius nicht im Meer sterben« (§ 14). Bemerkenswert ist, daß Cicero seine Präsentation der Version A des Fabius-Arguments mit der Feststellung »Alles, was bezüglich der Zukunft falsch ausgesagt wird, kann folglich nicht geschehen« (§  12) abschließt und daß er diese Feststellung, bevor er die Version B des Arguments präsentiert, mit einem ergänzenden Zusatz, der zu dieser Version überleitet, wiederholt, indem er Chrysipp entgegenhält: »Aber wenn du göttliche Vorhersagen wie diese (d. h. die Vorhersage Apollos über Kypselos) als zuverlässig anerkennst, wirst du einerseits



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das, was bezüglich der Zukunft falsch ausgesagt wird, zu dem zählen müssen, was nicht geschehen kann, während du andererseits von etwas, das wahr über die Zukunft ausgesagt wird und das somit auch so sein wird, (wie es ausgesagt wird), sagen mußt, es sei notwendig; und dies ist ganz die euch (Stoikern) so verhaßte Meinung Diodors« (§ 13). Offenbar ist er der Meinung, man dürfe das Fabius-Argument so verallgemeinern, daß man anstelle seiner beiden Versionen A und B die beiden folgenden Argumente erhält (vgl. Weidemann 2012: 38f.): (A′) Wenn es in Zukunft niemals der Fall sein wird, daß p, war in der Vergangenheit eine natürliche Ursache wirksam, deren Wirksamkeit notwendigerweise impliziert (und damit die Voraussetzung dafür schafft, daß wahrheitsgemäß vorhergesagt werden kann), daß es niemals der Fall sein wird, daß p. Nun ist es aber, wenn in der Vergangenheit eine solche Ursache wirksam war, gegenwärtig notwendig, daß sie wirksam war. Also ist es, wenn es in Zukunft niemals der Fall sein wird, daß p, gegenwärtig notwendig, daß es niemals der Fall sein wird, und damit gegenwärtig unmöglich, daß es irgendwann einmal der Fall sein wird, daß p. (B′) Wenn es in Zukunft irgendwann einmal der Fall sein wird, daß  p, war in der Vergangenheit eine natürliche Ursache wirksam, deren Wirksamkeit notwendigerweise impliziert (und damit die Voraussetzung dafür schafft, daß wahrheitsgemäß vorhergesagt werden kann), daß es irgendwann einmal der Fall sein wird, daß p. Nun ist es aber, wenn in der Vergangenheit eine solche Ursache wirksam war, gegenwärtig notwendig, daß sie wirksam war. Also ist es, wenn es in Zukunft irgendwann einmal der Fall sein wird, daß p, gegenwärtig notwendig, daß es irgendwann einmal der Fall sein wird, daß p. Verallgemeinert man das Fabius-Argument in dieser Weise, so wird deutlich, daß es in der Rolle eines Arguments, das den Angriff Chrysipps auf die Modaltheorie Diodors abwehren

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soll, dem Meisterargument deshalb überlegen ist, weil es statt auf die Wahrheit einer Aussage, die in den Augen Chrysipps nicht schon immer existiert haben kann, auf die Wirksamkeit einer Ursache zurückgreift, die in den Augen Chrysipps irgendwann einmal existiert haben muß. Cicero will ja zeigen, daß Chrysipp inkonsequent ist, wenn er einerseits behauptet, es sei »nicht notwendig gewesen, daß Kypselos in Korinth herrschen würde, obwohl dies schon tausend Jahre zuvor durch einen Orakelspruch Apollos verkündet worden sei« (§ 13), andererseits aber die Ansicht vertritt – Cicero schreibt diese Ansicht zwar dem Neuakademiker Karneades zu, ist aber offenbar davon überzeugt, und zwar mit Recht (vgl. Sharples 1991: 25f., 182), daß dieser sie mit den Stoikern teilt –, daß »nicht einmal Apollo zukünftige Ereignisse vorhersagen könne, es sei denn, es handle sich um solche, deren Ursachen die Natur so in sich enthalte, daß es notwendig sei, daß sie stattfinden« (§ 32b; vgl. § 33: »Somit habe Apollo weder von Ödipus, da es ja im Ganzen des Naturgeschehens keine im voraus vorliegenden Ursachen gegeben habe, die es notwendig gemacht hätten, daß sein Vater von ihm getötet werden würde, dies vorhersagen können noch irgend etwas anderes dergleichen«). Wie es für die Stoiker als Vertreter der Auffassung, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal und somit aufgrund vorhergehender Ursachen geschieht, »folgerichtig ist, Weissagungen dieser Art (d. h. Weissagungen von der Art des Ödipus-Orakels) und alles übrige, was sich von der Mantik herleitet, als zuverlässig anzuerkennen« (§ 33), so wäre es auch, will Cicero sagen, wenn sie dies alles als zuverlässig anerkennen, konsequent für sie, die Auffassung zu vertreten, daß das Eintreffen der Dinge, die in göttlichen Orakeln vorhergesagt werden, durch Ursachen bewirkt wird, die ihr Eintreffen notwendig machen. Unter Berufung auf den Wissenschaftshistoriker und Orientalisten David Pingree, einen profunden Kenner der Geschichte



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der Astrologie, hat Ioppolo darauf hingewiesen, daß Cicero den astrologischen Grundsatz, der die erste Prämisse des FabiusArguments bildet, insofern in einer von seiner ursprünglichen Form abweichenden Fassung anführt, als dieser Grundsatz den beim Aufgang des Sirius Geborenen ursprünglich nicht einen Tod außerhalb des Meeres in Aussicht stellte, sondern einen Tod im Meer (vgl. 2002: 236). Ihre Vermutung, die Änderung der ursprünglichen Vorhersage »… wird im Meer sterben« in »… wird nicht im Meer sterben« gehe auf Chrysipp zurück, der sie vorgenommen habe, um deutlich zu machen, daß die Geburt beim Aufgang des Sirius nicht die Ursache, sondern nur ein Zeichen für eine bestimmte Todesart sei (vgl. ebd.), ist allerdings wenig plausibel. Vermutlich hat der Gegner Chrysipps, der mit Hilfe des Fabius-Arguments zeigen wollte, daß Chrysipp, wenn er konsequent gewesen wäre, die modallogischen Thesen Diodors hätte anerkennen müssen, die fragliche Änderung vorgenommen, um als Konklusion des Arguments eine Modalaussage zu erhalten, die auch im Rahmen der Modaltheorie Diodors wahr sein kann. Definiert man das Mögliche als das, was der Fall ist oder irgendwann einmal der Fall sein wird, und damit das Notwendige als das, was der Fall ist und immer der Fall sein wird, wie Diodor dies tut, so kann es ja nicht unmöglich sein, daß Fabius niemals, und damit notwendig, daß er irgendwann einmal im Meer sterben wird, sondern nur unmöglich, daß er irgendwann einmal, und damit notwendig, daß er niemals im Meer sterben wird (vgl. White 1980a: 203f., Gaskin 1995: 311f.). Derjenige, der sich das Fabius-Argument ausgedacht hat, scheint also auf die Besonderheit der Modaltheorie Diodors Rücksicht genommen zu haben, was Cicero, der sich über die ­Eigenart dieser Theorie nicht im klaren gewesen zu sein scheint, ebensowenig tat wie derjenige, der die Idee hatte – wenn die Vermutung, daß es jemanden gab, der diese Idee hatte, rich-

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Anmerkungen §§ 11b–14

tig ist –, die authentische Version des Meisterarguments durch die im Abschnitt 4.2 der Einführung erwähnte N-Version zu ergänzen. Die im Rahmen der Modaltheorie Diodors falsche Konklusion dieser Version, also die Konklusion Fp → NFp, ist ja identisch mit der Konklusion des Arguments B′, das in Ciceros Augen eine ebenso legitime Verallgemeinerung des Fabius-­ Arguments gewesen zu sein scheint wie das Argument A′, dessen Konklusion ∼Fp  → ∼MFp im Rahmen der Modaltheorie Diodors mit derjenigen des Meisterarguments (∼Fp  → ∼Mp) logisch äquivalent ist. Was die These »Alles Wahre in der Vergangenheit ist notwendig« betrifft, die im Meisterargument als erste Prämisse fungiert, so wirft Ciceros Hinweis darauf, daß Chrysipp im Gegensatz zu seinem Lehrer Kleanthes an ihr festhielt (vgl. § 14), die Frage auf, weshalb sie von Kleanthes verworfen wurde. Am plausibelsten dürfte die Annahme sein, daß sich Kleanthes, gestützt auf die stoische Lehre, daß die Entwicklung der Welt zyklisch verläuft, von der Überlegung leiten ließ, daß das Vergangene ja stets als etwas Zukünftiges wiederkehre und daher ebensowenig notwendig sei wie das Zukünftige (vgl. Vuillemin 1982: 403–409). Der Einwand, man könne doch den Spieß auch umdrehen und sich auf den Standpunkt stellen, daß das Zukünftige, da es ja stets als etwas Vergangenes wiederkehre, ebenso notwendig sei wie das Vergangene, mit dem Gaskin diese Annahme als unhaltbar zu erweisen versucht (vgl. 1995: 299f.), verliert an Gewicht, wenn man bedenkt, daß die Stoiker die Inkonsequenzen, mit denen ihre Weltanschauung in den Augen ihrer Gegner behaftet ist, deshalb nicht als solche wahrnahmen, weil sie die Welt aus zwei unterschiedlichen Perspektiven – mit Long könnte man sagen »durch eine kombinierte Nah- und Fernsichtbrille« (1971: 176) – betrachteten, nämlich einerseits aus einer umfassenden Perspektive, die den Blick auf das Weltgeschehen im ganzen freigibt, und anderer-



Anmerkungen §§ 15–17a

205

seits aus einer eingeschränkten Perspektive, die nur bestimmte Aspekte dessen, was geschieht, ins Blickfeld des Betrachters gelangen und ihn von allen anderen absehen läßt (vgl. hierzu den Abschnitt 4.2 der Einführung). Kleanthes scheint nun den Vergangenheitsaspekt des Zukünftigen ausgeblendet und sich ausschließlich auf den Zukunftsaspekt des Vergangenen konzentriert zu haben, während Chrysipp von beiden Aspekten und damit vom zyklischen Charakter des Weltgeschehens überhaupt abstrahiert und nur den Weltzyklus, in dem wir uns gerade befinden, in den Blick genommen zu haben scheint. §§ 15–17a. Der überlieferte Text von § 15 ist im ersten und im vorletzten Satz (zum ersten vgl. Schallenberg 2008: 141f., Anm. 220) verderbt. Der plausibelste Korrekturvorschlag ist für den ersten Satz die Konjektur neque eos usuros esse con〈exis, sed con〉‌iunc­tionibus, ut 〈non〉 ita sua percepta pronuntient Szy­ mánskis (vgl. 1985: 384) und für den vorletzten die von Marwede (vgl. 1984: 153f.) befürwortete Konjektur Non et venae sic 〈cui〉 moventur et is febrim non habet C. F. W. Müllers. Um das, was die Astrologen für die Zukunft vorhersagen, nicht als notwendig betrachten zu müssen, lehnt Chrysipp es ab, die astrologischen Grundsätze in der Form, in der sie von den Astrologen benutzt werden, als wahr anzuerkennen. Wahr sind diese Grundsätze seiner Meinung nach nur dann, wenn sie so umformuliert werden, daß die »unbestimmten Implikationen« (infinita conexa: §  15) – d.  h. die (universell) generalisierten Konditionalaussagen  –, die sie darstellen, in »Negationen unbestimmter Konjunktionen« (negationes infinitarum coniunctionum: ebd.) – d. h. in Negationen (existentiell) generalisierter konjunktiver Aussagen – umgewandelt werden (vgl. Bobzien 1998: 156), wenn also beispielsweise die Aussage »Wenn jemand beim Aufgang des Sirius geboren ist, wird er nicht im Meer sterben« in die Aussage umgewandelt wird: »Es

206

Anmerkungen §§ 15–17a

ist nicht sowohl der Fall, daß jemand beim Aufgang des Sirius geboren ist, als auch der Fall, daß er im Meer sterben wird«. Unbestimmt werden sowohl die umzuwandelnden Implikationen als auch die Konjunktionen, in deren Negationen sie umgewandelt werden sollen, deshalb genannt, weil im ersten ihrer beiden Teilsätze jeweils ein Indefinitpronomen als Subjekt fungiert (vgl. Bobzien 1998: 157). Was sich Chrysipp von der beschriebenen Umformulierung verspricht, wird klar, wenn man bedenkt, daß Konditionalaussagen – d. h. Aussagen der Form »Wenn p, dann q« oder (im Falle generalisierter Konditionalaussagen, die nur einstellige Prä­dikate enthalten) der Form »Für jedes x gilt, daß dann, wenn x A ist, x B ist« – für ihn definitionsgemäß Aussagen sind, die genau dann wahr sind, wenn das kontradiktorische Gegenteil dessen, was ihr Nachsatz besagt, mit dem, was ihr Vordersatz besagt, unverträglich (bzw. für alle Werte der Variablen x unverträglich) ist (∼M(p & ∼q) bzw. (∀x)∼M(Ax & ∼ Bx)), und somit genau dann, wenn ihr Vordersatz ihren Nachsatz strikt (bzw. für alle Werte der Variablen x strikt, d.  h. notwendigerweise) impliziert (N(p → q) bzw. (∀x)N(Ax → Bx)). (Zur stoischen Definition des Implikationsbegriffs vgl. Frede 1974: 80–83, Bobzien 1998: 151, 158f., Schallenberg 2008: 115–117, Mayet 2010: 86–90.) Da Konditionalaussagen für Chrysipp strikte Implikationen sind, besagt die Aussage (1) »Wenn jemand beim Aufgang des Sirius geboren ist, wird er nicht im Meer sterben« für ihn nicht dasselbe wie die Aussage (2) »Es ist nicht sowohl der Fall, daß jemand beim Aufgang des Sirius geboren ist, als auch der Fall, daß er im Meer sterben wird«, in die er die Aussage (1) umgewandelt wissen möchte. Während die als strikte Implikation verstandene Aussage (1) im Sinne der Formel (1a) (∀x)N(Ax → ∼Sx)

zu verstehen ist, ist die Aussage (2) nicht im Sinne der mit (1a)



Anmerkungen §§ 15–17a

207

logisch äquivalenten Formel (2a) ∼(∃x)M(Ax & Sx)

zu verstehen, sondern im Sinne der mit (1b) (∀x)(Ax → ∼Sx)

logisch äquivalenten Formel (2b) ∼(∃x)(Ax & Sx),

die zwar von (2a) impliziert wird, aber nicht auch umgekehrt (2a) impliziert und daher logisch schwächer ist als (2a). Mit der Umwandlung von (1) in (2) will Chrysipp also erreichen, daß die (generalisierte) strikte Implikation (1a), als die er die Aussage (1) auffaßt, zu der in der modernen Logik so genannten materialen Implikation (1b) abgeschwächt wird, die mit der negierten (generalisierten) Konjunktion (2b), als die er die Aussage (2) auffaßt, logisch äquivalent ist. Da sein starker Implikationsbegriff es ihm nicht erlaubt, materiale Implikationen als Konditionalaussagen zu formulieren, bleibt ihm nur der Ausweg, für sie die sprachliche Form negierter konjunktiver Aussagen zu wählen. Dadurch, daß sie zu der im Sinne von (2b) verstandenen Aussage (2) abgeschwächt wird, verliert die im Sinne von (1a) verstandene Aussage (1) ihre Fähigkeit, die Notwendigkeit des Sachverhalts, daß Fabius beim Aufgang des Sirius geboren ist, auf den Sachverhalt zu übertragen, daß Fabius nicht im Meer sterben wird; und ihr die Fähigkeit zu nehmen, auf diese Weise als Brückenprinzip zu dienen, ist genau das Ziel, das Chrysipp mit ihrer Abschwächung verfolgt (vgl. Sedley 1982: 254). Seine die Formulierung der astrologischen Grundsätze betreffende Sprachregelung ist in der Auseinandersetzung, die ihn Cicero mit einem zeitgenössischen Anhänger Diodors führen läßt, sein zweiter taktischer Zug. Nachdem sein gegen Dio­dor gerichteter

208

Anmerkungen §§ 15–17a

Einwand, die These, daß von Möglichem nur Mögliches und von Notwendigem nur Notwendiges (strikt) impliziert werde, sei im Falle der Implikation, die im Meisterargument als Brückenprinzip dienen soll, nicht gültig, durch die Umgestaltung dieses Arguments zu einem Argument vom Typ des Fabius-Arguments ausgeräumt worden ist, meldet er sich mit dem neuen Einwand zu Wort, auf die in Argumenten dieses Typs als Brückenprinzip verwendeten Aussagen sei die fragliche These überhaupt nicht anwendbar, da diese Aussagen in der Form, die sie als Implikationen haben, falsch seien. Als die Implikationen, als die sie formuliert sind, sind die astrologischen Grundsätze aus der Sicht Chrysipps deshalb falsch, weil sie die Bedingung nicht erfüllen, an die er die Wahrheit einer Implikation knüpft, nämlich die oben erwähnte Bedingung, daß zwischen ihren beiden Teilsätzen ein Zusammenhang der Art besteht, daß das kontradiktorische Gegenteil dessen, was ihr Nachsatz besagt, mit dem, was ihr Vordersatz besagt, unverträglich ist, daß es also unmöglich ist, daß das, was ihr Vordersatz besagt, zusammen mit dem kontradiktorischen Gegenteil dessen der Fall ist, was ihr Nachsatz besagt, und somit notwendig, daß dann, wenn das der Fall ist, was ihr Vordersatz besagt, auch das der Fall ist, was ihr Nachsatz besagt. Bei der mit der Unverträglichkeit, von der hier die Rede ist, gemeinten Unmöglichkeit und der ihr entsprechenden Notwendigkeit dürfte es sich um eine Unmöglichkeit bzw. Notwendigkeit in einem sehr weiten Sinne handeln, der, modern gesprochen, nicht nur die logische und die analytische (oder semantische), sondern auch die physische (oder kausale) Unmöglichkeit bzw. Notwendigkeit umfaßt. (Zur Diskussion darüber, von welcher Art die fragliche Unverträglichkeit ist, vgl. Frede 1974: 84–89, Sorabji 1980: 266–270, Sedley 1982: 253–256, Bobzien 1998: 159– 170, 174, Kreter 2006: 164f., Schallenberg 2008: 146–152, Mayet 2010: 153–155, 159–163, 166.) Keine Unverträglichkeit zwischen



Anmerkungen §§ 15–17a

209

dem, was der Vordersatz einer Implikation besagt, und dem kontradiktorischen Gegenteil dessen, was ihr Nachsatz besagt, liegt nach Chrysipp jedenfalls dann vor, wenn der Nachsatz die Wirkung einer Ursache und der Vordersatz statt der betreffenden Ursache selbst lediglich ein Zeichen für deren Existenz beschreibt, wie dies bei der Aussage (1) der Fall ist (vgl. Donini 1973: 343–347). Die sarkastischen Äußerungen, mit denen Cicero die von Chrysipp geforderte Umformulierung der astrologischen Grundsätze lächerlich zu machen versucht, zeigen, daß er den Zweck ihrer Umformulierung, nämlich die Abschwächung der strikten Implikationen, die sie als Konditionalaussagen für Chrysipp darstellen, zu Aussagen, die mit den entsprechenden materialen Implikationen logisch äquivalent sind, überhaupt nicht verstanden hat. Daß ihm die Pointe der Sprachregelung Chrysipps entgangen ist, verrät vor allem seine spöttische Frage, »warum denn, falls die Chaldäer so reden sollten, daß sie es vorzögen, statt unbestimmter Implikationen Negationen unbestimmter Konjunktionen zu äußern, dasselbe nicht auch die Ärzte, die Geometer und alle anderen (Fachleute) tun könnten« (§ 15). Denn die beiden Aussagen »Wenn bei jemandem der Puls in der und der Weise schlägt, hat er Fieber« und »Auf einer Kugel halbieren sich die Großkreise gegenseitig« (d.  h. »Wenn zwei Kreise auf einer Kugel größtmögliche Kreise sind, halbieren sie sich gegenseitig«), die er als Beispiele für medizinische und geometrische Grundsätze anführt (§§ 15, 16), hätte Chrysipp wohl kaum als Aussagen betrachtet, die als Implikationen falsch und nur dann, wenn sie in negierte konjunktive Aussagen umgewandelt werden, wahr sind (vgl. Schallenberg 2008: 148f.; zu Ciceros geometrischem Beispiel vgl. Marwede 1984: 154, Kreter 2006: 170–172). Der Einwand »… aber gleichwohl kann, wenn es eine natürliche Ursache dafür gibt, daß Fabius nicht im Meer sterben

210

Anmerkungen §§ 17b–20a

wird, Fabius nicht im Meer sterben« (§ 14), mit dem Cicero darauf hinweisen will, daß Chrysipp die Begründung, mit der er sich weigert, die Konklusion des Meisterarguments zu akzeptieren, gegen ein Argument vom Typ des Fabius-Arguments nicht ins Feld führen kann, wird durch die Sprachregelung Chrysipps freilich nicht ausgeräumt. Denn Chrysipps Versuch, durch die logische Abschwächung der astrologischen Grundsätze einer Anerkennung der modallogischen Thesen Diodors aus dem Weg zu gehen, scheitert daran, daß diese Grund­sätze auch dann, wenn man sie zu Aussagen abschwächt, die mit materialen Implikationen logisch äquivalent sind, nur unter der Bedingung wahr sind, daß das, was im zweiten ihrer beiden Teilsätze vorhergesagt wird und wofür das im ersten ihrer beiden Teilsätze beschriebene Zeichen angeblich ein Zeichen ist, eine Ursache hat, als deren Wirkung es mit Notwendigkeit eintreffen wird. Daß das Eintreffen von etwas, das wahrheitsgemäß vorhergesagt werden kann, nicht durch das Zeichen, das es vorherzusagen erlaubt, verursacht und notwendig gemacht wird, worauf sich Donini (vgl. 1973: 345f.) und Bobzien (vgl. 1998: 170–173) zur Verteidigung Chrysipps berufen, ändert nichts daran, daß etwas, um wahrheitsgemäß vorhergesagt werden zu können, nach Chrysipps eigener Überzeugung eine Ursache haben muß, die sein Eintreffen notwendig macht (vgl. Bobzien 1998: 93–96). Man wird Chrysipp also, auch wenn er den auf einem Mißverständnis beruhenden Spott Ciceros nicht verdient hat, den Vorwurf nicht ersparen können, mit seiner Sprachregelung einen untauglichen Versuch unternommen zu haben, als Gegner der Modaltheorie Diodors »nicht selbst in das Fahrwasser Diodors zu geraten« (§ 15). §§ 17b–20a. Im ersten Teil dieses Abschnitts (§§ 17b–18a) will Cicero offenbar erläutern, wie die modallogischen Thesen Dio­ dors seiner Meinung nach zu verstehen sind. Seine Erläute­



Anmerkungen §§ 17b–20a

211

rungen sind insofern überraschend, als sie zeigen, daß sein Verständnis dieser Thesen ein ganz anderes ist als dasjenige, von dem seine Ausführungen in §§ 11b–14 erwarten lassen, daß er es mit Chrysipp teilt. Während er auf seiten Chrysipps ein deterministisches Verständnis dieser Thesen voraussetzt, versteht er sie selbst in einem ganz und gar indeterministischen Sinn. »Die deterministische Darstellung Diodors in den Paragraphen 11–14« ist daher wohl »gar kein Referat aus Ciceros Sicht […], sondern vielmehr ein Referat der Meinung Chrysipps über Diodor« (Schallenberg 2008: 167). Die Mahnung »Paß gut auf, Chrysipp, daß du deinen Standpunkt, über den du mit der Logikkoryphäe Diodor in heftigem Streit liegst, nicht aufgibst!« (§ 12) soll Chrysipp also nicht vor der Gefahr warnen, die modallogischen Thesen Diodors gegen seine Absicht in der Bedeutung anzuerkennen, die sie nach Ciceros Meinung tatsächlich haben, sondern vor der Gefahr, diese Thesen gegen seine Absicht in einer Bedeutung anzuerkennen, die er nach Ciceros Meinung irrtümlich für die Bedeutung hält, die sie haben. Die zitierte Mahnung ist, mit anderen Worten, eine Mahnung, mit der Cicero Chrysipp »nicht vor einem Gegner warnen will, den er, Cicero, für einen Deterministen hält, sondern vor einem Gegner, von dem Chrysipp seinerseits glaubt, er sei ein Determinist« (Schallenberg 2008: 167). Im Gegensatz zu Chrysipp hält Cicero die modallogischen Thesen Diodors deshalb für harmlos, weil seiner Ansicht nach mit ihnen lediglich behauptet wird, »daß das, was noch geschehen wird, sich ebensowenig von etwas Wahrem zu etwas Falschem verändern könne wie das, was bereits geschehen ist« (§ 17b; vgl. §§ 18a, 20a). Mit den zitierten Worten will er offenbar sagen, daß sich dann, wenn es zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Fall ist, daß  p, vor diesem Zeitpunkt die Aussage, daß es zu ihm der Fall sein wird, daß p, ebensowenig von einer wahren in eine falsche Aussage verwandeln konnte, wie sich

212

Anmerkungen §§ 17b–20a

dann nach diesem Zeitpunkt die Aussage, daß es zu ihm der Fall gewesen ist, daß p, von einer wahren in eine falsche Aussage verwandeln kann, daß es dann also ebenso, wie es im Sinne der Formel (P)

N(p → (∀n)FnPnp)

vom gegenwärtigen Zeitpunkt an für immer wahr sein muß, daß es zu ihm der Fall gewesen ist, daß p, im Sinne der Formel (F)

N(p → (∀n)PnFnp)

bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon immer wahr gewesen sein muß, daß es zu ihm der Fall sein wird, daß p. Die beiden Formeln (F) und (P) sind in der Sprache der von Prior so genannten metrischen Zeitlogik (»metric tense-logic« [1967: 95]) formuliert. Zur Sprache dieser Logik gehören nur zwei der vier zeitlogischen Operatoren F, G, P und H, nämlich F und P, die in dieser Logik in Verbindung mit quantifizierten Variablen verwendet werden, die für Anzahlen von Zeiteinheiten einer bestimmten Art stehen, z. B. für Anzahlen von Stunden, Tagen oder Wochen (vgl. Prior 1967: 95–97). Verwendet man n als eine Variable, deren Wertebereich die Menge der natürlichen Zahlen unter Einschluß der Null ist (n = 0, 1, 2, 3, …), so kann man die in der gewöhnlichen Zeitlogik verwendeten zeitlogischen Operatoren, wenn man sie in einer Bedeutung verwendet, in der sich F und G auf eine den gegenwärtigen Zeitpunkt als Anfangspunkt mit einschließende Zukunft und P und H auf eine den gegenwärtigen Zeitpunkt als Endpunkt mit einschließende Vergangenheit beziehen, mit Hilfe der in der metrischen Zeitlogik verwendeten Operatoren F und P folgendermaßen definieren: Fα := (∃n)Fnα

Gα := (∀n)Fnα

Pα := (∃n)Pnα

Hα := ( n)Pnα



Anmerkungen §§ 17b–20a

213

Diesen Definitionen zufolge bedeutet Fα: »Es wird nach irgendeiner Anzahl von Zeiteinheiten der Fall (und damit wahr) sein, daß α«, Gα: »Es wird nach jeder Anzahl von Zeiteinheiten der Fall (und damit wahr) sein, daß α«, Pα: »Es ist vor irgendeiner Anzahl von Zeiteinheiten der Fall (und damit wahr) gewesen, daß α« und Hα: »Es ist vor jeder Anzahl von Zeiteinheiten der Fall (und damit wahr) gewesen, daß α«. Von den beiden Formeln (P) und (F) besagt die erste: »Notwendigerweise gilt, daß es dann, wenn es jetzt der Fall ist, daß p, nach jeder Anzahl von Zeiteinheiten der Fall (und damit wahr) sein wird, daß es vor der betreffenden Anzahl von Zeiteinheiten der Fall gewesen ist, daß p«, während die zweite besagt: »Notwendigerweise gilt, daß es dann, wenn es jetzt der Fall ist, daß p, vor jeder Anzahl von Zeiteinheiten der Fall (und damit wahr) gewesen ist, daß es nach der betreffenden Anzahl von Zeiteinheiten der Fall sein wird, daß p«. Was die »strittige These« betrifft, »daß nichts geschehe, was nicht notwendigerweise habe geschehen müssen« (§ 17b), von der Cicero zwar im vorliegenden Abschnitt nur sagt, daß die »Position« Diodors mit ihr »in Zusammenhang« stehe (ebd.), die er aber sowohl am Anfang als auch am Ende von § 13 unumwunden Diodor zuschreibt (vgl. Sedley 2005: 246f.), so will er unter ihr nicht die These verstanden wissen, daß es im Sinne der Formel (NF) p → (∀n)PnNFnp dann, wenn es zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Fall ist, daß p, schon immer in dem starken Sinne, den die Epikureer und die Stoiker mit der Rede vom Wahrsein einer Aussage verbinden, wahr und damit physisch notwendig gewesen ist, daß es zu diesem Zeitpunkt der Fall sein wird, daß  p, sondern die These, daß es im Sinne der Formel (F) mit logisch-semantischer Notwendigkeit dann, wenn es zum gegenwärtigen Zeitpunkt der

214

Anmerkungen §§ 17b–20a

Fall ist, daß p, schon immer in dem schwachen Sinne, in dem eine wahre Aussage nach Ansicht der Neuakademiker wahr ist, wahr gewesen ist, daß es zu diesem Zeitpunkt der Fall sein wird, daß p. Die Bemerkung »Es gibt aber keineswegs deshalb, weil dem so ist«, d. h. deshalb, weil das gilt, was die Formel (F) besagt, »für Epikur einen Grund, sich vor dem Schicksal zu fürchten« (§ 18b), mit der Cicero zum zweiten Teil des vorliegenden Abschnitts überleitet, erinnert an das schöne, von dem Logiker Edward John Lemmon stammende Aperçu über den Titel des Songs »Que sera, sera«, er sei »a truth of logic, not a version of determinism« (Lemmon 1966: 98, Anm. 10). Sharples bemerkt denn auch in seinem Kommentar zu § 17b (unter Anspielung auf die italienische Version dieses französischen Songtitels): »Cicero is making the point, in a context which has now left causal determinism aside, that che sarà, sarà« (1991: 171). Die logische Wahrheit, daß alles, was sein wird (d. h. in der Zukunft gegenwärtig ist), sein wird (d.  h. in der Gegenwart zukünftig ist), kommt in der Formel (F) insofern zum Ausdruck, als diese Formel (unter der Voraussetzung, daß P bedeutet: »Es ist im schwachen Sinne wahr gewesen, daß ...«) mit der Formel (F′) N(∀n)(Pn(Fnp → Fnp)) logisch (genauer gesagt: zeitlogisch) äquivalent ist. (Kreter glaubt dem vorliegenden Abschnitt entnehmen zu können, daß Cicero die Modaltheorie Diodors in der Weise trivialisiere, daß er Diodor einen ihm fremden Aussagenbegriff unterstelle, der aus seinem Möglichkeits- und seinem Notwendigkeitsbegriff zwei miteinander und mit dem Begriff der Wahrheit umfangsgleiche Begriffe mache [vgl. 2006: 177–185], und nennt Ciceros Interpretation dieser Theorie daher eine »deterministische Deutung der nichtdeterministischen Modalbegriffe Diodors« [2006: 177]. Da Diodors modallogische Thesen in den Augen



Anmerkungen §§ 17b–20a

215

Ciceros logische Wahrheiten und keine deterministischen Behauptungen sind, ist dies irreführend.) Die Formel (NF) hat in der Formel (NP) p → (∀n)FnNPnp ein Gegenstück, das die These wiedergibt, die Cicero in §  14 mit dem Satz »Nach der Auffassung, die Chrysipp im Gegensatz zu seinem Lehrer Kleanthes vertritt, ist alles Wahre in der Vergangenheit notwendig« Chrysipp zuschreibt. Da er diese These damit begründet, daß »das Vergangene unabänderlich ist und sich nicht von etwas Wahrem in etwas Falsches verwandeln kann« (ebd.), liegt allerdings der Verdacht nahe, daß er sie nicht im Sinne von (NP) verstanden wissen will, sondern im Sinne von (P). Was die Unveränderlichkeit des Wahrheitswertes wahrer zukunftsbezogener Aussagen betrifft, so ist es merkwürdig, daß sie im Falle der Aussage »Scipio wird sterben« damit begründet wird, daß diese Aussage »sich auf einen Menschen bezieht, der (als solcher) notwendigerweise sterben muß« (§ 17b). Denn die Notwendigkeit, mit der jeder Mensch irgendwann einmal sterben muß, ist ja von ganz anderer Art als die Notwendigkeit, von der Cicero meint, nach Diodor komme sie allem, was in Zukunft geschehen wird, insofern zu, als die wahre Vorhersage, daß es geschehen wird, vor dem Zeitpunkt, zu dem es geschieht, nicht falsch werden könne, sondern bis zu diesem Zeitpunkt immer wahr sein müsse. Sedley, der an der fraglichen Begründung ebendeshalb mit Recht Anstoß nimmt, sieht in ihr eine durch die Eile, in der die Schrift De fato abgefaßt wurde, bedingte Nachlässigkeit Ciceros (vgl. 2005: 249–251). Plausibler dürfte jedoch die Annahme sein, daß wir es mit der Glosse eines Lesers zu tun haben, der die Pointe der Ausführungen Ciceros nicht verstanden hat. In der vorliegenden Ausgabe wurden die Worte de homine enim dicitur, cui necesse est mori daher als ein

216

Anmerkungen §§ 17b–20a

zu tilgender Zusatz gekennzeichnet. Im ersten Satz von § 18a, der unmittelbar auf diese Worte folgt, wurde die von Hamelin (vgl. 1978: 102) gutgeheißene Konjektur Stüves übernommen, der vermutet, daß vor vere diceretur (»so wäre diese Aussage wahr«) die Worte non minus (»nicht minder«) ausgefallen sind (vgl. 1895: 59). Daß Cicero den modallogischen Thesen, die er Diodor zuschreibt – wie bereits in der Einführung erwähnt, schreibt er ihm zwar die These, »daß nur das geschehen könne, was entweder schon wirklich geschehe oder einmal wirklich geschehen werde« (wörtlich: »… was entweder schon wahr sei oder einmal wahr sein werde«: § 13), aber nicht auch die These, »alles, was geschehen werde, geschehe notwendigerweise« (ebd.), mit Recht zu  –, mit seiner sie verharmlosenden Interpretation nicht gerecht wird, hat bereits Leibniz klar erkannt. Cicero habe die Bedeutung der von Diodor vertretenen Ansicht allem Anschein nach nicht hinreichend verstanden, bemerkt er in seiner Theodizee (§ 170), da er sie für eine Ansicht gehalten habe, die derjenigen Chrysipps vorzuziehen sei (vgl. Platz 1973: 35, Weidemann 1993: 328f., 2012: 49). Im zweiten Teil des vorliegenden Abschnitts (§§  18b–20a) nimmt Cicero das im ersten Teil Gesagte zum Anlaß, die beiden Maßnahmen zu kritisieren, die Epikur für nötig hielt, um dem Glauben an das Schicksal den Boden zu entziehen, nämlich die Modifikation, die er an der Atomtheorie Demokrits durch das Postulat vornahm, daß die Atome, aus denen die Welt nach dieser Theorie aufgebaut ist, »zu unbestimmten Zeiten an unbestimmten Orten ohne Ursache von ihrer Bahn um ein kleinstes Teil abweichen« (Hossenfelder 1985: 140), und die Einschränkung der Gültigkeit des Bivalenz- oder Zweiwertigkeitsprinzips, also des logischen Grundsatzes, daß jede Aussage stets einen der beiden Wahrheitswerte hat (d. h. wahr oder falsch ist). Nach einer kurzen Kritik an Epikurs Theorie



Anmerkungen §§ 17b–20a

217

der Bahnabweichung der Atome, auf die er in den Paragraphen 22–23a zurückkommt, übt er Kritik an Epikurs fatalistischem Verständnis des Bivalenzprinzips. Dabei knüpft er an das, was er in den Paragraphen 17b–18a über die Unveränderlichkeit des Wahrheitswertes wahrer Aussagen über zukünftige Ereignisse ausgeführt hat, in der Weise an, daß er erläutert, unter welchen Bedingungen solche Aussagen nach seiner Auffassung, mit der er sich von der Auffassung Epikurs distanziert, wahr sind. Im Gegensatz zu Epikur, der meint, solche Aussagen könnten nur dann wahr sein, wenn das Eintreffen dessen, was in ihnen vorhergesagt wird, durch »schicksalhafte Ursachen« (causae fatales: §  19) garantiert werde, d.  h. durch Ursachen, die »aus Naturnotwendigkeit entspringen« (ebd.) und Glieder einer »sich in ewige Zeiten erstreckenden Ursachenreihe« (§ 20a) sind, ist Cicero der Meinung, daß das tatsächliche Eintreffen dessen, was in ihnen vorhergesagt wird, genügt, um solche Aussagen wahr zu machen. Sie werden seiner Meinung nach also dadurch, daß das, wovon sie behaupten, es werde geschehen, tatsächlich geschieht, sozusagen rückwirkend wahr gemacht. »Daß aber einmal für es galt, daß es geschehen würde, muß man einfach daraus ersehen, daß es geschehen ist« (futurum autem fuisse ex eo, quia factum est, intellegi debet), hatte er bereits in § 18a mit Bezug auf das erklärt, wovon die Aussage »Scipio wird bei Nacht in seinem Schlafgemach als Opfer einer Gewalttat sterben« behauptet, es werde geschehen; und mit Bezug auf das, wovon die Aussage »Epikur wird, nachdem er 72 Jahre gelebt hat, in der Amtszeit des Archonten Pytharatos sterben« behauptet, daß es geschehen werde, erklärt er nun in § 19: »Einfach deshalb, weil es sich so zugetragen hat, galt mit Sicherheit, daß es sich so, wie es sich zugetragen hat, zutragen würde« (quod ita cecidit, certe casurum, sicut cecidit, fuit). Mit dem zuletzt zitierten Satz will Cicero keineswegs das sagen, was Bayers Übersetzung »weil das Ereignis so eintrat, war

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Anmerkungen §§ 17b–20a

es schon in der Vergangenheit etwas, was sich mit Sicherheit künftig so ereignen würde, wie es dann auch eingetreten ist« (2000: 35) ihn mit diesem Satz sagen läßt; denn dies könnte er ja nur dann sagen wollen, wenn er der Ansicht wäre, das Eintreten aller Ereignisse, die tatsächlich irgendwann eintreten, sei von jeher kausal determiniert gewesen. Den Satz »Wenn sich irgend etwas irgendwann irgendwie zugetragen hat, galt mit Sicherheit, daß es sich dann so, wie es sich dann zugetragen hat, zutragen würde«, dessen Bedeutung zusammen mit der Bedeutung des Satzes »Es hat sich, nachdem Epikur 72 Jahre gelebt hat, in der Amtszeit des Archonten Pytharatos zugetragen, daß er stirbt« die Bedeutung des fraglichen Satzes ausmacht, hätte er also insofern, als seine Bedeutung ein Teil der Bedeutung dieses Satzes ist, keinesfalls im Sinne der Formel (NF) verstanden, sondern vermutlich im Sinne der Formel (F). Daß er ihn im Sinne von p → N(∀n)PnFnp verstanden hätte, wie Schallenberg annimmt, der allerdings unter Verzicht auf die Ausdrucksmittel der metrischen Zeitlogik anstelle dieser Formel die nur mit p → N(∀n)Pn(∃m)Fmp äquivalente, logisch schwächere Formel p → NHFp benutzt (vgl. 2008: 163–165), ist unwahrscheinlich. Denn er hätte ihn zwar auch in diesem Sinne für wahr gehalten; der Kontext, in dem er den Satz quod ita cecidit, certe casurum, sicut cecidit, fuit (§ 19) äußert, spricht jedoch deutlich zugunsten der Annahme, daß er ihn insofern, als seine Bedeutung ein Teil der Bedeutung dieses Satzes ist, im Sinne der Formel (F) verstanden hätte. Mit der Bemerkung, daß »diejenigen, die behaupten, das Zukünftige sei unveränderlich und etwas die Zukunft betreffendes Wahres könne sich nicht in etwas Falsches verwandeln, nicht die Notwendigkeit des Schicksals bekräftigen, sondern lediglich die Bedeutung von Wörtern erläutern« (§ 20a), will Cicero offenbar sagen, daß die von ihm gemeinten Leute, nämlich die Neuakademiker – Diodor, von dem Calanchini annimmt, er sei



Anmerkungen §§ 17b–20a

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mit ii (»diejenigen«) »primär gemeint« (2015: 96), könnte allenfalls insofern mit gemeint sein, als er in den Augen Ciceros die Position der Neuakademiker vorweggenommen hat –, mit der fraglichen Behauptung lediglich erläutern, welche Bedeutung die Wörter »wahr« und »falsch« für sie haben, nämlich nicht die starke Bedeutung, die ihnen die Epikureer und die Stoiker beilegen, sondern eine Bedeutung, in der sie auf Aussagen über zukünftige Ereignisse zutreffen können, ohne daß daraus folgen würde, daß das Eintreten oder das Ausbleiben dieser Ereignisse kausal determiniert und vom Schicksal bestimmt wäre. In § 27 gibt Cicero eine Erläuterung dieser schwachen Bedeutung der Wörter »wahr« und »falsch«, die sich folgendermaßen umschreiben und präzisieren läßt (Fip := »Es wird nach i Zeiteinheiten der Fall sein, daß  p; Pip  :=  »Es ist vor i Zeiteinheiten der Fall gewesen, daß  p): Wie die Wörter »wahr« und »falsch« zum gegenwärtigen Zeitpunkt t als Attribute einer auf die Vergangenheit bezogenen Aussage Pip nicht mehr und nicht weniger bedeuten, als sie zu dem von t i Zeiteinheiten entfernten vergangenen Zeitpunkt t′ als Attribute der gegenwartsbezogenen Aussage p bedeutet haben, so bedeuten sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt t als Attribute einer auf die Zukunft bezogenen Aussage Fip nicht mehr und nicht weniger, als sie zu dem von t i Zeiteinheiten entfernten zukünftigen Zeitpunkt t″ als Attribute der gegenwartsbezogenen Aussage p bedeuten werden, nämlich einfach, daß es zu diesem Zeitpunkt der Fall bzw. nicht der Fall ist, daß p. Mit den Worten verborum vim interpretantur (»sie erläutern lediglich die Bedeutung von Wörtern«: § 20a) will Cicero also nicht etwa sagen, wie Glei ihm in der irrigen Annahme, er beziehe sich mit ihnen auf die Logiker (vgl. 1993: 338), unterstellt, »die Logik« sei für ihn »ein bloßes ›Sprachspiel‹, das man nicht wirklich ernst nehmen muß« (1993: 329), »eine praktische Relevanz« hätten »die Sätze der Logiker« für ihn

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Anmerkungen §§ 17b–20a

»nicht – es sei denn in Hinsicht auf die Rhetorik« (1993: 338), sondern er will mit diesen Worten sagen, daß die Neuakademiker, wenn sie »behaupten, das Zukünftige sei unveränderlich und etwas die Zukunft betreffendes Wahres könne sich nicht in etwas Falsches verwandeln« (§ 20a), lediglich erläutern, wie die Rede vom Wahr- oder Falschsein einer Aussage ihrer von ihm geteilten Ansicht nach zu verstehen ist, nämlich nicht in dem starken Sinne, den die Epikureer und die Stoiker mit ihr verbinden, sondern in dem schwachen Sinne, den er selbst in § 27 erläutert. Daß eine wahre zukunftsbezogene Aussage der Form Fp (:= (∃n)Fnp) oder der Form Fip allein aufgrund dessen, daß es tatsächlich nach irgendeiner Anzahl von Zeiteinheiten bzw. nach i  Zeiteinheiten der Fall sein wird, daß p, schon immer wahr war – eine wahre Aussage der Form Fp also schon vor jeder Anzahl von Zeiteinheiten in der Form Fp und eine wahre Aussage der Form Fip schon vor jeder Anzahl m von Zeiteinheiten in der Form F (m+i )p (z. B. eine heute in der Form »Es wird morgen der Fall sein, daß p« wahre Aussage gestern in der Form »Es wird übermorgen der Fall sein, daß p«, vor­gestern in der Form »Es wird in drei Tagen der Fall sein, daß  p« usw.) – und nicht etwa aufgrund dessen, daß es schon immer Ursachen dafür gegeben hätte, daß dies dann der Fall sein würde, heißt natürlich, wie Cicero in § 19 klarstellt, keineswegs, daß es für das, was die betreffende Aussage wahr macht, und damit auch dafür, daß sie wahr ist, überhaupt keine Ursachen gäbe. Die Aussage »Karneades wird zur Akademie hinabgehen« beispielsweise – das handschriftlich überlieferte descendit (»geht hinab« oder »ist hinabgegangen«) ist in descendet (»wird hinabgehen«) zu korrigieren (vgl. Marwede 1984: 165, Schallenberg 2008: 160 [Anm. 268], Mayet 2010: 168 [Anm. 361], Calanchini 2015: 32, 71) – ist zwar »nicht aufgrund ewiger, aus Naturnotwendigkeit entspringender Ursachen wahr«, aber »dennoch



Anmerkungen §§ 17b–20a

221

nicht ohne Ursachen« (§ 19). Die Ursachen, ohne die sie nicht wahr ist, sind nach Cicero »Ursachen, die (ihrer Wirkung) zufällig vorausgegangen sind« (causae fortuito antegressae: ebd.). »Es sind zufällige Ursachen (fortuitae sunt causae), die bewirken, daß eine Aussage wie ›Cato wird in den Senat kommen‹ wahr ist«, erklärt er an einer späteren Stelle, »Ursachen, die keine festen Bestandteile des Naturgeschehens und der Weltordnung sind« (§ 28a). Die Behauptung, es seien zufällige bzw. ihrer Wirkung zufällig vorausgegangene Ursachen, denen die beiden erwähnten Aussagen über Cato (gemeint ist wohl Cato der Jüngere) und Karneades ihre Wahrheit verdanken, ist befremdlich; denn es ist ja alles andere als ein Zufall, wenn ein Senator in den Senat kommt oder der Leiter der neuakademischen Schule in die Akademie geht (vgl. Sharples 1991: 173, 179, Schallenberg 2008: 160f.). Die Tatsache, daß Cicero die fraglichen Ursachen als Ursachen bezeichnet, die »keine festen Bestandteile des Naturgeschehens und der Weltordnung sind« (§ 28a), und daß er sie denjenigen gegenüberstellt, die er »ewige, aus Naturnotwendigkeit entspringende Ursachen«, »Ursachen, die eine natürliche Wirkungskraft in sich haben« und »schicksalhafte Ursachen« nennt (§ 19; vgl. zu diesen Bezeichnungen Marwede 1984: 163f.), läßt vermuten, daß ihn folgende Überlegung dazu geführt hat, sie auch als zufällige Ursachen zu bezeichnen: Karneades’ Gang in die Akademie (und Entsprechendes gilt für das Kommen Catos in den Senat) hat in seinem Entschluß, in die Akademie zu gehen, und in der Natur seines Willens, die ihn diesen Entschluß fassen läßt, Ursachen, durch die das, was er zu dem Zeitpunkt, zu dem er in die Akademie geht, tut, zwar als eine von ihm vollzogene Handlung in nichtzufälliger Weise, aber als ein zur Gesamtheit dessen, was zu diesem Zeitpunkt in der Welt geschieht, gehörendes Ereignis nur in zufälliger Weise verursacht wird. Als ein solches Ereignis hat das, was

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Anmerkungen §§ 17b–20a

Karneades zu diesem Zeitpunkt tut, in ihnen deshalb nur zufällige Ursachen, weil sie nicht schon immer zu den Ursachen für das gehört haben, was zu diesem Zeitpunkt in der Welt geschieht, sondern erst dann zu einem Teil dieser Ursachen werden, wenn sich die Ursachenkette, zu der sie gehören, mit den Ursachenketten schneidet, deren Glieder für die übrigen der zu dem fraglichen Zeitpunkt in der Welt stattfindenden Ereignisse Ursachen sind. Zufällige Ursachen sind die Ursachen für Karneades’ Gang in die Akademie also in ihrer Eigenschaft als Ursachen dafür, daß Karneades unter den zu dem Zeitpunkt, zu dem er in die Akademie geht, gegebenen Umständen dorthin geht. (Zu der Eigentümlichkeit der Ursachenkette, deren Glieder diese Ursachen sind, sich nicht endlos in die Vergangenheit zu erstrecken, sondern irgendwann neu begonnen zu haben, vgl. Platz 1973: 50, Schallenberg 2008: 162.) Wenn Cicero die fraglichen Ursachen in diesem Sinne als zufällig betrachtet, ist es zwar mißverständlich, aber keineswegs rückschrittlich, wie Donini, der von einem »schwerwiegenden Rückschritt hinter die Positionen« spricht, »die bereits Aristoteles erreicht hatte«, meint (vgl. 1989: 133–136; Zitat: 135), wenn er Ereignisse wie den Gang des Karneades in die Akademie oder das Kommen Catos in den Senat zur Klasse der zufällig verursachten Ereignisse zählt. Denn unbeschadet der Tatsache, daß sie als menschliche Handlungen nichtzufällige Ursachen haben, sind solche Ereignisse insofern, als sie unter den zu dem Zeitpunkt, zu dem sie stattfinden, gegebenen Umständen stattfinden, zufällig verursacht, und zwar ebenso, wie der von Aristoteles im sechsten Buch der Metaphysik (Met. E 3) als Beispiel angeführte Gang eines nach der Einnahme einer scharfen Mahlzeit durstig gewordenen Mannes zu einem Brunnen, an dem er ermordet wird, unbeschadet der Tatsache, daß er als Gang dieses Mannes an einen Ort, an dem er seinen Durst stillen will, nichtzufällige Ursachen hat, als Gang dieses



Anmerkungen §§ 17b–20a

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Mannes an einen Ort, an dem er seinen Mördern in die Hände läuft, zufällig verursacht ist. (Vgl. zu diesem Beispiel Weidemann 2006, wo das Phänomen der zufälligen oder, mit Aristoteles gesprochen, »akzidentellen« Verursachung mit Hilfe des modernen Begriffs der INUS-Bedingung analysiert wird; siehe auch die Anmerkungen zu §§ 5–6.) Wie im Falle der meisten anderen Sätze, die er als Beispiele für zukunftsbezogene Aussagen anführt, läßt uns Cicero auch im Falle der beiden Sätze »Karneades wird zur Akademie hinabgehen« (§ 19) und »Cato wird in den Senat kommen« (§ 28a) im unklaren darüber, ob er zeitlich unbestimmte Aussagen der Form Fp unter ihnen verstanden wissen will oder zeitlich bestimmte Aussagen der Form Fip, die insofern elliptisch formuliert sind, als der (vom gegenwärtigen Zeitpunkt i Zeitein­ heiten entfernte) zukünftige Zeitpunkt, auf den sie sich beziehen, nicht ausdrücklich genannt wird. Vermutlich hat er dem Unterschied zwischen diesen beiden Aussageformen keine große Bedeutung beigemessen und ihn daher vernachlässigt. Um eine zeitlich bestimmte Aussage der Form Fip handelt es sich zweifellos bei dem Satz »Epikur wird, nachdem er 72 Jahre gelebt hat, in der Amtszeit des Archonten Pytharatos sterben« (§ 19). Die in diesem Satz enthaltene Information scheint Cicero dem Grammatiker Apollodor von Athen (2. Jh. v.  Chr.) zu verdanken, aus dessen Chroniken bei Diogenes Laertios (Vitae philosophorum X 14f.) ein Exzerpt erhalten geblieben ist, in dem uns mitgeteilt wird, daß Epikur im dritten Jahr der 109. Olympiade unter dem Archonten Sosigenes (d. h. 342/41 v. Chr.) geboren worden sei, und zwar im Monat Gamelion (also nicht schon 342, sondern erst »Anfang 341« [von Arnim 1907: 133]), und daß er, nachdem er 72 Jahre gelebt habe, im zweiten Jahr der 127. Olympiade unter dem Archonten Pytharatos (d.  h. 271/70 v.  Chr.) gestorben sei. Aus dieser Mitteilung geht hervor, daß Epikur von 341 bis 270 (vgl. Sharples 1991: 173; nicht

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Anmerkungen §§ 20b–21b

»341–271« [Long/Sedley I 1987: 505]) lebte und »in seinem 72. Lebensjahr« (von Arnim 1907: 136; nicht »im 73. Lebensjahr« [Bayer 2000: 35]) starb. Die Formulierung »hat 72 Jahre gelebt«, die Cicero von Apollodor übernommen zu haben scheint, ist daher insofern irreführend, als sie auf einer Zählung der Lebensjahre Epikurs beruht, bei der sein unvollendetes letztes Lebensjahr noch mitgezählt wurde. §§ 20b–21b. In die Auseinandersetzung mit Epikur wird jetzt Chrysipp mit einbezogen, da auch er das Bivalenzprinzip in einem fatalistischen Sinne versteht, d.  h. in einem Sinne, in dem es nur dann uneingeschränkt gültig ist, wenn alles, was geschieht durch das Schicksal geschieht. Im Gegensatz zu Epikur, der aus Furcht vor dem Schicksal die Allgemeingültigkeit des Bivalenzprinzips bestreitet, versucht Chrysipp jedoch gerade umgekehrt – vielleicht sagt Cicero aus diesem Grund, er wolle sein »Augenmerk nun auf etwas anderes richten« (§ 20b; vgl. hierzu Sharples 2012: 53, 62–64) –, unter Berufung auf die Allgemeingültigkeit dieses Prinzips seinen Glauben an das Schicksal zu begründen. Nach Cicero haben beide Philosophen für ihre gegensätzlichen Auffassungen jeweils ein Argument vorgebracht. Das aus zwei Teilargumenten bestehende Argument Chrysipps zitiert Cicero (vermutlich aus einer neuakademischen Quelle; vgl. Sharples 1991: 174) wörtlich (Ia: § 20b, Ib: § 21a), während er das Argument Epikurs nur andeutungsweise referiert (II: § 21b). Unter Verwendung der Satzbuchstaben n (»Für jedes Ereignis gilt, daß vor jedem Zeitpunkt entweder sein Eintreten oder sein Ausbleiben zu ihm schon immer sicher und damit notwendig war«), o (»Für jede Aussage gilt, daß sie schon immer entweder wahr oder falsch war«), s (»Alles, was geschieht, geschieht durch das Schicksal«), u (»Alles, was geschieht, hat eine Ursache«; in Ciceros Formulierung: »Es gibt keine Bewe-



Anmerkungen §§ 20b–21b

225

gung [d.  h. keine Veränderung; vgl. Wildberger I 2006: 324] ohne Ursache«), e (»Alles, was geschieht, hat eine Ursache, die ihm als ein Glied einer endlosen Ursachenkette vorhergeht«) und w (»Für jede Aussage gilt, daß entweder sie selbst oder die ihr kontradiktorisch entgegengesetzte Aussage schon immer wahr war«) kann man die beiden Argumente folgendermaßen darstellen: (Ia) ∼u → ∼o; nun aber o; also u.

(Ib) u → e, e → s (und folglich u → s); nun aber u; also s. Ia und Ib lassen sich zusammenfassen zu (I) (II)

∼u → ∼o (↔ (o → u)), u → e, e → s (und folglich o → s); nun aber o; also s.

o → w, w → n, n → s (und folglich o → s); nun aber ∼s; also ∼o.

Da die beiden Argumente unabhängig davon logisch korrekt sind, ob es sich bei den in ihnen als Prämissen dienenden Implikationen um strikte oder nur um materiale Implikationen handelt, wurden diese Implikationen der Einfachheit halber als materiale wiedergegeben. (Ausführlich erörtert werden die beiden Argumente in Bobzien 1998 [61–86], Schallenberg 2008 [168–172], Mayet 2010 [169–179] und Sharples 2012 [53–62]. Zum Argument Chrysipps vgl. auch Wildberger I 2006: 323– 327, II 2006: 915–917.) Wenn Cicero in § 21b der Furcht Epikurs, »er müßte«, wenn er zugäbe, daß das Bivalenzprinzip gültig ist, »auch zugeben, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht«, die Angst Chrysipps gegenüberstellt, »er könnte«, wenn er nicht an der Gültigkeit dieses Prinzips festhielte, »auch nicht daran festhalten, daß alles durch das Schicksal geschieht«, so will er damit nicht etwa andeuten, daß Chrysipp zusätzlich zu dem

226

Anmerkungen §§ 20b–21b

Argument, mit dem er von o → s und o auf s schließt, noch ein zweites Argument vorgebracht habe, mit dem er den Schluß von ∼o → ∼s und s auf o formuliert habe (so Schallenberg; vgl. 2008: 170–172), sondern er will lediglich darauf hinweisen, daß Chrysipp, um s als Konklusion seines Arguments gewinnen zu können, o als Prämisse heranziehen muß. »Chrysippus spent some effort on justifying the Principle of Bivalence, because for the derivation of the conclusion of his argument the truth of the principle is a necessary condition, since it is one of the premisses« (Bobzien 1998: 85). Wie Epikur befürchtet, daß mit Hilfe des Bivalenzprinzips die von ihm verworfene These, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht, bewiesen werden könne, so befürchtet Chrysipp, daß diese von ihm verteidigte These ohne das Bivalenzprinzip nicht bewiesen werden könne. In der Auffassung, daß das Bivalenzprinzip diese These impliziert (o → s), stimmen Epikur und Chrysipp zwar überein; Epikur zieht aus dieser Auffassung jedoch eine andere Schlußfolgerung als Chrysipp, da er die Negation der in Chrysipps Argument als Konklusion fungierenden These s als Prämisse benutzt, um als Konklusion seines Arguments die Negation des in Chrysipps Argument als Prämisse fungierenden Prinzips o zu gewinnen (vgl. Mayet 2010: 170). Sein Argument ist also gewissermaßen das »Spiegelbild« (Sharples 2012: 53) des von Chrysipp vorgebrachten Arguments. Vergleicht man die beiden Argumente miteinander, so fällt auf, daß Chrysipp die These s deshalb aus dem Bivalenzprinzip ableiten zu können glaubt, weil dieses Prinzip seiner Ansicht nach die These impliziert, daß alles, was geschieht, aufgrund von Ursachen geschieht, die ihrer Wirkung als Glieder einer endlosen Ursachenkette vorhergehen (o  → e (da o  → u und u  →  e)), Epikur hingegen deshalb, weil dieses Prinzip seiner Meinung nach die These impliziert, daß alles, was geschieht, und alles, was nicht geschieht, mit einer Notwendigkeit ge-



Anmerkungen §§ 20b–21b

227

schieht bzw. nicht geschieht, die schon immer bestand (o → n (da o → w und w → n)). Während Chrysipp nicht die Möglichkeit gehabt hätte, statt der zuerst genannten Implikation (o → e) die zuletzt genannte (o → n) als Prämisse zu benutzen, da er sie für falsch hält – er versucht ja, obwohl er »am Schicksal festhalten« möchte und »nichts geschehen lassen will, ohne daß im voraus Ursachen dafür vorgelegen hätten«, der »Notwendigkeit (allen Geschehens)«, die er »zurückweist«, zu »entrinnen« (§ 41; vgl. Bobzien 1998: 86) –, hätte Epikur statt der zuletzt genannten Implikation (o → n) auch die zuerst genannte (o → e) als Prämisse benutzen können, da er sie und die ihren Nachsatz mit der These s verknüpfende Implikation (e → s) ebenfalls für wahr hält. Daß Epikur die Ansicht Chrysipps, das Bivalenzprinzip impliziere die These, daß alles, was geschieht, aufgrund von Ursachen geschieht, die ihrer Wirkung als Glieder einer endlosen Ursachenkette vorhergehen, und diese These wiederum die These, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht (o → e und e → s), teilt, wurde bereits im vorangehenden Abschnitt deutlich. Wenn Cicero dort bemerkt: »Epikur bräuchte nämlich, wenn er zugäbe, daß jede Aussage entweder wahr oder falsch ist, deshalb nicht zu befürchten, daß notwendigerweise alles durch das Schicksal geschieht. Denn nicht aufgrund ewiger, aus Naturnotwendigkeit entspringender Ursachen ist wahr, was in dem Satz ›Karneades wird zur Akademie hinab­ gehen‹ ausgesagt wird, und dennoch ist es nicht ohne Ursachen wahr« (§ 19), so gibt er damit zu verstehen, daß er die Befürchtung Epikurs, mit der Anerkennung des Bivalenzprinzips auch die These, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht, anerkennen zu müssen, deshalb für unbegründet hält, weil sie auf der falschen Annahme beruht, bei den Ursachen, ohne die eine wahre Aussage nicht wahr sein kann, müsse es sich in jedem Fall um Ursachen handeln, die eine ewige

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Anmerkungen §§ 22–25

Ursachenkette bilden, also »schicksalhafte Ursachen« (causae fatales: ebd.) sind. Cicero scheint nun der Meinung zu sein, Epikur halte die für das fatalistische Verständnis des Bivalenzprinzips charakteristische Implikation o  → e ebenso wie Chrysipp deshalb für wahr, weil er nicht nur die Implikation o  → u, sondern auch die für das fatalistische Verständnis des Kausalitätsprinzips charakteristische Implikation u → e für wahr halte. Sollte dies zutreffen, müßte Epikur, da er ja auch die Implikation e → s für wahr hält, im Gegensatz zu Chrysipp aber bestreitet, daß ihr Nachsatz s wahr ist, und daher auch bestreiten muß, daß ihr Vordersatzes  e wahr ist, konsequenterweise auch die Wahrheit der Vordersätze der beiden Implikationen o → u und u → e bestreiten, also nicht nur die Wahrheit von o, die er in jedem Fall bestreiten muß, sondern auch die Wahrheit von u. Der Fehler, die Implikation u  →  e für wahr zu halten, wäre bei Epikur, sollte er ihn tatsächlich begangen haben, also insofern folgenschwer, als er bei ihm gleich zwei schwerwiegende Konsequenzen nach sich zöge, nämlich nicht nur die Leugnung der Gültigkeit des Bivalenzprinzips, dem zufolge jede Aussage entweder wahr oder falsch ist, sondern auch die Leugnung der Gültigkeit des Kausalitätsprinzips, dem zufolge alles, was geschieht, eine Ursache hat. §§ 22–25. Nach Cicero muß Epikur in der Tat, wenn er konsequent sein will, die Gültigkeit des Kausalitätsprinzips leugnen. Was ihn in Ciceros Augen zwingt, dieses Prinzip zu verwerfen, ist eine in dem uns erhalten gebliebenen Teil seiner Schriften nicht erwähnte Eigentümlichkeit seiner Atomtheorie, über die uns auch Lukrez, ein Zeitgenosse Ciceros, dessen Lehrgedicht De rerum natura eine unserer wichtigsten Quellen für die epikureische Physik ist, berichtet (vgl. De rer. nat. II 216–224, 243–260, 284–293 [LS 11H, 20F; Jürß/Müller/Schmidt 1991: 393–



Anmerkungen §§ 22–25

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395]), nämlich seine vieldiskutierte Lehre von der atomaren Bahnabweichung, nach der ein Atom jederzeit ganz spontan minimal von seiner Bahn abweichen kann. »Wenn nicht durch das, was er sagt, so doch durch die Sachlage«, erklärt Cicero, werde Epikur »zu dem Eingeständnis gezwungen, daß diese Abweichung ohne Ursache erfolgt« (§ 22; vgl. De fin. I 19, wo er Epikur sogar ausdrücklich eingestehen läßt, daß »das Atom ohne Ursache [von seiner Bahn] abweicht«). Die »Sachlage«, die Cicero meint, ist die, daß als Ursache dafür, daß ein Atom von seiner Bahn abweicht, nur der Anstoß in Betracht kommt, den das betreffende Atom von einem anderen erhält, daß aber kein Atom jemals von einem anderen einen Anstoß erhalten kann, da nach Epikur alle Atome »aufgrund ihrer Schwere in geraden Linien senkrecht nach unten fallen« (§ 22), und zwar, wie wir bei Lukrez erfahren (vgl. De rer. nat. II 225–242 [LS 11H; Jürß/Müller/Schmidt 1991: 393f.]), mit derselben Geschwindigkeit, so daß »keines ein anderes auch nur berührt« (De fato, § 22). Da Cicero offenbar sagen will, daß die Atome deshalb, weil sie auf parallelen Bahnen (gleich schnell) fallen, einander nicht berühren können, daß sie sich deshalb, weil sie einander nicht berühren können, auch gegenseitig nicht anstoßen können und daß sie deshalb, weil sie sich gegenseitig nicht anstoßen können, ohne Ursache von ihrer Bahn abweichen, wenn sie dies tun, liegt der Verdacht nahe, daß in dem Satz Sequitur enim, ut, si alia ab alia numquam depellatur, ne contingat quidem alia aliam (§ 22), der den zwischen dem Ausbleiben einer Berührung und dem Ausbleiben eines Anstoßes bestehenden Zusammenhang umkehrt, der Vorder- und der Nachsatz der mit ut eingeleiteten Implikation miteinander vertauscht sind. Dieser Fehler läßt sich leicht durch die Annahme erklären, daß das Wort si ursprünglich vor dem Wort ne stand und von einem Kopisten versehentlich an die falsche Stelle gesetzt wurde. Der von Long

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Anmerkungen §§ 22–25

und Sedley übernommene Vorschlag von J. N. M ­ advig, es vor ne zu stellen (vgl. LS 20E), den Schallenberg mit Recht befürwortet (vgl. 2008: 187, Anm. 346), wurde auch in der vorliegenden Ausgabe übernommen. Die Begründungen, mit denen Yon (vgl. 1933: 36f.) und Marwede (vgl. 1984: 171f.) den überlieferten Text gegen Madvigs Konjektur zu verteidigen versuchen, sind nicht überzeugend. Die Bemerkung, durch die »Abweichung eines Atoms (von seiner Bahn)« (declinatio atomi: § 22) komme »außer (den beiden durch) Gewicht und Stoß (zustande gebrachten Bewegungen) noch eine gewisse dritte Art von Bewegung zustande« (tertius quidam motus oritur extra pondus et plagam: ebd.; vgl. Lukrez, De rer. nat. II 285f. [LS 20F]: esse aliam praeter plagas et pondera causam motibus), ist insofern mißverständlich, als sie zu der Annahme verleitet, Cicero wolle sagen, daß Epikur von den drei genannten Bewegungsprinzipien die ersten beiden, also »Gewicht und Stoß« (oder, wie Bayer übersetzt, »Schwerkraft und Impuls« [2000: 37]), bereits bei Demokrit vorgefunden und nur das dritte neu eingeführt habe. Daß Cicero dies keineswegs sagen will, wie Bayer anzunehmen scheint (vgl. 2000: 139), geht aus seiner abschließenden Kritik an Epikur hervor. »Für ihre Bewegung bekamen die Atome ja einerseits von Demokrit die Kraft des Impulses, die dieser als Stoß bezeichnet«, erklärt er in § 46, »und andererseits von dir, Epikur, die Kraft der Schwere und des Gewichts.« Epikur hat die Atomtheorie Demokrits in der Tat nicht nur durch seine Lehre von der Bahnabweichung der Atome modifiziert, sondern seine Atomtheorie unterscheidet sich von derjenigen Demokrits auch darin – in seiner »Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie« betitelten Dissertation (Jena 1841) hat Karl Marx mit Nachdruck auf diesen Unterschied hingewiesen (vgl. Jürß/Müller/Schmidt 1991: 29) –, daß er neben dem Anstoß, den ein Atom von einem



Anmerkungen §§ 22–25

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anderen erhält, auch das Gewicht, das es besitzt, als ein Prinzip seiner Bewegung ansieht. Der von Cicero als »Erfinder der Atome« (auctor atomorum: §  23a) bezeichnete Demokrit (ca. 460–370 v. Chr.) war im übrigen zwar nicht der Begründer der atomistischen Lehre, die in Wirklichkeit auf Leukipp, dessen Schüler er war, zurückgeht, aber immerhin »der Schöpfer des ersten bis in die Einzelheiten durchgearbeiteten Systems des Atomismus« (Jürß/Müller/Schmidt 1991: 5). An Epikurs Theorie der atomaren Bahnabweichung hatte Cicero bereits an einer früheren Stelle Kritik geübt. Damit, daß Epikur die Atome »von ihrer Bahn abweichen läßt«, hatte er in §  18b moniert, »handelt er sich zwei unauflösliche Schwierigkeiten zugleich ein, nämlich zum einen die, daß etwas ohne Ursache geschieht, woraus ja folgt, daß etwas aus dem Nichts entsteht, was weder nach seiner eigenen Meinung noch nach der Meinung irgendeines Naturphilosophen der Fall sein kann, und zum andern die, daß dann, wenn zwei atomare Körperchen durch den leeren Raum fallen, das eine sich geradlinig fortbewegt, das andere hingegen (von seiner Bahn) abweicht.« Mit dieser Bemerkung – von den beiden erwähnten Schwierigkeiten ergibt sich die zweite insofern aus der ersten, als es in Ermangelung einer Ursache dafür, daß ein Atom von seiner Bahn abweicht, unerklärlich ist, weshalb gerade dieses abweicht und nicht jenes – und seiner im vorliegenden Abschnitt gemachten Bemerkung, Epikur werde »zu dem Eingeständnis«, daß die Abweichung eines Atoms von seiner Bahn »ohne Ursache erfolgt«, »gezwungen« (§ 22), zeichnet Cicero von Epikur das Bild eines Denkers, der eine Theorie entwirft, die ihn dazu zwingt, gegen seine Absicht einen allgemein anerkannten Grundsatz preiszugeben. Daß Epikur das Armutszeugnis, das Cicero ihm damit ausstellt, verdient hat, wird man bezweifeln dürfen, zumal seine Atomtheorie eine Deutung zuläßt, die der Kritik Ciceros den Boden entzieht

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Anmerkungen §§ 22–25

oder doch zumindest die Berechtigung seiner Kritik stark in Frage stellt, nämlich eine Deutung, nach der diese Theorie auf folgender Überlegung beruht: Die Erfahrung zeigt oder deutet jedenfalls darauf hin, daß das, was geschieht, wenn ein Ereignis B von einem anderen Ereignis A verursacht wird, insofern innerhalb eines mehr oder weniger eng begrenzten Spielraums geschieht, als B lediglich als ein beliebiges Ereignis einer bestimmten Art und nicht als dieses bestimmte Ereignis der betreffenden Art von A verursacht wird, so daß an seiner Stelle auch ein ihm mehr oder weniger ähnliches anderes Ereignis der betreffenden Art von A verursacht werden könnte. (Das Fallen eines sechsseitigen Würfels auf die Vier beispielsweise wird vom Werfen dieses Würfels, das ja ebensogut auch sein Fallen auf eine andere Augenzahl verursachen könnte, lediglich als sein Fallen auf irgendeine seiner sechs Augenzahlen verursacht [vgl. Bown 2016: 266, wo Epikurs Standpunkt mit Hilfe eines ähnlichen Beispiels erläutert wird].) Am Anfang des Weges, den der Prozeß der Verursachung des Ereignisses B durch das Ereignis A durchläuft, steht also lediglich fest, von welcher Art das Ereignis sein wird, zu dem dieser Prozeß führt, aber noch nicht, daß dieses Ereignis gerade das Ereignis B sein wird. Zu welchem individuellen Ereignis ein zunächst nur auf ein Ereignis einer bestimmten Art ausgerichteter kausaler Prozeß am Ende führt, hängt davon ab, mit den Wegen welcher anderen Kausalprozesse sich der Weg, den er durchläuft, wann und wo kreuzt, was am Anfang dieses Weges noch offen ist. Damit die in der Welt ablaufenden kausalen Prozesse in der beschriebenen Weise ablaufen können, müssen die an ihnen beteiligten Dinge so beschaffen sein, daß die Bewegung der Atome, aus denen sie aufgebaut sind, nicht völlig determiniert ist, sondern minimale Schwankungen erlaubt, die zu jeder Zeit und an jedem Ort auftreten können. Für die in der Welt ablaufenden kausalen



Anmerkungen §§ 22–25

233

Prozesse kann es, mit anderen Worten, nur dann einen gewissen Spielraum geben, wenn die an ihnen beteiligten Dinge eine atomare Struktur aufweisen, die der Bewegung ihrer Atome einen gewissen Spielraum läßt. Wenn sich Epikur beim Entwurf seiner Atomtheorie von dieser Überlegung leiten ließ, was freilich nur eine, wenn auch naheliegende Vermutung ist, sah er darin, daß die Atome zu unbestimmten Zeiten und an unbestimmten Orten spontan um ein Minimum (»um die kleinstmögliche Spanne«: § 22) von ihrer Bahn abweichen, keinen Verstoß gegen das Kausalitätsprinzip, sondern eine notwendige Voraussetzung dafür, daß dieses Prinzip in der unserer Erfahrung zugänglichen Welt der aus Atomen zusammengesetzten Dinge in einer Form Gültigkeit haben kann, in der es damit vereinbar ist, daß für die Entwicklung dieser Welt mehrere mögliche Wege offenstehen. Hiermit scheint es seiner Meinung nach nur in einer Form vereinbar zu sein, in der es besagt, daß zwar alles, was mit den aus Atomen zusammengesetzten Dingen geschieht, eine Ursache haben muß, daß aber nicht alles, was mit diesen Dingen geschieht, schon immer eine Ursache gehabt haben muß, daß nämlich nicht alles, was mit ihnen geschieht, eine Ursache haben muß, die ein bloßes Zwischenglied innerhalb einer endlos langen Ursachenkette ist, sondern daß zumindest einiges von dem, was mit ihnen geschieht, auch eine Ursache haben kann, die als die gemeinsame Wirkung der Endglieder zweier oder mehrerer Ursachenketten, die sich zufällig schneiden und damit enden, das Anfangsglied einer neuen Ursachenkette ist. In dieser Form scheint das Kausalitätsprinzip seiner Meinung nach im Bereich der aus Atomen zusammengesetzten Dinge aber nur dann gültig sein zu können, wenn es im atomaren Bereich so etwas wie eine Abweichung der Atome von ihrer Bahn gibt. Das System sich zufällig schneidender Ursachenketten, das Epikur vermutlich in Grundzügen vorschwebte, hat eine

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Anmerkungen §§ 22–25

Struktur, die das Spiegelbild der Struktur des Systems sich verzweigender möglicher Wege der Weltentwicklung ist, das ihm ebenfalls in Grundzügen vorgeschwebt zu haben scheint (vgl. Bown 2016: 265f.). Die Strukturen der beiden Systeme – an der Idee des ersten ist bereits die Kausaltheorie und an der Idee des zweiten bereits die Modaltheorie des Aristoteles orientiert (vgl. Weidemann 2006 und 2014: 251–255) – kann man folgendermaßen bildlich darstellen (vgl. hierzu den Abschnitt 4.2 der Einführung und die am Ende dieses Abschnitts abgebildeten Diagramme):

System sich schneidender Ursachenketten

System sich verzweigender Wege der Weltentwicklung

Die beiden Systeme hängen in der Weise miteinander zusammen, daß sich die Welt an jedem Punkt ihrer Entwicklung je nachdem, ob sich an ihm zwei Ursachenketten schneiden oder nicht, auf dem einen oder dem anderen von zwei möglichen Wegen weiterentwickelt. Die Lehre von der atomaren Bahnabweichung, die bei Epikur im Dienst einer indeterministischen Kausaltheorie zu stehen scheint, die das Kausalitätsprinzip, wenn es in dem beschriebenen Sinne verstanden wird, im makrophysikalischen Bereich als gültig anzuerkennen erlaubt, verrät einen erstaunlichen Weitblick ihres Begründers, der mit der Idee, die ihn zu ihr inspirierte, seiner Zeit weit voraus war. »In prinzipiell ähnlicher Weise, wie die Quantenmechanik zu Beginn des 20. Jahrhunderts den metaphysischen Determinismus überwinden



Anmerkungen §§ 22–25

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konnte, der der Mechanik Newtons dadurch anhaftete, dass sie […] die Bahnen der kleinsten Teilchen mathematisch festlegte und vorhersagbar machte«, so Kreter in einem »Epikur, der Heisenberg der Antike?« (2006: 103) überschriebenen Abschnitt seines Buches, »scheint schon in der Antike ein bedeutender Philosoph das Problem gelöst zu haben: Epikur« (2006: 107). »Das außerordentliche gegenwärtige Interesse an dieser Theorie«, bemerken Long und Sedley zur Abweichungstheorie Epikurs, »rührt daher, daß sie, wie wahnwitzig auch immer sie sein mag, doch großenteils wahr ist. In der Quantenphysik ist man sich heute weitgehend darüber einig, daß es im Verhalten der subatomaren Partikel einen gewissen Grad an Unbestimmtheit gibt. Die philosophische Tragweite dieser Tatsache liegt vor allem darin, daß sie möglicherweise für die Freiheit des Willens von Belang ist« (Long/Sedley I 1987: 52). Was die Unbestimmtheit betrifft, die es nach Epikur im Verhalten der Atome gibt – subatomare Partikel kennt er nicht, da die Atome für ihn nur gedanklich teilbar und daher die kleinsten realen Bestandteile der Welt sind –, so ist er davon überzeugt, daß sie für die menschliche Willensfreiheit nicht nur möglicherweise, sondern tatsächlich von Belang ist. Denn was ihn »dazu bewog«, diese Unbestimmtheit zu postulieren, ist ja gerade »seine Befürchtung«, daß es ohne sie »keine Freiheit für uns Menschen gäbe« (§ 23a). Cicero hält diese Befürchtung für unbegründet. Nach seiner Ansicht, die er im zweiten Teil des vorliegenden Abschnitts unter Berufung auf Karneades darlegt (§§  23b–25; vgl. hierzu Natali 2012), läßt sich die Freiheit des menschlichen Willens ohne die Preisgabe des Kausalitätsprinzips, zu der Epikurs Theorie der atomaren Bahnabweichung in seinen Augen zwingt, leicht verteidigen, wenn man nicht den Fehler begeht, dieses Prinzip in dem fatalistischen Sinne zu verstehen, in dem es besagt, alles, was geschieht, habe »(ihm) äußerliche und (ihm) vorhergehende Ursachen« (§ 23b; vgl. § 24),

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d. h. Ursachen, die ihm äußerlich sind und ihm als Glieder einer einzigen, endlos langen Ursachenkette vorhergehen. Wie das, was geschieht, wenn ein Atom aufgrund seines Gewichts durch den leeren Raum fällt, so geschieht nach Cicero auch das, was geschieht, wenn wir etwas wollen, zwar ohne eine ihm äußerliche Ursache, aber nicht ohne eine Ursache überhaupt. »Denn die freie Willensbewegung«, erklärt er, nachdem er darauf hingewiesen hat, daß die Natur eines Atoms die Ursache für seine Fallbewegung ist, »hat eine ihr eigene Natur von der Art, daß sie in unserer Macht steht und uns Gehorsam leistet, aber nicht ohne Ursache; denn es ist ja gerade ihre Natur, die hierfür die Ursache ist (eius rei enim causa ipsa natura est)« (§ 25; zum Verständnis des wörtlich zitierten Teilsatzes vgl. Sharples 2012: 63, Anm. 32). (Den Vergleich, den er hier anstellt, hat Cicero ungenau formuliert; denn mit der Natur der Atome ist ja allenfalls die Natur unseres Geistes, aber nicht die Natur der »freien Willensbewegungen unseres Geistes« [§  25] vergleichbar [vgl. Marwede 1984: 176f.]. Dieselbe Ungenauigkeit findet sich auch in § 43, wo statt der Natur unseres Geistes die Natur unserer Zustimmungen mit der Natur einer rollenden Walze verglichen wird [vgl. hierzu den Abschnitt 4.4 der Einführung].) Wenn die Vermutung, daß Epikur die oben beschriebene indeterministische Kausaltheorie vertritt, zutrifft, hat er den Fehler, das im Sinne von u (»Alles, was geschieht, hat eine Ursache«) verstandene Kausalitätsprinzip im Sinne von e (»Alles, was geschieht, hat eine Ursache, die ihm als ein Glied einer endlosen Ursachenkette vorhergeht«) fatalistisch mißzuverstehen, also die für das fatalistische Verständnis dieses Prinzips charakteristische Implikation u → e für wahr zu halten, keineswegs begangen (vgl. hierzu die Anmerkungen zum vorangehenden Abschnitt). Der gegen »die Epikureer« gerichtete Vorwurf des Karneades, »sie müßten ja, wenn sie zugeben



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würden, daß es keine Bewegung ohne Ursache gibt, deswegen nicht auch zugeben, daß alles, was geschieht, durch (ihm äußerliche und ihm) vorhergehende Ursachen geschieht« (§ 23b), denn sie könnten sich ja darauf berufen, daß »es für unseren Willen keine (ihm) äußerlichen und (ihm) vorhergehenden Ursachen gebe« (ebd.), den Cicero zustimmend referiert, ist dann also unbegründet, und Karneades rennt mit ihm sozusagen offene Türen ein. Die Überzeugung, »Determinismus oder unverursachte Bewegung seien die beiden einzigen Möglichkeiten«, von der Sharples behauptet, daß Chrysipp und Epikur sie im Gegensatz zu Karneades, für den diese Alternative »ein falsches Dilemma ist«, »teilen« (1995: 262), kann dann, mit anderen Worten, Epikur ebensowenig zugeschrieben werden wie Karneades. (Im zweiten Satz von § 23b ist der überlieferte Singular doceret, an dem Sharples [1991: 72f.], Sedley [2005: 245, Anm. 2] und Natali [2012: 69, 71] in der Annahme festhalten, er beziehe sich auf Epikur, im Anschluß an J. F. von Meyer, dem sich die meisten Herausgeber angeschlossen haben, in den auf die Epikureer bezogenen Plural docerent zu korrigieren.) Mit der Feststellung, daß Karneades Epikur und dessen Anhängern vermutlich Unrecht tut, wenn er ihr Verständnis des Kausalitätsprinzips als fatalistisch kritisiert, ist freilich noch nichts darüber gesagt, ob die Kritik, die er an Epikurs Theorie der atomaren Bahnabweichung übt, berechtigt ist oder nicht. Berechtigt wäre sie zweifellos dann, wenn Epikur mit dieser Theorie in der Überzeugung, daß die in der Natur geltenden Kausalgesetze die Entwicklung der Welt bis ins letzte determinieren, die Freiheit des menschlichen Willens dadurch hätte retten wollen, daß er die Bahnabweichung der Atome als eine Durchbrechung dieser Gesetze eingeführt hätte. Wenn er mit dieser Theorie jedoch in der Überzeugung, daß die Welt durch die in der Natur geltenden Kausalgesetze in ihrer Entwicklung nicht durchgängig determiniert sein kann, wenn der

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Mensch einen freien Willen hat, die Existenz eines in der Natur herrschenden Kausalzusammenhangs erklären wollte, der für alternative Möglichkeiten der Weltentwicklung und damit für das Wirken eines freien menschlichen Willens Platz läßt, ist die Kritik, die Karneades und im Anschluß an ihn Cicero an dieser Theorie übt, unberechtigt oder steht doch zumindest auf schwachen Füßen. Gegen die Berechtigung dieser Kritik spricht vor allem zweierlei: Erstens wollte Epikur, wie auch immer er sich den Zusammenhang zwischen atomarer Bahnabweichung und menschlicher Willensfreiheit genau vorgestellt hat, worüber die Mei­ nungen weit auseinandergehen (vgl. den Forschungsbericht Schallenbergs [2008: 172–187]), unter der Bewegung des Gei­ stes, die ein freier Willensakt für ihn darstellt, sicherlich keine Bewegung verstanden wissen, die von den zufälligen Bahnabweichungen der Atome, aus denen der menschliche Geist seiner Ansicht nach besteht, verursacht wird – als ein von zufälligen atomaren Bahnabweichungen verursachter Vorgang könnte ein Willensakt ja ebensowenig eine »freie Willensbewegung unseres Geistes« (§§  23b, 25) sein wie als ein von determinierten Atombewegungen verursachter Vorgang –, sondern eine Bewegung, die zwar ohne die in unserem Geist stattfindenden atomaren Bahnabweichungen nicht stattfinden könnte, die sich aber nicht auf sie zurückführen läßt, wobei in der Forschung umstritten ist, ob ein freier Willensakt diese Bahnabweichungen nach Epikur nun seinerseits verursacht, ob er sie sich lediglich zunutze macht oder ob er in irgendeiner Weise mit ihnen korreliert (vgl. Sharples 1991–93). Für Epikur ist ein freier Willensakt jedenfalls eine Bewegung unseres Geistes, die sich unbeschadet der Tatsache, daß der menschliche Geist für ihn ein körperliches Organ ist (vgl. Sedley 1988: 318, 325f.), als ein psychischer oder, genauer gesagt, als ein mentaler Vorgang nicht auf die physischen Vorgänge der Atom-



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bewegungen, mit denen sie einhergeht, reduzieren läßt, die also in diesen physischen Vorgängen nicht aufgeht, sondern etwas über sie Hinausgehendes darstellt. Die gut begründete Ansicht, daß Epikur von der reduktionistischen Einstellung, die sein Denken manchen Darstellungen zufolge prägt, weit entfernt war, verbindet die unterschiedlichen Standpunkte, die Sedley als Anhänger der Verursachungshypothese und Sharples als Befürworter der Korrelationshypothese vertreten (vgl. Long/Sedley I 1987: 109–111, Sedley 1988, Sharples 1991: 7f., 175, 1991–93: 174f.). (Zu der von Sedley vertretenen Hypothese vgl. Weidemann 2003: 111–114, wo allerdings Sharples’ Kritik an ihr nicht berücksichtigt ist [vgl. Sharples 1991–93: 176–178].) Zweitens trägt Epikur damit, daß er in der Möglichkeit atomarer Bahnabweichungen zwar keine hinreichende, aber doch eine notwendige Bedingung für die Freiheit unseres Willens sieht, einer Tatsache Rechnung, die Karneades übersehen oder jedenfalls nicht genügend berücksichtigt zu haben scheint, nämlich der Tatsache, daß wir einen freien Willen, dessen Freiheit so stark ist, wie Karneades annimmt, nicht unabhängig davon haben können, welche Beschaffenheit die Natur hat, von der wir ein Teil sind. In seinem Buch The Significance of Free Will, in dem er im Dialog mit der modernen naturwissenschaftlichen Forschung eine philosophische Theorie einer mit einem deterministischen Weltbild inkompatiblen, starken Freiheit des menschlichen Willens entwirft, schreibt Robert Kane unter Anspielung auf die Abweichungstheorie Epikurs: »Das Problem der Willensfreiheit hat empirische Aspekte, die sich durch bloße philosophische Spekulation in seine Erörterung nicht mit einbeziehen lassen. Sollte es in der Natur einen freien Willen geben, der in einem nichtdeterministischen Sinne frei ist, so müssen die Atome irgendwo ›von ihrer Bahn abweichen‹, um Platz für ihn zu schaffen, und zwar an Stellen, an denen dies eine Rolle spielt – beispielsweise im Gehirn« (1996: 17). Mit der Einsicht,

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daß es unabdingbare physische Voraussetzungen dafür gibt, daß der menschliche Wille in dem starken Sinne, in dem er ihn ebenso wie Karneades für frei hält, frei sein kann, hat Epikur größeren philosophischen Scharfsinn bewiesen – »s’est montré plus philosophe« (Hamelin 1978: 30; vgl. Sharples 1991: 10 [Anm. 4], 1991–93: 179 [Anm. 20]) – als sein neuakademischer Kritiker, der sich nach dem Urteil Ciceros mit dem Versuch, »zu zeigen, daß die Epikureer ihren Standpunkt auch ohne diese der Phantasie entsprungene Bahnabweichung (der Atome) verteidigen könnten«, »als ein scharfsinnigerer Denker erwies« (§ 23b; vgl. hierzu Sharples 1991: 175, 176, 1991–93: 178–182). Was man Epikur vorwerfen kann, ist allenfalls, daß er mit seiner Abweichungstheorie die Gültigkeit des in einem indeterministischen Sinne verstandenen Kausalitätsprinzips um den Preis der Einschränkung seines Geltungsbereichs auf das, was sich auf der makrophysikalischen Ebene abspielt, erkauft hat. Daß sie diesen hohen Preis nicht zu zahlen braucht, ist ein entscheidender Vorteil der modernen Quantentheorie, die »uns die epikureische Bahnabweichung der Atome«, so Kane, »in einer Form darbietet, in der sie raffinierter und ausgeklügelter ist, als man sie sich in der Antike jemals hätte ausdenken können« (1996: 9). Die Quantentheorie braucht die mikrophysikalische Ebene aus dem Geltungsbereich des Kausalitätsprinzips deshalb nicht auszuschließen, weil sie im Unterschied zur Abweichungstheorie Epikurs damit rechnet – und zwar nicht nur im übertragenen, sondern auch und vor allem im wörtlichen Sinne damit »rechnet« (Näheres hierzu in Nortmann 2008 [vgl. bes. 67–70; zu dem Wortspiel vgl. 189]) –, daß auf dieser Ebene probabilistische Kausalgesetze gelten, d.  h. Kausalgesetze, die nicht festlegen, welche Veränderung seines Zustands ein Quantenobjekt durch eine unter den und den Umständen auf es einwirkende Ursache zu welchem Zeitpunkt erfährt, sondern lediglich, welche Veränderung seines Zustands es zu welchem



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Zeitpunkt mit welcher Wahrscheinlichkeit durch sie erfährt, genauer gesagt: wie die verschiedenen Wahrscheinlichkeiten dafür, daß es bestimmte Veränderungen seines Zustands durch sie erfährt, über eine bestimmte Zeitspanne verteilt sind. Während die Ereignisse, die nach Epikur im atomaren Bereich eintreten können, ohne irgendeine Ursache zu haben, völlig unvorbereitet und sozusagen aus heiterem Himmel eintreten, wenn sie eintreten, ist das Eintreten der Ereignisse, die nach der Quantentheorie im atomaren und subatomaren Bereich eintreten können, ohne eine ihr Eintreten mit Notwendigkeit bewirkende Ursache zu haben, durch die Umstände, unter denen sie eintreten können, in der Weise vorbereitet, daß unter diesen Umständen eine bestimmte Wahrscheinlichkeit für ihr Eintreten besteht, die sich berechnen läßt. Wie Kane in dem »Epicurean and Non-Epicurean Worlds« überschriebenen Abschnitt seines Buches (1996: 172–174) herausstellt, spielt es angesichts der Frage, ob der Mensch in einer Welt, für deren Entwicklung eine Vielzahl sich verzweigender möglicher Wege offensteht, einen freien Willen besitzen kann, eine entscheidende Rolle, ob eine solche Welt auf der mikrophysikalischen Ebene so beschaffen ist, wie Epikur es sich vorstellt, oder ob sie auf dieser Ebene die von der Quantentheorie beschriebene Beschaffenheit aufweist. Da die besondere Art von Kausalität, die nach der Quantentheorie im atomaren und subatomaren Bereich herrscht, außerhalb seines Gesichtskreises lag, scheint Epikur geglaubt zu haben, sein indeterministisches Weltbild nur durch die Annahme retten zu können, daß die im Bereich der aus Atomen zusammengesetzten Dinge herrschende Kausalität zwar auch im Bereich der Atome herrscht, daß sie in diesem Bereich aber lückenhaft ist. Sollte er dies tatsächlich geglaubt haben, so würden sich die kausalen Lücken, die es nach seiner Theorie im atomaren Bereich gibt, von denjenigen, die es nach der

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Quantentheorie im atomaren und subatomaren Bereich gibt, in einem wichtigen Punkt unterscheiden: Im Unterschied zu den von der Quantentheorie anerkannten kausalen Lücken, bei denen es sich um Lücken einer Kausalität handelt, die aufgrund ihres probabilistischen Charakters ihrem Wesen nach lückenhaft ist, wären sie nämlich Lücken einer Kausalität, für die Lückenhaftigkeit nicht die Regel wäre, sondern die Ausnahme von der Regel. Sollte Epikur freilich der Ansicht gewesen sein – Maso, der ihm diese Ansicht zuschreibt (vgl. 2005: 264, 265f., 2008: 92, 98–100, 2012: 139f.), dürfte ihn damit richtig verstanden haben –, die Fähigkeit der Atome, hin und wieder spontan von ihrer Bahn abzuweichen, gehöre ebenso zu ihrer Natur wie ihre Fähigkeit, senkrecht nach unten zu fallen, sollte er also in der Natur der Atome auch die Ursache dafür gesehen haben, daß sie zu spontanen Bahnabweichungen fähig sind, so würde im atomaren Bereich auch aus seiner Sicht, obwohl die kausalen Lücken, mit denen er in diesem Bereich rechnet, völlig unberechenbar sind, eine ihrem Wesen nach lückenhafte Kausalität herrschen. Ironischerweise trifft Cicero mit den Worten, mit denen er im letzten uns erhalten gebliebenen Satz seiner Schicksalsschrift die Abweichungstheorie Epikurs zu diskreditieren versucht, ungewollt gerade den von ihm nicht erfaßten Sinn, in dem diese Theorie vermutlich zu verstehen ist: »[Denn es ist ja; lies:] 〈Oder ist es etwa〉, wenn den Atomen die Eigenschaft, infolge ihrer Schwere frei zu fallen, durch eine naturbedingte Notwendigkeit verliehen ist …, für gewisse Atome oder, wenn sie (d. h. die Epikureer) so wollen, für alle auch von Natur aus notwendig, (von ihrer Bahn) abzuweichen?« (§ 48). Der zitierte Satz, den Maso in seiner überlieferten Gestalt als Beleg für das Unvermögen Ciceros anführt, die beiden genannten Fähigkeiten der Atome als zwei zusammengehörige Aspekte ihrer Natur miteinander in Einklang zu bringen (vgl. 2005: 266 [Anm. 32],



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2008: 100), scheint ursprünglich nicht mit dem handschriftlich bezeugten Wort nam (»denn«), sondern mit den Worten aut num (»oder etwa«) begonnen zu haben (vgl. die Anmerkungen zu §§ 46–48). Keineswegs mißverstanden oder gar absichtlich mißdeutet, wie Maso ihm unterstellt (vgl. 2005: 260–262, 266, 2008: 87, 103, 2012: 136f.), hat Cicero die Abweichungstheorie Epikurs übrigens, was den Umstand betrifft, daß ein Atom ihr zufolge nicht fortwährend, sondern nur gelegentlich von seiner Bahn abweicht (vgl. hierzu den Abschnitt 4.3 der Einführung). (Für wertvolle kritische Hinweise zu einer früheren Fassung der Anmerkungen zu §§ 22–25 sei Ulrich Nortmann gedankt, der dankenswerterweise auch den Abschnitt 4.2 der Einführung kritisch durchgesehen hat.) §§ 26a–28a. Die Frage »Weshalb sollte unter diesen Umständen nur dann für jede Aussage gelten, daß sie entweder wahr oder falsch ist, wenn wir zugeben, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht?« (Quod cum ita sit, quid est, cur non omnis pronuntiatio aut vera aut falsa sit, nisi concesserimus fato fieri, quaecumque fiant?), die diesen Abschnitt einleitet, läßt sich folgendermaßen umschreiben: Wenn man das Kausalitätsprinzip, wie sich im vorangehenden Abschnitt gezeigt hat, nicht in einem fatalistischen Sinne zu verstehen braucht, um an ihm festhalten zu können, weshalb sollte man dann nicht auch am Bivalenzprinzip festhalten können, ohne es in einem fatalistischen Sinne zu verstehen? Waren es im vorangehenden Abschnitt Epikur und seine Anhänger, gegen die sich Ciceros Kritik an einem fatalistischen Verständnis des Kausalitätsprinzips richtete, so ist es im vorliegenden Abschnitt Chrysipp, den er zur Zielscheibe seiner Kritik an einem fatalistischen Verständnis des Bivalenzprinzips macht, wobei er sich vermutlich in beiden Fällen, auch wenn er sich nur bei seiner Auseinan-

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Anmerkungen §§ 26a–28a

dersetzung mit den Epikureern ausdrücklich auf ihn beruft, an Karneades anlehnt. Nun wird Chrysipp im vorliegenden Abschnitt allerdings ebensowenig beim Namen genannt wie Karneades, und da die in § 26a zitierte Antwort auf die eingangs gestellte Frage der Auffassung Epikurs ebenso entspricht wie derjenigen Chrysipps, könnte mit dem in diese Antwort, bei der es sich freilich nicht um ein echtes, sondern um ein von Cicero konstruiertes Zitat handeln dürfte (vgl. Calanchini 2015: 102), eingeschobenen inquit (»sagt er«) statt »sagt Chrysipp«, wie gewöhnlich angenommen wird, auch »sagt Epikur« gemeint sein (vgl. Maso 2014: 137f., Bown 2016: 262). Sedley, für den es außer Zweifel steht, daß es Epikur ist, auf den Cicero sich bezieht, begründet diese Ansicht damit, daß sich der vorliegende Abschnitt unmittelbar an eine gegen die Epikureer gerichtete Kritik anschließt und auch mit einem Hinweis auf die Epikureer, die in § 28a mit »Diese da« (isti) zweifellos gemeint sind, endet, ohne daß an irgendeiner Stelle die Absicht Ciceros erkennbar wäre, von der Auseinandersetzung mit ihnen zu einer Auseinandersetzung mit den Stoikern überzugehen (vgl. Sedley 2005: 245f.). Zugunsten der Ansicht, daß Cicero die Worte, die er in §  26a zitiert, nicht Epikur, sondern Chrysipp in den Mund legt, spricht nun aber vor allem die von Sharples im Anschluß an Yon hervorgehobene Tatsache, daß Cicero die Kritik, die er im vorangehenden Abschnitt unter Berufung auf Karneades an Epikur und dessen Anhängern geübt hat, seiner Kritik an Chrysipp, dessen gemeinsame Gegner Karneades und die Epikureer sind, dadurch untergeordnet hat, daß er Karneades als einen den Epikureern seiner Meinung nach überlegenen Kritiker Chrysipps in der Auseinandersetzung mit ihm die Rolle der Epikureer hat übernehmen lassen (vgl. Yon 1933: 13 [Anm. 1], Sharples 1991: 177). Es ist »aus dem weiteren Kontext der vorhergehenden Paragraphen klar, dass Karneades für die



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epikureische Seite gegen Chrysipp argumentierte und ein gegnerischer Einwand demzufolge von Chrysipp kommt« (Mayet 2010: 182). Der gegnerische Einwand, den Cicero in § 26a zitiert, wiederholt in verkürzter Form, was zusätzlich dafür spricht, daß er von Chrysipp stammt (vgl. Yon 1933: 14 [Anm. 1], Sharples 1991: 177), das von Cicero in §§ 20b–21a zitierte Argument, mit dem Chrysipp, der dort namentlich genannt wird, von der Allgemeingültigkeit des Bivalenzprinzips auf die Allmacht des Schicksals schließt. (Zu den zwischen diesem Argument und jenem Einwand bestehenden Unterschieden vgl. Mayet 2010: 182–184.) Der in § 26a zitierte Einwand Chrysipps richtet sich gegen diejenigen, die nicht bereit sind, ihm zuzugeben, daß das Bivalenzprinzip nur dann, wenn alles durch das Schicksal geschieht, uneingeschränkt gültig sein kann, die also die Alternative »Entweder geschieht alles durch das Schicksal, oder es gibt Aussagen, die keinen Wahrheitswert haben« für ein falsches Dilemma halten. Chrysipp steht deshalb vor dieser Alternative, weil er zusätzlich zu der Auffassung, daß es nur im Falle von Ereignissen, die »Ursachen dafür haben, daß sie in Zukunft stattfinden«, »wahr sein kann, daß sie in Zukunft stattfinden« (§ 26a), die Auffassung vertritt, daß Ereignisse, die Ursachen für ihr zukünftiges Stattfinden haben, hierfür Ursachen haben, die Glieder endlos langer Ursachenketten sind, so daß sie, »wenn sie eingetreten sein werden, durch das Wirken des Schicksals eingetreten sein werden« (ebd.). Mit der genannten Alternative ist Chrysipp also deshalb konfrontiert, weil er sich von einem fatalistischen Verständnis des Kausalitätsprinzips leiten läßt, dem zufolge eine Ursache zu haben für etwas heißt, schon immer eine Ursache gehabt zu haben und daher vom Schicksal bestimmt zu sein; und dieses Verständnis des Kausalitätsprinzips stellt ihn auch vor die Alternative, »daß entweder alles durch das Schicksal geschieht oder etwas auch ohne ­Ursache

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geschehen kann« (§ 26b), die nach Ansicht seiner Gegner ebenfalls ein falsches Dilemma ist. Versteht man das Kausalitätsprinzip in einem Sinne, in dem es den Neubeginn von Ursachenketten zuläßt, so entgeht man nicht nur dem zuletzt genannten, sondern auch dem zuerst genannten Dilemma. Denn man kann dann, ohne den Grundsatz aufzugeben, daß es nur dann, wenn etwas nicht ohne Ursache geschieht, wahr sein kann, daß es geschieht, am Bivalenzprinzip in einer Form festhalten, in der seine Allgemeingültigkeit nicht zur Folge hat, daß alles durch das Schicksal geschieht, nämlich in einer Form, in der es besagt, daß jede Aussage in dem schwachen Sinne, den Karneades mit der Rede vom Wahroder Falschsein einer Aussage verbindet, wahr oder falsch ist. Im vorliegenden Abschnitt geht es Cicero darum, sein auf dem schwachen Wahrheitsbegriff des Karneades beruhendes Verständnis des Bivalenzprinzips, das er in §§ 18b–20a bereits gegen Epikur verteidigt hat, nun auch gegen Chrysipp zu verteidigen. Der Unterschied zwischen dem starken Wahrheitsbegriff, auf dem Epikurs und Chrysipps fatalistisches Verständnis des Bivalenzprinzips beruht, und dem schwachen Wahrheitsbegriff, den Cicero von Karneades übernommen hat, läßt sich folgendermaßen beschreiben: Ob eine auf die Vergangenheit oder die Zukunft bezogene Aussage zum gegenwärtigen Zeitpunkt wahr oder falsch ist, hängt, wenn man den starken Wahrheitsbegriff zugrunde legt, vom gegenwärtig bestehenden Zustand der Welt ab, wenn man den schwachen zugrunde legt, hingegen von dem Zustand, in dem sich die Welt in der Vergangenheit befunden hat bzw. in Zukunft befinden wird, auf der Grundlage des starken Wahrheitsbegriffs also von dem Zustand, in dem sich die Welt zu dem Zeitpunkt befindet, auf den sich das Wahr- oder Falschsein der betreffenden Aussage bezieht, auf der Grundlage des schwachen hingegen von dem Zustand, in dem



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sich die Welt zu dem Zeitpunkt oder in dem Zeitraum befindet, auf den sich die betreffende Aussage selbst bezieht. Cicero macht dies mit dem Satz deutlich: Nam ut praeterita ea vera dicimus, quorum superiore tempore vera fuerunt instantia, sic futura, quorum consequenti tempore vera erunt instantia, ea vera dicemus (»Denn wie wir von etwas sagen, es sei wahr, daß es in der Vergangenheit geschehen ist, wenn es zu einem früheren Zeitpunkt einmal wahr gewesen ist, daß es gegen­ wärtig geschieht, so werden wir auch von etwas sagen müssen, es sei wahr, daß es in Zukunft geschehen wird, wenn es zu einem späteren Zeitpunkt einmal wahr sein wird, daß es gegenwärtig geschieht«: § 27). Wörtlich übersetzt, besagt dieser Satz: »Denn wie wir diejenigen vergangenen Ereignisse wahr nennen, deren gegenwärtige Verwirklichungen (instantia) in der vorhergegangenen Zeit wahr gewesen sind (vera fuerunt), so werden wir auch diejenigen zukünftigen Ereignisse, deren gegenwärtige Verwirklichungen (instantia) in der folgenden Zeit wahr sein werden (vera ­erunt), wahr nennen müssen.« Wie an den übrigen drei Stellen, an denen sie bei Cicero vorkommt (Part. orat. 37 [vetusta recentia instantia], Tusc. disp. IV 11 [afficiunt aegritudine instantia], IV 64 [instantia feruntur]), so ist die Wortform instantia auch in diesem Satz nicht, wie allgemein angenommen wird, der Nominativ Singular des Substantivs instantia (»Gegenwart«), sondern der Nominativ Plural Neutrum des zu dem Verb instare (»in unmittelbarer Nähe sein«, »gegenwärtig sein« [vgl. Cicero, De div. I 126]) gehörenden Partizipialadjektivs instans (»gegenwärtig«). Die handschriftlich überlieferten Pluralformen fuerunt und erunt, die in den modernen Ausgaben des lateinischen Textes durch die Singularformen fuerit und erit ersetzt wurden, sind daher als die richtigen Lesarten beizubehalten. (Die falschen Singularformen finden sich bereits in der Veneta prior genannten venezianischen Ausgabe aus dem Jahr

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1471 [vgl. Giomini 1975: 163, Anm. zu Z. 4 und 5], während in der 1496 in Venedig erschienenen Veneta altera ebenso wie in der venezianischen Ausgabe von Georgius Valla, die um 1485 erschien, die richtigen Pluralformen zu lesen sind. Zum Verständnis des zitierten Satzes vgl. Calanchini 2015: 103f.) Da es auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs auch im Falle einer zukunftsbezogenen Aussage vom gegenwärtigen Zustand der Welt abhängt, ob sie bereits in der Gegenwart wahr ist, der gegenwärtige Zustand der Welt eine Aussage, die etwas Zukünftiges vorhersagt, aber nur dann wahr zu machen vermag, wenn bereits in der Gegenwart Ursachen vorhanden sind, die das Eintreffen des Vorhergesagten bewirken (vgl. Sedley 2005: 245), erlaubt es der starke Wahrheitsbegriff nur unter der Voraussetzung, daß es für alles, was geschieht, schon immer Ursachen gab, die bewirkten, daß es geschehen würde, daran festzuhalten, daß jede zukunftsbezogene Aussage schon immer wahr oder falsch war. Im Gegensatz zu Epikur, der bestreitet, daß diese Voraussetzung gegeben ist, und daher auch bestreiten muß, daß das Bivalenzprinzip uneingeschränkt gültig ist, kann Chrysipp, der von dieser Voraussetzung ausgeht, an der uneingeschränkten Gültigkeit des Bivalenzprinzips festhalten. Der schwache Wahrheitsbegriff des Karneades hat in den Augen Ciceros den Vorteil, daß er es erlaubt, das Bivalenzprinzip auch unter der Voraussetzung, daß nicht alles, was geschieht, durch Ursachen bewirkt wird, die so miteinander zusammenhängen, daß »sich von Ewigkeit her eine an die andere reiht« (§ 27), vorbehaltlos anzuerkennen. Denn auch Aussagen über Ereignisse, die nicht in der Weise verursacht sind, daß sie schon immer Ursachen hatten, können im Sinne dieses Wahrheitsbegriffs schon immer wahr gewesen sein. »Having an antecedent cause at every preceding time is not, Carneades argues, the only way for an event to be caused« (Sharples 1991: 178).



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Unbeschadet der Tatsache, daß sie sich in der beschriebenen Weise voneinander unterscheiden, stimmen der starke und der schwache Wahrheitsbegriff darin überein, daß sie Begriffe eines an die Zeit gebundenen Wahrseins sind. Das zu ihrem Inhalt gehörende Merkmal der Zeitgebundenheit harmoniert nun zwar mit den Bedingungen, an die der starke Wahrheitsbegriff die Wahrheit eines Aussagesatzes knüpft, aber nicht mit den Bedingungen, unter denen ein solcher Satz im Sinne des schwachen Wahrheitsbegriffs wahr ist. Denn die Rede davon, daß beispielsweise der Satz »Scipio wird Numantia erobern« (§ 27) im schwachen Sinne schon immer – »schon vor Tausenden von Jahren«, wie Cicero sich ausdrückt (ebd.) – wahr war, ist nur eine irreführende Ausdrucksweise dafür, daß das, was mit diesem Satz in der Zeit vor der Eroberung Numantias (also vor dem Jahr 133 v. Chr.) ausgesagt wurde und was in der Zeit nach diesem Ereignis mit dem Satz »Scipio hat Numantia erobert« ausgesagt wird, in einem zeitlosen Sinne wahr ist. Der moderne Wahrheitsbegriff, der als der Begriff eines zeitlosen Wahrseins definiert ist, hat in dem schwachen Wahrheitsbegriff der Neuakademiker also einen frühen Vorläufer, der ein für den starken Wahrheitsbegriff, mit dem er konkurriert, charakteristisches Merkmal sozusagen noch mitschleppt (vgl. ­Weidemann 2015: 202). Da Cicero den Begriff der Aussage im Sinne dessen, was mit einem Aussagesatz unter den Umständen seiner Äußerung als etwas zeitlos Wahres oder Falsches ausgesagt wird, noch nicht kennt, meint er, wenn er unter Verwendung des Wortes enuntiatio (§§ 1a, 20b, 21b, 27, 28a, 37b, 38), des Wortes enuntiatum (§§ 19, 28a) oder des Wortes pronuntiatio (§ 26a) von einer Aussage spricht, entweder einen Aussagesatz oder das, was die Stoiker ein axiōma nennen, nämlich das, was mit einem Aus­ sagesatz unter den Umständen seiner Äußerung mit Ausnahme derjenigen ausgesagt wird, die zusammen mit seiner Bedeu-

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Anmerkungen §§ 26a–28a

tung den Zeitpunkt oder Zeitraum bestimmen, auf den er sich bezieht, also mit Ausnahme der zeitlichen Umstände, unter denen man ihn äußert. Da der Zeitpunkt, zu dem ein Aussagesatz geäußert wird, nicht für die Identität, sondern nur für den Wahrheitswert des von ihm bezeichneten axiōma relevant ist, sind Aussagen im Sinne der stoischen axiōmata ebensowenig zeitlos wahr oder falsch wie die sie bezeichnenden Aussage­ sätze (vgl. hierzu die Anmerkungen zu § 1a). Was in §  27 den Satz Et si tum non esset vera haec enuntiatio: »Capiet Numantiam Scipio«, ne illa quidem eversa esset vera haec enuntiatio: »Cepit Numantiam Scipio« betrifft (»Und wenn damals die Aussage ›Scipio wird Numantia erobern‹ nicht wahr gewesen wäre, so wäre auch nach der Zerstörung jener Stadt die Aussage ›Scipio hat Numantia erobert‹ nicht wahr«), so ist der Nachsatz des konditionalen Satzgefüges, das er darstellt (zur Verwendung des Konjunktivs Imperfekt esset im Vordersatz vgl. Burkard/Schauer 2012: 822 [§ 562, 3a]), nicht einheitlich überliefert. In den ersten beiden der drei wichtigsten Handschriften A, B und V, die im 9. Jahrhundert angefertigt wurden (vgl. Giomini 1975: XVIIf., XX, XXI, Marwede 1984: 20–22), hat er die Gestalt ne illa quidem vera esset vera est haec enuntiatio: »Capiet Numantiam Scipio« (vera esset allem Anschein nach aus eversa esse korrigiert in A, est von anderer Hand hinzugefügt in B), während er in der dritten, in der er ausgelassen ist, von anderer Hand in der Gestalt ne illa quidem eversa vera est – nicht vera esset (Skassis 1915: 27, Yon 1933: LX, 14, Giomini 1975: 163, Maso 2014: 40, 140) – haec enuntiatio: »Capiet Numantiam Scipio« am Rand ergänzt wurde (vgl. Montanari Caldini 1980: 84f., Marwede 1984: 74, Sharples 1991: 74). Die modernen Herausgeber sind vor allem in zwei Fragen geteilter Meinung, nämlich erstens in der Frage, ob die Lesart ne illa quidem eversa (»auch nach der Zerstörung jener [Stadt] nicht«) authentisch ist oder ob sich hinter ihr ein ursprüng­



Anmerkungen §§ 26a–28a

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liches ne illa quidem vera (»auch jene [Aussage] nicht wahr«) verbirgt, und zweitens in der Frage, ob man das von allen drei Handschriften bezeugte Futur capiet als authentisch übernehmen oder es in das Perfekt cepit korrigieren sollte. Nach Skassis und Yon, denen Bayer (vgl. 2000: 42), Marwede (vgl. 1984: 56) und Maso (vgl. 2014: 40, 62, 139f.) gefolgt sind, hatte der Nachsatz des fraglichen Satzgefüges ursprünglich die Gestalt ne illa quidem vera esset: »Cepit Numantiam Scipio«. Für die Entstehung der von A und B überlieferten Textgestalt bieten Skassis, der sich allerdings nicht dazu äußert, wie cepit durch capiet verdrängt werden konnte, und Yon unterschiedliche Erklärungen an. Skassis, der die von A und B hinter esset bezeugten Worte vera (est) haec enuntiatio mit Ausnahme von est für eine irrtümlich in den Text eingefügte Korrektur hält, die sich auf das erste vera bezieht, vermutet, daß diese Worte nach ihrer Einfügung in den Text als die Anfangsworte eines mit Hilfe von illa angeführten Satzes mißverstanden wurden, dessen Prädikat fehlte, und daß sie daher nachträglich durch est ergänzt wurden (vgl. 1915: 28). Plausibler ist die Erklärung Yons, der vermutet, daß der von A und B überlieferte Text durch einen zweifachen Augensprung aus dem Text entstanden ist, den Skassis und er für authentisch halten. Nach Yon beging der Kopist des Archetypus, von dem die drei Handschriften A, B und V abstammen, zunächst den Fehler, daß er, nachdem er den Nachsatz des fraglichen Satzgefüges bis zu dem Wort esset kopiert hatte, die hinter dem esset des Vordersatzes stehenden Worte vera haec enuntiatio: »Capiet Numantiam Scipio« wiederholte, und sodann den Fehler, daß er die ebenfalls mit Scipio endenden Worte »Cepit Numantiam Scipio« des Nachsatzes ausließ (vgl. 1933: LX). Das in A von der ersten und in B von einer anderen Hand hinter dem zweiten vera des Nachsatzes bezeugte est hält auch Yon für eine interpretierende spätere Zutat (vgl. 1933: LXI). Die in

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Anmerkungen §§ 26a–28a

V am Rand überlieferte Lesart schließlich ist nach der übereinstimmenden Meinung beider Autoren lediglich eine Konjektur (vgl. Skassis 1915: 27, Yon 1933: LX). Montanari Caldini, die Yon mit Recht vorwirft, unbeachtet gelassen zu haben, daß für die Lesart ne illa quidem eversa nicht nur eine andere Hand in V, sondern allem Anschein nach auch die erste Hand in A als Textzeuge zur Verfügung steht (was Skassis zu Unrecht bestreitet [vgl. 1915: 27f.]), hat eine raffinierte Hypothese aufgestellt, nach der die Unterschiede, die der Text in den drei Handschriften A, B und V aufweist, auf unterschiedliche Interpretationen einer Korrektur zurückgehen, die im Archetypus irrtümlich an dem ihrer Meinung nach authentischen Text ne illa quidem eversa esset vera haec enuntiatio: »Capiet Numantiam Scipio« vorgenommen wurde. Der Kopist des Archetypus, vermutet sie (vgl. 1980: 86f.), habe die Worte eversa esset aus einer Vorlage kopiert, in der sie mit Hilfe der über der Zeile hinzugefügten Buchstaben e, s und t aus vera esse korrigiert worden seien, und ein Revisor der von ihm angefertigten Abschrift, der meinte, durch die Hinzufügung dieser Buchstaben solle lediglich esse in est korrigiert werden, habe dann mit Hilfe von Tilgungszeichen, die er unter das erste e und das s des Wortes eversa gesetzt habe, und mit Hilfe eines auf das Wort est, das er am Rand hinzugefügt habe, bezogenen Verweisungszeichens, das er unter das t des Wortes esset gesetzt habe, eversa als ein durch vera und esset als ein durch est zu ersetzendes Wort gekennzeichnet. Durch diese unangebrachte Korrektur habe der Text des Archetypus, wenn man annehmen dürfe, daß die Zeile, neben der est am Rand hinzugefügt worden sei, mit dem vor haec stehenden vera geendet habe, eine Gestalt erhalten, die bei der Anfertigung der drei Handschriften A, B und V in verschiedener Weise interpretiert worden sei. Gegen diese Hypothese hat Marwede, der sich die Hypothese Yons zu eigen gemacht hat (vgl. 1984: 184–186), den berechtigten



Anmerkungen §§ 26a–28a

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Einwand erhoben, die ihr zugrunde liegende Annahme, bei einer Revision des Archetypus seien die in seiner Vorlage über der Zeile hinzugefügten Buchstaben e, s und t als die Bestandteile des Wortes est mißdeutet worden, sei »unrealistisch« (1984: 181, 182). Abgesehen hiervon ist es unwahrscheinlich, daß das fragliche Satzgefüge in dem Sinne zu verstehen ist, in dem man es nach Montanari Caldini zu verstehen hat, wenn man seinen Nachsatz in der von ihr vorgeschlagenen Weise rekonstruiert, und in dem auch Sharples, der ihre Rekonstruktion und ihre Interpretation übernommen hat, es verstanden wissen will, nämlich in dem Sinne, daß die Aussage »Scipio wird Numantia erobern« dann, wenn sie vor der Eroberung Numantias keine Aussage gewesen wäre, die schon vor diesem Ereignis wahr war, auch nach diesem Ereignis, durch dessen Eintreten sie doch verifiziert wurde, keine Aussage gewesen wäre, die schon vor ihm wahr war (vgl. Montanari Caldini 1980: 91, Sharples 1991: 75, 179). Was gegen diese Interpretation spricht, ist weniger der Umstand, daß sowohl im Vorder- als auch im Nachsatz des fraglichen Satzgefüges der Konjunktiv Imperfekt steht, was »bei einem Irrealis der Vergangenheit« nur »sehr selten« (Burkard/ Schauer 2012: 823 [§ 562, 3b]) der Fall ist; denn man kann dieses Imperfekt als ein Imperfekt verstehen, das sich von dem Plusquamperfekt des vorangehenden Satzes An hoc falsum potuisset esse, si esset sescentis saeculis ante dictum? (»Oder hätte dies etwa falsch sein können, wenn es schon vor Tausenden von Jahren vorhergesagt worden wäre?«) nicht etwa darin unterscheidet, daß es eine andere Zeitstufe bezeichnet, sondern lediglich darin, daß es einen anderen Aspekt ausdrückt, nämlich im Unterschied zu jenem Plusquamperfekt nicht den punktuellen, sondern den durativen Aspekt (vgl. Montanari Caldini 1980: 91; siehe hierzu Burkard/Schauer 2012: 178 [§ 129, 3]). Was gegen Montanari Caldinis Interpretation spricht, ist vielmehr in erster Linie der Kontext des fraglichen Satzgefüges.

254

Anmerkungen §§ 26a–28a

Der letzte Satz von § 27 legt es nahe, dieses Satzgefüge im Sinne der These zu verstehen, daß dann, wenn damals (vor der Eroberung Numantias) die zukunftsbezogene Aussage »Scipio wird Numantia erobern« nicht wahr gewesen wäre, auch heute (nach diesem Ereignis) die vergangenheitsbezogene Aussage »Scipio hat Numantia erobert« nicht wahr wäre. Wenn diese These Ciceros Pointe ist – Marwede, der sie mit Recht als »Cicero’s point« bezeichnet, meint zu Unrecht, sie werde durch den Ablativus absolutus illa quidem eversa (»auch nach der Zerstörung jener [Stadt]«) unnötig verkompliziert (vgl. 1984: 183f.) –, ist es unumgänglich, im Nachsatz des fraglichen Satzgefüges die bereits im 16. Jahrhundert von Petrus Ramus, dem die meisten modernen Herausgeber gefolgt sind, vorgeschlagene Ersetzung des Futurs capiet durch das Perfekt cepit vorzunehmen. (Magris und Calanchini, die mit Montanari Caldini an dem überlieferten zweiten capiet festhalten, können es noch weniger als sie befriedigend erklären. Magris läßt Cicero behaupten, daß die Aussage »Scipio wird Numantia erobern« dann, wenn sie damals nicht wahr gewesen wäre, auch heute, nachdem Numantia zerstört worden ist, nicht wahr wäre [vgl. 1994: 54f.; 89, Anm. 64], während Calanchini ihm die rhetorische Frage in den Mund legt: »Und wenn damals diese Aussage ›Scipio wird Numantia erobern‹ nicht wahr gewesen wäre, soll dieses ›Scipio wird Numantia erobern‹ selbst nach der Zerstörung Numantias nicht wahr sein?« [2015: 41], auf die er ihrer Meinung nach die Antwort »Unsinn« [2015: 103] erwartet, die von ihr mit dem Satz »Die Kombination von ›war fälsch­ licherweise angekündigt‹ und ›trat später doch ein‹ ist absurd« [ebd.] kommentiert wird.) Was die Lesart ne illa quidem eversa betrifft, so verdient sie, da sich ein guter Sinn mit ihr verbinden läßt und da ihre Entstehung aus der Lesart ne illa quidem vera weniger wahrscheinlich sein dürfte als die Entstehung dieser Lesart aus ihr,



Anmerkungen §§ 26a–28a

255

dieser Lesart vorgezogen zu werden, allerdings nicht in Verbindung mit den in V überlieferten Worten vera est haec enuntiatio, die Rackham (1942: 222), Giomini (1975: 162f.), Hülser (III 1987: 1004 [FDS 825]), Long und Sedley (II 1987: 456 [LS 70G]) und Calanchini (2015: 40) ohne Rücksicht darauf übernommen haben, daß es sich bei dem fraglichen Satzgefüge um eine irreale Bedingungsperiode handelt (vgl. Montanari Caldini 1980: 89), sondern in Verbindung mit den von Montanari Caldini konjizierten Worten esset vera haec enuntiatio. Man wird somit annehmen dürfen, daß das fragliche Satzgefüge ursprünglich die Textgestalt hatte, die es erhält, wenn man die Konjektur Montanari Caldinis übernimmt und zugleich das von ihr verteidigte zweite capiet mit Ramus in cepit korrigiert, daß es also ursprünglich lautete: Et si tum non esset vera haec enuntiatio: »Capiet Numantiam Scipio«, ne illa quidem eversa esset vera haec enuntiatio: »Cepit Numantiam Scipio«. Diese Annahme harmoniert gut mit zwei Ergebnissen, zu denen Bayer bei seiner Untersuchung der Überlieferungsgeschichte von De fato gelangt ist – sein in den ersten drei Auflagen seiner Ausgabe (1963, 1976, 1980) enthaltener Bericht über die Ergebnisse dieser Untersuchung (S. 99–111) wurde in der vierten Auflage (2000) weggelassen –, nämlich einerseits damit, daß B nicht unmittelbar, sondern über ein Zwischenglied (einen sogenannten Hyparchetypus) vom Archetypus abhängig ist (vgl. S. 104f. sowie das auf S. 111 abgebildete Stemma), daß B also zu einem anderen vom Archetypus ausgehenden Überlieferungszweig gehört als A und V (vgl. Giomini 1975: XXIII, Marwede 1984: 23, 39f. [Anm. 79]), und andererseits damit, daß zwischen A, B und V nachträglich dadurch Querverbindungen entstanden sind, daß bei der Korrektur von A der (korrigierte oder unkorrigierte) Text von B und bei der Korrektur von V der unkorrigierte Text von A zum Vergleich herangezogen wurde (vgl. S. 106f. sowie im Stemma den Hinweis »Querkorrektur«).

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Anmerkungen §§ 26a–28a

Angesichts dieses überlieferungsgeschichtlichen Befunds läßt sich nämlich folgendermaßen erklären, wie aus der hier konjizierten Textgestalt des fraglichen Satzgefüges die in A, B und V überlieferten Lesarten entstehen konnten: Der Archetypus oder auch schon die als Vorlage für ihn dienende Handschrift enthielt einen Text, der das Resultat eines zweifachen Augensprungs war. Der für diesen Text verantwortliche Kopist wiederholte nämlich zunächst, nachdem er das fragliche Satzgefüge bis zu dem zweiten esset kopiert hatte, die hinter dem ersten esset stehenden Worte vera haec enuntiatio: »Capiet Numantiam Scipio« und ließ dann die Worte vera haec enuntiatio: »Cepit Numantiam Scipio« aus. Der Kopist des Archetypus fügte dann zu dem zweiten vera, weil er das zweite esset irrtümlich auf eversa bezog, ein est hinzu, und der Kopist einer Abschrift des Archetypus, die für die Handschrift B, aber nicht für die beiden Handschriften A und V als Vorlage diente, korrigierte schließlich eversa, wenn er es nicht einfach zu vera verlas oder verschrieb, in der irrigen Annahme in vera, mit dem vor dem hinzugefügten est stehenden vera, das in B durch die Großschreibung Vera als das Anfangswort eines Satzes gekennzeichnet ist (vgl. Skassis 1915: 28), beginne eine Aussage, die von der Aussage »Scipio wird Numantia erobern« behauptet, sie sei wahr (»Vera est haec enuntiatio: ›Capiet Numantiam Scipio‹«), und von der Cicero sagen wolle, daß sie, wenn die Aussage »Scipio wird Numantia erobern« damals nicht wahr gewesen wäre, damals (weil sie dann ja fälschlich die Wahrheit dieser Aussage behauptet hätte) ebenfalls nicht wahr gewesen wäre. Das aus eversa entstandene vera wurde sowohl bei der Anfertigung von B, bei der das nachträglich hinzugefügte est versehentlich ausgelassen wurde, als auch bei der Korrektur von A, aber nicht bei der Ergänzung des in V ausgelassenen Textes übernommen. Vermutlich deshalb, weil für die Ergänzung dieses Textes der unkorrigierte Text von A als Vorlage



Anmerkungen §§ 28b–30

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diente, in dem das hinter eversa stehende esset zu einem überflüssig erscheinenden esse verschrieben war, hat der Korrektor von V dieses esset ausgelassen. Nach dieser Hypothese, die Yons Augensprung-Hypothese modifiziert, gehen sowohl der unkorrigierte Text von A als auch der in V am Rand ergänzte Text letztlich auf den Archetypus zurück, der die beiden Fehler der Wiederholung von capiet und der Hinzufügung von est enthielt, während der Text von B sowie der korrigierte Text von A letztlich auf die erwähnte Abschrift des Archetypus zurückgehen, die überdies den Fehler der Änderung von eversa in vera enthielt. §§ 28b–30. Der Exkurs, den dieser Abschnitt darstellt, dreht sich um das berühmte antifatalistische Argument, das uns unter der Bezeichnung »Untätigkeitsargument« (ἀργὸς λόγος) überliefert ist. Wie diese Bezeichnung bereits andeutet, soll es zeigen, daß jede menschliche Tätigkeit ihren Sinn verlöre, wenn alles, was geschieht, durch das Schicksal geschähe. Cicero nennt die Art und Weise, in der man argumentiert, wenn man es vorbringt, deshalb eine bestimmte »Art der Einholung von Antworten auf (entsprechend gestellte) Fragen« (genus … interrogationis: §29b) – vgl. §28b: »Man holt sich nämlich, (wenn man es vorbringt), nach folgendem Muster formulierte Antworten auf (entsprechend gestellte) Fragen ein« (Sic enim interrogant)  –, weil die Dialektiker, deren Argumentationspraxis bei seiner Ausarbeitung als Vorbild gedient zu haben scheint, Argumente in Gestalt von Streitgesprächen vorzutragen pflegten, die zwei Partner so miteinander führten, daß der eine dem anderen mit dem Ziel, eine von ihm verteidigte These zu widerlegen, Fragen stellte, auf die er Antworten von ihm erwarten durfte, die als Prämissen die Negation der fraglichen These als Konklusion abzuleiten erlaubten (zur Philosophenschule der Dialektiker vgl. den Abschnitt 3 der Einführung).

258

Anmerkungen §§ 28b–30

Cicero referiert das Untätigkeitsargument in einer seine allgemeine Form exemplifizierenden speziellen Fassung, in der es einen Kranken, der nur mit ärztlicher Hilfe von seiner Krankheit genesen kann, davon überzeugen soll, daß es sinnlos für ihn ist, die Hilfe eines Arztes in Anspruch zu nehmen (vgl. §§ 28b–29a). In dieser speziellen Fassung referiert es knapp 300 Jahre später auch der alexandrinische Theologe Origenes in seiner in griechischer Sprache verfaßten Abhandlung Contra Celsum (FDS 1005, Barnes 1985: 232f., Sharples 1991: 92–95 [Appendix A]), die unsere zweite Quelle für es ist. Barnes hat nachzuweisen versucht, daß es sich bei dem Referat Ciceros um eine wörtliche Übersetzung und bei dem Referat des Origenes um ein wörtliches Zitat eines Textstücks handelt, das aus Chrysipps verlorengegangener Schrift über das Schicksal stammt (vgl. 1985: 234–236, 239 [Anm. 34]). (Was Origenes betrifft, hat Bobzien bestritten, daß sich dieser Nachweis führen läßt [vgl. 1998: 207f.].) In seiner allgemeinen Form läßt sich das Argument folgendermaßen wiedergeben: (1) Wenn es dir vom Schicksal bestimmt ist, daß A mit dir geschieht, so wird A mit dir geschehen, ob du nun (um zu erreichen oder zu verhindern, daß A mit dir geschieht) B tust oder B nicht tust. (2) Wenn es dir vom Schicksal bestimmt ist, daß A nicht mit dir geschieht, so wird A nicht mit dir geschehen, ob du nun (um zu erreichen oder zu verhindern, daß A mit dir geschieht) B tust oder B nicht tust. (3) Nun ist es dir aber entweder vom Schicksal bestimmt, daß A mit dir geschieht, oder es ist dir vom Schicksal bestimmt, daß A nicht mit dir geschieht. (4) Also hat es keinen Sinn, daß du (um zu erreichen oder zu verhindern, daß A mit dir geschieht) B tust oder B nicht tust.



Anmerkungen §§ 28b–30

259

Da aus den Prämissen (1), (2) und (3) lediglich der Satz folgt: »Entweder wird A, ob du nun B tust oder B nicht tust, mit dir geschehen, oder A wird, ob du nun B tust oder B nicht tust, nicht mit dir geschehen«, ist das Argument nur dann logisch korrekt, wenn die Konklusion (4) wiederum aus diesem Satz folgt, was offenbar für selbstverständlich gehalten und daher stillschweigend vorausgesetzt wurde (vgl. Bobzien 1998: 185f.). Aus Ciceros Bericht über den von Chrysipp unternommenen Versuch, das Argument zu widerlegen, geht klar hervor, daß Chrysipp es deshalb nicht für beweiskräftig hält, weil er der Meinung ist, daß die Klausel »ob du nun B tust oder B nicht tust« unvereinbar damit ist, daß es Fälle gibt, in denen die Ausführung einer Handlung B für das Eintreten eines Ereignisses A, dessen Eintreten vom Schicksal bestimmt ist, zwar keine hinreichende, aber doch eine notwendige Bedingung ist, und daß in diesen Fällen das Eintreten des Ereignisses A in dem Sinne nicht »einfach«, sondern »konfatal« (d. h. nicht bedingungslos, sondern zusammen mit der Erfüllung einer Bedingung vom Schicksal bestimmt) ist, daß zusammen mit ihm auch die Ausführung der Handlung B vom Schicksal bestimmt ist. Im Falle des als Beispiel angeführten Kranken ist die Krankheit, an der er leidet, von der Art, daß er, ohne ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, nicht von ihr genesen kann, so daß seine Genesung, wenn sie vom Schicksal bestimmt ist, zusammen damit vom Schicksal bestimmt ist, daß er sich von einem Arzt helfen läßt; und dem Thebanerkönig Laios kann natürlich, ohne daß er mit einer Frau Verkehr hätte, kein Sohn geboren werden, so daß die Geburt seines Sohnes Ödipus, wenn sie vom Schicksal bestimmt ist, zusammen damit vom Schicksal bestimmt ist, daß er mit einer Frau verkehrt (vgl. § 30). Chrysipp ist also offenbar der Meinung, daß in den genannten Fällen die Hinzufügung der fraglichen Klausel die erste Prämisse des Arguments falsch und das Argument selbst damit

260

Anmerkungen §§ 28b–30

zu einem Trugschluß macht. »(Zu schließen:) ›… so wirst du genesen, ob du nun einen Arzt hinzuziehst oder nicht‹ heißt, trügerisch zu schließen«, läßt Cicero ihn gegen die Prämisse (1) einwenden; »denn einen Arzt hinzuzuziehen ist ebenso vom Schicksal bestimmt wie zu genesen« (§  30). Mayet folgert daraus, daß Chrysipp »mit großer Wahrscheinlichkeit« (2010: 221) die erste Prämisse des Arguments für falsch hielt, zu Unrecht: »Dementsprechend musste er wohl auch die zweite Prämisse […] für falsch halten« (ebd.). Denn die zweite Prämisse ist offenbar nur in denjenigen Fällen falsch, in denen die Ausführung der Handlung B für das Eintreten des Ereignisses A nicht nur eine notwendige, sondern auch eine hinreichende Bedingung (und somit auch die Unterlassung von B für das Ausbleiben von A eine notwendige Bedingung) ist. Generell, so wird man annehmen dürfen, gilt nach Chrysipp, daß (i) dann, wenn entweder die Ausführung oder die Unterlassung von B für das Eintreten von A eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung ist, die erste Prämisse falsch und die zweite wahr ist, daß (ii) dann, wenn entweder die Ausführung oder die Unterlassung von B für das Ausbleiben von A eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung ist, die erste Prämisse wahr und die zweite falsch ist, daß (iii) dann, wenn entweder die Ausführung oder die Unterlassung von B entweder für das Eintreten oder für das Ausbleiben von A sowohl eine notwendige als auch eine hinreichende Bedingung ist, sowohl die erste als auch die zweite Prämisse falsch sind und daß (iv) dann, wenn weder die Ausführung noch die Unterlassung von B für das Eintreten oder das Ausbleiben von A eine notwendige Bedingung ist, sowohl die erste als auch die zweite Prämisse wahr sind. (Zu den Fällen (i), (ii) und (iv) vgl. Bob­ zien 1998: 203, 226. Wie der von Bobzien nicht berücksichtigte Fall (iii) zeigt, kann von den ersten beiden Prämissen nicht nur diejenige falsch sein, »in which the relation between a



Anmerkungen §§ 28b–30

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goal-­directed action and its prospective outcome is expressed« [1998: 203; vgl. 226].) Weiterhin wird man annehmen dürfen, daß nach Chrysipp für jede der ersten beiden Prämissen gilt, daß das, was ihrem Vordersatz zufolge vom Schicksal bestimmt ist, dann, wenn sie falsch ist, konfatal und dann, wenn sie wahr ist, je nachdem, ob das, was ihr zufolge für B gilt, auch für jede andere mögliche Handlung des von A betroffenen Menschen gilt oder nicht, einfach oder konfatal ist. Von dem, was dem Kranken, den Cicero als Beispiel anführt, vom Schicksal bestimmt ist, will Chrysipp, auf den dieses Beispiel vermutlich zurückgeht, also wohl kaum, wie Mayet ihm unterstellt, »pauschal aussagen, es handle sich dabei um ein ›konfatales‹ Ereignis« (2010: 220); und bei einem »einfachen« Ereignis stellt sich die von ihr aufgeworfene Frage, »welche der möglicherweise involvierten Handlungen die für das Erreichen des fatum-bestimmten Resultats ›notwendige Bedingung‹ ist« (ebd.), überhaupt nicht, da bei einem solchen Ereignis keine mögliche Handlung des von ihm betroffenen Menschen für das Erreichen des vom Schicksal bestimmten Resultats eine notwendige Bedingung ist. Wenn für Sokrates »der Tag seines Todes festgesetzt ist, ob er nun etwas dazu beiträgt oder nicht« (§ 30), ist nichts von dem, was er tun kann, eine notwendige Bedingung dafür, daß er an dem für ihn festgesetzten Tag stirbt, so daß er dadurch, daß er es nicht täte, verhindern könnte, daß er an diesem Tag stirbt. Aus den vorangehenden Überlegungen ergibt sich folgendes Kriterium für die Unterscheidung zwischen dem, was jemandem als etwas »Einfaches« bedingungslos, und dem, was ihm als etwas »Konfatales« zusammen mit der Erfüllung einer Bedingung vom Schicksal bestimmt ist: Ob (1) das Eintreten eines Ereignisses A einem Menschen (a) als etwas Einfaches oder (b) als etwas Konfatales vom Schicksal bestimmt ist, hängt davon ab, ob es unter den Handlungen, die

262

Anmerkungen §§ 28b–30

er sowohl ausführen als auch unterlassen kann, (a) weder irgendeine gibt, deren Ausführung für das Ausbleiben von A eine hinreichende (und deren Unterlassung somit für das Eintreten von A eine notwendige) Bedingung ist, noch irgendeine, deren Ausführung für das Eintreten von A eine notwendige (und deren Unterlassung somit für das Ausbleiben von A eine hinreichende) Bedingung ist, oder ob es unter diesen Handlungen (b) entweder eine der zuerst genannten Art gibt, deren Unterlassung dann zusammen mit dem Eintreten von A vom Schicksal bestimmt ist, oder eine der zuletzt genannten Art, deren Ausführung dann zusammen mit dem Eintreten von A vom Schicksal bestimmt ist, oder sowohl eine der zuerst genannten als auch eine der zuletzt genannten Art. Das Eintreten eines Ereignisses A ist nach diesem Kriterium – nennen wir es K – also genau dann einfach, wenn gilt: (1a) ∼(∃x)N(Fx → ∼p) & ∼(∃x)N(∼Fx → ∼p),

was logisch äqivalent ist mit:

(1′a) ∼(∃x)∼M(p & Fx) & ∼(∃x)∼M(p & ∼Fx),

und genau dann konfatal, wenn gilt, was durch die Formel (1a) negiert wird, nämlich: (1b) (∃x)N(Fx → ∼p) ∨ (∃x)N(∼Fx → ∼p),

was logisch äqivalent ist mit:

(1′b) (∃x)∼M(p & Fx) ∨ (∃x)∼M(p & ∼Fx).

(N/M := Es ist notwendig/möglich, daß …; Fx/∼Fx := Die Handlung x wird von dem Menschen, den das Ereignis A betrifft, ausgeführt/unterlassen, p/∼p := Das Ereignis A wird eintreten/ ausbleiben.) Was (2) das Ausbleiben des Ereignisses A betrifft, so erhält man die entsprechenden Definitionen, wenn man in den For-



Anmerkungen §§ 28b–30

263

meln (1a) und (1b) ∼p durch p und in den Formeln (1′a) und (1′b) p durch ∼p ersetzt: (2a) ∼(∃x)N(Fx → p) & ∼(∃x)N(∼Fx → p),

(2′a) ∼(∃x)∼M(∼p & Fx) & ∼(∃x)∼M(∼p & ∼Fx); (2b) (∃x)N(Fx → p) ∨ (∃x)N(∼Fx → p),

(2′b) (∃x)∼M(∼p & Fx) ∨ (∃x)∼M(∼p & ∼Fx).

Dem Kriterium K läßt sich eine plausible Antwort auf die nicht leicht zu beantwortende Frage entnehmen, was in den ersten beiden Prämissen des Untätigkeitsarguments mit der Klausel »ob du nun B tust oder B nicht tust« genau gemeint ist. Auf den ersten Blick erscheint eine (im folgenden A genannte) Inter­ pretation naheliegend, nach der diese Klausel so zu verstehen ist, daß der Nachsatz der Prämisse (1) besagt, daß A sowohl dann, wenn du B tust, als auch dann, wenn du B nicht tust, notwendigerweise mit dir geschehen wird: (1A) N(Fb → p) & N(∼Fb → p), und der Nachsatz der Prämisse (2), daß A sowohl dann, wenn du B tust, als auch dann, wenn du B nicht tust, notwendigerweise nicht mit dir geschehen wird: (2A) N(Fb → ∼p) & N(∼Fb → ∼p).

(Fb/∼Fb  :=  Die Handlung B wird von dir ausgeführt/unter­ lassen [Du tust/tust nicht B], p/∼p := Das Ereignis A wird eintreten/ausbleiben [A wird/wird nicht mit dir geschehen].) Bobzien hat die Interpretation A mit der Begründung verworfen, daß (1A) keineswegs ausschließt, daß die Ausführung der Handlung B eine notwendige Bedingung für das Eintreten des Ereignisses A ist (vgl. 1998: 195), daß die Konjunktion (1A) also auch in der Form wahr sein kann, die sie erhält, wenn man

264

Anmerkungen §§ 28b–30

zu ihren beiden Gliedern ∼M(p & ∼Fb) (:= N(∼Fb → ∼p)) als drittes Konjunktionsglied hinzufügt. Dies ist zwar richtig, aber nicht der wahre Grund dafür, daß die Interpretation A den Sinn der fraglichen Klausel verfehlt. Denn in der durch das genannte dritte Konjunktionsglied erweiterten Form kann (1A) ja (da andernfalls p und ∼p zusammen wahr sein könnten, was ausgeschlossen ist) nur unter der Voraussetzung wahr sein, daß es unmöglich ist, daß ∼Fb, also unmöglich, daß die Handlung B unterlassen wird; und da das Untätigkeitsargument offenbar voraussetzt, daß sowohl die Ausführung als auch die Unterlassung der Handlung B möglich ist, ist (1A) unter dieser Voraussetzung, wie gewünscht, unvereinbar damit, daß die Ausführung der Handlung B eine notwendige Bedingung für das Eintreten des Ereignisses A ist. Der wahre Grund für die Unangemessenheit der Interpretation A ist der, daß die Ausführung der Handlung B dem ersten Konjunktionsglied von (1A) zufolge eine hinreichende Bedingung für das Eintreten des Ereignisses A ist, so daß diese Interpretation ausgerechnet diejenigen Fälle unberücksichtigt läßt, auf die sich das Untätigkeitsargument in erster Linie bezieht, nämlich die Fälle, in denen die Ausführung von B für das Eintreten von A lediglich eine notwendige Bedingung ist. Die Konsultation eines Arztes ist für den von Cicero als Beispiel angeführten Kranken die einzige Chance, wieder gesund zu werden, aber keine Garantie dafür, daß er wieder gesund wird; und Entsprechendes gilt auch im Falle des Laios-Beispiels. Als geeigneten Ersatz für die von ihr mit Recht, aber aus dem falschen Grund abgelehnte Interpretation A hat Bobzien eine (im folgenden B genannte) Interpretation vorgeschlagen, nach der mit der Klausel »ob du nun B tust oder B nicht tust« in der Prämisse (1) gemeint ist, daß die Ausführung der Handlung B keine notwendige Bedingung für das Eintreten des Ereignisses A ist: M(p & Fb) (:=  N( Fb → p)), und in der Prämisse



Anmerkungen §§ 28b–30

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(2), daß die Unterlassung der Handlung B keine notwendige Bedingung für das Ausbleiben (und ihre Ausführung somit keine hinreichende Bedingung für das Eintreten) des Ereignisses A ist: M(∼p & Fb) (:= ∼N(Fb → p)). (Vgl. 1998: 194f., 227; auf S. 227 ist in den Zeilen 17 und 18 jeweils »that p and you ϕ« [= daß p & Fb] in »that p and you don’t ϕ« [= daß p & ∼Fb] zu korrigieren.) Versteht man die fragliche Klausel im Sinne von B, so läßt sich das, was die Nachsätze der beiden Prämissen (1) und (2) besagen, folgendermaßen wiedergeben: (1B) p & M(p & ∼Fb),

(2B) ∼p & M(∼p & Fb).

Die Interpretation B hat gegenüber der Interpretation A zwar den Vorteil, daß sie genau diejenigen Fälle berücksichtigt, um die es beim Untätigkeitsargument hauptsächlich geht; sie hat ihr gegenüber aber auch einen Nachteil, nämlich den, daß sie jeweils nur eine der beiden alternativen Möglichkeiten berücksichtigt, von denen in der Klausel »ob du nun B tust oder B nicht tust« die Rede ist. In der ersten Prämisse bleibt die Möglichkeit, B zu tun, und in der zweiten die Möglichkeit, B nicht zu tun, unberücksichtigt. Ohne diesen Nachteil zu haben, hat auch eine dritte Interpretation C den Vorteil, den die Interpretation B besitzt, nämlich die Interpretation, die sich dem oben für die Unterscheidung zwischen einfachen und konfatalen Schicksalsbestimmungen vorgeschlagenen Kriterium K entnehmen läßt. Denn diese Interpretation unterscheidet sich von der Interpretation B darin, daß nach ihr in den Nachsätzen der beiden Prämissen (1) und (2) jeweils ein zusätzliches drittes Konjunktionsglied enthalten ist, nämlich M(p & Fb) (:= ∼N(Fb → ∼p)) im Nachsatz der Prämisse (1) und M(∼p & ∼Fb) (:= ∼N(∼Fb → p)) im Nachsatz der Prämisse (2):

266

Anmerkungen §§ 28b–30

(1C) p & M(p & ∼Fb) & M(p & Fb),

(2C) ∼p & M(∼p & Fb) & M(∼p & ∼Fb).

Als zusätzliche Konjunktionsglieder sind M(p & Fb) und M(∼p & ∼Fb) in den Nachsätzen der ersten beiden Prämissen des Untätigkeitsarguments zwar dann entbehrlich, wenn man sich bei der Analyse dieses Arguments auf die spezielle Fassung beschränkt, in der es von Cicero und Origenes referiert wird, da man ihre Wahrheit dann stillschweigend voraussetzen darf; analysiert man das Argument jedoch in seiner allgemeinen Form, so sind sie unverzichtbar. Denn neben dem Fall, auf den jene spezielle Fassung zugeschnitten ist, also dem Fall, in dem die Ausführung der Handlung B für das Eintreten des Ereignisses A eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung ist (I), sind dann ja auch (II) der Fall, in dem die Ausführung von B für das Ausbleiben von A, (III) der Fall, in dem die Unterlassung von B für das Eintreten von A, und (IV) der Fall, in dem die Unterlassung von B für das Ausbleiben von A eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung ist, zu berücksichtigen. Nun besagen die Nachsätze der ersten beiden Prämissen des Arguments zwar, wenn man die Klausel »ob du nun B tust oder B nicht tust« im Sinne von C versteht, in allen vier Fällen dasselbe, aber die beiden im Fall I entbehrlichen Konjunktionsglieder sind dann, wie man sich leicht klarmachen kann, im Fall II, in dem anstelle der ersten Prämisse die zweite falsch ist, unverzichtbar, während die beiden im Fall I unverzichtbaren Konjunktionsglieder im Fall II entbehrlich sind. Entsprechendes gilt für die Fälle III und IV, wobei im Fall III einerseits dieselbe Prämisse falsch ist wie im Fall I, andererseits aber dieselben Konjunktionsglieder unverzichtbar und dieselben entbehrlich sind wie im Fall II, während der Fall IV gerade umgekehrt, was die falsche Prämisse betrifft, mit dem Fall II und, was die unverzichtbaren und die entbehrlichen Konjunktionsglieder betrifft, mit dem Fall I übereinstimmt. Nur



Anmerkungen §§ 28b–30

267

die Interpretation C der fraglichen Klausel wird also dem Argument in seiner allgemeinen Form gerecht. Die drei von Cicero in §  30 angeführten Beispiele, nämlich das Sokrates-Beispiel, das Laios-Beispiel und das MilonBeispiel, scheinen auf den ersten Blick nicht glücklich gewählt zu sein. Durch das erste fühlt man sich zu dem Einwand herausgefordert, es sei zwar bedingungslos der Fall, daß Sokrates sterben wird, aber doch nicht, daß er an dem und dem Tag sterben wird; beim zweiten empfindet man es als störend, daß sich Laios, dem Apollo ja prophezeit hatte, er werde, falls er einen Sohn bekommen sollte, von diesem getötet werden, gar kein Kind wünschte; und beim dritten nimmt man daran Anstoß, daß als Bedingung dafür, daß Milon bei den Olympischen Spielen ringen wird, eine Bedingung genannt wird, deren Erfüllung nicht von einem Willensentschluß Milons abhängt, sondern vom Wollen eines anderen Menschen (vgl. Bobzien 1998: 200– 202, 215f., Wildberger II 2006: 919 [Anm. 1483], Mayet 2010: 206–208, 212f., 216). Was das Sokrates-Beispiel betrifft, so wird der genannte Einwand hinfällig, wenn man dieses Beispiel mit Sedley als eine Anspielung auf die (von Cicero in De div. I 52 angeführte) Stelle 44 A–B des Platonischen Dialogs Kriton versteht, an der Sokrates erzählt, ihm sei in einem Traum prophezeit worden, daß er am übernächsten Tag sterben werde. Denn angesichts dieser Prophezeiung war sein Todestag aus stoischer Sicht in der Tat, wie Cicero formuliert, »ob er nun etwas dazu beiträgt oder nicht, für ihn festgesetzt« (§  30), d.  h. »bedingungslos vom Schicksal bestimmt« (Sedley 1993: 317), so daß ihm nichts anders übrigblieb, als sich dieser Schicksalsbestimmung zu fügen und an dem fraglichen Tag freiwillig zu sterben, was er auch tat, oder sich gegen diese Schicksalsbestimmung aufzulehnen und an dem fraglichen Tag unfreiwillig zu sterben (vgl. Sedley 1993: 316f.).

268

Anmerkungen §§ 28b–30

Bobzien, die es für verfehlt hält, das Beispiel in dieser Weise zu deuten, rechnet mit der Möglichkeit, daß der Satz »Sokrates wird an jenem Tag sterben« ursprünglich nur »Sokrates wird sterben« (oder auch »Du wirst sterben«) lautete und von Cicero oder dessen Gewährsmann geändert wurde (vgl. 1998: 220). Ihr Einwand gegen Sedleys Deutung, sie impliziere, daß es auf der einen Seite in denjenigen Fällen, in denen keine Prophezeiung vorliege, kontraproduktiv sei, zwischen dem, was einem Menschen als etwas »Einfaches«, und dem, was ihm als etwas »Konfatales« vom Schicksal bestimmt ist, zu unterscheiden, da diese Unterscheidung beispielsweise einen Kranken, der keine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen wolle, zu der Ausrede verleite, es sei doch möglich, daß das Schicksal ihm das, was es ihm bezüglich seiner Krankheit bestimmt habe, als etwas Einfaches bestimmt habe, und daß es auf der anderen Seite in denjenigen Fällen, in denen eine Prophezeiung vorliege, obsolet sei, das Untätigkeitsargument vorzubringen, da dies nur dann sinnvoll sei, wenn sein Adressat nicht wisse, was das Schicksal ihm bestimmt habe (vgl. 1998: 218f.), ist keineswegs stichhaltig. Denn ein Kranker, dem bezüglich seiner Krankheit nichts prophezeit worden ist, hat ja, wenn seine Krankheit nicht unheilbar ist, überhaupt keinen Anlaß, mit der Möglichkeit einer einfachen Schicksalsbestimmung zu rechnen; und ein zum Tode Verurteilter, der bezüglich seines Todes eine Prophezeiung erhalten hat, gehört überhaupt nicht zu den Adressaten des Untätigkeitsarguments, da es ja gar kein angeblich sinnloses Tun gibt, von dem er durch dieses Argument abgebracht werden könnte, sondern allenfalls ein angeblich sinnvolles Tun, zu dem ihn jemand (wie Kriton Sokrates zur Flucht aus dem Gefängnis) ermuntern kann. Mayet, die anerkennt, daß Sedleys Deutung des Beispiels für die mit ihm verbundene Schwierigkeit »eine Lösung bietet« (2010: 222; siehe auch Jedan 2009: 35f.), glaubt dieser Deu-



Anmerkungen §§ 28b–30

269

tung folgendes Kriterium für die genannte Unterscheidung entnehmen zu können: Ob das Eintreten eines Ereignisses (a) als etwas »Einfaches« oder (b) als etwas »Konfatales« vom Schicksal bestimmt ist, hängt davon ab, ob die mit diesem Ereignis »verbundene ›Willenshandlung‹« des von ihm betroffenen Menschen, d. h. das, was der von diesem Ereignis betroffene Mensch im Zusammenhang mit diesem Ereignis wollen und tun kann, (a) »innerhalb« von ihm »zu finden ist« oder (b) »außerhalb« von ihm »in einem anderen Ereignis«, das mit ihm »untrennbar verbunden ist« (Mayet 2010: 214, 223). Da unklar ist, was mit der erläuterungsbedürftigen Rede von einer »innerhalb bzw. außerhalb« eines Ereignisses »liegenden ›Willenshandlung‹« (Mayet 2010: 218, 220, 221) genau gemeint ist – wäre die mit dem, was am Tag seines Todes mit ihm geschah, verbundene Willenshandlung des Sokrates auch dann innerhalb dessen zu finden gewesen, was an diesem Tag mit ihm geschah, wenn er an diesem Tag nach einem mißlungenen Fluchtversuch unfreiwillig gestorben wäre (vgl. Mayet 2010: 213, 214), und wenn ja, inwiefern? –, ist das von ihr vorgeschlagene Kriterium jedoch wenig hilfreich. Was das Laios-Beispiel und das Milon-Beispiel betrifft, so könnten zwei andere Beispiele, die Chrysipp an ihrer Stelle angeführt haben könnte, durch sie ersetzt worden sein. In einem Bericht über den von Chrysipp im zweiten Buch seiner Schrift über das Schicksal unternommenen Versuch, seine Schicksalslehre gegen den Vorwurf zu verteidigen, sie verführe den Menschen zur Untätigkeit, den uns der palästinensische Bischof Eusebius von Cäsarea überliefert hat (LS 62F; vgl. zu diesem Bericht Bobzien 1998: 208–214, Wildberger I 2006: 328–331, II 2006: 918–920, Mayet 2010: 208–212), erwähnt der Epikureer Diogenianos, ohne auf das Untätigkeitsargument ausdrücklich Bezug zu nehmen, mehrere Beispiele, die Chrysipp angeführt haben soll, um zu zeigen, daß einem Menschen vieles von dem,

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Anmerkungen §§ 28b–30

was ihm geschieht, zusammen damit vom Schicksal bestimmt ist, daß er will, daß es ihm geschieht, und auch entsprechend handelt. Zwei dieser Beispiele sind insofern Gegenstücke zum Laios- und zum Milon-Beispiel Ciceros, als in dem einen davon die Rede ist, daß es einem Mann zusammen damit, daß er mit einer Frau verkehren will, vom Schicksal bestimmt ist, Kinder zu bekommen, und in dem anderen davon, daß es dem Faustkämpfer Hegesarchos zusammen damit, daß er sich vor seinem Gegner zu schützen versucht, vom Schicksal bestimmt ist, den Kampf mit ihm unverletzt zu überstehen. Wenn man mit Bobzien von der Annahme ausgehen darf, daß Cicero und Diogenianos zwar letztlich aus derselben Quelle schöpften, daß diese Quelle in ihren Berichten aber in unterschiedlicher Weise ausgewertet ist (vgl. Bobzien 1998: 215), könnten diese beiden Beispiele durchaus, wie sie annimmt (vgl. 1998: 216f.), von Cicero (oder auch schon in Ciceros unmittelbarer Quelle) gegen das Laios-Beispiel und das Milon-Beispiel ausgetauscht worden sein. Auf ein mögliches Indiz dafür, daß zumindest die ersten beiden der in §  30 angeführten drei Beispiele, die Cicero ja als zwei bereits von Chrysipp selbst angeführte Beispiele zitiert, tatsächlich auf Chrysipp zurückgehen, hat Sedley aufmerksam gemacht (vgl. 1993: 320): Der Athener Sokrates, der so weise war, sich seiner Schicksalsbestimmung willig zu fügen, und der Thebaner Laios, der so töricht war, sich unwillig gegen sie aufzulehnen, stammen aus zwei Städten, die Cicero in § 7 im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Sympathielehre Chrysipps als Beispiele für zwei Orte anführt, deren unterschiedliches Klima auf den Charakter ihrer Bewohner entsprechend unterschiedliche Auswirkungen hat; und Milon, »der berühmteste Athlet der Antike« (Calanchini 2015: 107), ist nach Sedley (vgl. 1993: 320, Anm. 25) insofern ein passendes drittes Beispiel, als er ebenso wie Sokrates aus einer in der damaligen



Anmerkungen §§ 28b–30

271

Zeit für ihr gesundes Klima bekannten Stadt stammt, die in Ci­ ceros verlorengegangenem Bericht über Chrysipps Sympathielehre neben Athen und Theben erwähnt worden sein könnte, nämlich aus Kroton (dem heutigen Crotone in Unteritalien). Zugunsten der Annahme, daß es sich beim Laios-Beispiel um die nachträgliche Konkretisierung eines ursprünglich ganz allgemein formulierten Beispiels handelt, scheint zwar die Tatsache zu sprechen, daß Origenes, der im Zusammenhang mit dem Untätigkeitsargument ebenfalls auf Laios zu sprechen kommt – unmittelbar vor seinem Bericht über dieses Argument erwähnt er den Laios erteilten Orakelspruch Apollos  –, dieses Argument gerade nicht mit dem Hinweis darauf als Trugschluß zu entlarven versucht, daß Laios, ohne mit einer Frau zu schlafen, seinen Sohn Ödipus nicht hätte zeugen können, sondern mit dem Hinweis darauf, daß ein Mann, ohne mit einer Frau zu schlafen, nicht in der Lage ist, ein Kind zu zeugen (vgl. Bobzien 1998: 216 [Anm. 103], Wildberger II 2006: 918 [Anm. 1482]); angesichts der Tatsache, daß Cicero Chrysipp das LaiosBeispiel anführen läßt, dürfte jedoch die Annahme plausibler sein, daß Chrysipp dieses Beispiel auch tatsächlich gewählt hat, nämlich deshalb, weil er sich nicht mit dem Hinweis auf eine Binsenwahrheit begnügen, sondern dem Sokrates-Beispiel ein ihm ebenbürtiges Beispiel gegenüberstellen wollte, bei dem ebenfalls eine Prophezeiung eine Rolle spielt. (Bobziens Erklärung für diese, wie sie einräumt, wohl kaum zufällige Gemeinsamkeit zwischen den beiden Beispielen, vielleicht sei der Begriff der konfatalen Schicksalsbestimmung in der Zeit nach Chrysipp mit dem Begriff der bedingten Vorhersage vermischt worden [vgl. 1998: 181, 219], ist unbefriedigend.) Der mit dem Laios-Beispiel verbundene Vorteil, daß Laios der Empfänger eines göttlichen Orakels war, konnte den Nachteil, daß Laios gar nicht den Wunsch hatte, ein Kind zu bekommen, der die offenkundige Pointe dieses Beispiels ja nicht aus

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Anmerkungen §§ 28b–30

dem Blick geraten läßt und daher in Kauf genommen werden kann, in den Augen Chrysipps sicherlich aufwiegen; und vielleicht wurde dieses Beispiel ja deshalb, weil dieser Nachteil mit ihm verbunden ist, später zu dem Beispiel verallgemeinert, das Origenes und Diogenianos an seiner Stelle anführen. Anders liegen die Dinge beim Milon-Beispiel, bei dem es sich um eine auf Cicero zurückgehende Modifikation des von Diogenianos für Chrysipp bezeugten Hegesarchos-Beispiels handeln dürfte, die den Zweck dieses Beispiels verändert. Vermutlich soll das Milon-Beispiel gar nicht die Beweiskraft des Untätigkeitsarguments in Frage stellen, sondern lediglich erläutern, was es für etwas heißt, mit einer für es notwendigen Bedingung »verknüpft« (copulatum: § 30) zu sein (vgl. Bobzien 1998: 202 [Anm. 57], Mayet 2010: 217f., 223). Das Untätigkeitsargument wurde im Laufe der Geschichte immer wieder aufgegriffen. In einer Version, in der statt davon, daß das Eintreten oder das Ausbleiben des Ereignisses A vom Schicksal bestimmt ist, einfach davon die Rede ist, daß A eintreten bzw. ausbleiben wird, und statt davon, daß A, ob man nun B tut oder B nicht tut, eintreten bzw. ausbleiben wird, davon, daß A auch dann, wenn man B nicht tut, eintreten bzw. auch dann, wenn man B tut, ausbleiben wird, begegnet man dem Argument in den Naturwissenschaftlichen Untersuchungen (Naturales quaestiones) Senecas, der die Klausel »ob du nun B tust oder B nicht tust« offenbar nicht, wie Wildberger meint (vgl. I 2006: 327f., 331–336, II 2006: 920–922), im Sinne der ersten, sondern im Sinne der zweiten der drei Interpretationen A, B und C versteht (vgl. Bobzien 1998: 189, 194 [Anm. 38 und 39], 204). Leibniz, für den die Widerlegung des Arguments in seiner Theodizee ein wichtiges Anliegen ist (vgl. Platz 1973: 116f., 118–161), geht bereits in der Vorrede zu dieser Abhandlung auf es ein und erörtert es dann in ihrem ersten Teil (§ 55), kommt aber auch in anderen Schriften auf es zu sprechen (vgl. Platz



Anmerkungen §§ 28b–30

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1973: 117, Anm.  1). Kant erwähnt es unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Cicero in seiner Kritik der reinen Vernunft (KrV, A 689 / B 717, Anm. *); und dem britischen Logiker und Sprachphilosophen Michael Dummett verdanken wir folgenden Bericht über eine (formal mit der Version Senecas übereinstimmende) moderne Variante des Arguments, die, so Dummett, »in London während der Bombenangriffe sehr beliebt« war (1982: 165): »Die Sirene heult, und ich mache mich auf den Weg in den Luftschutzkeller, um dem Bombentod zu entgehen. Der Fatalist redet mir zu: ›Entweder wirst du von einer Bombe getötet oder du wirst es nicht. Wenn ja, dann werden alle deine Vorsichtsmaßnahmen nichts fruchten. Wirst du nicht getötet, dann sind alle deine Vorsichtsmaßnahmen überflüssig. Deshalb ist es witzlos, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.‹« Daß Cicero im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Logik Chrysipps auf das Untätigkeitsargument und Chrysipps Versuch, es zu widerlegen, eingeht, hat offenbar folgenden Grund: Dieses Argument läßt sich so abwandeln, daß es nicht nur die Position Chrysipps, sondern auch die Position derjenigen in Frage zu stellen scheint, die zwar im Gegensatz zu Chrysipp nicht an das Schicksal glauben, aber in Übereinstimmung mit ihm das Bivalenzprinzip für gültig halten, nämlich so, daß in seinen Prämissen anstelle davon, daß das Eintreten oder das Ausbleiben dieses oder jenes Ereignisses vom Schicksal bestimmt ist, davon die Rede ist, daß der Satz, der das Eintreten des betreffenden Ereignisses vorhersagt, von Ewigkeit her wahr bzw. falsch gewesen ist (vgl. §  29b). Wenn Cicero bemerkt: »Uns wird auch das bekannte Untätigkeitsargument, wie man es nennt, keine Hindernisse in den Weg legen« (§ 28b), so will er damit sagen: Dieses Argument, das für Chrysipp sowohl in seiner ursprünglichen Gestalt hinderlich ist, in der es seinem Glauben an das Schicksal ein Hindernis in den Weg legt, als auch in der beschriebenen abgewandelten Form,

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Anmerkungen §§ 31–33

in der es für seine Überzeugung von der Allgemeingültigkeit des Bivalenzprinzips ein Hindernis darstellt, ist für uns, d. h. für mich und die Neuakademiker, weder in seiner ursprünglichen Gestalt hinderlich, da wir ja nicht an das Schicksal glauben, noch in jener abgewandelten Form, da wir das Bivalenzprinzip zwar für gültig halten, es aber nicht in dem fatalistischen Sinne verstehen, in dem es von Chrysipp verstanden wird (vgl. Schallenberg 2008: 197–199; zur Einbeziehung des Untätigkeitsarguments in die Diskussion über das Bivalenzprinzip siehe auch Yon 1933: XXV [Anm. 1], Hamelin 1978: 55f., Marwede 1984: 190f., Mayet 2010: 200 [Anm. 420]). §§ 31–33. Karneades, über dessen Stellungnahme zum Untätigkeitsargument Cicero ebenfalls berichtet, hat Ciceros Bericht zufolge ein antifatalistisches Argument vorgebracht, das sich nicht auf der Grundlage der Voraussetzungen widerlegen läßt, auf deren Grundlage Chrysipp das Untätigkeitsargument als Trugschluß entlarven konnte, da es diese Voraussetzungen selbst in Frage stellt. Diesem Argument zufolge (zu seiner logischen Struktur vgl. Schallenberg 2008: 205–207) ist es deshalb nicht der Fall, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht, weil dann, wenn dies der Fall wäre, alle Dinge aufgrund von Ursachen geschähen, die Glieder endlos langer Ursachenketten wären und sie daher mit Notwendigkeit verursachen würden, so daß nichts in unserer Macht stünde, was jedoch, da es Dinge gibt, die in unserer Macht stehen, nicht der Fall ist (vgl. § 31). Auch dieses Argument läßt sich so abwandeln, daß es nicht nur die Position der Stoiker, sondern auch die Position der Neuakademiker in Frage zu stellen scheint, nämlich so, daß die Rede davon, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal und somit aufgrund vorhergehender Ursachen geschieht, durch die Rede davon ersetzt wird, daß es von allem, was geschieht, bevor es geschah, schon immer wahr war zu behaupten, daß es gesche-



Anmerkungen §§ 31–33

275

hen würde. Wie im Falle des Untätigkeitsarguments, so ist auch in diesem Fall der Versuch, aus einem für die Stoiker bedroh­ lichen Argument gegen die allumfassende Macht des Schicksals ein auch für die Neuakademiker bedrohliches Argument gegen die Gültigkeit des Bivalenzprinzips zu machen, deshalb verfehlt, weil die Neuakademiker das Bivalenzprinzip im Gegensatz zu den Stoikern in einem Sinne verstehen, in dem es unabhängig davon gültig ist, ob alles, was geschieht, von jeher kausal determiniert ist oder nicht (vgl. § 32a). Wenn die Gültigkeit des Bivalenzprinzips nicht impliziert, daß alles, was geschieht, schon immer eine Ursache hatte, so impliziert seine Gültigkeit auch nicht, daß alles, was geschieht, schon immer vorhergesehen und vorhergesagt werden konnte. Denn um vorhergesehen und vorhergesagt werden zu können, müssen zukünftige Ereignisse durch Ursachen bewirkt sein, die bereits in der Gegenwart vorhanden sind und dadurch auf das zukünftige Eintreten ihrer Wirkungen zu schließen erlauben. Cicero referiert diese von ihm geteilte Auffassung, die er Karneades zuschreibt, mit den Worten: »Erst dann, wenn man im Falle eines jeden Ereignisses die es bewirkenden Ursachen erkannt habe, könne man nämlich wissen, was in Zukunft geschehen werde« (§ 33). Dadurch, daß Karneades die Wahrheit wahrer zukunftsbezogener Aussagen als eine Eigenschaft begreift, die solchen Aussagen unabhängig von der Art der Verursachung der Ereignisse zukommt, auf die sie sich beziehen, begreift er ihre Wahrheit zugleich als eine von der Vorhersagbarkeit dieser Ereignisse unabhängige Eigenschaft und vertritt damit eine Theorie, die im Gegensatz zu derjenigen der Stoiker »ungebunden« ist »und frei« (§ 33). Mit denjenigen, von denen er sagt, daß sie eine solche ungebundene und freie Theorie vertreten, meint Cicero nicht die Megariker – so Bayer im Anschluß an Turnebus, der von den »Diodoreern« spricht (vgl. Bayer 2000: 53, 152f.) –, sondern die Neuakademiker.

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Anmerkungen §§ 34–37a

In §§ 40–43 berichtet Cicero über ein antifatalistisches Argument und Chrysipps Stellungnahme zu ihm, das Karneades mit dem Argument, das Cicero ihn in § 31 vorbringen läßt, aufzugreifen scheint. Davon, daß sich Karneades mit der Stellungnahme Chrysipps zu diesem Argument auseinandergesetzt hätte, ist in den erhalten gebliebenen Teilen von De fato zwar nirgends die Rede; aber möglicherweise hat Cicero die Kritik, die er in dem in der Lücke C verlorengegangenen Text an Chrysipps Versuch, das fragliche Argument zu widerlegen, vermutlich geübt hat, von Karneades übernommen (vgl. Marwede 1984: 198). §§ 34–37a. In dem einleitenden Fragesatz Quod si concedatur nihil posse evenire nisi causa antecedente, quid proficiatur, si ea causa non ex aeternis causis apta ducatur? (§ 34) dürfte die Lesart ducatur (Yon 1933: 18, Bayer 2000: 52, Marwede 1984: 59, Magris 1994: 62, Maso 2014: 68) der bei weitem nicht so gut bezeugten Lesart dicatur (Rackham 1942: 230, Giomini 1975: 166, Sharples 1991: 80, Ioppolo 2012: 110 [Anm. 29; vgl. jedoch 111, Anm. 33, und 116, Anm. 52: »ducatur«], Calanchini 2015: 48) vorzuziehen sein; und mit non soll wohl nicht ducatur (vgl. Yon 1933: 18, Maso 2014: 69) oder dicatur (vgl. Sharples 1991: 81, 1995: 263, Ioppolo 2012: 110), sondern ex aeternis causis apta (vgl. Bayer 2000: 53, Magris 1994: 63, Calanchini 2015: 49) verneint werden (vgl. De or. II 258: ea quoque … non in re, sed in verbis posita ducantur). Der Satz dürfte also so zu verstehen sein, daß er die Frage formuliert: »Wenn man nun zugäbe, daß nichts ohne eine (ihm) vorhergehende Ursache geschehen kann, was wäre damit gewonnen, wenn man eine solche Ursache für eine Ursache halten müßte, die nicht von (einer) ewigen (Reihe weiterer) Ursachen abhängt?« Hinter dieser rhetorischen Frage, auf die Cicero natürlich die Antwort »Nichts wäre damit gewonnen« erwartet (vgl. Marwede 1984: 203), verbirgt sich eine Kritik an der stoischen



Anmerkungen §§ 34–37a

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Kausaltheorie, die sich folgendermaßen umschreiben läßt: Die These, daß kein Ereignis ohne eine ihm vorhergehende Ursache stattfinden kann, vermöchte das fatalistische Weltbild der Stoiker nur dann zu stützen, wenn sie unter der Voraussetzung wahr wäre, daß mit ihr gemeint ist, daß jedem Ereignis y ein anderes Ereignis x zeitlich vorhergeht, das y »mit Notwendigkeit bewirkt« (§ 36), dessen Stattfinden also eine hinreichende Bedingung dafür ist, daß y stattfindet: (1) (∀y)(∃x)(x < y & N(Fx → Fy)) (x < y  := Das Ereignis x geht dem Ereignis y zeitlich vorher, Fx/Fy  := Das Ereignis x/y findet statt; N  := Es ist notwendig, daß …). Unter der Voraussetzung, daß dies mit ihr gemeint ist, ist die fragliche These jedoch falsch. Wahr ist sie nur unter einer Voraussetzung, unter der die Stoiker keinen Gewinn für ihre Schicksalslehre aus ihr ziehen können und unter der das, was in ihr als Ursache bezeichnet wird, eigentlich gar keine Ursache ist, nämlich nur unter der Voraussetzung, daß mit ihr gemeint ist, daß jedem Ereignis y ein anderes Ereignis x zeitlich vorhergeht, für das gilt, daß y »ohne es nicht bewirkt werden kann« (§ 36), daß sein Stattfinden also eine notwendige Bedingung dafür ist, daß y stattfindet: (2) (∀y)(∃x)(x < y & N(∼Fx → ∼Fy)).

Daß es den Stoikern unter der Voraussetzung, daß letzteres mit der fraglichen These gemeint ist, nichts nutzt, diese These zur Stützung ihrer Schicksalslehre in Anspruch zu nehmen, hat folgenden Grund: Zeitlich aufeinanderfolgende Ereignisse, die nicht in der Weise miteinander verknüpft sind, daß im Sinne von (1) jedes von ihnen auf ein anderes folgt, dessen Stattfinden dafür, daß es seinerseits stattfindet, eine hinreichende Bedingung und damit im eigentlichen Sinne des Wortes eine Ursache ist, sondern lediglich in der Weise, daß im Sinne von (2)

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Anmerkungen §§ 34–37a

jedes von ihnen auf ein anderes folgt, dessen Stattfinden eine notwendige Bedingung dafür ist, daß es seinerseits stattfindet, bilden keine Kette, deren noch zukünftige Glieder durch das gerade gegenwärtige und die bereits vergangenen kausal determiniert wären, sondern lediglich eine Kette, deren bereits vergangene Glieder von dem gerade gegenwärtigen und den noch zukünftigen vorausgesetzt werden, so daß nie ein späteres Glied y aus einem früheren Glied x, sondern immer nur ein früheres Glied x aus einem späteren Glied y erschlossen werden kann (N(∼Fx → ∼Fy) ↔ N(Fy → Fx)). Den Stoikern kommt es aber gerade darauf an, daß das Zukünftige durch das Gegenwärtige und das Vergangene ursächlich bestimmt und infolgedessen vorhersehbar und vorhersagbar ist. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, daß die Relation der Verursachung für die Stoiker keine zwischen zwei Ereignissen bestehende Relation ist, sondern eine Relation, die zwischen einem körperlichen Gegenstand und einer einem anderen körperlichen Gegenstand zukommenden Eigenschaft besteht. Mit der Rede davon, daß ein Ereignis A ein anderes Ereignis B, dieses wiederum ein weiteres Ereignis C usw. verursacht, ist daher im Rahmen der stoischen Kausaltheorie gemeint, daß ein Gegenstand, mit dem A geschieht (d. h. das, was geschieht, wenn das Ereignis A stattfindet), aufgrund dessen, daß A mit ihm geschieht, die Ursache dafür ist, daß mit einem anderen Gegenstand B geschieht, daß dieser Gegenstand aufgrund dessen, daß B mit ihm geschieht, wiederum die Ursache dafür ist, daß mit einem weiteren Gegenstand C geschieht, usw. (Vgl. hierzu Long/Sedley I 1987: 343, Bobzien 1998: 18f., 1999: 198, Schallenberg 2008: 12 [Anm. 15].) In §§ 34–35 führt Cicero neben zwei Beispielen aus dem Alltagsleben – mein Gang zum Marsfeld war dafür, daß ich dort Ball spielte, und der gut gekleidete Reisende dafür, daß ihn ein Wegelagerer seiner Kleider beraubte, keine Ursache, sondern



Anmerkungen §§ 34–37a

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lediglich eine notwendige Bedingung – drei der griechischen Mythologie entlehnte Beispiele für Ereignisse an, die keine Glieder einer Ursachenkette sind, die diesen Namen verdient, sondern lediglich Glieder einer Kette notwendiger Bedingungen: Ohne daß Hekabe den auch Alexander genannten Paris geboren hätte, hätte dieser nicht die Helena entführen und dadurch den mit der Eroberung Trojas endenden Trojanischen Krieg auslösen können; ohne daß Tyndareos die Klytämnestra gezeugt hätte, hätte diese ihren Gatten Agamemnon nicht töten können; und ohne daß die Bäume, aus denen das Schiff Argo gebaut wurde, nicht gefällt worden wären, hätte Jason nicht mit diesem Schiff nach Kolchis segeln und Medea, die er dort kennenlernte, nicht aus Liebe zu ihm ihre Heimat verlassen, die Ehe mit ihm eingehen und schließlich einer anderen Frau wegen von ihm verstoßen werden können. Das letzte dieser drei Beispiele war in der Antike ein Standardbeispiel für das, was Cicero mit den Worten »im Rückgriff auf immer Früheres unendlich weit zurückgehen« (superiora repetentem regredi infinite: § 35) umschreibt, also ein Standardbeispiel für das, was man einen unendlichen Regreß zu nennen pflegt (vgl. Sharples 1991: 184, Schallenberg 2008: 210 [Anm. 391]). Cicero führt es in Form eines Zitats an, indem er aus der Medea des römischen Dichters Ennius (239–169 v.  Chr.), einer nur fragmentarisch erhalten gebliebenen lateinischen Nachdichtung der gleichnamigen griechischen Tragödie des Euripides (5. Jh. v. Chr.), auszugsweise die Verse zitiert – es handelt sich um jambische Trimeter, die in der vorliegenden Übersetzung nachgebildet wurden –, mit denen die Kinderfrau Medeas im Prolog das Leid ihrer Herrin beklagt. Die letzten beiden Verse seines Zitats (»Denn nie wär’ irrend meine Herrin durchgebrannt, | Medea, kranken Herzens, wund von Liebespein«) sind in einen nicht leicht zu verstehenden Satz eingebettet, dessen Deutung umstritten ist und der schon früh in

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Anmerkungen §§ 34–37a

den Verdacht geraten ist, fehlerhaft überliefert zu sein, nämlich in den unmittelbar auf den Satz Quorsum haec praeterita? (»Wor­ auf zielen [die Verse, in denen er auf] diese vergangenen Ereignisse [zurückgreift]?«) folgenden Satz Quia sequitur illud: »Nam numquam era errans mea domo ecferret pedem  | Medea, animo aegro, amore saevo saucia«, non ut eae res causam afferrent amoris (§ 35; zur Verwendung des Konjunktivs Imperfekt ecferret statt des zu erwartenden Konjunktivs Plusquamperfekt vgl. B ­ urkard/ Schauer 2012: 822 [§ 562, 3a]). Anlaß zu dem Verdacht, daß dieser Satz fehlerhaft überliefert ist, haben die ihn abschließenden Worte non ut eae res causam afferrent amoris gegeben, vor denen Dionysius Lambinus, ein Herausgeber aus dem 16. Jahrhundert, dem sich Yon (vgl. 1933: 19), Bayer (vgl. 2000: 91, 154) und Marwede (vgl. 1984: 211) angeschlossen haben, eine Lücke vermutet, an deren Anfang Rackham in der Annahme, sie hätten ursprünglich einen selbständigen Satz gebildet (»Es war nicht der Fall, daß …«), hinter non ein erat vermißt (vgl. 1942: 232, 233), die Johann Jakob Hottinger in Num, ut eae res causam afferrent amoris? zu korrigieren und in Gestalt dieses Fragesatzes unmittelbar hinter Quorsum haec praeterita? zu stellen vorschlägt (vgl. 1817: 172f.) und von denen Schäublin (vgl. 1997: 43f.), dem sich Calanchini angeschlossen hat (vgl. 2015: 50, 71), annimmt, sie hätten ursprünglich in Gestalt des Fragesatzes an ut eae res causam afferrent amoris? zusammen mit den Worten Quia sequitur illud: »…« eine Doppelfrage gebildet: »Weil dies folgt: …, oder sollten die genannten Umstände die Ursache für ihre Liebe liefern?« (Calanchini 2015: 51). Unter Verzicht auf einen Eingriff in den überlieferten Text hat Stüve, dem Giomini im textkritischen Apparat seiner Ausgabe beipflichtet (vgl. 1975: 167), den fraglichen Satz in dem Sinne zu deuten versucht, daß Cicero mit ihm sagen will, Ennius habe die Verse, in denen vom Bau der Argo und dem Fällen der



Anmerkungen §§ 34–37a

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Bäume, aus deren Holz sie gebaut wurde, die Rede ist, nicht in der Absicht schreiben dürfen, die in ihnen erwähnten Ereignisse als Ursache für die Liebe der Medea anzuführen, sondern nur deshalb, weil Medeas Liebe auf diese Ereignisse folge (vgl. Stüve 1895: 44). Stüve ist also der Ansicht, daß sequitur im Sinne eines zeitlichen Folgens zu verstehen ist und daß man den ut-Satz als einen dem quia-Satz korrespondierenden finalen Adverbialsatz aufzufassen hat. Schäublin, der diese Ansicht teilt (vgl. 1997: 44, Anm. 12), will den fraglichen Satz deshalb nicht als eine Antwort auf die Frage Quorsum haec praeterita? verstanden wissen, sondern als die Doppelfrage, die mit ihm formuliert wird, wenn man non ut in an ut korrigiert, weil er meint, der »Bescheid«, den Cicero anderenfalls »so unvermittelt und apodiktisch« verkünde, hänge »in der Luft, solange er nicht mit einer nachvollziehbaren Begründung gestützt« werde (1997: 43). Die Frage Quorsum haec praeterita? werde erst in § 36 beantwortet, meint Schäublin, nämlich mit dem Satz Nulla igitur earum est causa, quoniam nulla eam rem sua vi efficit, cuius causa dicitur (»Keines der genannten Ereignisse ist also eine Ursache, da ja keines das, wovon es angeblich die Ursache ist, aus eigener Kraft bewirkt«). Mit diesem Satz erteile Cicero auf die genannte Frage, nachdem er am Ende von § 35 mit dem Satz Quia … an ut …? zwei alternative Möglichkeiten, sie zu beantworten, zur Diskussion gestellt und am Anfang von § 36 mit dem Satz Interesse autem aiunt, utrum … an … (»Nun sagen sie aber, es sei ein Unterschied, ob … oder …«) die »Kriterien« eingeführt habe, »nach denen die Alternative geprüft werden« müsse, »in Form einer Folgerung die erwartete Antwort« (ebd.), die er zugleich mit einem Hinweis auf diese Kriterien begründe. Schäublins Konjektur wäre gerechtfertigt, wenn die Antwort, die Cicero dem überlieferten Text zufolge am Ende von § 35 auf die Frage Quorsum haec praeterita? gibt, tatsächlich »in

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Anmerkungen §§ 34–37a

der Luft« hinge. In Wirklichkeit ist diese Antwort jedoch durch das, was er bereits in § 34 über den Unterschied ausgeführt hat, von dem in § 36 die Rede ist – Schäublin weist selbst auf das in § 34 über diesen Unterschied Gesagte hin (vgl. 1997: 41) –, bestens vorbereitet, so daß man keinen Grund hat, hinter non ut ein ursprüngliches an ut zu vermuten. Sharples, der ebenso wie Stüve der Meinung ist, daß sich dem Text in seiner überlieferten Gestalt ein guter Sinn abgewinnen läßt, geht im Unterschied zu Stüve von der Annahme aus, daß mit sequitur nicht ein zeitliches Folgen auf etwas, sondern ein logisches Folgen aus etwas gemeint ist und daß der ut-Satz kein dem quia-Satz korrespondierender Finalsatz, sondern ein von sequitur abhängiger Konsekutivsatz ist: »The ut clause is a result clause, and depends, like what precedes it, on sequitur« (1991: 184). Mit dieser Annahme steht zwar seine Übersetzung in Einklang: »What is the point of these things in the past? That this follows […], but not this, that those things supplied the cause of her love« (1991: 83), aber nicht sein Kommentar: »it does not follow, from the fact that the building of the Argo was a necessary condition for Medea’s elopement (›never would my mistress …‹), that it was therefore the cause of it« (1991: 184). Denn wenn der ut-Satz ebenso wie die beiden Ennius-Verse, die ihm vorangehen, von sequitur abhängt, will Cicero mit den Worten non (sequitur) ut von dem, was der utSatz besagt, nicht behaupten, es folge nicht aus dem, was mit diesen Versen gemeint ist, sondern vielmehr, es folge nicht aus dem, wovon er dann mit den Worten sequitur illud behaupten will, daß das mit diesen Versen Gemeinte aus ihm folgt. Am besten wird man dem Text in seiner überlieferten Gestalt gerecht, wenn man zwar den ut-Satz mit Stüve als einen dem quia-Satz korrespondierenden finalen Adverbialsatz auffaßt, aber sequitur nicht, wie Stüve vorschlägt, in dem Sinne versteht, daß die zeitliche Aufeinanderfolge der von Ennius



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erwähnten Ereignisse gemeint ist, sondern in dem Sinne, daß Cicero, wie z. B. Yon (vgl. 1933: 19) und Bayer (vgl. 2000: 55) annehmen, das Folgen der beiden von ihm zuletzt zitierten Verse auf die von ihm zuerst zitierten meint. Da die beiden Wörter futura und praeterita in De fato unter weitgehender Vernachlässigung des Unterschieds zwischen zukünftigen bzw. vergangenen Ereignissen und zukunfts- bzw. vergangenheitsbezogenen Aussagen gebraucht werden (vgl. §§ 11b, 13, 14, 17b, 20a, 26a, 27, 32a, 33), ist es naheliegend, haec praeterita in der Bedeutung »die Verse, in denen Ennius auf diese vergangenen Ereignisse zurückgreift« oder »diese auf die Vergangenheit bezogenen Verse« als Objekt von sequitur aufzufassen. Was Cicero sagen will, ist offenbar folgendes: Der Rückgriff auf die vergangenen Ereignisse, auf die Ennius in den zuerst zitierten Versen zurückgreift, ist lediglich als ein Hinweis darauf zu verstehen, daß die Ereignisse, von denen er in den zuletzt zitierten Versen spricht, ohne sie nicht stattgefunden hätten, daß sie also notwendige Bedingungen für diese Ereignisse waren, und soll nicht etwa zeigen, daß sie diese Ereignisse verursacht hätten. Wenn Ennius jene vergangenen Ereignisse erwähnt, will er, mit anderen Worten, lediglich darauf hinweisen, daß sich Medea dann, wenn sie nicht stattgefunden hätten, nicht in Jason hätte verlieben und nicht mit ihm aus ihrer Heimat hätte fliehen können, und nicht etwa zeigen, daß sich Medea deshalb, weil sie stattfanden, in Jason verlieben und mit ihm aus ihrer Heimat fliehen mußte. Da der Text, wenn man ihn in diesem Sinne versteht, keiner Korrektur bedarf, ist es merkwürdig, daß ihn Magris, der ihn in diesem Sinne übersetzt (»Perché questo richiamo al passato? Per quel che segue: […]. Ma non perché ciò fosse esplicativo delle cause della passione di Medea« [1994: 63]), ebenso wie Yon (1933: 19), Bayer (2000: 54) und Marwede (1984: 60) als verderbt kennzeichnet (»† non ut …« [1994: 62]).

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Anmerkungen §§ 34–37a

Cicero gibt seiner Kritik an der stoischen Kausaltheorie dadurch eine zusätzliche Schärfe, daß er die Stoiker daran erinnert, daß sie ja selbst zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen unterscheiden: »Nun sagen sie aber (selbst), es sei ein Unterschied, ob etwas von der Art ist, daß ohne es etwas anderes nicht bewirkt werden kann, oder von der Art, daß mit ihm etwas anderes notwendigerweise bewirkt wird« (§ 36). Daß mit »sie« weder die Leute im allgemeinen noch Leute, die sich auskennen, gemeint sind, sondern die Stoiker, hält Sharples mit Recht für wahrscheinlich (vgl. 1995: 268; siehe auch Stüve 1895: 44f., Marwede 1984: 211, Sharples 1991: 184, Schallenberg 2008: 211, Ioppolo 2012: 113, Calanchini 2015: 116). »Die Akademiker« (d. h. die Neuakademiker), von denen Bayer annimmt, sie seien gemeint (2000: 55), erkennen den Unterschied, von dem an der zitierten Stelle die Rede ist, zwar an, scheiden aber, wenn die Stoiker ihn ebenfalls anerkennen, was offenbar der Fall ist, deshalb aus, weil Cicero, wenn er die Möglichkeit sah, die Stoiker unter Berufung auf eine Ansicht zu kritisieren, die sie mit ihren Gegnern teilen, wohl kaum so unklug war, diese Ansicht ihren Gegnern zuzuschreiben und nicht ihnen selbst. Daß die Stoiker den Unterschied zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen anerkennen, zeigt der Bericht, den uns Cicero in §§ 41–43 über den von Chrysipp unternommenen Versuch gibt, ein gegen die These, daß »alles durch das Schicksal« und folglich »durch eine (ihm) vorhergehende Ursache geschieht« (§ 40), gerichtetes Argument seiner Gegner mit Hilfe einer Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Ursachen zu widerlegen. Die umstrittene Frage, wie viele Arten von Ursachen Chrysipp diesem Bericht zufolge unterscheidet und wie seine Unterscheidung genau zu verstehen ist, dürfte folgendermaßen zu beantworten sein (vgl. hierzu den Abschnitt 4.4 der Einführung): Chrysipp unterscheidet zwei Arten von Ursachen, nämlich Ursachen, die insofern »vollen-



Anmerkungen §§ 34–37a

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det« sind, als sie »dem Rang nach als erste wirksam« sind (causae perfectae et principales: § 41), einerseits und Ursachen, die insofern »mithelfend« sind, als sie »dem Rang nach als nächste wirksam« sind (causae adiuvantes et proximae: ebd.), andererseits. Zwei oder mehrere zueinander passende Ursachen, von denen genau eine zur Art der vollendeten und mindestens eine zur Art der mithelfenden gehört, ergänzen sich gegenseitig in der Weise, daß sie als Teilursachen einer Gesamtursache eine Wirkung hervorbringen, für die sie getrennt voneinander notwendige und in Verbindung miteinander hinreichende Bedingungen sind. Bezeichnet man, indem man sich einer weniger strengen ­Redeweise bedient, bereits diejenige Teilbedingung eines Komplexes für sich allein notwendiger und in Verbindung miteinander hinreichender Bedingungen, die unter den jeweiligen Umständen die entscheidende Rolle spielt, als eine hinreichende Bedingung und dementsprechend nur noch diejenigen Teilbedingungen des betreffenden Bedingungskomplexes, die unter den jeweiligen Umständen eine untergeordnete Rolle spielen, als notwendige Bedingungen, so deckt sich die Unterscheidung zwischen vollendeten und mithelfenden Ursachen, die Cicero in §§ 41–43 Chrysipp zuschreibt, im wesentlichen mit der Unterscheidung zwischen hinreichenden und notwendigen Bedingungen, die er in § 36 den Stoikern zuschreibt. Zugunsten dieser Interpretation der Paragraphen 41–43 von De fato spricht die Art und Weise, in der Cicero in den Paragraphen 58–61 seiner nicht lange nach De fato verfaßten Topica (Sharples 1991: 94–97 [Appendix B]) zwischen »zwei Arten von Ursachen« (causarum … genera duo: §  58) unterscheidet. Die Unterscheidung, die er dort vornimmt, entspricht genau der von ihm in De fato 34–37a vorgenommenen Unterscheidung zwischen hinreichenden und notwendigen Bedingungen, ist aber insofern detaillierter, als er die beiden fraglichen Arten

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Anmerkungen §§ 34–37a

von Ursachen noch einmal in Unterarten einteilt. Diese Unterteilung ist in zweierlei Hinsicht aufschlußreich: Erstens unterscheidet Cicero, was die Art betrifft, zu der eine Ursache dann gehört, wenn sie etwas »aus eigener Kraft mit Sicherheit (d. h. notwendigerweise) bewirkt« (vi sua … certe efficit: Top. 58; vgl. De fato 36: … sua vi efficit, … efficit necessario), wenn sie also eine hinreichende Bedingung für das Verursachte ist, zwischen Ursachen, die ohne die Mithilfe von etwas anderem etwas bewirken, und Ursachen, die auf die Mithilfe von etwas anderem angewiesen sind (sunt enim aliae causae quae plane efficiant nulla re adiuvante, aliae quae adiuvari velint: Top. 59); und zweitens bemerkt er, nachdem er diejenigen Ursachen, »ohne die« etwas »nicht bewirkt werden kann« (sine quibus effici non potest: ebd.; vgl. De fato 36: sine quo effici aliquid non possit, … sine quo quippiam non fit), die also notwendige Bedingungen für das Verursachte sind, in die beiden Unterarten der inaktiven und der aktiven eingeteilt hat, zu den aktiven: »Aus Ursachen dieser Art, die in der Ewigkeit ihren Ausgangspunkt haben (d.  h. in ewige Zeiten zurückreichen), wird von den Stoikern das Netz des Schicksals geknüpft« (ex hoc genere causarum ex aeternitate pendentium fatum a Stoicis nectitur: Top. 59). Die Auffassung, die er mit dieser Bemerkung den Stoikern zuschreibt, läßt Cicero in De fato Chrysipp selbst mit den Worten zum Ausdruck bringen: »Wir wollen, wenn wir behaupten, alles geschehe durch das Schicksal aufgrund vorhergehender Ursachen, unter diesen Ursachen nicht vollendete, also rangmäßig als erste wirksame Ursachen verstanden wissen, sondern mithelfende, also rangmäßig als nächste wirksame Ursachen« (§  41). (Wie Schröder mit Recht hervorhebt [vgl. 1990: 11f., 14, 18–20; siehe auch Bobzien 1998: 324–329], darf diese Auffassung nicht mit der Auffassung verwechselt werden, das Schicksal sei selbst nur eine mithelfende Ursache, die Plutarch, der die von Cicero als »mithelfend und rangmäßig



Anmerkungen §§ 34–37a

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als nächste wirksam« bezeichneten Ursachen »initiatorisch« [προκαταρκτικός] nennt, Chrysipp als eine Auffassung unterstellt, mit der er sich im Widerspruch zu seiner Überzeugung von der Allmacht des Schicksals befinde [vgl. LS 55R; Sharples 1991: 100f. (Appendix D), 189, 198; Schallenberg 2008: 283, Anm. 610; Jedan 2009: 38–41].) Angesichts der Übereinstimmung, die in diesem Punkt zwischen De fato  41 und Top.  59 besteht, ist nicht auszuschließen, daß die beiden Texte auch darin übereinstimmen, daß mit den causae perfectae et principales, von denen in De fato  41 die Rede ist, diejenigen Ursachen gemeint sind, die in Top. 59 als Ursachen beschrieben werden, die zwar etwas bewirken, aber nur unter Mithilfe von etwas anderem, daß also Ursachen unter ihnen zu verstehen sind, die als Teilbedingungen von Bedingungskomplexen, die nur in ihrer Gesamtheit hinreichend sind, nur in einem eingeschränkten Sinne »vollendete« Ursachen sind, nämlich nur in dem Sinne, daß sie in dem Bedingungskomplex, zu dem sie jeweils gehören, die Rolle der entscheidenden Teilbedingung spielen. (Zu der Hypothese, daß es sich bei den sogenannten vollendeten Ursachen um Ursachen handelt, die nur in einem »weaker sense« vollendet sind, vgl. Sharples 1995: 254, Anm. 37 [siehe auch Sorabji 1980: 260f., Long/Sedley I 1987: 341, Sharples 1991: 200]. Zu dieser Hypothese, die es erlaubt, den Abschnitt De fato 41–43, in dem Schröder »nicht einmal impliziert« sieht, »daß die Beschaffenheit eines Menschen, der auf ein visum reagiert, als causa perfecta et principalis zu bezeichnen sei« [1990: 9, vgl. 15; siehe auch Bobzien 1999: 224], als einen dies implizierenden Text zu verstehen, passen auch die Beispiele, die Cicero im vorliegenden Abschnitt anführt: »So ist z. B. eine Verwundung für den Tod, schlechte Verdauung für eine Krankheit und Feuer für Glut die Ursache« [§ 34].) Wenn Cicero in Top. 58–61 sowohl hinreichende als auch notwendige Bedingungen Ursachen nennt, in De fato 34–37a

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Anmerkungen §§ 34–37a

hingegen das Wort »Ursache« (causa) für hinreichende Bedingungen reserviert, widerspricht er sich nur scheinbar. Denn an der zuerst genannten Stelle gebraucht er dieses Wort in Anlehnung an den Sprachgebrauch der Stoiker in einem weiteren Sinne, während er es an der zuletzt genannten Stelle im Rahmen seiner Kritik an der stoischen Kausaltheorie in der engeren Bedeutung verwendet, die er mit den Neuakademikern für die einzige Bedeutung hält, in der seine Verwendung zulässig ist. Der Ursachenbegriff der Stoiker ist allerdings, auch wenn er weiter ist als derjenige der Neuakademiker, nicht so weit wie derjenige, der uns in Ciceros Topik begegnet, in der wir »keine rein stoische Ursachengliederung vor uns haben, sondern ein Gebilde, das Cicero und seine Quelle […] zum Zwecke rhetorischer Verwertung aus verschiedenen Bereichen kompiliert hat« (Schröder 1990: 14, Anm.  31). Notwendige Bedingungen werden von den Stoikern nämlich nur dann als Ursachen anerkannt, wenn sie nicht passiv sind, sondern einen aktiven Beitrag zur Hervorbringung dessen leisten, was durch sie bedingt ist (vgl. Frede 1980: 220f., Schröder 1990: 14f. [Anm. 31], Sharples 1991: 196, 1995: 252–254, 258, 268), wobei sie dem durch sie Bedingten nicht unmittelbar vorhergehen müssen, wie Sharples anzunehmen scheint (vgl. 1995: 264f., 269–271), sondern, da sie ja zeitlich aufeinanderfolgende Glieder von Ursachenketten sind, auch zeitlich weiter von ihm entfernt sein können. Da die Stoiker mit der Behauptung, »alles geschehe durch das Schicksal aufgrund vorhergehender Ursachen« (§ 41), lediglich meinen, daß alles, was geschieht, aufgrund dessen durch das Schicksal geschieht, daß ihm notwendige Bedingungen dafür, daß es geschieht, vorhergehen, mißbrauchen sie in Ciceros Augen mit dieser Behauptung nicht nur das Wort »Ursache«, sondern höhlen mit ihr auch den Begriff des Schicksals völlig aus. Vermutlich hätten sich die Stoiker gegen diese Kritik unter Berufung darauf zu verteidigen versucht, daß sich die fragliche



Anmerkungen §§ 34–37a

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Behauptung nur auf einen bestimmten Aspekt dessen beziehe, was durch das Schicksal geschehe, nämlich auf den Aspekt, unter dem man das, was in der Welt geschieht, zu Gesicht bekomme, wenn man es sozusagen aus der Nähe (d. h. aus einem auf dieses oder jenes einzelne Geschehnis fixierten Blickwinkel) betrachte. Eine Reihe einem Ereignis A zeitlich vorhergehender Ereignisse B, C usw., die bei dieser Betrachtungsweise lediglich als eine Reihe für A notwendiger Bedingungen in den Blick gerate, erweise sich nämlich dann, wenn sie aus der Ferne (d. h. aus einer ihren Zusammenhang mit dem Weltgeschehen im ganzen berücksichtigenden Perspektive) betrachtet werde, als eine Reihe von Bedingungen, von denen jede durch eine Reihe gleichzeitig mit ihr erfüllter zusätzlicher Bedingungen – B durch die zusätzlichen Bedingungen B′, B″, …, C durch die zusätzlichen Bedingungen C′, C″, … usw. – zu einem für A hinreichenden Bedingungskomplex und damit zu einer Ursache für A im eigentlichen Sinne dieses Wortes ergänzt werde. (Zu der für die Beurteilung der stoischen Schicksalslehre wichtigen Unterscheidung zwischen den beiden genannten Perspektiven vgl. den Abschnitt 4.2 der Einführung.) Cicero hätte sich geweigert, diese Argumentation als stichhaltig anzuerkennen. Denn er hätte zwar eingeräumt, daß in jeder Kette zeitlich aufeinanderfolgender Ereignisse, von deren Gliedern jedes für das nächste eine notwendige Bedingung ist, jedes Glied zu einer Menge gleichzeitig mit ihm stattfindender Ereignisse gehört, deren übrige Elemente ebenfalls notwendige Bedingungen für das nächste Glied sind; aber er hätte entschieden bestritten, daß die Menge dieser Ereignisse im Falle eines jeden Gliedes ein für das nächste Glied hinreichender Bedingungskomplex ist. Daß er dies bestritten hätte, zeigt die Lehre, die er aus dem am Ende des vorliegenden Abschnitts von ihm angeführten Beispiel mit den Worten zieht: »Welche Ursache sollte denn (beispielsweise), bevor Philoktet durch ei-

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Anmerkungen §§ 34–37a

nen Schlangenbiß verwundet wurde, im Ganzen des Naturgeschehens dafür enthalten gewesen sein, daß es dazu kommen würde, daß man ihn auf der Insel Lemnos zurückläßt? Danach aber war eine Ursache vorhanden, die dem näherstand, was sich am Ende ergab, und enger damit verbunden war. Die Art und Weise, wie etwas ausgegangen ist, bringt also die Ursache (dafür, daß es so ausgegangen ist) ans Licht« (§ 36–37a). Die Philoktet-Episode – sie dreht sich um einen am Feldzug der Griechen gegen die Trojaner beteiligten Helden, den seine Gefährten auf der Fahrt nach Troja, nachdem ihn eine Schlange gebissen und ihm eine übelriechende Wunde zugefügt hatte, deren Gestank sie nicht ertragen konnten, auf der Insel Lemnos aussetzten – lehrt in Ciceros Augen, daß nicht alle Ereignisse Ursachen haben, die Glieder einer sich endlos in die Vergangenheit erstreckenden Ursachenkette sind, sondern daß es Ursachenketten gibt, die erst kurz vor dem Stattfinden des verursachten Ereignisses begonnen haben, weil erst kurz vor ihm ein anderes Ereignis stattgefunden hat, das eng genug mit ihm verbunden ist, um als seine Ursache (oder als eine seiner Ursachen) bezeichnet werden zu können. Die von Cicero offengelassene Frage, wie man sich im Falle solcher Ursachenketten deren Beginn genau vorzustellen hat, läßt sich folgendermaßen beantworten: Wenn es für ein zu einem gegebenen Zeitpunkt t stattfindendes Ereignis A zu einem  t vorhergehenden Zeitpunkt  t′ erstmals eine Ursache gab, waren zwar zu jedem t′ vorhergehenden Zeitpunkt t″ sowohl alle Bedingungen erfüllt, die zu t″ dafür notwendig waren, daß A zu t stattfinden würde, als auch alle Bedingungen, die zu t″ dafür notwendig waren, daß A zu t nicht stattfinden würde; aber zu t′ waren dann nur noch diejenigen Bedingungen alle erfüllt, die zu t′ dafür, daß A zu t stattfinden würde, notwendig waren, da die vollständige Erfüllung dieser Bedingungen dann die Erfüllung mindestens einer zu t′



Anmerkungen §§ 34–37a

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dafür, daß A zu t nicht stattfinden würde, notwendigen Bedingung ausschloß. Mit der Erfüllung der zu t′ für das Stattfinden von A zu t notwendigen Bedingungen war dann also zu t′ erstmals ein Komplex von Bedingungen erfüllt, der für das Stattfinden von A zu t hinreichend war. Die beiden Komplexe der in der Zeit vor t für das Stattfinden und der in der Zeit vor t für das Nichtstattfinden von A zu t jeweils notwendigen Bedingungen waren, mit anderen Worten, wenn es zu  t′ erstmals eine Ursache dafür gab, daß A zu t stattfinden würde, von t′ an nicht mehr miteinander verträglich, so daß die vollständige Erfüllung der Bedingungen, die zum ersten dieser beiden Komplexe gehören, von diesem Zeitpunkt an nicht mehr zuließ, daß auch die zum zweiten gehörenden Bedingungen alle erfüllt wurden, womit der erste zu einem für das Stattfinden von A zu t hinreichenden Bedingungskomplex wurde. Cicero hat diese Überlegung zwar nicht angestellt, jedenfalls nicht in dieser Form, ließ sich aber bei seiner Kritik an der Kausaltheorie der Stoiker offenbar von der ihr zugrunde liegenden Einsicht leiten, daß die Bedingungen, die zu den einem gegebenen Zeitpunkt  t vorhergehenden Zeitpunkten dafür, daß zu t ein bestimmtes Ereignis A stattfindet, jeweils notwendig sind, zu jedem dieser Zeitpunkte jeweils alle erfüllt sein können, ohne deshalb, wie die Stoiker irrtümlich annehmen, auch schon zu jedem dieser Zeitpunkte einen für das Stattfinden von A zu t hinreichenden Bedingungskomplex zu bilden. In der Ursachenkette, die mit dem Komplex derjenigen für das Stattfinden von A zu t notwendigen Bedingungen beginnt, die erstmals einen hierfür hinreichenden Bedingungskomplex bilden, machen die auf das erste Glied folgenden Glieder aus dem hinsichtlich seiner Individualität noch unbestimmten Ereignis einer bestimmten Art, als welches A vom ersten Glied verursacht wird, nach und nach das individuelle Ereignis der betreffenden Art, als welches A am Ende stattfindet, so daß Cicero

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Anmerkungen §§ 37b–38

sagen kann: »Die Art und Weise, wie etwas ausgegangen ist, bringt also die Ursache (dafür, daß es so ausgegangen ist) ans Licht« (Ratio igitur eventus aperit causam: § 37a). In dem diesem Satz unmittelbar vorangehenden Satz »Danach aber war eine Ursache vorhanden, die dem näherstand, was sich am Ende ergab, und enger damit verbunden war« (Post autem causa fuit propior et cum exitu iunctior: §  36) ist dem auf iunctior bezogenen cum exitu, wie Calanchini, deren Übersetzung dies klar zum Ausdruck bringt, richtig gesehen hat (vgl. 2015: 53), ein auf propior zu beziehendes exitu(i) zu entnehmen. Cicero hat sich hier des »Versparung« genannten Stilmittels bedient, das Kiefner, der eine Reihe von Beispielen für seine Verwendung bei Cicero anführt (vgl. 1964: 35, 37, 38, 40, 149), als »die Stellung eines sinngemäß zu zwei gleichgeordneten Satzgliedern gehörigen Satzteils erst zum zweiten Glied« (1964: 14) definiert. Zu dem als Hendiadyoin aufzufassenden Ausdruckspaar propior – iunctior vgl. Cluent. 30 (ea, quae propiora huiusce causae et adiunctiora sunt), wo das entsprechende Ausdruckspaar ebenfalls ein Hendiadyoin darstellt, die zu ihm gehörende Ergänzung aber nicht auf den zweiten Ausdruck »verspart«, sondern (ebenso wie an der Stelle Brutus 317: cum Hortensio mihi magis arbitrabar rem esse, quod et dicendi ardore eram propior et aetate coniunctior) »apo koinu« auf beide Ausdrücke bezogen ist (zur Unterscheidung zwischen den beiden Stilelementen der Versparung und des σχῆμα ἀπὸ κοινοῦ vgl. Kiefner 1964: 5–16). §§ 37b–38. Cicero nimmt in diesem Abschnitt die Kritik wieder auf, die er in §§ 9, 21b und 28a an der Auffassung Epikurs und seiner Anhänger geübt hat, das Bivalenzprinzip könne nicht uneingeschränkt als gültig anerkannt werden, da seine uneingeschränkte Gültigkeit zur Folge habe, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht.



Anmerkungen §§ 37b–38

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Neben dem Bivalenzprinzip (BP), dem zufolge jede Aussage genau einen der beiden Wahrheitswerte hat, also entweder wahr oder falsch ist, spielen im vorliegenden Abschnitt noch zwei weitere logische Prinzipien eine Rolle, nämlich das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten (PaD), dem zufolge jede aus zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Aussagen gebildete Disjunktion (also jede disjunktive Aussage der Form p ∨ ∼p) wahr ist, sowie ein Prinzip, das man, weil ihm zufolge von den beiden Gliedern eines jeden Paares kontradiktorisch entgegengesetzter Aussagen das eine wahr und das andere falsch ist, die beiden Wahrheitswerte also im Falle eines jeden kontradiktorischen Aussagenpaares auf seine beiden Glieder verteilt sind, als Wahrheitswertverteilungsprinzip (WVP) bezeichnen kann. Das WVP ist aufgrund dessen, daß im Falle eines jeden kontradiktorischen Aussagenpaares dann, wenn eines seiner beiden Glieder wahr ist, das andere falsch und dann, wenn eines seiner beiden Glieder falsch ist, das andere wahr ist, mit dem BP logisch äquivalent. In dem von Cicero in § 21b referierten Argument Epikurs wird es als das Prinzip, daß »von zwei (einander widersprechenden axiōmata) genau eines von Ewigkeit her wahr« ist, aus dem BP als dem Prinzip, daß »jedes axiōma (von Ewigkeit her) entweder wahr oder falsch« ist, abgeleitet. Das auch Nichtwiderspruchsprinzip genannte Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch (PaW), dem zufolge jede aus zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Aussagen gebildete Konjunktion (also jede konjunktive Aussage der Form p & ∼p) falsch ist, spielt weder im vorliegenden Abschnitt noch irgendwo sonst in De fato eine Rolle, da seine Gültigkeit unter den an der Schicksalsdebatte beteiligten Philosophen nicht umstritten war. Bayer, der es »Satz vom Widerspruch« nennt, vernachlässigt nicht nur den Unterschied zwischen ihm und dem PaD, das er »Satz vom ausgeschlossenen Dritten« nennt (vgl. 2000: 137, 147f.), sondern verwechselt es auch, was übrigens nicht nur

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Anmerkungen §§ 37b–38

er tut (vgl. Cavini 2007: 135, Anm. 2), systematisch mit dem BP, für das er die Bezeichnung »Bivalenzprinzip« nicht verwendet (vgl. 2000: 102–104, 135, 137, 146–149, 156f.). Diese heute übliche Bezeichnung geht auf den polnischen Logiker Jan Łukasiewicz zurück, der das BP, um es gegen das PaD, das er allerdings nicht klar vom WVP unterscheidet, terminologisch abzugrenzen, auf den in seinem Buch Aristotle’s Syllogistic from the Standpoint of Modern Formal Logic (Oxford, 2. Aufl. 1957; 82, 205) mit »principle of bivalence« wiedergegebenen Namen »Zweiwertigkeitssatz« getauft hat (vgl. Weidemann 2014: 317–319). Für das WVP hat sich keine feste Bezeichnung eingebürgert. Bobzien bezeichnet es als »semantic Law of Excluded Middle« (1998: 77, Anm. 41), Kreter als »Alternativensatz« (2006: 63, 88) und Cavini im Anschluß an Whitaker, der es »Rule of Contradictory Pairs« nennt (1996: 79), als »Regola delle Coppie Contraddittorie« (2007: 128). Bown, der es in Anlehnung an Bobzien »semantic law of the excluded middle« nennt (2016: 254), bezeichnet das PaD als »syntactic law of the excluded middle« (ebd.). Die genannten vier Prinzipien lassen sich folgendermaßen formalisieren (𝖶α/𝖥α := Es ist wahr/falsch, daß α): (1) 𝖥(p & ∼p) (PaW) (2) 𝖶(p ∨ ∼p) (PaD)

(3) 𝖶p ∨ 𝖥p (BP) (4) (𝖶p & 𝖥∼p) ∨ (𝖶∼p & 𝖥p) (WVP)

Da 𝖶α mit 𝖥∼α und p mit ∼∼p logisch äquivalent ist, sind einerseits die beiden Formeln (1) und (2) und andererseits die beiden Formeln (3) und (4) logisch äquivalent. In der klassischen modernen Aussagenlogik, die für die beiden Operatoren 𝖶 und 𝖥 keine Verwendung hat, da sie von der Voraussetzung ausgeht, daß auch 𝖶α mit α und 𝖥α mit ∼α logisch äquivalent ist, pflegt man anstelle der beiden Formeln (1) und (2), die unter dieser Voraussetzung nicht nur miteinander, sondern auch mit



Anmerkungen §§ 37b–38

295

den beiden Formeln (3) und (4) logisch äquivalent sind, die beiden Formeln (1′) ∼(p & ∼p) und (2′) p ∨ ∼p zu verwenden. Bei dem am Anfang von §  37b erwähnten Prinzip, dessen Allgemeingültigkeit anzuerkennen »Epikur sich sträubt«, handelt es sich nicht, wie Bobzien meint, um »a curious intermediate between Principle of Bivalence and semantic Excluded Middle« (1998: 77), sondern um das letztere Prinzip, also um das WVP. Da 𝖶p mit 𝖥∼p und 𝖶∼p mit 𝖥p logisch äquivalent ist, läßt sich die Formel (4), die dieses Prinzip wiedergibt, zu der Formel (4′) 𝖶p ∨ 𝖶∼p

vereinfachen, die man als Kurzfassung des WVP bezeichnen kann. Bobzien gibt das WVP statt mit der Formel 𝖳[p] ∨ 𝖳[¬p], die in der von ihr verwendeten Notation (4′) entspräche, irrtümlich mit derselben Formel wieder wie das BP, nämlich mit der Formel 𝖳[p] ∨ 𝖥[p] (1998: 77, Anm. 41; 𝖳[p]/𝖥[p] := p is true/ false). Cicero, der die drei Prinzipien, um die es im vorliegenden Abschnitt geht, alle für allgemeingültig hält – was das PaD betrifft, vgl. Ac. II (Lucullus) 97: »… wenn eine solche Disjunktion (d.  h. eine disjunktive Aussage der Form p  ∨ ∼p) falsch sein kann, ist keine wahr« –, schreibt in diesem Abschnitt erstens Epikur die Auffassung zu, daß das WVP nicht allgemeingültig ist (»Es ist nämlich notwendig, daß im Falle gegensätzlicher Paare [von Aussagen] – als gegensätzlich bezeichne ich an dieser Stelle Paare, deren eines Glied etwas behauptet und deren anderes dies bestreitet –, es ist also notwendig, daß von den beiden Gliedern solcher Paare, auch wenn Epikur sich dagegen sträubt, das eine wahr ist und das andere falsch«: § 37b), zweitens den Epikureern die Auffassung, daß zwar das PaD, aber nicht das BP allgemeingültig ist (»So war z. B. die Aussage ›Philoktet wird verwundet werden‹ schon vor allen Zeiten wahr und die Aussage ›Er wird nicht verwundet werden‹ falsch – es sei denn,

296

Anmerkungen §§ 37b–38

wir wollten uns die Ansicht der Epikureer zu eigen machen, die behaupten, solche Aussagen seien weder wahr noch falsch, oder … doch immerhin … behaupten, es seien zwar die aus den Gliedern gegensätzlicher Paare gebildeten Disjunktionen wahr, aber von den beiden Aussagen, die in ihnen enthalten seien, sei keine wahr«: ebd.), und drittens Chrysipp die Auffassung, daß das BP allgemeingültig ist (»Man wird also an dem von Chrysipp verteidigten Grundsatz festhalten müssen, daß jede Aus­ sage entweder wahr oder falsch ist«: § 38). Da Epikur, wie aus §  21b hervorgeht, zusammen mit dem WVP konsequenterweise auch das BP verwirft, da die Epikureer umgekehrt dadurch, daß sie das BP verwerfen, darauf festgelegt sind, auch das WVP zu verwerfen, und da Chrysipp als Verteidiger des BP auch die beiden anderen Prinzipien anerkennen muß, deren Gültigkeit aus der Gültigkeit des BP folgt, kann man vorläufig die in der folgenden Tabelle dargestellte Bilanz ziehen. PaD

BP

WVP

Epikur

?

nein

nein

Epikureer

ja

nein

nein

Chrysipp

ja

ja

ja

Eine nicht nur falsche, sondern auch in sich widersprüchliche und die Unterschiede zwischen den drei Prinzipien verwischende Beschreibung der Ansicht, die in § 37b den Epikureern zugeschrieben wird, gibt Maso, der diese Ansicht einerseits als eine »Kritik am Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten und an der Regel der kontradiktorischen Paare« (2014: 155) beschreibt (d. h. als eine Kritik am PaD und am WVP), wobei er sich zu Unrecht auf Cavini beruft, der ausdrücklich darauf hinweist, daß Cicero den Epikureern die Anerkennung des PaD beschei-



Anmerkungen §§ 37b–38

297

nigt (vgl. Cavini 2007: 136), und andererseits als eine Ansicht, die »darin besteht, (a) die Wahrheit der Disjunktion (und damit  [!] das Bivalenzprinzip und die semantische Version des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten [d. h. das BP und das WVP]) zu bewahren, zugleich aber (b) zu behaupten, daß von dem, worauf sich die beiden gegensätzlichen Aussagen inhaltlich beziehen, weder das eine noch das andere wahr ist (und damit [!] das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten [also das PaD] zu bestreiten)« (Maso 2014: 156). Die Frage, ob das PaD nicht nur von den Epikureern, sondern auch von Epikur selbst anerkannt wurde, läßt der vorliegende Abschnitt offen. Zwei andere Texte, nämlich Ac. II (Lucullus) 97 (LS 20I) und De nat. deor. I 70 (FDS 927), scheinen auf den ersten Blick eine verneinende Antwort auf diese Frage zu geben. In beiden Texten scheint Cicero Epikur nämlich die Auffassung zuzuschreiben, disjunktive Aussagen der Form »Entweder p oder nicht-p« seien in bestimmten Fällen, nämlich dann, wenn p eine auf die Zukunft bezogene Aussage ist und es gegenwärtig weder notwendig ist, daß p, noch notwendig, daß nicht-p, nicht wahr. Eine genaue Analyse der beiden Texte legt allerdings die Annahme nahe, daß die Worte, mit denen Cicero die Auffassung, die er Epikur zuschreibt, formuliert, nicht in diesem Sinne zu verstehen sind, sondern in dem Sinne, daß in den genannten Fällen die Disjunktion »Es ist entweder wahr, daß p, oder wahr, daß nicht-p« nicht wahr ist, daß mit den fraglichen Worten also nicht die Allgemeingültigkeit des PaD bestritten werden soll, sondern lediglich die Allgemeingültigkeit des in der Kurzfassung (4′) formulierten WVP, das in dieser Fassung ja leicht mit dem PaD verwechselt werden kann. Im ersten Text wird von Epikur behauptet, er könne nicht dazu gebracht werden, »zuzugestehen, daß eine Aussage wie ›Hermarchos wird morgen entweder (noch) leben oder nicht (mehr) leben‹ wahr ist« (ut verum esse concedat quod ita effa-

298

Anmerkungen §§ 37b–38

bimur »aut vivet cras Hermarchus aut non vivet«: Ac. II 97; Hermarch von Mytilene war ein Schüler Epikurs und dessen Nachfolger als Schuloberhaupt). Seine Weigerung, dieses Zugeständnis zu machen, soll Epikur folgendermaßen begründet haben: »Wenn ich nämlich … zugestehen würde, daß eines von beidem notwendig ist, wäre entweder dies, daß Hermarchos morgen (noch) lebt, oder dies, daß er morgen nicht (mehr) lebt, notwendig; es gibt aber im Ganzen des Naturgeschehens keinerlei Notwendigkeit dieser Art« (si enim … alterutrum concessero necessarium esse, necesse erit cras Hermarchum aut vivere aut non vivere; nulla autem est in natura rerum talis necessitas: ebd.). Da das Zugeständnis, von dem in dieser Begründung die Rede ist, einerseits etwas ganz anderes besagt als das Zugeständnis, das zu machen Epikur sich angeblich weigert, und da es zweitens nichts anderes besagt als das, was Epikur aus ihm folgert, sind die Worte alterutrum … necessarium esse (»daß eines von beidem notwendig ist«) offenbar verderbt. Long und Sedley äußern die plausible Vermutung, daß diese Worte ursprünglich alterutrum … verum esse (»daß eines von beidem wahr ist«) lauteten (vgl. Long/Sedley I 1987: 111). Wenn diese Vermutung zutrifft, läßt Cicero Epikur in Übereinstimmung mit dem, was er in De fato über ihn berichtet – »… wenn nämlich von zwei (einander widersprechenden axiōmata) genau eines von Ewigkeit her wahr wäre, müßte es seiner Meinung nach auch sicher sein und, wenn es sicher wäre, auch notwendig« (§ 21b) –, daraus, daß von den beiden Teilaussagen der disjunktiven Aussage »Hermarchos wird morgen entweder noch leben oder nicht mehr leben« entweder die eine oder die andere wahr ist, folgern, daß entweder das, was die eine, oder das, was die andere aussagt, notwendig ist. Die Behauptung, Epikur sei nicht zu dem Zugeständnis bereit, daß eine disjunktive Aus­sage dieser Art wahr ist, dürfte dann nicht wörtlich zu nehmen, sondern in dem Sinne zu verstehen sein, daß Epikur



Anmerkungen §§ 37b–38

299

nicht bereit ist, die Wahrheit einer disjunktiven Aussage zuzugestehen, die von den beiden Teilaussagen einer disjunktiven Aussage dieser Art aussagt, entweder die eine oder die andere von ihnen sei wahr. Zugunsten der Annahme, daß es sich bei den Worten, mit denen Epikur als Leugner der Allgemeingültigkeit des PaD beschrieben zu werden scheint, um eine ungenaue und daher irreführende Formulierung der Tatsache handelt, daß Epikur die Allgemeingültigkeit des WVP leugnete, spricht auch der zweite Text. In ihm wird nämlich die von den »Dialektikern« (d.  h. den Logikern) aufgestellte These, die im ersten Text als die These formuliert wird, »daß jede disjunktive Aussage der Form ›Entweder p oder nicht-p‹ 〈nicht〉 nur wahr, sondern auch notwendig ist« (omne quod ita disiunctum sit quasi »aut etiam aut non« 〈non〉 modo verum esse sed etiam necessarium: Ac. II 97), bezeichnenderweise als die These formuliert, »daß bei allen disjunktiven Aussagen der Form ›Entweder p oder nicht-p‹ eines von beidem wahr ist« (in omnibus diiunctionibus, in quibus »aut etiam aut non« poneretur, alterum utrum esse verum: De nat. deor. I 70). Diese These, die zur traditionellen Lehre der Logiker gehöre, habe in Epikur die Furcht geweckt, so Cicero, »daß dann, wenn eine Aussage wie ›Epikur wird morgen entweder (noch) leben oder nicht (mehr) leben‹ zugestanden würde, eines von beidem zu etwas Notwendigem würde« (ne, si concessum esset huius modi aliquid »aut vivet cras aut non vivet Epicurus«, alterutrum fieret necessarium: ebd.), weshalb er »bestritten« habe, »daß das mit den Worten ›Entweder p oder nicht-p‹ ausgesagte Ganze notwendig ist« (totum hoc »aut etiam aut non« negavit esse necessarium: ebd.). Da es sich bei der These, die Cicero hier den Logikern zuschreibt, um das in der Kurzfassung (4′) formulierte WVP handelt, liegt die Annahme nahe, daß mit den Worten, mit denen er Epikur die Auffassung zuzuschreiben scheint, im Falle dis-

300

Anmerkungen §§ 37b–38

junktiver Aussagen der durch das angeführte Beispiel exemplifizierten Art sei das PaD nicht gültig und das, was dieses Prinzip besagt, daher nicht notwendig, eigentlich gemeint ist, daß Epikur für disjunktive Aussagen dieser Art die Gültigkeit des WVP und die Notwendigkeit dessen, was dieses Prinzip besagt, bestritt. Epikurs Furcht, daß dann, wenn eine Aussage wie die als Beispiel angeführte »zugestanden« (d. h. für wahr gehalten) würde, entweder das, was die eine, oder das, was die andere ihrer beiden Teilaussagen aussagt, »zu etwas Notwendigem« würde, ist jedenfalls nur dann verständlich (und unter den Voraussetzungen, von denen Epikur ausgeht, auch berechtigt), wenn die Worte »Entweder p oder nicht-p« (aut etiam aut non), mit denen Cicero die logische Form einer solchen Aussage beschreibt, im Sinne von »Es ist entweder wahr, daß p, oder wahr, daß nicht-p« verstanden werden. Da es fraglich ist, ob die beiden Texte Ac. II 97 und De nat. deor. I 70, die uns mitzuteilen scheinen, Epikur habe »die Notwendigkeit von Behauptungen der Form ›α ∨ ¬α‹ sowie den Satz vom ausgeschlossenen Dritten bestritten« (Kreter 2006: 97), diese Mitteilung tatsächlich enthalten, wie Kreter meint (vgl. ebd.), überfordert man den Text De fato 37b, wenn man ihm die Mitteilung entnehmen zu können glaubt: »Von dieser Position ihres Lehrmeisters haben sich […] sogar einige Epikureer distanziert, indem sie den Satz vom ausgeschlossenen Dritten verteidigten« (ebd.; vgl. Schallenberg 2008: 218, Anm. 419) oder gar die Mitteilung, daß sich in der Frage nach dem PaD »unter den Epikureern zwei verschiedene Meinungs­gruppen gebildet haben« (Kreter 2006: 97; vgl. White 1983: 43f.). (Zur Kritik an Kreters Interpretation der Worte Epicureorum opinionem sequi, qui … aut … vgl. Weidemann 2007: 222, wo allerdings die Annahme, Epikur habe das PaD aufgegeben, noch nicht in Frage gestellt wird.) Erst recht läßt sich aus § 37b nicht herauslesen, daß »the Epicureans held different views at different times«



Anmerkungen §§ 37b–38

301

(Bown 2016: 259), was Cicero angeblich »suggests […] by reporting one answer that is ›shameless‹ and a later answer that is ›yet more shameless‹« (ebd.). Wie in §§ 22–23b, wo er bei seiner Kritik an der epikureischen Theorie der Bahnabweichung der Atome zunächst Epikur selbst (§§ 22–23a) und dann die Epikureer erwähnt (§ 23b), ohne den Epikureern damit eine andere Auffassung zuschreiben zu wollen als ihrem Lehrer, so will Cicero vermutlich auch in § 37b, wo er ebenfalls zunächst von Epikur und dann von den Epikureern spricht, seine Kritik an der Ansicht, die er den Schülern Epikurs zuschreibt, als eine Kritik an einer auch von Epikur selbst vertretenen Ansicht verstanden wissen. Das PaD ist ein logisches Prinzip, dessen Gültigkeit so evident ist, daß Epikur, auch wenn er für die Logik nicht viel ­übrig hatte – Cicero sagt ihm in Ac. II 97 nach, er habe nur Verachtung und Spott für sie übrig gehabt –, sicherlich nur dann auf die Idee verfallen wäre, an ihm zu rütteln, wenn er hätte befürchten müssen, daß seine Anerkennung dieselben Konsequenzen nach sich ziehen würde, aus Furcht vor denen er dem BP und dem WVP die Anerkennung verweigerte. Diese Befürchtung brauchte er jedoch nicht zu haben; denn unter der Voraussetzung, daß wahr zu sein für eine wahre Aussage heißt, aufgrund dessen wahr zu sein, daß das Bestehen des in ihr ausgesagten Sachverhalts notwendig ist, von der er als Anhänger des von Cicero abgelehnten starken Wahrheitsbegriffs ausging, folgt aus der Gültigkeit des PaD keineswegs die Gültigkeit des WVP, worüber er sich wohl kaum im unklaren war. Weshalb hätte er auch, wenn er das BP nicht anerkannte, glauben sollen, wie Kreter ihm unter Berufung auf den Bericht in De nat. deor. I 70 unterstellt (vgl. 2006: 98), daß für jede disjunktive Aussage der Form »Entweder p oder nicht-p« gilt, daß dann, wenn sie als ganze wahr ist, entweder die eine oder die andere ihrer beiden Teilaussagen ebenfalls wahr ist?

302

Anmerkungen §§ 37b–38

Legt man den schwachen Wahrheitsbegriff der Neuakademiker zugrunde, den sich Cicero zu eigen gemacht hat, so ist der Schluß von der Gültigkeit des PaD auf die Gültigkeit des WVP, der auf der Grundlage des starken epikureischen Wahrheitsbegriffs unzulässig ist, natürlich zulässig und versteht sich geradezu von selbst. Es ist daher, wenn Cicero das, was er in Ac. II 97 und De nat. deor. I 70 über Epikur berichtet, aus einer neuakademischen Quelle geschöpft hat, leicht erklärlich, daß in diesem Bericht der für Epikur so wichtige, aber in den Augen eines Neuakademikers völlig belanglose Unterschied zwischen einer Disjunktion der Form p ∨ ∼p und einer Disjunktion der Form 𝖶p  ∨ 𝖶∼p nicht beachtet wird. Zugleich ist verständlich, daß Cicero als Anhänger des schwachen neuakademischen Wahrheitsbegriffs die Auffassung, »es seien zwar die aus den Gliedern gegensätzlicher Paare gebildeten Disjunktionen wahr, aber von den beiden Aussagen, die in ihnen enthalten seien, sei keine wahr«, die er in De fato 37b, wo er sich offenbar auf eine zuverlässigere Quelle stützt als in den beiden anderen Texten, den Epikureern zuschreibt, für »eine Dreistigkeit« hält, »über die man nur den Kopf schütteln kann« (§ 38). Möglicherweise hat Aristoteles, der nach der traditionellen Interpretation des neunten Kapitels seiner Schrift Peri hermeneias (De int. 9) in diesem Kapitel eine Auffassung vertritt, mit der sich diese Auffassung im wesentlichen deckt (vgl. Long/Sedley I 1987: 111f., Gaskin 1995: 13 [Anm. 2], 146f. [Anm. 4], Sedley 2005: 243, Weidemann 2014: 317–319, Bown 2016: 259 [Anm. 38]), Epikur und dessen Schüler, auch wenn sich eine Bekanntschaft mit der Schrift Peri hermeneias für sie nicht nachweisen läßt, zumindest auf indirektem Wege zu dieser Auffassung inspiriert (vgl. Sedley 2005: 244, Kreter 2006: 94 [Anm. 162]). Da der Aristoteles und Epikur offenbar noch fremde schwache Wahrheitsbegriff, der eine Disjunktion der Form »Entweder p oder nicht-p« nur dann als wahr zu bewerten erlaubt,



Anmerkungen §§ 39–40

303

wenn entweder das eine oder das andere ihrer beiden Glieder wahr ist, auch der klassischen modernen Aussagenlogik zugrunde liegt, ist es nicht verwunderlich, daß die fragliche Auffassung von dem amerikanischen Logiker W. V. Quine als »Aristotle’s fantasy« verspottet und von dem finnischen Logiker Jaakko Hintikka als eine absurde Doktrin bezeichnet wurde, die den Spott Ciceros und Quines verdient habe (vgl. Weidemann 2014: 319f.). Erst die Einführung der sogenannten Methode der Superbewertungen in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts und die damit verbundene Erweiterung der klassischen Logik zu einem nichtklassischen logischen System, das neben dem schwachen auch den starken Wahrheitsbegriff berücksichtigt und daher Wahrheitswertlücken zuläßt, hat es möglich gemacht, Aristoteles und Epikur zu rehabilitieren. Die Anwendung der Superbewertungsmethode besteht nämlich darin, daß man einer Aussage, die Teilaussagen enthält, die im Sinne des starken Wahrheitsbegriffs weder wahr noch falsch sind, dann, wenn man ihr bei jeder möglichen Belegung dieser Teilaussagen mit einem Wahrheitswert nach den Regeln der klassischen Logik ein und denselben Wahrheitswert zuordnen müßte, diesen Wahrheitswert und andernfalls keinen Wahrheitswert zuordnet (vgl. Weidemann 2007: 218, 2014: 320, Schallenberg 2008: 219f.). Diese Methode, die in Kreter 2006 (37–47) ausführlicher beschrieben wird, erlaubt es also, einerseits das BP und das WVP einzuschränken, andererseits aber am PaD festzuhalten (vgl. Bown 2016: 265–270). §§ 39–40. Mit diesen beiden Paragraphen beginnt der letzte der vier größeren Abschnitte des Hauptteils von De fato, der ebenso wie der erste nur unvollständig erhalten geblieben ist. Er dreht sich um den Versuch Chrysipps, die in seiner Schicksalstheorie eine entscheidende Rolle spielende kompatibilistische Auffassung zu verteidigen, daß der Glaube daran, daß alles,

304

Anmerkungen § 39

was geschieht, vom Schicksal bestimmt ist, keineswegs unvereinbar ist mit dem Glauben daran, daß es in unserer Macht steht, den Vorstellungen, die wir von dem haben, was wir tun können, unsere Zustimmung zu geben oder zu verweigern, also mit dem Glauben daran, daß wir die Freiheit haben, das, was wir tun können, tun oder nicht tun zu wollen, und damit auch die Freiheit, es zu tun oder nicht zu tun. § 39. Um zu zeigen, daß Schicksalsmacht und Willensfreiheit miteinander kompatibel sind, wollte Chrysipp »wie ein ehrenamtlicher Schiedsrichter«, so Cicero, zwischen den Vertretern zweier einander entgegengesetzter anderer Auffassungen vermitteln, die es »unter den alten Philosophen gab«. Diese beiden Auffassungen unterscheiden sich darin voneinander, daß nach der einen, die man als deterministisch bezeichnen kann – genauer gesagt, ist sie in einem inkompatibilistischen »harten« Sinne deterministisch –, alles, was geschieht, nach der anderen hingegen, die man als libertarisch bezeichnen kann, nicht alles, was geschieht, nämlich zumindest nicht das, was geschieht, wenn ein Mensch einen freien Willensakt vollzieht, durch das Schicksal geschieht (zu den Bezeichnungen »deterministisch« und »libertarisch« und zur Unterscheidung zwischen einem inkompatibilistischen »harten« und einem kompatibilistischen »weichen« Determinismus vgl. Schallenberg 2008: 14f., 302). Ungeachtet dieses Unterschieds beruhen beide Auffassungen insofern auf einer gemeinsamen Voraussetzung, als sowohl der einen als auch der anderen die Annahme zugrunde liegt, etwas könne nur in der Weise durch das Schicksal geschehen, daß »das Schicksal den Zwang der Notwendigkeit mit sich bringe« (§ 39), also nur in der Weise, daß das Schicksal »mit zwingender Notwendigkeit« (§ 40) bewirke, daß es geschieht. Chrysipp, der diese Annahme für falsch hält, glaubte nun, durch den Verzicht auf sie zwischen den beiden genannten



Anmerkungen § 39

305

Auffassungen »einen Mittelweg einschlagen« (§  39) und sowohl den Vertretern der einen als auch den Vertretern der anderen ein Zugeständnis machen zu können, nämlich den Vertretern der deterministischen Auffassung das Zugeständnis, daß alles, was geschieht, einschließlich dessen, was geschieht, wenn ein freier Willensakt vollzogen wird, durch das Schicksal geschieht, und den Vertretern der libertarischen Auffassung das Zugeständnis, daß nicht alles, was geschieht, nämlich zumindest nicht das, was beim Vollzug eines freien Willensaktes geschieht, mit Notwendigkeit geschieht. Cicero hält diesen vermeintlichen »Mittelweg« für einen Holzweg, da er der Meinung ist, Chrysipp habe bei dem Versuch, seine Schicksalstheorie so zu formulieren, daß sie dem von ihm geteilten Anliegen derjenigen gerecht wird, die »die Bewegungen unseres Geistes von der Notwendigkeit befreit wissen wollen« (ebd.), »ungewollt die Notwendigkeit des Schicksals bekräftigt« (ebd.) und damit sein Ziel verfehlt. Statt der zwischen den harten Deterministen und den Libertariern vermittelnde Kompatibilist oder weiche Determinist zu sein, der er eigentlich sein wollte, war Chrysipp in den Augen Ciceros in Wirklichkeit ein harter Determinist. Was die »alten Philosophen« betrifft, von denen Cicero berichtet, daß sie teils die eine und teils die andere der beiden genannten Auffassungen vertraten, so waren seinem Bericht zufolge Demokrit, Heraklit, Empedokles und Aristoteles Deterministen (zu den ersten drei dieser vier Philosophen vgl. Sharples 1991: 186, Schallenberg 2008: 221f. [Anm. 427–429]). Merkwürdig ist, daß Cicero keinen einzigen Vertreter der liber­ tarischen Auffassung nennt und daß er Aristoteles, von dem Texte wie das neunte Kapitel der Schrift Peri hermeneias (De int. 9; vgl. hierzu Weidemann 2014: 223–328, 2015: 195–213), das dritte Kapitel des sechsten Buches der Metaphysik (Met. E  3; vgl. hierzu Weidemann 2006) und das siebte Kapitel des drit-

306

Anmerkungen § 39

ten Buches der Nikomachischen Ethik (EN III 7) ja eher das Bild eines Libertariers zeichnen als das eines Deterministen, zu den Vertretern der deterministischen Auffassung zählt (vgl. Sharples 1991: 186, Kreter 2006: 189f. [Anm. 356], Schallenberg 2008: 222f. [Anm. 430], Koch 2011: 370f., Maso 2014: 157f.). Nun sind es zwar – sei es deshalb, weil »die uns bekannten Aristotelischen Schriften in der hellenistischen Zeit nur sehr wenig verbreitet und kaum Gegenstand der Diskussion waren« (Sedley 2005: 244; vgl. in Weidemann 2015 den »Exkurs über das Schicksal der von Aristoteles hinterlassenen Werke« [10–14]), sei es deshalb, weil diese Schriften, wie Kreter unter Berufung auf De fin. III 10 vermutet, Cicero zwar »grundsätzlich zugänglich waren, er sie aber […] de facto nicht gelesen hat« (2006: 190, Anm. 356)  –, wenn nicht ausschließlich, so doch in erster Linie die verlorengegangenen exoterischen Werke des Aristoteles, durch die Ciceros Vorstellung von dessen Lehre geprägt ist; da man aus diesen Werken aber wohl kaum einen ganz anderen Eindruck von den Ansichten ihres Verfassers gewinnen konnte als aus den uns erhalten gebliebenen esoterischen, kommen nur drei Erklärungen dafür in Frage, daß in Ciceros Liste deterministischer Philosophen der Name des Aristoteles auftaucht: (a) Cicero hat Aristoteles mit einer gewissen Berechtigung als einen Deterministen beurteilt, da er sich für dieses Urteil auf Aristotelische Texte berufen konnte, die sich so interpretieren lassen, daß sie dieses Urteil stützen. (b) Cicero hat Aristoteles irrtümlich als einen Deterministen beurteilt, da die Aristotelischen Texte, die dieses Urteil zu stützen scheinen, von ihm selbst oder seinem Gewährsmann mißverstanden wurden. (c) Die Liste Ciceros wurde auf dem Weg der Überlieferung des Textes seiner Schicksalsschrift entstellt und enthielt den Eintrag »Aristoteles« ursprünglich gar nicht.



Anmerkungen § 39

307

Die Erklärung (a) wird von Donini angeboten, der in Aristoteles einen kompatibilistischen Deterministen sieht, dessen Standpunkt demjenigen, den Cicero Chrysipp zuschreibt, ähnlicher ist als demjenigen, der nach Cicero von den Libertariern vertreten wird (vgl. 1989: 125f.). Nach Donini ließ sich Cicero zu seinem Urteil über Aristoteles vermutlich durch einen Gewährsmann inspirieren, der zwar weder das Kapitel De int. 9 noch das Kapitel Met. E 3 kannte, dem aber aus den Ethiken oder aus der Politik Stellen bekannt waren, an denen Aristoteles der natürlichen Veranlagung und der Umgebung eines Menschen »Zugeständnisse« macht, die es »in gewissem Ausmaß rechtfertigen können, ihn des Determinismus zu bezichtigen« (1989: 132), d. h. Stellen, aus denen man, wenn man »völlig außer acht läßt, welch untergeordnete Rolle diese Zugeständnisse spielen und wie andersartig die allgemeine strukturelle Ausrichtung der Konzeption des Aristoteles ist« (ebd.), herauslesen kann, daß sich die Willensakte, die ein Mensch vollzieht, letztlich auf Ursachen zurückführen lassen, die ihnen äußerlich sind (vgl. 1989: 131–133, 137f.). Doninis Erklärung ist vor allem deshalb wenig überzeugend, weil schwer zu sehen ist, wie Aristoteles aufgrund gelegentlicher Äußerungen, die allenfalls kompatibilismusverdächtig sind, in den Verdacht geraten sein sollte, ein harter Determinist zu sein. Da es keine ausreichenden Indizien dafür gibt, daß dieser Verdacht nahelag – die Stelle Ac. I 29, an der aus der synkretistischen Sicht des Antiochos von Askalon, zu dessen Schülern Cicero gehörte, über die Peripatetiker und die Altakademiker berichtet wird, daß sie die göttliche Vorsehung, die »vor allem für die Dinge am Himmel« Sorge trage, »dann aber auch für diejenigen auf der Erde, die uns Menschen betreffen«, »bisweilen Notwendigkeit nennen« (interdum … necessitatem appellant), ist nur ein schwaches Indiz (vgl. Donini 1989: 127f.) –, vermag auch die von Ioppolo (1988: 400) und Sedley

308

Anmerkungen § 40

(2005: 244) gegebene Erklärung (b), nach der Cicero einem Irrtum erlegen ist, nicht zu überzeugen. Die Erklärung (c), nach der uns die Liste Ciceros fehlerhaft überliefert ist, dürfte die beste Erklärung dafür sein, daß Aristoteles in dieser Liste erwähnt wird. Plausibler als die von Simon Karsten geäußerte Vermutung, anstelle des Eintrags »Aristoteles« habe diese Liste ursprünglich den Eintrag »Anaxagoras« enthalten (vgl. 1838: 361, Anm. 147), dürfte allerdings eine andere Vermutung sein, die hier zur Diskussion gestellt sei: Der Eintrag »Empedocles« war in der uns überlieferten Liste »Democritus, Heraclitus, Empedocles, Aristoteles« ursprünglich der letzte, wurde aber schon sehr früh von einem Kopisten versehentlich zweimal abgeschrieben, was zur Folge hatte, daß sein zweites Vorkommnis in der Annahme, es habe den teilweise ähnlich klingenden und mit denselben drei Buchstaben endenden Namen »Aristoteles« verdrängt, durch diesen Namen ersetzt ­wurde. § 40. Cicero referiert in diesem Paragraphen ein Argument, mit dem diejenigen »alten Philosophen«, denen er die libertarische Auffassung zuschreibt, versucht haben sollen, die These, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht, zu widerlegen. Daß er dieses antifatalistische Argument, in dem die beiden Begriffe der Zustimmung und des Handlungsimpulses eine zentrale Rolle spielen, »alten« Philosophen in den Mund legt, also Philosophen, von denen man annehmen darf, daß sie ebenso wie diejenigen, die in § 39 namentlich als Vertreter der deterministischen Auffassung angeführt werden, vor dem Beginn des hellenistischen Zeitalters lebten, ist in zweierlei Hinsicht anachronistisch (vgl. Bobzien 1998: 318, Schallenberg 2008: 223f., Koch 2011: 369–371 [vgl. allerdings 396–398, wo Koch den chronologischen Aspekt der Rede von veteres philosophi herunterzuspielen versucht]): Erstens war das Schicksalsproblem in der vorhellenistischen Zeit noch kein zentrales



Anmerkungen § 40

309

Thema der Philosophie, und zweitens nahmen die beiden genannten Begriffe erst bei den Stoikern, die für den ersten das von Cicero durch assensio wiedergegebene Wort συγκατάθεσις schufen und zur Bezeichnung des zweiten das von Cicero mit appetitus übersetzte Wort ὁρμή benutzten, die terminologisch fixierte Gestalt an, in der sie in dem fraglichen Argument als handlungstheoretische Grundbegriffe herangezogen werden. (Das Verb συγκατατίθεσθαι, zu dem das vor den Stoikern nicht nachweisbare Substantiv συγκατάθεσις gehört, findet sich bereits bei Platon [Gorg. 501 C 5f.], Aristoteles [Top. III 1, 116 a 11] und Epikur [vgl. Goulet-Gazé 2011: 75, Anm. 11].) Der Anachronismus, den sich Cicero damit leistet, daß er vorstoische Philosophen ein in stoischer Terminologie formuliertes und offensichtlich gegen die stoische Schicksalslehre gerichtetes Argument vorbringen läßt, ist vermutlich die Kehrseite einer literarischen Fiktion, zu der er deshalb griff, weil sie ihm eine in systematischer Hinsicht übersichtlichere Darstellung erlaubte und ihm damit einen Vorteil brachte, der in seinen Augen den Nachteil, daß sie in historischer Hinsicht unstimmig ist, aufwog (vgl. Schröder 1990: 143f. [Anm. 17], Schallenberg 2008: 223f.). Darüber zu spekulieren, von wem das fragliche Argument tatsächlich stammt – Huby (vgl. 1970) sieht in ihm ein Argument Epikurs gegen Zenon, Ioppolo (vgl. 1988) ein Argument des Arkesilaos gegen Zenon und Kleanthes, Bobzien (vgl. 1998: 242) ein von Chrysipp selbst formuliertes mögliches Argument der Libertarier gegen ihn und Koch (vgl. 2011: 394–399) ein Argument des Karneades gegen Chrysipp –, ist müßig. Der größte Teil des Arguments besteht aus einer langen Kette von Implikationen, aus denen die Libertarier, denen Cicero es in den Mund legt, offenbar die den Vordersatz der ersten mit dem Nachsatz der letzten verknüpfende Implikation »Wenn alles durch das Schicksal geschieht, sind weder Lob noch Tadel ge-

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Anmerkungen § 40

rechtfertigt und weder Ehrenerweisungen noch Strafen« abzuleiten versuchten, um von ihr und der Negation ihres Nachsatzes auf die Negation ihres Vordersatzes schließen zu können: »Da diese Auffassung (d. h. die Auffassung, Lob, Tadel, Ehrenerweisungen und Strafen seien nicht gerechtfertigt) ihrer Meinung nach verkehrt ist, halten sie es für plausibel, die Schlußfolgerung zu ziehen, daß nicht alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht« (Quod cum vitiosum sit, probabiliter concludi putant non omnia fato fieri, quaecumque fiant). Das zweite Glied der fraglichen Implikationskette ist nicht ausdrücklich formuliert, läßt sich aber leicht in Gedanken ergänzen, und die letzten beiden Glieder sind nicht als Implikationen formuliert, sondern haben die sprachliche Form der Konklusion eines Schlusses, als dessen Prämisse bzw. Prämissen man sich den Nachsatz des unmittelbar vorangehenden Gliedes oder die Nachsätze mehrerer vorangehender Glieder hinzuzudenken hat. Benutzt man lediglich den ersten der beiden Ausdrücke »bei uns liegen« (esse situm in nobis) und »in unserer Macht stehen« (esse in nostra potestate), die in § 40 synonym gebraucht werden (vgl. Bobzien 1998: 245 [Anm.  *], Koch 2011: 411), so kann man die Sätze, die dem handschriftlich überlieferten Text zufolge die Glieder der fraglichen Implikationskette bilden, mit Hilfe der Symbole H, I und Z, die eine beliebige Handlung, den Impuls zu dieser Handlung und die Zustimmung zu der Vorstellung, die man von ihr hat, bezeichnen, folgendermaßen wiedergeben: (1) Wenn alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht, hat alles, was geschieht, eine ihm vorhergehende Ur­sache: p → q. (2) Wenn alles, was geschieht, eine ihm vorhergehende Ur­ sache hat, hat auch I eine ihm vorhergehende Ursache: q → r.



Anmerkungen § 40

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(3) Wenn I eine ihm vorhergehende Ursache hat, hat auch das, was (als Wirkung) auf I folgt, eine ihm vorhergehende Ursache, also auch Z: r → s. (4) Wenn die Ursache für I nicht bei uns liegt, liegt auch I selbst nicht bei uns: ∼t → ∼u. (5) Wenn I nicht bei uns liegt, liegt auch das, was durch I bewirkt wird, nicht bei uns: ∼u → ∼u′.

(6) Wenn das, was durch I bewirkt wird, nicht bei uns liegt, liegen weder Z noch H bei uns: ∼u′ → ∼v.

(7) Wenn weder Z noch H bei uns liegen, ist es nicht ge­recht­ fertigt, jemanden zu loben, zu tadeln, zu ehren oder zu bestrafen: ∼v → ∼w.

An der aus den Sätzen (1)–(7) bestehenden Implikationskette ist befremdlich, daß sie zwischen den Sätzen (3) und (4) insofern unterbrochen ist, als der Nachsatz von (3) mit dem Vordersatz von (4) nicht identisch ist. Hinzu kommt, daß der Satz (3), abgesehen davon, daß er uns mitteilt, Z folge (als Wirkung) auf I, insofern nichtssagend ist, als es sich ja von selbst versteht, daß das, was auf etwas als dessen Wirkung folgt, eine ihm vorhergehende Ursache hat. Die Mitteilung, Z folge auf I, widerspricht überdies der Lehre Chrysipps, daß ein Handlungsimpuls der Zustimmung zu der Vorstellung, die man von der betreffenden Handlung hat, nicht als ein irrationaler Impuls vorhergeht, sondern als ein rationaler Impuls, nämlich als die Entscheidung für den Vollzug der betreffenden Handlung, aus ihr hervor- und mit ihr einhergeht (vgl. Ioppolo 1988: 402, Weidemann 2001: 112f., Ildefonse 2011: 14f.). Octave Hamelin, der einen vermutlich in der Zeit zwischen 1888 und 1903 nach und nach entstandenen Kommentar zu De fato verfaßt hat, dessen verschiedene Schichten 1978 aus sei-

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Anmerkungen § 40

nem Nachlaß herausgegeben wurden (vgl. 1978: VIIIf.), sieht darin, daß der Nachsatz der durch (3) wiedergegebenen Implikation (also der Satz illa etiam [causa antecedente fiunt scil.], quae appetitum sequuntur, ergo etiam assensiones) eine der Lehre Chrysipps und damit der orthodoxen stoischen Lehre widersprechende Auffassung zum Ausdruck bringt, ein untrügliches Anzeichen für das Vorliegen einer Textverderbnis. Die handschriftlich überlieferte Lesart quae appetitum sequuntur (»was auf den Impuls folgt«) ist nach Hamelin in quae appetitus sequuntur (»worauf die Impulse folgen«) zu korrigieren (vgl. 1978: 37). Wie Koch unter Berufung darauf, daß es für die unorthodoxe Reihenfolge Impuls  –  Zustimmung, die der überlieferte Text bezeugt, noch genügend andere Zeugnisse gibt, mit Recht bemerkt, ist der Umstand, daß die von Hamelin vorgeschlagene Korrektur diese Reihenfolge in die orthodoxe Reihenfolge Zustimmung  –  Impuls umwandelt, kein hinreichender Grund dafür, sie vorzunehmen (vgl. 2011: 407f.; zu den Zeugnissen für die unorthodoxe Reihenfolge vgl. Ildefonse 2011: 13–20). Was es sehr wohl rechtfertigt, sie vorzunehmen, ist hingegen die Tatsache, daß sie, was Hamelin entgangen zu sein scheint, den fehlenden logischen Zusammenhang zwischen dem Satz (4) und den ihm vorangehenden Sätzen herzustellen erlaubt. (Was den Umstand betrifft, daß Cicero in §§40–41 nicht, wie in § 9, das Wort appetitio, sondern das Wort appetitus gebraucht, so bestreitet Koch mit Recht, daß er, wie Ioppolo [vgl. 1988: 401, 423f.] im Anschluß an Yon [vgl. 1933: XXVIIIf., Anm. 3; 40f.] meint, die Beibehaltung des überlieferten Textes rechtfertigt [vgl. 2011: 401f.]. Philippson, dem sich Eisenberger [vgl. 1979: 161, Anm. 21] und Marwede [vgl. 1984: 221f.] angeschlossen haben, hat mit Recht gegen Yon die Ansicht verteidigt, daß ­Cicero die beiden Wörter als gleichbedeutende Übersetzungen des griechischen Wortes ὁρμή verwendet [vgl. 1934: 1035, Anm. 3].)



Anmerkungen § 40

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Die von Hamelin konjizierte Lesart quae appetitus sequuntur verwandelt den durch die Implikation (3) wiedergegebenen Satz in einen Satz, der sich durch die folgende Implikation wiedergeben läßt: (3*) Wenn I eine ihm vorhergehende Ursache hat, hat auch das, worauf I (als Wirkung) folgt (d. h. das, was I als Ursache vorhergeht), wiederum eine ihm vorhergehende Ursache, also auch Z: r → s′. Nun ist zwar der Nachsatz von (3*) ebensowenig mit dem Vordersatz von (4) identisch wie der Nachsatz von (3); der durch (3*) wiedergegebene Satz et, si appetitus (causa antecedente fiunt scil.), illa etiam, quae appetitus sequuntur, ergo etiam assensiones läßt sich jedoch leicht als ein elliptisch formulierter Satz auffassen, mit dem folgendes gemeint ist: (2′) Wenn alles, was geschieht, eine ihm vorhergehende Ur­ sache hat, gilt dies auch für I und, wenn es für I gilt, auch für das, worauf I (als Wirkung) folgt, also auch für Z, und, wenn es für Z gilt, auch für das, worauf Z (als Wirkung) folgt, usw.: q → (r & (r → s′) & (s′ → s″) & …). Die logische Konjunktion, die den Nachsatz der Implikation (2′) bildet, enthält den Nachsatz der Implikation (2) als erstes und die Implikation (3*) als zweites Konjunktionsglied. Das von der Konjunktion ihrer übrigen Glieder gebildete Konjunktionsglied (s′ → s″) & … läßt sich folgendermaßen definieren (z := die Zustimmung Z; Vnyz := y geht z als n-te [d. h. unmittelbar als erste oder mittelbar als zweite, dritte, …] Ursache vorher): (∀n ≥ 1) (∀y)(Vnyz → (∃x)(V1xy & Vn+1xz)). Der durch (3*) wiedergegebene Satz besagt also, wenn er im Sinne der Implikation (2′) zu verstehen ist, durch die dann die beiden Implikationen (2) und (3*) zu ersetzen sind: Wenn alles, was geschieht, eine ihm vorhergehende Ursache hat, hat auch I eine ihm vorhergehende

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Anmerkungen § 40

Ursache und folglich auch die Ursache, die I vorhergeht, und folglich auch die Ursache, die der I vorhergehenden Ursache vorhergeht, usw. Da es sich für diejenigen, die das von Cicero referierte Argument vorbrachten, von selbst verstand, daß etwas dann, wenn es eine ihm vorhergehende Ursache hat, die ihrerseits wiederum eine ihr vorhergehende Ursache hat, usw., nicht bei uns liegt (vgl. zu diesem »Postulat« Koch 2011: 411–413), darf man ihnen unterstellen, daß sie die Implikation (2′) in Gedanken durch die folgende Implikation ergänzt wissen wollten, die einerseits, da ihr Vordersatz mit dem Nachsatz von (2′) identisch ist, an (2′) logisch anknüpft und an die andererseits, da ihr Nachsatz mit dem Vordersatz von (4) identisch ist, (4) logisch anknüpft: (3′) Wenn I eine ihm vorhergehende Ursache hat und, wenn I, auch das, worauf I (als Wirkung) folgt, also auch Z, und, wenn Z, auch das, worauf Z (als Wirkung) folgt, usw., liegt die Ursache für I nicht bei uns: (r & (r → s′) & (s′ → s″) & …) → ∼t. Sind (2) und (3*) durch (2′) zu ersetzen und ist (2′) in Gedanken durch (3′) zu ergänzen, so handelt es sich bei dem Schluß, dessen Konklusion der Satz »Es stehen also weder unsere Zustimmungen noch unsere Handlungen in unserer Macht« (Non sunt igitur neque assensiones neque actiones in nostra potestate) darstellt – da mit diesem Satz ein Zwischenergebnis konsta­ tiert wird, kann man die Konklusion, die er darstellt, eine »con­ clusion intermédiaire« (Koch 2011: 410) nennen  –, um einen Schluß, zu dem nicht nur der Satz »Auch das, was durch den betreffenden Handlungsimpuls bewirkt wird, liegt nicht bei uns« (ne illa quidem, quae appetitu efficiuntur, sunt sita in nobis) als Prämisse gehört, sondern auch der Satz »Die Ursache für einen Handlungsimpuls liegt nicht bei uns« (causa appetitus



Anmerkungen § 40

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non est sita in nobis). Diesem Schluß entspricht dann also nicht die Implikation (6), sondern die folgende Implikation, die zwar denselben Nachsatz hat wie (6), als Vordersatz aber nicht nur den Nachsatz von (5) enthält, sondern auch den mit ihm zu einer logischen Konjunktion verbundenen Nachsatz von (3′), der ihn (4) und (5) zufolge impliziert: (6′) Wenn die Ursache für I nicht bei uns liegt und folglich auch nicht das, was durch I bewirkt wird, liegen weder Z (als die Ursache von I) noch H (als die Wirkung von I ) bei uns: (∼t & ∼u′) → ∼v. Tauscht man (2) und (3) gegen (2′) und (3′) und (6) gegen (6′) aus, so erhält man folgende Implikationskette: (1) Wenn alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht, hat alles, was geschieht, eine ihm vorhergehende Ur­sache: p → q. (2′) Wenn alles, was geschieht, eine ihm vorhergehende Ur­ sache hat, gilt dies auch für I und, wenn es für I gilt, auch für das, worauf I (als Wirkung) folgt, also auch für Z, und, wenn es für Z gilt, auch für das, worauf Z (als Wirkung) folgt, usw.: q → (r & (r → s′) & (s′ → s″) & …). (3′) Wenn I eine ihm vorhergehende Ursache hat und, wenn I, auch das, worauf I (als Wirkung) folgt, also auch Z, und, wenn Z, auch das, worauf Z (als Wirkung) folgt, usw., liegt die Ursache für I nicht bei uns: (r & (r → s′) & (s′ → s″) & …) → ∼t. (4) Wenn die Ursache für I nicht bei uns liegt, liegt auch I selbst nicht bei uns: ∼t → ∼u. (5) Wenn I nicht bei uns liegt, liegt auch das, was durch I bewirkt wird, nicht bei uns: u →  u′.

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Anmerkungen § 40

(6′) Wenn die Ursache für I nicht bei uns liegt und folglich auch nicht das, was durch I bewirkt wird, liegen weder Z (als die Ursache von I) noch H (als die Wirkung von I ) bei uns: (∼t & ∼u′) → ∼v. (7) Wenn weder Z noch H bei uns liegen, ist es nicht gerecht­ fertigt, jemanden zu loben, zu tadeln, zu ehren oder zu bestrafen: ∼v → ∼w. Im Gegensatz zu der Implikationskette, die anstelle der Sätze (2′), (3′) und (6′) die Sätze (2), (3) und (6) enthält, erlaubt es diese Implikationskette, aus ihren Gliedern mit Hilfe der Kettenschlußregel die Implikation abzuleiten, die in dem fraglichen Argument, auch wenn sie nicht ausdrücklich formuliert ist, die entscheidende Rolle spielt, nämlich die den Vordersatz der Implikation (1) als Vordersatz und den Nachsatz der Implikation (7) als Nachsatz enthaltende Implikation (8) Wenn alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht, ist es nicht gerechtfertigt, jemanden zu loben, zu tadeln, zu ehren oder zu bestrafen: p → ∼w. Da mit Hilfe der Schlußregel des modus tollendo tollens von dieser Implikation und der Negation ihres Nachsatzes auf die Negation ihres Vordersatzes geschlossen und damit »die Schlußfolgerung« gezogen werden darf, die diejenigen, denen Cicero das fragliche Argument zuschreibt, »zu ziehen für plausibel halten«, ist dieses Argument in der hier rekonstruierten Form logisch korrekt. Ob es auch beweiskräftig ist, hängt davon ab, ob darüber hinaus, daß seine Konklusion aus seinen Prämissen logisch folgt, seine Prämissen auch alle wahr sind. (In Anlehnung an Weidemann 2001, wo sie erstmals vorgelegt wurde, haben Ebert [vgl. 2004: 66–70], Schallenberg [vgl. 2008: 229– 232, 236–238] und Koch [vgl. 2011: 407–412] die hier in einer verbesserten Form vorgelegte Rekonstruktion des Arguments



Anmerkungen § 40

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nachgezeichnet. Die in Weidemann 2001 verteidigte Konjektur Hamelins haben sich außer Ebert, Schallenberg und Koch auch Jedan und Strobach [vgl. Jedan/Strobach 2002: 136, Anm. 1], Ildefonse [vgl. 2011: 18], Maso [vgl. 2014: 72f., 162f.] und Calanchini [vgl. 2015: 56f., 72, 121] zu eigen gemacht.) Neben dem Vorteil, daß sie das fragliche Argument in einer Form zu rekonstruieren erlaubt, in der es logisch korrekt ist, und dem Vorteil, daß sie dieses Argument mit der orthodoxen stoischen Lehre in Einklang bringt, nach der unsere Handlungs­ impulse als rationale und damit in unserer Macht stehende Impulse auf unsere Zustimmungen folgen, hat Hamelins Konjektur – abgesehen davon, daß durch die Änderung von si appetitus (Nom. Sing.), illa etiam, quae (Nom. Plur.) appetitum (Akk. Sing.) sequuntur, ergo etiam assensiones (Nom. Plur.) in si appetitus (Nom. Plur.), illa etiam, quae (Akk. Plur.) appetitus (Nom. Plur.) sequuntur, ergo etiam assensiones (Nom. Plur.) auch ein unschöner Numeruswechsel beseitigt wird (vgl. Weidemann 2001: 117, Schallenberg 2008: 232) – noch einen dritten Vorteil: Sie verleiht dem Wort appetitus, das ja in § 40 dieselbe Bedeutung haben muß wie in § 41, damit der dort referierte Einwand Chrysipps gegen das in § 40 referierte Argument nicht an der Sache vorbeigeht, in § 40 genau die Bedeutung, die es auch in § 41 hat; dort bedeutet es nämlich, wie der Satz »Auch wenn diese (Ursachen) nicht in unserer Macht stehen, so folgt daraus doch nicht, daß auch der Handlungsimpuls nicht in unserer Macht steht« zeigt, soviel wie »rationaler Impuls«. Koch, die diesen Vorteil für ausschlaggebend hält (vgl. 2011: 405f., 411), weist zwar darauf hin, daß ihn »ni Hamelin ni Weidemann ne relèvent« (2011: 411), erwähnt aber nicht, daß vor ihr, was sie übersehen zu haben scheint, bereits Schallenberg (vgl. 2008: 233, 235f.) auf ihn aufmerksam gemacht hat. Eine Rekonstruktion des fraglichen Arguments, die zwar an der überlieferten Lesart appetitum festzuhalten erlaubt,

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Anmerkungen § 40

aber auf der unhaltbaren Annahme beruht, das Wort appetitus werde in § 40 in einer anderen Bedeutung gebraucht als in § 41, hat Bobzien vorgelegt, die Hamelins Konjektur nicht einmal erwähnt (vgl. 1998: 245–249). Nach Bobzien ist mit appetitus in § 40 das gemeint, was die Stoiker nach dem Zeugnis des spätantiken Schriftstellers Johannes Stobaios (5.  Jh. n. Chr.), dem wir eine umfangreiche Sammlung von Auszügen aus den Werken von mehreren Hundert Autoren verdanken, eine »appetitive (d.  h. einen irrationalen Impuls auslösende) Vorstellung« (φαντασία ὁρμητική) nennen (LS 53Q), also das, was Cicero in §§ 42–44 unter Verwendung des Wortes visum, mit dem er φαν­τασία übersetzt (vgl. Ac. I 40, II 18), einfach Vorstellung nennt. Unter dem, was in §§ 42–44 visum genannt wird, ist die Vorstellung zu verstehen, die man von einer bestimmten Handlung hat, wenn man sich vorstellt, sie auszuführen. Nach den Stoikern ist diese Vorstellung insofern, als sie dazu anregt, ihr zuzustimmen, eine sekundäre Ursache für die von einem rationalen Handlungsimpuls begleitete Zustimmung, die man ihr gibt, wenn man sich dazu entschließt, die betreffende Handlung auszuführen (vgl. die Anmerkungen zum folgenden Abschnitt), und sie wird insofern, als sie von der Person oder der Sache, mit der man es zu tun hat, wenn man die betreffende Handlung ausführt, hervorgerufen wird, ihrerseits von dieser Person bzw. dieser Sache verursacht. (Bobzien, die den Zusammenhang zwischen Vorstellung, Zustimmung, Handlungsimpuls und Handlung detailliert beschreibt [vgl. 1998: 239–242], weist darauf hin, daß die Zustimmung, die wir einer Vorstellung geben, nach stoischer Auffassung genaugenommen nicht in dieser Vorstellung eine sekundäre Ursache hat, sondern in unserem Geist, insofern er dadurch, daß diese Vorstellung in ihm entsteht, eine bestimmte Veränderung erfährt oder in einen bestimmten Zustand versetzt wird [vgl. 1998: 263, Anm. 67].)



Anmerkungen § 40

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In der Annahme, daß man den Stoikern die Ansicht zuschreiben darf, daß das, was einer appetitiven Vorstellung als Ursache vorhergeht, also die Person oder die Sache, die eine solche Vorstellung in uns hervorruft, nicht in unserer Macht steht, nimmt Bobzien bei ihrer Rekonstruktion des in § 40 angeführten Arguments als zusätzliche Prämisse den ihrer Ansicht nach zwischen den Sätzen (3) und (4) in Gedanken zu ergänzenden Satz »Die Ursache der appetitiven Vorstellung liegt nicht bei uns« zu Hilfe, der unter der Voraussetzung, daß appetitus in § 40 soviel wie »appetitive Vorstellung« bedeutet, mit dem Vordersatz der Implikation (4) identisch ist, also mit dem Satz (4α) Die Ursache für I liegt nicht bei uns: ∼t.

Um das fragliche Argument unter Zuhilfenahme dieses Satzes, den sie (P4) nennt (1998: 247, 248), in einer Form rekonstruieren zu können, in der es logisch korrekt ist, nimmt Bobzien des weiteren an, daß sich die Worte quod si ita est (»wenn dem so ist«) nicht nur auf den Nachsatz der von ihr (P5) genannten Implikation (4) beziehen, also auf den Satz (4β) I liegt nicht bei uns: ∼u,

sondern auch auf den Nachsatz der von ihr (P3) genannten Implikation (3), der lautet: (3β) Auch das, was (als Wirkung) auf I folgt, hat eine ihm vor­ hergehende Ursache, also auch Z (und damit auch H): s. Die Worte quod si ita est vertreten ihrer Meinung nach also die als »wenn«-Satz formulierte logische Konjunktion der Nachsätze von (4) und (3), wobei sie den Nachsatz von (3), also (3β), als Glied dieser Konjunktion in einem Sinne verstanden wissen will, in dem er besagt: »I ist die Z (und damit auch H ) vorhergehende Ursache« (vgl. 1998: 248). Den durch die beiden Impli-

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Anmerkungen § 40

kationen (5) und (6) wiedergegebenen Text, der mit den Worten quod si ita est beginnt, glaubt Bobzien durch die folgende, von ihr (P6) genannte Implikation wiedergeben zu können, die den Satz, den die genannten Worte ihrer Meinung nach vertreten, als Vordersatz und den Nachsatz von (6) als Nachsatz enthält (vgl. ebd.): (5/6) Wenn I nicht bei uns liegt und wenn I die Z (und damit auch H) vorhergehende Ursache ist, liegen weder Z noch H bei uns: (∼u & s) → ∼v. Die logische Struktur, die das Argument nach ihrer Interpretation hat, läßt sich folgendermaßen wiedergeben (vgl. ebd.): (1) p → q,  (2) q → r,  (3) r → s,  (4α) ∼t,  (4) ∼t → ∼u,  (5/6) (∼u & s) → ∼v,  (7) ∼v → ∼w.  Nun aber nicht: (7β) ∼w.  Also nicht: (1α) p. Da aus (4α), (4) und (5/6) die Implikation s → ∼v ableitbar ist, die (3) mit (7) verbindet, läßt sich aus den Sätzen (1), (2), (3), (4α), (4), (5/6) und (7) die Implikation (8) p → ∼w ableiten. Zusammen mit der Negation des Nachsatzes von (8) bilden diese Sätze somit eine Menge von Prämissen, aus denen als Konklusion die Negation des Vordersatzes von (8) gefolgert werden kann (vgl. die von Schallenberg [2008: 235] erstellte Ableitung). In der Form, in der Bobzien es rekonstruiert, ist das Argument zwar logisch korrekt; dafür, daß es diese Form hat, gibt es in Ciceros Text aber keinerlei Anhaltspunkte. Was den Satz (4α) betrifft, so kann er nicht nur deshalb nicht zu den Prämissen des Arguments gehören, weil nichts darauf schließen läßt, daß das Wort appetitus in § 40 eine andere Bedeutung hat als in §  41 (vgl. Schallenberg 2008: 235f.), sondern auch deshalb nicht, weil dieses Wort die Bedeutung »appetitive Vorstellung« (φαντασία ὁρμητική), die es nach Bobzien in § 40 hat, gar nicht



Anmerkungen §§ 41–43

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haben kann. Bei Stobaios, dessen erwähnte Anthologie unser einziges Zeugnis für sie ist, wird die appetitive Vorstellung, wie Koch mit Recht hervorhebt (vgl. 2011: 404f.), als eine einen Impuls auslösende Vorstellung von dem Impuls, den sie auslöst, genau unterschieden. Sie mit diesem Impuls zu identifizieren ist daher, so Koch, »eine Verkürzung, die, gelinde gesagt, brutal ist« (»un raccourci dont le moins qu’on puisse dire est qu’il est brutal« [2011: 404]). Auch Bobziens Deutung der Worte quod si ita est und ihr Versuch, den von ihr (P6) genannten Satz (5/6) als Prämisse zu gewinnen, haben im Text keinen Rückhalt. Übernimmt man die Konjektur Hamelins, so kann man das von Cicero referierte Argument, ohne den Worten, mit denen er es referiert, Gewalt anzutun, als ein logisch korrektes Argument rekonstruieren, das folgende logische Struktur aufweist: (1) p → q,  (2′) q → (r & (r → s′) & (s′ → s″) & …),  (3′) (r & (r → s′) & (s′ → s″) & …) → ∼t,  (4) ∼t → ∼u,  (5) ∼u → ∼u′,  (6′) (∼t & ∼u′) → ∼v,  (7) ∼v → ∼w.  Nun aber nicht: (7β) ∼w.  Also nicht: (1α) p. Da aus (4) und (5) die Implikation ∼t → (∼t & ∼u′) ableitbar ist, die (3′) mit (6′) verbindet, läßt sich aus den Sätzen (1), (2′), (3′), (4), (5), (6′) und (7) die Implikation (8) p → ∼w ableiten. ­Offenbar sind es diese Sätze, die zusammen mit der Negation des Nachsatzes von (8) die Menge der Prämissen bilden, aus denen in dem fraglichen Argument die Negation des Vordersatzes von (8) als Konklusion gefolgert wird. §§ 41–43. Bei seinem Versuch, das in § 40 referierte Argument seiner libertarischen Gegner zu widerlegen, beruft sich Chrysipp darauf, daß man zwei verschiedene Arten von Ursachen unterscheiden müsse, nämlich causae perfectae et principales (§  41), d.  h. Ursachen, die insofern »vollendet« sind, als sie

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Anmerkungen §§ 41–43

»dem Rang nach als erste wirksam« sind, einerseits und causae adiuvantes et proximae (ebd.), d. h. Ursachen, die insofern »mithelfend« sind, als sie »dem Rang nach als nächste wirksam« sind (»dignitate principalibus causis proximae« [Stüve 1895: 52]), andererseits. Bei dieser vieldiskutierten Unterscheidung, die bereits in den Anmerkungen zu §§ 34–37a und im Abschnitt 4.4 der Einführung besprochen wurde – zur Diskussion darüber, wie sie zu verstehen ist, vgl. die in der Einführung (Anm. 74) angegebene Literatur –, handelt es sich offenbar um eine Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten von Teil­ ursachen, die je nachdem, ob sie vollendet (d. h. primär wirksam) oder nur mithelfend (d.  h. nur sekundär wirksam) sind, den entscheidenden Beitrag oder nur einen untergeordneten Beitrag zur Wirksamkeit einer Gesamtursache leisten. (Was im Unterschied zu denjenigen Fällen, in denen die Erhaltung eines bestimmten Zustands, in dem sich etwas befindet, oder die Erhaltung der Existenz von etwas verursacht wird, diejenigen Fälle betrifft, in denen eine Veränderung verursacht wird, die an etwas stattfindet [vgl. zu dieser Unterscheidung, die in der stoischen Kausaltheorie ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, Long/Sedley I 1987: 341, Bobzien 1998: 19f., 1999: 204, 241], so ließen »die Stoiker eine ›aus sich selbst heraus vollkommene‹ Ursache nicht gelten […], da sie alles Geschehen durch das Zusammenwirken von verschiedenen Ursachenarten erklärten« [Görler 1987: 258, Anm. 9; vgl. 267 sowie Bobzien 1998: 20, 1999: 236–241].) Aus dem Bericht, den uns Cicero darüber gibt, wie Chrysipp mit Hilfe der genannten Unterscheidung das fragliche Argument zu widerlegen versucht, geht klar hervor, daß Chrysipp dieses Argument zwar für logisch korrekt, aber deshalb nicht für beweiskräftig hält, weil er der Meinung ist, daß seine Prämissen nicht alle wahr sind. Welche Prämisse seiner Meinung nach falsch ist und weshalb er sie für falsch hält, macht der von



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Cicero in §  41 referierte Einwand deutlich, den er gegen das fragliche Argument erhebt. Dieser Einwand ist freilich in zweierlei Hinsicht unglücklich formuliert. Denn erstens soll die Eigenschaft, in unserer Macht zu stehen, die in dem Nebensatz Quae si ipsae non sint in nostra potestate den mithelfenden Ursachen und in dem Nebensatz cum eae causae non essent in nostra potestate den vollendeten Ursachen abgesprochen wird, diesen beiden Arten von Ursachen wohl kaum, wie der Wortlaut dieser beiden Sätze suggeriert, insofern abgesprochen werden, als sie mithelfende bzw. vollendete Ursachen sind – wenn sowohl die mithelfenden als auch die vollendeten Ursachen als solche nicht in unserer Macht stünden, welche Ursachen könnten dann überhaupt in unserer Macht stehen? –, sondern unter der Voraussetzung, daß ihnen andere Ursachen vorhergehen, die zusammen mit ihnen endlos lange Ketten von Ursachen bilden, lediglich insofern, als sie Glieder solcher Ursachenketten sind; und zweitens ist verwirrend, daß anstelle der Frage, woraus folgen würde, daß die Zustimmung als die Ursache für den Handlungsimpuls nicht in unserer Macht steht, um die es in dem zu widerlegenden Argument ja hauptsächlich geht und die in §§ 42–43 auch wieder aufgegriffen wird, die Frage thematisiert wird, woraus folgen würde, daß der Handlungsimpuls selbst nicht in unserer Macht steht, auch wenn diese Veränderung der Fragestellung, da es ja dasselbe ist, woraus ersteres und woraus letzteres folgen würde, nur eine Akzentverschiebung darstellt. Daß die Worte ne appetitus quidem und ne ille quidem (§ 41), an deren Stelle man die Worte ne assensio quidem und ne illa quidem erwartet hätte, durch die Unachtsamkeit eines Kopisten aus diesen Worten entstanden sind, so daß man sie, was Bayer für erwägenswert hält (vgl. 2000: 164, Anm.  *), durch diese Worte ersetzen sollte, ist unwahrscheinlich. Eine Textverderbnis dürfte auch in dem si-Satz Quae si ipsae non sint

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Anmerkungen §§ 41–43

in nostra potestate (ebd.) nicht vorliegen. Da er konzessiv aufzufassen ist, ist das in den modernen Ausgaben in sunt korrigierte sint, das die ältesten Handschriften überliefern, mit dem im übergeordneten Satz stehenden Indikativ sequitur durchaus vereinbar (vgl. Burkard/Schauer 2012: 821 [§ 561, 6b]). Offenbar ist der fragliche Einwand folgendermaßen zu verstehen: Der Impuls zu einer Handlung würde nur dann nicht in unserer Macht stehen, wenn seine primär wirksame Ursache nicht in unserer Macht stünde, also nur dann, wenn seiner primär wirksamen Ursache eine endlose Reihe weiterer primär wirksamer Ursachen vorherginge. Aus der These, daß alles, was geschieht, aufgrund »vorgeschalteter« (d. h. dem, was geschieht, vorhergehender) Ursachen geschieht, die ja impliziert, daß auch jeder einem bestimmten Geschehen vorgeschalteten Ursache wiederum eine Ursache vorgeschaltet ist, würde aber nur dann folgen, daß der primär wirksamen Ursache für einen Handlungsimpuls eine endlose Reihe weiterer primär wirksamer Ursachen vorhergeht, wenn mit ihr gemeint wäre, daß alles, was geschieht, aufgrund vorgeschalteter Ursachen geschieht, die primär wirksam sind. Da nun aber lediglich mit ihr gemeint ist, daß alles, was geschieht, aufgrund vorgeschalteter Ursachen geschieht, die sekundär wirksam sind, folgt aus ihr keineswegs, daß der Impuls zu einer Handlung nicht in unserer Macht steht. Wie dieser Einwand zeigt, ist es die in Gedanken zu ergänzende Prämisse (3′), die Chrysipp für falsch hält, also die Prämisse, die besagt, daß die den Handlungsimpuls verursachende Zustimmung dann, wenn sie eine Ursache für den Handlungsimpuls ist, der eine endlose Reihe weiterer Ursachen vorhergeht, nicht bei uns liegt. Chrysipp hält diese Prämisse, wie der erwähnte Einwand ebenfalls zeigt, deshalb für falsch, weil er der Auffassung ist, daß der Zustimmung zwar eine endlose Reihe sekundär wirksamer Ursachen vorhergeht, aber keine



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endlose Reihe von Ursachen, die primär wirksam wären. Wenn diese Auffassung zutrifft, ist die fragliche Prämisse in der Tat falsch; denn die Zustimmung hat dann ja eine primär wirksame Ursache, der keine andere primär wirksame Ursache mehr vorhergeht, so daß diese Ursache und damit auch die von ihr verursachte Zustimmung sehr wohl bei uns liegen kann. Worin die Zustimmung nach Chrysipp ihre Primärursache hat und mit welcher Sekundärursache ihre Primärursache seiner Ansicht nach unmittelbar zusammenwirkt, geht aus dem Vergleich hervor, den er zwischen der im Geist eines Menschen, der einer Vorstellung zustimmt, stattfindenden Willensbewegung und den beiden Bewegungen, die von einer rollenden Walze und einem sich drehenden Kreisel ausgeführt werden, anstellt. Chrysipp will diesen bereits im Abschnitt 4.4 der Einführung besprochenen Vergleich, über den Cicero in §§ 42–43 berichtet, offenbar folgendermaßen verstanden wissen: Wie die Bewegung einer rollenden Walze und die Bewegung eines sich drehenden Kreisels dadurch verursacht werden, daß die Natur dieser beiden Körper – d.  h. die zylindrische Form der Walze und die konische Form des Kreisels –, die dafür, daß sie sich in der ihnen eigentümlichen Weise bewegen, primär verantwortlich ist, mit einem für ihre Bewegung sekundär verantwortlichen äußeren Anstoß zusammenwirkt, so wird auch die Zustimmung, die ein Mensch, der sich zum Vollzug einer bestimmten Handlung entschließt, der Vorstellung gibt, die er von dieser Handlung hat, durch das Zusammenspiel zweier kausaler Faktoren verursacht, nämlich dadurch, daß die Natur seines Geistes – d.  h. seine charakterliche Beschaffenheit  –, die dafür, daß er der betreffenden Vorstellung zustimmt, primär verantwortlich ist, mit dieser Vorstellung, die dafür, daß er ihr zustimmt, sekundär verantwortlich ist, zusammenwirkt. (Bobzien nimmt die Rede davon, daß die Natur des Geistes des Menschen, der einer Vorstellung zustimmt, oder die Beschaf-

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Anmerkungen §§ 41–43

fenheit seines Charakters der für seine Zustimmung primär verantwortliche kausale Faktor ist, wörtlich [vgl. 1998: 267f.], obwohl ihre Beschreibung der stoischen Kausaltheorie [vgl. 1998: 18–23] es nahelegt, in dieser Redeweise nur eine ungenaue Ausdrucksweise dafür zu sehen, daß der Geist des betreffenden Menschen, insofern er eine bestimmte Natur hat, oder sein Charakter, insofern er eine bestimmte Beschaffenheit aufweist, dieser kausale Faktor ist.) Chrysipps Versuch, seine Schicksalslehre gegen das anti­ fatalistische Argument seiner libertarischen Gegner zu verteidigen, beruht demnach auf folgender Überlegung: Wenn ich der Vorstellung, die ich von einer bestimmten Handlung habe, zustimme, geht zwar dieser Vorstellung, die für meine Zustimmung zu ihr sekundär verantwortlich ist, eine endlose Reihe von Ursachen vorher, die für meine Zustimmung zu ihr ebenfalls sekundär verantwortlich sind, aber der Beschaffenheit meines Charakters, die für meine Zustimmung zu ihr primär verantwortlich ist, geht keine weitere Ursache vorher, die für meine Zustimmung zu ihr ebenfalls primär verantwortlich wäre. Die Zustimmung, die ich einer Vorstellung gebe, ist daher zwar durch ihre Abhängigkeit von dieser Vorstellung der Macht des Schicksals unterworfen, steht aber deshalb auch in meiner Macht, weil nicht diese Vorstellung, die ja nur sekundär für sie verantwortlich ist, sie letztlich »herbeiführt« (§ 44) und damit »notwendig macht« (ebd.), sondern die primär für sie verantwortliche Beschaffenheit meines Charakters. Unter der »Notwendigkeit«, der Chrysipp mit Hilfe der Unterscheidung zwischen den beiden genannten Arten von Ursachen »entrinnen« zu können glaubt, ohne darauf verzichten zu müssen, »am Schicksal festzuhalten« (§ 41), ist natürlich nicht die Notwendigkeit zu verstehen, die eine Zustimmung dann, wenn die charakterliche Beschaffenheit des Zustimmenden die primär für sie verantwortliche Ursache ist, von innen bestimmt,



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sondern nur die Notwendigkeit, die sie dann, wenn die Vorstellung, der er sie gibt, primär für sie verantwortlich wäre, von außen bestimmen würde. Eine die Zustimmung von außen bestimmende Notwendigkeit ist auch gemeint, wenn Cicero die harten Deterministen, zwischen denen und den Libertariern Chrysipp als weicher Determinist zu vermitteln versucht, als Leute beschreibt, die »das Schicksal so ins Spiel bringen, daß sie ihm die Notwendigkeit beigesellen« (§ 42). Cicero ist davon, daß das antifatalistische Argument der Libertarier zwar den harten Deterministen gegenüber beweiskräftig ist, aber den Stoikern gegenüber »keinerlei Beweiskraft« (§ 42) hat, wie Chrysipp glaubt, keineswegs überzeugt; denn er wirft Chrysipp ja vor, bei seinem Vermittlungsversuch »ungewollt die Notwendigkeit des Schicksals« zu »bekräftigen« (§  39), also sozusagen ein harter Determinist »malgré lui« (Hamelin 1978: 36) zu sein. Vermutlich hat er diesen Vorwurf in dem Textstück, durch dessen Verlust die Lücke C entstanden ist, mit der Behauptung begründet, Chrysipp habe die Ursachen, durch die nach seiner Lehre von der kosmischen Sympathie die Beschaffenheit unseres Charakters im voraus festgelegt und mit der Gesamtheit dessen, was in der Welt geschieht, kausal verknüpft sei, in seiner Zustimmungslehre, in der er unsere charakterliche Beschaffenheit dem Willensakt, den wir vollziehen, wenn wir einer Vorstellung zustimmen, als eine primäre Ursache für ihn vorhergehen lasse, die ihrerseits keine ihr vorhergehende primäre Ursache habe, unterschlagen, er unterliege also einer Selbsttäuschung, wenn er die Notwendigkeit, die sich aus der Abhängigkeit unseres Charakters von diesen Ursachen für den Vollzug unserer Willensakte ergebe, von unseren Willensakten fernhalten zu können glaube (vgl. hierzu den Abschnitt 4.4 der Einführung). Cicero ließ sich bei seiner Kritik an dem von Chrysipp unternommenen Vermittlungsversuch, mit anderen Worten, vermut-

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Anmerkungen §§ 41–43

lich von der Einsicht leiten, daß unser Charakter unsere Willensakte nur dann als eine Ursache hervorzubringen vermag, der sie als freie Akte unseres Willens entspringen, wenn wir ihm die Gestalt, in der er ihre Ursache ist, selbst zu geben vermögen, daß wir ihm diese Gestalt jedoch, wenn seine Beschaffenheit vom Schicksal bestimmt und damit durch ihr vorhergehende Ursachen festgelegt ist, ebensowenig selbst geben können, wie eine Walze und ein Kreisel sich selbst die Form verleihen können, die sie zu der ihnen eigentümlichen Bewegung befähigt. Nach Bobzien unterscheidet sich die Handlungstheorie Chrysipps von dem handlungstheoretischen Modell, zu dem sich die Stoiker nach Ansicht ihrer Gegner eigentlich bekennen müßten, hauptsächlich darin, daß Chrysipp in der von der Vorstellung über die Zustimmung und den Handlungsimpuls zur Handlung führenden Ursachenkette an der Stelle, an der die Zustimmung erfolgt, »sozusagen eine andere Ursachenkette einhakt, deren letztes Glied die Natur des Geistes des Handelnden ist« (1998: 269). Diese Einschätzung unterstellt den neuakademischen Kritikern Chrysipps ein primitives Mißverständnis der stoischen Handlungstheorie, dem sie wohl kaum erlegen sind. Nicht darin, daß Chrysipp in der Zustimmung nicht die Wirkung der Glieder einer einzelnen Ursachenkette sieht, sondern die gemeinsame Wirkung der Glieder zweier verschiedener Ursachenketten, deren Schnittpunkt sie bildet, besteht der Unterschied zwischen der Auffassung, die er tatsächlich vertritt, und derjenigen, zu der seine neuakademischen Kritiker ihn verpflichtet sehen, sondern darin, daß er die zweite dieser beiden Ursachenketten, die er aufgrund seines Glaubens an das Schicksal eigentlich für eine Kette halten müßte, die sich ebenso wie die erste endlos in die Vergangenheit erstreckt, am Zustandekommen einer Zustimmung als eine Kette beteiligt sein läßt, die in der Natur des Geistes des Handelnden nicht nur ihr letztes, sondern auch ihr erstes Glied hat.



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Die in dem kausalen Netzwerk, als das die Stoiker das Schicksal betrachten (vgl. Bobzien 1998: 51, 219f., 269), miteinander verknüpften Ursachenketten sind eigentlich keine unterschiedlich langen Ketten von Ursachen, die sich in der Weise schneiden, daß an jedem ihrer Schnittpunkte, also überall dort, wo ein von den Gliedern zweier oder mehrerer von ihnen gemeinsam verursachtes Ereignis stattfindet, zwei oder mehrere von ihnen enden und eine neue beginnt, sondern gleich lange, zu einem Gesamtstrang gebündelte Stränge von Ursachen, die sich in der Weise schneiden, daß an jedem ihrer Schnittpunkte zwei oder mehrere von ihnen zusammenlaufen. Ihre Schnittpunkte, die eigentlich nur Berührungspunkte sind, sind also keine Anfangsglieder neuer Ursachenstränge, sondern lediglich Zwischenglieder des einen Ursachenstrangs, zu dem sie alle gebündelt sind. Was den Satz betrifft: »Wie also jemand, der eine ­Walze fortgestoßen hat, dieser zwar den Bewegungsanfang, aber nicht die Rollfähigkeit gegeben hat, so wird auch jene Vorstellung unserem Geist, wenn sie sich (ihm) darbietet, zwar ihr Erscheinungsbild aufdrücken und gleichsam einprägen, aber die Zustimmung (zu ihr) wird in unserer Macht stehen, und zwar wird sie sich, wie dies bereits im Falle der Walze gesagt wurde, nachdem sie von außen angestoßen worden ist, im übrigen aufgrund ihres eigenen Wesens und ihrer eigenen Natur bewegen«, den Cicero am Anfang von § 43 Chrysipp in den Mund legt, so ist er in zweierlei Hinsicht ungenau formuliert. Die erste Ungenauigkeit besteht darin, daß es genaugenommen nicht die sich unserem Geist darbietende Vorstellung ist, die demjenigen, der eine Walze fortstößt und ihr dadurch den Bewegungsanfang gibt, entspricht – diese Vorstellung entspricht ja dem Anstoß, den eine Walze von demjenigen, der sie fortstößt, erhält –, sondern der Gegenstand, der diese Vorstellung in unserem Geist hervorruft. Koch will den Teilsatz

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Anmerkungen §§ 41–43

sic visum obiectum imprimet illud quidem et quasi signabit in animo suam speciem, der gewöhnlich so verstanden wird, daß visum obiectum illud als Subjekt der beiden Verben imprimet und signabit fungiert, daher so verstanden wissen, daß lediglich obiectum illud diese Funktion hat und visum als Objekt des Verbs imprimet fungiert. Ihrer Meinung nach besagt dieser Teilsatz also nicht, wie gewöhnlich angenommen wird (vgl. Yon 1933: 22, Rackham 1942: 239/241, Long/Sedley I 1987: 388 [LS 62C], Sharples 1991: 87, Bobzien 1998: 259, Bayer 2000: 63, Maso 2014: 75, Calanchini 2015: 61): »so wird auch jene Vorstellung unserem Geist, wenn sie sich (ihm) darbietet, zwar ihr Erscheinungsbild aufdrücken und gleichsam einprägen«, sondern: »so wird auch jener Gegenstand, der sich darbietet, unserem Geist zwar eine Vorstellung aufdrücken und gleichsam sein Erscheinungsbild einprägen« (»Ainsi, cela qui se présente, bien sûr, imprimera une représentation et pour ainsi dire gravera son image dans l’esprit« [Koch 2011: 424; 424f., Anm. 121]). Der Wortlaut des Satzes – die Stellung von in animo ist eine »Versparung« (Kiefner 1964) – spricht jedoch eher zugunsten der vorherrschenden Ansicht über seinen grammatischen Aufbau und damit zugunsten der Annahme, daß in ihm von einer sich darbietenden Vorstellung die Rede ist, obwohl eigentlich der sie hervorrufende Gegenstand gemeint ist. Dem Sinn, in dem der fragliche Teilsatz offenbar zu verstehen ist, würde sein Wortlaut genau entsprechen, wenn man ihn mit Hülser folgendermaßen übersetzen dürfte: »so wird der vorgestellte Gegenstand der Seele zwar die entsprechende Vorstellung einprägen und ihr seine Gestalt gleichsam einzeichnen« (I 1987: 401 [FDS 367]). Dieser Übersetzung steht jedoch entgegen, daß einerseits das Wort visum an allen übrigen Stellen, an denen es in §§ 42–44 gebraucht wird, als Fachausdruck für das dient, was die Stoiker φαντασία (Vorstellung) nennen, und daß andererseits der im mittelalterlichen Latein geläufige



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substantivische Gebrauch des Wortes obiectum in der Bedeutung »Gegenstand« (»Objekt«) dem klassischen Latein noch fremd ist, so daß visum nicht Attribut von obiectum sein kann, sondern obiectum zum Attribut haben muß (vgl. Yon 1933: 42, Hamelin 1978: 39, Marwede 1984: 233f.). (Wie obiectum in De fato 43 attributiv auf visum bezogen ist, so ist es in Ac. II 49 prädikativ auf visum bezogen: si tale visum obiectum est a deo dormienti ut … [»wenn einem Schlafenden von Gott eine Vorstellung dargeboten worden ist, die so beschaffen ist, daß …«].) Da visum an allen übrigen Stellen in §§ 42–44 die terminologische Bedeutung »Vorstellung« (φαντασία) hat, kann es obiectum in dem fraglichen Teilsatz auch nur in dieser Bedeutung zum Attribut haben und nicht in der Bedeutung »Vorgestelltes« (φαν­ταστόν), wie Yon (1933: 42), Hamelin (1978: 39), Long (1986: 167) und Maso (2014: 168f.), nach denen visum obiectum soviel wie »sich darbietendes Vorgestelltes« bedeutet, annehmen (zur Kritik an dieser Annahme vgl. Marwede 1984: 233f.; siehe auch Bobzien 1998: 263). Die zweite Ungenauigkeit, die der von Cicero am Anfang von § 43 zitierte Satz aufweist, besteht darin, daß das, was in seinem mit eaque beginnenden zweiten Teil von unserer Zustimmung zu einer Vorstellung gesagt wird, genaugenommen nicht auf unsere Zustimmung als einen Akt unseres Geistes zutrifft, sondern auf unseren Geist als das Vermögen, das uns zum Vollzug dieses Aktes befähigt. Auch in diesem Punkt wird man den fraglichen Satz nicht wörtlich nehmen dürfen, sondern ihn wohlwollend in dem Sinne interpretieren müssen, den er allem Anschein nach zum Ausdruck bringen soll. (Wörtlich nimmt ihn Ebert, der zu dem in ihm angestellten Vergleich bemerkt: »die Zustimmung, nicht etwa der Geist des Menschen, entspricht in diesem Vergleich der Form der Walze« [2004: 73].) Nach Bobzien läßt sich die anstößige Formulierung des zweiten Teils des fraglichen Satzes durch die Annahme erklä-

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ren, daß Cicero ein Übersetzungsfehler unterlaufen ist, daß nämlich in dem ihm vorliegenden griechischen Text das feminine Pronomen, das er mit ea (»sie«) übersetzt hat, nicht auf das von ihm mit assensio übersetzte Substantiv συγκατάθεσις (»Zustimmung«) zu beziehen ist, wie seine Übersetzung unterstellt, sondern auf das von ihm mit animus übersetzte Substantiv διάνοια (»Geist«), so daß er es mit is (»er«) statt mit ea hätte übersetzen und, wie man hinzufügen muß, pulsus statt pulsa hätte schreiben müssen (vgl. 1998: 264). Diese von Koch als »extrêmement ingénieuse« (2011: 430, Anm.  135) gelobte Erklärung wird dadurch in Frage gestellt, daß die Worte, mit denen Cicero in § 43 angeblich seine griechische Vorlage falsch übersetzt hat, in § 25, wo unsere freien Willensbewegungen mit der Bewegung eines im freien Fall befindlichen Atoms verglichen werden, eine Parallele haben. Statt von der Natur unseres Geistes wird dort von der Natur der freien Willensbewegungen unseres Geistes gesagt, sie sei für diese Bewegungen ebenso die Ursache, wie für die Bewegung eines Atoms dessen Natur die Ursache sei. §§ 44–45. Was das Verhältnis von Zustimmung und Vorstellung betrifft, könnten »diejenigen, die bestreiten, daß die Zustimmungen durch das Schicksal zustande kommen« (§  44), also die libertarischen Gegner Chrysipps, nach Cicero zwei verschiedene Standpunkte vertreten, von denen lediglich der erste dem von Chrysipp vertretenen Standpunkt wirklich entgegengesetzt wäre, während der zweite der Sache nach mit ihm übereinstimmen würde. Sollten sie den ersten vertreten, »so ist das eine andere Angelegenheit«, wenn sie hingegen den zweiten vertreten, »so dürften sie doch wohl dasselbe sagen (wie Chrysipp)« (ebd.). Merkwürdigerweise beschreibt Cicero die beiden Standpunkte dem uns überlieferten Text zufolge in einer Weise,



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die keinen sachlichen Unterschied zwischen ihnen erkennen läßt. Da er offenbar sagen will, daß sie sich darin voneinander unterscheiden, daß man je nachdem, welchen von ihnen man vertritt, entweder zugesteht oder nicht zugesteht, daß eine Zustimmung nicht ohne eine ihr vorhergehende Vorstellung zustande kommen kann, liegt die Vermutung nahe, daß im ersten Satz von § 44 vor fateantur ein non (»nicht«) ausgefallen ist, daß also zu lesen ist: si illi, qui negant assensiones fato fieri, 〈non〉 fateantur tamen eas non sine viso antecedente fieri, alia ratio est (»sollten diejenigen, die bestreiten, daß die Zustimmungen durch das Schicksal zustande kommen, 〈nicht〉 das Zugeständnis machen, daß sie gleichwohl nicht zustande kommen, ohne daß ihnen eine Vorstellung vorherginge, so ist das eine andere Angelegenheit«). Johann Heinrich Bremi, der diese in der vorliegenden Ausgabe übernommene Korrektur mit der Begründung, was der Text in seiner überlieferten Gestalt besage, sei ungereimt, am Ende des 18. Jahrhunderts vorgeschlagen hat, weist den im 16. Jahrhundert von Dionysius Lambinus gemachten Vorschlag, das vor sine viso überlieferte non, das bereits Georgius Valla in seiner um 1485 in Venedig erschienenen Ausgabe wegließ, zu tilgen, mit Recht zurück – ohne ihn zu nennen, ist ihm Otto Heine, der si … fateantur (»sollten sie das Zugeständnis machen«) in si … infitiantur (»wenn sie leugnen«) zu korrigieren vorschlägt, hierin gefolgt (vgl. 1859: 2, Anm. 1) –, plädiert aber zu Unrecht dafür, tamen zu tilgen und non sine in non nisi (nicht »nisi sine« [Giomini 1975: 171, Anm. zu Z.  22–23]) zu ändern (vgl. Bremi 1795: 74–76; zur Kritik an dem damit, daß von einem »Zugeständnis« der Libertarier die Rede ist, nicht zu vereinbarenden Vorschlag, sine viso statt non sine viso zu lesen, den Rackham [vgl. 1942: 240] unter Berufung auf Lambinus und Calanchini [vgl. 2015: 60, 72] ebenso wie Bobzien [vgl. 1998: 318f., Anm. 162] unter Berufung auf Valla übernom-

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men hat, siehe auch Stüve 1895: 53, Koch 2011: 441 [Anm. 151]). Hamelin, der es für unerläßlich hält, die von Bremi konjizierte Lesart 〈non〉 fateantur zu übernehmen, hat das von Bremi verworfene tamen (»gleichwohl«) mit Recht als einen Bestandteil des Textes verteidigt, der durch die Übernahme dieser Lesart keineswegs seine Bedeutung verliert (vgl. 1978: 53). Die Frage, ob tamen auf fateantur oder auf fieri zu beziehen ist, dürfte nicht mit Marwede (vgl. 1984: 236) und Schallenberg (vgl. 2008: 264f.), die sich Hamelin in der Frage, wie der offenbar verderbte Text ursprünglich gelautet haben dürfte, angeschlossen haben, zugunsten des Bezugs auf fateantur zu beantworten sein (»gleichwohl 〈nicht〉 das Zugeständnis machen«), sondern mit Hamelin (vgl. 1978: 53) zugunsten des Bezugs auf fieri (»gleichwohl nicht zustande kommen«). Wer, wie Stüve (vgl. 1895: 53, 55), Yon (vgl. 1933: XXXf. [Anm. 2], 23), Bayer (vgl. 2000: 64f., 166–168), Hülser (vgl. I 1987: 400f. [FDS 367]), Sharples (vgl. 1991: 88f., 191f.), Magris (vgl. 1994: 72), Koch (vgl. 2011: 440f.) und Maso (vgl. 2014: 74f.), den handschriftlich überlieferten Text nicht für korrekturbedürftig hält – Magris hat allerdings mit seiner Übersetzung, die falsch ist (vgl. 1994: 73), und Maso mit seinem Kommentar, der die Dinge auf den Kopf stellt und am Kern der Sache vorbeigeht (vgl. 2014: 169–171), den Sinn dieses Textes verfehlt –, muß Cicero unterstellen, daß er nicht zwei mögliche Standpunkte der Libertarier einander gegenüberstellen will, von denen sich der eine der Sache nach, der andere hingegen nur in der Formulierung von Chrysipps Standpunkt unterscheidet, sondern zwei mögliche libertarische Standpunkte, von denen der eine dem Standpunkt Chrysipps nur in der Formulierung und der andere überhaupt nicht entgegengesetzt ist, daß also mit alia ratio est nicht gemeint ist: »so ist das eine andere Angelegenheit«, sondern lediglich, wie Bayer übersetzt (2000: 65): »so ist das eine andere Art der Argumentation«.



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Kleywegt, der zwar der Ansicht ist, daß diese Übersetzung das, was Cicero sagen will, genau trifft, aber bezweifelt, daß ratio soviel wie »Argumentationsweise«, »Ausdrucksweise« oder »Formulierung« bedeuten kann, hat vorgeschlagen, das als Träger dieser Bedeutung eher in Frage kommende Wort oratio, das auf dem Weg der Überlieferung des Textes ja leicht zu ratio verlesen oder verschrieben worden sein könnte, an die Stelle dieses Wortes zu setzen, also alia oratio est zu lesen (vgl. 1973: 345f.). Gegen diesen Vorschlag und überhaupt gegen die Annahme, daß Cicero zwischen den beiden fraglichen Standpunkten keinen sachlichen, sondern lediglich einen terminologischen Unterschied sieht, spricht jedoch seine Behauptung, daß die Libertarier, wenn sie den zweiten Standpunkt vertreten, »doch wohl dasselbe sagen dürften (wie Chrysipp)« (vide, ne idem dicant); denn mit dieser Behauptung gibt er ja zu verstehen, daß er mit der Behauptung, falls sie den ersten Standpunkt vertreten sollten, sei dies eine alia ratio, meint, daß sie in diesem Falle etwas anderes sagen würden als Chrysipp, und nicht etwa, daß sie dann in einer anderen Formulierung und unter Verwendung einer anderen Terminologie dasselbe sagen würden wie er. Bestätigt wird diese Interpretation durch Ciceros abschließende Feststellung, daß »sich die beiden Parteien«, d. h. Chrysipp und die Vertreter des zweiten Standpunkts, »nur in Worten, aber nicht in der Sache uneinig sind« (§ 44), in der Kleywegt zu Unrecht eine Bestätigung für seine Konjektur sieht (vgl. 1973: 349). Bezeichnenderweise gibt Yon, der es für »sehr akzeptabel« hält, den Worten alia ratio est die Bedeutung »sie argumentieren anders (als Chrysipp)« beizulegen, unumwunden zu, daß man diese Worte lieber in einem Sinne verstehen würde, in dem sie »einen starken Gegensatz« zu dem ausdrücken würden, was die Worte vide, ne idem dicant zum Ausdruck bringen (vgl. 1933: XXXI, Anm. 2). Wie Hamelin mit Recht hervorhebt

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(vgl. 1978: 53), bringen sie und diese Worte tatsächlich einen starken Gegensatz zum Ausdruck, nämlich den Gegensatz zwischen der radikal libertarischen Auffassung, daß die Zustimmung, die man einer Vorstellung gibt, dermaßen frei ist, daß diese Vorstellung keine Voraussetzung für sie ist, und der gemäßigt libertarischen Auffassung, daß die Zustimmung, die man einer Vorstellung gibt, diese Vorstellung zwar voraussetzt, aber insofern frei ist, als diese Vorstellung es nicht notwendig macht, daß man sie ihr gibt. Was die erste dieser beiden Auffassungen betrifft, so ist sie, wie Hamelin ebenfalls mit Recht betont, so abwegig, daß es sich bei ihr wohl kaum um eine Auffassung handeln kann, die von den Libertariern tatsächlich vertreten wird (vgl. ebd.). Daß Cicero, nachdem er ihr die zweite Auffassung gegenübergestellt hat, kein Wort mehr über sie verliert, zeigt, daß er nur einen fiktiven Standpunkt in ihr sieht, den er lediglich erwähnt, um einen rhetorisch wirkungsvollen Kontrast zu der ihr entgegengesetzten Auffassung zu schaffen. (Da Cicero die beiden Auffassungen als zwei mögliche Standpunkte ein und derselben Gruppe libertarischer Philosophen beschreibt, ist es irreführend, zwischen »Libertariern I« [Schallenberg 2008: 274, 275], denen angeblich die erste, und »Libertariern II« [ebd.], denen angeblich die zweite Auffassung zuzuschreiben ist, zu unterscheiden.) Der Satz, der auf Ciceros Beschreibung der beiden Auffassungen unmittelbar folgt, ist in einer Gestalt überliefert, in der er außer dem neque (»auch … nicht«), mit dem er beginnt, noch ein zweites neque (»aber nicht«) enthält, das seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in den meisten Ausgaben weggelassen oder als ein wegzulassendes Wort gekennzeichnet wurde, und zwar nicht erst »from the Veneta altera, 1496, on« (Kleywegt 1973: 347), sondern bereits in der von Georgius Valla besorgten venezianischen Ausgabe (ca. 1485), während es »in der Veneta prior (1471) noch zu lesen« ist (Schallenberg 2008: 270, Anm.



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579). Dieses zweite neque scheint deshalb unecht zu sein, weil der fragliche Satz so konstruiert zu sein scheint, daß es keine Funktion in ihm hat, nämlich so, daß der AcI eam causam esse ad assentiendum necessariam (»daß diese Ursache das Zustimmen notwendig macht«) von concedet (»wird … einräumen«) abhängt und der ut-Satz eine Folgerung ausdrückt, die sich ergäbe, wenn Chrysipp das, was dieser AcI besagt, einräumen würde. Cicero scheint mit dem fraglichen Satz also sagen zu wollen: »Denn auch Chrysipp wird ja, wenngleich er einräumt, daß die rangmäßig als nächste wirksame Ursache der Zustimmung, die unmittelbar (an sie) angrenzt, in der Vorstellung zu finden ist, nicht einräumen, daß diese Ursache das Zustimmen notwendig macht, so daß dann, wenn alles durch das Schicksal geschieht, alles aufgrund (ihm) vorhergehender und (es) notwendig machender Ursachen geschähe.« Rackham, der das zweite neque unter Berufung auf Turnebus tilgt (vgl. 1942: 240), Hülser, der es unter Berufung auf die Veneta altera und Lambinus tilgt (vgl. I 1987: 402 [FDS 367]), und Bayer, der es in der Annahme, es sei »als eine in der gesprochenen Rede mögliche Anaphora« (d. h. als eine redundante Wiederholung des ersten neque) zu »werten« (2000: 169), beibehält, übersetzen den fraglichen Satz in diesem Sinne (vgl. Rackham 1942: 241, Hülser I 1987: 401/403, Bayer 2000: 65). Kleywegt, der Bayers Erklärung des zweiten neque mit Recht zurückweist (vgl. 1973: 347f.), hat eine Erklärung vorgelegt, die Wilhelm Christ im textkritischen Apparat seiner 1861 erschienenen Ausgabe im wesentlichen schon vorweggenommen hat. Christ merkt zu dem zweiten neque an, es zu tilgen sei deshalb falsch, weil das, wovon der fragliche Satz behaupte, Chrysipp werde es nicht einräumen, nicht in den concedet vorhergehenden Worten eam causam … necessariam enthalten sei, sondern in den auf concedet folgenden Worten ut, si omnia … necessariis (vgl. 1861: 580, Anm. zu Z. 30). Wie Kleywegt, dem diese An-

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merkung Christs entgangen zu sein scheint, darlegt (vgl. 1973: 348f.), korrespondiert das zweite neque nicht dem ersten neque, das vielmehr in dem -que von itemque (»und ebenso«) sein Gegenstück hat, sondern verknüpft in der adversativen Bedeutung »aber nicht« die beiden AcI-Konstruktionen assensionis proximam et continentem causam esse in viso positam (»daß die rangmäßig als nächste wirksame Ursache der Zustimmung, die unmittelbar [an sie] angrenzt, in der Vorstellung zu finden ist«) und eam causam esse ad assentiendum necessariam (»daß diese Ursache das Zustimmen notwendig macht«) miteinander, so daß der zweite AcI nicht von concedet, sondern ebenso wie der erste von concedens abhängt, während von concedet der ut-Satz abhängig ist, in Verbindung mit dem concedere ausnahmsweise nicht in der Bedeutung »zulassen«, »erlauben«, sondern in der Bedeutung »zugestehen«, »einräumen« gebraucht wird. Als zwei mit der vorliegenden Stelle vergleichbare Beispiele dafür, daß die Regel der Schulgrammatik, nach der concedere in Verbindung mit einem AcI die letztere und in Verbindung mit einem finalen ut-Satz die erstere Bedeutung hat, von Cicero nicht so strikt befolgt wird, daß es keine Ausnahmen von ihr gäbe, führt Kleywegt die beiden Stellen Lael. 18 und De off. I 129 an. Burkard und Schauer, die in ihrem Lehrbuch bemerken: »Zuweilen steht concedere, ut, wo eigentlich der AcI zu erwarten wäre« (2012: 774 [§ 527, Anm. 1 zu 1e]), verweisen auf die Stelle De fin. V 78. Skassis, der neben dieser und den beiden zuerst genannten Stellen auch noch die Stelle De or. I 248 anführt, lehnt Christs Erklärung mit der wenig plausiblen Begründung ab, er glaube nicht, daß concedere von Cicero in ein und demselben Satz sowohl in der einen als auch in der anderen Weise konstruiert werde (vgl. 1915: 37). Nach der Christ-Kleywegtschen Interpretation, die Giomini (vgl. 1975: 172, Anm. zu Z.  1) und Marwede (vgl. 1984: 237f.) im Anschluß an Christ und Eisenberger (vgl. 1979: 166, Anm.



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37), Sharples (vgl. 1991: 88f., 192f.) und Maso (vgl. 2014: 74–77, 171f.) im Anschluß an Kleywegt übernommen haben und die ihrer Plausibilität wegen auch in der vorliegenden Ausgabe übernommen wurde, besagt der fragliche Satz: »Denn auch Chrysipp, der zwar einräumt, daß die rangmäßig als nächste wirksame Ursache der Zustimmung, die unmittelbar (an sie) angrenzt, in der Vorstellung zu finden ist, aber nicht, daß diese Ursache das Zustimmen notwendig macht, wird ja nicht einräumen, daß dann, wenn alles durch das Schicksal geschieht, alles aufgrund (ihm) vorhergehender und (es) notwendig machender Ursachen geschieht.« Calanchini teilt zwar die von Christ und Kleywegt vertretene Ansicht, daß von concedens nicht nur der erste, sondern auch der zweite AcI und von concedet der ut-Satz abhängig ist, versteht aber den zweiten AcI so, daß er ebenso wie der erste ein »Eingeständnis« Chrysipps zum Ausdruck bringt, nämlich das Eingeständnis, »dass diese Ursache für den Zustimmungsprozess notwendig sei« (2015: 63), daß es sich also bei der Vorstellung um eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen der Zustimmung handle. Für diese Interpretation, die sie dazu veranlaßt, die überlieferten Worte neque eam causam (»aber nicht, daß diese Ursache«) in eamque causam (»und daß diese Ursache«) zu ändern (vgl. 2015: 62, 72), kann sie sich zwar darauf berufen, daß das Gerundium ad assentiendum »darauf hindeutet, dass necessarius hier im Sinne von ›unerlässlich/unentbehrlich im Hinblick auf das Zustandekommen‹ und nicht etwa von ›nezessitierend/zwingend hervorbringend‹ zu verstehen ist« (2015: 129); gegen diese Interpretation spricht jedoch die genau auf das Gegenteil hindeutende Tatsache, daß unter den causae antecedentes et necessariae, von denen in dem ut-Satz die Rede ist, »nezessitierende« Ursachen zu verstehen sind, d. h. Ursachen, die dem Verursachten nicht als Bedingungen vorhergehen, die notwendig für es sind, sondern als Bedin-

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gungen, die es notwendig machen, die also hinreichend für es sind. Angesichts dieser Tatsache, die Calanchini ausdrücklich anerkennt (vgl. ebd.), ist es naheliegend, necessarius in der Wendung ad assentiendum necessariam »as also signifying ›necessitating‹« (Sharples 1991: 192) aufzufassen (vgl. Yon 1933: XXXII [Anm. 1: »causa necessaria = cause nécessitante«], 23), diese Wendung also nicht im Sinne von »zum Zustimmen nötig«, sondern im Sinne von »zum Zustimmen nötigend«, »das Zustimmen erzwingend« zu interpretieren, zumal diese Interpretation an dem zweiten neque, das Calanchini durch ein an eam anzuhängendes -que ersetzen muß, festzuhalten erlaubt. Yon hält an dem zweiten neque in der Annahme fest, Cicero verwende in dem (nur in § 44, wo er zweimal vorkommt, von ihm verwendeten) Ausdruck proxima et continens causa das Wort continens nicht in der Bedeutung »zusammenhängend«, »benachbart«, »angrenzend«, um auszudrücken, daß er eine dem Verursachten unmittelbar vorhergehende Ursache meint, sondern in der Bedeutung »(alles) zusammenhaltend«, »(das Wichtigste) enthaltend«, »die Hauptsache bildend«, um auszudrücken, daß er eine von denjenigen Ursachen meint – nach Yon handelt es sich bei ihnen um Ursachen, die für ihre Wirkung hinreichend sind  –, die er in §  19 causae cohibentes in se efficientiam naturalem (»Ursachen, die eine natürliche Wirkungskraft in sich haben«) und in § 41 causae perfectae et principales (wörtlich: »vollendete und die erste Stelle einnehmende Ursachen«) nennt (vgl. 1933: XXXIf. [Anm.  1]; zu den beiden genannten Bedeutungen des Wortes continens vgl. Görler 1987: 271, 273, Sharples 1991: 200f.). Ausgehend von dieser Annahme und der zwangsläufig mit ihr verbundenen Annahme, daß unter einer proxima causa nicht eine dem Rang nach als nächste wirksame Ursache zu verstehen ist, sondern eine Ursache, die dem Verursachten am nächsten steht (d.  h. ihm unmittelbar vorhergeht), faßt Yon den fraglichen Satz als so konstruiert auf,



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daß concedens, verbunden mit dem ersten AcI, durch das erste neque und concedet, verbunden mit dem zweiten AcI, durch das zweite neque negiert wird und daß das ut als ein konsekutives ut fungiert. Seiner Ansicht nach besagt der fragliche Satz also: »Denn Chrysipp wird ja, da er nicht einräumt, daß in der Vorstellung die nächste und (zugleich) hinreichende Ursache der Zustimmung zu finden ist, auch nicht einräumen, daß sie eine Ursache ist, die das Zustimmen notwendig macht, so daß …« (vgl. 1933: XXXII [Anm. 1], 23). Abgesehen davon, daß unter einer continens causa, wenn das Wort continens in diesem Ausdruck die zweite der beiden genannten Bedeutungen hätte, wohl eher die hauptsächliche und entscheidende von mehreren in Verbindung miteinander hinreichenden Ursachen zu verstehen wäre als eine für sich allein hinreichende Ursache, ist Yons Interpretation des fraglichen Satzes deshalb verfehlt, weil mit diesem Satz, wenn er so konstruiert wäre, wie Yon annimmt, nicht gemeint wäre, daß Chrysipp, da er nicht einräume, daß die Vorstellung die proxima et continens causa der Zustimmung ist, auch nicht einräumen werde, daß die Vorstellung das Zustimmen notwendig macht, sondern vielmehr, was völlig ungereimt wäre, daß Chrysipp, da er nicht einräume, daß die proxima et continens causa der Zustimmung die Vorstellung ist, auch nicht einräumen werde, daß diese causa das Zustimmen notwendig macht. Verfehlt ist auch Yons Verständnis des Kausalsatzes quod proxima illa et continens causa non moveat assensionem, der das, was er begründen soll, nicht etwa, wie Yon unterstellt (vgl. 1933: 23), mit der Behauptung begründet, bei der Vorstellung handle es sich nicht um die proxima et continens causa, welche die Zustimmung herbeiführe, sondern mit der Behauptung, die proxima et continens causa, um die es sich bei der Vorstellung handle, führe die Zustimmung nicht herbei (vgl. Kleywegt 1973: 343f.). Wäre unter dieser causa eine für die Zustimmung hin-

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reichende Ursache zu verstehen, würde continens also soviel wie »causing in and by itself« (Kleywegt 1973: 344) bedeuten, und hieße die Zustimmung herbeizuführen, sie »necessarily by itself« (Marwede 1984: 237) herbeizuführen, so würde es, wie Kleywegt mit Recht gegen Yons Deutung des Ausdrucks continens causa einwendet (vgl. 1973: 344), auf einen Widerspruch hinauslaufen, von einer die Zustimmung nicht herbeiführenden continens causa der Zustimmung zu sprechen. In sich widersprüchlich wäre die Rede von einer continens causa der Zustimmung, die diese nicht herbeiführt, freilich auch dann, wenn unter dieser causa diejenige unter den am Zustandekommen der Zustimmung beteiligten Ursachen zu verstehen wäre, die als die für ihr Zustandekommen entscheidende Ursache den Prozeß ihrer Verursachung zum Abschluß bringt, die also »das Zustimmen«, das bis zum Abschluß dieses Prozesses nur möglich ist, dadurch »notwendig macht«, daß sie den Komplex der für es notwendigen Bedingungen, die bereits erfüllt sind, zu einem für es hinreichenden Bedingungskomplex ergänzt, und wenn die Zustimmung herbeizuführen hieße – was movere assensionem wohl auch tatsächlich heißt –, in diesem Sinne ad assentiendum necessaria zu sein, das Zustimmen also in diesem Sinne notwendig zu machen. Die eine akzeptable Deutung der beiden Sätze, in denen von einer proxima et continens causa die Rede ist, nicht zulassende Gleichsetzung des Begriffs der continens causa mit dem Begriff der causa perfecta et principalis, die Yon ebenso wie seine Übersetzung des Ausdrucks proxima et continens causa mit »nächste und hinreichende Ursache« (»cause prochaine et suffisante« [1933: 23]) von Hamelin übernommen hat (vgl. Hamelin 1978: 43, 54), nimmt auch Frede vor, den sie ebenfalls zu einer verfehlten Interpretation dieser beiden Sätze geführt hat (vgl. 1980: 245 [1987: 146]). Wie Görler, der Frede vorwirft, dem Text mit seiner auf dieser Gleichsetzung beruhenden Interpretation



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Gewalt anzutun (vgl. 1987: 270, Anm. 34), mit Recht bemerkt, »sind die Schwierigkeiten unüberwindlich« (ebd.), wenn man sie vornimmt. Daß die beiden Wörter proxima und continens in dem genannten Ausdruck gleichbedeutend zur Bezeichnung einer der Wirkung am nächsten stehenden Ursache gebraucht werden, was Görler, der nicht der einzige ist, der diese Ansicht vertritt (vgl. Schallenberg 2008: 269, Anm. 576), für »äußerst wahrscheinlich« (1987: 270) hält, ist aus zwei Gründen eher unwahrscheinlich: Erstens ist die Verwendung von proxima als Gegenwort zu principalis (vgl. §  42: proximam causam …, non principalem) ein Indiz dafür, daß dieses Wort als Attribut von causa »dem Rang nach als nächste wirksam« bedeutet, und zweitens sind es ja zwei Ursachen, die der Zustimmung des Handelnden als der gemeinsamen Wirkung der in ihm hervorgerufenen Vorstellung einerseits und der Natur seines Geistes andererseits am nächsten stehen, die also jeweils das letzte Glied der beiden Ursachenketten bilden, die sich in seiner Zustimmung schneiden. Die Annahme liegt daher nahe, daß proxima in der Bedeutung »dem Rang nach als nächste wirksam« die Zugehörigkeit der als proxima et continens bezeichneten causa zur ersten dieser beiden Ursachenketten und nur continens in der Bedeutung »der Wirkung am nächsten stehend«, »an das Verursachte unmittelbar angrenzend« ihre Stellung innerhalb dieser Kette zum Ausdruck bringen soll. (Keinen Anhaltspunkt gibt es für die Vermutung Bobziens, zur Bezeichnung der in § 41 causae adiuvantes et proximae genannten Ursachen werde in §  44 deshalb das Wort continens verwendet, weil diese Ursachen nach stoischer Auffassung in dem Sinne »zusammenhaltend« [»cohesive«] seien, daß sie, »if one considers their function in the universe as a whole«, »serve to hold the universe qua universe together« [1998: 319, Anm. 163; 1999: 235].)

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Der naheliegenden Auffassung, daß die beiden Wörter principalis und proxima als Attribute von causa »dem Rang nach als erste wirksam« und »dem Rang nach als nächste wirksam« bedeuten, stehen zwei Auffassungen entgegen — die eine wird von Görler, die andere von Bobzien vertreten —, die wenig plausibel sind. Görler meint, principalis diene als Attribut von causa nicht in der Bedeutung »hauptsächlich« zur Bezeichnung einer rangmäßig als erste wirksamen Ursache, sondern in der Bedeutung »anfänglich« zur Bezeichnung einer »›von Anfang an wirkenden‹ Ursache« (1987: 256), d. h. einer »auf ihre Verwirklichung gewissermaßen wartenden ›Vor-Ursache‹« (1987: 259), die »eine bestimmte Voraussetzung, eine Prädisposition, für ein späteres Geschehen« schaffe (ebd.; vgl. 266). Bobzien will die Unterscheidung zwischen causae perfectae et principales und causae adiuvantes et proximae nicht so verstanden wissen, daß es sich bei den ersteren um diejenigen Ursachen handelt, die in denjenigen Fällen, in denen die letzteren einer bestimmten Wirkung in der Rolle eines der Person oder der Sache, die von ihr betroffen ist, »äußerlichen« kausalen Faktors vorhergehen, mit den letzteren in der Rolle eines dieser Person oder Sache »innerlichen« kausalen Faktors »kooperieren«, sondern so, daß es sich bei den ersteren um mögliche »Alternativen« zu den letzteren handelt, die dann, wenn sie einer bestimmten Wirkung an deren Stelle vorhergehen würden, »nezessitierende« (d. h. sie erzwingende) Ursachen für sie wären (vgl. 1998: 261, 1999: 205f., 213–218). Gegen Görlers Interpretation der genannten Unterscheidung, nach der »Ciceros causae principales« gleichzusetzen sind »mit den für die Stoiker bezeugten αἴτια προκαταρκτικά« (1987: 264; vgl. 259), und für die herkömmliche Interpretation, nach der sich die causae adiuvantes et proximae Ciceros mit den von den Stoikern als »prokatarktisch« bezeichneten Ursachen decken, spricht nach Donini (vgl. 1989: 124f., Anm.  2)



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ein einschlägiger Text Plutarchs (LS 55R, Sharples 1991: 100f. [Appendix D]; vgl. zu diesem Text die Anmerkungen zu §§ 34– 37a), durch den Görler allerdings seine Interpretation gerade bestätigt sieht (vgl. 1987: 260–263). Schröder, der ebenfalls der Meinung ist, daß dieser Text eher die herkömmliche Interpretation stützt als diejenige Görlers (vgl. 1989: 219), hat gezeigt, daß dessen Interpretation auch aus einer Reihe anderer Gründe unhaltbar ist (vgl. 1989: 211–220). Unhaltbar ist Görlers Interpretation vor allem deshalb, weil sie (was in Schröders Kritik nur angedeutet ist; vgl. 1989: 214f., Anm. 16) den in De fato 41 referierten Einwand Chrysipps gegen das Argument seiner libertarischen Gegner, das in De fato 40 referiert wird, unverständlich macht. Dieser Einwand beruht ja auf der Überlegung, daß unsere Willensakte nur dann nicht in unserer Macht stünden, wenn die ihnen als ihre causa principalis vorhergehende Ursache nicht in unserer Macht stünde, und daß dies deshalb nur dann der Fall wäre, wenn alles, was geschieht, eine ihm vorhergehende causa principalis hätte, weil es nur dann, wenn dem so wäre, für unsere Willensakte keine ihnen vorhergehende Ursache dieser Art gäbe, der keine andere Ursache dieser Art mehr vorherginge, und damit keine Ursache dieser Art, die in unserer Macht stehen könnte (vgl. die Anmerkungen zum vorangehenden Abschnitt). Wenn sich Chrysipp von dieser Überlegung leiten ließ, kann er unter den von Cicero causae principales genannten Ursachen aber wohl kaum »›Vor-Ursachen‹ für künftiges Geschehen« verstanden haben, »die als solche vorerst bloße Möglichkeit bleiben« (Görler 1987: 262), sondern er muß Ursachen unter ihnen verstanden haben, die ein künftiges Geschehen, das bis zu ihrem Eingreifen nur möglich ist, als Hauptursachen für es notwendig machen und dadurch den Prozeß seiner Verursachung zum Abschluß bringen. Diese Interpretation wird nicht nur durch den ersten Satz von § 42 bestätigt, mit dem Cicero den Einwand Chrysipps ge-

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Anmerkungen §§ 44–45

gen das antifatalistische Argument der Libertarier resümiert, sondern vor allem auch durch die Worte, mit denen er in § 44 den Standpunkt Chrysipps erläutert. Die Interpretation Bobziens, nach der die vollendeten Ursachen nicht mit den auf die Mithilfe äußerlicher Ursachen angewiesenen innerlichen Ursachen identisch sind, beruht auf zwei Annahmen, die beide fragwürdig sind, nämlich erstens auf der Annahme, die innerlichen Ursachen seien im Gegensatz zu den vollendeten keine Ursachen, die ihrer Wirkung vorhergehen, und zweitens auf der Annahme, die vollendeten Ursachen seien im Gegensatz zu den innerlichen keine Ursachen, die auf die Mithilfe anderer Ursachen angewiesen sind. Was die erste Annahme betrifft, so dürfte Chrysipp unter »vorhergehenden Ursachen« (causae antecedentes) keine Ursachen verstanden haben, die ihrer Wirkung in dem Sinne vorhergehen, daß sie schon vor dem Stattfinden ihrer Wirkung dazu beitragen, daß diese stattfindet, wie Bobzien meint (vgl. 1998: 21 [»c is an antecedent cause of an effect e, if the period of time at which  c is active in contributing to  e precedes, at least in part, the period of time at which the effect obtains«], 1999: 204), sondern Ursachen, die ihrer Wirkung lediglich in dem Sinne vorhergehen, daß sie schon vor dem Stattfinden ihrer Wirkung vorhanden sind, in einem Sinne also, in dem auch die innerlichen Ursachen causae antecedentes sein können. Nach Long und Sedley ist der Ausdruck προηγουμένη αἰτία (»vorhergehende Ursache«) »in Stoicism [...] perhaps no more than a generic term for causes, of whatever variety, which pre-exist their effects — including sustaining causes, which, pending the triggering preliminary causes, can precede their individual effects« (Long/Sedley I 1987: 342), und nach Görler ist »jede Ursache [...] für die Stoiker eine προηγουμένη αἰτία« (1987: 259, Anm. 13). »›Vorausgehende‹ Ursachen sind alle Glieder der Kausalkette, ohne jede nähere Spezifizierung« (Görler



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1987: 268, Anm. 30; zur gegenteiligen Ansicht vgl. Schallenberg 2008: 280). Was die zweite Annahme anbelangt, so dürften die sogenannten »vollendeten Ursachen« (causae perfectae) in den Augen Chrysipps nicht, wie Bobzien meint, die sich mit dieser Ansicht Görler (vgl. 1987: 258 [Anm. 9], 267) und Schröder (vgl. 1990: 8–10) anschließt, in dem Sinne vollendet sein, daß sie für ihre Wirkung allein verantwortlich sind, sondern lediglich in dem Sinne, daß sie für ihre Wirkung die hauptsächliche und entscheidende Verantwortung tragen (vgl. hierzu die Anmerkungen zu §§ 34–37a). Trotz der Schwierigkeiten, die der Text des vorliegenden Abschnitts in einer Reihe von Punkten dem Verständnis bereitet, ist sein Kerngedanke klar: Chrysipp und seine libertarischen Gegner sind sich insofern »nur in Worten, aber nicht in der Sache uneinig« (§ 44), als die Libertarier die Ansicht Chrysipps, die Zustimmung, die wir einer Vorstellung geben, habe in dieser Vorstellung zwar eine ihr vorhergehende Ursache, werde durch diese Vorstellung aber nicht erzwungen, uneingeschränkt teilen und seine Ansicht, unsere Zustimmungen seien gleichwohl vom Schicksal bestimmt, nur deshalb ablehnen, weil sie mit der Rede davon, daß etwas vom Schicksal bestimmt ist, einen anderen Sinn verbinden als er, nämlich einen Sinn, in dem nicht alle Geschehnisse, die ihnen vorhergehende Ursachen haben, vom Schicksal bestimmt sind, sondern nur diejenigen, denen Ursachen vorhergehen, durch die sie ohne unsere Mitwirkung verursacht werden. Daß es lediglich ein anderer Schicksalsbegriff ist, der die Libertarier nach Ciceros Darstellung von Chrysipp, was dessen Zustimmungslehre betrifft, trennt, wird vor allem in § 45 deutlich. Chrysipp und die Libertarier werden dort nämlich als zwei Parteien einander gegenübergestellt, die zwar beide anerkennen, daß man zwischen Fällen, in denen einem Ereignis Ursachen vorausgegangen sind, durch die es unserer Einflußnahme

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Anmerkungen §§ 44–45

entzogen ist, auf der einen Seite und Fällen, in denen einem Ereignis Ursachen vorausgegangen sind, die uns die Möglichkeit lassen, Einfluß auf es zu nehmen, auf der anderen Seite unterscheiden muß, aber insofern geteilter Meinung sind, als »die eine Partei« (alteri) der Ansicht ist, nur in Fällen der zuerst genannten Art habe das Schicksal seine Hand im Spiel, während »die andere« (alteri) – so muß die Fortsetzung des an dieser Stelle, an der die Lücke C beginnt, plötzlich abbrechenden Textes sinngemäß gelautet haben – die Ansicht vertritt, auch die Ereignisse, um die es sich in Fällen der zuletzt genannten Art handelt, seien vom Schicksal bestimmt, durch das Schicksal geschehe also alles, was geschieht (vgl. Yon 1933: XXXII, Hamelin 1978: 39f., Eisenberger 1979: 166, Marwede 1984: 14f., Schröder 1990: 151, Bobzien 1998: 321 [Anm. 166]). Im Gegensatz zu den mit dem noch erhalten gebliebenen ersten alteri gemeinten Libertariern, die als Vertreter der Ansicht, die unmittelbar vor der Lücke C beschrieben wird, einen sehr engen Schicksalsbegriff haben, haben Chrysipp und seine Anhänger, die mit dem nicht mehr erhalten gebliebenen zweiten alteri gemeint sind, als Vertreter der Ansicht, mit deren Beschreibung der in der Lücke C verlorengegangene Text begonnen haben muß, einen Schicksalsbegriff, der sehr weit ist. (Mehr Spekulation als Interpretation ist Masos Deutung des letzten Satzes von § 45. Maso meint, im übriggebliebenen Teil dieses unvollständig überlieferten Satzes werde auf seiten der Stoiker, die seiner Meinung nach mit dem ersten alteri gemeint sind, zwischen Vertretern eines inkompatibilistischen, »harten« und Vertretern eines kompatibilistischen, »weichen Determinismus« unterschieden, und vermutet daher, daß im verlorengegangenen Teil des Satzes auf seiten der seiner Meinung nach mit dem zweiten alteri gemeinten Epikureer zwischen Vertretern einer »radikalen Version« der Abweichungstheorie Epikurs, nach der die Bahnabweichung der Atome mit einer



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»völlig ungeordneten Zufälligkeit« stattfinde, und Vertretern einer »gemäßigten Version« dieser Theorie, nach der die Zufälligkeit der atomaren Bahnabweichung »eine gewisse Ordnung« aufweise, unterschieden worden sei [vgl. 2012: 125–128, 2014: 172f.].) Der letzte Satz von § 45 ist insofern ungenau formuliert, als das, was in ihm von den beiden zu unterscheidenden Arten von »Fällen« (res) gesagt wird, eigentlich die Ereignisse betrifft, um die es sich in diesen beiden Arten von Fällen jeweils handelt. Da diese Ereignisse nicht nur mit dem illa (wörtlich: »jene Dinge«) des ersten Satzes von §  45 gemeint sind, das durch den Relativsatz quorum causae fuerint (»für die sie Ursachen gewesen seien«) näher bestimmt wird, sondern offenbar auch mit dem illa des letzten Satzes, ist es verfehlt, dieses zweite illa in ein auf res zu beziehendes illae zu ändern. (Im Anschluß an John Davies, einen Herausgeber der Schrift De fato, dessen Ausgabe 1721 in erster und 1730 in zweiter Auflage erschien, haben Yon [1933: 24] und Bayer [2000: 66, 94] diese Änderung vorgenommen.) Aus Ciceros Bemerkung, Chrysipp und seine libertarischen Gegner seien sich »nur in Worten, aber nicht in der Sache uneinig« (§ 44), darf man nicht schließen – vor diesem Fehlschluß wurde bereits in der Einführung gewarnt (vgl. den Abschnitt 4.4)  –, Cicero halte den von Chrysipp unternommenen Versuch, zwischen der streng deterministischen Auffassung, »alles geschehe in der Weise durch das Schicksal, daß das Schicksal den Zwang der Notwendigkeit mit sich bringe« (§ 39), und der libertarischen Auffassung, »es gebe freie Willensbewegungen unseres Geistes, die vom Schicksal völlig unabhängig seien« (ebd.), einen Kompromiß zu finden, der aus dem Streit zwischen ihm und den Libertariern einen bloßen Streit um Worte macht, für gelungen. Daß das, was Cicero im vorliegenden Abschnitt über die sachliche Übereinstimmung ausführt, die in der Frage

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nach der Verursachung eines Willensaktes zwischen Chrysipp und den Libertariern besteht, nicht sein letztes Wort zu diesem Streit gewesen sein kann (»non […] l’ultima parola del De fato« [Donini 1989: 141]), daß er die Akten über diesen Streit also nicht, wie Yon glaubt (vgl. 1933: XXX, XXXII [Anm. 3]), in der Annahme, es sei am Ende zu einer »Versöhnung« zwischen den streitenden Parteien gekommen, mit dem letzten Satz von § 45 geschlossen haben kann, geht vor allem aus zwei Äußerungen hervor, mit denen er zu dem Versuch Chrysipps, die Vereinbarkeit von Schicksalsmacht und Willensfreiheit nachzuweisen, kritisch Stellung nimmt (vgl. Marwede 1984: 15f., Schallenberg 2008: 290f., Mayet 2010: 276–278): An der Stelle, an der er darauf hinweist, daß Chrysipp zwischen dem Standpunkt der harten Deterministen und dem Standpunkt der Libertarier »wie ein ehrenamtlicher Schiedsrichter einen Mittelweg« habe »einschlagen« wollen, sich »jedoch eher denjenigen« anschließe, »welche die Bewegungen unseres Geistes von der Notwendigkeit befreit wissen wollen« (§ 39), fügt er hinzu: »er gerät aber bei dem Gebrauch, den er von seiner eigenen Terminologie macht« – d. h. bei seinem Versuch, die Thesen der Libertarier in die Sprache seiner Schicksalstheorie zu übersetzen – »derart in Schwierigkeiten, daß er ungewollt die Notwendigkeit des Schicksals bekräftigt« (ebd.), und an der in dem uns überlieferten Text fehlenden S­ telle, die Aulus Gellius in seinen Noctes Atticae zitiert, bemerkt er: »Chrysipp, der weder ein noch aus weiß und seine liebe Not damit hat, wie er es erklären soll, daß einerseits alles durch das Schicksal geschieht und andererseits etwas bei uns liegt, kommt in die Bredouille« (fr. 1). Cicero muß in dem in der Lücke C verlorengegangenen Text klargestellt haben, daß er Chrysipps Versuch, zwischen den harten Deterministen und den Libertariern zu vermitteln, für gescheitert hält, und dieses Verdikt auch begründet haben.



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Marwede vermutet, daß er es, was Mayet einleuchtend findet (vgl. 2010: 278f.), mit dem Argument begründet hat, die kompatibilistische Auffassung, daß alles durch das Schicksal geschehe und es dennoch in unserer Macht stehe, manches so oder auch anders geschehen zu lassen, sei deshalb unhaltbar, weil etwas, wenn es durch das Schicksal geschehe, nicht so oder auch anders geschehen könne (vgl. 1984: 16f.). Plausibler als diese Vermutung ist jedoch die Annahme, daß Cicero bei seiner Kritik an dem Vermittlungsversuch Chrysipps auf die kausaltheoretischen Überlegungen Bezug genommen hat, auf die sich dieser Versuch stützt (vgl. Schallenberg 2008: 292f.). Vermutlich hat er im Anschluß an Karneades Chrysipp entgegengehalten – vgl. zu dieser Vermutung den Abschnitt 4.4 der Einführung und die dort (Anm. 78) angegebene Literatur –, sein Versuch, unsere Willensakte dadurch vom Zwang der Notwendigkeit zu befreien, daß er sie primär von der Beschaffenheit unseres Charakters verursacht sein lasse und nur sekundär von kausalen Faktoren, die uns äußerlich sind, sei deshalb mißlungen, weil er dadurch, daß er als primäre Ursache für die Beschaffenheit unseres Charakters die von unserer Veranlagung und unserer Umwelt ausgehenden äußeren Einflüsse verantwortlich mache und nicht die Art und Weise, in der wir mit diesen Einflüssen umgehen, unsere Willensakte gerade dem Zwang der Notwendigkeit unterwerfe. Sharples meint, Karneades wäre, falls Cicero tatsächlich im Anschluß an ihn diesen Einwand gegen Chrysipp vorgebracht haben sollte, ein unredlicher Gewährsmann gewesen, da er dann das Walzengleichnis Chrysipps, im Zusammenhang mit dem Chrysipp nach dem Bericht, den uns Gellius über es gebe, ja ausdrücklich auf die Abhängigkeit der charakterlichen Beschaffenheit eines Menschen von äußeren Einflüssen hinweise, zunächst getrennt von diesem Hinweis präsentiert und diesen Hinweis dann gegen Chrysipp verwendet hätte (vgl. 1991: 194).

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Anmerkungen §§ 46–48

Was wir in De fato über Chrysipps Zustimmungslehre auf der einen und seine Sympathielehre auf der anderen Seite erfahren, gibt jedoch Anlaß zu der Frage, ob nicht eher ihm als Karneades »ein gewisses Maß an Unredlichkeit« (»a certain amount of disingenuousness« [ebd.]) vorzuwerfen ist. So, wie sie sich in De fato widerspiegelt, erinnert die Auseinandersetzung des Karneades mit Chrysipp an den in einer bekannten Fabel geschilderten Wettlauf des Hasen mit dem Igel, bei dem der Igel dem Hasen nur deshalb, weil er zusammen mit seiner Frau gegen ihn angetreten ist, von der er sich heimlich doubeln läßt, nach jedem Durchgang zurufen kann: »Ich bin schon da!« Als der um die Freiheit des menschlichen Willens besorgte Libertarier, als der er sich in seiner Zustimmungslehre zeigt, bringt Chrysipp das Schicksal nur mit denjenigen Ursachen unserer Willensakte in Verbindung, die mit der primär für sie verantwortlichen Beschaffenheit unseres Charakters als sekundäre Ursachen zusammenwirken, während er als der von der Zugehörigkeit jeder Ursache zu einer endlosen Reihe ihr vorhergegangener Ursachen überzeugte Determinist, als den ihn seine Sympathielehre ausweist, auch unsere charakterliche Beschaffenheit als die primäre Ursache unserer Willensakte in das kausale Netzwerk miteinander verknüpfter Ursachenreihen, in dem nach stoischer Auffassung das Schicksal besteht, mit einbezieht. Long dürfte Cicero, der dieses Doppelspiel durchschaut zu haben scheint, aus dem Herzen sprechen, wenn er den Stoikern im Hinblick auf das für sie kennzeichnende Bestreben, universale kausale Determination und menschliche Freiheit miteinander zu vereinbaren, einen Hang nachsagt, »to keep their cake and eat it« (1971: 193). §§ 46–48. Im Nachwort seiner Schrift, von dem uns in diesen letzten beiden Paragraphen ein Teil erhalten geblieben ist, geht Cicero noch einmal hart mit Epikur ins Gericht. Was



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ihn hierzu veranlaßt, kann man aus dem Satz erschließen, mit dem der erste dieser beiden Paragraphen beginnt: »Auf diese Weise muß man in dieser Streitsache zu einer abschließenden Entscheidung kommen, statt bei umherirrenden und von ihrer Bahn abweichenden Atomen Hilfe zu suchen« (§  46). Dieser Satz deutet nämlich darauf hin, daß Cicero in dem in der Lücke C verlorengegangenen Text nach der Kritik, die er in ihm vermutlich an dem von Chrysipp unternommenen Versuch geübt hat, zwischen den Libertariern und den strengen Deterministen zu vermitteln, auf die mit der Rede von »dieser Streitsache« offenbar gemeinte Frage, wie sich die menschliche Willensfreiheit den letzteren gegenüber verteidigen läßt, folgende Antwort gegeben hat: Nachdem sich gezeigt hat, daß Chrysipps Vermittlungsversuch, der ihn ja in den Determinismus, dem er ausweichen möchte, gerade hineinführt, der falsche Weg zu diesem Ziel ist, kann es, da Epikur dieses Ziel, wie sich ebenfalls gezeigt hat, mit seiner Theorie der Bahnabweichung der Atome erst recht verfehlt, keinen Zweifel mehr daran geben, daß dieses Ziel nur auf dem von Karneades eingeschlagenen Weg erreicht werden kann, also nur dadurch, daß man sich auf die Autonomie des menschlichen Willens beruft, aufgrund deren unsere Willensakte nicht in irgendwelchen unserem Willen äußerlichen Faktoren, sondern allein in der Natur unseres Willens selbst ihre Ursache haben. Mit der Rede davon, daß man »auf diese Weise« (hoc modo) in der strittigen Sache »zu einer abschließenden Entscheidung kommen« müsse, ist also nicht gemeint, daß man ­diese Sache dadurch zur Entscheidung bringen müsse, daß man mit Chrysipp zwischen vollendeten und mithelfenden Ursachen unterscheidet, wie Hamelin annimmt (vgl. 1978: 40), s­ondern gemeint ist, wie Donini, der diese Annahme mit Recht zurück­ weist (vgl. 1989: 143, Anm. 55), wohl richtig vermutet, daß eine Entscheidung in dieser Sache auf die Art und Weise herbei-

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Anmerkungen §§ 46–48

geführt werden müsse, von der Cicero in §§ 23b–25 berichtet, daß Karneades sie den Epikureern als eine ihrem Versuch, die Willensfreiheit mit Hilfe der Abweichungstheorie ihres Lehrers gegen Chrysipp zu verteidigen, überlegene Verteidigungsstrategie empfohlen habe (vgl. Donini 1989: 143). Offenbar hat Cicero in dem in der Lücke C verlorengegangenen Text noch einmal herausgestellt, daß diese Strategie in der Auseinander­ setzung mit dem Determinismus Chrysipps die einzig erfolgversprechende ist, und will daher mit dem ersten Satz von § 46, wie man Doninis Interpretation dieses Satzes mit Sharples zu­sammenfassen kann, sagen, »that Carneades’ way of arguing against Chrysippus is superior to Epicurus’, just as in §  23« (1991: 193). Da dieser Satz darauf hindeutet, daß Cicero sein Ziel, die stoische These zu widerlegen, daß alles durch das Schicksal geschieht, erreicht zu haben glaubte, als er ihn niederschrieb, gehört er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr zum Hauptteil von De fato, sondern (was Maso zu Unrecht für ausgeschlossen hält [vgl. 2012: 138, 2014: 175]) bereits zum Nachwort der Schrift, das möglicherweise sogar mit ihm beginnt (vgl. Marwede 1984: 17f., 242, Mayet 2010: 279–281). Die Einwände, die Cicero im vorliegenden Abschnitt gegen Epikurs Theorie der atomaren Bahnabweichung vorbringt, sind im wesentlichen eine Wiederholung der Kritik, die er bereits in den Paragraphen 18b und 22–23a an dieser Theorie geübt hat. Neu ist lediglich der Vorwurf, den er Epikur mit der Bemerkung macht: »Es scheint mir aber auch niemand nicht nur das Schicksal, sondern auch den allumfassenden Zwang der Notwendigkeit mehr zu bekräftigen und die freien Willensbewegungen unseres Geistes gründlicher vernichtet zu haben als dieser (Epikur), der gestehen muß, keine andere Möglichkeit gesehen zu haben, sich dem Schicksal zu widersetzen, als die, zu diesen seiner Phantasie entsprungenen Bahnabweichungen (der Atome) seine Zuflucht zu nehmen« (§ 48).



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Der Schlüssel zum Verständnis dieser Bemerkung ist die von Weische (vgl. 1961: 34, Anm. 5) zum Vergleich herangezogene Stelle De nat. deor. I 69f., an der Cicero Epikur vorhält, es sei schimpflicher, die menschliche Freiheit unter Berufung auf die angeblichen atomaren Bahnabweichungen zu verteidigen, als zu ihrer Verteidigung nicht in der Lage zu sein. Epikur hätte der Lehre vom Schicksal, will Cicero in De fato 48 sagen, keinen besseren Dienst erweisen können als mit dem Versuch, sie mit Hilfe seiner Abweichungstheorie zu widerlegen, da eine Lehre, bei der man zu einem derart abwegigen Mittel greifen zu müssen scheint, wenn man sie widerlegen will, unwiderlegbar zu sein scheint (vgl. Weische 1961: 34, Sharples 1991: 195, Schallenberg 2008: 296). In den Augen Ciceros ist die epikureische Abweichungstheorie im Kampf gegen die stoische Schicksalslehre »kontraproduktiv« (Maso 2014: 177). Was den überlieferten Text des vorliegenden Abschnitts betrifft, so besteht an zwei Stellen der Verdacht, daß er korrekturbedürftig ist. In § 46 ist in dem Satz Aliam enim quandam vim motus habebant a Democrito impulsionis …, a te, Epicure, gravitatis et ponderis (»Für ihre Bewegung bekamen die Atome ja einerseits von Demokrit die Kraft des Impulses …, und von dir, Epikur, die Kraft der Schwere und des Gewichts«) vermutlich vor a te (»von dir«) ein dem aliam (»einerseits«; wörtlich: »die eine [Kraft]«), mit dem er beginnt, korrespondierendes zweites aliam (»andererseits«; wörtlich: »die andere [Kraft]«) ausgefallen; und in §  48 hat das den letzten Satz einleitende nam (»denn«) vermutlich ein ursprüngliches aut num (»oder etwa«) verdrängt und dadurch den Fragesatz, der dieser Satz ursprünglich gewesen zu sein scheint, in einen Behauptungssatz verwandelt. Als der mit der begründenden Konjunktion nam eingeleitete Behauptungssatz, als der er uns überliefert ist, hat der letzte Satz von § 48 die Aufgabe, die im vorletzten Satz aufgestellte Behaup-

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Anmerkungen §§ 46–48

tung zu begründen, daß sich die atomaren Bahnabweichungen »selbst dann, wenn es die Atome wirklich gäbe …, doch niemals erklären ließen«. Inwiefern er diese Behauptung begründet, ist unter der Voraussetzung, daß er vollständig erhalten geblieben ist, rätselhaft; denn unter dieser Voraussetzung besagt er ja, es sei, »wenn den Atomen die Eigenschaft, infolge ihrer Schwere frei zu fallen, durch eine naturbedingte Notwendigkeit verliehen ist …, für gewisse Atome oder … für alle auch von Natur aus notwendig, (von ihrer Bahn) abzuweichen«. (Die Rede von einer »naturbedingten Notwendigkeit« im ersten Teilsatz legt es nahe, naturaliter [»von Natur aus«] im zweiten Teilsatz nicht mit Gadamer [vgl. 1965: 241, 1989: 256], Maso [vgl. 2012: 138, 140, 2014: 79] und Calanchini [vgl. 2015: 67] auf declinare [»abzuweichen«], sondern mit Rackham [vgl. 1942: 245] und Sharples [vgl. 1991: 91] auf necesse [»notwendig«] zu beziehen.) Sharples vermutet angesichts dieser Schwierigkeit, daß das konditionale Satzgefüge, das der fragliche Satz darstellt, nicht mit dem (mit illud quoque beginnenden) zweiten Teilsatz endet, daß dieser Teilsatz also nicht der Nachsatz dieses konditionalen Satzgefüges ist, sondern daß er zusammen mit dem ersten Teilsatz den Vordersatz bildet und daß der Nachsatz am Anfang der Lücke D verlorengegangen ist (vgl. 1991: 91, 195). Diese Vermutung löst die aufgezeigte Schwierigkeit jedoch ebensowenig wie die unhaltbare Annahme Bayers, daß am Anfang der Lücke D Worte verlorengegangen sind, die es erlauben, den zweiten Teilsatz folgendermaßen zu übersetzen: »dann ist es auch notwendig, daß sich die Bahnabweichung gewisser oder … aller Atome naturgesetzlich 〈erklären läßt〉« (2000: 69). (Es scheint Bayer entgangen zu sein, daß dieser verfehlten Übersetzung seine eigene Erläuterung des zweiten Teilsatzes entgegensteht, nach der mit diesem Satz gemeint ist: »die Bahnabweichungen der Atome […] erfolgen […] ebenso zwangsläufig wie die gerade Fallbewegung« [2000: 172].)



Anmerkungen §§ 46–48

357

Mayet hält es für möglich, daß der letzte Satz von § 48, dessen Ende auch ihrer Meinung nach fehlt, durch die Entstehung der Lücke D einen ihn abschließenden Satzteil verloren hat, durch den der erhalten gebliebene Satzteil zu einem Satz ergänzt wurde, der die Behauptung, die atomaren Bahnabweichungen seien unerklärbar, sinngemäß folgendermaßen begründete (vgl. 2010: 282): Wenn sich das Abweichen der Atome von ihrer Bahn erklären ließe, müßte es sich damit erklären lassen, daß es ebenso wie das geradlinige Fallen der Atome von Natur aus notwendig ist; da diese allein in Betracht kommende Erklärung aber zu einer »paradoxen Feststellung« führt, nämlich zu der Feststellung, daß die Atome, »was unmöglich ist«, »notwendigerweise in gerader Richtung fallen und zugleich notwendigerweise abweichen«, »kann die Bahnabweichung der Atome auf keine Weise erklärt werden« (ebd.). Durch welche Worte der erhalten gebliebene Satzteil, falls er tatsächlich nur ein Teil des fraglichen Satzes sein sollte, zu einem in diesem Sinne zu verstehenden Satz ergänzt worden sein könnte, kann man sich jedoch nur schwer vorstellen. Auf dem richtigen Weg zur Lösung des Rätsels, das der letzte Satz von § 48 einem Leser aufgibt, der die Fortsetzung des Textes, der mitten in ihm oder unmittelbar nach ihm abbricht, nicht kennt – »Wahrscheinlich gingen nach §  48 nur einige Sätze verloren« (Mayet 2010: 283) –, dürfte Rackham gewesen sein. Rackham faßt diesen Satz, obwohl er keine Fragepartikel enthält, als einen unmittelbar vor der Lücke D endenden Fragesatz auf, mit dem eine rhetorische Frage gestellt wird (vgl. 1942: 244f.). Nun kann zwar in Fragesätzen, die dazu dienen, rheto­rische Fragen zu formulieren, eine Fragepartikel fehlen (vgl. Burkard/Schauer 2012: 567 [§ 414, 7]); der Fragesatz, um den es sich im vorliegenden Fall vermutlich handelt, wäre jedoch, da er die Form eines konditionalen Satzgefüges hat, nur schwer als Fragesatz erkennbar, wenn Cicero ihn statt mit ei-

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Anmerkungen §§ 46–48

ner ­Fragepartikel mit dem begründenden nam (»denn«) eingeleitet hätte, das uns die Handschriften überliefern. Es ist daher zu vermuten, daß er ihn – wie schon den Satz »Oder losen die Atome etwa unter sich, welches abweichen soll und welches nicht?« (§ 46) – mit einem zu einer verneinenden Antwort herausfordernden, fragenden aut num (»oder etwa«) eingeleitet hat, aus dem das überlieferte nam leicht dadurch entstanden sein kann, daß das num (unter dem Einfluß des nam, das den vorletzten Satz von § 48 einleitet?) zu nam verlesen oder verschrieben und infolgedessen das aut ausgelassen wurde. Allem Anschein nach will Cicero, um die im vorletzten Satz von §  48 von ihm aufgestellte Behauptung, die Bahnabweichungen der Atome seien unerklärbar, zu untermauern, im letzten Satz des Paragraphen den möglichen Einwand, man könne diese Bahnabweichungen doch auf dieselbe Weise erklären wie die Fallbewegung der Atome, dadurch als einen abwegigen und nicht ernst zu nehmenden Einwand zurückweisen, daß er die seiner Meinung nach mit einem klaren Nein zu beantwortende Frage stellt, ob ein gelegentliches Abweichen von ihrer Bahn für die Atome denn etwa ebenso wie das geradlinige Fallen von Natur aus notwendig sei. Daß Epikur ebensowenig gezögert hätte, auf diese Frage eine verneinende Antwort zu geben, wie Cicero, darf bezweifelt werden. Denn man wird ihm die Einsicht zutrauen dürfen, daß seine Vision einer »materialistischen, aber nicht ausschließlich deterministischen Struktur des Universums« (Maso 2012: 140) voraussetzt, daß das Universum aus Atomen aufgebaut ist, für die es von Natur aus nicht nur notwendig ist, geradlinig zu fallen, sondern auch notwendig, beim Fallen gelegentlich minimal von ihrer Bahn abzuweichen, für die es also von Natur aus notwendig ist, in der Weise geradlinig zu fallen, daß sie dabei – wie Fahrzeuge, die bei der Fahrt auf einer mehrspurigen geraden Straße hin und wieder die Fahrspur wechseln (vgl. zu diesem von Sedley



Anmerkungen fr. 1–5

359

stammenden Beispiel Bown 2016: 266, Anm. 49) – keine exakt gerade, sondern nur eine annähernd gerade Linie beschreiben. Epikur dürfte sich, mit anderen Worten, darüber im klaren gewesen sein, daß in einem aus Atomen aufgebauten Universum, in dem für Zufälligkeit und Freiheit Platz sein soll, die Notwendigkeit des geradlinigen Fallens der Atome mit der Notwen­ digkeit eines gelegentlichen Abweichens der Atome von ihrer Bahn »Hand in Hand gehen« (Maso 2012: 139), die erstere Notwendigkeit also zusammen mit der letzteren in der Natur der Atome begründet sein muß (vgl. hierzu die Anmerkungen zu §§ 22–25). Ciceros Kritik an der epikureischen Atomtheorie wird dieser Theorie ebensowenig gerecht, wie der modernen Quantentheorie die Kritik Albert Einsteins gerecht wird, der diese Theorie in einem Brief, in dem er gesteht, daß sie für ihn »nicht der wahre Jakob« sei, mit der an Ciceros sarkastische Frage, ob »die Atome etwa unter sich losen, welches abweichen soll und welches nicht« (§ 46), erinnernden Bemerkung kritisiert, sie bringe uns »dem Geheimnis des Alten […] kaum näher«, jedenfalls sei er »überzeugt, daß der nicht würfelt« (Brief an Max Born vom 4. Dezember 1926, zitiert nach Kreter 2006 [106, Anm. 191; vgl. Nortmann 2008: 68]). Einstein hatte allerdings vor der Quantentheorie, die er als »sehr achtunggebietend« bezeichnet (ebd.), wesentlich mehr Respekt als Cicero vor der Atomtheorie Epikurs. Cicero – und nicht nur er – hat Epikur unterschätzt. Die Fragmente (fr. 1–5). Die sogenannten Fragmente von De fato, d.  h. die in anderen antiken Schriften enthaltenen Textstücke, in denen mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit aus den verlorengegangenen Abschnitten von De fato zitiert wird oder Teile dieser Abschnitte paraphrasiert werden, stammen aus der Schrift Noctes Atticae (»Attische Nächte«)

360

Anmerkungen fr. 1–5

des Aulus Gellius (2.  Jh. n.  Chr.) (fr.  1), aus dem Kommentar des Grammatikers Servius (4./5. Jh. n. Chr.) zu Vergils Aeneis (fr.  2), aus dem Werk De civitate dei (»Der Gottesstaat«) des Kirchenlehrers Augustinus (354–430) (fr. 3 und 4) und aus der Schrift Saturnalia (»Das Saturnusfest«) des Macrobius (4./5. Jh. n.  Chr.) (fr.  5). Der Grammatiker Nonius Marcellus (3.  oder 4.  Jh. n.  Chr.) zitiert in seinem »Kompendium des gelehrten Wissens« (De compendiosa doctrina) einen angeblich bei Cicero »in der Schrift über das Schicksal und im vierten Buch der Schrift über das höchste Gut und das höchste Übel« (de Fato et de Finibus Bonorum et Malorum lib. IV) zu findenden Satz, der in De fin. IV tatsächlich zu finden ist, aber in der Schrift De fato, zu deren Fragmenten er (als fr. 6) von mehreren Autoren gezählt wird, wohl kaum ein zweites Mal vorkam. W. M. Lindsay hat in seiner Ausgabe des von Nonius verfaßten Kompendiums (Leipzig 1903, vol. I, S. 50) den Verweis auf De fato in der vermutlich richtigen Annahme getilgt, daß der zu de Fi. Bo. et abgekürzte Titel von De fin. zunächst zu de Fato et verlesen und dann in der richtigen Form zu diesen Worten hinzugefügt wurde (vgl. Sharples 1991: 163, Schallenberg 2008: 46). Welcher der vier Lücken, die der überlieferte Text von De fato aufweist, die fünf Fragmente jeweils zuzuordnen sind, ist umstritten, und zwar vor allem, was die Fragmente 1 und 3 anbelangt, bei denen es fraglich ist, ob man sie der Lücke B oder der Lücke C zuzuordnen hat. Die Fragmente 5, 2 und 4 gehören wahrscheinlich in dieser Reihenfolge zu dem Text, der in der Lücke B verlorengegangen ist. Die bei Macrobius durch ein wörtliches Zitat aus De fato überlieferte Anekdote über Scipio den Jüngeren, der bei Tisch von einem Freund davor gewarnt worden sein soll, eine zu große Anzahl von Gästen mit einem Fisch zu bewirten, der als eine ausgesprochene Delikatesse »etwas für ein Mahl in kleinem Kreise« (fr. 5; wörtlich: »nur Sache weniger Menschen«



Anmerkungen fr. 1–5

361

[Philippson 1934: 1032]) sei, hat Cicero dem Feinschmecker Hirtius vermutlich erzählt, nachdem dieser den Wunsch geäußert hat, eine Disputation gegen die These, daß alles, was geschieht, durch das Schicksal geschieht, von ihm vorgetragen zu bekommen, also einen Vortrag über ein Thema von ihm zu hören, das nicht jedermanns Sache ist, so daß es, wie man mit Shakespeare (Hamlet II  2, 431f.) sagen könnte, »Kaviar fürs Volk« wäre, vor einem größeren Publikum über es zu sprechen (vgl. Sharples 1991: 161). Von dem jüngeren Scipio Africanus (185–129 v. Chr.), der als Eroberer der Stadt Numantia den zweiten Beinamen »Numantinus« bekam, ist auch in den Sätzen die Rede, die Cicero in §§ 17b, 18a und 27 als Beispiele anführt. Der mit Scipio befreundete Offizier Titus Pontius wird auch an einer von Cicero in De fin. I 9 zitierten Stelle der Satiren des Lucilius und in Ciceros Schrift über das Greisenalter (Cato 33) erwähnt (vgl. Marwede 1984: 246f.). Die Definition des stoischen Schicksalsbegriffs, die Servius »in der Formulierung des Tullius (Cicero)« (fr. 2; wörtlich: »gemäß Tullius«) zitiert, ohne die Schrift zu nennen, aus der er sie zitiert, dürfte Cicero in De fato zu Beginn seines Vortrags erwähnt haben. Die wohl kaum richtig überlieferten Worte conexio rerum per aeternitatem se invicem tenens (»die sich über ewige Zeiten hin wechselseitig festhaltende Verknüpfung der Ereignisse«) wurden im Anschluß an Calanchini (vgl. 2015: 12, 71) in conexio rerum per aeternitatem se invicem tenentium (»die Verknüpfung der sich über ewige Zeiten hin wechselseitig festhaltenden Ereignisse«) korrigiert. Die von Gellius, der sich ausdrücklich auf De fato beruft, referierte Bemerkung Ciceros, die Frage nach dem Schicksal sei »äußerst undurchsichtig und verwickelt« (fr. 1), und die von Gellius zitierten Worte, mit denen Cicero darauf hingewiesen hat, daß »sich auch der Philosoph Chrysipp aus der Verstrickung in sie nicht habe lösen können« (ebd.), stehen offenbar in

362

Anmerkungen fr. 1–5

Zusammenhang mit dem, was Cicero in § 39 über den seiner Meinung nach mißlungenen Versuch Chrysipps bemerkt, einen »Mittelweg« zwischen dem Standpunkt der harten Deterministen und dem Standpunkt der Libertarier zu finden. Falls fr.  1, wie die meisten Autoren annehmen (vgl. z.  B. Philippson 1934: 1035f., Eisenberger 1979: 167, Schröder 1990: 150f.), in die Lücke C gehört, hat Cicero mit dem von Gellius zitierten Satz »Chrysipp, der weder ein noch aus weiß und seine liebe Not damit hat, wie er es erklären soll, daß einerseits alles durch das Schicksal geschieht und andererseits etwas bei uns liegt, kommt in die Bredouille« vermutlich die Kritik eingeleitet, die er in dem in dieser Lücke verlorengegangenen Text an dem von Chrysipp unternommenen Vermittlungsversuch geübt haben muß (vgl. Sharples 1991: 194). Falls fr. 1 jedoch, wie Sharples (vgl. 1991: 56f., 161) und Calanchini (vgl. 2015: 12f., 77f.) annehmen, in die Lücke B gehört, hat Cicero diesen Satz vor oder nach der Erwähnung der von Servius zitierten Definition geäußert und ihn, nachdem er vielleicht schon in § 7 mit der Rede von den »Fallstricken Chrysipps«, auf die er »wieder zurückkommen« wolle, an ihn angeknüpft hat, in §  39 mit den Worten wieder aufgegriffen: »Er (d.  h. Chrysipp) … gerät aber bei dem Gebrauch, den er von seiner eigenen Terminologie macht, derart in Schwierigkeiten, daß er ungewollt die Notwendigkeit des Schicksals bekräftigt.« Da Cicero unmittelbar nach diesen Worten fortfährt: »Was dies nun genau heißt, wollen wir uns … am Beispiel der Zustimmungen näher ansehen, mit denen ich mich schon am Anfang meines Vortrags befaßt habe« (§ 40), könnte er in dem in der Lücke B verlorengegangenen Text mit dem Hinweis darauf, daß Chrysipp »in die Bredouille kommt« (fr. 1), bereits einen Hinweis darauf verbunden haben, daß es vor allem die Zustimmungslehre ist, die Chrysipp in Schwierigkeiten bringt, nämlich insofern, als es ihm nicht gelingt, die Zustimmungen



Anmerkungen fr. 1–5

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der Macht des Schicksals zu unterwerfen, ohne sie dabei dem Zwang der Notwendigkeit auszuliefern. Der Abschnitt, in dem Gellius den erwähnten Satz aus De fato zitiert (Noctes Atticae VII 2, 15), folgt unmittelbar auf den Abschnitt, in dem er über Chrysipps Walzengleichnis berichtet (FDS 998, LS 62D, Sharples 1991: 96–100 [Appendix C]). Augustinus beruft sich zwar weder an der Stelle, an der er Ciceros lateinische Übersetzung der von den Stoikern zur Stützung ihrer Schicksalslehre herangezogenen Verse aus Homers Odyssee zitiert (fr. 3), noch an der Stelle, an der er auf die von Cicero erwähnte Notiz des Hippokrates über zwei gleichzeitig erkrankte Brüder zu sprechen kommt (fr. 4), ausdrücklich auf De fato, dürfte diese Schrift aber an beiden Stellen als Quelle benutzt haben. Die Erwähnung der von Hippokrates hinter­ lassenen Notiz, auf die sich offenbar in § 5 die Rede von »den zur selben Zeit von einer Krankheit befallenen Brüdern« bezieht, muß in der Lücke B zusammen mit der Erwähnung der übrigen Beispiele verlorengegangen sein, von denen in §§ 5–6 die Rede ist. Sharples nimmt an, daß in der Lücke B auch die von Cicero übersetzten Homer-Verse und die Bemerkung Ciceros – nicht Senecas, wie Bayer mit seiner Übersetzung unterstellt (vgl. 2000: 71) –, »die Stoiker pflegten, wenn sie der Macht des Schicksals das Wort redeten, von diesen Versen aus Homer Gebrauch zu machen« (fr. 3), verlorengegangen sind, was er folgendermaßen begründet: Die Auffassung, für die sich die Stoiker auf diese Verse berufen, sei die von Chrysipp im Rahmen seiner Sympathielehre vertretene Auffassung, mit der sich Cicero, nachdem er sich in §§ 5–6 mit der entsprechenden Auffassung des Poseidonios auseinandergesetzt habe, in §§ 7–11a auseinandersetze. Da Cicero diese beiden Auffassungen nun aber, wie aus § 7 hervorgehe, in dem in der Lücke B verlorengegangenen Text in umgekehrter Reihenfolge dargestellt habe und fr. 4 in § 5 auf-

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Anmerkungen fr. 1–5

gegriffen werde, müsse fr. 3 in diesem Text vor fr. 4 seinen Platz gehabt haben (vgl. 1991: 162). Nun hat Cicero aber vermutlich in dem in der Lücke C verlorengegangenen Text den Versuch Chrysipps, die These, »daß einerseits alles durch das Schicksal geschieht und andererseits etwas bei uns liegt« (fr. 1), mit Hilfe seiner Zustimmungslehre zu verteidigen, in einer Weise kritisiert, zu der fr. 3, wie Calanchini, die dieses Fragment der Lücke C zuordnet, zu bedenken gibt, sehr gut passen würde (vgl. 2015: 64f., 133; siehe auch Philippson 1934: 1036, Anm. 7). Wenn die Stoiker, könnte Cicero Chrysipp entgegengehalten haben, dem Schicksal »den Namen Jupiters geben, den sie für den höchsten Gott halten und von dem sie behaupten, die Verknüpfung der vom Schicksal bestimmten Ereignisse sei von ihm abhängig« (fr. 3), müssen sie dem Schicksal über alles, was geschieht, also auch über das, was geschieht, wenn ein Mensch einer Vorstellung zustimmt, eine Macht einräumen, die so groß ist, daß für menschliche Freiheit kein Raum mehr bleibt. Mit der »Ansicht« (sententia), von der er sagt, daß auch die von ihm in der Übersetzung Ciceros zitierten Homer-Verse sie »stützen« (fr. 3), meint Augustinus die Ansicht, die in dem letzten von fünf in Gebetsform an Jupiter gerichteten Versen zum Ausdruck kommt, die er zuvor aus einem Brief Senecas (Ep. mor. 107, 11) zitiert hat, nämlich in dem Vers Ducúnt voléntem fáta, nólentém trahúnt (»Wer willig ist, den führt, wer nicht, den schleppt sein Los«). Die von Augustinus mit dem Vorbehalt »Wenn ich mich nicht irre« (De civ. dei V 8) Seneca zugeschriebenen fünf Verse schreibt Seneca selbst dem Stoiker Kleanthes zu, wobei er anmerkt, er habe sich erlaubt, sie »nach dem Beispiel Ciceros« in die lateinische Sprache »umzuwandeln« (Ep. mor. 107, 10). Während die ersten vier Verse auch in ihrer griechischen Originalfassung überliefert sind, in der sie von Epiktet zitiert wer-



Anmerkungen fr. 1–5

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den (LS 62B), ist der fünfte Vers, der an das bei Hippolyt von Rom überlieferte Hunde-Gleichnis erinnert (vgl. die Anmerkungen zu §§ 7–11a), nur in der lateinischen Fassung überliefert, in der Seneca ihn anführt, der ihn möglicherweise zu den anderen Versen interpretierend hinzugefügt hat (vgl. Bartels 1992: 66f., Bobzien 1998: 346, Sharples 2005: 199, 213f., Wildberger I 2006: 294–299; Übersetzung des fünften Verses: H. W.). Da sich Seneca für den Fall, daß die von ihm zitierten Verse dem Empfänger seines Briefes »nicht gefallen sollten« (Ep. mor. 107, 10), damit entschuldigt, daß er ja nur »dem Beispiel Ciceros gefolgt« sei (ebd.), könnte Tolkiehn mit der Vermutung recht haben, daß bereits Cicero diese Verse in einer von ihm angefertigten Übersetzung zitiert hat, nämlich »mit einiger Wahrscheinlichkeit« (1905: 557) in De fato, und daß Seneca sich entweder »im Ausdruck an diese Übersetzung angelehnt« (1905: 556) oder sie, was Tolkiehn für »wahrscheinlicher« hält, »im Wortlaut« (ebd.) übernommen hat. Die von Cicero übersetzten Homer-Verse τοῖος γὰρ νόος ἐστὶν ἐπιχθονίων ἀνθρώπων οἷον ἐπ’ ἦμαρ ἄγῃσι πατὴρ ἀνδρῶν τε θεῶν τε (Od. XVIII 136f.), die in seiner recht freien Übersetzung lauten: Táles súnt hominúm mentés, qualí pater ípse Iúppiter aúctiferás lustrávit lúmine térras (»So ist der Menschen Sinn, wie Vater Jupiter selber Jeweils im Tageslicht ließ die fruchtbare Erde erstrahlen«), lassen sich wörtlich folgendermaßen übersetzen: »So ist nämlich der Sinn der die Erde bewohnenden Menschen, Wie den Tag jeweils bringt der Vater der Menschen und Götter« (deutsche Übersetzungen: H. W.). (Für fachkundige Beratung in Fragen der antiken Verslehre sei Gerrit Kloss gedankt.)

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Anmerkungen fr. 1–5

Sharples bemängelt an Ciceros Übersetzung, sie treffe »nicht wirklich die Pointe der Verse Homers«, die darin bestehe, »daß sich die Geisteshaltungen der Menschen mit den unterschied­ lichen Geschicken (den jeweiligen Arten von ›Tag‹) ändern, die Zeus jedem von ihnen bringt« (1991: 162). Verfehlt wird diese Pointe jedoch eher durch seine Übersetzung der Übersetzung Ciceros als durch Ciceros Übersetzung selbst. Denn mit den Worten quali … lustravit lumine ist nicht gemeint: »as the light with which … illuminates«, wie er übersetzt (1991: 57), sondern: »wie jeweils im Tageslicht erstrahlen ließ« (wörtlich: »wie jeweils mit Licht erhellt hat«). Sie entsprechen also ihrem Sinn nach genau den Worten οἷον ἐπ’ ἦμαρ ἄγῃσι (= οἷον ἦμαρ ἐπ­ άγῃσι), mit denen gemeint ist: »wie den Tag jeweils (herbei-) bringt«. Was den bei Seneca überlieferten und von Augustinus mit den von Cicero übersetzten Homer-Versen in Verbindung gebrachten Vers Ducunt volentem fata, nolentem trahunt anbelangt, so macht er mit unübertrefflicher Prägnanz deutlich, wie groß die Kluft ist, die das Freiheitsverständnis der Stoiker von dem der Epikureer und dem der Neuakademiker trennt. Nicht dann, wenn wir tun können, was wir aus eigenem Entschluß tun wollen, sind wir in den Augen der Stoiker frei, sondern dann, wenn wir tun wollen, was wir nach dem Ratschluß des Schicksals tun müssen.

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PERSONENREGISTER Moderne Autoren wurden nur in einer kleinen Auswahl in das Register aufgenommen. Unberücksichtigt blieben die zahlreichen Stellen, an denen Cicero erwähnt wird, sowie Stellen, an denen die Erwähnung einer Person nur als Beispiel dient. Alexander von Aphrodisias  43, 44 (Anm. 64), 71–73, 76, 77, 181 Alkibiades  98, 99 Anaxagoras  308 Antiochos von Askalon  307 Antipater von Sidon  168 Apollodor von Athen  223, 224 Aristoteles  10, 19, 36, 39, 43, 50, 51, 63 (Anm. 78), 72, 77, 79, 136, 137, 222, 223, 234, 302, 303, 305–308 Arkesilaos  15, 18, 19, 94, 95, 309 Augustinus, Aurelius  78, 79, 168, 169, 180, 360, 363, 364, 366 Balbus, Q. Lucilius  9 Bayle, Pierre  80–82 Boethius, A. M. S.  27, 40 (Anm. 60) Born, Max  359 Bremi, Johann Heinrich  333, 334 Cäsar  7, 8, 88, 89, 166, 167 Christ, Wilhelm  337–339 Chrysipp  15, 16, 19, 24–26, 32, 39, 43–45, 48, 50–71, 74, 75, 79, 94, 95, 100–107, 112–117, 124–127, 136, 137, 140–145, 152, 153, 173–184, 190–195, 197–211, 215, 216, 224–228, 237, 243–246, 248, 258–261, 269–274, 276, 284–287, 296, 303–305, 307, 309, 311, 312, 317, 321, 322, 324–329, 332,

334, 335, 337, 339, 341, 345–354, 361–364 Cotta, C. Aurelius  9 Crassus, L. Licinius  18 Davies, John  349 Demokrit  116, 117, 136, 137, 148, 149, 216, 230, 231, 305, 355 Diodoros Kronos  16, 19, 26–34, 40, 42, 45 (Anm. 66), 46–48, 50, 51, 53, 69, 76, 100–107, 181, 190, 196, 197, 201, 203, 204, 207, 210, 211, 213–216, 218 Diogenes Laertios  10 (Anm. 3), 40 (Anm. 60), 223 Diogenianos  269, 270, 272 Dummett, Michael  273 Einstein, Albert  359 Empedokles  136, 137, 305 Ennius, Quintus  132, 133, 279, 280, 282, 283 Epiktet  17, 28, 31, 45 (Anm. 66), 195, 364 Epikur  15, 17, 19, 45, 50, 51, 54–57, 66 (Anm. 82), 68, 70–72, 79, 110–117, 134, 135, 148, 149, 214, 216, 217, 223–231, 233–244, 246, 248, 292, 293, 295–303, 309, 348, 352–355, 358, 359 Euripides  279 Eusebius von Cäsarea  269 Galen  182

378

Personenregister

Gellius, Aulus  60, 350, 351, 360–363 Hamelin, Octave  188, 216, 240, 311–313, 317, 318, 321, 327, 331, 334–336, 342, 348, 353 Heine, Otto  333 Heisenberg, Werner  235 Heraklit  136, 137, 305 Hermarch von Mytilene  298 Hintikka, Jaakko  303 Hippokrates  154, 155, 168, 169, 363 Hippolyt von Rom  180, 365 Hirtius, Aulus  8, 10, 11, 86, 87, 90, 91, 165–167, 361 Homer  152–155, 363–366 Hottinger, Johann Jakob  280 Kane, Robert  239–241 Kant, Immanuel  66, 273 Karneades  15, 17–19, 50, 51, 53–55, 57, 64–66, 70, 71 (Anm. 87), 77, 81–83, 116, 117, 126–129, 202, 235–240, 244, 246, 248, 274–276, 309, 351–354 Karsten, Simon  308 Kleanthes  15, 16, 19, 104, 105, 195, 204, 205, 215, 309, 364 Kleitomachos  17 (Anm. 21), 71 (Anm. 87) Kriton  268 Lambinus, Dionysius  280, 333, 337 Leibniz, Gottfried Wilhelm  78, 80–83, 216, 272 Lemmon, Edward John  214 Leukipp  231 Lindsay, W. M.  360 Lucilius, C.  170, 361 Łukasiewicz, Jan  37 (Anm. 56), 294

Lukrez (T. Lucretius Carus)  56 (Anm. 73), 228–230 Macrobius  360 Marx, Karl  230 Meyer, J. F. von  237 Müller, C. F. W.  205 Newton, Isaac  235 Nonius Marcellus  360 Origenes  258, 266, 271, 272 Panaitios  16 Pansa, C. Vibius  166 Peirce, Charles Sanders  37 (Anm. 56) Petrus de Rivo  79 Pingree, David  202 Platon  18, 73 Plautus, T. Maccius  157 Plutarch  71, 286, 345 Polemon  18 Pontius, Titus  156, 157, 361 Poseidonios  15, 16, 18 (Anm. 21), 19, 22–24, 69, 71, 90–95, 154, 155, 167–174, 180, 181, 363 Prior, Arthur Norman  30 (Anm. 47), 36 (Anm. 56), 196, 212 Proklos  73 (Anm. 90) Pseudo-Plutarch  71–77 Quine, W. V.  303 Quintus (Tullius Cicero)  9, 11, 50, 165 Ramus, Petrus (Pierre de la Ramée)  79, 80, 254 Scipio Africanus Numantinus  156, 157, 360, 361 Seneca, L. Annaeus (d. J.)  17, 272, 363–366 Servius  360–362 Sokrates  18, 98, 99, 267–269 Stilpon  98, 99



Personenregister

Stobaios, Johannes  318, 321 Theophrast  19, 94, 95 Turnebus, Hadrianus (Adrien Turnèbe)  79, 80, 275, 337 Valla, Georgius  248, 333, 336

379

Velleius, C.  9 Vergil (P. Vergilius Maro)  360 Zenon von Kition  15, 16, 19, 71, 94, 95, 180, 309 Zopyros  98, 99, 181