Christliche Sittenlehre: Teil 2, 2 Allgemeine Geschichte der christlichen Sittenlehre, Hälfte 2: Geschichte der römisch-katholischen und protestantischen Sittenlehre [Reprint 2020 ed.] 9783111433974, 9783111068411

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Christliche Sittenlehre: Teil 2, 2 Allgemeine Geschichte der christlichen Sittenlehre, Hälfte 2: Geschichte der römisch-katholischen und protestantischen Sittenlehre [Reprint 2020 ed.]
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Christliche

S t t t e n l e h r e. Don

Dr. Wilhelm Martin Leberecht de Wette.

ZweyterTheil.

Allgemeine Geschichte der christlichen Sittenlehre.

Zweyte Hälfte.

Geschichte der römisch, katholischen und prote, stantischen Sittenlehre.

Berlin, i 8 21. Gedruckt und verlegt bei G. R e i rn e r.

L^iese zweyte Hälfte der Geschichte der christ­ lichen Sittenlehre würde ich mit mehr Zu­ friedenheit und Zuversicht, als die erste Hälfte, dem Publikum übergeben, weil darin weit mehr Arbeit, als in dieser, enthalten ist, wenn es mir gelun­ gen wäre, von dem Zeitraum des Mittelalters durchaus eine Gesammtdarstellung zu geben, der­ gleichen ich von den frühern und spätern Zeiträu­ men gegeben habe. Aber die Masse war zu groß, und mein Studium, ohnehin von vielen Hülfs­ mitteln entblößt, nicht umfassend genug; auch viel­ leicht die ganze Aufgabe unlösbar. Möge man das Dargebotene mit Nachsicht aufnehmen, und es benutzen, bis etwas Besseres erscheint! Sobald es die Umstände erlauben, werde ich den dritten Theil oder die besondere Pflichtenlehre ausarbei« len, in welcher die allgemeinen Grundsätze des ersten Theils nach Maßgabe unserer ZeitverhältNisse und namentlich des jetzigen Zustandes der protestantischen Kirche auf die, be,anderen Lebensverangewendet werden sollen. Man hat nicht *2

IV

Vorrede.

eingesehen, aus welchem Grunde ich die Geschichte der Sittenlebre der besondern Pflichienlehre vorauSgeschickt habe: dieser Grund liegt darin, daß eine jede besondere Pflichtenlehre, in manchen wichtigen Stücken wenigstens, in Beziehung auf geschicht­ liche Verhältnisse gefaßt und ausgebildet werden muß.

Noch bemerke ich, daß ich zwar in der Ge» schichte des Mittelalters fast ganz ohne Führer gewesen bin, in der späteren Periode aber die Vorarbeit des Herrn Dr. Stäudlin zu meiner großen Erleichterung benutzt, und da ich mir nicht immer dieselbe Ausführlichkeit, wie er, zum Gesetz gemacht hatte, auch bisweilen von den Quellen verlassen war, auf ihn zurückgewiesen habe; so daß ich nicht nur die Verdienste meines Vorgängers dankbar erkenne, sondern auch sein Werk neben dem meinigen benutzt zu sehen wünsche.

Die zahlreichen Druckfehler bitte ich zu ent­ schuldigen und zu verbessern. Weimar im August 1821,

Der Verfasser.

Zweyter Abschnitt. Pabstkhum Erster Zeitraum. Bon Gregor dem Großen br'S zu Gregor VIL

Erstes Capitel.

Allgemeine Blldungsgeschichte der christlichen Kirche» I.

Veränderter Schauplatz der Kirch engeschichte.

Z. 261. (Die lebendige Geschichte der Kirche zieht sich in das Abendland, wo eine Mannichfaltigkeit neuer Völker auf­ tritt. S. i— z) §. 262. (Ergebnisse dieser Veränderungen für die Bildung und den sittlichen Zustand. S. 3 — 6.) II.

Kirchenverfasfung;

Pabstthum.

§ 26z. (Wachsthum der bischöflichen Gewalt und Bekleidung derselben mit weltlicher Macht. S. 6 — tz.) §. 264. (Lockerung der Metropolitanverfaffung, Aufkommen der päbstlichen Obergewalt; die falschen Decrete des 3sidoruS, ihre Tendenz. S 8—10.) |. 265. (Verwirklichung der darin enthaltenen Ideen, päbstliche Alleinherrschaft. S. 10—12.) III.

Kirchenleben und KLrchenzucht.

Z. 266. (Dumpfe Sinnlichkeit des GottesdiensteS. 11—14.) 267. (Sinken der Kirchenzucht durch die Zndulgenzen; das Institut der Sende. S. 14—16.)

JnhaltSanzeige.

vi §

§. §.

§.

§. §.

268- (Bannfluch, Jnterdict, pLbstliche Ablaßgewalt. G. 16. 17) 269. (Pönitenzsatzungen und andere sittliche Satzungen. S. 17- 18.) 270. (Wohlthätiger Einfluß der Kirche auf die bürgerliche Rechtspflege und Gesetzgebung. S. 18 — 20.) 271. (Sittenlosigkeit und Rohheit der Geistlichkeit. S. 20. LI.) 272. (Das Mönchsleben im Abendlande. S. 21. 22.) 273. (Geist des sittlich - religiösen Lebens dieser Zeit im Gro­ ßen. S. 23. 24.) IV.

Kirchenlehre.

5. 274. (Verfall der Theologie; Geist der Ueberlieferung. S. 24—26.) $. 275. (Gelehrte und Schulen dieses Zeitraums. S- 26 28.) §. 276. (Theologische Streitigkeiten und Meinungen. S.28—30.)

Zweytes

Capitel.

Kirchliche Sitten lehre. I.

Allgemeine Uebersicht; Grundsätze und Quellen.

§. 277. (Die Sittenlehrer dieses Zeitraums. S. 31—34 ) §. 278. (Geist der Sittenlehre dieses Zeitraums. S. 34 — 36.) §. 279. (Grundsätze in Ansehung der Quelle der sittlichen Wahr­ heit. S. 36—41.) §. 280. (Fortsetzung. S. 41 — 44.) II.

WeisheitSlehre.

(Ideen über die Bestimmung des Menschen. S. 44—46.) (Begriffe und Classification der Tugenden und Laster. S. 46 -56) §. 283- (Lehre von der Vollkommenheit, vom beschaulichen Le­ ben U. dgl. S. 56 — 61.)

§. 28i. S. 282.

III.

§. 284. $. 285»

Von der Zurechnung und Buße.

(Begriffe von der Freyheit; Todsünde. (Bon der Buße. S. 64 —66.)

S. 61 — 64.)

Dritter Capitel.

Mystische Theologie. fl. $86 (Einfluß brr Schriften bet Dionysius Lreopagita. * G. 66— 68.) §, ad?- (Ideen dieses Mystikers über Sott, ddS Gute, das iS-se. S. 68—77«)

JnhaltSarizeige.

vn

z. 288. (Idee über die Rückkehr zu Gott und deren Vermitte­ lung; die himmlische Hierarchie. S. 77 — 79.) $. 289. (Kirchliche Hierarchie. S. 80—82.) Z. 290. (Erkenntnißweise der mystischen Theologie. S. 82—85.) §. 291. (Ethische Grundsätze des Dionysius. S. 85. 86 )

Zweiter Zeitraum. Bon Gregor VII. bis zur Reformation. Erste- Capitel.

Allgemeine Dildungsgefchichte der christlichen Kirche. I.

Daö Pabstthum im höchsten Steigen und im Fall.

$. 292. (Die Unternehmungen Hildebrands (Gregor- VII.) für die Unabhängigkeit der Kirche und des PabstthumS. S. 86—88. $ 293. (Verwirklichung der pseudoisi'dorischen Idee vom Pabst­ thum. S. 88 — 91.) §. 294. (Verderblichkeit diese- geistlichen Despotismus, der da­ eigene Verderben in sich trägt S. 91 — 93 ) §. 295. (Wanken des päbstlichen Stuhls, Schisma, Reformationsversuche. S. 93 — 95.) j. 296. (Innere Auflösung des klericalischen Körpers. S.95.96.) II.

Kirchenleben und Kirchenzucht.

§. 297. (Gänzlicher Verfall der Disciplin; vollkommener Ablas; Ohrenbeichte. S. 96—99.) J. 298. (Ketzerverfolgung; Jnquisitionsgericht. S. 99—101.) J. 299. (Verderbliche Ehe-Aufsicht der Kirche. S. 101. 102.) § 300. (Wohlthätiger Einfluß der Kirche auf den bürgerlichen Austand. S. 102 103.) S* 30X. (Kirchliche Sittengcsetzgebung; kanonisches Recht. S. 103. 104.) z. 3o2. (Ueberhand nehmender Aberglaube im Gottesdienst; SchwLrmerey der Kreuzzüge. S. 105—107.) $. 303. (Neue Möncheschwärmerey; Corporationsgeist der Mönche, S. 107. 108.) § 304. (Lichtseite des katholischen Leben-. S. 108—no.)

III.

Kirchenle'hre.

z. 305. (Höherer Schwung der Wissenschaften, dann einseitige Herrschaft derselben. S. 110. in.) J. 306. (Scholastische Philosophie und Theologie. S. in—HZ.) 307. (Biblische und positive Theologie; Mysticismus, Sek­ ten und Ketzer. S. 113—116.)

vin

Inhaltsanzeige. Zweytes Capitel.

Kirchliche Sittenlehre. I.

Allgemeine U eb erficht.

(Scholastische Sittenlehrer. S. 116 — n8.) (Casuiften S. 119. 120.) (Mystische Sittenlehrer. S. 120. 121.) (Sittenlehrer unter den Gegnern der herrschenden Kirche« S. 122 12' ) $. Zis. 6.) 330- (Besondere Stttenlehre. Die theologischen Tugenden, Glaube und Hoffnung, und deren Gegentheil. S.156—1L8.) 331’ (Die Liebe und deren Gegentheil. S. 158 —160.) 332. (Die sittlichen Haupttugenden, Klugheit, Gerechtigkeit^ S i6o —166 ) 334- (Tapferkeit, Mäßigkeit. S. 166—168.) 335* (Besondere Sittenlehre. S. 16B. 169.)

§•319. § 320. 8- 32i. §» 322. §. 323. $• 324.

§. L. $. §. $♦ §.

$♦ §.

§ §.

IV. Ueber die scholgsti sche Sittenlehre überhaupt. 8- 336. (Wilh. Peraults Lehre von den Lugenden. S. 163—176.) § 337. (Dessen Lehre von den Lastern. S. 176 —179.)

Inhaltsanzcige.

ix

Z. 333. (Sittenlehre des Antoninus. Erster Haupttheil. S. 179- 183 ) § 339- (Zweyter und dritter Haupttheil. S. 183 —185 ) $. 340. (Vierter Haupttheil. S. 18,5 — 189.) §. 341.. (Allgemeine- Bemerkungen über die scholastische Sitten­ lehre. S. 189 — 191.) V.

Die Moral des kanonischen Rechts und die Casui st ik.

(Sittlicher Inhalt des ersten Theil- von GratianK Decretum. S. 192 —195) 343- (Des zweyten Theils. S. 19.5 — 198.) 344. (Casuistik des AstesanuS. S. 198 — 201.) 34b. (Allgemeine Grundsätze der Angelica. S. 201 — 205.) 346. (Besondere Erörterungen. S. 205. 206.) 347. (Allgemeine Bemerkungen über die Casuistik. S. 207. 208.

§.342. §. Z. §. §. §.

VL

Die Mystik.

348. (Der heilige B ern h a rd. S. 208. 209 ) §. 349. (Sittliche Ideen desselben. S. 209*—216.) $. 350. (Seine Lehre von dem beschaulichen Leben. ©. 2:6—220.) §. 351. Z52. (Taulers Idee der geistlichen Armuth. S. 220—231. $.353. (Von der Weltverläugnung und Wiedergeburt. S. 231—234.) §' 354- (Inhalt der Schrift: Medulla anlmae. Allgemeine Be­ merkungen über Taulers Mystik. S. 235 — 237.) f. 355. (Ruyöbr 0 ch' S Mystik. Idee des lebhaften Lebens. S. 237 — 241.)'). 357* (Aus seiner Schrift vom Schmucke der geistlichen Hoch* zeit S. 241.) §. 35s. (Allgemeiner Charakter der Mystik RuySbrochs. S. 247.) j. 359* (Ty omaß von Kempen. Nachahmung Jesu. S.247.) Z. 360. (Die deutsche Theologie. S. 248.) §. 361—362. (Gersons Lehre von der Mystik. S.251-255.)

VIL

Sittenlehrer der Gegner der herrschenden Kirche und Vorläufer der Reformation.

§. z6z. (Reformatorische Ideen Johanns von Goch, Wkklesfs, Nicol, von Clemangc. S. 257 -259.) $. 364. (Sittliche Grundsätze Petrarcas. S. 259—262.) s. 365. (Des Marsilius Ficinus. S. 263.) j. 366. (Erasmus sittliche Ansicht. S. 263 — 265.) •) Die Zahl 356. ist hier durch Versehen bey Bezeichnung der S§. im Manuscript übersprungen und fallt daher ganz aus.

Inhaltsanzeige

X

Dritter Abschnitt. Protestantismus. Erster Zeitraum. Zeitraum der Reformation.

Erstes Capitel.

Allgemeine BildungSgeschichte der protestantische» Kirche. I.

Geist der Reformation.

§. 367. (Nothwendigkeit des LosreißenS von der katholischen Kirche, damit der Geist der Freyheit sich wieder über die Natur erheben konnte, wovon die Bedingung Rückkehr zur Offenbarung, zum Glauben an Christum und die Schrift, war. S. 2'6 — 268) §. 368 - Gefahren der Reformation in der Richtung auf die ver­ ständige Erkenntniß, auf das Zerstören des Vorhandenen, und bte Zersplitterung und Vereinzelung. S. 263. 269.) !l.

K Lr chen reg i ment und Kirchenleben.

§. 369. (Untergang aller Kirchenverfaffung in der lutherischen Kirche, Beybehaltung derselben in der reformirten, zumal außer Deutschland. S 269 — 271.) §. 370. Erlöschen des Gemeingeistes, wie in der Kirche, so im übrrgen Leben, zumal in Deutschland. S. 271) $. 371. (Unkünstlerische Einfachheit des Gottesdienstes in der protestantischen Kirche, und deren Nachtheile; Nichtersatz des untergegangenen Klosterlebens» S. 271. 273.) Iil.

Kirchen lehre.

$ 372. (Geschichtlicher ForschungSgeist der protestantischen Theo­ logie, beschränkt durch die wieder eingeführte Begriffsphi­ losophie; Götzendienst der Schrift, Verachtung der Ver­ nunft. S. 273. 274.) 5, 373. (Unrechtmäßiges Uebergewicht der Lehre von der Gnade in Christo und Rechtfertigung. S. 274. 275.)

JnhaltSanzeige.

XI

Zweytes Capitel.

Sittenlehre der Reformatoren. I. Luthers und Melanchthons Sittenlehre.

374« (Luther- Lehre vom Gesetz und Evangelium, vom Glauben als der Quelle der guten Gesinnung. S. 2 5— 278.) §. 375. (Die wahre Idee seiner Lehre vom menschlichen Unver­ mögen, daß der Mensch ohne Gemeinschaft nichts sey. S. 278—280) §. 376. (Möglichkeit nach dieser Ansicht eine Sittenlehre aufzu­ stellen; Luthers sittlicher Geist. S- 280. 281.) §. 377. (Durch Luther wieder erlangte Gewissensfreyheit; Be­ richtigung der Lehre von den Rathschlägen; seine Ansicht von den Gelübden. S. 281—283.) $. 378. (Melanchthons sittlichere Richtung in der Lehre vom Synergismus und den guten Werken. S. 283. 284.) §. 379. (Seine Lehre vom Naturgesetz und dem Verhältniß des­ selben zum göttlichen Gesetz, vom Ursprung der Sünde, von der Tod- und erlaßlichen Sünde.- S. 284. 285) II.

Calvins Sittenlehre.

$. 330. (Vereinigung der Erwählungß- mit der Sittenlehre. S. 286. 287 ) $. 381. (Sein Abriß der christlichen Sittenlehre; erster Theil: von den Beweggründen zum Guten. S. 287- 288.) Z82. (Zweyter Theil: die Vorschriften deö sittlichen Leben­ selbst; Princip der Selbstverläugnung. Calvins Strenge. S. 288—291.)

Zweyter Zeitraum. Die Zeit nach der Reformation bis zur zweyten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts.

Erstes Capitel.

Allgemeine Bildung-geschichte der protestantischen Kirche. I.

Kirchenleben.

S- 383- (Allgemeine Zwietracht feiten; ReligionShaß und $♦ 384. (Leere deS kirchlichen Valentin Andreä'S 292» 296 )

in Krieg - und ReligionSstrritigLandschaftsgeist. S. 292—295.) Lebens, Schwärmerey; Joh. Klagen und Bemühungen. S.

XII

Inhaltsanzeige.

§. Z85- (Xnbere gleichgesinnte Männer; Phil. Jac. Spener'S Einfluß; Pietisten; Brüdergemeine. ©.296—298«)

IL

Kirchenlehre.

336. (Trauriger Zustand der Theologie, AndreL^s, Calixr's, Speners u. 2s. Einfluß. S. 298 — 300.) 337. (Mangel einer sittlichen Richtung in der Theologie; Fehler der Spenerschen Askese. S. 300. 301.)

Zweytes Capitel.

Sittenlehre der lutherischen Kirche. I.

Uebersicht.

§. Z38. (Verbindung der Glaubens-und Sittenlehre; Andreä'S und 2lrndt'ö Anregungen; Calixt's erster Versuch einer Sittenlehre; seine Nachfolger. S. 301 — 303.) §. 389. (Die folgenden Sittenlehrer von Schomer vis Crusius. S. 303 — 305.)

II.

G eist d er lutherischen Sittenlehre.

§. 390. (Grundsatz der Einheit der Vernunft und Offenbarung, von Andreä gefaßt. S. 305 — 307.) $. 391. (Von den andern Sittenlehrern wird dieser Grundsatz nicht entwickelt; positiver Geist ihrer Lehre. S. 307—310.) $. 392. (Mangel des christlichen Geistes ihrer Lehre, indem die Person Christi und die Gemeinschaft mit ihm nicht gehörig mir der Sittenlehre verbunden ist. S. 310—312.) 393. (Mangel eines Princips der Gesinnung in der Pflichten­ lehre. S. 312. 313.)

III. §. 394» §. 395.

Casuistik der lutherischen Lehre.

(Balduin, Olearius u. a. Casuisten. S.313—315.) (Inhalt des Werks von Balduin. S. 315—317.)

Drittes Capitel.

Sittenlehre der reformirten Kirche und der kleinerm Sekten. §. 396. 5. 347-

(Sittenlehre Daneau'S. S. 317—320.) (Sittenlehre Amyraut'S. S. 320—322.)

Inhaltsanzeige.

xm

$, 398. (Die übrigen Sittenlehren der Reformirten und ihre Casuisten. S. 322 — 32.5.) J. 399» (Sittlicher Geist dec Arminianer, Socinianer, Wieder­ täufer und Quäker. S. 325 — 32^.) Z. 400. (Sittlicher Geist der Brüdergemeine und Methodisten. S. 328- 329.)

Viertes Capitel.

Rückblick auf die katholische Kirche. §. 401. (Geist der Verstockung dieser Kirche, durch die Trienter Synode ausgesprochen. S. 329 — 330.) §. 402. (Jesuitenorden, Jansenismus, Anmaßungen der Wbste. S. 331. 332.) §. 403. . (Katholische Sittenlehrer, Geist der jesuitischen Moral. S. 332 — 334.) §. 404. (Grundsätze derselben. S. 334 — 337«) 5/405. (Jansenistische Sittenlehre. S. 337~ 339 ) 5- 406. (Spätere katholische Sittenlehrer. S. 339* 340.)

Dritter Zeitraum. Don der zweyten Hälfte des achtzehnten Jahrhun­

derts bis auf'unsere Zeit. Erstes Capitel.

Allgrmelne Bildungsgeschichte der protestantischen Kirche. §. 407. (Erwachen eines der Kirche feindlichen Selbstdenkens; Uebergewicht der Erkenntniß im Leben. S. 341 — 343 ) 408. (Deismus und Rationalismus. S. 343 — 346.) § 409. (Neueste Anregungen und Bewegungen. S. 346. 347.) Zweytes Capitel.

Di« Sittenlehre der protestantischen Kirche. $. 410. (Die sittlichen Werke von L eß, TLttm ann, MoruS, P. Miller u. A., Döderlein, Reinhard; Cha­ rakteristik des letztern. S. 348 — 353») 5. 411. (Kant'S moralische Spekulation, deren Mängel. S. 353 — 355.) 5- 412. (Ungeeignetheit derselben zur Behandlung der theologi­ schen Sittenlehre; Kantische Moraltheologen. (S. 355—357.)

xiv

InhaltSanzeige.

§. 413. (Charakteristik der Sittenlehre von I. W. Schmid. S. 357 — 360 ) §. 414. (A mmo n> S und StäudlLn' S spatere Lehrbücher, I. E. Chr. Schmidt's SLttenlehre. S. 360 — 362.) §. 415. (Rcformirte Sittenlehrer. S. 362.)

Drittes Capitel.

Rückblick auf die katholische Kirche. § 416. (Negativer Einfluß der wissenschaftlichen Aufklärung und politischen Umgestaltung auf den Katholicismus. S. 363. 364) 417. (Die neueren katholischen Sittenlehrer. S. 364—367.)

Zweyter Abschnitt.

P a b si t h u m. Erster Zeitraum. Bon Gregor dem Großen bis Gregor VII.

Erstes Capitel.

Allgemeine Bildungsgeschichte der christlichen Kirche. I. Veränderter Schauplatz der Kirchengeschichte. $. s6i.

seit dem Anfang des fünften Jahrhunderts war da- römische Kaiserreich im Abendlanbe durch eiabrin­ gende germanische Heere mächtig erschüttert, zum Theil in Besitz genommen und endlich über den Haufen gewor­ fen worden. Vandalen, Sneven, Ost- und West­ gothen, Burgunder, Franken, Langobarden, Angelsachsen gründen auf den Trümmern desselben

neue Reiche, von welchen das westgothische in Spanien, da- fränkische in Gallien, daS angelsächsische kn Brittaanien und das longobardische in Italien Festigkeit und Dauer gewinnen. Die griechischen Kaiser behaupten la S,Lt>lr r. Hälfte. A

L

Geschichte der christlichen Sittenlehre.

Italien, Sicilien und Afrtca noch eine Zeitlang zweifel­ haften Besitz, bis sie auf der einen Seite denLongobar, den und Franken, auf der andern den Arabern und Normannen weichen müssen. Jenes Volk, durch einen neuen Glauben begeistert, war feit ter ersten Hälfte deS siebenten Jahrhunderts mit unwiderstehlicher Gewalt auS seinen Wüsten hervorgebrochen, und hatte die Lander, in welchen bisher die Kirche am schönsten geblüht, zum Schauplatz der Verwüstung und zum Wohnsitz der Bar, barey gemacht. Da nun ohnehin bas griechische Kai, serthum immer mehr in Verfall und Verderbniß gerieth, und das Kirchenleben in der osirömifchen Welt feine höchste Entwickelung erreicht hatte, und von nun an im Ganzen stillstand, und eben dadurch zurückging: so wen­ det sich der Blick des Geschichtsberichters ganz natürlich nach dem Abendlande, wo eine neue Welt zu entstehen beginnt. Neue Geschlechter haben sich unter die römisch gebildeten Völker gemischt, neue Sitten und Einrichtun­ gen mttgebracht, und die alten zum Theil nebst dem christlichen Glauben angenommen, durch die Vermischung bilden sich neue Völker mit neuen Sprachen, unter ein­ under verwandt, . und doch eigenthümlich verschieden. Durch die Thätigkeit Gregors des Großen und anderer Päbste wird das Christenthum zu den Angel­ sachsen und den deutschen Völkerschaften gebracht, und nach und nach immer weiter im Norden und Osten Eu­ ropas verbreitet, so daß die Kirche an Zahl und Man, ntchfaltigkeit ihrer Mitglieder reichen Ersatz für den Ver­ lust gewinnt, den sie im Morgenland erlitten. Zwar fetzen ihr auch im Westen und Süden die Araber enge Schranken, und bedrohen sie mit großer Gefahr; aber durch fränkische Tapferkeit gehemmt, werde» sie j späterhin

Pabstthum.

Erster Zeitraum,

von den sich wieder ermannenden Gothen vertrieben, und verlieren auch in Unteritalien und ©killen ihre Erobe­ rungen, wo sich ein neues normännisches Reich bildet. Wenn in den vorigen Zeiträumen die politische Einheit des Römerreichs der Verbrüderung der Völker durch da- Christenthum dienlich gewesen, und die Kirche in zwey große Hälften, die griechisch-morgenländische und die lateinisch-abendländische, zerfallen war: so ist jetzt der Schauplatz viel mannichfaltiger, durch eine Menge verschiedenartiger Völker und Reiche belebt. Jedoch wird, mit Ausnahme des griechischen Kaiserthums, welches eine unselige Spaltung vom Abendlande trennt, die politische Zerstückelung durch die strengere Kircheneinheit aufgehoben, indem die Päbste nun die kirchliche Alleinherrschaft an sich reißen. So wie die neue Welt durch germanische Völker ihre eigenthümliche Gestalt erhielt, so treten unter denselben vorzüglich die Franken und Deutschen hervor, als die herrschenden und ausgezeichneten. Die Italiener aber halten die geistlichen Zügel fest, womit sie Alles lenken, und die Griechen bewahren noch die Pforten des Ostens, daß die Barbaren nicht in Europa einbrechen, und die wer­ dende neue Bildung zerstören. §. 262. Die neue« Geschlechter brachten allerdings neue Stoffe kn die Bildung und Eilten der Völker; aber ihre Eigenthümlichkeit besteht mehr in frischer roher Ju­ gendlichkeit, als in einer gewissen bestimmten Ausbildung. I« Hinsicht ihres Glaubens und Gottesdienstes tritt ihre Eigenthümlichkeit am wenigsten hervor. Sie neh« men das Christenthum mit einer gewissen rohen Gleich­ gültigkeit an, theils auS Staatsklugheit, theils der GeA -

4

Geschichte der christlichen Sittenleßre.

walt weichend,

theils auch wohl dem neuen Eindruck

sich willig hingebcnd; aber ein Einfluß ihrer natürlichen Religion auf ihren neuen Glauben zeigt sich wenigstens im Großen nicht, wenn man nicht die Gewohnheit der Prkestcrherrschaft in Anschlag bringen will, welche je«

doch bey den römischen Christen selbst schon sehr fest gegründet war.

Einen solchen Einfluß hinderte schon

der Gebrauch der lateinischen Sprache in Glaubenslehre und Gottesdienst, was nicht in die alten Formen paßte, -lieb zurück und verlor sich. Erst alS die Landesspra«

chrn theils flch neu gebildet,

theils mehr in Gebrauch

gekommen und mehr Selbstständigkeit

erlangt harten,

konnte die Volksnatur und Volksart in Hinsicht auf das Christenthum sich geltend machen.

Aber dann ent­

decken wir keinen bedeutenden Einfluß altgermanischer Meynungen und Gebräuche, sondern bloß die Kraft ei­

ner frischen freyen Ursprünglichkeit, die sich bey -en unvermischren Deutschen mit Hälfe ihrer ursprüng­ lichen unvermischten Sprache am reinsten erhalten hatte, einen durch den'einfacheren naturgemäßeren Götzendienst genährten Ernst des frommen Gefühls,

eine tiefe Em­

pfänglichkeit des unentweiheten Sinnes, damit hing zu­ sammen die Unschuld und Einfachheit ihrer Sitten, ihre Keuschheit und Treue, ihre großartige kühne Tapferkeit. Es waren gutartige herrlich begabte Kinder, welche die Kirche zur Erziehung erhielt. Aber zunächst.freylich hatte sie deren Rohheit zu bändigen, und mußte erst

daS Amt des Zuchtmeisters verwalten, ehe sie bas Ge­ schäft des Erziehers übernehmen konnte. Die einreißende

Darbarey und Unwissenheit wurde durch diese Ankömm­ linge noch beschleunigt,

zumal da sie so viel Verwir­

rung stifteten und so vieles umstirßen und veränderten.

PabstthttM.

Erster Zeitraum.

5

Die Welt sank wieder in eine Art von Kindheitszustand

und bedurfte wieder der ersten Anfangs,

zurück,

gründe der Erkenntniß (r« zoiyei& tov mos^wov).-

Die

ftifilßt Schöpfung war wieder in ein Chaos zerfallen,

aus welchem durch das Wort des Evangeliums eine neue schönere Gestalt der Dinge hervorgerufen werde» sollte.

Aber es dauerte lange, ehe es Licht ward, und

die Elemente sich schieden und ordneten. Die lateinische Sprache war das Band, durch wel­

ches die neue Barbarey mit der Bildung der alten Welt zusammenhing, um sich nicht ganz von dieser losreißen zu können.

Und im Osten bewahrte das griechische Kal,

serreich die reicheren Schütze der Bildung,

welche in

der griechischen Sprache niedergelegt waren,

um sie

einst einem empfänglichern Zeitalter zu spenden.

Der

Dienst, den es dadurch der Welt geleistet, ist unschütz­ bar, und man könnte schon darin allein die Bestimmung

finden, die es wÜhrend feines schwankenden, fast immer

vom Untergang bedroheten Bestehens in dlrser Zeit er# füllt hat.

Auch der Feuergeist der Araber wirkte erregend und

befruchtend auf die europäische Bildung.

Ihre neue

Begeisterung erweckte unter ihnen eine schnelle schöne

Blüthe der Dichtung, Wissenschaft und Kunst, der bür­ gerlichen Verfeinerung, des kriegerischen Heldcnumthes.

Auch vermittelten sie eine gewisse Bekanntschaft mit den Griechen, ob ihnen gleich selbst das wahre Verständniß

derselben fehlte.

Die morgenländische Einbildungskraft

warf ihre Funken in die düstere Abendwelt, und weckte die trägeren, aber gediegeneren Kräfte, die dort schlum­

merten.

Zugleich aber gattete sich morgenländischer

6

Geschichte -er christlichen Sittenlehre.

Aberglaube und Geheimnlßfucht mit d?r Unwissenheit, und die Kühnheit und Thatkraft der jugendlichen Ge­ schlechter ward unter Begünstigung der bürgerlichen Zer,

rättung zu riuem abentheuerlichen Helbenthum,

mehr zerstörend und verwirrend, tend wirkte,

das

alS ordnend und ret­

bis eS der christliche Glaube zähmte und

dienstbar machte.

Dieser kriegerische Geist, durch wel­

chen die neuen Reiche gestiftet waren, widerstrebte lange einer festen politischen Begründung und Ordnung. Ein­ richtungen ,

welche ein Gesetzgeber,

wie Carl der

Große, getroffen, zerfielen wieder, und dienten selbst dazu die Reiche zu zersplittern, indem stch die Vorstellung

eines erblich persönlichen Besitzes der Macht unterschob,

welche den Geschlechtern

der Eroberer angeerbt war.

Selbst der altgermantsche Freyheitssin» wird, weil er nle

durch ordentliche Verfassung geregelt war, indem er sich durch die Herrschsucht und den Ueberinuth brr Großen und Edeln in Ungrbundenheit und Zügellosigkeit verwan­

delt, zur Geissel der Völker. Indem die Großen die Freyheit für sich allein behielten, und in ihrer Willkühr den Gebrauch derselben suchten,

in Knechtschaft.

sank bas übrige Volk

Lange gab es nur Herren und Knechte,

blS in den Städten sich wieder-Dürgrrsina Selbststän­

digkeit errang, was in Italien zurrst geschah.

II.

Kirchenverfassung; Pabstthum.

IZ.

263.

Hier muffen wir einen Schritt zurückgehen in de»

vorigen Zeitraum, in welche» die Entstehung der neuen abendländische» Reiche und des eigenthümlichen Zustan-

Pabstthum.

Erster Zeitraum.

7

des der Kirche in denselben fällt ->). Die Unwissenheit und Rohheit der eingedrungenen Fremden konnte in dem Verhältniß des Clerus zu den Laien keine den letzteren günstige Veränderung hervorbringen. Die sonst unbän­ digen Freyheit liebenden Eroberer schmiegten sich gern unter das geistliche Joch der Priester deS neuen Glau­ ben-, mit dessen Annahme sie nur die Gegenstände ihreS blinden Gehorsams wechselten. Die Bischöfe behaupte­ ten fich im Besitz ihrer fast unbeschränkten geistlichen Gewalt, die sie noch vermehrten durch den Zuwachs weltlicher Macht, den sie hier gewannen. Sie wurde« reiche Landbesitzer durch den frommen Eifer des Vol­ kes, die Vorsorge der Regierung und ihre eigene Klug­ heit, erlangten aber ebendadurch eine große politische Wichtigkeit. Sie nahmen Theil an den Reichstagen und Königswahlen, verwalteten die wichtigsten Staats­ ämter und waren die Räthe der Könige und Fürsten; auch übten sie einen großen Einfluß auf die Rechts, pflege auS, durch das Recht der kirchlichen ZufluchtSfrryheit, welches hier weit bedeutender wurde als im Morgenlande, ja es wurde ihnen sogar eine Art von oberrichterlicher Gewalt zugestanben, und Carl der Große dehnte ihre schiedsrichterliche Gewalt so weit auS, daß er ihnen fast die ganze bürgerliche Rechtspflege in die Hände legte. Wurde dadurch die Geistlichkeit von ihrer wahren kirchlichen Bestimmung abgeleitet, so litt auch selbst die äußere Unabhängigkeit der Kirche darunter. So wie die Bischöfe an den Reich-verhandlungen Theil nahmen, a) Vrgl. Plank Geschichte der christlich - kirchlichen GesellschastrVerfaffung s. B.

8

Geschichte der christlichen Sittenlehre,

so wurden dagegen auch die kirchlichen Angelegenheiten Reichsangelegenheiten, und kamen unter den Einfluß der

Regenten und Reichsstande.

Gemischte Synoden find

in diesen Reichen üblich und die Könige üben das Recht der Zusammenberufung, auch behaupten fie einen großen

Einfluß auf die Bischofswahlen, deren Bestätigung ihnen förmlich von den Synoden zugestanden wird.

Der große

Güterbefitz legt den Bischöfen Pflichten auf, die fich mit ihrer Bestimmung und mit der Würde der Kirche nicht

vertragen; fie mässen die Heerfolge leisten, und scheuen

fich nicht, selbst in den Krieg zu ziehen.

.Mehr als je

wird man durch diesen Zustand der Kirche an die jüdi­ sche und heidnische Theokratie und Hierarchie erinnert,

und man könnte ihn wohl fast noch für weltlicher halten.

§.

264.

Auch die Einheit der Kirche ward durch die neuen

Verhältnisse sehr gelockert.

kam durch die

Die Metropolitanverfassung

Eroberungen und die Theilungen der

Reiche la Verwirrung, und die Versuche sie wieder her-

zustellen drangen nicht sehr durch.

Die politische Be­

deutung der Bischöfe sicherte ihre kirchliche Ungebundene

hekt;

auch traten sie nun in das, neue Verhältniß zum

Pabst, dessen höheres Ansehen das der Metropoliten ver­

dunkelte.

DaS Steigen des pabstlichen Ansehens wurde

durch diesen Verfall der Kirchenverfassung und die Ver­ weltlichung und Dienstbarkeit der bischöflichen Gewalt

nicht wenig begünstigt, indem kluge und kräftige Päbste

Veranlassung erhielten, die von den Bischöfen verrathene Würde der Kirche zu retten,

und dadurch ihre eigne

Würde höher hoben. Auch erwarb sich der päbstliche Stuhl durch seine Verdienste um die Ausbreitung deL Christenthums in England und Deutschland ein wohl«

Pabstthum.

Erster Zeitraum,

gegründetes Recht der Obergewalt, das er klüglich auch dahin auSzudehnen wußte, wo dieses Recht nicht Statt fand. Doch ging es langsam mit der Ausbreitung und Befestigung dieser Obergewalt, so wie auch der päbstsiche Stuhl noch lange in Abhängigkeit von den Kaisern blieb, sowohl in Ansehung feiner weltlichen Besitzungen, als auch der Besetzung desselben. Noch gegen die Mitte des neunten Jahrhunderts zeigen sich die Bischöfe zum Theil sehr widerspenstig gegen die Ausübung der Ober­ gewalt des PabsteS, und namentlich erkennen sie in Glaubenssachen (in dem Streit über die Bilder) seinen oberrichterllchen Ausspruch keinrSweges an. Indeß war dem Pabst um diese Zeit durch die allgemeine Meinung eine apostolisch« Obergewalt über alle Kirchen des Abend­ landes zugestandea, und nur die Bestimmung derselben erlag noch dem Zweifel. Die falschen Dekrete beS Jsldorus, welche -egen die Mitte deS neunte» Jahrhunderts zum Vorschein ka­ men, bereiteten ein neues Kirchenrecht vor, indem sie die biSher unerhörten Grundsätze, daß der Pabst der Bischof der allgemeinen Kirche, Inhaber aller kirchlichen Gewallfülle und alleiniger Richter aller Bischöfe sey, dem alle wichtigeren Sachen vorbehalten bleiben mußten und an den in allen Sachen appellirt werden dürfe, und daß alltin durch ihn Synoden, selbst provinziale, beru­ fen, geleitet oder doch bestätigt werden müßten. In eben dem Grade, als dadurch die Päbste erhoben, und ihnen die Bischöfe unterworfen wurden, wurde die Ge­ walt der Metropoliten verringert, das Band, das die Bischöfe an sie knüpfte gelockert, und diesen, indem sie einen entfernten Oberen für den durch feine Nähe lästi­ geren eintaufchtrn, größere Unabhängigkeit verliehen«

io

Geschichte der christlichen Sittenlehre.

Zugleich hatte es der Betrüger darauf angelegt, die Kirche von der weltlichen Macht unabhängiger und na­ mentlich die Bischöfe für die weltlichen Gerichte uner­ reichbar zu machen, und eben sowohl vor den Klagen der Laien als des übrigen Clerus sicher zu stellen: ein Gewinn, der, wenn er erlangt wurde, der aufstrebenden päbstlichen Gewalt nicht weniger als den Bischöfen zu gute kam» §. 265.

Langsam tritt diese neue Gesetzgebung kn Wirklich, keit a). Bis in die Mitte des ellften Jahrhunderts blie­ ben die Bischöfe von den Königen, welche sie gewöhn­ lich gerade.pl ernannten, abhängig, und vergebens suchte man diesen Einfluß der königlichen Gewalt, dessen stch Carl der Große mit Ausnahme des BestätigungSrechtes feeiwillig begeben hatte, Schranken zu setzen. Die Ab, hangigkett nahm zu durch die Lehensverbindung, in wel­ cher die Bischöfe seit dem neunten Jahrhundert wegen Ihrer wellichen Besitzungen gezogen wurden, und ihre Dienstbarkeit bezeichnete feit dem zehnten Jahrhundert die Investitur mit Ring und Stab. Waren sie bisher immer dem königlichen Gericht unterworfen geblieben, so hatte nun der König als Lehensherr eine Veranlas­ sung und ein Recht mehr, sich in ihre Händel zu mi­ schen; besonders aber war eS nun unmöglich gemacht, baß sie wider Willen deS Königs ihre Stellen erhielten und behaupteten. Auch auf die Synoden behaupteten die Könige noch lange ihren Einfluß, indem sie dieselben bereiseten, leite, ten und ihre Beschlüsse bestätigten und vollzogen. Sekt

Pabstthum.

Erster Zeitraum,

tem jehntea Jahrhundert aber finden flch Beyspiele, daß man die königliche Erlaubniß nicht einholte, indem ju-lelch die regelmäßige Haltung der Provinzialsynode tos Stocken kommt, und die Päbste tm Sinne der De­ krete deS falschen Jsidorus, «S sich herausnehmen, grö­ ßere und kleinere Synoden ju berufen, durch welcheolleö der Einfluß der Staatsgewalt auf die kirchlichen Angelegenheiten verringert wurde. Nunmehr faßt auch die Unterscheidung der weltlichen und geistlichen Macht in der Ansicht dec Bischöfe Platz. Sie sondern ihr Va­ sallenverhältniß von ihrer bischöflichen Würde und sehen letztere als unabhängig von der königlichen Gewalt an, jo, sie betrachten diese als eine« Ausfluß der geistlichen Gewalt, welchen Grundsatz sie werkthätig durch Königs­ wahlen und Salbungen bewähren. In Ansehung der innern Verhältnisse deS Clerus macht sich die pseudoisidorlsche Gesetzgebung ebenfalls rach und nach geltend. Di« Bischöfe werden für die Klagen des niederen Clerus unerreichbar, und behaupten über denselben eine fast unumschränkte Gewalt. Auf der andern Seite entziehen sie flch mehr und mehr der Aufsicht der Metropoliten, deren Gewalt nach und nach fast zu einem bloßen Ehrenvorzug wird, und die Päbste reißen das CognitionSrrcht über die bischöflichen Sachen an sich, wobey die Bischöfe auch gewinnen, wiewohl ihnen in den Domkapiteln wieder eine Art von Be­ schränkung entgegentritt. Die päbstliche Obergewalt befestigt und erweitert sich seit dem neunten Jahrhun­ dert bis zum etlften bedeutend; nicht nur wird sie als oberrichterltche, sondern auch als gesetzgebende Gewalt über die ganze Kirche geltend gemacht. Dazu kommt die Eonstitutirgewalt oder das Recht, neue Kirchen und

is

Geschichte der christliche» Sittenlehre.

Bisthümer zu stiften und elnzurichten r ja, auch die Idee eines allgemeinen Ep'scopats, von welchem alle bischöfliche Gewalt rin Ausfluß sey, und dessen Rechte auch unmittelbar in den einzrlnen Kirchen ausgeübt werben könnten, trat schon zum Theil in Wirklichkeit, indem die Päbste Bischöfe confecrirten und Ablaß ertheilten. Wenn auch alles dieses noch zuweilen Widerspruch fand, so standen die Pabste doch wirklich am Ende die­ ses Zeitraums als kirchliche Alleinherrscher da, und die Beschränkungen ihrer Gewalt ließen sich bey der erlangten Anerkennung derselben, immer mehr entfernen. So erstarb von unten hinauf das kirchliche Lebe», indem erst alle Gewalt von der Gemeine auf den Clerus, von diesem auf die Bischöfe und Synoden, und von diesen endlich auf die Pabste überging. Die Idee der Einheit der Kirche, schon sehr früh abergläubig an einen äußerlichen Punkt, die römische Kirche, geknüpft, hat sich aus dem lebendigen Körper der Kirche heraus­ gezogen und zu einem Gespenst gestaltet, vor welchem alle Welt von abergläubiger Furcht erbebt. Das rohe Zeitalter mochte wohl eines solchen Schreckbildes bedür­ fen, um nicht alle heilige Scheu zu verlieren und aus der Kircheneinheit heranszufallen. Aber diese ist von der mit ihr nothwendig verknüpften freyen Mannichfaltigkeit losgerissen, und will für sich bestehen, wodurch das Leben in starrer Einförmigkeit erhalten, und Zerstö­ rung und Auflösung herbeigeführt wird.

Pabstthum. III.

Erster Zeitraum.

Kirchenleben und Kirchenzucht.

§. 266. Der Gott es bienst wurde ganz von der sinnlichen Anschaulichkeit in Besitz genommen, und die Belehrung davon ausgeschlossen, schon darum weil die lateinische Sprache für bas Volk unverständlich wurde. Der Kir­ chengesang, um welche» sich Gregor der Große ein schönes Verdienst erwarb, verfehlte einen Theil seiner Wirkung, da man den Gebrauch der Landessprache da­ von zu entfernen wußte. Das Predigen nahm nach und nach ab, und Karls des Großen und anderer Könige Bemühungen, es wieder in Gang zu bringen, konnte» den Verfall des Dolksunterrichts nicht verhindern; von Predigten in den Landessprachen finden sich wenige Uebrrbleibsel. Der Gottesdienst verwandelte sich in lauter Ceremonien, deren Mittelpunkt die Messe bildete, welche nun, zufolge der Lehre von der Transsubstantiatlon, alS ein förmlicher Zauberakt der Verwandlung nämlich drS Brote- und Weins in den Leib und das Blut Christi und der Opferung desselben gefeyert und vom Abend­ mahl losgerissen wurde. Diesen Privatmessea, ohne Theilnahme der Gemeine gehalten, schrieb man alle mögliche heilsame Wirkung für Lebendige und Todte zu, und es war ein förmlicher Opferbienst, der damit getrie­ ben wurde. Unbestimmte Anregung des Gefühls, ge­ dankenlose Beobachtung äußerlicher Gebräuche, verbun­ den mit einer dumpfen heiligen Scheu, war alle-, was brym Gottesdienst bezweckt wurde, dessen auch das rohe Volk am meiste» empfänglich war. Es vollendete sich nun das Gemisch von Heiden- und Judenthum und neuem Aberglauben, bas sich an die Stell« des grlstlk-

14

Geschichte der christlichen Sittenlehre,

chen Dienstes des Christenthums einschob, und worin die höheren Ideen desselben nur noch schlummerten. So ward allerdings in der Vorstellung vom Abendmahl die Idee der Menschwerdung GotteS und feine verföh, «ende Vermittelung festgehalten, aber in ganz grober Gestalt. ES «ar ein Götzendienst, der mit einem feinen Faden an die höchste sittliche Idee angeknüpft war, welche auch dunkel dabey mit angeregt wurde. Dazu nun der überhand nehmende Heiligen-, Bilder- und Reliqulendienst, durch welchen der Glaube an den Zusammenhang des Göttlichen und Menschlichen inS Viel­ fache zersplitiert und an grobe sinnliche Vermittelun­ gebunden wurde. Die Menschheit wagte sich nicht mehr unmittelbar zu Gott und Christo, dem einzigen höchste« Mittler zu erheben, sonder« ihrer Gefunkenhelt sich be, wußt, ergriff sie eine Menge Stützen und Mittelglieder, um sich daran aufzurichten. Vergebens, daß sich er­ leuchtete und kräftige Fürsten, wie Leo der Jsaurer und Karl der Große, und helldenkenbeGelehrte, wie Claudius von Turin, und Agobard, gegen den Bilderdienst erhoben: der Aberglaube drang durch, und selbst unter Begünstigung eineS großen Theils der Geist­ lichkeit und der Päbste. §. »67. Die Rohheit der neuen abendländischen Christen fetzte den Ausübungen der Kirchenzucht, wie sie bisher be, standen hatte, große Hindernisse entgegen. Je größer die Gewissenlosigkeit war, desto weniger fühlte man sich geneigt, durch freiwilliges Beichten seiner Sünden ge­ hässige Strafen zu übernehmen. Zur Schärfung der Gewissen biente die jetzt aufgekommene Lehre vom Feg­ feuer, und um die Kirchenstrafen weniger abschreckend zu

Pabstthum.

Erster Zeitraum,

machen, verfiel man auf das Mittel, eine Vertauschung der für gewisse Sünden festgesetzten Büßungen mit an, der«, den Umständen brr Sünder angemessenen, oft weit härteren und beschwerlicheren, aber doch immer leichter zu übernehmenden, mit Fasten u. dgl. und selbst mit Geld­ strafen zuzulaffen oder, wie man es nannte In dulgenz ju gestatten a). Auch wandte man den Kirchenbann sehr selten an, und ertheilte lieber gleich die Absolution unter Auflegung nachzuleistender Büßungen. Man sparte denselben für seltene Falle auf, und suchte den Eindruck davon auf die Gemüther so viel als möglich zu erhöhen: ja man bemühte sich bürgerlich nachtheilige Folgen da­ mit ju verbinden, waü jedoch nicht sogleich gelang. So redlich die Absicht der Kirche bey diesen Veränderungen seyn mochte, so waren sie doch sehr gefährlich durch die Willkähr, die dabey mit unterlief, und den sich dadurch befestigenden Aberglaaben, daß man für die Sünden Ge­ nugthuung leisten könne. Der Vortheil der p r ä fen d en Beschämung, der mit der alten Dußübung verbunden war, ging fast ganz verloren. Nicht zu gedenken, daß dadurch der Weg zu immer größerer Milderung und Erschlaffung eingeschlagen war. Das Institut der Sende, oder d«S geistlichen Sittengerichts, daS im achten Jahrhundert lm fränkischen Reiche eingerichtet war, mochte et« aogemessenes Mittel für das rohe Voll seyn. Aber außerdem, daß eS die Angebung beförderte, und die Großen davon unangetastet blieben, so waren dir Strafmittel, Schläge, Gefängniß u. dgl. der Kirch« a) S. Mo rinus de administr. sacram. poenit. L. VII c. IX. L. X. c. XVII. §. 4. sqq. Die Bestimmungen dieser Permutation-- Praxis s. bey Kegine de discipl. eccles« L. II. c. 44. sqq. und Exempel daraus bey Morin 11. c.

16

Geschichte der christlichen Sittenlehre,

unwürdig und ohne sittliche Kraft. Das Zuchtmrkster, amt, das freylich die Kirche schon längst übernommen hatte, war jetzt barbarisch roh geworden. §. 268. Die zunehmende Sittenlosigkeit veranlaßte die Kirche auf Mittel zu denken, der Verachtung der Kirchenzucht zu begegnen, Eindruck auf die Gemüther zu machen und Strenge mit Milde zu verbinden, um wenigstens einen Schein von Achtung gegen ihre Strafgewalt zu erhalten. Co verfiel sie, Im neunten Jahrhundert, auf die Aus, kunft, die Excommunication von dem Bannfluch zu treu, nen, und diesen für die schlimmsten Falle aufzuheben; auch gelang es ihr jetzt besser, mit der Excemmunica, tlon bürgerliche Nachtheile zu verbinden. Um aber die Mächtigen zu treffen, die sich um Excommunication und Bann nicht kümmerten, erfand man die Strafe des JnterdictS, womit man ganze Städte und Gegen, den belegte, und wodurch man den Aberglauben des Volkes gegen widerspenstige Machthaber «affnete. So furchtbar auf dieser Seite die Stellung der Kirche war, so schlaff zeigte sie sich, wiewohl wider ihren Willen, in der gewöhnlichen Ktrchenzucht. Denn nun wlrd das Vertauschen der Ktrchenstrafen mit Geldstrafen und mit selbsterwähltea guten Werken, Gebetsübungen, Wall, führten u. dgl., immer gewöhnlichern). DaS schlimmste aber war, daß nunmehr gegen bas Ende dieses Zeit, raums die Eingriffe der Päbste in die bischöfliche Kir­ chenzucht immer häufiger wurden, indem entweder die Bischöfe selbst schwere Verbrecher zur Absolution an de» -------------Pabst a) Zuerst in England. S. Morin. L,X. c. XVII. §. 3.9. 14, Plank 3.B. S, 677 ff.

Pabstthum.

Erster Zeitraum.

17

Pabst wiesen ober diejenigen, denen ste solche versagten, sich aus eigenem Antriebe nach Rom wandten, um sich vom Pabst lossprechea ju lassen. So bildete sich die der Sittlichkeit so sehr verderbliche Vorstellung, daß ge­ wisse Sünden nur durch die höhere Ablaßgewalt dePabsteS könnten erlassen werden, und die Kirchenzucht der Bischöfe wurde durchlöchert und der Verachtung Preis gegeben a). §. 269. Die Strafbestimmungen enthielten die kn diesem Zeitraum gewöhnlichen Pönitenzbächer, nach den Festsetzungen der Synoden, zum Theil aber auch nach eigenem Ermessen der Verfasser. Darin waren alle ir­ gend vorkommende oder denkbare Sünden mit den dar­ auf gesetzten Kirchenbußen mit kleinlicher Genauigkeit aufgeführt. Die Willkühr, mit welcher diese Bußen nach Tagen, Monaten und Jahren abgemessen waren, fallt eben so sehr auf, als der unchristliche, wahrhaft jüdische Geist in Bestimmung der Sünden, wohin z. B. gerechnet wurde: der Genuß drS Fleisches von einem Thier, welches von einem Hund, Fuchs ober Habicht gelöbtet worden, eines Fisches, der im Teiche abgestan­ den u. dgl. m., ehelicher Beyschlaf zur Feit der Menstruation, am Sonntag u. s. w. b). Diese Sündenund Strafregister brauchten die Deichlpriester beym Belchthöre«; nach Anleitung derselben fragten sie die ») Morinus L. VII. c. 17. b) S- über poenitentialis ex Scrinio Romanas eccleaiie in Canif, lectt antiq. ed. Basnage. T. II. P. II. p. 121 iqq. >33 sqq. Rhabani Mauri über poenitent. ib. p. 3g3 sqq. Regln o de disciplin. eccles. L. I. 0.299. L. II. c. 5. Schmidt, Kirchengrschichte 5. LH. S. 183 ff. 3. Thl4 ». Hälfte. B

18

Geschichte der christlichen Sittenlehre.

Sünder aus und blctirten die Buße: ein unwürdiges verderbliches Verfahren! Für die Rohheit dieser Zeiten waren die bisherige« Kirchengesetze noch nicht hart genug: fie wurden da­ her geschärft, namentlich in Ansehung der Ehe, deren Hindernisse man vermehrte, und deren Scheidung, selbst tm Fall des Ehebruchs, man gänzlich versagte. Doch läßt sich zweifeln, ob gerade diese unerbittliche Strenge dazu geeignet war, der Unzucht und dem Ehebruch Ein­ halt zu thu«. Auch über die. Feyer der Sonn- und Festtage wurden geschärfte Gesetze erlassen, und die man# nichfaltigen kirchlichen Festtage erhielten gesetzliche Be­ stimmung. Die Synoden fuhren? überhaupt fort, und meisten- auf Veranlassung und unter Mitwirkung der Kö­ nige, polizeyltche und fittllche Verordnungen zu geben, oder schärften die vorhandenen von neuem ein. Auch die Päbste gaben in ihren Decretalen Gutachten und Ent­ scheidungen, welche gesetzliches Ansehen erhielten, so daß die Masse der kirchlichen Gesetzgebung ins unendliche anschwoll. Für die rohen Völker mußte wohl allerdings die christliche Sitte die Gestalt eines äußerlichen buch­ stäblichen Gesetzes annehmen; denn für die freyere sitt­ liche Anregung waren sie nicht empfänglich. h. 270. Auf die weltliche Gesetzgebung und Rechtspflege und die Sitten der Völker hatte die Kirche einen sehr wohlthätigen Einfluß, und war in dieser Hinsicht vor, züglich rin Licht an einem finstern Orte. Als Reichs­ stände wirkten die Bischöfe, kriegerischen unruhigen Gro­ ßen gegenüber, Vortheilhaft auf die Befestigung und Be­ friedung der Reiche, und die Könige, zumal in Spa­ nien, suchten und fanden bey ihnen die Sicherheit ihrer

Pabstthum.

Erster Zeitraum.

19

Throne. Es bildete sich wieder eine Art von Theokra­ tie, welche jetzt eben so nothwendig und heilsam war, alS in den Zeiten des Alterthums. Nur durch fromme Beweggründe, welche die Geistlichkeit klug benutzte, ge­ lang es, dem Faustrecht Schranken zu setzen, in dem auf gewisse Tage in Ker Woche festgesetzten Gottessrieden (treuga Dei). Die barbarische Milde der Strafen für den Mord und andere Gewaltthätigkeiten bey den deut­ schen Völkern (sie bestanden in Geldbußen) machte in der neuen christlichen Gesetzgebung einer der Gerechtig­ keit würdigeren Strenge Platz; der Willkühr gegen die Geringern wurde gewehrt, und die Gewalt der Gesetze immer mehr auf alle Stände ausgedehnt. Die Rechts­ pflege wurde von den Bischöfen in einem milderen Geist gräbt, als von den rohen weltlichen Richtern, und man­ cher Unschuldige in ihren Freystatten vor der Gewalt der Unterdrücker gesichert. Die große Masse des unbegätertrn Volkes, welche die damalige Verfassung fast ganz rechtlos ließ, fand bey der Kirche Beystand, und sie war eS, welche vorzüglich mit zur Entstehung eines DärgerstandeS beytrug. Weniger that sie und langsa­ mer wirkte sie für die Milderung der Knechtschaft, de­ ren sie selbst alS Güterbesitzerin nicht entbehren zu kön­ nen glaubte. Doch machte sie nach und nach die Idee des auch den Sclaven zustehenden Menschenrechtes we­ nigstens in der Gesinnung geltend, bestrafte die eigen­ mächtige Tödtung eines KnechteS als Mord, und wirkte im Einzelnen wohlthätig, wohin auch gehört, daß sie ihre eigenen Knechte in den Cirrus aufnahm, wodurch die Verachtung dieser Menschenrlasse vermindert wurde. Auch die Form der Gerichtsordnung ward verbessert »der doch gemildert. In Spanien erklärte sich im sirB 2

so

Geschichte der christlichen Sittenlehre,

benttn Jahrhundert «ine Synode a) gegen alle Arte» von Tortur und gewaltthatiger oder listiger Erpressung des Geständnisses; eine französische b) wachte auf de» in dm bürgerlichen Gerichtshöfen mit dem Eide getrie­ benen Mißbrauch und das Unvernünftige des gericht­ lichen Zlveykampfü aufmerksam, und fortwährend such­ ten Synoden und Pübste diesem Uebel zu steuern. Bey Verwaltung der Ordalie» wirkte die Kirche, wenn auch durch fromme» Betrug, wenigstens mittelbar wvhlthatkg zur Rettung der Unschuld. Und schon in diesem Zeit­ raum trug sie aus die Aufhebung dieser rohen Formen an, waö sie auch im folgenden Zettraum durchsetzte. §. S71. Leider stand der fittlichen Wirkung der Kirche die Sittenlosigkeit und Rohheit der Geistlichm sehr im Wege. Die Bischöfe waren nicht nur Jager und Krieger, wie die weltlichen Herren, sondern wetteiferten mit diese» auch in Verschwendung, Ueppigkeit und Weltlüsten. Ei» geringeres Aergerniß war das eheliche Leben der Geist­ lichen, welches den immer wiederholt eingescharfteu Ge­ setzen zum Trotz während dieses Zeitraums gewöhnlich blieb: schlimmer war bas Corrmbinat, bas zuweilen auf ächt orientalische Art geführt wurde. Die strengsten Verordnungen der Synoden gegen diese« Unfug und der bittere Tadel freymüchtger Sittenlehrer, eines Rathe« rius und Damiani, welche die Zügellosigkeit ihrer Standesgmossen schonungslos rügten c), drangen nicht durch, und der unlautere Beweggrund der Kirche, die a) Die rzte zu Toledo (m I. 683. b) Zu Balence im I. »55. S. Plank, z. B. S. 537. c) S. Sch rbckh Kirchepgesch. Th. XXIL ©. 515. 527,

Pabstthum.

Erster Zeitraum.

si

Ehelosigkeit der Geistlichen zu erzwingen, nämlich die Sorge für da Klrchengut a), bestrafte sich durch die unsittlichen Folgen, welche diese unnatürliche Maßregel mit sich führte. Uebrigens leuchteten die Oberhirten der Kirche, die Statthalter Christi, die Pabste, nicht selten Allen vor mit ihrem lasterhaften Lebenswandel. Durch daS kanonische Leben, welche- der Bischof Chrodigang von Mez nach der Mitte des achten Jahr­ hunderts aufbrachte, wodurch sich der CleruS der gro­ ßem Kirchen zum gemeinschaftlichen Beysammenwohnen nach Art der Mönche vereinigte, wurde allerdings ein »euer besserer Impuls gegeben. Aber schon in der Mitte des zehnten Jahrhunderts ist dieses Institut wieder zer­ fallen, und dessen Wiederherstellung gelang nicht auf die Dauer. Die reichen Güter der Domcapitel waren i» fette Pfründen zersplittert, deren Einkünfte nicht einmal durch die leichte Mühe des Chorhaltens verdient, und in träger Ruhe verzehrt wurden. So wurde biese­ nützliche Institut selbst die Quelle größerer Verderbniss für die Geistlichkeit. §. 272. DaS Mönchswefen nach der strengem Orbnung DenedictS hatte flch im Abendland eben so sehr ver­ breitet, als es hier wohlthätig wirkte. Die Klöster ge­ währten in den kriegerischen Zeiten friedliche Zufluchts­ örter, und waren eine Zeitlang die einzige« Pflanzfchulen christlicher Wissenschaft und Gelehrsamkeit, aus wel­ chen Bischöfe und Missionäre hervorglngen. Die Mönche standen bei dem Volke in grosser Achtung und im Ruf der Heiligkeit, «ad die Geistlichkeit nahm daran fast nur *) ®. Plant, 3.8. 6. 599 ff.

22

Geschichte der christlichen Sittenlehre,

in sofern Theil, als sie dem Mönchsstand «»gehörte, Die Klöster wurden reichlich beschenkt mit liegenden Gründen, welche oft erst durch den Fleiß der Mönche bebaut wurden, wodurch der Ackerbau und Erwerbfleiß sehr gewann. Aber mit den zunehmenden Früchten die, ses Fleißes fand sich auch die Ueppigkeit und Trägheit ein; der Reichthum der Klöster reizte die Habsucht nicht nur der Bischöfe, welche sich Bedrückungen und Erpressungen erlaubten, die Abtsstellen mit ihren Anverwandten besetzten, ja sich selbst beylegten, sondern auch der welt­ lichen Herren, welche sich die reichen Abreyen von den Königen schenken ließen oder eigenmächtig an sich rissen; und dadurch brach ein gänzlicher Verfall der Klosterzucht ein. Mit dem Anfang deS zehenten Jahrhunderts war daS Bedürfniß einer Reformation der Klöster allgemein selbst den Laien fühlbar geworden, welche nun auch wirklich eintrat durch die Stiftung des Klosters zu Cliigny, von wo aus sich wieder die strengere Zucht des heil. Benedict und zugleich ein neuer Eifer für das Mönchswesen verbreitete. Eigenthümlich und folgen­ reich war das durch den Einfluß dieses Stamm- und Muster, Klosters sich bildende Verhältniß deS Zusam­ menhangs mehrere Klöster mit einander und der Unter­ ordnung derselben unter ein Hauptkloster, wodurch ein neuer Derbräderungs- und Gemeingeist in die Mönchs­ welt kam, der in Verbindung mit dem Geist des stren­ gen Gehorsams eine furchtbare Macht zu erlangen drohte. Diese Macht aber mußte den Päbsten dienstbar «erden, da die Klöster schon setzt sich gern der Aufficht der Bischöfe entzogen und sich unmittelbar unter den römischen Stuhl stellten.

Pabstthum.

Erster Zeitraum.

fl5

§. 27z. Die Gestalt des sittlich»religiöse« Lebens in diesem Zeitraum im Großen ist, wie schon angedeutet worden, die einer gesetzlich strengen Zucht, eines harten Kampfes deS Lichts mit der Finsterniß, des Geistes mit dem Fleisch, und ebendarum eine enge Verschlingung und Vermischung beyder. Die Kirche hat sich mit der Ruthe, ja mit dem Schwerte bewaffnet, um zu züchtigen und zu strafen; sie bedient sich der Knechtschaft, um zur Freyheit vorzubereiten, und ihre Liebe nimmt die Ge­ berbe deS Zornes an. Daß weltlicher Sinn, Herrsch, und Habsucht, und Lasterhaftigkeit selbst in die Mitte der Kirche eindrlagen, und ihren Lebensgeist verunreknkge«, ist nicht zu leugnen; doch wird der Unbestochene immer zugestehen, daß sie im Ganzen dem Dienst Christi treu geblieben ist, wenn sie auch sein Werk auf eine an­ dere Weise, als er selbst und seine ersten Jünger gethan, fördern zu müssen glaubte. Wie grobstnnlich auch der Cultus, wie dürftig der Unterricht, wie weltlich die Kirchrnverfaffung und Zucht war: immer blieb die Hindeu­ tung auf eine höhere geistige Welt, der Schimmer eine­ himmlische« Lichtes, die Scheu vor einem Heilige«. Selbst das Phantom des Pabstthums wirkte wenigstens in die Ferne durch den Glauben an seinen göttlichen Ur­ sprung und die dadurch vermittelte Idee einer Kirchen­ einheit wohlthätig, und bas Joch, daS es den Völker« auflegte, wenn auch dadurch vor der Hand die freye Entwickelung des Volksthums verhindert wurde, war »in heilsame- BändkgungSmittel, dem wir das Gemein­ same der europäischen Bildung mit verdanken. Die mönchische Askese stellte, wen« auch in grober Verzer­ rung, doch eben dadurch für «l« rohes Zeitalter, nur

24

Geschichte der christlichen Sittenlehre,

desto erwecklichere Musterbilder der Heiligkeit, der Selbstverläugnung und Bezähmung der Sinnlichkeit auf, der Wohlthaten nicht zu gedenken, welche das Mönchsthum der Menschheit durch Beförderung des Ackerbaues, des Erwerbflrißes, der Wissenschaften erwiesen hat. Man sieht alte Bilder von geharnischte» Rittern, welche kniernd, die Hände gefaltet, beten, ihren rohen Trotz vor dem Heiligen beugend, einer höheren Gewalt in stummer Ehrfurcht huldigend. Dieß ist bas Bild die­ ses Zeitalters in seiner durch dunkeln Glauben gebän­ digten Rohheit, in seiner Unterwürfigkeit unter bi« Kirche.

IV.

Kirchenlehre.

§. 274Durch die vier ökumenischen Concilien und bas birst bestätigende fünfte war im Morgenlande diejenige Seite des katholischen Lehrbegriffs vollkommen ausgebildet worden, welche dort die theologische Forschung und Streitsucht vorzugsweise beschäftigt hatte; und birst kirchlichen Festsetzungen blieben unverrückt stehen als Normen des katholischen Glaubens. Im Abendland« hatte dagegen vorzüglich nur das persönliche Ansehen des Augustinus der streitigen Lehre von dem mensch­ lichen Unvermögen und der göttlichen Gnade den Sieg verschafft; die Kirche hatte darüber außer ber Verdam, mung des Pelagius nichts allgemein entschieden: mithin blieb diese Seite des kirchlichen Lehrbegriffs noch am mei­ sten Veränderungen und Abweichungen unterworfen, um so mehr, da man die Augustinische Lehre nie recht er­ gründet oder sich zu eigen gemacht hatte. Ls zeigte» sich daher noch einige Nachwirkungen des Streites im

Pabstthum.

Erster Zeitraum.

25

sechsten Jahrhundert, auf weiche aber eine lange Ruhe elntrat. Die theologische Forschungs» und Strektkraft schien erschöpft zu seyn und daS Gefühl der Befriedigung durch das bisher Gewonnene, verbunden mit einer Scheu vor allem Neuen, lähmte -le Selbstthätigkeit des Geistes!a), Die Theologie beschränkte sich nun bald ganz auf die Wiederholung und Zusammenstellung des­ sen, was die Kirchenvater, besonders Augustinus, gelehrt und die Concilien festgesetzt hatten. Geschah solches mit einer gewissen Vollständigkeit und wissenschaftlichen Klarheit und Bestimmtheit, wie in dem dogmatische» Werke besJohannes von Damaskus, und in den Sammlungen des Jsiborus von Hlspalis, so ver, dient es eine besondere Auszeichnung. Aber bald wur­ den eben diese Werke fast die einzigen Fundgrube« theo­ logischer Gelehrsamkeit, und an ein grändllches.Studium der alten Kirchenlehrer war nicht mehr zu denke». Noch mehr kam die Schrifterklärung in Verfall. In der griechischen Kirche sammelte man die Erklärungen des Chrysostomus, uud erhielt dadurch noch einiges Ver­ ständniß der Bibel, wozu immer auch die griechische Sprache half. Im Abendland hielt man sich an Aus­ züge aus Augustinus und Hieronymus, und da man nicht auf die Ursprache zurückgkng sondern an die Vulgata gewiesen war, verlor sich das lebendige Verständniß der Bibel immer mehr, und die unschmackhafteste Allegorie behauptete die Stelle der Auslegung. DaS immer zu­ nehmende Uebergewicht des Cultus, die vorherrschende Theilnahme an Btlbrrvrrehrung, Mönchsleben und Heia) Diese Stimmung spricht deutlich tu# Vincent. Lirin. Comxnonitt y, tz38« c«L Baluz,

c6

Geschichte der christlichen Sittenlehre,

ligengeschichten ertödtete dle Liebe zur Gelehrsamkeit und Forschung. Dazu nahm nmt die Barbarey im Abend­ land in dem Grade überhand, als die alte römische Welt sich in die neue germanische verlor. Die lateinische Sprache und Bildung zog sich auS dem Volke fast ganz allein in den Clerus zurück, und auch diesem bliebe« nur dürftige Ueberreste, fo daß es schon für Gelehrsam­ keit galt, wenn ein Priester die Psalmen, Kirchengesänge und gottesdienstlichen Gebräuche inne hatte. So kam es dahin, daß Bibel, Liturgie, Glaubenslehre und GotIrsgelehrfamkett, in der lateinischen Sprache elngeschlosftn, nur alS eine todte fremde Erbschaft im Besitz deClerus, und bey diesem selbst in höchst mangelhaftem Gebrauche, war. Das Christenthum halte sich fast ganz aus der lebendigen Erkenntniß, welche nur durch die Muttersprache vermittelt werden kann, verloren, und nur was sichtbar und fühlbar von ihm war im Cultus und in der Kirchenzucht, berührte das Leben. Die Chri­ sten waren nicht nur, wie die alten Hebräer, unter das Gesetz gethan, sondern sie waren sogar in den Zustand der Juden hlnabgesunken, denen eine Decke das Gesetz verhüllt. So kam alles zusammen, um die längst schon von der Kirche genommene Richtung zur Gesetzlichkeit und zum Zwangswefen bis zum letzten Ziele zu führen. Die Glaubensautorltät der Kirche hatte nun ihren höch­ sten Gipfel erreicht, und selbst die Geistlichkeit fühlte wenig Trieb, sich eine selbstthätige Erkenntniß zu ver­ schaffen. §. 275.

Der vom Schicksal selbst vorgezelchnete Weg der Ausbildung der Kirche war nun, baß die alte« Ueber­ lieferungen uicht nur, so gut es ging, erhalten, sonder«

Pabstthum.

Erster Zeitraum.

i?

auch nach und nach den Völkern angeeignet werde» mußten, freylich lange noch in dem engen Kreise latei­ nischer Schulgelehrsamkeit. In Italien und Spanien waren am Anfang dieses Zeitraum- noch die meiste« Ueberbleibsel von Gelehrsamkeit vorhanden; und hier traten die Manner auf, welche für das ganze Zeitalter die vorzüglichsten Lehrer blieben, Gregor der Große und Jsidorus von Htspalis. Späterhin erfreute fich Drittannien der blähendsten Schulen und berühm­ testen Gelehrte», unter welchen Beda der Ehrwür­ dige hervorragt. Ans diesem Lande suchte Karl der Große da6 Licht der Gelehrsamkeit in sein Reich zu verpflanzen, und errichtete Schulen in den bischöflichen Sitzen und in Klöstern. Auch finden fich zu feiner und feiner Nachfolger Zeit im fränkischen Reiche achtungsverthe Gelehrte, wleAlcuin, Rhabanus MauruS, Walafried Strabo, Hinemar von Rheims Joh. Eeotus Erigena u. a. Der Zustand derWissenschaft war freylich sehr ärmlich. Die sogenannte« sieben freyen Künste bildete« einen engen wenig fruchtbaren Kreis deS Unterrichts, und die Theologie hatte kn den Werken eines Jsidorus, CassiodoruS u. a. ihre dürftige« Muster und Quellen. Indessen wurde doch schon wieder eine Art von Dialektik auf die Theologie angewandt, und Joh. Scotus Erigena ging im Eelbstdenken so wett, daß er die wahre Theo­ logie und die wahre Philosophie als eins betrachtete. Auch die von ihm besorgte Ueberfetzung der Ethik deS Aristoteles und der mystischen Schriften deS falschen Dionysius Aeropagita brachte dem Zeitalter eine heilsame Anregung. Wäre man auf dieser Bahn fort­ geschritten, so hatte die Darbarey viel eher «eich«»

28

Geschichte dec christlichen Sittenlehre,

müssen. Aber im zehnten Jahrhundert verfielen die von Karl dem Großen gestifteten Schulen fast ganz, und eine neue Finsterniß brach rin. Doch begünstigten wieder einige Fürsten, besonders auch dieOttone« in Deutsch­ land die Wissenschaften, und mehrere Bischöfe, wie Bruno von Cöln, »ahmen fich ihrer eifrig an. Ger­ bert, nachheriger Pabst Sylvestern., sammelte bey den Arabern philosophische und mathematischurd) den kleinlichen lieblosen Geist, der es verursachte, und durch feine unseligen Folgen beklagenöwerthes Ereigniß. Dog­ matische Streitfragen setzten die Synoden dieser Zeit «eit weniger in Bewegung alS der Streit über die Bil­ der und andere kirchliche Angelegenheiten. Im neunten Jahrhundert wurde die Lehre des Augustinus im Mönche Gottschalk verdammt, ohue daß man doch dem An* sehen des hochgefeyerten Kirchenvaters zu nahe trete» wollte, zum Beweis, daß man die Streitfrage nicht ge­ nug ergründet hatte. Am meisten bezeichnet der dog­ matische Geist des Zeitalters die neu aufkommende Lehre von ber Transsubstantiatlon, welche zuerst von Pa­ sch asius Radbert klar ausgesprochen itnb am Ende dieses Zeitraum- gegen Beringars Widerspruch vom päbstlichen Stuhl in Schutz genommen wurde. Die widersinnige Vermischung der Metaphysik und Physik, die des SinncS spottende Verkörperung des nur im Ge­ fühl festzuhaltenden Glaubens an die Gegenwart des Leibes und Blutes Christi in der Behauptung, daß die Substanz des Brotes und Weines bey dem Bestehe» der äußeren Gestalt sich verändere, zeigt eine Verirrung des Verstandes und Gewalt des Aberglaubens, welche kaum zu begreifen ist. Einer solchen Verrücktheit deS Denkens war der Betrug ober die Leichtgläubigkeit wür­ dig, wodurch das wirkliche sichtbare Wunder der Drrtvanölung der Hostie in wirkliches Fleisch und Blut zu Stande kam. Der Letb Christi im Abendmahl, behauptete

3o

Geschichte -er christlichen Sirtenlehre.

Radbert, sey derselbe, den Marta geboren habe: bkeß fand noch den meisten Widerspruch, wiewohl es nicht widersinniger als daS andere war. In demselben Geiste führte dieser Dogmatiker den Beweis, daß Maria mit verschlossenem Leibe geboren habe, und der gesunde Ver­ stand konnte sich noch viel Glück wünschen «egen deS Widerspruchs, den Ratramnus gegen die Meinung erhob, Jesus sey auf außerordentlichem Wege, nicht durch die vagina, aus dem Leibe der Maria hrrvorge, -angen. Dahin war der Glaube an die wunderbare heilige Empfängniß Christi gediehen, daß man phystcalische Grübeleyen über dasjenige anstellte, waS eine sitt­ liche Bedeutung haben sollte. So wie man von dieser Seite de» Glauben ins Fleisch herabzog, so verwandelte man ihn auf der andern Seite in metaphysische Träu­ merey, wie dieses durch die Lehre vom Fegfeuer ge­ schah. Aus der platonischen, von Clemens und Orlgenes angenommenen Idee einer Läuterung der Seelen nach dem Tode entspann sich jener grobe irdische Be­ griff, welcher durch das Ansehen Gregors des Gr. die Sanction als Kirchenlehre erhielt. Ueber einen solchen Mittelzustand der Seelen nach dem Tode hat die Schrift nichts geoffenbart, und die Vernunft kann nichts dar, über entscheiden, höchstens Vermuthungen aufstellen. Indem sich nun die Kirche dafür entschied, trat sie aus den Schranken der Wahrheit in das Gebiet des Wahns, wovon die Folge war, daß sie auch ihre Wirksamkeit und Herrschaft über die Grenzen dieses Lebens in die jenseitige Welt ausbehnter denn die Lehre vom Fegfeurr schloß sich an daS Unwesen des Ablasses an, und gab de» Vorwand her, daß sich dessen Wirkung über de» Tod hin, aus erstrecke.

Erster Zeitraum.

Pabstthum.

31

Zweytes Capitel.

Kirchliche Sittenlehre. I. Allgemeine Uebersicht; Grundsätze und Quellen. §.

»77*

Man würde diesem Zeitalter Unrecht thun, wen» man behaupten wollte, eS habe die Sittenlehre vernach­ lässigt. Vielmehr zeigt sich fast mehr Aufmerksamkeit auf dieselbe, als in früheren Zeiten; und wenn man zu­ mal die Anweisungen zur Kirchenzucht und zu den Ver­ richtungen des geistlichen Standes mit zählen will, so finden sich verhältnißmäßig mehr der Sittenlehre beson­ ders gewidmete Schriften als vorher. Von Gregor d. Gr. haben wir eine weitläufige moralische Aus­ legung desBuchS Hiob a) und einrnHlrtenfpiegel (regula pastoralis) b); auch enthalten feine Ausle­ gungen des i. B. SamueliS des Hohenliedes u. a. sehr viel moralische Betrachtungen. Jstdorus von Sevilla (|t.636.) nahm in seinen Sentenzen c) und in dem Buch de differentiis spiritualibus d) vorzüglich auf die Sittenlehre Rücksicht, und seine Synonyma oder eoliloquia e) sind ganz moralischen Inhalts. Aldhelm, ein angelsächsischer Schriftsteller (st. 709.) schrieb in Ver­ sen de laude virginum und de octo principalibus vi-

a) b) e) d) e)

Opp. Opp. Opp. Opp. Opp.

cd. Benedict. T. I. T. II. p. 1 —102. ed. du Breul p. 617— 692, p. 291—504. p. 305—322,

gj2

fStscsjicfte -er christlichen Sittenlehre.

tüss).

Sfeba -er Ehrwürdige (st.755.) stellte un­

ter -em Namen scintillae patruin Aussprüche des A» und N. T. und der Vater über die wichtigsten Capitel

-er Sittenlehre zusammen g); auch enthalten seine Aus­

legungen viele-, was in die Sittenlehre einschlägt h). Der berühmte Alcukn (st. 804.) schrieb ein Buch von

den Tugenden und Lastern i) und seine Abhandlung

de animae ratione k) enthielt eine treffliche Grundlage, der Skttenlehre.

Der Abt Smaragdus (st. 820.)

schrieb eine KönigSmoral (via regia) 1) und eine Mönchs­ moral (diadema monachorum) m).

Der Bischof H a-

litger von Cambray (st. 8;i.) hat fünfBücher de poe-

nitentia hinterlassen, worin er einen Abriß der ganzen Sittenlehre gegeben hat n).

Jonas, Bischof von Or­

leans, schrieb um daS I. 828. drey Bücher de Institution*

laicali und ein Buch de institulione regia o).

Rhaba­

nus Maurus um die Mitte des 9. Jahrhunderts schrieb de f) Tlies. Monum. Eccles, ed. Bai nage. T. I. p. 709. sqq. g) Opp. T. VII. p. 370 sqq, h) Ein anderes moralisches Merkchen, de substantiis (T. IT. p. 200. sqq.) genannt, ist nicht von Beda, sondern von ei­ nem Schriftsteller des n. Jahrhunderts. Selbst die scintillae sind zweifelhaft. S. Oudin de script. EccL antiq. T. i. p. 1683. Stäudlin Gesch. der Sittenl. Jesu. Z. B. S. ryZ. Das Pönitenzbuch unter dem Titel de remedüs pec. catorum (T. VIII. p. 961 sqq.) gehört vielleicht dem Erz­ bischof von Aork Egbert an. i) Opp. ed. Fr o b en. T. II. p. lag. sqq. k) Opp. T. II. p. 146 sqq. l) In Dacherii spicil. T. I. p. 258 sqq. ed. 1725. m) Ed. Paris 1532. 4. (ist mir nicht zu Gesicht gekommen).' n) T lies. Mon. Eccl. ed. Bas nage. T. II. P. II. p, 88» sq< o) Dacherii spicil. T. II. p, 258 sqq. ed, 17-3,

de vitiis et virtutibue p), de poenitentia q)' de Institut, clericorum r), und fdfl Mystisches Buch de laudibus s. crucis s) enthält auch einiges, was zur Sittenlehre

gehört. Ratherkus schrieb in seiner Gefangenschaft ein großes moralisches Werk meditationes cordis, ent­ haltend Anweisungen zutn Verhalten für jeden Stand, jedes Alter und Geschlecht der Menschen t). Der Bi­ schof Peter Damtani hat in den meisten feiner klei­ ner» Schriften sittliche Gegenstände, besonders aus dem Mönchsleben abgehandelt. Pönitenzbücher finden sich aus diesem Zeitalter mehrere. Eins der berühmtesten ist von Lheodorus Erzbischof von Canterbury (st. 690.) u). Einige andere hat Basnage aufbewahrt x); auch gehört gewissermaßen hieherReginus, Abts von Prüm, Buch de diaciplina ecclesiastica y),

Auch in der Griechischen Kirche fehlt es nicht an Schriften über die Sittenlehre. Der heil- MaximuS (st. 662.), mit dem Beynamen der Bekenner, hat in seinen H auptfätzen (2ty«A« 5'7-, $• 42- P- 5'9-

Fg

Geschichte der christlichen Sittenlehre.

Uebernatärlichen vorgehalten wird g). Auch Johan, »es von Damaskus vertieft sich mehr in das nie, tapßysifche Verhältniß der beyden Naturen in Christo, als daß er die sittliche Bedeutung des Gottmenschen enthüllte. Indeß verräth er doch sehr richtige Begriffe von der sittlichen Würde des Menschen und »em Werthe der Vernunft. *1 Er fetzt in dle Vernunft und Freyheit das göttliche Ebenbild h). Er schreibt der Vernunft die Herrschaft über den Menschen und die keidenschaf, len desselben, welche er unter Zorn und Begierde zufam, menfaßt, zu 1), und setzt die Tugend nicht darin, baß der Natur etwas fremdes aufgedrunge«, sondern die ihr fremden Laster auSgerottet werden k). Dle Vernunft als Princip der Glttenlehre scheint Gregor nicht anzuerkennen. Er gefällt sich im Gegen, fatz der menschlichen und göttlichen Weisheit oder Wis­ senschaft I), und stellt jene immer als eine fleischliche und aufgeblähete dar, die man aufgeben müsse, um diese zu erlangen m), welche durchaus als übernatürlich und nur durch göttliche Einflößung mlttheilbar betrachtet wird n). Die menschliche Wissenschaft wird nur alS eine l. »3- P- 613. De Ede orthod, L. II. c. ig, p. 177. Id. p. igo. Lib. IIL c. 14. p. 229 »q. Er versteht unter sapientia die praetksche, unter scientla die theoretische Weisheit. In Ezech. LJI. Hom. VI. T.I. p.1564. xn) Moral, in Job. L. XXVII, 79. T. I. p. 890. Vrgl. Daxnian. de sancta simplic. c. 6. T. III. p. 31g« c. g. p. 3ig, De Vera foelic. ac sap. c. 5. p. 3g4» Er hält daß Studium der Grammatik für Mönche für eine Art von Hurerey, de perfect. Monach. c. 11. p. i3o,. p) IU XXX, 10. p. g6o,

g) h) i) k) l)

Pabstthum.

Erster Zeitraum.

39

gute Vorbereitung zur g-istlichen Weisheit zugelassen o). ES ist verwerflich, die göttlichen Geheimnisse erforschen zu wollen, und der Vernunft zu viel einzuräumen p). Diese schätzt er nur als Kraft der innern Selbstbeherr­ schung q) oder als Gewissen r). Die vollkommene Wifsenschaft besteht nach seiner Anficht darln, Alles zu wis­ sen und doch in einer gewissen Rücksicht zu wissen, daß man nichts weiß s). Demuth ist die Wächterin der Weisheit t), und die demüthige Weisheit ist allein die ächte Weisheit u). Wenn er aber nur die wahre De­ muth vor Gott und Christo gemeint hätte.' Allein nur zu leicht verwechselt er damit die Demuth vor den Menschen. Die Demuth bringt Gehorsam mit fich, und diase ist die erste Pflicht des Christen, für welche mithin der Autoritätsglaube die Quelle der Weisheit ist. Alles, selbst göttliche Anregungen und Offenbarungen, find dem Urtheil der Vorgesetzten zu unterwerfen, wie es Samuel gegen Eli that v). Wahrer Gehorsam über­ legt und urtheilt nicht. Denn es gilt ihm allein für gut dem Lehrer zu gehorchen»). Ma« soll die Lehren der Kirche nicht beurtheilen, sondern gehorsam anneh­ men y), und ihre Obern nicht zu tadeln geneigt seyn z). o) In I. Reg. L. 11. c. 3. §. 3o. T. 111. P. 11. p. 295. p) Mor. in Job. XVI, 81. T. I. p. 5z2. Damian. L c. C. 1. p. 3i6. hält die Wißbegierde für die Quelle aller Sünde. q) Mor. I, 42. p. 3l. r) Ib. XXXV11, 48. p. 875. s) Ib. XVII, 62. p. 882. t) In Erang. L. I. Hom. V1L T. I. p. 145g. u) In Cant. 1, 16. T. III. P. 11. p. 4oß. v) In i Reg. L. 11, 4, 16. T. 111. P. 11. p. io3. ») Ib. II, 4, 11. p. 100. Vrgl. II, 4, 15. L, IV, 5. 40. y) Mor. XX, 2. p. 63^. r) In I Reg« II. 4, 22. x. 107.

4o

Geschichte der christlichen Sittenlehre.

Wer dem Hirten nicht gehorcht, der gehorcht Gott nicht a). Gut ist nur baS, was nicht dem Gewissen der Vorgesetzten widerspricht, und «a- die Unterthanen frey, willig thun, ist demjenigen nachzusetzen, was ihnen jene befehlend). Nur den Vollkommenen ist Freyheit deS LebenS und der Gebrauch ihrer Willkähr zu gestatlen c). Die Vollkommenheit besteht im beschauliche« Leben, welches die Bestimmung deS CleruS ist, so wie das thätige Leben die der übrigen Christen d). Die Hirten oder Prediger sollen auf der Höhe der Be­ schauung stehen, um sich da mit geistlichen Gätern za bereichern; von denen sollen sie auf die liefere Stufe deS Lehramt- niebersteigrn, und die Vollkommgern unter den übrigen Christen kommen ihnen nur dann nahe, wenn sie in der Lehrthätigkeit, nicht, wenn sie in der Beschau­ ung begriffen sind e). Das vollkommne Leben der Gläu­ bigen ist der Erhabenheit der Prediger nicht zu verglei­ chenf). Es gibt drey Ordnungen der Gläubigen: dle der Beweibten, die der Enthaltsamen und die der Hir­ ten, welche also noch höher stehen als dle so hoch ge­ stellten Enthaltsamen g). Die Prediger find da- Auge der Braut Christi, das Volk die Haare h). Sie find Mittler zwischen Gott und Menschen i). So lst also

a) Ib. VI, 2, 7. p. 35s. b) Ib. §. 22. p. 36o. c) Ib. HI, 4, 12. p. 151. d) Ib. V, 4, 67. p. 334. e) Ib. V, 4, ZL. p. 209. z. 35. p.'rr». f) Ib. V, 3, 27. p. 293. g) Mor. in Job» I, 2ö. p. 2). t) In Cant. IV, 2. p. 427* i) In I. Reg. IV, 5, 2. x.

Pabstthum.

Erster Zeitraum.

41

selbst in die Skttenlehre der hierarchische Geist ekngedrun, gen, und macht auch da den Unterschied zwischen CleruS und Laien geltend. Groß sind zwar die Anforderungen welche Gregor an die Geistlichen macht k), und in der Voraussetzung der Erfüllung dieser Anforderungen räumt er ihnen keinen zu hohen Rang ein; allein auch gegen unwürdige allzustrenge Prälaten verlangt er Unterwerfnng l). Was hilft eS auch, daß er von den Priester» Demuth fordert m): die Verführung zum geistliche» Hochmuth war bey dem herrschenden Castrngelst zu stark. Nach dieser Ansicht war das selbstständige Denken über die sittliche und religiöse Wahrheit allein den Priester» Vorbehalten. Jedoch selbst für diese, auf ihrer Höhe der Beschauung, scheint Gregor weniger wissenschaftliches Nachdenken, als eine Art höherer Einwirkung gefordert zu haben. Er selbst denkt an nichts weniger als an wissenschaftliche Begründung der Sittenlehre, und was er davon vorbringt, entwickelt er durch die willkührlichste Art der allegorischen Schrlftauslegung, indem er sich in häufigen Wiederholungen herumdreht. §.

280.

Jsldorus scheint diesem hierarchischen Geiste we, Niger zu huldigen, da er die Hoheit des Clerus nicht so heraussetzt; und wenn er auch behauptet, daß die Obern der Kirche ;t>»n niemand als von Gott zu beur­ theilen seyen, so gibt er doch wenigstens zu, daß sie, im k) Vrgl. Reg. paat. besondere P.i. c. lo.ir. f. 11. p. 10 a) hat er ein ähnliche») Herautgeg. v. 3ih öM. G S t« Öxf. i6gt. fot. S. eüietz Autzs- Lav»n i# Schrickha St. ). Eine andere hieß Pisana ober Pisanella, deren Verfas­ ser Bartholomäus a S. Concordia aus Pisa um das Jahr 1338. «ar •)♦ Die Pacifica, geschrieben um daS Jahr 1470., hatte den Name« von Pacificus a) Summa de casibus poenitentiae. IVLL. ed. Mon. Vine. Läget. Lugd. 17x9. fol. b) Summa de casibus conscientiae. Norimb. Venet. i5ig und öfter. c) Paris. 1470. Venet. 1476. Medio). l4y4. Lugd. 1619.

i8o

Geschichte der christlichen Sittenlehre,

Rosella von einem Genueser Trvu« Angelica von Angelus bc Clana»

aus Novara d), die

amala e),

die

fto, einem Genueser (f 1495.) f) letztere nebst der Asta«

sana die berühmteste.

Auch Sylvester Prierias,

Luthers heftiger Gegner,

schrieb eine summa casuum

conscientiae g)t

§♦

Zio.

Auch die mystischen Theologen waren nicht unfrucht­

bar an sittlichen Schriften, ja bei ihnen hatte fast alles

eine sittliche Richtung.

Dom heil. Bernhard (t 11534)

haben wir außer Predigten, Briefen und andern in die Sittenlehre

einschlagenden

Werken

mehrere

sittliche

de conversione, de gratia et libero arbitrio, de diligendo Deo, de gradibus humilitatis etsuperbiaeu.788 — 1815.

5

Protestantismus.

Dritter Zeitraum.

351

Einzelnen aus der Erfahrung oder dem Gefühl geschöpft und gleichsam eingefchwärzt. Nach den drey Hauplvermögrn unsers Wesens, Vernunft, Gefühl und BegehrungSvermögen, soll es einen dreyfachen Werth der Vollkommenheit gebe«, einen absoluten, einen phy­ sischen und einen kosmischen. Der physische Werth wird durch den Einfluß auf das Gefühlsvrrmögen oder das Vergnügen und die Zufriedenheit bestimmt; kosmischen Werth hat dasjenige, was die allgemeine Vollkommenheit vermehrt oder gemeinnützig ist. Diese Eintheilung ist ganz schielend, indem dabey daS Mo­ ment der Zurechnung mit in die sittliche Gesetzgebung gezogen ist, und die Rücksicht auf die Folgen der Hand­ lungen fälschlich alS ein Maßstab ihres Werthes ange­ nommen wird. Aber was das schlimmste ist, einen Ge­ halt für chie Idee der Vollkommenheit bekommen wir dadurch «och immer nicht. Den höchsten ober abso­ lute« Werth der Vollkommenheit oder das sittlich Gute findet der Verf. in dem Ewporftreben zur höch­ sten Tauglichkeit, sobald es in Beziehung auf die Ver­ nunft betrachtet wird, wett es dieser wesentlich ist, das Höchste und Unbedingte zu suchen. Was darum ver­ langt und gethan wird, weil man den absoluten Werth der Vollkommenheit dabey vor Augen hat, ist sittlich gut oder recht; oder, mit andern Worten: das Ver, nünftige, daß der in der Vernunft gefaßten Idee der Vollkommenheit entsprechende ist sittlich gut. Dies« Idee ist aber als die Vorstellung, daß die Tauglichkeit zu unser« Zwecke« etwas fodere und dadurch gewinne, bestimmt, folglich unbestimmt gelassen; denn von die, ft« Zwecken ist immer nur vorauSfetzend die Rede. Diese Zwecke können allein in de« menschliche« Triebe«

352

Geschichte der christlichen Sittenlehre,

liegen, welche das der Natur und Bestimmung deS Menschen Entsprechende suchen. Von diesen Triebe» spricht auch Reinhard; aber anstatt ihnen ihre Ge­ setze abzulauschen, und aus ihren Forderungen den Be­ griff der Vollkommenheit zu erbauen, findet er dm Grund der Uebereinstimmung eines Dinge- mit den Trieben darin, daß es die Vollkommenheit des Ge­ schöpfs vermehre, fährt uns also im Zirkel herum. Nachher handelt er ausführlich von dem Triebe der Vollkommenheit, in welchem sich alle Triebe vereinigen, und theilt ihn in den eigennützigen, wohlwollen­ den und uneigennützigen nach dem angenommenen dreyfachen Werth der Vollkommenheit. Der uneigen­ nützige Trieb ist derjenige, welcher die Dinge um ihrer selbst willen und ohne alle Rücksicht auf den Vortheil, den sie uns oder andern bringen können, will; der absolute Werth der Dinge aber ist ihre Vernunftmä­ ßigkeit, und diese besteht in der Freyheit von allem Widerspruche, in her völligen Zusammensiimmung mit allem, waö wir wissen. Dieser Widerspruch soll theils ein idealer zwischen Vorstellungen, theils ein realer zwischen Dingen seyn (dieser Unterschied ist jedoch er­ schlichen, denn für t>ie Vernunft alS Denkkraft gibt eS nur einen idealen Widerspruch), und so gewinnt der Werf, die Idee der Rechtmäßigkeit ober des Rechts: was Dinge nicht in Widerspruch mit einander bringt, ist recht, und indem diese Dinge unvermerkt in ver­ nünftige Wesen verwandelt werden, entsteht der Be­ griff der menschlichen Gerechtigkeit» DleS kann hinreichen, die Gehaltlosigkeit dieses CystemS ins Licht zu stellen. Schlimmer kann sich baS Spiel mit Begriffen ohne eigentliches Denken nicht bestca-

Protestantismus.

Dritter Zeitraum»

555

straft« als In diesem Werke, welche« übrigen-, geist­ los wie es ist, aller christliche Geist abgeht» Dee Glaube und die Liebe werde« »«gescheut jenem leeren Begriff der Vollkommenheit untergeordnet, und von Christo alS dem Ideal der Sittlichkeit ist kaum dl« Rede. So wie es an einer feste» Idee des sittlich Gu­ ten fehlt, so wird dieses auch nicht gehörig vom An­ genehmen und Nützliche« geschieden, und al- Merkmal desselben angegeben, daß es Mirich auch angenehm und nützlich sey, ja rö wird jugrgebe«, daß man bey jeder Handlung auch auf da- Angenehme und Nützlich« sehen büofe» K» 4t t.

Indem sonach die Gittenlehrr dem Emplrlsmug Preis gegeben wak, tthb meisten- alS GlürkftligkeitSund Nutzlichkektslehre behandelt wurde, trat Kant mit einer sittliche» Spekulation auf, welche die Selb­ ständigkeit der menschliche« Vernunft, wie vorher nk« geschehe« war, geltend machte, und die bisher unge­ löst gebliebene Aufgabe, das Naturgesetz aufjuzelgen» ju löse» versprach» Der Mittelpunkt feiner Lehre ist brr sogenannte kategorische Imperativ, oder die Idee eine- ursprünglichen, bet Vernunft rlnwohnendei» Sittrngesetzes, welchem die Vernunft rei« UM sei« selbst wllleü gehorcht» Allerdings war dieser erhaben« Gedanke der reine» Ächtung vor dem Gesetz nicht W «ine stärkende Ärjney für das erschlaffte Zeitalter» son» Ser» auch et» reiner Gewinn für die Wissenschaft, West damit ei» oberstes Princip der Sttttdlehre ergriffe» Wat. Aber die Entdeckung war noch «ich! vollständig gemacht, Und darum die ganje Lehre einseitig» Der kategorische Imperativ ist M blotz formales Princip * Lhl« ?. fätfti, 8

Seschichke der christlichen Sittenlehre.

354

und daher ganz gehalllos.

Er lautet so:

daß du zugleich wollen kannst,

„Handle so,

dein« Maxime soll ein

allgemeines Gesetz für alle vernünftige Wesen seyn." Sieht ««an von dem Zusatz „vernünftige Wesen" ab,

so liegt in dieser Formel nichts, als die Idee der all, gemeinen Gesetzmäßigkeit.

Gehalt kommt nur dadurch

hinein, daß rS eine allgemeine Gesetzgebung für »er, nüaftige Wesen seyn soll,

womit zugleich angedeutet

ist, daß es dem Menschen daran liegt, mit den Men­

schen In Einklang

zu bleiben,

daß er die Menschen

Diese Liebe, worin zugleich der Antrieb liegt,

liebt.

dem Gesetze zu gehorchen, gibt diesem den Gehalt, ja

t»S Gesetz entspringt selbst auS ihr;

der Verstand alS

das Vermögen des mittelbaren Bewußtseyns faßt eS ia die Einheit eineS allgemeinen Begriffs, dem ohne bas

unmittelbare Gefühl des HerzenS aller Gehalt fehlen

würde.'

Indem Kant dieses Gesetz bloß verständig und

mittelbar faßte,

bloße

ließ er es zugleich unerklärt, wie «ine

Erkenntniß zur That antreiben könne.

Er war

allerdings weiter vorgeschritten als die früheren Sitten­

lehrer, welche das Sittengesetz als das Gebot, gut zu handeln ober nach Vollkommenheit zu streben, beschrieb den, und damit nur «ine leere Stelle bezeichneten; ober

er täuschte auch halb und halb,

Indem er gleichsam

nur die äußern Umrisse dieses Gesetzes, neres

Wesen angab.

Die ander«

nicht sein in­

kantische Formel;

„Handle so, daß du die vernünftige Natur überhaupt sowohl tu deiner Person als in der Person eines jeden

Andern jrbwzelt als Zweck, niemals bloß als Wittel betrachtest" ist allerdings gehaltvoll,

wiewohl sie Kant

selbst für bloß formal hielt, wie er denn überhaupt nur

formal« Prtnilplen der Sfttenlrhre wollte.

Er leitete

Protestantismus.

Dritter Zeitraum.

555

auch bk in dieser Formel .enthaltene Idee Les absolutes Zwecks fälschlich aus -der .obigen der Allgemeinen Gesetz­

mäßigkeit ab, ba er sie Hätt« aus Hem sittlichen Ge­ fühl Ableiten sollen. Dieser Fehler Kants, die Stttenlehre -bloß von Sex

verständigen Seite zu fassen, Hatte zwey höchst uachtheilige Folgen.

Emma! war die Religion auS dem inner­

sten Gebiet derselben verbannt.

Das religiöse Gefühl

war «richt als dke Quelle der Sittlichkeit, sondern bloß alS ein Verstarkungsmittel derselben avgefchen, und so

verbreitete sich über das sittliche Leben nach Kants An­ sicht Line .kalte Verständigkeit und Regelmäßigkeit, bey

welcher nichts Großes und Herrliches gedeihen konnte»

Ole Sittenlehre übte auf die Gemüther einen ähnlich«« Einfluß, wie ein positives Gefez, sie unterdrückte oder

lähmte den Glauben oder daS unmittelbare Gefühl»

Zweytens, machte diese Lehre unempfänglich für dke Ge­

schichte und dke darin erscheinenden Entwickelungen des sittlichen Geistes»

Wenn man das Gebiet der Sittlich­

keit glaubt völlig ausgemessen zu Haben, so erscheint die

Geschichte alS überflüssig.

In der Geschichte wird das

Menschengeschlecht erjagen; diese Bedeutung derselbe« muß eine Lehre verkennen, welche mit dem reinen Gebansen daS Thatvermägen zu beherrstlM meint.

Die

Idee der Gemeinschaft war In diesem

ver­

System

gessen nebst allen Heu Vermittelungen, welche das sitt­

liche Leben bedarf. H.

412.

Hiernach war diese Philosophie «ichtS weniger als

dazu geeignet, daS Werkzeug eines Systems der christ, lichen Sitttnlehre zu werden.

Diese lebt im Gefühl,

well sie von Glaube« ausgrht; aber der Kantianlömus 3»

356

Geschichte der christlichen Sitteulehre.

verkannte da- Gefühl. Der christliche Glaube hat zu« Gegenstand den lm Fleisch erschienenen göttlichen Logos, Christus; die christliche Liebe stärkt sich durch die Ge, weinschaft derer, die an ihn glauben; aber der Kantia«lSmus war für geschichtliche Ansichten unempfänglich. De» Kantianern konnte Christus nur als ein weiser Sit, tenlehrer erscheinen, dessen kehre sie noch dazu, da sie nicht schulgerecht war, für unvollkommen erkennen muß, len. Die Gemeinschaft in Christo, oder, wie sie solch« nur äußerlich faßten, die kirchliche Anstalt war ihnen ein bloßes Vehikel der Sittlichkeit, nicht der lebendige Organismus derselben. Wir haben die Aufgabe der theologischen Eittealehre kn die Vereinbarung der Ver­ nunft und Offenbarung gefetzt; aber für die Kantianer ging die Idee der Offenbarung verloren. Weil sie daS unmittelbare Gefühl im Menschen verkannten und alles mit dem Verstände erfassen zu können meinten, so täuschte sie das Trugbild einer erträumten Selbstän­ digkeit der Vernunft; der Verstand überhob sich seiner Weisheit, vergaß, daß er diese nur auS der höheren Quelle einer innern Offenbarung geschöpft hatte, daß er selbst ohne die äußere Offenbarung im Christenthum Nicht zu diesem Grad der Erkenntniß gelangt seyn würbe. So ward die Offenbarung nur alS eine äußere Stütze für die noch rohe und träge Menschheit angesehen, die man wegwerfe» könne, so bald man zum selbständigen Denken gelaugt sey..

Demungeachtet riß die Kantlsche Philosophie sehr bald eine fast unumschränkte Herrschaft über die Theolo­ gie an sich, und di« christliche Sitteulehre ging fast ganz n die philosophische übte« Die Werke von Joh,

ProtestcmtismuS.

Dritter Zeitraum.

557

Wklh. Sch mi d -), Carl Friedrich Etäudlind), Christoph Friede. Ammon c), Sam. Gottl. Sange d), P. Joachim Elegm. Vogel«) habe» fast alle denselben Kantifchen Zuschnitt, und behaupten den Charakter theologischer Gittenlehren nur dadurch, daß sie die Ergebnisse Kantischer Speculatlon durch Der, gletchuag derselben mit Bibel-Aussprüchen bestätigten. $♦ 4B. Zum Beweise, baß die Anwendung der Kantlsche» Philosophie auf die theologische Sittenlehre mißlinge» mußte, führen wirkte Grundgedanken der Skttenlehre von I. W. Schmid an. Das Verhältniß der Theologie zur Moral wird so bestimmt, daß diese auf ihrem eigenen Grunde erbaut und zur Grundlage der Religion und Theologie gemacht werden mässe; da nun aber die Moral als bloße Ver­ standessache gefaßt ist, so ist auch die Religion nichts weiter, als ein Produkt des menschlichen Verstandes. Die religiöse Moral zeichnet fich nach Schmid von der philosophischen dadurch aus, daß jene Gott auch alS Beförderer unserer Glückseligkeit vorstellt, und dadurch die Hindernisse der Sittlichkeit wegräumt; sie fügt dem. .) Theologische Moral.

lich

bearbeitet.

1793.

1. B. 1797-

Christliche Moral wissenschaft­ s. 3. B. von Krause fort­

gesetzt 1800. 1804.

b) Grundrisse der Lugend

Grundsätze der Moral.

und RcligionSlehre

1. 2H. 1798.

1800.

e) Christlich« Sittenlehre nach einem wtssenschaftllchen Grundriß.

1795.

3. Ausl. 1798.

«I) System der theologischen Moral.

1803.

«) Sehrbuch der christlichen Moral j,u akademischen Ecrkfunges.

1803.

zzs

Geschichte 6er christlichete Stttenkehre.

Scich> zur SKtllchkelt 6ie' Hoffnung auf Glückseligkeit, wodurch die Lohnsucht, die aus der Sittenlehre verbanne fff, mittels? Sek Religion wieder eingeführt wird. Das Ei, genthümliche der geoffenbarten Sittenlehre setzt Schmid ftt die Art der Bekanntmachung, indem sie die fittlichea Gesetze al- solche an kündige, die von Gotk komme« und den Mensche« durch gewisse Mittelspersonen bekannt gemacht werden, dabey jedoch der Vernunft vollkommen angemessen seyen. Diese Bekanntmachung wird aber nur als eine Art Einkleidung, nicht als eigene Quelle angesehen« Von der christliche« Moral wird gerühmt, kaff fle zwar mit der Religio« auf da- genaueste ver­ banden, aber nicht daraus gebaut sey, woraus klar, ist, baß man den Verstand über de« Glauben fetzt. De« der christliche« Sittenlehre beygelegten Vorzug, daß sie eine göttliche Kraft zur Ausübung ihrer Dorschristen darreiche, sprich« ihr dieser Theolog ab, weil jene Kraft entweder auf eine unmittelbare physische Weife oder moralisch durch die von Gott gelehrten Wahrheiten wirke, die erste aber der Vernunft widersprechend und die zweyte auch der natürliche« Moral gemein sey. Aster, dingS hak die christliche Sittenlehre selbst eine solche Kraft nicht, aber fle setzt fle voraus als durch die christ­ liche Gemeiaschaft bedingt. Hiernach kau« die christliche Moral nicht- als eine Vernunftkrilik der Sittenlehre Jesu and der Apostel sey«, nicht aber «in unabhängige- selbständige- System. Die Offenbarung wird bloß al- Beförderungsmittel, nicht a!S Quelle der Sittlichkeit angesehen. Der höchste Grundsatz der christliche« Sittenlehre wird im kategori­ sche« Imperativ gefunden, und somit alle Eigenthümlich­ keit derselbe« aufgezebrn- Im Gefühl kann «ach der

Protestantismus.

Dritter- Zeitraum.

359

Meinung de- Derf. das höchste Princip nicht liege»,

weil man Recht und Pflicht nicht fühlen, sondern nur

erkennen und beurtheilen könne, und weil da- Urtheil jederzeit vorausgebe und da- Gefühl erst durch dasselbe

hervorgebracht werbe.

Da- Gefühl de- Wohlgrfalken-

am Gesetz wirke zwar auf de» Wilken alS Triebfeder, fetze aber da- Gesetz schon voraus.

De» ursprüngliche»

sittlichen Trieb kennt also dieser, wie alle Kantische Elt«

tenlehrer, nicht, kann aber darum auch nicht «thaten,

woher die Antriebe zum sittlichen Handel» komme». De» Willen Gotte- will Schmid auch nicht al- Grundsatz

anerkenne», weit, wen» er durch Vernunft erkennbar sey,

ihm eia Veraunfkgruad vorausgehen müsse.

Das. Muster

Jesu verwirft er als Princip aus dem Grunde, weil man erst durch richtige moralische Kenntnisse in Stand

gesetzt werde, eS alS Muster gelten zu lassen, womit

offenbar der Glaube au Christum vom sittlichen Verstand abhängig gemacht wird; denn daß dieser Glaube eine»

ursprünglichen Glaube» vorauSfetzt, ist eine dem Verf.

fremde Idee.

Selbst die Liebe zu Gott wird als eine

Folge der Vorstellung vom Sittengefetz und von GotteHeiligkeit angesehen.

Die religiösen Triebfedern des

Christrnthum- werden auf die Kantische absolute Trieb­

feder, eine Wirkung der Vorstellung des Gesetze-, zurück­ geführt.

Durch die Vereinigung der Religio» und Sitte

lichkeit wird der Anspruch auf Glückseligkeit gerechtfer­

tigt, und somit wieder die Reinheit der Tugend aufge­ geben.

Die Pflichtenlehre dieses System- leidet an "dem Fehler, daß, weil bas Princip nur formal ist, der Ge­

halt derselben nicht au- der Spekulation, sonder» an­ der Erfahrung geschöpft und willkührlich ringefchobe»

36a

Geschichte dtp christlichen Sittenlehre«

Wirb«

EL wird angenommen, baß zu den Zweck«« dtp

Menschheit die Selbsterhaltung und Selbstvervollkomm-

nutrg, so wie die Beförderung fremder Glückseligkeit ge« höre« man sieht nicht ei», warum,

Sodann werden den

strengen Pflichte«, weiche anL dem kategorischen Impe«

rativ fließen, unvollkommene oder Halde Pflichten an »k Seite gesetzt, ein Fehler, der eben daher entspringt,

»aß Kant die Materie des Sittengesetzes nur in die Er-, fahrung, nicht l» dir Idee fetzt, und die Pflichte« nicht aut Einem Gusse entstehen läßt«

§.

414«

So gewaltig der Eindruck gewesen war, den die

Kantische Philosophie auf de« denkenderen Theil der Theologe» machte, so war er doch nicht von rechter Dauer«

Zwey der vorzüglichsten Kantischen Moraltheo-,

logen verließen bald das angenommene System.

Am»

mon näherte sich in zwey neuen Lehrbüchern a) wieder

»er älteren Anficht.

Im ersten vereinigte er die drey

sittlichen Bestrebungen, das Streben nach Glückseligkeit, Dollkommeuheit und Wahrheit, in Ein materiales, aber

zusammengesetztes Grundprincip: »Strebe nach höchster Vollkommenheit und Glückseligkeit unter der Leitung der Wahrheit", wobey er jedoch zugleich das formale Prin«