China - Das Reich der Mitte von den Anfängen bis heute. Politik, Wirtschaft & Gesellschaft: Tiefe Einblicke in den Vielvölkerstaat mit 3000-jähriger Geschichte. Ein reich bebildertes Sachbuch 3806241872, 9783806241877

Vielvölkerstaat mit 3000-jähriger Geschichte: von der Qin-Dynastie bis zur Volksrepublik China China mit seinen mehr al

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China - Das Reich der Mitte von den Anfängen bis heute. Politik, Wirtschaft & Gesellschaft: Tiefe Einblicke in den Vielvölkerstaat mit 3000-jähriger Geschichte. Ein reich bebildertes Sachbuch
 3806241872, 9783806241877

Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Reich der Vielfalt
Das alte China
Der lange Weg zum „Reich der Mitte“
Das erste Kaiserreich Qin und sein Erbe
Die neue Weltordnung
Das chinesische Mittelalter
Die Mär von den „Barbaren“
Religion
Zusammenhalt durch Rituale
Die Song-Dynastie
Schönheit des Scheiterns
Yuan-, Ming- und frühe Qing-Dynastie
Im Zeichen der „Pax Mongolica“
Europa entdeckt das Reich der Mitte
Von der Utopie zum Ideal
Alltagsleben in Peking
Die größte Stadt der Welt
Das 19. Jahrhundert
Rebellen, Rauschgift und Reformer
Das Ende des Kaiserreichs
Aufbruch in eine neue Epoche
Das moderne China
Schmerzvoller Weg bis ins 21. Jahrhundert
Chronologie
Literatur
Back Cover

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CHINA Das Reich der Mitte von den Anfängen bis heute

Zentrum kaiserlicher Macht: In der „Verbotenen Stadt“, einem für die einfache Bevölkerung unzugänglichen Areal im Norden Pekings, lebten der Herrscher, seine Mutter und seine Frauen.

Stefan Christ Thomas Fröhlich Barend ter Haar Maria Khayutina Frank Kraushaar Folker Reichert Armin Selbitschka Kai Vogelsang

CHINA Das Reich der Mitte von den Anfängen bis heute

Die mehrere tausend Kilometer lange Chinesische Mauer sollte aus dem Nordosten vordringende Reitervölker abhalten. Sie besteht aus mehreren Mauern, die zu unterschiedlichen Zeiten errichtet wurden. Ihre heutige Form erhielt sie im 16. Jahrhundert.

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit DAMALS — Das Magazin für Geschichte

Abbildungsnachweis akg-images: S. 2 (Erich Lessing), 8 (oben und unten: Pictures From History), 9 (Bildarchiv Steffens), 10 (British Library), 13 (Liszt Collection), 14 (Bildcollage, unten links: Erich Lessing; oben: WHA / World History Archive; unten rechts: WHA / World History Archive), 15, 16 (Liszt Collection), 18 (François Guénet), 19 (Roland and Sabrina Michaud), 21 (Bildarchiv Steffens), 23 (oben: Pictures From History), 24 (Science Source), 28 (Pictures From History), 33 (Pictures From History), 34 (Pictures From History), 35 (Pictures From History), 37 (Pictures From History), 38 (Werner Forman), 40 (van Ham / Saša Fuis, Köln), 45 (Suzanne Held), 46 (François Guénet), 50, 51 (Roland and Sabrina Michaud), 53 (Pictures From History), 54 (oben, Pictures From History), 57 (oben, Pictures From History), 63, 65 (oben), 67 (Heritage Images / Fine Art Images), 68 (Roland and Sabrina Michaud), 69 (oben und unten: Pictures From History), 70 (Science Source), 71 (Werner Forman), 72 (British Library), 73 (Pictures From History), 74, 75 (Heritage Images /  Heritage Art), 77 (Erich Lessing), 78 (oben: bilwissedition; unten: Tristan Lafranchis), 79, 80, 81, 83 (Science Photo Library), 87 (De Agostini Picture Library), 88 (Roland and Sabrina Michaud), 93 (Pictures From History), 97 (Pictures From History), 99 (oben), 101 (Pictures From History), 103 (WHA /  World History Archive), 104 (Pictures From History), 105, 106, 109 (Science Photo Library), 111, 112, 116, 117 (Pictures From History), 118 (Universal Images Group / Sovfoto), 119 (Pictures From History), 120 (IMAGNO / Votava), 121 (World History Archive), 122 (IMAGNO / Votava), 123 (AP) Archäologische Akademie der Provinz Shaanxi: S. 26 (unten). Mit freundlicher Genehmigung der Archäologischen Akademie der Provinz Shaanxi Bridgeman Images: S. 7, 12 (Special Chinese and Japanese Fund), 17 (Pictures from History), 30, 43 (© Philippe Toutain), 47 (Pic-

tures from History), 48 (Freer Gallery of Art, Smithsonian Institution / Gift of Eugene and Agnes E. Meyer), 49 (Pictures from History), 54 – 55 (unten: Werner Forman Archive), 56 (Pictures from History), 57 (unten: Pictures from History), 58 (De Agostini Picture Library), 60 (Special Chinese and Japanese Fund), 61 (De Agostini Picture Library), 64 (Pictures from History), 65 (unten, Pictures from History), 82 (Universal History Archive / UIG), 85 (Granger), 86, 89 (Pictures from History), 91, 94 (Look and Learn /  Illustrated Papers Collection), 96, 98 (Pictures from History), 99 (unten: Pictures from History), 100 (Pictures from History /  David Henley), 101, 107 (Pictures from History), 108 (Pictures from History), 113 (Pictures from History), 114 (Universal History Archive / UIG) British Museum Images: S. 23 (unten). © The Trustees of the British Museum. All rights reserved Bronzemuseum der Stadt Baoji: S. 22. Mit freundlicher Genehmigung des Bronzemuseums der Stadt Baoji Mauritius Images: S. 1 (John Warburton-Lee / Peter Adams), 24, 25 (Artokoloro / Alamy), 31 (CPA Media Pte Ltd / Alamy), 39 (CPA Media Pte Ltd / Alamy), 41, 42 (The Picture Art Collection / Alamy), 55 (oben, FLHC 16 / Alamy), 59 (The History Collection / Alamy), 90 (The Picture Art Collection / Alamy) Peter Palm, Berlin (Karten): S. 11, 66, 115 Ullstein Bild: S. 95 Wenwu Verlag: S. 29 Xi’an, Institut für die Erhaltung von Kulturgütern und Archäologie der Stadt Xi’an: S. 27 Xianyang, Institut für Kulturgüter und Archäologie der Stadt Xianyang: S. 26 (oben) Der Verlag hat sich bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen und zu kontaktieren. Berechtigte Ansprüche können beim Verlag angemeldet werden und werden nachträglich vergütet.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg

© 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Stefan Bergmann, Ralph Schmidberger Bildrecherche: Carsten Felker Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Seeheim Umschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt Umschlagabbildung: Chinesischer Mandarin, Foto, um 1890; © akg-images Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de 978-3-8062-4187-7

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Vorwort

Folker Reichert

Reich der Vielfalt

Europa entdeckt das Reich der Mitte

Von der Utopie zum Ideal

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Kai Vogelsang

Das alte China

Kai Vogelsang

Der lange Weg zum „Reich der Mitte“

Alltagsleben in Peking

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Die größte Stadt der Welt 85

Maria Khayutina

Das erste Kaiserreich Qin und sein Erbe

Stefan Christ

Die neue Weltordnung

Das 19. Jahrhundert

Rebellen, Rauschgift und Reformer

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Armin Selbitschka

Thomas Fröhlich

Das chinesische Mittelalter

Das Ende des Kaiserreichs

Die Mär von den „Barbaren“

Aufbruch in eine neue Epoche

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Barend ter Haar

Religion

Thomas Fröhlich

Zusammenhalt durch Rituale

Das moderne China

Schmerzvoller Weg bis ins 21. Jahrhundert

45 Frank Kraushaar

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Die Song-Dynastie

Schönheit des Scheiterns

Chronologie

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Barend ter Haar

Literatur

Yuan-, Ming- und frühe Qing-Dynastie

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Im Zeichen der „Pax Mongolica“ 63

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Reich der Vielfalt Die kommunistische Führung Chinas verfolgt eine historische Mission: die Volksrepublik zur neuen Supermacht zu formen – wirtschaftlich, militärisch, politisch. Teil dieses Projekts ist es, die eigene Kultur hervorzuheben. Und so lässt Peking die Geschichte Chinas umfassend aufarbeiten. Hunderte von kulturhistorischen Museen sind in den vergangenen Jahren eröffnet worden, damit sich die Bevölkerung der eigenen Vergangenheit, der Größe und Bedeutung Chinas bewusst wird. Wie immer der Tenor dieser dargebotenen Erzählungen ausfällt: Auch die westliche Welt, in Partnerschaft und Konkurrenz zunehmend eng mit China verflochten, hat guten Grund, ihr tradiertes Bild des Riesenreichs zu überprüfen – will sie denn Motive und Handeln des Gegenübers verstehen. Dazu soll dieser Band beitragen. Namhafte Expertinnen und Experten widmen sich in elf Kapiteln der Geschichte Chinas. Diese rücken manches Klischee zurecht, zum Beispiel die Annahme, China habe über Jahrtausende als politisch, kulturell und ethnisch homogenes „Reich der Mitte“ bestanden. Zudem werden die großen religiösen und geistigen Linien sowie die politischen und sozialen Mechanismen herausgearbeitet, die den Vielvölkerstaat prägen. Der Blick richtet sich auch auf die Geschichte der Begegnungen zwischen Europäern und den Ethnien Chinas. Das sind die Themen im Einzelnen: Wie entstand über regionale Herrschaften hinaus in der Nordchinesischen Ebene ein Bewusstsein für gesellschaftliches Miteinander, und ab wann kann man von einem „Reich“ sprechen? Was zeichnete die erste Kaiserdynastie aus, welche langfristigen Strukturen schuf sie? Ein weiterer Text schildert das chinesische Mittelalter (2. bis 10. Jahrhundert) – eine Ära politischer Zersplitterung, aber auch der kulturellen und sozialen Vielfalt, was letztlich das Zusammenwachsen beförderte. Dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, von der Familie bis zur Ebene des Reichs, dienten besonders die religiösen Rituale, wie wir zeigen. Bestimmend als weltanschauliche Strömungen wurden Daoismus und Buddhismus. Während der Herrschaft der Song (10. bis 13. Jahrhundert) trat der Typus des Literaten-Beamten in den Vordergrund: hochgebildete Bürokraten, welche ih-

re von Wirtschaftskrisen und Niederlagen dominierte Zeit mit reicher literarischer und philosophischer Produktion begleiteten. In mehreren Wellen unterwarfen seit 1218 Dschingis Khans Reiterheere China, den Süden eroberte sein Enkel Kublai Khan, der auch die neue Yuan-Dynastie gründete. Unter der „Pax Mongolica“ sowie den folgenden Dynastien der Ming und Qing nahm die Bevölkerung zu, die Wirtschaft entwickelte sich. Den frühen Kontakten und dem zunehmend neugierigen europäischen Blick auf „Cathay“, wie Marco Polo das fremde Reich nannte, widmet sich ein eigener Text. Im 17. und 18. Jahrhundert erschien dieses zeitweise geradezu als idealer Staat. Ein Artikel berichtet vom Alltagsleben in Peking, das seit 1420 Sitz des Kaisers und für rund 400 Jahre die größte Stadt der Welt war. Rapides Bevölkerungswachstum, sinkende Ernteerträge, wuchernde Bürokratie, hohe Arbeitslosigkeit, ein furchtbarer Bürgerkrieg und die brutalen Militärschläge der Europäer – Stichwort Opiumkriege – drückten dem 19. Jahrhundert den Stempel auf. 1912 dankte der letzte Kaiser ab. Vorausgegangen waren, wie ein Artikel darstellt, ein Wechselbad der Reformen von oben sowie militärische Demütigungen im Krieg gegen Japan und gegen eine Koalition aus Europäern, den USA und Japan, die den Aufstand der „Boxer“ niederschlug. Jahrzehnte des Ringens um eine stabile Republik folgten. Den Bürgerkrieg zwischen Nationalpartei und Kommunisten, unterbrochen vom gemeinsamen Kampf gegen Japan, entschieden Letztere für sich. Mao zwang – zum Preis von vielen Millionen Menschenleben – das Land auf einen Kurs der Industrialisierung und beutelte es mit der ebenfalls todbringenden „Kulturrevolution“. Deng Xiaoping verordnete seit 1978 wirtschaftliche Reformen. Diese gelten als Basis des rasanten Aufstiegs Chinas seither. Politische Freiheit, gar Demokratie sollten sie nicht bringen – das zeigte nicht zuletzt 1989 das Massaker vom Tiananmen-Platz. Stefan Bergmann Chefredakteur des Geschichtsmagazins DAMALS

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Das alte China

Der lange Weg zum „Reich der Mitte“ Kai Vogelsang

Obwohl die machtvolle Hochkultur der Shang bereits um etwa 1000  v. Chr. monumentale Herrschergräber schuf, konnte von einem übergreifenden chinesischen Reich noch nicht die Rede sein. Erst die Verbreitung der Schrift, ein gemeinsames kulturelles und politisches Bewusstsein der Eliten unterschiedlichster Fürstentümer, die Schaffung von Verwaltungsstrukturen sowie Jahrhunderte der Machtkämpfe führten dahin.

Am Anfang war kein China. Als sich im 2. Jahrtausend v. Chr. zwischen Yangzi und Gelbem Fluss die ersten bronzezeitlichen Hochkulturen aus den Trümmern ihrer neolithischen Vorläufer erhoben, deutete nichts darauf hin, dass sie einst in einem Reich vereint sein würden. Es gab weder Kaiser noch Mandarine, weder Schriftkultur noch Moral­philo­sophie, Bürokratie, Sittenlehre und vieles andere, was wir gemeinhin mit dem alten China ver­bin­den. Umso deutlicher treten in dieser Zeit die grundlegenden Strukturen her­vor, welche die chinesische Geschichte von ihren Anfängen bis in die Gegenwart geprägt haben: die segmentären – also die auf abgegrenzten Gruppen basierenden – Verhältnisse, die nicht zu einer übergreifenden Kultur, son­dern zu einem Pluralismus regional beschränkter Kulturen geführt haben.

Nicht Einheit, sondern VielDieses Set aus Bronzegefäßen für rifalt kennzeichnet diese Getuelle Zwecke (spätes 11. Jahrhundert v. Chr.) spiegelt Kunstfertigkeit und schichte. Denn das Gebiet, das technische Fähigkeiten der chinesispäter „China“ werden sollte, zerfällt geo­graphisch in mindesschen Bronzezeit wider. Es wird der tens fünf klar getrennte MakroZhou-Dynastie zugerechnet, deren regionen. Im Norden sind das die Truppen um 1050 in der Schlacht von Regionen am Mittel- und UnMuye über das Heer der Shang siegterlauf des Gelben Flusses: ersten. tens das Lössplateau im Nord­ westen, dessen zerklüftete Landschaft von dicken Schichten „Gelber Erde“, dem Löss, geprägt ist, auf dem bei spärlichen Nieder­schlägen vor allem Weizen und Hirse an­gebaut wurden; und zweitens die Nordchinesische Ebene, deren fruchtbares Schwemmland – Ablage­rungen des Gelben Flusses – intensi­ven

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In all diesen Makroregionen (die umliegenden Gebiete – Tibet, Ost­turkestan, die Mongolei, Mandschurei und der Süden des heutigen China – waren noch lan­ge nicht Teil dieser Geschichte) entstanden schon früh eigenständige Kulturen, die zunächst wenig Kontakt miteinander hatten. Die Geschichte des alten China handelt davon, wie dieser Kon­takt allmählich – durch Migration, Handel, Diplomatie und Kriege – intensiver wurde, wie im Lauf von Jahrhunderten eine Elitegesellschaft die regionalen Gemein­ schaften über­wölbte und wie als Reaktion auf diese Entwicklung „chinesische“ Kultur entstand. Wäh­rend zur Zeit der Dynastie Shang (13. –11. Jahrhundert v. Chr.) isolierte Hoch­kulturen nur lose durch Fernhandel verbunden waren, entwickelte sich in der Zhou-Zeit (11. – 8. Jahrhundert v. Chr.) eine regelmäßige überregionale Kommunikation unter Adligen, die in der „Früh­ling und Herbst“-Periode (8. – 5. Jahrhundert v. Chr.) durch den Aufstieg neuer Eliten intensiviert wurde: Die Lehren des Konfuzius und des Mo Di waren das Resultat, vor allem aber zahllose Kriege. In der Zeit der „Kämpfenden Staaten“ (traditionell auch als „Streitende Reiche“ bezeichnet, 5. – 3. Jahrhundert v. Chr.) erhöh­te sich der Blutzoll weiter: Die Entstehung von Territorialstaa­ten mit Massen­heeren, Bürokratie und zentralisierter Regierung führte zur Rationalisierung vieler Lebens­ bereiche und regte zahlreiche Denker an, neue Ordnungsmodelle zu diskutie­ren. Damit waren die geistigen und institutionellen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die disparaten Regionalmächte Chinas erstmals zu einer politischen Einheit wurden: zu einem Reich.

Weizen­anbau, Bevölkerungswachstum und die Ent­stehung früher Hochkulturen ermöglichte. Im Süden, am panzer (ein sogenanntes Orawasserreichen Yangzi, liegen dritkelprotokoll), zeugen von den tens das Si­chuan-Becken, von Berreligiösen Praktiken der Shang. gen umge­ben, auf dessen fruchtbaren Böden ganz eigenständige Kultu­ren entstanden sind, viertens die Region am Mit­tellauf des Yangzi, wo regelmäßige Nieder­schläge ertragreichen Reis­anbau er­möglichen, und fünftens das Gebiet am YangziDelta, wo neben dem Reisanbau auch die See­fahrt kulturprägend wirkte. Schriftzeichen, eingeritzt in ein Stück von einem Schildkröten-

Die Shang: Götterwelt, Menschenopfer und die Schrift Etwa 1200  v. Chr., Frühling. Wu Ding, Herrscher der Dynastie Shang, steht im könig­lichen Ahnentempel, um ihn herum reichverzierte Opfergefäße aus Bronze, gefüllt mit Fleisch, Getreide und Hirsewein für die Geister der Ahnen. Es ist der Tag vor einem Feldzug, aber Wu Ding hat Zahnschmerzen. Er befiehlt, ein Schaf und einen Hund als Opfer zu schlach­ ten, während ein Orakelpriester, neben einem Feuer hockend, einen glühenden Stab in den Brustpanzer einer Schildkröte bohrt, so dass er springt. Mit bluDie Shang-Dynastie stach dadurch hervor, dass sie schriftliche Quellen hinterließ. Tang war der erste Herrscher dieser regionalen Macht.

8 Der lange Weg zum „Reich der Mitte“

tiefe Gruben, zu deren GrabDie Mitglieder der Shang-Elite wurden kammern jeweils vier lanmit hohem Aufwand bestattet: Überge Rampen hinab­führten – die bleibsel von Pferden und Streitwagen in einem Grab aus der Shang-Zeit. größte Anlage misst inklusive Rampen 66 mal 44 Meter. Der Arbeitsaufwand, diese Gräber anzulegen, muss ungeheuer gewesen sein. Wie reich ihre Ausstattung war – sie sind alle längst geplündert –, deutet das Grab einer herrscher­lichen Gemahlin an, in dem neben 755 Jadestücken, Edelsteinen, Schmuck und Waffen auch 7000 Kauri­muscheln (die als Währung benutzt wurden) sowie kunstvoll deko­rierte Bronzegefäße mit einem Gesamt­gewicht von 1600 Kilogramm gefunden wur­den: jedes einzelne ein Kunstwerk von heraus­ragender Güte. Die Machtfülle der letzten Shang-Herrscher und die technischen Fertigkeiten ihres Volkes sind beeindruckend. Sowohl die riesigen Gräber als auch die kostbaren Bronze­gefäße, die in einem äußerst komplexen Arbeits­prozess hergestellt wurden, zeugen von der Möglichkeit einer Elite, große Projekte zu koordinieren und erheblichen Zwang auf ihr Volk auszuüben. Dennoch waren die Shang nicht mehr als ein Klanverband, dessen Einfluss kaum weiter als einige hundert Quadratkilometer reichte. Sie wären nur eine unter mehreren namenlosen Regionalkul­turen der Bronzezeit gewesen – in Sichuan und am unte-

tigen Händen nimmt Wu Ding den Pan­zer und sucht in den Sprüngen die Antwort auf die Frage, ob der Ahnengeist sein Opfer annimmt. Zehntausende solcher Orakelprotokolle sind aus dem 13. bis 11. Jahrhundert v. Chr. erhalten, eingeritzt auf den Brustpanzern von Schild­kröten und Schulterknochen von Rindern, welche die Shang zur Orakelnahme verwendeten: die frühesten Zeugnisse chinesischer Schrift. Sie berichten vom Leben der letzten Shang-Herrscher, die ihre Hauptstadt in Anyang hatten, am westlichen Rand der Nordchinesischen Ebene, nörd­lich des Gelben Flusses. Dort beginnt die chinesische Geschichte: nicht nur, weil die ersten schriftlichen Quellen aus dieser Region stammen, sondern auch, weil mit Anyang eine neue Stufe kultureller Entwicklung begann. Große ummauerte Städte hatte es schon viel früher gegeben, und im frühen 2. Jahrtausend waren die ersten bronzezeitlichen Hochkulturen in der Nordchinesischen Ebene entstanden. Aber die Hauptstadt der Shang übertraf alles, was es bis dahin gegeben hatte. Auf einem Gebiet von 30 Quadratkilometern sind in Anyang die Reste von Stadtmauern aus gestampfter Erde gefunden worden, Fundamente von Tempeln bzw. Palästen, dazu Streitwagen, Wohnungen, Werkstätten, über 2500 Opfergruben sowie gewaltige Grab­anlagen, vermutlich die Gräber der letzten Shang-Herrscher: kreuzförmige, zehn bis 13 Meter

9 Die Shang: Götterwelt, Menschenopfer und die Schrift

ren Yangzi gab es vergleich­bare Zentren –, wenn sie nicht eine Kultur­technik besessen hätten, die sie in das Licht der Geschichte rückte: die Schrift. Nicht, dass die Schrift in der Shang-Gesellschaft eine besondere Rolle gespielt hätte. Soweit wir wissen, war sie ganz auf die Tempel beschränkt und diente noch nicht als Kommunikationsmedium, das den Alltag geprägt oder zum rationalen Denken angeregt hätte. Die Shang waren noch lange keine Schriftkultur, denn nur wenige Orakelprie­ster konnten überhaupt schreiben – und vor allem: Sie hatten keine Leser. Ihre Schrift­zeichen waren noch Hieroglyphen im eigentlichen Sinn: heilige Zeichen, die nicht der Kommunikation dienten, sonDie Zhou, die neue Macht des chidern der Aufzeichnung kultischer nesischen Altertums, legitimierten Handlungen vorbehalten waren. Doch diese Aufzeichnungen, ihre Herrschaft damit, dass sie ein wiewohl kurz und vielfach noch „Mandat des Himmels“ hätten. Die nicht entzifferbar, gewähren uns Zeichnung (um 1800) zeigt den faszinierende Einblicke in die König Wen.

Welt der Shang. Es war eine Welt voller Götter: Die Shang-Herrscher verehrten Wind, Regen, Donner, Blitze, Sonne und Mond, Flüsse und Berge, die Erde, die vier Himmels­richtungen und einen höchsten Gott, Di. Sie ehrten ihre verstorbenen Ahnen in unzähli­gen Ritualen und befragten sie in allen Lebenslagen: vor Ernten, Ritualen, Jagdausflügen, Kriegen und Geburten, bei Krank­heiten, Träumen, astronomi­schen Erscheinungen, Bauvorhaben und immer wieder zum Wetter. Die Shang trennten noch nicht zwischen Diesseits und Jenseits, die Götter und Ahnen waren Teil ihrer Welt. Sie waren allgegen­wärtig, konnten überall intervenieren, aber auch durch Riten beein­flusst werden. So hatte jede Hand­lung, über ihre Alltags­ bedeutung hinaus, magisch-religiösen Sinn: Die Welt der Shang war noch nicht rational und entzaubert, sie war magisch. Wie fremd uns diese Welt ist, zeigt sich an den rauschhaft-ekstatischen Ritualen, bei denen ein Medium, begleitet von Glocken und umgeben von magischen Schutztieren, sich in Trance tanzte, um Kontakt mit dem Jenseits aufzunehmen – und es zeigt sich an den grausamen Menschen­opfern der Shang. Geköpfte oder verstüm­melte Leichen in großer Zahl hat man in den Gräbern der Shang-Herrscher und den Fundamenten ihrer Tempel gefunden, allein die Orakelinschriften verzeichnen 13 000 Menschenopfer: Kriegs­gefangene meist, welche die Shang für ihre Götter hingerichtet haben. Diese Opfer waren für die Shang keine „Menschen“, denn einen Begriff vom „Menschen“, der außerhalb des eigenen Klans existierte, dürften die Shang nicht gehabt haben. Bei aller herrscher­lichen Pracht waren sie eine archaische Klangesellschaft: ein Häuptlings­ tum, dessen Grenzen durch Verwandtschaft definiert waren. Jenseits des Klans dürfte „Menschheit“ für die Shang aufgehört haben – dort waren nurmehr Feinde, die man bedenkenlos töten konnte. Die Shang wussten noch nichts von „Menschlichkeit“ oder abstrakter Moral: Sie wussten noch nichts von „China“.

Die Zhou und der Mythos vom „Mandat des Himmels“ Etwa 1050  v. Chr. König Wu, Führer der Zhou, hat ein Heer von 50 000 Soldaten auf der Ebene von Muye, vor den Toren der Shang-Hauptstadt, versammelt, um den despo­tischen letzten Herrscher der Shang zu stürzen. Die Übermacht des Gegners scheint erdrückend: 700 000 Soldaten schickt der Shang-König

10 Der lange Weg zum „Reich der Mitte“

heutige Staatsgrenze Chinas Chinesische Mauer

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PA Z I F I S C H E R OZEAN

Pescadoren (Penghu-Inseln)

SÜDCHINESISCHES MEER

Luzon

Andamanen

0

500

1000 km

INDISCHER OZEAN

ihm entgegen, und es beginnt eine erbarmungslose Schlacht, bei der „das Blut in solchen Strömen floss …  dass auf tausend Meilen die Erde sich rot färbte“. Doch schließlich laufen die Truppen der Shang zu den Zhou über und stellen sich gegen ihren eigenen Tyrannen, der in den Flammen seines Palastes stirbt. Unter dem Jubel der Menge marschiert König Wu in die Hauptstadt ein, „erschießt die 100 bösen Mini­ster [der Shang], köpft und opfert 60 Prinzen und Zeremonienmeister und köpft 40 Fami­lienoberhäupter“, während die Schädel des letzten Shang-Königs und seiner Frauen zur Schau gestellt werden. Die Schlacht von Muye war die berühmteste Schlacht des chinesischen Alter­tums. Dennoch wissen wir nicht, ob sie sich auch nur annähernd so zu-

SULUSEE

getragen hat, wie die Literatur sie beschreibt. Es ist bis heute ein Rätsel, wie die Zhou, eine bis dahin völlig ob­skure Klangemeinschaft aus dem fernen Westen des Lössplateaus – sie besaßen kaum Bronzen, keine Streitwagen, lediglich primitive Waffen –, die prunkvolle Dynastie der Shang stürzen konnten. Traditionelle Erzählungen haben den Dynastiewechsel als rechtschaffenen Aufstand gegen einen verkommenen Herrscher dargestellt. Der letzte Shang-König soll trunk­süchtig, lüstern und sadistisch gewesen sein; er soll sich an den Qualen seiner Opfer ergötzt haben, die er über glühende Kohlen laufen ließ, und er soll seinem eigenen Onkel bei lebendigem Leib das Herz herausgeschnitten und kritische Berater grausam hinge­richtet haben.

11 Die Zhou und der Mythos vom „Mandat des Himmels“

Kyuschu

Okinawa

Hinterindien Hainan

Honschu

OSTCHINESISCHES MEER

Dongting-See

Yu n n a n Plateau

Indien

lus

Aralsee

Männer be­schenkte, ihnen Titel verlieh und sich damit ihrer Loyalität versicherte. Auf diese Weise entstand in der Nord­chinesischen Ebene eine dezentrale Ordnung, deren Bezugspunkt zwar die „Könige“ der Zhou waren. Diese kontrollierten die Region aber keines­wegs flächendeckend. Nordchina war noch immer kein politisch integrierter Raum, sondern eine Ansamm­lung kleiner Garnisons­ städte; und es war auch kein „chinesischer“ Raum, denn zwi­schen den Städten lagen weite Gebiete, in denen indigene Bevölkerungsgruppen unbe­helligt vom Zugriff der Zhou lebten. Die chinesische Tradition hat diese Völker „Barba­ren“ genannt; aber von Anbeginn an dürften die Zhou-Vasallen nicht nur Schlachten gegen sie geschlagen haben, sondern auch Eheverbindungen eingegangen sein. Die Unter­ scheidung zwischen „Chinesen“ und „Barbaren“ hat für diese Zeit keine Bedeutung – wenn sie es denn je hatte. Auch eine moralische Abgrenzung der Zhou von anderen Völkern fällt schwer, denn die Erzählung von der „Menschlichkeit“ und „Rechtschaffenheit“ der Zhou-Herrscher ist nur eine fromme Mär. Das Gemetzel von Muye und spätere Feldzüge sprechen eine ganz andere Sprache. Inschriften der Zeit berichten von Raubzügen gegen „feindselige Län­ der“, von denen die Zhou über 100 000 abgeschnit­ tene Ohren mitbrachten als Nachweis für die Zahl der Men­schen, die sie massa­kriert hatten. Diese Trophäen wurden, vermutlich ebenso wie Kriegsgefan­ gene, den Ahnen in Feueropfern darge­bracht. Trotz des viel­besungenen Dynastiewechsels hatte sich nicht viel geändert. Die vermeintlichen Könige der Zhou waren, ähnlich wie die Shang-Herrscher, eigentlich „Häuptlinge“ eines Klan­verbunds, deren Welt sich kaum über Verwandt­schaftsgrenzen hinaus erstreckte. Auch sie wussten noch nichts von „China“.

König Wu hingegen, der die Zhou-Armee gegen diesen Tyrannen geführt habe, sei ein Vorbild Gesellschaft: weg von der Ekstase, an Tugend gewesen: Er und sein hin zu eher nüchternen Praktiken. Vater, König Wen, sowie sein BruAuch die rituellen Gefäße wurden der, der Her­zog von Zhou, sind zu schlichter. Säulenheiligen der chine­sischen Tradition gewor­den, denn sie hätten ein Regierungssystem geschaffen, das auf Menschlichkeit, Rechtschaffenheit und Sorge um das Volk gegründet war. Durch diese moralischen Quali­täten hätten die ZhouHerrscher das „Himmelsmandat“ erhalten, das sie zu recht­mäßigen Herren über „Alles unter dem Himmel“ machte. Tatsächlich übernahmen die Zhou Kulturtechniken wie die Architektur, die Schrift und den Bronzeguss – das heißt vermutlich: die Handwerker – von den Shang und schickten sich an, deren Nachfolge anzutreten. Dennoch regierten sie keineswegs über „Alles unter dem Him­mel“, sondern zogen sich bald wieder in ihre Domäne auf dem Lössplateau zurück. Die Verwaltung der ehemaligen Shang-Gebiete überließen sie den alten Eliten sowie ihren Verwandten und Vasallen, denen sie Lehen zuteilten. Tausende von kost­baren Bronze­gefäßen – zum Beispiel Speise­ töpfe, Wein­kannen, Amphoren oder Wasserbecken – in der Tradition der Shang zeugen von diesem Prozess. Viele von ihnen tragen Inschriften, die davon berichten, wie der Zhou-Herrscher verdienstvolle Im 9. Jahrhundert v. Chr. veränderte

sich der Ahnenkult und mit ihm die

Eine „rituelle Revolution“ und die Entstehung Chinas Es gibt keine Anekdote, die vom epochalen Wandel in der Sozialstruktur der Zhou zeugt, der im 9. Jahrhundert  v. Chr. stattfand. Keine Überlieferung berichtet davon, kein Name wird damit verbunden. Stattdessen lässt sich dieser tiefgreifende Strukturwandel vor allem an der Veränderung der Bronze­gefäße erkennen, die im Ahnenkult verwendet wurden. Während die frühen Zhou die fein gearbeiteten Gefäßtypen der Shang mit ihrem ausschweifenden Dekor in Tiergestalt übernommen hatten, setzten sich im

12 Der lange Weg zum „Reich der Mitte“

9. Jahrhundert Sätze gleichartiger Gefäße mit rein geometrischen, sich wiederholenden Mustern durch. Die exzentrischen Weingefäße der Shang – Sinnbild ihrer rauschhaften Religion – ver­schwanden, dafür traten wuchtige Kessel und Dreifüße in den Mittelpunkt des Kultes. Archäologen haben in diesem Formwandel eine „rituelle Revolution“ erkannt: Die ekstatischen Praktiken der Shang wurden durch nüchterne Rituale abge­löst, bei denen nicht mehr die Toten, sondern die Mitglieder der Gemeinde im Zentrum standen. Vielfach wurden Gefäße jetzt nicht mehr den Ahnen gewidmet, sondern „Kindeskindern und Enkelsenkeln“. Die Toten schienen sich von den Lebenden zu ent­fernen, Diesseits und Jenseits sich zu trennen: ein erster Schritt zur Entzauberung der Welt. Der religiöse Wandel ging mit einem sozialen einher. Denn die standardisierten Gefäßsätze drückten zugleich den Rang des Verstorbenen aus: Hohe Würdenträger erhielten neun Dreifüße und acht Kessel, die Nächstfolgenden sie­ben und sechs, die Herrscher von regionalen Fürstentümern fünf und vier usw. Die Gefäßsätze verkör­perten gleichsam eine stratifizierte, das heißt nach Rängen gegliederte Gesellschaft. In ihnen wurden Hierarchien nicht nur festgeschrieben, sondern – das ist entscheidend – über den Rahmen

der Verwandt­schaftsgruppe hinaus Die „Frühling und Herbst“-Periode vergleichbar gemacht. war eine Zeit des Verfalls. Das Bild Die Stan­dardisierung der Bronzeigt den Prinzen Chong’er aus zesätze im Zhou-Gebiet deutet an, dem Fürstentum Jin, der dem Bürdass die Eliten verschiedener Regigerkrieg entfloh und nach Jahren onen im 9. Jahrhundert begannen, des Reisens in Jin als Herzog Wen sich als Gleichrangige zu erkennen die Herrschaft übernahm. und miteinander in Kontakt zu treten. Auf diese Weise entstand erstmals ein kommunikativer Zusam­men­hang, der über Klans und Regionen hinausging. In den „Ländern der Mittleren Ebene“ bildete sich eine Adels­gesellschaft heraus, welche die segmen­tären Strukturen der Gesellschaft überformte; erstmals entstand das Gefühl eines sozialen Zusammenhangs, den wir heute „China“ nennen. Nicht zufällig berichten spätere Geschichtswerke, dass im Jahr 842  v. Chr. einige Adlige den Zhou-König ins Exil getrieben und in den folgenden 14 Jahren gemeinsam die Regierung geführt haben sollen. Auch wenn die Zhou-Herrscher noch einmal zurück­ kehrten und erst 70 Jahre später durch den Angriff der Rong, eines Reitervolks aus dem Westen, endgültig gestürzt wurden – die Ablösung ihres Häuptlingstums durch eine Adelsgesellschaft war schon mit dem Jahr 842  v. Chr. besiegelt: Dieses Datum markiert eigentlich die Geburt Chinas.

13 Eine „rituelle Revolution“ und die Entstehung Chinas

„Frühling und Herbst“-Periode: die Zeit der Adelsherrschaft

stadt in der Gegend des heutigen Luoyang (da­her wird die Periode seit dem 8. Jahrhundert auch „OstZhou“ genannt, im Gegensatz zur früheren „WestZhou“-Zeit), wo sie jedoch nur mehr zeremoniellen Status behaupten konnten. Ihre Heimat wurde bald durch die Fürsten von Qin besetzt, Führer eines bis dahin unscheinbaren Klans aus dem fernen Westen, von dem noch zu hören sein wird. In der Nordchinesischen Ebene belau­erten einander die Herrscher von Zheng, Jin, Qi, Lu und vielen anderen Fürstentümern. Die politische Landschaft Nordchinas glich einem Flicken­teppich kleiner und kleinster Herrschaften, die ihrerseits zerfielen in Macht­berei­che lokaler Sippen, die ihre Pfründen autonom verwalteten: ein Gemenge partikularer Herrschaften, die untereinander fast perma­nen­t Krieg führten. Es heißt zwar, dass fünf aufeinander folgende „Hegemonen“ – darunter Herzog Wen von Jin – für Ordnung in diesem System gesorgt hätten, aber die Chronik der Gewalt zeugt eher von „feudaler Anarchie“ ohne übergeordnete Kontrollinstanz. Dennoch waren die Kriege dieser Zeit kein Symptom des Zerfalls (denn politische Einheit hatte es nie gegeben), sondern des Zusammenwachsens. Aus den Garnisonen der frühen Zhou-Zeit wurden größere Resi­denzstädte, die ihre Herrschaft allmählich über weite Terri­torien ausdehnten. Überland­straßen ermöglichten Truppen­ bewegungen, aber auch Reisen von Händlern und Diplo­maten. Die Reisen des Chong’er bezeugen die gesteigerte Mobilität der Zeit, sein Empfang an verschiedenen Fürsten­höfen die gegenseitige Anerkennung innerhalb des Adels. Die Fürstentümer der „Frühling und Herbst“-Periode bekämpften einander nicht nur, sondern trieben Handel, schlossen Heiratsallianzen, pflegten diplomatische Bezie­hungen. All das wurde möglich durch den Gebrauch von Schrift. Jetzt erst, vier Jahrhun­ derte nach ihrer Erfindung, entfaltete die chinesische Schrift ihr kommu­nikatives Potential: Sie ermöglichte den geregelten Kontakt zwischen den Fürsten­ tümern Nord­chinas über Raum, Zeit und dia­lektale Unterschiede hinweg. Ein anschauliches Zeugnis dieses diplomatischen Verkehrs sind die Annalen des kleinen Staates Lu, „Frühling und Herbst“, die der Zeit ihren Namen gegeben haben. Sie verzeichnen nicht nur Ereignisse in Lu, sondern auch solche in anderen Staaten: Herrscherwechsel, diplomatische Besuche, Heiratsallianzen, Verträge, Unruhen und Kriege. In ihren lakonischen Ein­trägen – je­mand starb, ein anderer bestieg

655  v. Chr., im Fürstentum Jin: Li Ji, die einst von Herzog Xian im Krieg geraubt, ver­gewal­tigt und zur Ehe gezwungen worden war, nimmt Rache. Sie vergiftet den Herzog und treibt den Kronprinzen in den Selbstmord, um ihren eigenen Sohn an die Macht zu bringen. Ein weiterer Prinz, Chong’er, entgeht mit knapper Not einem Attentat und flieht außer Landes. Während Jin in Bürgerkrieg und Fememorden versinkt, reist Chong’er 19 Jahre lang durch die Nordchinesische Ebene, wo er in vielen Fürstentümern mit Ehren empfangen wird. 636 kehrt er nach Jin zurück, erobert den Thron und steigt als Herzog Wen zum Hegemon der chinesischen Welt auf. Die Anekdote bündelt vieles, was die Zeit nach dem Untergang der Zhou kennzeich­net. „Frühling und Herbst“ wird diese Zeit genannt, nach dem Titel eines Annalenwerks, das den Zeitraum von 722 bis 481  v. Chr. abdeckt. Doch der klang­volle Name täuscht. Will­kür­herr­schaft, Palastintrigen, Blut­rache, Raubzüge und Meuchelmorde präg­ten diese Zeit, in der „Unter­tanen ihre Fürsten und Söhne ihre Väter mordeten“. Die chinesi­sche Tradition hat sie nie anders denn als Zeit des VerMesser- und spatenförmige Bronzemünfalls beschreiben können. zen, die in den verschiedenen FürstenDie Zhou-Herrscher, die tümern des alten China gegossen wurden, vor der Invasion der Rong zeugen von der zunehmenden Monetanach Osten geflo­hen waren, etablierten eine neue Hauptrisierung der Wirtschaft.

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den Thron, hier kam einer zu Besuch, dort nahm je­ mand eine Frau, andere bekriegten sich – dokumentieren diese Annalen die Herausbil­dung einer Gesellschaft, in der Eliten sich über Landesgrenzen hinweg wahrnahmen und geregelten Umgang miteinander pflegten: eine Hochkultur, die nur noch wenig mit dem einfachen Volk zu tun hatte, das weiterhin in den traditionellen Verhältnissen lebte. Doch die Elite konnte sich nicht allein aus dem Adel rekrutieren. Im Lauf der „Frühling und Herbst“Periode ergaben sich zuneh­mend Aufstiegsmöglich­ keiten für Männer niedriger Herkunft, die eine neue Schicht des Dienstadels bildeten: Als Berater an Fürstenhöfen, Vermittler zwischen Staaten und Schichten wurden sie zu entscheidenden Akteuren der neuen Gesellschaft. Der berühmteste Vertreter dieser „Mittelschicht“ war kein Geringerer als Konfuzius (551– 479  v. Chr.). Es ist vielleicht kein Zufall, dass die­Autorschaft des „Früh­ling und Herbst“ ausgerechnet ihm zugeschrie­ ben wird: Denn Kongzi („Meister Kong“), wie die Chinesen ihn nennen, steht wie kein Zweiter für diese formative Periode der chinesi­schen Kultur.

Kongzi und Mo Di: Lehren für eine neue Gesellschaft Um das Jahr 510  v. Chr.: Konfuzius steht in der Halle, als sein Sohn, Li, vorbeieilt. „Hast du die Lieder gelernt?“, fragt ihn der Meister. „Noch nicht“, kommt die Antwort. „Wenn du die Lieder nicht lernst, hast du nichts zu sagen“ – woraufhin Li umkehrt, um die Lieder zu lernen. Anderntags will Li wieder vorbeieilen, doch Kon­fuzius hält ihn an: „Hast du die Riten gelernt?“ „Noch nicht“, entgegnet dieser. „Wenn du die Riten nicht lernst“, bescheidet ihn Konfuzius, „besitzt du nichts, um zu bestehen.“ Darauf kehrt Li abermals um und lernt die Riten. Wir wissen nicht, ob diese Szene sich je so abgespielt hat, denn es gibt keinerlei zeit­genössische Quellen zu Konfuzius’ Leben. Seine erste Biographie wurde fast 500 Jahre nach seinem Tod geschrieben und ist voller Legenden. Konfuzius begegnet uns von Anbeginn an weniger als historische Person denn als Symbol seiner Zeit: als Repräsentant einer neuen Elite und als Schöpfer ihrer kulturellen Formen. Denn die Lehre, die ihm – vor allem in der Sammlung der „Gespräche des Konfuzius“ (Lunyu) – zugeschrieben wird, spiegelt exakt die Bedürfnisse der neuen Gesellschaft wider. Für die Eliten des 6. Jahr­hun­derts wurde – im Gegensatz zum einfachen Volk, das nie

„Frühling und Herbst“, so lautete der Titel der Chronik des kleinen Staates Lu. Dieses Werk wird Konfuzius zugeschrieben (Holzschnitt: der Philosoph zusammen mit seinen Anhängern), und es gab der dargestellten Zeit ihren Namen.

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die Grenzen seines Dorfes überschritt – der Umgang mit Fremden zum Normalfall: eine Situa­ „Kanons der Lieder“ illustriert wurtion, in der die Koor­dination von den. Diese Liedgutsammlung bildeVerhaltenserwartungen zum Prote einen gemeinsamen Wissensblem wurde. fundus der entstehenden überUnter Eliten konnte man einen regionalen Elite. Fremden nicht mehr kurzerhand erschlagen, wie die Shang es noch getan hatten, sondern man musste ihn als Menschen behandeln. Nicht von ungefähr ist die zentrale Tugend in Konfuzius’ Lehre die Menschlichkeit, welche er wie folgt definiert: „Was du dir selbst nicht wünschst, das füge auch anderen nicht zu.“ Diese goldene Regel dürfte in segmentären Verhältnissen unsinnig geklungen haben – in der neuen Elitegesellschaft wurde sie zur moralischen Basis des Miteinanders. Wie aber sollte man mit anderen verkehren? Während man sich unter seines­glei­chen wortlos verstand, bedurfte der Umgang mit Fremden abstrakter, forma-

lisierter Regeln. Diese konnten nicht, wie die Sitten in Ver­wandtschaftsgrup­pen, durch alltägliche Sozialisation erworben, sondern mussten ge­lernt werden: Der Meister insistiert, dass sein Sohn Lieder und Riten lernt. Konfuzius, Chinas „erster Lehrer“, steht symbolisch für eine Gesellschaft, in der Lernen erstmals wichtig wurde. Offenbar hat er vor allem junge Männer aus recht einfachen Verhältnissen für ein öffentliches Leben an den Höfen seiner Zeit geschult. Ein wichtiges Bildungsgut für Konfuzius und seine Schüler waren die „Lieder“, ein Korpus von Volksweisen, Hofge­sängen und Tempel­hymnen – 305 Stücke sind im „Kanon der Lieder“ (Shijing) über­ liefert – aus verschie­denen Zeiten und Regionen. Sie bildeten einen gemeinsamen Wissensfundus, auf den die gelehrte Elite sich beziehen konnte: Wer sie nicht kannte, hatte in der Tat „nichts zu sagen“. Die zweite Lektion, die Konfuzius seinem Sohn verschrieb, waren die Riten. Bezeichnenderweise waren damit nicht mehr primär religiöse Ritua-

Ausschnitt aus einer sogenannten

Querrolle, in der die 305 Stücke des

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le gemeint: Die Geisterwelt der Shang ist nicht mehr die des Konfuzius. Vielmehr geht es um formalisierte Regeln des menschlichen Miteinan­ders, „Rituale des Alltags“, die sozialen Umgang har­monisierten. Denn während das ein­fache Volk in seinen Dörfern „gleichartig“ war, wie es in den „Gesprächen des Konfuzius“ heißt, und deshalb keiner Harmonie bedurfte, mussten die Eliten gerade deshalb harmonieren, weil sie nicht „gleichartig“ waren: Konfuzius lehrte sie, ihre jeweiligen Rollen – als Fürst, Berater, Vater, Sohn – in einer stratifizierten Gesellschaft zu erfüllen. Diese Lehren, die vielen heute so banal erscheinen, lassen sich nur vor dem Hintergrund der sozialen Trans­formation einer Zeit verstehen, in der Um­gang mit Fremden noch etwas Neues war. Konfuzius und seine Lehre sind vor allem in der Moderne als Inbegriff „chinesischer“ Kultur dargestellt worden. Dabei darf jedoch zum einen nicht übersehen werden, dass diese Lehre sich an eine kleine Elite wandte. Das einfache Volk – das heißt fast alle „Chine­sen“ –, das weiter in dörflichen Gemeinden lebte, hatte weder Bedarf noch Verständnis für Riten und abstrakte Moral: Die Götterwelt der Shang war ihnen stets näher als die ratio­nale Ordnung des Konfuzius. Zum anderen waren dessen Lehren auch in der Elite nie konkurrenzlos, oft dominierten andere Schulen, und der Meister selbst war in seiner Zeit sogar ausge­sprochen erfolglos. Er hatte einige Ämter in Lu inne, verließ seine Heimat jedoch und reiste jahrelang, wie ein „her­renloser Köter“, durch die Nordchine­sische Ebene, um sich verschiedenen Fürsten als Berater anzu­dienen – mit mäßigem Erfolg: Konfuzius wurde bei den Mächtigen seiner Zeit nicht ge­braucht. Viel einfluss­reicher waren die Lehren eines anderen Denkers, Mo Dis (auch Mozi, um 479 –381), der sich ausdrücklich gegen die Konfuzianer wandte: Denn trotz aller Weltläufigkeit sei­en diese noch immer alten Strukturen verhaftet, indem sie Ahnenverehrung und fami­liären Zusammen­halt unterstützten. Mo Di sah gerade im familiären Egois­mus – den Ehrenmorden, den Fehden, der Blutrache – die Wurzel aller Übel. Er stellte der Rollenethik des Konfuzius das Ideal der „allgemeinen Solidarität“ gegenüber. Wenn alle Menschen einander gleichermaßen achteten und „den anderen wie sich selbst betrach­ teten“, wäre die Welt geordnet: Die Umschichtung sozialer Hierarchien in der „Frühling und Herbst“Zeit schlug sich in einer radikal egalitären Lehre nieder.

Mo Dis Lehren dürften in seiner Zeit vor allem deshalb so erfolg­reich gewesen sein, weil er dem Grundsatz der „allgemeinen Solidarität“ einen weiteren zur Seite stellte: den der „Achtung vor den Würdigen“. Gehorsam gegenüber der Obrigkeit sollte den sozialen Frieden sichern, und über allem sollte der Herrscher die Interessen der „Allgemeinheit“ durchsetzen. Mo Di entwarf – vielleicht als erster chinesischer Denker – das Modell eines Staates, der von der Spitze durchregiert wird: Damit Der Denker Mo Di, geboren um 479, traf er den Nerv der Zeit. Denn stellte den Turbulenzen seiner Zeit das quasi-feudale Regierungssystem der Zhou, in dem Regiodie Forderung nach einer „allgemeinalfürsten in ihren Lehen (und nen Solidarität“ entgegen. Im Werk eines japanischen Künstlers aus dem lokale Würden­träger in ihren Sublehen) patrimonial – als sei19. Jahrhundert erscheint Mo Di en sie ihr Eigentum – herrschten, einem Kaiser der Tang-Dynastie als begann langsam zu erodieren. Geist.

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Schon früh sollen in Qi Refor­men im Sinn eines Zentralstaats – Einführung von Bürokratie, Agrarsteuern und staatlichen Handelsmonopolen – durchgeführt worden sein, in Lu sollen systematisch Steuern erhoben und in Zheng und Jin Strafgesetze fixiert worden sein: erste Ansätze zur Rationalisie­ rung von Herrschaft. Diese Tendenz verschärfte sich, als im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. in Lu, Qi und Jin mächtige Familien die Herrschaft an sich rissen: Parvenüs, die sich nicht mehr traditional legiti­mieren konnten, son­dern ihre Herrschaft auf eine ratio­nale Grundlage stellen mussten. Die alte Ordnung zerbrach endgültig, als Für­ stentümer aus den Gebieten des mittleren und unteren Yangzi – tätowierte „Barbaren“, die sich die

könne. Als er bejahte, ließ der König 180 seiner Palastdamen kommen. Sun teilte sie in zwei Gruppen ein und ernannte die beiden Lieb­lingsfrauen des Königs zu Gruppenführerinnen. Nachdem er ihnen die Marschkomman­dos erklärt hatte, ließ er sie Aufstellung nehmen und gab Befehl zum Rechtswenden – worauf die Frauen in Kichern ausbrachen. Nachdem Sun Wus Befehl auch ein zweites Mal nicht ernst genommen wurde, ließ er, zum Entsetzen des Königs, die zwei Frauen köpfen. In seiner unerbittlichen Professionalität war Sun Wu ein Kind seiner Zeit. Die Perio­de der „Kämpfenden Staaten“, wie die Zeit zwischen 453 und 221 v. Chr. wegen ihrer vielen Kriege genannt wird, erlebte eine Rationalisierung und Effizienzsteigerung in allen Gebieten: Die Landwirt­schaft wurde produktiver, die Gelehrsamkeit profunder, die Politik effek­ tiver, der Krieg tödlicher. Das ausgesprochen warme Klima dieser Jahr­hunderte – im Mittel drei Grad wärmer als heute – und technische Neuerungen wie schwere Eisenpflüge, das Kummetge­schirr für Zugtiere, Bewässerungskanäle sowie der Einsatz von organischem Dünger sorgten für eine enorme Produktionssteigerung der Landwirtschaft. Die Mone­tarisierung der Wirtschaft – Bronzemünzen lösten jetzt die Tauschwirtschaft ab – ließ den Handel auf­blühen, und die Bevölkerung wuchs rasant: „Heutzutage gelten fünf Söhne nicht als viel“, berichtet ein Zeitgenosse, „von denen wiederum jeder fünf Söhne bekommt, so dass ein Großvater noch zu Lebzeiten 25 Enkel hat.“ Immer mehr Menschen zogen jetzt in die Städte, um dort ihr Gewerbe zu betreiben: Aus einstigen Fürstensitzen wurden be­ triebsame Metropolen, auf deren Straßen „die Wagen sich reihten und die Menschen Schulter an Schulter gingen“. Linzi, die Hauptstadt von Qi, soll im 3. Jahrhundert v. Chr. allein 210 000 männliche Einwohner gehabt haben. Die chinesische Gesellschaft erlebte eine nie dagewesene Differenzierung. Nicht nur Handel und Handwerk spezialisierten sich, auch die Gelehrsamkeit trieb jetzt ihre schönsten Blüten. Die Zeit der „Kämpfenden Staaten“ war zugleich die klassische Epoche der chinesischen Philosophie, in der „Hundert Schulen“ miteinander disputierten: Mo­histen, Daoisten, Konfuzianer, Agronomen, Logiker, Heilkundler, Militärtheoretiker und die sogenannten Poli­tischen Rea­listen entwickelten Lehren, die zur Grundlage der chinesischen Philosophie werden sollten. Nun wurde die Schrift erstmals genutzt, um mündlich über­lieferte Lehrsätze und Anekdoten zu

Zähne schwarz färbten und in fremden Zungen sprachen – in Staaten“ – eine Zeit, die nicht nur die „Mittlere Ebene“ vordrangen: Schon 597  v. Chr. brachte Chu von Kriegen, sondern auch von wirtdem einstigen „Hegemon“ Jin eischaftlicher Dynamik geprägt war. ne entscheidende Niederlage bei; am Ende des Jahr­hunderts wurde es seinerseits von Wu besiegt; und als Yue, ein Staat aus der Gegend des heutigen Hangzhou, 473  v. Chr. wie­derum Wu vernichtete, war die Zeit des „Frühling und Herbst“ vorbei. Es dürfte kein Zufall sein, dass die Einträge in den Annalen des Konfuzius 481 aufhören. Die Adelsherrschaft mit ihrem Protokoll und ihrer rituellen Ord­ nung war am Ende; es folgte die Zeit der Realpolitik. Dekorativer Türknauf eines Wagens aus der Periode der „Kämpfenden

Allgemeiner Aufschwung und viele Kriege: die „Kämpfenden Staaten“ Sun Wu, ein Mann aus Qi, der für seine Kenntnisse der Kriegführung bekannt war, hatte einst eine Audienz beim König von Wu. Dieser fragte ihn, ob er seine Drill­metho­den auch an Frauen demonstrieren

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fixieren, sogar ganze Bücher zu schreiben. Dünne Bambus- und Holzstreifen, mit Schnü­ren zu Buchrollen verbunden, wurden zu Medien einer Manuskriptkultur, in der sich Wissen schneller und weiter denn je verbreiten konnte. Die kosmologischen Lehren von Yin und Yang sowie den „Fünf Wandelphasen“ wurden jetzt formuliert, Grundlagen der chinesischen Medizin fixiert, und aus verschiedensten Perspektiven wurde das Grundproblem der klassischen chinesischen Philosophie disku­tiert: das Verhältnis zwi­schen Herrscher und Volk. Mengzi etwa, ein Denker in der Tra­dition des Konfuzius, ging – ganz im Sinn der neuen Oberschicht – davon aus, dass ein Herrscher nicht durch Geburt legitimiert sei, sondern durch erworbene Qualitäten: durch „Menschlichkeit“ und „Rechtschaffenheit“, vor allem aber durch die Sorge um das Volk. „Das Volk ist am wich­tigsten“, lehrte er, und „der Fürst ist am unwichtigsten. Daher wird derjenige Him­melssohn, der das Volk gewinnt.“ Das war sicher nicht im Sinn einer demokratischen Ordnung gemeint, sondern drückte die – auch zahlen­mäßig – gestiegene Bedeutung des Volkes als Ressource aus. Eine gänzlich andere Position vertritt das „Daode jing“, eine kurze Aphorismensammlung, die der legendären Gestalt des Laozi zugeschrieben wird: „Schafft die Menschlichkeit ab und verwerft die Rechtschaf­fen­heit, so wird das Volk zu Liebe und Pietät zurück­finden“, hält es den Konfuzianern ent-

gegen. Weisheit und Moral seien Dekadenzerscheinungen einer allzu mobilen Gesellschaft. Daher rät Laozi zur Rückkehr in traditionelle Verhältnisse: Das Volk solle „dumm“ und sesshaft bleiben, auf Schrift verzichten und sich mit den simplen Freuden des Dorflebens begnügen. Weitaus erfolgreicher als Konfuzianer, Daoisten und alle anderen Schulen waren die Denker, die man als „Politische Realisten“ bezeichnen kann. Konsequenter als andere stellten Männer wie Shang Yang und Han Fei die Staatsräson in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Indem sie das Interesse des Staates über alles stellten, entwickelten sie eine gänzlich amoralische, durchrationalisierte politische Theorie. Auch für die Politi­schen Realisten bildete das Volk die wichtigste Ressource der Macht: indem es Steuern zahlte und Wehrdienst leistete. Auch sie rieten, das Volk dumm und sesshaft zu halten: damit es unpolitisch bleibe, seine Scholle bestelle und keine Unruhe stifte. Die Politi­schen Realisten entwarfen Blaupausen für die grundlegenden staatlichen Institutionen: Strafgesetze, Steuern, Militär, Bürokratie. Gemeinsam sollten sie Die Landwirtschaft steigerte ihre dem alles überragen­den Ziel dieProduktivität, unter anderem durch nen, den Zen­tralstaat „reich und die Einführung von Eisenpflügen. stark“ zu machen, das heißt seiDiese Wandmalerei entstand allerne territori­ale Integrität und sein dings erst während der Herrschaft Machtmonopol zu sichern. Der der Tang-Dynastie.

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Staat sollte alle partikularen Mächte – große Familien und lokale Machthaber – überlagern, um zentral durchzuregieren. Mit diesem politischen Pragmatismus war die gedankliche Bewegung von den Struktu­ren der hergebrachten Klangesellschaft zum zentralisierten Einheitsstaat vollendet. Die politischen Entwicklungen sollten folgen. Shang Yang und Han Fei fanden mit ihren Staatslehren vor allem in Qin Anklang, jenem Fürstentum, das Jahrhunderte zuvor die Stammlande der Zhou besetzt hatte. Die Qin hatten sich offenbar früh als Nachfolger der Zhou gefühlt, denn ihre Herrscher bean­spruchten schon im 7. Jahrhundert v. Chr. das „Himmelsmandat“ für sich und legten sich Gräber von enormen Ausmaßen an, die sogar diejenigen der Shang-Könige in den Schatten stellten: Eines dieser Gräber aus dem 6. Jahrhundert  v. Chr. war 24 Meter tief, hatte 280 Meter lange Rampen und enthielt 166 Menschenopfer. Kein Wunder, dass der Herzog von Qin begeistert war, als Shang Yang ihm um 360  v. Chr. seine Lehren vortrug. In den folgenden Jahren führte er einschneidende Reformen in Qin durch. Förderung der Landwirtschaft, rigorose Strafgesetze, Wehrpflicht, Aufbau einer Bürokratie und eines Überwachungs­ systems, das Familien zur gegenseitigen Bespitzelung verpflich­tete, sowie weitere Maß­nahmen schufen einen durchrationalisierten Staat: reich, stark und stets zum Krieg bereit. Damit begann der unaufhaltsame Aufstieg Qins. 316  v. Chr. eroberte es die Staaten Shu und Ba im heutigen Sichuan. Dieses fruchtbare Gebiet, von hohen Bergen umgeben und nur über steile Pässe und schwindelerregende Gebirgs­straßen zu erreichen, lag damals noch weitab der chinesischen Staatenwelt: Seine Annektierung war eine militä­rische Großleistung und der entscheidende Schritt in der Expansion Qins. Sichuan wurde zur Kornkammer für Qin und zur ökonomischen Grundlage seiner Feldzüge. Denn in der Zeit der „Kämpfenden Staaten“ waren Kriege längst nicht mehr kurze Raubzüge wie in der „Frühling und Herbst“-Zeit, bei denen man Güter, Getreide und Frauen erbeutete, um sich dann wieder zurückzuziehen – jetzt ging es um die Vernichtung des Gegners und die Besetzung seines Landes. Das bedeutete weite Feldzüge mit Heeren von Hundert­tausenden Infante­risten, große Feldschlachten und monate-, teilweise jahrelan­ge Belagerungen von Städten: Operationen, die völlig neue Anforderungen an Strategie, Disziplin und Logistik stellten.

Jetzt traten Berufsoffiziere und Militärtheoretiker wie Sun Wu auf. Wie Handwerk, Politik und Gelehrsamkeit wurde auch das Militärwesen rationalisiert und professionali­siert, in anderen Worten: Das Handwerk des Todes wurde noch tödlicher. Der Blutzoll der „Kämpfenden Staaten“, der in den Eroberungskriegen der Qin kulmi­nierte, übertraf alles, was China bis dahin erlebt hatte. In der Schlacht zwischen Qin und Chu, 312  v. Chr., fielen rund 80 000 Köpfe; als Qin 293  v. Chr. Han und Wei angriff, fielen 240 000 Köpfe; im Krieg mit Zhao, 260  v. Chr., ließ der Kommandeur der Qin angeblich 20 000 Soldaten im Gelben Fluss erträn­ken und 400 000 Kriegsgefangene massakrieren. Auf diese Weise eroberte Qin im 3. Jahrhundert v. Chr. einen Staat nach dem anderen. 249  v. Chr. eroberte es die Kron­domäne der Zhou und stürzte den letzten Zhou-König; zwischen 230 und 225  v. Chr. überrollte Qin seine Nachbarn im Osten; 223 besiegte es Chu, den großen Rivalen am Yangzi; und nach­ dem auch Qi gefallen war, war das Werk vollbracht. 221  v. Chr. wurde die chinesische Welt unter einem Herrscher vereint, der sich nun einen neuen Namen gab: Qin Shi Huangdi, „Erster Erhabener Kaiser von Qin“. Die Vielfalt segmentärer Kulturen war in einem Reich vereint, aus den „Ländern der Mittleren Ebene“ war das „Reich der Mitte“ geworden. Damit begann die Geschichte Chinas auch im politischen Sinn. Ihre Grundprobleme waren ihr in die Wiege gelegt. Die Ge­schichte des alten China hatte, gleichsam als Ouver­türe, die Themen ange­schlagen, die China noch mehr als 2000 Jahre lang beschäftigen sollten: die Spannung zwischen politischer Einheit und sozialer Diversität und deren Auflösung durch die Erfindung „chinesischer Kultur“.

Prof. Dr. Kai Vogelsang geb. 1969, lehrt Sinologie an der Universität Hamburg.

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Das erste Kaiserreich Qin und sein Erbe

Die neue Weltordnung Maria Khayutina

Die kontinuierlich aufgestiegenen Qin verleibten sich 256  v. Chr. das Kerngebiet der bis dahin mächtigsten Königsdynastie, der Zhou, ein. Schritt für Schritt unterwarfen sie alle weiteren frühchinesischen Königreiche und gründeten das erste Kaiserreich. Die von ihnen errichtete Gesellschafts- und Verwaltungsstruktur sollte das Kaiserreich dauerhaft prägen, obwohl schon bald die Han die Qin ablösten.

„Es gibt keinen mehr, der den Befehlen nicht folgt, alle Schwarzköpfigen sind ordentlich und rein. Die Menschen erfreuen sich an einheitlichen Regeln, dankbar beschützen sie den Großen Frieden. Die Nachkommen werden diese Ordnung respektvoll übernehmen, die stabile Regierung wird niemals enden! Das Gefährt und das Schiff [unseres Staates] werden niemals überkippen!“ Diese Worte ließ der Erste Kaiser von Qin (Qin Shi Huangdi, früher König Zheng von Qin, 246/221–210  v. Chr.) im Jahr 210  v. Chr. auf einer Steinstele am Berg Kuaiji etwa 200 Kilometer südlich des modernen Schanghai eingravieren. Dort ehrte er mit Opferriten den legendären GottAhn und Bewältiger der Sintflut – den Großen Yu. Der Legende nach baute der Große Yu einst Kanäle, leitete das Flutwasser ab und machte die Welt für

die Menschen bewohnbar. Auf Der Gründer des chinesischen Kaidem Gipfel seiner Macht habe Yu serreichs, Qin Shi Huangdi, wurde am Berg Kuaiji Geister und Fürsin einer monumentalen Grabanlage ten aus aller Welt versammelt, bestattet. Dem verstorbenen Herrum sich von ihnen als Herrscher scher standen in seiner jenseitigen feiern zu lassen. Welt nicht zuletzt mehr als 6000 Der Erste Kaiser orientierte sich Soldaten aus Terrakotta zur Verfüan solchen großen Vorbildern und gung. schuf zugleich bewusst Neues. Er ließ moderne Bewässerungskanäle, Hunderte Kilometer lange Straßen und gewaltige Grenzwälle bauen, um sein Reich zu vernetzen und nach außen zu schützen. Er beseitigte jedoch alte regionale Grenzen, indem er die gesamte Bevölkerung „Schwarzköpfige“ nannte und sie zu einer Einheitssteuer verpflichtete. Zudem vereinheitlichte der Herrscher die Schrift, die Währung, Maße und Gewichte und sogar die

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unter die vier „Reiche der Mitte“ – Han, Wei, Zhao und Qi – sowie die drei Außenreiche im Nordosten, Süden und Westen – Yan, Chu und Qin –, hatten um die Vorherrschaft gerungen. Sie schlugen sich mit Armeen, die mehrere hunderttausend zu Fuß und zu Pferd kämpfende Bauernrekruten zählten. Der Krieg war Dauerzustand der „Zeit der Streitenden Reiche“ (um 453 – 221  v. Chr.). Es schien kaum möglich, einen nachhaltigen Frieden zu schließen.

Ehrgeizig, reformfreudig, zupackend: der Aufstieg der Qin-Fürsten Warum gelang es den Qin, China zu vereinigen? War das ein Zufall oder die Folge einer langen historischen Entwicklung? Legenden zufolge belehnte ein Zhou-König einen Vorfahren der Qin-Fürsten im 9. Jahrhundert v. Chr. in der Ortschaft Qin. Sein Urenkel wurde für Verdienste bei der Verteidigung von Zhou-Randgebieten geadelt. Zwei Generationen später zwang ein Thronfolgestreit den Zhou-Königshof zum Umzug nach Luoyang im Osten. König Ping (771– 720  v. Chr.) machte den Qin-Fürsten zu seinem Statthalter im ehemaligen Zhou-Kerngebiet im Becken des Wei-Flusses und verlieh ihm den Herzogtitel. Damit begann Qins politischer Aufstieg. Herzog Mu von Qin (659 – 621  v. Chr.) stellte nordwestliche Nachbarvölker unter seine Kontrolle und mischte sich in die Geschicke der „Reiche der Mitte“ ein. Herzog Xiao (361 – 338  v. Chr.) berief den politischen Strategen Gongsun Yang (auch bekannt als Shang Yang, gest. 338  v. Chr.) aus dem Fürstentum Wei zunächst als „Gastminister“ und später als Kanzler. Dieser nahm grundlegende Reformen der Gesellschaft, der Wirtschaft und des Militärs vor. Die Ackerbaufläche wurde ausgeweitet und kleinen Bauernfamilien zugeteilt, die eine Kopfsteuer in Naturalien zu entrichten und Fron- sowie Militärdienst zu leisten hatten. Vom Staat beförderte Migration aus Nachbarreichen behob den einheimischen Arbeitskräftemangel. Das neu erarbeitete Rechtssystem war zudem auf die Versorgung des Staates mit unbezahlter Arbeitskraft ausgelegt. Für die Arbeiten wurden zur Leibeigenschaft verurteilte Straftäter herangezogen. Staatliche Betriebe stellten landwirtschaftliche Geräte her, verliehen diese an die Bauern oder teilten sie den Leibeigenen zu. So wurde die landwirtschaftliche Produktivität erhöht und die Versorgung des Militärs gesichert. Fleiß im Dienst und Tapferkeit im Krieg wurden belohnt. Die anstelle der alten vererb-

Breite der Wagenachsen. Um dem Widerstand des alten Regionaladels vorzubeugen, siedelte er gen. Die Inschrift dieser BronzeNachkommen von im Krieg geglocke des Herzogs Wu von Qin fallenen Königen und Fürsten mit (697 – 678  v. Chr.) gibt eine seiner ihrer gesamten Verwandtschaft in Reden wieder, in der er das Recht seine Hauptstadt um. Seine Berazum Regieren beansprucht. ter ließ er einen neuen, der noch nie dagewesenen Größe des Reichs entsprechenden Herrschertitel erfinden: „Huangdi“ – wörtlich „Strahlender Gott-Ahn“, gewöhnlich als „Kaiser“ übersetzt. Diesen Titel trugen alle nachfolgenden Herrscher Chinas bis zur Abschaffung des Kaiserreichs im Jahr 1912. Auf der Reise zum Berg Kuaiji legte der Erste Kaiser 1500 Kilometer zurück. Dabei hielt er keine öffentlichen Ansprachen und veranstaltete keine Paraden. Er vermied – unter anderem aus Angst vor Attentaten – Begegnungen mit seinen Untertanen und führte Riten an entlegenen Orten aus, um sich die Gunst von Gottheiten zu sichern. Nur ein Dutzend Jahre zuvor wäre kein Herrscher in der Lage gewesen, so weit zu reisen. Sieben Königreiche, darDie Qin waren als Unterstützer der Zhou-Könige zu Fürsten aufgestie-

22 Die neue Weltordnung

baren Adelsränge eingeführte 17-stufige Leiter der Verdienstgrade ermöglichte eine hohe soziale Mobilität. Je höher der Grad, desto größer die zugeteilte Landfläche und die Privilegien. Diese Maßnahmen spornten die Bevölkerung an, mit dem Staat zu kooperieren. Der nächste Herzog von Qin (Huiwen, 337/324 – 311  v. Chr.) folgte dem Beispiel der Fürsten von Qi, Zhao, Wei und Han und rief sich 324 zum König aus. Er begann mit Eroberungen im fruchtbaren Süden und bescherte Qin einen spürbaren Aufschwung. König Zhaoxiang (306 –251  v. Chr.) verdoppelte das Territorium insbesondere auf Kosten des südlichen Königreichs Chu. Qin selbst war durch seine vorteilhafte geographische Lage im von allen Seiten mit Bergketten umgebenen Wei-Becken bestens geschützt. In den eroberten Gebieten richtete Qin meist von Beamten verwaltete Amtsbezirke, sogenannte Kommanderien, ein, statt (wie es bis dahin üblich gewesen war) sie an königliche Verwandte oder Generäle als Lehen abzutreten. Dort wurden Eingliederungs- und Verwaltungsmethoden erprobt, die nach der Kaiserreichsgründung auf das ganze Reich ausgedehnt werden konnten.

Qin Shi Huangdi (der „Erste Kaiser von Qin“; Darstellung aus dem 20. Jahrhundert) regierte von 221 bis 210  v. Chr. Schon 206  v. Chr. wurden die Qin von den Han abgelöst. Aber die Struktur des Reichs war von Dauer.

Der entscheidende Schritt: Ablösung der Zhou und Gründung des Kaiserreichs Nachdem der letzte König von Zhou 256  v. Chr. ohne Thronfolger gestorben war, verleibte Qin sich das Zhou-Kerngebiet mit der Hauptstadt Luoyang ein. Dies war ein Ereignis mit großer symbolischer Wirkung. Die bisherige Weltordnung, die auf der Zhou-Dynastie als einem virtuellen Zentrum basiert hatte, war endgültig Geschichte. König Zhaoxiangs Urenkel, König Zheng, setzte den bereits seit einem Jahrhundert laufenden Prozess der Reichserweiterung fort und gründete nach nur 15 Jahren seiner Regierungszeit das Kaiserreich. Den Bewohnern anderer Reiche stellte der QinHerrscher in Aussicht, sie zu seinen regulären Untertanen zu machen, statt sie als Menschen zweiter Klasse zu behandeln und auszubeuten. Nach der Vollendung der Vereinigung ordnete der Erste Kaiser sogar an, ein landesweites Fest zu feiern und den Abreibung einer Steleninschrift des Ersten Kaisers (10. Jahrhundert, Tusche auf Papier). Die Inschrift ist in der offiziellen Schrift des Qin-Reichs, der sogenannten Siegelschrift, verfasst.

23 Der entscheidende Schritt: Ablösung der Zhou und Gründung des Kaiserreichs

„Konfuzianer“, das heißt Konfuzius als geistliches Vorbild verehrende Gelehrte, handelte. Allerdings formierten sich Konfuzianer als Gruppe erst während der Han-Zeit. Qins Verfolgungskampagne sollte schlicht sämtliche Kritiker der kaiserlichen Politik mundtot machen. Die Verschwendung von Steuereinnahmen und die Ausbeutung von Arbeitskräften in größenwahnsinnigen Bauprojekten, zum Beispiel beim Bau der gewaltigen kaiserlichen Grabanlage, schwächten die Wirtschaft und erschöpften die Geduld der Menschen. „Das Gefährt und das Schiff“ des Qin-Regimes geriet ins Wanken und steuerte nach dem Fahrerwechsel schnell in Richtung Abgrund.

Dienstgrad jedes Einzelnen anzuheben. Damit wollte er signalisieren, dass ein Zeitalter des Friedens angebrochen sei. Auch wenn das Programm der Kaiserreichsgründung für „Schwarzköpfige“ viele Vorteile brachte, war seine Umsetzung von zahlreichen Fehltritten und roher Gewalt begleitet. 213  v. Chr. wurde zum Beispiel der private Besitz historischer und philosophischer Schriften untersagt. Verfolgten die Qin systematisch AnKonfiszierte Kopien verbotehänger des Konfuzius? Diese Darner Bücher wurden verbrannt, stellung aus der späten Kaiserzeit mehrere Dutzend namentlich zeigt die Verbrennung von Büchern nicht bekannte Gelehrte wurden hingerichtet. und die Tötung von Gelehrten am Qin-Hof. Die Han gaben sich dageSpätere Historiker behaupgen als Förderer des Konfuzianismus. teten, dass es sich dabei um

Nach dem frühen Tod des Ersten Kaisers wird die Macht schnell verspielt Bald nachdem der Kaiser vom Berg Kuaiji herabgestiegen war, erkrankte er und starb. Auch mit seinem Tod ahmte er ungewollt das Vorbild des Großen Yu nach: Dieser starb ebenfalls kurz nach der Versammlung am Kuaiji und wurde dorthin zur Bestattung gebracht. Die Begleiter des Kaisers brachten ihn für die Beerdigung in die Hauptstadt Xianyang zurück. Dabei wählten sie nicht den kürzesten Weg, sondern verheimlichten seinen Tod und setzten die Reise entlang der ursprünglich geplanten Route über Nordchina fort. Seinen Leichnam transportierten sie in einem Gefährt mit verschlossenen Fenstern. Um den unvermeidlichen Geruch zu überdecken, luden sie auf seinen Wagen Fässer mit gesalzenem Fisch. So gewannen sie die Zeit, den rechtmäßigen Thronfolger mit gefälschten Briefen zum Selbstmord zu zwingen und nach ihrer Rückkehr einen anderen Prinzen, Huhai, als Zweiten Kaiser (209 – 207 v. Chr.) einzusetzen. Unter dem Einfluss dieser korrupten Berater errichtete der Zweite Kaiser eine Schreckensherrschaft, die in einen fünfjährigen Bürgerkrieg mündete und ihn selbst und seinen Sohn Zi Ying (206  v. Chr.) das Leben kostete. Der erste Versuch, ein einheitliches China zu schaffen, war nach nur 15 Jahren gescheitert. 209  v. Chr. stiftete ein einfacher Bauer namens Chen She (gest. 208  v. Chr.) Frondienst leistende Landleute im Süden zum Aufstand an und rief sich zum König von Chu aus. Seine schnell wachsende, nur mit Holzknüppeln bewaffnete Bauernarmee stürmte Verwaltungseinrichtungen und tötete Beamte. Diese waren als Steuereintreiber, Richter und Rekrutierer bei den gemeinen Leuten verhasst.

24 Die neue Weltordnung

Aufgrund seiner eigenen Grausamkeit verlor Chen She allerdings bald die Unterstützung der Bevölkerung. Mittlerweile behaupteten sich weitere Rebellenanführer als selbsternannte Könige. Einige von ihnen strebten nach mehr – das Beispiel von Qin regte zur Nachahmung an. Besonders aussichtsreich waren die Bestrebungen von Xiang Liang (gest. 208 v. Chr.) und seinem Neffen Xiang Yu (gest. 202 v.  Chr). Sie gehörten zur Familie eines berühmten Generals aus Chu und lebten nahe dem Berg Kuaiji. Sie hatten den Ersten Kaiser bei seiner letzten Inspektionsreise beobachtet und sich vorgenommen, selbst einmal die Macht zu übernehmen. Nach Xiang Liangs Tod arbeitete Xiang Yu allein an diesem Ziel. Im Jahr 206  v. Chr. eroberte er mit Hilfe seines Verbündeten Liu Bang die Hauptstadt Xianyang, setzte sie in Brand und ließ den letzten

Auf einer Steinstele am Berg Kuaiji Qin-Herrscher töten. Er wagte es jedoch nicht, sich selbst zum Kai(Malerei auf Seide, 18. Jahrhundert ser zu krönen, und begnügte sich oder später) hinterließ der Erste mit dem Titel „Hegemonialkönig Kaiser eine programmatische Botvon Chu“. Den Rest des ehemalischaft: „Die Nachkommen werden gen Qin-Reichs überließ er 18 verdiese Ordnung respektvoll überbündeten „Königen“ und zog sich nehmen …“ in den Süden zurück. Nachdem er sich mit Liu Bang, nun König von Han, zerstritten hatte und bei einer Auseinandersetzung im Jahr 202  v. Chr. von dessen Truppen eingekesselt worden war, nahm er sich das Leben. Liu Bang gelang es dagegen, innerhalb weniger Jahre den Großteil der vom Qin-Kaiserreich beanspruchten Gebiete wieder zu vereinigen und die Han-Dynastie (202 v.  Chr. – 220  n. Chr.) – die langlebigste aller Kaiserdynastien – zu gründen.

25 Nach dem frühen Tod des Ersten Kaisers wird die Macht schnell verspielt

Die Han-Dynastie verdammt ihre Vorgänger, knüpft aber an deren Strukturen an Dass Qin Shi Huangdis Sohn Huhai das politische Erbe seiner Vorfahren in kürzester Zeit verspielt hatte, war offenbar ein tragischer Zufall gewesen, denn die vom Ersten Kaiser geschaffenen Strukturen erwiesen sich als extrem widerstandsfähig und sicherten der nachfolgenden Han-Dynastie einen langen Fortbestand. Überhaupt blieb die vom Ersten Kaiser konzipierte, völlig neue politische Ordnung über die nächsten 2100 Jahre bestimmend. Der Begründer der Han-Dynastie Liu Bang, der aus einfachen Verhältnissen stammte und zwar militärisches Talent, aber keine Regierungserfahrung besaß, schickte sich an, aus dem Erbe des Ersten Kaisers Kapital für sich zu schlagen. An dieser Stelle ist anzumerken, dass weitere Han-Herrscher es sehr gut verstanden, loyale Gelehrte zu engagieren, um die Han in ihren Propagandaschriften als vollkommenes Gegenteil der gefallenen Qin-Vorgänger erscheinen zu lassen. Die seit der Regierungszeit des Kaisers Wen (des „Musterhaften“, 180 –157  v. Chr.) nun staatlich geförderten Konfuzianer trugen dazu enthusiastisch bei. Daher wurden die Han und nicht die Qin jahrtausendelang als Begründer der kaiserlichen Weltordnung verehrt, während die Qin als die Verkörperung des Bösen verachtet wurden. Die Qin hatten ihren Fürstensitz achtmal verlegt und rückten somit aus ihrer westlichen Abgeschiedenheit immer näher an die Reiche der Mitte. Von 677 bis 384 v. Chr. residierten sie in Yongcheng (heute Fengxiang) rund 150 Kilometer westlich von Xi’an. Dort fanden Archäologen eine fast rechteckige, teilweise mit einem Stadtwall aus gestampfter Erde umfasste Stadtanlage mit einer Fläche von etwa zehn Quadratkilometern. Vier Nord-Süd- und vier Ost-West-Straßen teilten sie in rechteckige Viertel. In ihrer nordwestlichen Ecke lag ein ummauerter Marktplatz. Neben den Fundamenten von ursprünglich im Fachwerk gebauten, ummauerten Palastkomplexen mit mehreren Innenhöfen fand man zahlreiche keramische Traufziegel mit Tiermotiven und verzierte Bronzeverkleidungen für massive Holzbalken. Diese

Staatlich gesteuerte Migration trug zum Wohlstand der Qin- und Han-Reiche bei (Steppenreiter aus gebranntem Ton, 4. bis 3. Jahrhundert v. Chr.).

Funde zeugen vom anspruchsvollen Geschmack und hohen Lebensstandard der frühen Qin-Elite. Das von Herzog Xiao etwa 350  v. Chr. gegründete Xianyang lag am Zusammenfluss von Wei und Jing, besaß keine Umfassungsmauer und dehnte sich rund 7,2 Kilometer in ost-westlicher und etwa 6,7 Kilometer in nord-südlicher Richtung aus. Die um einen festen Kern aus Stampferde gebauten Paläste erweckten den Anschein von mehrstöckigen Gebäuden. Gemalte Szenen aus dem höfischen Leben und abstrakte Muster verzierten ihre Wände, vergoldete Scharnie-

Frühes Zeugnis des hohen Lebensstandards der QinHauptstadt Yongcheng: Traufziegel aus gebranntem Ton, verziert mit Tiermotiven (Hirsch, Kröte, Hund, Gans; 5. bis 4. Jahrhundert v. Chr.).

26 Die neue Weltordnung

re aus Bronze öffneten die Türen. Gebrannte Tonfliesen mit geometrischen Pressmustern verkleideten die Fußböden, Traufziegel mit glückverheißenden Motiven schmückten die Dächer. Nach der Kaiserreichsgründung ließ der Erste Kaiser Hunderte weitere Paläste und Hallen, darunter auch Modelle von Palästen aus den unterworfenen Reichen, um Xianyang herum bauen. Südlich des Wei sollte zudem ein gigantischer Palast entstehen, dessen Vorhalle bis zu 10 000 Gäste aufnehmen sollte. Die Bauarbeiten wurden jedoch nach der Fertigstellung des Fundaments abgebrochen. Nachdem Liu Bang sich zum Han-Kaiser hatte ausrufen lassen, plante er, in die alte östliche ZhouHauptstadt Luoyang einzuziehen. Man riet ihm davon ab, sich mit der Zhou-Dynastie zu messen, und empfahl, von Qins vorteilhafter geographischer Lage Gebrauch zu machen. Statt das von Xiang Yu niedergebrannte Xianyang wiederaufzubauen, gründete Liu Bang seine Hauptstadt Chang’an („Der Ewige Frieden“) auf der gegenüberliegenden, südlichen Seite des Wei-Flusses. Dort errichtete man schnell die ersten Palastanlagen auf den Fundamenten ehemaliger Qin-Paläste. Chang’ans nach Himmelsrichtungen orientierte, 35 Quadratkilometer große Stadtanlage wurde mit einer Mauer umgeben und von je acht Nord-Süd- und Ost-West-Straßen durchzogen. In ihrer nordwestlichen Ecke befanden sich zwei Märkte mit permanent überdachten Ständen. Weitere, im Lauf einiger Jahrzehnte erbaute Paläste nahmen insgesamt fast zwei Drittel der Stadtfläche ein. 160 Wohnbezirke im übrigen Drittel beheimateten Bewohner mit unterschiedlichem Status. Die Ortswahl für die Hauptstadt war eine wichtige Voraussetzung für den schnellen Erfolg der Han-Dynastie. Fast im Handumdrehen konnten sich die Han das administrative System der Qin zu eigen machen. Das Netzwerk der von den Qin angelegten, erst auf Xianyang und nun auf Chang’an zentrierten Schnellstraßen gewährleistete eine reibungslose Kommunikation zwischen dem Zentrum und der Peripherie. Die von den Qin begonnenen Bewässerungsmaßnahmen und Wasserbauprojekte sicherten die Versorgung Chang’ans. Um die Stadt herum und entlang dem Wei-Fluss baute man riesige, vor Wasser, Schimmel, Nagern und Dieben geschützte Speicher, in denen das Getreide lagerte, das die Bevölkerung als Steuern entrichtete. Mit der Zeit mussten neue Speicherseen, Transportkanäle und Lagervorrichtungen ge-

baut werden, um die wachsende Metropole mit frischem Wasser und Lebensmitteln zu versorgen: Zum Ende der Westlichen HanZeit (202  v. Chr. – 9  n. Chr.) zählte Chang’an eine Million Einwohner, eine weitere Million lebte im näheren Umland.

Zum Ende der Westlichen Han-Zeit (9  n. Chr.) war Chang’an zu einer Großstadt mit fast einer Million Einwohnern herangewachsen. Rings um die Stadt gab es zahlreiche Lebensmittellager (Tonminiatur eines Getreidespeichers, 25 bis 220  n. Chr.).

Ein in drei Ebenen gegliedertes Reich und ein System des Verdienstadels Die administrative Struktur des Qin-Reichs bestand aus drei Ebenen: Das waren die direkt dem Kaiser untergeordnete Zentralregierung in der Hauptstadt sowie die „Kommanderien“ und die Kreise. An der Spitze der Verwaltung standen die „Drei Exzellenzen“ – der Reichskanzler (leitender Beamter und Stellvertreter des Kaisers in dessen Abwesenheit), der Kaiserliche Sekretär und der Oberkommandant. Die „Neun Minister“ waren für folgende Bereiche zuständig: Steuereinnahmen, Handwerksbetriebe, Getreidespeicher, Verkehrsmittel des Kaisers und der Armee, kaiserliche Garde, Kaiserpaläste, Empfang von Staatsgästen sowie Entscheidung strittiger Rechtsfälle aus dem ganzen Reich. Das Qin-Reich war in etwa 40 „Kommanderien“ gegliedert. Diese wiederum bestanden aus Kreisen unterschiedlicher Größe und Bevölkerungsdichte –  zwischen 5000 und 50 000 Einwohnern. Jede „Kommanderie“ unterstand einem zivilen Gouverneur. Ihm standen ein Inspektor und ein Kommandant für militärische Angelegenheiten zur Seite. In einem Kreis

27 Ein in drei Ebenen gegliedertes Reich und ein System des Verdienstadels

kamen zugleich Nobilitätsränge wie „König“ (wang) oder Fürst (hou, oft als Marquis übersetzt). „Kommanderien“ und Königreiche bildeten zwei unterschiedliche Verwaltungsgebiete. „Kommanderien“ befanden sich meist im Westen und im Norden. Aus ihnen wurden einige Bereiche in der Größe von Kreisen als Fürstentümer ausgegliedert. Königreiche waren größer als Fürstentümer und lagen meistens im Osten und im Süden, weiter von der Hauptstadt entfernt. Könige und Fürsten konnten ihre Lehen weitervererben und besaßen viele Freiheiten. Mit der Zeit ließ ihre Loyalität gegenüber dem Kaiserhof nach. Der Versuch, ihre Autonomie einzugrenzen, löste 154 v. Chr. die „Rebellion der sieben Könige“ aus. Kaiser Jing (der „Grandiose“, 157–141  v. Chr.) schlug den Aufstand nieder und ließ die Anführer der Separatisten hinrichten. Die Königreiche wurden in der Folge verkleinert und einer stärkeren Kontrolle durch das Zentrum unterworfen. Sie komplett abzuschaffen kam nicht in Frage: Die Belehnung blieb das effizienteste Mittel, verdiente Militärs und kaiserliche Prinzen zufriedenzustellen. Unter Kaiser Wu (dem „Kriegerischen“, 141– 87 v. Chr.) erreichte das Han-Reich seine maximale Ausdehnung: bis nach Dunhuang im Nordwesten, bis nach Nordkorea im Nordosten, bis nach Vietnam im Süden. In allen diesen Gebieten wurden „Kommanderien“ mit vom Zentrum aus entsandten Beamten etabliert. Eine weitere Han-Neuerung war die Einrichtung von Protektoraten in von nicht-chinesischen Völkern besiedelten Gebieten im Norden. Sie dienten als Puffer zwischen dem Han-Reich und insbesondere dem nördlichen Großreich der Xiongnu, das sich um etwa 200  v. Chr. gebildet hatte. Diese mobilen Viehzüchter und Reiterkrieger hatten bereits lange vor der eigenen Reichsgründung die nördlichen frühchinesischen Königreiche und später das Qin-Kaiserreich herausgefordert. Um sie fernzuhalten, errichtete man in der Zeit vom 4. bis zum 3. Jahrhundert v. Chr. mehrere „Lange Mauern“. Der Erste Kaiser baute diese später zu einem zusammenhängenden Bollwerk aus. Die Han dehnten den Mauerbau insbesondere im Nordwesten aus. Handschriftliche administrative Dokumente auf Holztäfelchen aus Grabungen bei einigen Han-Grenzstationen zeugen von einer routinierten Kontrolle der Reichsgrenzen aus der Hauptstadt. Der Mauerbau zielte nicht auf die komplette Abschottung, sondern auf die Regulierung des Grenzverkehrs.

war der Präfekt für Verwaltung, Wirtschaft, Steuereinnahmen und Jurisprudenz zuständig. Ihm unkontinuierlich. Er herrschte 54 terstanden ein Kommandant, ein Jahre lang, von 141 bis 87  v. Chr. Assistent und verschiedene Angestellte, insbesondere Schreiber, die alle Abläufe sorgfältig dokumentierten. Die administrative Organisation des Qin-Reichs wurde während der Han-Zeit weitgehend beibehalten. Die Struktur der Zentralregierung blieb beinahe unverändert, und zwar weit über das Ende der Han-Dynastie hinaus. Das Reich bestand nun aus etwa 100 kleineren „Kommanderien“ bzw. rund 1500 Kreisen. Zu Beginn der christlichen Zeitrechnung verwalteten etwa 120 000 Zentral- und Lokalbeamte eine Gesamtbevölkerung von etwa 60 Millionen Menschen. Beamte erhielten ihren Lohn teils in Naturalien, teils in Münzen entsprechend ihrem Dienstgrad. Die Minister der Zentralregierung erhielten ein Äquivalent von 2000 Scheffeln (à 13 Liter) Getreide pro Jahr, Beamte der untersten Stufe bezogen 100 Scheffel (das Existenzminimum lag bei etwa 18 Scheffeln pro Jahr). Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Qinund dem Han-Reich bestand darin, dass zu Beginn der Han-Dynastie gelegentlich als Belohnung für Verdienste Lehen verteilt wurden. Ihre Inhaber beKaiser Wu, genannt der „Kriege-

rische“, erweiterte das Han-Reich

28 Die neue Weltordnung

Qin und Han setzen auf eine überregional organisierte Rechtsprechung

ten sich mit der Regulierung administrativer Abläufe. Dabei ging es unter anderem um die Durchführung und Dokumentation von Ermittlungen, die Ernennung, Beförderung und Besoldung von Beamten, die Organisation der Landwirtschaft oder die Versorgung von Bediensteten und staatlichen Leibeigenen. Strafen dienten entsprechend den frühchinesischen Rechtsvorstellungen zur Abschreckung. Dieses Prinzip wurde auch in den von Konfuzianern hochgeachteten kanonischen Schriften deutlich geäußert. Entsprechend dem Qin-Han-Recht galten Hochverrat, Mord, Fälschung des kaiserlichen Siegels oder Falschmünzerei als Kapitalverbrechen. Raub, Diebstahl, geplanter, aber nicht ausgeführter Mord, das Verprügeln eines Beamten höheren Dienstgrads, falsche ZeugenIn solchen Manuskripten auf Bamaussage im Fall eines Kapitalverbusstreifen wurden die Statuten brechens und eine Reihe weiterer und Präzedenzfälle des frühchinesiDelikte wurden mit Zwangsarbeit schen Rechts festgehalten. Vergleisowie mit der Freiheitsstrafe – der che zeigen, dass die Han ihre GesetLeibeigenschaft – geahndet. ze stark an die der Qin anlehnten.

Die traditionelle Geschichtsschreibung bewertete die Qin-Dynastie stets negativ – nicht nur wegen ihrer Willkür gegenüber „Konfuzianern“, sondern auch wegen ihrer angeblich „drakonischen“ Gesetze und Strafen. Schuld an dieser Härte trugen danach die oft als „Legalisten“ bezeichneten Denker mit einer realpolitischen Ausrichtung, zu welchen insbesondere Shang Yang und der Kanzler des Ersten Kaisers, Li Si (um 280 –208  v. Chr.), gezählt wurden. Han-Kaiser genossen dagegen sowohl als Förderer des Konfuzianismus als auch als Garanten einer humanen Gesellschaftsordnung ein hohes Ansehen. Dabei waren die Gesetzbücher sowohl von Qin als auch von Han lange verschollen, so dass der Vergleich der beiden Rechtssysteme spekulativ blieb. Der erste Durchbruch in der Erforschung der Geschichte des frühchinesischen Rechts ereignete sich 1976, als Archäologen aus dem Grab eines im Jahr 217  v. Chr. verstorbenen Qin-Beamten eine Sammlung von Manuskripten auf Bambusstreifen bargen. Unter anderem fanden sich dort Abschriften aus den Qin-Statuten sowie Anleitungen zur korrekten Gesetzanwendung anhand konkreter Präzedenzfälle. Vermutlich nutzte der Grabbesitzer diese zu seinen Lebzeiten für Dienstzwecke. Auf diese Entdeckung am Ort Shuihudi bei Yunmeng folgte 1983 ein weiterer Grabfund in Zhangjiashan in Jingzhou, ebenfalls in der heutigen Provinz Hubei. Dort fand man 27 Han-Statuten aus dem Jahr 196  v. Chr. und eine Sammlung von Präzedenzfällen. 20 Qin-Statuten und eine weitere Präzedenzfallsammlung aus einer Raubgrabung an einem unbekannten Ort gelangten 2007 in die Sammlung der Yuelu-Bibliothek der Universität von Changsha, Provinzhauptstadt von Hunan. Diese und weitere ausgegrabene Dokumente, wie insbesondere Verwaltungsakten und Bevölkerungsregister aus Liye, dem Sitz einer Qin-Kommanderie im heutigen Hunan, ermöglichen heute eine fundierte Forschung und einen direkten Vergleich zwischen dem Qin- und dem HanRecht. Auffällig ist dabei eine große Kontinuität zwischen den beiden: Nicht nur Titel und Inhalte der meisten Statuten stimmen überein, sondern die Texte vieler Paragraphen des frühen Han-Kodexes stellen auch überarbeitete Versionen von Qin-Vorlagen dar. Strafgesetze bildeten nur einen kleinen Teil der Qinund Han-Gesetzkodizes. Die meisten Statuten befass-

29 Qin und Han setzen auf eine überregional organisierte Rechtsprechung

Die härtesten Strafarbeiten waren der Mauerbau für Männer und talen Grabanlage des Ersten Kaisers. das Getreidedreschen für Frauen. Leichtere Arbeiten unterschieden Das Kaisergrab wurde bisher nicht sich ebenfalls nach Geschlecht geöffnet. So sollen Zerstörungen und Alter. Als unbeschränkt strafverhindert werden. mündig galten Personen zwischen 17 und 70 Jahren. Alte und Minderjährige wurden milder bestraft und manchmal verschont. Ankläger über 70 mussten zur Anhörung dreimal erscheinen, um ihre Zurechnungsfähigkeit nachzuweisen. Verurteilten Strafarbeitern wurden in der Regel Haare und Bart abrasiert, um sie als Unfreie zu kennzeichnen. Während der Qin- und der frühen Han-Zeit waren Zwangsarbeiten oft mit Körper- und Verstümmelungsstrafen gekoppelt. Am häufigsten wurden Straftäter im Gesicht tätowiert. In schweren Fällen drohte die Amputation des linken Fußes oder beider Füße. Bei Wiederholungstätern kamen Nasenamputation oder sogar Kastration zum Einsatz. Auf Sexualdelikte stand ebenfalls die Strafe der Kastration.

Kaiser Wen ersetzte 167  v. Chr. die Verstümmelungstrafen in den meisten Fällen durch Prügelstrafen. Für manche Delikte war die Verbannung in entfernte Gebiete vorgesehen. Typische Strafen für Beamte waren die Entlassung aus dem Amt und die Herabstufung des Dienstgrads. Sowohl zur Han- als auch bereits zur Qin-Zeit war es manchmal möglich, die Todesstrafe in eine Arbeitsstrafe umzuwandeln oder sich freizukaufen. Ausgegrabene Präzedenzfallsammlungen belegen die komplexe überregionale Organisation der Rechtsprechung. Von Kreisbeamten als uneindeutig bewertete Rechtsfälle wurden ausführlich protokolliert, um den Behörden der „Kommanderien“ darüber zu berichten. Falls diese ebenfalls zu keiner Entscheidung kamen, bereiteten sie eine Mappe mit vergleichbaren Präzedenzfällen vor und leiteten sie an den Justizminister weiter. Dieser begründete ein Urteil und reichte es als Throneingabe weiter. Der folgende kaiserliche Beschluss wurde der „Kommanderie“ und von dort dem Kreis mitgeteilt. Dieser Prozess nahm eine ge-

Die weltberühmte Terrakottaarmee

liegt im Außenbezirk der monumen-

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wisse Zeit in Anspruch. Ein Angeklagter konnte hoffen, inzwischen unter die nächste allgemeine Amnestie zu fallen und so aus der Haft entlassen zu werden oder zumindest eine Strafminderung zu erlangen.

krönt, die Beigabengruben mit mehreren hundert – nun allerdings verkleinerten – Tonfiguren von Kriegern, Beamten, Hofdamen und Nutztieren gefüllt. Verdiente Würdenträger genossen das Privileg, nach ihrem Ableben in der Nähe des Kaisergrabs bestattet zu werden. Außerdem wurden Zehntausende Menschen aus entfernten Regionen aufgerufen, in die neuangelegten „Mausoleumstädte“ umzuziehen, um den verstorbenen Herrschern „Ehre zu erweisen“. Das bedeutete: die Grabanlagen zu pflegen und dort Rituale auszuführen. Die Umsiedlungskosten wurden vom Staat getragen. Der politische Zweck dahinter war es, die Regionen zu schwächen und die Hauptstadt zu stärken. Neben den eigenen, historisch belegten Ahnen verehrten die Qin- und Han-Herrscher legendäre Urahnen bzw. UrSima Qian (145 – 90  v. Chr.) schrieb kaiser. Qin-Fürsten errichteten die erste allgemeine Geschichte Chinas seit der Urzeit und berichtete als in der bergigen Umgebung von Chronist über die frühe Kaiserzeit. Yongcheng Opferaltäre für die

Die Grabanlage des Ersten Kaisers setzt eine Tradition fort Ähnlich wie die frühen Shang- und Zhou-Könige wurden auch die verstorbenen Fürsten, Könige und Kaiser der Qin- und der Han-Dynastie von ihren Nachkommen als Ahnen verehrt und als mächtige Beschützer ihrer Reiche angesehen. Ahnentempel in und bei den Hauptstädten sowie Herrschergräber galten als wichtige Orte der Staatsreligion. Als die QinFürsten noch in Yongcheng residierten, lag der Fürstenfriedhof in einem geräumigen ummauerten Bezirk südlich der Stadt. Nach dem Umzug nach Xianyang wurden die Orte für Mausoleen in der umliegenden Landschaft einzeln ausgesucht. Einige lagen auf der nördlichen Hochterrasse des Wei, andere befanden sich weiter südlich im Vorland des Qinling-Gebirges. Dazu gehört auch die weltberühmte Grabanlage des Ersten Kaisers. Der Historiograph Sima Qian (145 – 90  v. Chr.), Vater der chinesischen Geschichtsschreibung, hat dieses tief unter der Erde liegende, ihm nur vom Hörensagen bekannte Grab beschrieben: Es sei als eine sagenhafte Zauberwelt ausgemalt – mit Flüssen und Meeren aus Quecksilber und Sternbildern an der Decke. Der über der Kammer aufgeschüttete pyramidenförmige, bewaldete Grabhügel ragt heute noch fast 80 Meter empor. Zwei rechteckige Mauerwerke aus gestampfter Erde umfassen den Hügel und teilen den rund zwei Quadratkilometer großen Grabbezirk in Innen- und Außenbereiche. Die 1974 von Bauern zufällig entdeckten Gruben der Terrakottaarmee liegen etwa 1,2 Kilometer östlich der Außenmauer. Schätzungsweise beinhalten die drei nebeneinander liegenden Gruben mehr als 6000 überlebensgroße und mit echten Waffen – Dolchäxten, Schwertern, Streitbögen und Armbrüsten – ausgestattete Kriegerfiguren aus gebranntem Ton. Nur ein Viertel davon ist ausgegraben. Weitere Gruben enthalten Figuren, die für zivile Rollen stehen: Beamte, Schausteller und Musikanten. Die Gräber der verstorbenen Han-Kaiser und -Kaiserinnen liegen im selben Gebiet wie die der QinKönige und -Königinnen, allerdings in einer gewissen Distanz zum Grab des Ersten Kaisers der Qin. Ihre Grabanlagen sind ebenfalls von Erdhügeln be-

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fünf Gott-Ahnen bzw. „Kaiser“ der fünf Himmelsrichtungen: den Weißen Kaiser des Westens, den Roten Kaiser des Südens, den Schwarzen Kaiser des Nordens, den Blauen Kaiser des Ostens und den Gelben Kaiser der Mitte. Zwei dieser Opferstätten wurden vor kurzem archäologisch untersucht. Auf einer Hügelkuppe etwa zehn Kilometer entfernt vom antiken Yongcheng legten Archäologen eine Erdplattform mit der Sicht auf den höchsten Gipfel der nächsten Bergkette frei. An Hängen ringsum fand man zahlreiche Opfergruben mit Überresten geschlachteter Pferde, Schafe und Schweine sowie mit weiteren Opfergaben wie Wagen, Waffen und rituellen Jadeutensilien. Diese Objekte stammen aus der Qin- und HanKaiserzeit. Sima Qian zufolge behielt Yongcheng nach der Verlegung der Qin-Hauptstadt nach Xianyang seine Bedeutung als sakrales Zentrum. Der Erste Kaiser führte dort mehrfach Opferriten aus. Han-Kaiser frequentierten Yongcheng aus demselben Grund. Weitere heilige Orte befanden sich in viel größerer Entfernung und waren nur erreichbar, wenn diese Gebiete von der Hauptstadt sicher kontrolliert wurden. Die Reisen des Ersten Kaisers von Qin und des Kaisers Wu von Han für die Opferriten für Himmel und Erde am Berg Taishan in Ostchina waren daher gleichzeitig ein Ausdruck ihrer umfassenden Macht. Laut Sima Qian waren sowohl der Erste Kaiser als auch Kaiser Wu neben ihren staatstragenden religiösen Verpflichtungen stets auf persönliche, durch rituelle Handlungen und Zaubermittel erreichbare Vorteile bedacht: Langlebigkeit oder, im Idealfall, Unsterblichkeit. Der Erste Kaiser entsandte sogar eine Expedition ins Gelbe Meer auf die Suche nach den mythischen Inseln der Unsterblichen. Die Schiffe kamen nie zurück. Kaiser Wu umgab sich mit allerlei Schamaninnen, Wahrsagern, Geomanten (Weissager, die sich an Mustern in der Erde oder in Steinen orientieren) und anderen „Experten“. Auf ihren Rat hin errichtete er in Chang’an und an anderen Orten Hallen, Terrassen und Türme, um eine direkte Verbindung zum Himmel aufzubauen sowie Geister und Unsterbliche anzuziehen. Diese Bestrebungen beschrieb Sima Qian mit schlecht verstecktem Sarkasmus. Damit rächte er sich offensichtlich an Kaiser Wu als seinem Peiniger: Nachdem Sima ein kaiserliches Urteil in Frage gestellt hatte, war er zum Tod verurteilt worden. Die Hinrichtung wurde durch Kastration ersetzt, und so konnte Sima sein monumentales historisches Werk noch vollenden.

Neben seinen esoterischen Experimenten unterstützte Kaiser Wu mit aller Kraft den Konfuzianismus und kanonisierte die fünf antiken, von Konfuzianern als Quintessenz der Weisheit und der Moral angesehenen Schriften (oft als „Klassiker“ bezeichnet). Die „Klassiker“ verstetigten das Gedenken an die legendären Urkaiser Yao, Shun und den Großen Yu sowie an die Begründer der Dynastien der Shang und der Zhou. Dieses Gedenken wurde zu einem wichtigen Bestandteil der Staatsreligion. Zudem regelten die „Klassiker“ den Ablauf von Ahnenriten und anderen Ritualen auf unterschiedlichen Gesellschaftsebenen. Als Pflichtlektüre für gebildete Schichten für die nächsten zwei Jahrtausende hatten die „Klassiker“ für die chinesische Zivilisation eine Bedeutung, die mit der Bedeutung der Bibel für den christlichen Westen vergleichbar ist. Die Auslegung der „Klassiker“ als Anleitung für gegenwärtiges politisches Handeln bescherte der Han-Dynastie eine schwere Krise. Ein durch sein Studium der „Klassiker“ qualifizierter Höfling namens Wang Mang (46  v. Chr. – 23  n. Chr.) avancierte zum offiziellen Lehrer eines jungen Kaisers und übernahm faktisch die Regierungsgeschäfte. Nach dem Tod seines kränklichen Schülers ließ er zunächst ein Baby als Kaiser einsetzen und leitete daraufhin die Abdankung des Säuglings zu seinen Gunsten ein. Mehr als ein Jahrzehnt regierte Wang Mang als der einzige Kaiser der „Neuen“ (Xin) Dynastie (9 – 23). Er trieb die Reorganisation der Gesellschaft nach historischen Vorbildern und konfuzianischen Werten voran. Doch seine Reformen – etwa die Umverteilung des Grundeigentums – stießen auf den Widerstand der Elite. Gleichzeitig führten Naturkatastrophen zu Unruhen. Während Wang Mang gerade versuchte, mit Hilfe eines magischen Rituals die Götter herbeizurufen, metzelten Rebellen seine Wache nieder und töteten anschließend auch ihn. Erst zwei Jahre später konnte die Han-Dynastie – nun mit dem Sitz in Luoyang, also als „Östliche Han“ – restauriert werden.

PD Dr. Maria Khayutina, geb. 1972, lehrt und forscht am Institut für Sinologie der Ludwig-MaximiliansUniversität München.

32 Die neue Weltordnung

Das chinesische Mittelalter

Die Mär von den „Barbaren“ Armin Selbitschka

Politische Zersplitterung und militärische Auseinandersetzungen prägten das chinesische Mittelalter. Dennoch war es eine Zeit kultureller und sozialer Vielfalt. Während sich die wechselnden Dynastien in der offiziellen Geschichtsschreibung stets strikt von den als Barbaren bezeichneten Machtkonkurrenten abgrenzten, verschmolzen die unterschiedlichsten Kulturen zu dem, was wir heute „China“ nennen. In den einstigen römischen In der Periode der „Drei Reiche“ (220 –  Provinzen im östlichen Mit280) dominierte die Wei-Dynastie den telmeerraum hingegen überNorden Chinas. Der hier abgebildete dauerte das sogenannte ByHerrscher Wen (eigentlich Cao Pi) überzantinische Reich bis weit ins nahm den Thron von seinem Vater und 15. Jahrhundert. Das ChristenDynastiegründer Cao Cao. tum dehnte sich dort ebenfalls zügig aus, entwickelte aber eine eigene, orthodoxe Lehre. Im Jahr 1453 eroberten die muslimischen Osmanen die byzantinische Hauptstadt Konstantinopel (Byzanz) und verdrängten damit die letzten Ausläu-

Das europäische Mittelalter beginnt gewöhnlich mit dem Zerfall einer Weltordnung im 6. Jahrhundert, deren kulturelle und politische Wurzeln in der griechisch-römischen Antike lagen. Der Anfang vom Ende war die Teilung des vormals übermächtigen Römischen Reichs im späten 4. Jahrhundert. Im heutigen Zentral-, Süd- und Westeuropa dominierten fortan diverse germanenstämmige Dynastien, etwa die Merowinger und Langobarden, das Geschehen. Bald machten sich diese zu Christen und sorgten damit für die rasche Verbreitung des Christentums in Europa.

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fer griechisch-römischer Traditionen. Im einstigen Westen des Römischen Reichs forderte Martin Luther die römiberichtet von den permanenten schen Kirche nur wenige Jahrzehnte Kämpfen dieser Zeit. Eine Illustration zeigt, wie Cao Cao, Grünspäter zu grundlegenden Reformen auf –  sein Thesenanschlag von 1517 und der der Wei-Dynastie, in einer die daraus folgenden AuseinandersetSchlacht vom legendären Kriezungen führten letztlich zur Spaltung ger Lu Bu verfolgt wird. der Kirche. Zusammen mit der Renaissance, der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern (1450) sowie der Entdeckung Amerikas (1492) zählen diese beiden Prozesse zu den entscheidenden Ereignissen, die das Ende des Mittelalters einläuteten und den Weg in die Neuzeit ebneten.

Reichs machten dem Kaiserhof der Östlichen Han (23 – 220) zunehmend zu schaffen. Landbesitz von Aristokraten und Händlern bedeutete vor allem eines: Steuereinnahmen. Je mehr Grund und Boden man besaß, desto mehr Reichtum konnte man anhäufen. Dies lief freilich auf den Rücken der Feldarbeiter ab, die derlei Ländereien beackern und dementsprechend Steuern ableisten mussten. So kam es seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts zu mehreren Aufständen, die im bäuerlichen Milieu ihre Wurzeln hatten. Zudem nutzten einige adlige Generäle die reichen Einkünfte aus ihren Ländereien zum Aufbau privater Streitkräfte. Drei dieser eigenständigen Machthaber wandten sich schließlich gegen die Zentralmacht. Ihr Handeln besiegelte den Untergang der Östlichen Han und läutete die politische Zerschlagung Chinas für mehr als 300 Jahre ein. In Nordchina behielten Cao Cao (155 – 220) und sein Sohn Cao Pi (186 – 226) mit der Ausrufung der Wei-Dynastie (220 – 265) die Oberhand. Im Südwesten etablierte sich die Shu-Han-Dynastie (221– 263), während im Süden und Südosten die Wu-Dynastie (220 – 280) für neue Verhältnisse sorgte. Die sogenannte Zeit der Drei Reiche (220 – 280) währte jedoch nur kurz. Mehrere Generationen von

Der Roman „Die Geschichte der Drei Reiche“ (14. Jahrhundert)

Dynastien kommen und gehen – mehr als 300 Jahre Zersplitterung Das europäische Mittelalter nahm also mit der Auflösung einer dominanten kulturellen und politischen Ordnung seinen Anfang und endete, als man sich in Europa vor allem intellektuell neue Horizonte erschloss. Ähnliche Zerfallserscheinungen lassen sich in China seit dem späten 2. und im 3. Jahrhundert beobachten. Großgrundbesitzer an den Rändern des

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Männern des Sima-Klans dienten den Herrschern der Cao-Familie der Wei-Dynastie. Sie gaben sich indes nicht lange mit den Rollen militärischer Befehlsempfänger zufrieden und häuften zusehends mehr Macht an. Letztlich warfen die Sima nicht nur die Shu-Han, sondern auch die Dynastien der Wei und der Wu über den Haufen und einten somit das chinesische Reich unter der Ägide ihrer Westlichen JinDynastie (265 –317). Aber auch deren Herrschaft dauerte nur wenig mehr als 50 Jahre. Ähnlich den letzten Jahrzehnten der Östlichen Han machten die Ambitionen lokaler Potentaten den Westlichen Jin den Garaus. Interne Querelen um die Vorherrschaft im Reich erleichterten es „barbarischen“, also ethnisch fremden Stämmen aus der nördlichen Steppe, zunächst die Hauptstadt Luoyang (311) und bald darauf die zweitwichtigste Stadt Chang’an (316) einzunehmen. Der Sima-Klan sah sich gezwungen, seinen Hof weiter in den Südosten zu verlegen und in seiner neuen Hauptstadt, dem heutigen Nanjing, die Östliche Jin-Dynastie (318 –420) auszurufen. Vergleichbar dem Römischen Reich, war China nun in zwei Teile zerbrochen. Einschließlich der Wu und der Östlichen Jin regierten südlich des Yangzi insgesamt sechs Dynastien, die sich jeweils als legitime Nachfolger der Han-Dynastien (der Westlichen sowie der Östlichen; 206  v. Chr. – 220) verstanden. Demzufolge ist diese Epoche als Zeit der Sechs Dynastien (220 – 589) bekannt. Im Norden hatten hingegen die „Sechzehn Reiche der Fünf Barbaren“ (304 – 439) und besonders die Nördliche Wei-Dynastie (386 – 534) das Sagen. Ethnisch gesehen waren die Herrscher der Nördlichen Wei sämtlich Mitglieder der Tuoba-Klans (alttürkisch: Tabgac), eines Zweigs der Xianbei (Särbi), die ursprünglich in der heutigen zentralen Inneren Mongolei zu Hause waren. Die „barbarischen“ Herrscher der „Sechzehn Reiche“ rekrutierten sich aus den Stämmen der Xianbei, Xiongnu, Qiang, Jie und Di, die als Reiternomaden die innerasiatischen Steppen im Süden des modernen Russland und im Norden der heutigen Volksrepublik China umherzogen.

Durch die Vernichtung der letzten der sechs südlichen Dynastien im Jahr 589 vereinte er China nach mehr als 300 Jahren Zersplitterung. Er ging schließlich als Kaiser Wen, Gründer der Sui-Dynastie (581– 618), in die chinesischen Geschichtsbücher ein. Die Geschichtsschreiber ihrerseits waren wenig nachsichtig mit seinem Sohn Yang Guang (569 – 618). Sie beschreiben den besser als Kaiser Yang bekannten Nachfolger Klassisches Muster des Machtwechvon Kaiser Wen als verschwendesels: Li Yuan, ein General der kurzrischen und rachsüchtigen Tyranlebigen Sui-Dynastie (581– 618), nen, der die noch junge Dynastie stürzte 618 den Herrscher und bald zugrunde richtete. Kostspiegründete die Tang-Dynastie, die lige Großprojekte wie der Bau des sich bis 908 halten konnte.

589 wird China wieder vereint: Die Tang-Dynastie herrscht bis ins 10. Jahrhundert Nach dem Ende der Nördlichen Wei erlebte Nordchina die kurzlebigen Herrschaften zweier weiterer Fremddynastien, denen General Yang Jian (541– 604) in den Jahren 577 und 581 jeweils ein Ende setzte.

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mächtig geworden sein, ließen die Geschichtsschreiber nichts unversucht, sie so chinesisch wie möglich aussehen zu lassen. Die vermeintlich wilden Fremden auf chinesischem Boden waren allesamt weitestgehend „sinisiert“, wie es heute landläufig heißt. Ein weiterer Nachteil der Geschichtswerke ist ihr vorrangiges Interesse an politischen und militärischen Prozessen. Wir erfahren also in erster Linie, wessen politische Karriere wann, wo und warum erfolgreich oder erfolglos verlief. Vom einfachen Volk ist meist keine Rede. Möchte man Lebensbereiche jenseits höfischer Ränkespiele kennenlernen, stehen glücklicherweise weitere überlieferte Schriftquellen zur Verfügung. Aus der Tang-Zeit erreichte uns beispielsweise der erste erhaltene Gesetzeskodex der chinesischen Geschichte. Obwohl dessen Inhalte teilweise modern anmuten – zum Beispiel sollten Falschurteile tunlichst berichtigt werden –, zielte er in erster Linie darauf ab, die Macht des Kaiserhofes aufrechtzuerhalten. Die am schärfsten geahndeten Verbrechen waren die Planung von Rebellionen, Volksverhetzung und Hochverrat. Die vorzüglich auf der Grundlage der konfuzianischen Klassiker ausgebildeten Beamten des höheren und höchsten Dienstes verbrachten ihre Tage nicht ausschließlich mit Staatsbelangen. Einige von ihnen widmeten sich nebenher der Dichtung, die im chinesischen Mittelalter ihre erste Blüte erlebte. Cao Pi, der erste Kaiser der Wei-Dynastie, tat sich mitunter als Chinas erster Literaturkritiker hervor. Laut seinem Werk „Erörterungen der Literatur“ sollten Throneingaben elegant, Grabinschriften wahrheitsgetreu und Gedichte ausgeschmückt sein. Tao Yuanming (365 – 427) war unter den südchinesischen Dynastien der Östlichen Jin und der LiuSong (420 – 479) aktiv. Er haderte mit seiner Position als Literat und Beamter in unruhigen politischen Zeiten und zog sich schließlich von seinem Posten zurück. Damit wurde er zum Paradebeispiel des Eremitendichters, der seine Vorliebe für Alkohol mehr als einmal in seinen Werken verewigte. Die Tang-Zeit produzierte mit Li Bo (701– 762), Du Fu (712 – 770) und Bo Juyi (772 – 846) gleich drei literarische Schwergewichte. Li Bo erlangte im 20. Jahrhundert auch außerhalb Chinas einigen Ruhm, nachdem Ezra Pound einige seiner Gedichte ins Englische übertragen und Gustav Mahler sechs davon in seinem „Lied von der Erde“ (1911) vertont hatte. Waren Li Bo und Du Fu unter ihresgleichen bekannt und geschätzt, avancierte Bo Juyi schon fast

Kaiserkanals zwischen Nord- und Südchina sowie mehr oder weniger erfolgreiche Feldzüge gegen die nordwestlichen und nordöstlichen Nachbarn der Sui wiegelten die Bevölkerung gegen ihn auf. Zu Fall brachte Kaiser Yang und die Sui-Dynastie allerdings erneut ein General aus dem eigenen Stall: Li Yuan (566 – 635) marschierte im Jahr 617 mit seinen Truppen in der Hauptstadt ein und erkor sich 618 zum ersten Kaiser der Tang-Dynastie (618 – 908). Sozialer Unfrieden versetzte auch ihr den Todesstoß, als verschiedene Generäle am Ende des 9. Jahrhunderts revoltierten. Mit ihr endete schließlich das chinesische Mittelalter. Die fundamentalen religiösen, wirtschaftlichen, ideologischen und politischen Umwälzungen der nachfolgenden Song-Dynastie (960 –1279) markieren den Beginn der Neuzeit in China. Sie brachten dieser Epoche außerdem die Bezeichnung als „chinesische Renaissance“ ein.

Literarische Blickwinkel ergänzen die offizielle Geschichtsschreibung Der vorangegangene Schnelldurchlauf durch die wechselhafte politische Geschichte des chinesischen Mittelalters basiert auf den Aufzeichnungen in insgesamt zwölf offiziellen Geschichtswerken verschiedener Dynastien, die in ihren modernen Fassungen mehr als 22 000 Seiten (etwa im Format DIN A 5) umfassen. Der Vorteil eines derart großen Textkorpus ist seine teilweise ungeheure Ausführlichkeit. Umgekehrt birgt die Art und Weise der chinesischen Historiker, Geschichte zu schreiben, einige Nachteile. Der Umstand, dass die nachfolgenden Dynastien die Chroniken ihrer jeweiligen Vorgänger veranlassten, war politisch motiviert. Sie mussten ihre eigene Herrschaft legitimieren, was schwerlich ohne Folgen für die Inhalte der Geschichtsbücher bleiben konnte. Wie das Beispiel des zweiten und letzten SuiKaisers andeutete, verkauften die Historiker Wachablösungen regelmäßig als Erlösungen von inkompetenten und despotischen Regimen. Bei derlei Beschreibungen mag einige Wahrheit mitschwingen, aber man kann sie nicht durchweg für bare Münze nehmen. Gleiches gilt für die Beschreibungen von Fremden. Ähnlich wie ihre griechischen und römischen Kollegen diffamierten chinesische Historiker Ethnien, die sie nicht zu den Han-Leuten (der absoluten Mehrheit der Menschen im gegenwärtigen China) rechneten, als unkultivierte, verrohte „Barbaren“. Sollten diese, wie etwa die Tuoba der Nördlichen Wei-Dynastie, wider Erwarten doch reichlich

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zum „Popstar“ seiner Zeit. Er hatte einige gehobene Posten inne und verfasste zugleich gut 2800 Gedichte. Seine Beliebtheit war so groß, dass man ihn sogar anheuerte, um Grabinschriften zu komponieren. Einige davon wurden in den vergangenen Jahren ausgegraben. Ob sie, wie Cao Pi im 3. Jahrhundert gefordert hatte, wirklich wahrheitsgetreu waren, lässt sich heute nicht beurteilen. Wie bei einem Autor vom Kaliber Bo Juyis nicht anders zu erwarten, waren sie jedenfalls sehr fein formuliert. Die mitunter bedeutendsten Texte des chinesischen Mittelalters stammen aus den Pinseln von buddhistischen Gläubigen. Der Mönch Faxian war nachweislich der Erste, der im Jahr 399 zu einer 15 Jahre dauernden Reise nach Indien aufbrach. Vermutlich gab es jedoch schon vor ihm andere Pilger seiner Art: Sie alle suchten besonders im Norden des indischen Subkontinents nach buddhistischen Lehrtexten (Sanskrit: Sutra, Sutren im Plural), die sie mit nach China bringen konnten. Die Menge dadurch verfügbarer Schriften setzte in China einen regelrechten Übersetzungsboom in Gang, der von chinesischen Gelehrten allein nicht zu bewältigen war. Einer der berühmtesten Übersetzer war ein Fremder: Der Tocharer Kumarajiva (344 – 413) kam 401 aus dem Oasenstaat Kuqa in der heutigen Autonomen Uigurischen Region Xinjiang (früher Ostturkestan) nach Chang’an (heutiges Xi’an), das einem der „Sechzehn Reiche der Fünf Barbaren“ – der späteren Qin-Dynastie (384 – 417) – als Hauptstadt diente. Der damalige Kaiser brachte Kumarajiva in einem seiner Parks unter und ermöglichte ihm und seinen Gehilfen auf diese Weise, mehr als 70 buddhistische Schriften, darunter die Lotos- und die Diamant-Sutren, zu übersetzen. Zudem waren die pilgernden Mönche oft selbst produktive Autoren, die ausführlich ihre Reisen dokumentierten. Ihre Berichte beschreiben Länder und Bräuche jenseits der chinesischen Kerngebiete, die in den chinesischen Chroniken nur sporadisch oder gar nicht zur Sprache kommen.

benswelten mittlerer und unterer Tao Yuanming (365 – 427) war BeGesellschaftsstufen können nur amter und Literat. Ähnlich wie anandere Quellengattungen bieten. dere Hochgebildete zog er sich vor An textlichen Quellen tun sich in dem Hintergrund der politischen dieser Hinsicht vor allem archäoWirren seiner Zeit ins Private zulogisch belegte Handschriften rück – dichtend und Wein trinkend. verschiedenster Genres hervor. Zu den frühesten mittelalterlichen Manuskripten zählen zum Beispiel Verwaltungstexte aus der Wu-Dynastie der Zeit der Drei Reiche. Die ungefähr 140 000 meist etwa 22 bis 29 Zentimeter langen und 1,2 bis 1,5 Zentimeter breiten Bambusleisten sowie etwas breitere Holztäfelchen wurden 1996 in einem Brunnen in Changsha, der Hauptstadt der modernen Provinz Hunan im zentralen Südchina, entdeckt. Die Dokumente decken einen Zeitraum von 220 bis 237 ab und geben detaillierte Informationen zu lokalen Verwaltungsstrukturen preis. Wir erfahren unter anderem, wie viel die örtlichen Beamten entsprechend ihren Rängen verdienten und was ihre jeweiligen Aufgaben waren. Das wichtigste war, einen präzisen Überblick über die Anzahl der Menschen im Landkreis zu bekommen. Minutiös geführte Register dokumentierten die Größe aller Haushalte, samt

Gefundene Register liefern wertvolle Informationen über die Steuerpflichtigen Es ließen sich noch zahlreiche andere literarische Genres auflisten, mit denen uns der Korpus der überlieferten Schriftquellen verwöhnt. Im Großen und Ganzen teilen sie alle eine Eigenschaft: Sie sind die Früchte der Arbeit einer höchst gebildeten intellektuellen (und, wie das Beispiel der Dichter belegt, oft auch politisch aktiven) Elite. Einblicke in die Le-

37 Gefundene Register liefern wertvolle Informationen über die Steuerpflichtigen

Alter und Geschlecht aller Familienmitglieder sowie Namen und Alter der zugehörigen Sklavinnen und Sklaven. Nur so war die Höhe der Steuerlast und des obligatorischen Arbeitsdienstes zu bestimmen. Steuern wurden in der Regel in Form von Getreide entrichtet, das in ebenfalls akribisch geführten staatlichen Speichern verwaltet wurde. Mitunter das Schlimmste, das einem Kaiser passieren konnte, war eine Hungersnot. Sie bedeutete, dass er es versäumt hatte, sein Volk angemessen zu beschützen. Handschriften ähnlichen Inhalts kamen in Gräbern des 7. und 8. Jahrhunderts am Rand des fernen Tarim-Beckens zum Vorschein. Auf dem Friedhof von Astana beim heutigen Turfan im östlichen

Xinjiang wurden die Verstorbenen der benachbarten Oasenstadt Gaochang (altuigurisch: Qocho, auch Karakhoja) beigesetzt. Sir Aurel Stein, ein gebürtiger Ungar in Diensten der britischen Krone, beschäftigte sich früh im 20. Jahrhundert als Erster mit den mehreren hundert Bestattungen. Später kehrten chinesische Archäologen an die Fundstelle zurück, um Aurel Steins Arbeit fortzusetzen. Stein und die chinesischen Ausgräber förderten zahlreiche Handschriften auf Papier zutage.

Grabinschriften: Der Verstorbene gibt Auskunft über sich Grabinschriften (Epitaphe) als archäologisch belegte Schriftquellen wurden weiter oben bereits erwähnt. Seit dem frühen 3. Jahrhundert stieg ihre Popularität stetig an und erreichte einen ersten Höhepunkt in der Tang-Zeit. Meistens in die Oberflächen relativ weicher, quadratischer Steinblöcke geschnitten oder seltener in Ton geritzt, beschränkten sich einfache Inschriften in der Regel auf den Namen und das Todesjahr des oder der Verstorbenen. Seit dem 4. Jahrhundert wurden Epitaphe immer ausführlicher und formell standardisiert. Sie verzeichneten gewöhnlich den Namen, das Sterbedatum, den Heimatort, den sozialen Status sowie den Beruf der beigesetzten Person. Diese biographischen Eckdaten schmückte man oft mit ergiebigen Beschreibungen der professionellen Werdegänge und der moralischen Vorzüge der Toten aus. Manchmal schloss gar ein Gedicht den Text ab, wobei die Dienste illustrer Schreiberlinge vom Schlag Bo Juyis freilich gelegen kamen. Fertige Epitaphe konnten bis zu 10 000 Schriftzeichen umfassen und wurden letztlich im Eingangsbereich unterirdischer Ziegelkammergräber deponiert, bevor diese verschlossen wurden. Es stellt sich fast unweigerlich die Frage, was dieser Aufwand sollte, wenn niemand derlei Werke jemals wieder zu Gesicht bekam? Allerdings blieb diese mehr oder weniger geräumige Art von Gräbern selten auf ewig verschlossen. Viele von ihnen waren vielmehr so konzipiert, dass der Ehemann und dessen Hauptfrau gemeinsam darin Platz fanden. Nachdem sich die wichtigsten Inhalte der Epitaphe in den gemeißelten Inschriften steinerner Stelen wiederfanden, die nach der Beerdigung auf der Erdoberfläche am Grab aufgestellt wurden, konnten sich die Lebenden ohnehin ein (positives) Bild der Bestatteten beschaffen. Die Grabinschriften waren sozusagen als

Kniende Hofdame mit Flöte: Grabbeigabe aus glasierter Keramik (TangDynastie, um 800).

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Zeugnis für die Toten gedacht, mit dem sie sich im Jenseits ausweisen konnten, während sich die oberirdischen Stelen an das soziale Umfeld der Nachkommen wandten. Jedermann sollte natürlich erfahren, dass man als Sohn oder Tochter aus dem guten Haus der Verstorbenen stammte. Grundsätzlich ist die Verlockung, schriftlichen Quellen jeglicher Art am leichtesten zu glauben, sehr groß. Aber wir sollten uns hüten, archäologische Funde ohne Inschriften sowie die archäologischen Kontexte von Manuskripten und Artefakten jeglicher Art zu vernachlässigen. Dazu ist die aus Gräbern, Siedlungen und Horten geborgene sogenannte materielle Kultur zu kostbar. Sie eröffnet vielfach Perspektiven in die Vergangenheit, die uns ohne archäologische Untersuchungen verborgen bleiben würden.

Miniaturisierte Grabfiguren aus Das Alltagsleben einer überwältiKeramik oder Holz stellen etwa genden Mehrheit von Menschen Dienerinnen und Diener, Musikewar geprägt von landwirtschaftlirinnen und Musiker, Tänzerinnen cher Arbeit. Dieser bemalte Ziegel und Tänzer, Soldaten, Sklavinaus einem Grab des 4. Jahrhunderts nen und Sklaven sowie Feldarzeigt etwa einen Hirten. beiterinnen und Feldarbeiter dar; vorwiegend keramische Modelle von Nutztieren, Schweineställen, Getreidefeldern und Mühlen zeugen davon, dass Subsistenz (Selbstversorgung) auch in der Nachwelt höchstes Gebot war. Zudem sicherte die Produktion und Weiterverarbeitung von Feldfrüchten die eigenen Steuerabgaben an die Obrigkeit. Kurzum: Das Leben nach dem Tod war offenbar die Fortsetzung des weltlichen Lebens auf einer anderen, metaphysischen Ebene. Man lebte in einem parallelen Universum mit allen Rechten und Pflichten des Diesseits weiter. So gesehen, werden die vergrabenen Epitaphe noch ein bisschen verständlicher. Sie verkündeten den Mitbewohnern des Jenseits, wen sie mit den Neuankömmlingen vor sich hatten. Wie am kurzen historischen Abriss am Anfang dieses Kapitels zu erkennen ist, verlief das chinesische Mittelalter turbulent. Nicht einmal Spezialisten behalten leicht den Überblick, wer mit wem Allianzen schmiedete, Schlachten schlug und was letztlich die tiefergehenden Ursachen jeder einzelnen Auseinandersetzung waren. Unlängst fand etwa eine Studie heraus, dass es sich bei den aus den Geschichtswerken bekannten „Sechzehn Reichen der Fünf Barbaren“ tatsächlich um mindestens 41 unabhängige Reiche handelte. Trotz dieser Komplexität bleibt ein

Grabbeigaben – ein Mikrokosmos der einstigen Lebenswelten Beispielsweise ermöglichen uns die bereits erwähnten Grabfiguren oder Lebensmittel- und Getränkebeigaben aus Bestattungen Rückschlüsse über Jenseitsvorstellungen, zu denen sich unsere überlieferten Texte störrisch ausschweigen. Die Art und Zusammenstellung von Beigabeninventaren aus mittelalterlichen Beisetzungen sowie die architektonische Struktur der unterirdischen Bauten selbst deuten an, dass wir Gräber als Mikrokosmen der einstigen Lebenswelten der Verstorbenen verstehen müssen. Sie bilden den kompletten Besitz der Toten und damit ihre einstige Lebensgrundlage im Kleinen nach.

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Sachverhalt relativ klar: Bis zur Wiedervereinigung durch die Sui-Dynastie blieb China zweiunter anderem Seidenballen befesgeteilt. tigt, so wie es bei den Karawanen Wie gesagt, das geschriebene auf den Seidenstraßen üblich war. Wort verlockt, die Dinge nicht weiter in Frage zu stellen. Wenn etwas geschrieben steht, muss es wohl so gewesen sein. Ähnlich wie die europäischen Kelten hinterließen die Nomaden der eurasischen Steppe keine eigenen Schriftzeugnisse. Es ist demnach nicht verwunderlich, dass beide das gleiche Schicksal ereilte.

hen Kaiserzeit gezeigt, dass unser gewohntes Bild von marodierenden Horden trog. Die regelmäßigen Überfälle der Nomaden auf Gebiete der Qin- und der Han-Dynastien waren keine aggressiven Angriffe, sondern Verteidigungen gegen die stetig nach Norden expandierenden Chinesen. In dieser Hinsicht muss man nun selbstverständlich die Beschreibungen der mittelalterlichen „Barbaren“ mit der nötigen Vorsicht betrachten. Wenn sich die Menschen im Norden und Süden vermeintlich so stark unterschieden, wie gingen beide Seiten in der Realität miteinander um? Die Tuoba und manche ihrer südlichen Nachbarn sahen die Sache recht pragmatisch: Am Ende des 4. und in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts unterhielten die Tuoba der Nördlichen Wei zum Beispiel diplomatische Kontakte mit der Östlichen Jin-Dynastie und deren Nachfolgern, der Liu-Song-Dynastie. Obwohl die Autoren der jeweiligen Dynastiegeschichten die Art der Beziehungen unterschiedlich bewerteten – aus Sicht der Nördlichen Wei lieferten die südlichen Dynastien Tribut, während man im Süden die Aufenthalte am Hof der Tuoba als reine Staatsbesuche deklarierte –, garantierte der regelmäßige Austausch den friedlichen Umgang miteinander. Gleiches galt für alle Anrainerreiche sowohl der nördlichen als auch der südlichen Dynastien und die geeinten Reiche der Sui und Tang. Wenn man sich nicht bekämpfte, pflegte man die nachbarlichen Verhältnisse auf verschiedenste Weisen. Die häufigste Methode war die Leistung von Tribut, wobei die Tributbringer nominell die untergeordnete Rolle einnah-

Liegendes Kamel aus Terrakotta (spätes 7. Jahrhundert). Am Sattel sind

„Barbaren“? Tatsächlich prägt Pragmatik die Beziehungen zu konkurrierenden Nachbarn Sowohl die römischen als auch die chinesischen Geschichtsschreiber verunglimpften ihre fremden Gegner als brutale „Barbaren“. Und ähnlich den mediterranen Wissenschaftlern eiferten Generationen von modernen Sinologen und Sinologinnen den Vorgaben der jeweiligen Geschichtsschreiber nach und behandelten die fremden Herrscher Nordchinas als aggressive, ungehobelte Rohlinge, denen nur mühsam Anstand und Moral beizubringen waren. Im Süden saßen bekanntlich die legitimen Nachfolger der Han-Dynastie; da war die Welt auch in den Augen der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in Ordnung. Glücklicherweise haben in den letzten Jahren systematische und umfassende Studien vor allem zu den Xiongnu der späten Vorkaiserzeit und der frü-

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men. Üblicherweise spiegelte dies auch die tatsächlichen Machtverhältnisse wider, aber wie immer gab es auch Ausnahmen von der Regel. Im Jahr 744 errichteten die türkischstämmigen Uiguren – sie konvertierten im späten 8. Jahrhundert zum Manichäismus und sind nicht mit den muslimischen Uiguren im heutigen Xinjiang zu verwechseln – ein Großreich im äußersten Westen der heutigen Mongolei, das sie bis 840 aufrechterhalten konnten. Sie unterstützten den Tang-Hof tatkräftig bei der Niederschlagung der sogenannten An-Lushan-Rebellion (755 – 763) und waren sich ihrer tragenden Rolle vollkommen bewusst. Der Kaiserhof benötigte dringend Pferde, um den Umsturzversuch und dessen Nachwehen zu bewältigen. Die Uiguren boten gelegentlich Tribut feil und verkauften dem Kaiser in der Zwischenzeit Unmengen an Pferden zu überteuerten Preisen. Sie wussten schließlich, dass er darauf angewiesen war. Heiratsallianzen zwischen beiden Parteien sollten die gegenseitige Zweckbeziehung zusätzlich stabilisieren. Zusammen mit Geiseln aus den Reihen der Prinzen, die in die jeweiligen chinesischen Hauptstädte entsandt werden mussten und dort mehrere Jahre zubrachten, war dies ebenfalls ein seit Jahrhunderten bewährtes Mittel, gewaltlos mit etwaigen Gegnern umzugehen. Längere Phasen des Friedens sowie die Reichseinheit unter der Sui- und der Tang-Dynastie waren ein idealer Nährboden für Bewegungsprozesse zwischen den einzelnen Reichen in Inner-, Nord-, Süd- und Ostasien. Der Transport uigurischer Pferde aus der mongolischen Steppe ins südlich gelegene TangReich ist nur ein Beispiel von vielen. Gewöhnlich fasst man derlei Bewegungsprozesse unter dem unglücklichen und dennoch äußerst populären Begriff der „Seidenstraße(n)“ zusammen. Die Vorstellung der transkontinentalen Verbindungen ist deshalb unglücklich, weil sie Bewegungsprozesse auf den Handel mit Seide zwischen China und Rom reduziert. Wenngleich sich in der Fachwelt differenziertere Sichtweisen langsam durchsetzen, versteht man die „Seidenstraße(n)“ gemeinhin weiterhin primär als Handelswege von Ost nach West.

gen Vorstellungen war diese Art des Handels nicht auf Staatsebenen organisiert. Er wurde vielmehr von kleinen bis mittelgroßen Privatunternehmen durchgeführt, deren Wirkungsradien eingeschränkt blieben. Es gab im chinesischen Mittelalter wohl kaum riesige Karawanen, die den gesamten Weg von China bis ans Mittelmeer zurücklegten. Die meisten Gruppen umfassten ein paar Kamele, Maultiere und Pferde sowie etwa 40 Menschen, die zwischen zwei oder drei Oasen hin und her pendelten. Die Papierdokumente aus den Gräbern von Astana liefern uns wunderbares Anschauungsmaterial. Sie zeigen, dass in der Gegend um das von der Tang-Dynastie kontrollierte Gaochang im frühen 7. Jahrhundert etwa 50 Prozent Han-Chinesen und 50 Prozent Sogdier lebten. Deren Heimatregion Sogdiana war ein Verbund mehrerer Stadtstaaten wie Samarkand, Buchara und Taschkent in Transoxanien, das heißt im heutigen Dreiländereck zwischen Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan. Im 7. und 8. Jahrhundert dominierten die Sogdier den transkontinentalen Handel in Innerasien, während Han-Chinesen im lokalen Handel in und um Gaochang die Oberhand behielten. Die ausgegrabenen Texte nennen eine Reihe von Waren im Gepäck der örtlichen Händler. Neben (relativ wenig) Seide und Seidenfäden stechen Baumwolle (aus Indien), Weihrauch, Gold, Silber, Kupfer, Messing, Kurkuma, Pfeffer, Kampfer und Sklaven besonders ins Auge. Der Handel mit Sklaven umfasste in der Tat ein beträchtliches Volumen. Er zeigt eindrucksvoll, dass sich nicht nur fertige Produkte und Rohstoffe, sondern auch Menschen durch die mittelalterliche Welt bewegten, ganz zu schweigen von Tieren, Technologien und Ideen. Die vielzitierten „Seidenstraße(n)“ hatten in Wirklichkeit nur wenig mit Seidenhandel zu tun. Leibeigene, zu denen auch Musikerinnen und Musiker sowie Tänzerinnen und Tänzer aus Innerasien zählten, waren oft unfreiwillig unterwegs. Andere Reisende suchten ihr Glück aber aus mehr oder weniger freien Stücken in der Ferne. Dazu zählen beispielsweise die vielen sogdischen Händler in Gaochang. Mehrere archäologische Funde aus dem Gebiet des ehemaligen Chang’an helfen uns, althergebrachte Vorstellungen zu überdenken. Die Idee, dass sich die Mitglieder der sogenannten Fremddynastien nicht nur kulturell anpassten (das heißt „sinisierten“), sondern sich in der Staatsverwaltung voll auf die Dienste von Han-Chinesen verließen, wurde vor einiger Zeit widerlegt. Die Verwaltung der Nördlichen Wei setzte

Die „Seidenstraße(n)“ haben nur wenig mit dem Seidenhandel zu tun Natürlich wurde entlang den Wegen mit allerlei Waren gehandelt, darunter auch Seide, aber diese wanderten nicht ausschließlich von Ost nach West, sondern kreuz und quer durch Eurasien, Ost- und Südostasien bis hin nach Afrika. Entgegen gängi-

41 Die „Seidenstraße(n)“ haben nur wenig mit dem Seidenhandel zu tun

Betten bzw. in hausförmigen Steinsarkophagen beigesetzt; bei Han-Chinesen waren dagegen seit Jahrhunderten Holzsärge üblich. Die steinernen Betten und Sarkophage waren außerdem aufwendig mit zoroastrischen Motiven verziert. Diese dualistische Religion stammte ursprünglich aus Persien und geht auf Zarathustra zurück. In der Sogdiana war der Glaube an die Gegensätze zwischen Gut und Böse oder Licht und Schatten weit verbreitet. Die Gleichsetzung von Gutem mit Licht führte zur besonderen Verehrung des Feuers, weshalb der Zoroastrismus oft als „Feuerreligion“ betitelt wird. Aus diesem Grund tragen auf den Steinbetten und -sarkophagen dargestellte Figuren neben Feueraltären einen Mundschutz; er verhinderte die Beschmutzung des Feuers durch ihren Atem. Trotz ihrer fremden Herkunft und dem Festhalten an fremden Sitten bekleideten die sogdischen Grabherren hohe Ämter in typisch chinesischen Verwaltungsstrukturen. Sie waren jeweils verantwortlich für die sogdischen Gemeinden in Nordchina, obwohl sie weder der Gruppe der herrschenden Tuoba/Xianbei noch den Han angehörten. Man konnte es also

sich etwa zu gleichen Teilen aus Tuoba und Han zusammen. Erst ein kaiserliches Edikt aus dem ten Texte des chinesischen MittelalJahr 495 setzte die aktive Siniters, wurde Ende des 4./Anfang des sierung der Tuoba-Oberschicht 5. Jahrhunderts ins Chinesische überin Gang. Die Hauptstadt wurde tragen. Diese Ausgabe stammt aus vom nördlichen Pingcheng (heudem 13. Jahrhundert. tiges Datong im Norden der Provinz Shanxi) ins südlichere Luoyang verlegt, und die Tuoba waren fortan angehalten, Kleidung im chinesischen Stil und chinesische Namen zu tragen. Die buddhistische Schrift der Dia-

mant-Sutren, einer der bedeutends-

Mythos „Sinisierung“: Viele Menschen bewegen sich zwischen den Kulturen Die Gräber mehrerer sogdischer Männer aus der Zeit kurz nach der Herrschaft der Nördlichen Wei sind daher besonders spannend. In der Bestattungspraxis folgte man einigen typisch chinesischen Vorbildern: Ziegelkammergrab, Erd- statt Himmelsbestattung und Epitaphe. Doch damit endete die Akkulturation. Eines der Epitaphe wurde auf Sogdisch und Chinesisch verfasst, und die Toten wurden auf steinernen

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auch als vermeintlicher „Barbare“ durchaus zu etwas bringen. Zu den berühmtesten Menschen, die sich zwischen mehreren Kulturen bewegten, zählten zweifellos die oben angesprochenen Pilgermönche. Neben Faxian ist allen voran Xuanzang (um 602 – 664) zu nennen. Wie Faxian berichtete er ebenfalls detailliert von seiner Reise über Nordchina und das TarimBecken nach Indien. Nach 18 Jahren kehrte er 645 mit 657 buddhistischen Werken auf dem Rücken von 20 Pferden nach China zurück und ließ sich in Chang’an, der Hauptstadt des Tang-Reiches, nieder. Dort übersetzte er 70 seiner mitgebrachten Schriften und gründete unter anderem im Jahr 652 die Große Wildganspagode im Da-ci’en-Kloster, um seine Sutren dort aufzubewahren. Die Pilgerfahrten der Mönche waren der Anfang einer Entwicklung, die China und ganz Ost- und Südostasien grundlegend verändern sollte. Zusätzlich zur Entstehung vieler Klöster bildeten sich auf der Basis bestimmter Sutren zahlreiche Sekten aus. Den Übersetzern fehlte häufig das entsprechende Vokabular, um die buddhistischen Begriffe passend ins Chinesische zu übertragen. Sie behalfen sich mit Wörtern und Konzepten des einheimischen Daoismus. So kam es, dass sich Buddhismus und Daoismus weitgehend parallel entwickelten und gegenseitig beeinflussten. An der flotten und großflächigen Verbreitung des Buddhismus hatten die Herrscher der Nördlichen Wei großen Anteil. Viele der buddhistischen Großplastiken der Höhlengrotten von Yungang und Longmen nahe der ehemaligen Hauptstädte Pingcheng und Luoyang tragen Stiftungsinschriften, in denen diverse Kaiser der Nördlichen Wei als großzügige Spender auftauchen. Die kaiserlichen Wohltäter hofften, durch ihre Großzügigkeit gutes Karma anzuhäufen. Zurück in Chang’an, identifizierte sich Chinas einzige offizielle Kaiserin als Reinkarnation des Bodhisattva Maitreya. Als solche gab sich Wu Zetian, die von 690 bis 705 regierte, als „Buddha der Zukunft“ aus, die zur vollkommenen Erleuchtung gelangen und die reine Lehre verbreiten werde. Als Frau, die den Thron an sich gerissen hatte, konnte Wu Zetian sich schwerlich auf die althergebrachten konfuzianischen Werte stützen, um ihre Macht zu legitimieren. Da kam ihr der Buddhismus gerade recht, der zu dieser Zeit im Volk bereits ungemein beliebt war. Im Jahr 701 spendierte Kaiserin Wu Xuanzangs Großer Wildganspagode übrigens ein paar zusätzliche Stockwerke.

Das Kloster, in dem die Pagode stand, war nur eines von zahlreichen buddhistischen Zentren im Chang’an der Tang-Zeit; darüber hinaus gab es jüdische, muslimische, nestorianische, manichäische und zoroastrische Gemeinden. Die Stadt war überhaupt eine Weltmetropole mit mehr als einer Million Einwohnern.

Metropolen der Tang-Dynastie zeigen sich sehr weltoffen Andere urbane Zentren wie Luoyang oder Guangzhou (Kanton) an der chinesischen Südküste waren ebenfalls sehr weltoffen, erreichten aber nie das Flair Chang’ans. Das lag vermutlich vor allem daran, dass dort die politische Musik spielte. In der Hauptstadt hatte nicht nur der Kaiserhof seinen Platz, auch alle Beamten mit Rang und Namen lebten dort. Selbstverständlich zogen derlei politische Netzwerke auch den Geldadel an, der hoffte, durch gute Beziehungen auf den beiden Märkten der Stadt noch bessere Geschäfte zu machen. Riesige Städte wie Chang’an Weltoffene Tang-Dynastie: Im Grab und Luoyang wurden durch landwirtschaftliche Erzeugnisse eines Kronprinzen fand sich ein Fresaus dem Umland versorgt. Vor ko mit Polospielern. Dieses Spiel zu allem um das etwas im Abseits Pferd stammte aus Persien.

43 Metropolen der Tang-Dynastiezeigen sich sehr weltoffen

Vielfalt. Wenigstens die hohen und höchsten Gesellschaftsschichten des Nordens und Südens waren durchdrungen von fremden kulturellen Praktiken und Menschen aus allen Bereichen Asiens. Ein Großprojekt wie den Kaiserkanal muss man nicht nur als Transportweg, sondern auch als Medium der Vermittlung und Kommunikation zwischen dem Süden und dem Norden verstehen. Der Sui-Kaiser Yang wollte beide Teile Chinas sicherlich auch kulturell wieder enger zusammenführen. China war bis ins 8. Jahrhundert vorwiegend über die transkontinentalen Wege Eurasiens mit der Außenwelt verbunden. Nachdem die muslimischen Abbasiden (749 –1258) diese für längere Zeit blockierten, verlagerte sich das Geschehen ins Südchinesische Meer. Guangzhou wuchs im 9. Jahrhundert zu einer blühenden Hafenstadt heran, in der sich viele ausländische Händler tummelten. Besonders unter der Tang-Dynastie entwickelte China eine beeindruckende kulturelle Strahlkraft. Japan und Korea adaptierten Gesetze und Verwaltungsstrukturen der Tang, und die chinesischen Spielarten des Buddhismus breiteten sich in ganz Ost- und Südostasien aus. All das darf keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass so etwas wie eine „chinesische“ Kultur im chinesischen Mittelalter – und im Grunde auch zuvor – nicht existierte. Das Staatengebilde, das wir heute als „China“ bezeichnen, war seit jeher ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen. Die „chinesische“ Kultur mit all ihren Facetten war trotz einiger Eigenheiten wie der chinesischen Schrift stets eine Mischform.

im Norden gelegene Chang’an besser anzubinden, setzte Kaiser Yang der Sui alles daran, den von seinem Vater begonnenen Kaiserkanal fertigzustellen. Das über 1800 Kilometer lange Kanalsystem nahm seinen Anfang in Hangzhou, folgte dem Yangzi und dem Huai-Fluss und endete in der Nordchinesischen Ebene. Das grundsätzlich weltoffene Klima unter der Tang-Dynastie hatte sehr wahrscheinlich auch mit der Abstammung des Kaiserhauses zu tun. Auch hier versuchten Generationen chinesischer Geschichtsschreiber diesen Aspekt wegzureden, aber es ist dennoch relativ klar, dass die Mitglieder der kaiserlichen Li-Familie reichlich Blut der Tuoba-Linie der Xianbei in ihren Adern hatten. Wandmalereien in den Gräbern kaiserlicher Prinzen und Prinzessinnen zeugen von einer Vorliebe für das aus Persien stammende Polo-Spiel oder die innerasiatische Falknerei. Mit dem Kaiserhaus als Vorbild, fanden Polo und die Beizjagd auch in hohen Aristokratenkreisen großen Anklang. Ansonsten wären die Darstellungen von Polospielerinnen (!) und Polospielern sowie Falknern in Wandmalereien und figürlichen Miniaturen aus verschiedenen Gräbern schwer zu verstehen. Zudem wurde die Beizjagd zu einem beliebten Thema in der Dichtung der Tang-Zeit. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden wurde allgemein zum beliebten Thema in den Künsten. Beispielsweise schrieb schon Cao Pi ein „Reimgedicht auf [die Pflanze] Midie“, die aus dem Römischen Reich stammte und die er in seinem Palastgarten züchtete. Der dichtende Kaiser betonte besonders, dass die Gewächse „zehntausend Meilen hinter sich ließen, um zu kommen“, und sie deshalb selten und kostbar waren. Auch Glas aus dem sassanidischen Persien (224 – 651) wurde zum Gegenstand großer Bewunderung. Ein Reimgedicht aus dem frühen 4. Jahrhundert beschreibt in blumigen Worten den beschwerlichen Weg einer Glasschale über den Pamir nach China. Außer seiner exotischen Herkunft faszinierte den Dichter offenbar der Glanz und die Durchsichtigkeit des Materials. Aber nicht nur ihn, wie es scheint; Glasschalen, -becher und wenige -karaffen kommen zwar in geringer Zahl, jedoch mit gewisser Regelmäßigkeit in einigen nord- und südchinesischen Gräbern des 3. bis 9. Jahrhunderts zum Vorschein. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Obwohl politische Zersplitterung und militärische Auseinandersetzungen das chinesische Mittelalter prägten, war es doch eine Zeit sozialer und kultureller

Prof. Dr. Armin Selbitschka, geb. 1975, lehrt alte chinesische Geschichte und Archäologie an der LudwigMaximilians-Universität in München.

44 Die Mär von den „Barbaren“

Religion

Zusammenhalt durch Rituale Barend ter Haar

Die Verehrung von Ahnen und unterschiedlichsten Göttern gab den Menschen in China von jeher Halt und Struktur. Der im 2. Jahrhundert entstehende Daoismus war ein neues, starkes Angebot, um die Welt zu ordnen. Und der ebenfalls in dieser Zeit nach China vordringende Buddhismus veränderte das Verhältnis von Individuum und Gruppe. Familie, das ist eine Gruppe, deren Mitglieder dieselben Ahnen verehren

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Literatur, aber auch Gesundheit und allgemeines Wohlbefinden kaum von Religion zu trennen. So gab es in China bis zum späten 19. Jahrhundert kein Wort für Religion als separate Aktivität. Auch entstanden die Wörter Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus erst um 1800 oder sogar später im Westen und wurden nach China exportiert. Kein Chinese stellte sich damals die Frage, ob er religiös war. Es gab zwar von Zeit zu Zeit Debatten zwischen verschiedenen doktrinären und rituellen Richtungen, die um die Gunst des Kaisers rangen, aber keine davon wurde jemals politisch dominant. Ebenso gab es religiöse Verfolgungen, aber diese hielten nie lange an. Die kaiserliche Macht reichte eigentlich selten aus, um eine bestimmte Tradition endgültig zu vernichten.

Einstehen für die Familie: Der Sohn trägt die blinden Eltern. Diese Szene findet

Aus Sicht der lokalen Bevölkerung, inklusich in den Felsskulpturen sive der sozialen Eliten, waren doktrinäre von Dazu (frühes 13. JahrUnterschiede nicht wichtig. Stattdessen hundert). Die Abbildung standen religiöse Aktivitäten im Zentrum zeigt, wie sehr sich der sozialer und politischer Formationen. Eine Buddhismus den lokalen Familie war eine Gruppe, deren Mitglieder Moralvorstellungen angedieselben Ahnen verehrten. Bis zum Bepasst hatte. ginn des 16. Jahrhunderts war es nur einer kleinen Elite erlaubt, Ahnen über die dritte Generation hinaus zu verehren und damit größere soziale Gruppen zu bilden. Ohne solche kollektive Verehrung hatte eine Blutsverwandtschaft keine Bedeutung, und gegenseitige Verpflichtungen galten nur innerhalb der jeweiligen Gruppe.

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mus der individuellen Verantwortung des Einzelnen über mehrere eigene Inkarnationen hinweg zunehmend Bedeutung zugemessen. Jede Gemeinschaft kannte Menschen, welche die Fähigkeit besaßen, einen vor kurzer Zeit Gestorbenen wahrzunehmen und gegebenenfalls mit ihm zu kommunizieren. In späteren Zeiten und in bestimmten Gegenden bis heute waren und sind diese religiösen Spezialisten meist ältere Frauen. Sie behalten bei dieser Kommunikation ihre eigene Identität und werden nicht eins mit dem Verstorbenen. Dieser Kontakt fand seinen Ursprung in der Idee, dass Tote und Lebende ein Ganzes formen. Ein Dorf verehrte in frühen Zeiten Naturgottheiten wie den Gott der Erde bei einem großen Stein oder in der Nähe eines besonderen Baums und seit dem 11. Jahrhundert auch immer mehr Gottheiten in menschlicher Gestalt. Im Gegensatz zum alten Gott der Erde waren die neuen Götter fähig, über menschliche Medien oder in Träumen mit ihren Verehrern zu kommunizieren und Hilfe zu leisten.

Von der kleinsten Einheit bis zum Reich – die Kulte helfen, die Welt zu ordnen Durch Erzählungen, wie diese Götter immer wieder lokalen Verehrern als Gemeinschaft halfen, sei es im Fall von Hungersnöten und Fluten oder bei Angriffen durch Banditen und feindliche Soldaten, bildeten sich neue lokale Identitäten heraus. Die neuen Götter leisteten konkrete Hilfe, wozu die früheren Naturgottheiten nicht imstande gewesen waren. Experten für den Kontakt mit den Toten und die Medien für lokale Götter waren meist mehrere Personen. Trotz ihrer wichtigen Funktionen sank ihr gesellschaftlicher Status im Lauf der Zeit allerdings. Die neuen Kulte entwickelten sich zur wichtigsten Organisationsform der lokalen Gesellschaft. Der Form nach waren sie eine Nachahmung der alten Ahnenkulte der Eliten; und wo bisher die Naturgottheiten fast immer an Altären ohne Überdachung verehrt worden waren, wurden die neuen Götter in überdachten Tempeln verehrt wie zuvor nur die Ahnen von hochrangigen Familien. Auch Gilden und Zünfte bekamen seit dem 12. Jahrhundert Schutzpatrone und gründeten Schreine innerhalb eines größeren Tempels oder später sogar eigene Tempel. Ein Lokalkult manifestierte sich jährlich in tagelangen kollektiven Feiern, mit Opferritualen, Theateraufführungen und Prozessionen. Ein Beispiel für einen solchen Kult ist die Verehrung des ehemali-

Bis zur Verbreitung des Buddhismus im Lauf der ersten Jahrhunderte   n. Chr. zählte der Einzelsierte der chinesische Ahnenkult. ne nicht als Individuum, sondern Die gemeinsame Verehrung der Verstorbenen (im Bild: eine Ahnennur als Mitglied einer Familie. Familien wurden auch kollektiv befigur aus Holz, Ming-Dynastie) straft für die Vergehen von lebenhielt die Familien zusammen. den oder verstorbenen Mitgliedern. Es gab darum auch die Pflicht, Übeltaten gegenüber einem Familienmitglied zu rächen. Auch übernatürliche Strafen, so verstanden es die Menschen, widerfuhren nicht nur dem direkt Schuldigen, sondern ebenso Familienmitgliedern. Die Idee, dass jeder Mensch primär Mitglied einer größeren Verwandtschaftsgruppe sei, verschwand auch später nie ganz. Allerdings wurde mit der Verbreitung des BuddhisTote und Lebende formen ein

Ganzes – auf dieser Annahme ba-

46 Zusammenhalt durch Rituale

gen Generals Guan Yu (um 160 – 219), der seit dem 11. Jahrhundert im Norden Chinas und dann in Städten und Militärgarnisonen über das ganze Land sehr populär wurde. Er wird heute als Gott des Glücks in vielen chinesischen Restaurants in der ganzen Welt verehrt. Nicht nur Familien, Dörfer, Städte und Berufsgruppen wurden von gemeinsamen Kulten zusammengehalten, sondern auch das ganze Reich. Die Herrscher regierten im Namen des Himmels. Ihre wichtigste Aufgabe – ihr Mandat – war, die menschliche Welt durch ihr moralisches Beispiel zu ordnen, aber auch durch regelmäßige Rituale und natürlich säkulare Verwaltungsaufgaben. Politik und Religion waren engstens miteinander verwoben. Messianische Vorstellungen über eine bessere Zeit waren oft auch politischer Natur, da nur ein besserer Herrscher in der Lage sei, die Welt neu zu ordnen und damit Naturkatastrophen, Einfälle von „Barbaren“ und Aufstän-

de oder auch Seuchen und andere Krankheiten zu bekämpfen. In allen Kulten wurden alkoholische Getränke aus Getreide und Tiere aus der eigenen Wirtschaft – Hühner, Schweine und Ziegen – geopfert, die man hinterher gemeinsam verspeiste. Im späten 2. Jahrhundert entstand eine religiöse Bewegung, die behauptete, die Welt besser ordnen zu können als die damals herrschende Han-Dynastie: der Daoismus. Zur selben Zeit kam auch eine neue Religion nach China, der Buddhismus. Beide sollten großen Einfluss auf Chinas Geschichte ausüben, auf die sozialen, politischen, literarischen und philosophischen Entwicklungen ebenso Der legendäre General Guan Yu (um wie auf Wirtschaft und Wissenschaft. So wurde das Schießpul160 – 219) wird in China immer noch ver in einem daoistischen alcheals gottgleiche Figur verehrt. Im Bild, mistischen Kontext erfunden, es entstanden um 1430, wird Guan Yu sollte Dämonen und feindliche sein gefangener Gegenspieler, GenePferde erschrecken oder Feuer ral Pang De, vorgeführt.

47 Von der kleinsten Einheit bis zum Reich – die Kulte helfen, die Welt zu ordnen

verursachen. In buddhistischen Klöstern finden wir schon früh Pfandhäuser und Windmühlen. Sohn Zhang Daoling im Jahr 142 Der Neokonfuzianismus entdas „Daode jing“, eine Sammlung stand seit dem 11. Jahrhundert unvon Spruchkapiteln. Dies war der Anstoß zur Gründung einer daoister dem Einfluss daoistischer und tischen Bewegung, die 184 in Sibuddhistischer Texte und Praktichuan einen Aufstand auslöste. ken, auch wenn er sich selbst als Entdeckung eines fiktiven Urkonfuzianismus darstellte. Gerade deswegen wurden diese neokonfuzianischen Gelehrten oft zu fanatischen Gegnern dieser vermeintlich konkurrierenden Traditionen – eine Haltung, die in der Moderne von nationalistischen und kommunistischen Eliten übernommen worden ist.

bekannten Form im 3. Jahrhundert v. Chr. entstanden) von Laozi bekommen haben, mit dem Versprechen, die Welt und einige auserwählte Bewohner durch eine religiöse Reform vor dem Untergang retten zu können. Der Weise Laozi selbst soll der Verfasser des Textes gewesen sein und wurde im Lauf der Han-Dynastien immer mehr als eine Gottheit betrachtet, so auch von der neuen Bewegung. Die bestimmenden Ideen der Bewegung lassen sich jedoch nicht auf dieses Buch zurückführen, sondern sind vielmehr ein Produkt des späten 2. Jahrhunderts. Zhang Lu und seine Anhänger glaubten, dass Krankheit von moralischen Vergehen verursacht werde. Nur ein öffentliches Geständnis vor allen Gläubigen könne sie besiegen. Mitglieder bezahlten einen festen Beitrag von fünf Scheffeln Reis, woraus sich einer ihrer Namen ableitete: „Fünf-Scheffel-Reis-Bewegung“. Sie konnten auf ihren Reisen an den Stationen der Bewegung zu essen bekommen. Insofern passte die Lehre sehr gut zu den damaligen Auffassungen von Menschen nicht als Individuen, sondern als Teil einer Gruppe. Die Bewegung gründete in Sichuan eine eigene Herrschaft. 215 übernahm der nördliche Kriegsherr Cao Cao (155 – 220) dort das Regiment. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Bewegung bekannt als die der „Himmlischen Meister“ und besteht bis heute fort – mit zwei höchsten Meistern: einem für das demokratische Taiwan, einem für das kommunistische Festland. Sie war in ihrer frühen Zeit besonders beliebt bei der sozialen Elite.

Der Legende nach übergab der

Weise Laozi dem Grundbesitzer-

Daoismus: der Versuch, Übereinstimmung mit dem Kosmos zu erzielen Seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts kann man sinnvoll von einer kontinuierlichen daoistischen religiösen Tradition sprechen. Im Jahr 184, als die Zentralmacht der damaligen Östlichen Han-Dynastie immer schwächer wurde, fand in der westlichen Provinz Sichuan ein zutiefst religiös motivierter Aufstand statt. Er wurde angeführt von Zhang Lu (um 184 – 216), der behauptete, ein Enkel Zhang Daolings (gest. 156) zu sein. Zhang Daoling, der sogenannte Himmelsmeister, stammte aus einer Familie kleiner Grundbesitzer. Im Jahr 142 soll er das „Daode jing“ (eine Sammlung von Spruchkapiteln, in seiner heute

48 Zusammenhalt durch Rituale

Zu ihren Anhängern zählte etwa der berühmte Kalligraph Wang Xizhi (307 – 365). Als sie das Gebiet der damaligen südlichen Hauptstadt Nanjing erreichte, entstanden aus der Konfrontation mit der lokalen Kultur und später mit dem Buddhismus neue daoistische Traditionen. Mitglieder der sozialen Elite – nur sie verfügten über die notwendigen finanziellen Ressourcen und genügend freie Zeit – entwickelten Vorstellungen über eine paradiesische Welt, die man mittels Visionen besuchen könne. Und sie erfanden alchemistische Methoden, um die langwierigen Prozesse des Kosmos beschleunigt im Kleinen nachzuahmen. Dabei entstand eine Pille, die angeblich Unsterblichkeit verlieh. Aus diesen äußeren alchemistischen Praktiken entstanden später verinnerlichte Traditionen, die diese Pille (auch bekannt als das „Innere Kind“) innerhalb des Körpers darstellten. Heutzutage kennen wir die Nachfahren dieser Traditionen als „Qigong“ sowie des sogenannten Schattenboxens oder „Taiji“, wobei Taiji die grundsätzliche Wechselwirkung zwischen den kosmischen Kräften Yin und Yang bezeichnet. Sie gehen davon aus, dass man den Gang des Kosmos in einer ritualisierten Bewegung nachahmen kann und so „Qi“ oder „Energie“ (der Begriff ist viel breiter und fast unübersetzbar) als wesentlichen Baustein des Kosmos aufnehmen und sich daran nähren kann. Dieser Gedanke ist älter als der Daoismus und findet Ausdruck in vielen Bereichen

der chinesischen Kultur, aber Praktiken und Rituale, die wir heute als daoistisch bezeichnen, waren ohne Zweifel entscheidend in ihrer Entwicklung. Seit der späten Tang-Dynastie ist auf dem „Drachen- und Tigerberg“ im Süden von Jiangxi eine Tradition von Ritualspezialisten aktiv, die sich als Nachfolger Zhang Daolings bezeichnen und seit dem 12. Jahrhundert als die wichtigsten Spezialisten für die rituelle Beschwichtigung des Kosmos gelten. Sie konzentrieren sich auf das Austreiben von Dämonen, die aus ihrer Sicht nicht nur Naturkatastrophen verursachen, sondern auch Krankheiten und Besessenheit. Sie waren so hoch angesehen, dass sie bis ins 19. Jahrhundert hinein regelmäßig eine Reise in die Hauptstadt unternahmen, um auch am Hof Rituale auszuführen. Die Priester dieser Tradition waren verheiratet, und ihr Ritualwissen wurde oft über Söhne und Neffen weitergegeben. Nur Männer konnten Ritualspezialist werden. In dieser Tradition finden wir viele Spuren alter feudaler und politischer Rituale: Kosmische Prozesse werden mit Hilfe von stilisierten Bewegungen, der klassiDem berühmten Daoisten Ge Xuan, schen Schriftsprache und vor der im 3. Jahrhundert lebte, wurden allem rhythmischer (statt mebesondere, gar übernatürliche Kräfte lodischer) Musik nachgespielt. nachgesagt. In dieser Darstellung von Diese Tradition lehnte das Op1503 atmet er angeblich Feuer – eine fern von Fleisch und GetränÜbung, die das Ergebnis einer spezielken eigentlich ab, aber ihlen Diät gewesen sein soll.

49 Daoismus: der Versuch, Übereinstimmung mit dem Kosmos zu erzielen

re wichtigsten Kunden waren Gemeinschaften, für die solche Opfer ein fester Bestandteil waren, und so musste sie diese zumindest tolerieren. Im 12. Jahrhundert entstand eine neue Klostertradition, die ursprünglich vor allem im Norden Chinas stark vertreten war. Dies war die „Bewegung der vollständigen Vervollkommnung“, deren meist männliche Mitglieder nicht verheiratet waren und sich rund um die Uhr der eigenen moralischen Vervollkommnung und dem erstrebten EinswerNach den Vorstellungen des Budden mit dem Kosmos widmeten. dhismus ist Bodhisattva AvalokitesDa sie vom kommunistischen Staat vara (chinesisch: Guanyin) direkt leicht zentral kontrolliert werden für die Gläubigen zugänglich. Diese kann, wird sie heutzutage überall bemalte und vergoldete Holzfigur in China gefördert. Diese Mönche führen in der Gegenwart auch einstammt aus dem 12. Jahrhundert.

fache Rituale gegen Bezahlung aus. In dieser Tradition finden wir heute auch Nonnen. Es gab zusätzlich weitere lokale Ritualtraditionen und viele Laienbewegungen. Letztere nahmen seit dem späten 16. Jahrhundert festere organisatorische Formen an und haben manchmal bis ins 20. Jahrhundert oder sogar bis heute überlebt. Alle Laienbewegungen wurden von Zeit zu Zeit verfolgt, da sie als Nachfahren der aufständischen „Fünf-Scheffel-Reis-Bewegung“ aus dem 2. Jahrhundert gesehen wurden. Diese Staatsauffassung hat die Entwicklung unabhängiger, von Laien geführter Gruppen oder sogar Kirchen bis heute gehemmt.

Buddhismus: der Einzelne und seine Verantwortung für das künftige Leben Im 1. Jahrhundert entwickelten sich die Oasen entlang den großen Wüsten im Westen Chinas agrarwirtschaftlich so weit, dass sie in der Lage waren, auch Klostergemeinschaften langfristig zu ernähren. Seitdem fanden nicht mehr nur einzelne Vertreter des nordindischen Buddhismus ihren Weg nach China, sondern auch Missionare und Händler, die für eine intensive Kulturübertragung sorgten. Obwohl wir diese Verbindungswege seit dem späten 19. Jahrhundert als die „chinesische Seidenstraße“ bezeichnen, sprachen die meisten Reisenden, aber auch die Bewohner dieser Oasen indoeuropäische Sprachen, zum Beispiel Persisch oder Tocharisch, später auch Uigurisch. Sie spielten eine wesentliche Rolle bei der Weitergabe von westlichen Religionen nach China. Der Buddhismus war zunächst noch eine transnationale Religion für Ausländer, aber seit dem 3. Jahrhundert wurde er zu einer erfolgreichen einheimischen und weitgehend akzeptierten Religion, die China und später auch Korea und Japan maßgeblich beeinflusst hat. Zahlreiche Texte wurden aus dem Sanskrit ins Chinesische übersetzt und dabei natürlich sprachlich und inhaltlich angepasst. Hinzu kamen zahllose Kommentare und Erweiterungen. Mit dem Buddhismus gelangte eine neue Auffassung der menschlichen Existenz nach China: Danach ist diese Existenz nicht einmalig, sondern der Buddhist glaubt an die ständige Wiedergeburt in Form von Tieren, Menschen oder Göttern. Die Form der Wiedergeburt wird vom Karma, das heißt von bewussten physischen und geistigen Handlungen, bestimmt. Schlechte Handlungen haben negative Folgen für die Wiedergeburt. Anders als in der Sicht der traditionellen Kulte trägt nicht die Familie eine kol-

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lektive Schuld für das Vergehen von einzelnen ihrer Mitglieder, sondern das Individuum ist für sein Handeln und seine künftigen Leben verantwortlich. Nur als Mensch ist man imstande, Karma abzubauen und so die völlige Erlösung aus dem Zyklus von Wiedergeburt und Tod zu erwerben. Im indischen Buddhismus wurde man Mönch oder viel seltener auch Nonne, um sich in einer Klostergemeinschaft ausschließlich dieser Aufgabe zu widmen. Laien konnten durch Unterstützung der Klostergemeinschaft persönliche Verdienste erwerben und dann irgendwann als Mönch wiedergeboren worden. Im chinesischen Buddhismus glaubte man allerdings, das über Spenden oder in Form von Ritualen durch Mönche angesammelte Verdienst könne auch auf verstorbene Verwandte transferiert werden. Abgesehen von Gedächtnisritualen für die Verstorbenen, waren Begräbnisrituale für gerade verschiedene Verwandte sowie sogenannte Wasser- und Landrituale für anonyme Tote die wichtigsten Manifestationen des örtlichen Buddhismus. In China erlangten der Buddha des „Westlichen Paradieses“ oder des „Reinen Landes“, Amitabha (chinesisch: Emituofo), und einer seiner Assistenten, der Bodhisattva Avalokitesvara (chinesisch: Guanyin), seit etwa dem 5. Jahrhundert eine immer größere Bedeutung. Amitabha versprach den Eingang ins Paradies für alle, die seinen Namen aufrichtig rezitierten oder ihn in der Meditation persönlich zu sehen bekamen. Im Paradies bestehe die Aussicht, irgendwann selbst zu einem Buddha zu werden. Mit diesem Versprechen wuchs bei vielen Laien, aber auch bei vielen Mönchen und Nonnen die Hoffnung auf Erfolg beim Praktizieren. Während Amitabha selbst als Buddha oder schon Erleuchteter eigentlich nie direkt ins Leben eingreift, ist sein Assistent Avalokitesvara oder Guanyin direkt für die Gläubigen zugänglich. Um ihn entwickelte sich ein umfangreicher Kult. Im späten 10. oder 11. Jahrhundert erlangte Guanyin in China dann noch eine weibliche Form, die zur wichtigsten weiblichen Gottesfigur Chinas schlechthin wurde. Sie hilft, davon sind Buddhisten überzeugt, allen bei der Erfüllung persönlicher Wünsche, vor allem aber Frauen. Da in China ein Laie auch selbständig, also ohne von Mönchen abhängig zu sein, sein Karma verbessern konnte, wurde der persönliche Lebensstil immer wichtiger. Ein Laie war angehalten, fünf Gebote einzuhalten: nicht töten, nicht stehlen, kein illegitimes Sexualverhalten, nicht lügen und kein Genuss

von Alkohol. Diese Gebote zielDer indische Mönch Bodhidharma ten darauf ab, kein schlechtes Kar(um 440 – 528) soll die spezielle ma zu verursachen, indem man Chan-Tradition des Buddhismus seine Selbstbeherrschung verlor nach China gebracht haben (Maleoder sich mit anderen Leuten zerrei auf Seide, spätes 13. Jahrhunstritt. Das konsequente Festhalten dert). am Verbot des Tötens – dies galt auch für Tiere, damit war also vegetarische Ernährung geboten – und am Verzicht auf Alkohol durch Laiengläubige waren eine typisch chinesische Entwicklung. Da in China der gemeinsame Konsum von Fleisch und alkoholischen Getränken ein Wesensbestandteil aller sozialen und religiösen Rituale war und ist, bedeutete das Bekenntnis zum Buddhismus eine radikale Entscheidung, die sich stark auf soziale und familiäre Beziehungen auswirken konnte. Seit etwa dem 7. Jahrhundert entstand dann die Chan-Tradition, im Westen unter dem japanischen

51 Buddhismus: der Einzelne und seine Verantwortung für das künftige Leben

Begriff „Zen“ bekannt. Sie verstand sich als eine mündliche Überlieferung seitens des historischen Buddha. Vor allem Schriftkundige, aber auch weniger gebildete Chinesen wurden von dem Gedanken angezogen, dass man durch eine besondere Erfahrung sofort die Erleuchtung erreichen könne. Der springende Punkt dieses Konzepts war immer, wie der Einzelne wissen kann, wer wann das Ziel der Erleuchtung erreicht hat. Im Lauf der Jahrhunderte stieg das Verständnis des buddhistischen Kanons, und im 7. Jahrhundert entstanden die ersten gedanklichen Ansätze, die verneinten, dass intellektuelles Verständnis in der Frage der Erleuchtung überhaupt möglich oder sogar erwünscht sei. Vor allem seit dem 10. Jahrhundert verdichteten sich diese Ansätze schließlich zum Chan-Buddhismus, wie wir ihn heute kennen. Konkret widmete sich der Chan-Mönch dem Textstudium, kombiniert mit anderen Praktiken, um nicht nur sein erkenntnistheoretisches Verständnis voranzutreiben. Nur der schon initiierte Lehrer oder Abt kann anerkennen, ob ein Schüler erleuchtet ist. Zumindest behauptet dies die offizielle Klostertradition, da es hin und wieder lokale Mönche und Laien gab, die angaben, erleuchtet zu sein, und sogar erfolgreich eigene Bewegungen gründeten. Im Chan gab es immer Strömungen, die nach der persönlichen Inspiration außerhalb der von den Äbten kontrollierten Klostertradition strebten. Es ist diese Form des Buddhismus, die in China langfristig den höchsten Status hatte, vor allem unter höher Gebildeten.

überall wurde ein anderer Vertreter verehrt. Oder es wurden bestimmte dämonische Bedrohungen identifiziert, die man durch Exorzismus vertreiben konnte. Dafür gab es Ritualexperten, etwa daoistische Priester, Schamanen, Medien oder ältere Menschen mit großer ritueller Erfahrung. Heilung kannte viele Formen. Was wir heutzutage als „Traditionelle Chinesische Medizin“ bezeichnen, ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, entstanden aus Gelehrtenmedizin, die zum Beispiel Akupunktur ablehnte und über Jahrhunderte hinweg stark durch theoretische Ansätze bestimmt wurde. Sie war nur Teil eines viel breiteren Repertoires von Erfahrungsheilen (seien es Kräutermedizin oder Benimmvorschriften) und rituellem Heilen. Vor allem das Letztere war wichtig in einer Zeit, in der manche Krankheiten nicht langfristig oder überhaupt nicht geheilt werden konnten. Mit Ritualen konnte man immerhin einen erzählenden Kontext für die Krankheit und den Kranken herstellen, woraus eine eigene therapeutische Wirkung entstehen konnte. Im Großen und Ganzen waren daoistische Rituale eher auf die Lebenden ausgerichtet, mit dem Ziel, dämonische Wesen auszutreiben und zu vernichten, oder um das kosmische Wohl ganzer Gemeinschaften zu stabilisieren. In dieser Rolle wurden die höchsten Meister sogar vom Staat regelmäßig eingesetzt. Buddhistische Rituale waren eher auf die Toten ausgerichtet, da buddhistische Spezialisten besonders befähigt waren, Verdienst für diese anzusammeln und ihnen somit eine bessere Wiedergeburt zu ermöglichen. Wenn Toten nicht durch Begräbnisrituale eine bessere Wiedergeburt ermöglicht wurde, konnten sie zu gefährlichen hungrigen Geistern werden. Eine der wichtigsten jährlichen Feiern war deswegen das „Geisterfest“ in der Mitte des Siebten Monats (nach dem chinesischen Mondkalender). Man glaubte, dass die Geister zu dieser Zeit leichter in unsere Welt kommen und eine Bedrohung darstellen, aber auch leichter beschwichtigt werden konnten. In jeder Region wurden die Feiern anders ausgerichtet; vor allem im Süden waren Rituale für verwandte und anonyme Tote üblich. Ebenso gab es Opern und Prozessionen für lokale Götter.

Rituelle Praktiken begleiten die Menschen über den Tod hinaus Für die meisten Menschen bestand Religion nicht aus der Annahme einer daoistischen oder buddhistischen Lebenshaltung, sondern aus Ritualen für das Seelenheil, zur Heilung von Körper und Geist (die – anders als im Westen – traditionell nicht getrennt wurden) sowie regelmäßigen Feiern für Götter und Gebete, um Hilfe für alle möglichen Lebenslagen zu erbitten. Wenn man nicht gesund und/oder unglücklich war, konnte man auch charismatische Götter verehren, die nicht die lokale Gemeinschaft beschützten, sondern denjenigen, der ihnen Opfer darbrachte. In jedem Gebiet waren dies andere Götter. In Nordchina etwa verehrte man Tiergötter wie Fuchs, Wiesel, Igel, Schlange und andere; individuelle Vertreter dieser Tierarten wurden als Unsterbliche betrachtet, und

Prof. Dr. Barend ter Haar, geb. 1958, lehrt Sprache und Literatur Chinas am Asien-Afrika-Institut der Universität Hamburg. Zu seinen Schwerpunkten zählt die Sozialgeschichte der Religion.

52 Zusammenhalt durch Rituale

Die Song-Dynastie

Schönheit des Scheiterns Frank Kraushaar

Die Ära der Song-Dynastie (960 –1279) wurde stark von Literaten und Bürokraten geprägt. Ohne das Entstehen und Wirken einer neuen Schicht literarisch gebildeter und politisch ambitionierter Landbesitzer (Gentry) und ohne die reichen literarischen Quellen, die sie hinterließen, wäre diese Entwicklung nicht möglich gewesen. Außenpolitisch scheiterte die Dynastie, und die inneren Reformen bedrohten den Zusammenhalt.

Am politischen Anfang der Dynastiegeschichte stand, wie nicht selten, ein Verbrechen. Ein General der Späteren Zhou-Dynastie (907– 960), Zhao Kuangyin (927– 976), der sich zuvor in den ständigen Kämpfen mit Truppen des mächtigen Khitan-Reiches Liao (916 –1125) verdient gemacht hatte, stürzte im Jahr 960 seinen Gebieter. Als Kaiser Taizu – „höchster Ahnenvater“ – regierte Zhao nun persönlich für eineinhalb Jahrzehnte über ein Reich, dessen Hauptanliegen es blieb, territoriale Integrität militärisch durchzusetzen und mit zivilen Mitteln zu festigen. Unmittelbar nach der Verlegung der Reichshauptstadt von Luoyang in das östlich davon gelegene Bian (heute Kaifeng) lud Zhao im Jahr 961 die nach ihm Mächtigsten des Reiches zum Bankett in die neue Hauptstadt. Jeder Teilnehmer dieses Festes wusste, dass Jahre unermüdlicher Feldzüge bevorstanden, denn es galt vor allem, die renitenten,

auf ihrer Unabhängigkeit beharDie Song beanspruchten für sich, die renden „Zehn Königtümer“ im einzige rechtmäßige Dynastie in China zu sein (Szene am Hof des Gründers, Süden des Reichsgebietes (fünf Kaiser Taizu). Tatsächlich beherrschten davon existierten noch) zu unterwerfen. Das waren brillante konkurrierende Dynastien aber einen Aussichten für die Häupter von großen Teil Nordchinas. Familien und Klans, deren Hunger auf eigene Macht – traditionell befriedigt durch großzügige Belehnung aus dem Fundus der zu unterwerfenden Gebiete – und auf prestigeträchtige, höfische Adelstitel ungestillt war.

Der Hochadel verpflichtet sich, künftig nur noch zivile Ämter zu bekleiden Was nun aber auf dem besagten Bankett im August 961 geschah, war nichts weniger als ein nie dagewesener Handel zwischen Kaiser und Hochadel, durch

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Neben der Fortsetzung der Eroberungspolitik belebte Taizong (bzw. Zhao Guangyi, 939 – 997) auch das wissenschaftliche Leben am Hof tatkräftig, indem er an der hofeigenen Akademie große literarische Datensammlungen zusammentragen ließ. Diese dienten im Wesentlichen dazu, das historische, ethnographische, mythologische und erzählerisch erfasste Wissen der Welt zeitgemäß zu konzentrieren, es mit Blick auf die Dauerhaftigkeit einer neuen Machtbasis zu präsentieren und zugleich die allmählich sich formierende, neue Elite von Literaten-Beamten unmittelbar an der Entstehung dieser Verschmelzung von Wissen und Macht zu beteiligen. So entstanden während der Ära „Größter Friede“ (976 – 984) zu Beginn der Herrschaft Taizongs die beiden breitangelegten Textsammlungen „Taiping yulan“ und „Taiping guangji“. Zunächst hatte das „Taiping yulan“ einen höheren Stellenwert, da es die Texte der offiziellen Historiographie sowie der orthodoxen Denkschulen und Wissenschaftsdisziplinen enthielt. Dafür kommt dem „Taiping guangji“ im Nachhinein und besonders aus heutiger Sicht umso größere Bedeutung zu. Die heute häufig benutzte Umschreibung als „Enzyklopädie des Übernatürlichen“ ist allerdings irreführend, da es sich vielmehr um einen immensen Vorrat erzählten Wissens handelt. Das Werk, das in nur zwei Jahren kompiliert wurde, enthält mehr als 7000 Texte in 500 Rollenkapiteln (juan). Diese gliedern sich in 92 Abteilungen, welche insgesamt 1500 Themenbereiche umfassen. den Letzterer seine gesamte militärische und administrative Autonomie an die Zentralregierung rungspolitik. In umfangreichen abtrat. Welche diplomatische FiTextsammlungen ließ er das Wissen nesse, möglicherweise gepaart der Welt zusammentragen. mit subtil angedeuteten Drohungen, damals dazu beitrug, dass die stolze Elite des Schwertadels in den Vorschlag einwilligte, zukünftig lediglich höchste zivile Ämter der bürokratischen Verwaltung des Reiches zu bekleiden, wird wohl immer ein Geheimnis bleiben. Offensichtlich symbolisiert aber diese Gründertat bis heute das Prinzip einer Übermacht des „Zivilen“ über das „Militärische“ (Chong Wen qing Wu), an dem sich die Politik der Song fortan orientieren sollte. Als Taizu 976 unerwartet starb und ihm, in offenem Bruch aller Nachfolgeregelungen, sein eigener Bruder auf den Thron folgte, schien zwar das militärische Einigungswerk nahezu abgeschlossen, die Legitimität der noch jungen Dynastie aber wurde erneut bezweifelt.

Taizong, der zweite Song-Herrscher, widmete sich nicht nur der Erobe-

54 Schönheit des Scheiterns

Zu den wichtigsten Kategorien gehören „Berichte merkwürdiger Vorkommnisse“ (Zhiguai), „Überlieferungen dubioser Ereignisse“ (Chuanqi), „Unsterbliche [Männer]“, „Unsterbliche Frauen“, „Hervorragende Mönche“, „Träume“, „Phantome“, „Monster“, „Drachen“, „Tiger“, „Füchse“, „Schlangen“, „Würmer, Insekten“ usw. Die Aufzählung lässt erkennen, dass weniger die Vorstellung des „Übernatürlichen“ als das Interesse an Dingen, Ereignissen, Persönlichkeiten, Wesen und Schicksalen grundlegendes Motiv der Sammlung war. Zwar wurde die Weiterverbreitung des „Taiping guangji“ als akademischer Druck sehr bald abgebrochen, da das Werk als nicht ausreichend „orthodox“ galt. Dagegen wuchs die Popularität „unorthodoxer“ Stoffe und Charaktere in der Erzählliteratur; ein dauerhafter Trend, der sich auch in späteren Jahrhunderten fortsetzen sollte, deren literarische Liebhaber und Gelehrte das „Taiping guangji“ als Materiallager für Romansujets, Opernlibretti und andere Genres der Unterhaltungsliteratur wiederentdeckten.

Das erste Papiergeld der Welt: eine Banknote, im Jahr 1160 herausgegeben unter der Herrschaft der Song. Die Währung hieß Huizi.

Linie für das Gebiet der militärischen Strategie sowie der Außenpolitik. Zusammen mit dem stetigen Aufbau einer immer kostspieligeren Bürokratie waren diese beiden Bereiche politischen Handelns der Grund dafür, dass das Reich ständig unter Geldnot litt. Trotz sprudelnder Steuereinnahmen und einer intensiven Phase von Reformen des Finanzwesens im 11. JahrhunDie Song erweiterten die von der dert, die den Staat zum HauptTang-Dynastie gegründete Stadt gläubiger und faktischen Lenker Bian am Gelben Fluss und machten der Volkswirtschaft machten, sie zur Hauptstadt. In diesem Ausweiteten sich die Probleme aus. schnitt aus der Qingming-Rolle des Bauern als Kreditsklaven, arMalers Zhang Zeduan (1085 – 1145) beits- und verdienstlose Literaist Bian während des Frühlingsfesten, ein stehendes Heer, das mit tes zu sehen.

Unsichere Staatsfinanzen und die Philosophie der Song Ganz im Gegensatz zu dem, was wir aus heutiger Sicht vielleicht die klare Linie der „Kulturpolitik“ der Song nennen dürfen, verliefen andere Entwicklungen, die durchaus in der Steuerungskompetenz des Hofes in Bian lagen. Das gilt in erster

55 Unsichere Staatsfinanzen und die Philosophie der Song

und letztlich Zhu Xi (1130 –1200) zu verdanken, dass die einstige Macht der Song bis heute trotz politischer Dauerkrise im Licht einer neuen Epoche erscheint, die die Welt Ostasiens mehr veränderte als der finale Mongolensturm des 13. Jahrhunderts.

Ebenso umstritten wie unrealistisch: ein großer souveräner Territorialstaat Kehren wir aber nochmals an den Anfang des 11. Jahrhunderts zurück und damit zu einer selbstverschuldeten außen- und innenpolitischen Schieflage, die viel zum wachsenden Krisenbewusstsein beitragen sollte. Tatsächlich kontrollierte die KhitanDynastie Liao nach wie vor einen beträchtlichen Teil der nordchinesischen Ahnenerde. Nachdem Taizong bereits 979 mit einer ersten militärischen Kampagne zur „Rückeroberung von Yan“ – so wurden die umkämpften 16 Präfekturen bezeichnet – gescheitert war, erließ er 986 erneut ein Edikt: „Wir schätzen diese Gegenden Yans, die sich dereinst innerhalb unserer Grenzen befanden, nun aber schon seit 50 Jahren in die Hände dieser stinkenden Schlucker gefallen sind. Die dortigen Familien halten die Empörung über den Verlust ihrer Lebensgrundlagen mühsam zurück … Nur dank Unseres kaiserlichen Feldzuges werden sie sich von der Schande einer Generation reinwaschen.“ Der propagandistische Ton an sich ist für ein Kriegsedikt nicht überraschend. Das Insistieren auf einer Art „moralischer“ Pflicht, den Norden zu beherrschen, spiegelt aber ein Problem wider, das die Song bis zu ihrem buchstäblichen Untergang im Süden (Seeschlacht von Guangzhou, 1279) begleiten und zeichnen sollte: Irredentismus, also das ideologische Ziel einer Zusammenführung aller Angehörigen einer (kulturell definierten) Ethnie in einen souveränen Territorialstaat, war seit Taizong aus den politischen Machtkämpfen am Hof der Song nicht mehr wegzudenken, obwohl es jedwedem Realismus und politischer Vernunft widersprach. Der Angriff von 986 führte in eine Niederlage, deren Folgen einige Jahre darauf unter Kaiser Zhenzong (997–1022) im Vertrag von Shanyuan (1005) zum Ausgangspunkt einer Neugestaltung der außenpolitischen Beziehungen innerhalb der Großregion Ostasien wurden. Um nunmehr eine Grundlage für Koexistenz zu schaffen, erklärten sich die Song, nach einer zuvor glücklich abgewehrten Kampagne der Liao, erstmals dazu bereit, diese als legitime Herrscher eines ihrem Reich ebenbürtigen Staates anzuerkennen.

einer Million Soldaten wohl das größte der damaligen Welt war geschrumpfte Rest des Reichs, 1279 und 80 Prozent des Staatshaushalts verschlang, kriegsbedingte der Flotte, die der MongolenherrInflationen, ganze Bevölkerungsscher Kublai Khan hatte bauen lasschichten und Gegenden, die auf sen. Die Illustration von 1044 zeigt den Ertrag aus der Produktion ein Kriegsschiff der Song mit Katavon Luxusgütern angewiesen wapult. ren: Das Geld, dessen Bedeutung durch die Einführung gedruckter Wechsel – des ersten Papiergeldes in der Geschichte der Zivilisation – und staatlicher Bankhäuser seit dem 11. Jahrhundert stieg, steigerte zwar einerseits die Dynamik des Wirtschaftslebens, diese aber erwies sich als wenig stabil. Im Großen und Ganzen ging nichts mehr ohne Geld, aber sein Wert blieb unsicher. Inflations- und Korruptionsdruck prägen jede Gesellschaft zutiefst, auch jene dieser Dynastie. Die Song stellten dieser Unsicherheit als ihre dominante Denkrichtung den Neokonfuzianismus entgegen. Dieser präsentiert sich als Streben nach vollkommener Durchdringung und „Harmonisierung“ von Kosmos und Gesellschaft auf der Grundlage unbestechlicher Prinzipien und Gesetze. Darin sollte noch das kleinste Einzelteilchen auf einem eigenen Prinzip beruhen und der einzelne Mensch, dank seines Lernvermögens, sich in Übereinstimmung mit dem Ganzen bringen. Zerfall und Entwertung, die Grunderfahrungen der Zeit, ließen sich denkend, erkennend und andere belehrend überwinden. Es ist Männern wie Zhou Dunyi (1017 –1073), Zhang Zai (1020 –1077), den Brüdern Cheng (Hao, 1032 –1085, und Yi, 1033 –1107) In der Seeschlacht vor Guangzhou

unterlagen die Südlichen Song, der

56 Schönheit des Scheiterns

Dieser Friedensvertrag hielt, bis ihn die Song 120 Jahre später brachen – mit fatalen Folgen. Er diente auch als Modell, um 1044 Grenzstreitigkeiten mit dem Reich der Westlichen Xia (1138 –1227), das weite Teile des heute so genannten Gansu-Korridors kontrollierte, zu beenden. Unter Hofbeamten und innerhalb der Literatenelite spaltete der Vertrag die Gemüter. Seine diplomatische Gültigkeit änderte nichts an der moralischen Umstrittenheit, die den bürokratischen Beamtenstaat lähmte.

Die Schicht der Gentry: zwischen Reformeifer und Kunstbegeisterung Nach 1043 hatten die Unfähigkeit der Song, die Westlichen Xia militärisch zu besiegen, und der Zwang, sich gute Beziehungen teuer zu erkaufen, starke Reformkräfte in der Politik geweckt. Zu den Unterstützern Fan Zhongyuans (989 – 1052), des ersten Anti-Establishment-Politikers der Song, gehörten vor allem Newcomer innerhalb des Beamtenapparats, die sich, wie Fan selbst, persönliche Anerkennung durch Beweis ihrer Fähigkeiten hart erkämpft hatten. Die meisten unter ihnen entstammten Familien von Grundbesitzern, der Gentry, deren Vermögen oft

Der Beamte und Dichter Su Shi

Bei den Beamtenprüfungen (hier in

wurde als Gegner des Reform-

Bian) ging es vornehmlich darum, die

kurses unter Kanzler Wang Anshi

literarische Schriftgelehrsamkeit der

1071 kaltgestellt. Er wehrte sich

Kandidaten zu überprüfen. Reform-

mit Versen, die zugleich selbst-

kräfte forderten darüber hinaus, die

ironisch und selbstbewusst

moralische Integrität der angehenden

waren.

Staatsdiener zu testen.

57 Die Schicht der Gentry: zwischen Reformeifer und Kunstbegeisterung

terarische Schriftgelehrsamkeit unter Beweis stellen, sondern auch auf ihre moralische Integrität hin überprüft werden. Zwar scheiterte Fan als Politiker letztlich am Widerstand seiner konservativen Gegner, sein mutiger Idealismus hatte sich aber als eine Art Stimme des Gewissens und moralische Triebkraft innerhalb der gerade entstehenden Gentry-Kultur bewährt. Zugleich wurden die Reformer der Song, wo es ging, als Quertreiber und Spaltpilze bekämpft. Meist konterten sie mit verschärfter Zensur und anderen Repressalien. Hinter diesem gesellschaftlichen Dauerdisput verbargen sich Risse im Weltbild der Gentry, die sich durchaus produktiv auswirkten, verfolgt man ihr Wirken in den Bereichen der Kunst. Zunächst ist festzuhalten, dass die Künste der Literaten, das heißt vor allem lyrische Dichtung, Landschafts- und Gegenstandsmalerei sowie die Schreibkunst (Kalligraphie), im 11. Jahrhundert politischer wurden, als sie es je zuvor gewesen waren. Die Kunst öffnete sich weiter, als das bisher bekannt gewesen war, der Welt des Privaten und Alltäglichen. Der längst als schwülstig empfundene, ornamentale Stil der höfischen Naturlyrik, ein Relikt der Tang, wurde etwa durch Verse des Dichters Su Shi (1037 –1101) wie die folgenden ins ästhetische Abseits gerückt: „Wo sich der Alte seines Blumenhaarschmucks nicht zu schämen glaubt, / Schämt sich indes die Blume ihres Sitzes auf des Alten Haupt. / Betrunken kehrt er heim, auf der Chaussee lacht man ihn beinah aus, / Zehn Li nur Perlenvorhänge, durch die man ihm dabei nachschaut.“ Ein „greiser“ Literat – damit meinte der noch gar nicht greise, aber politisch kaltgestellte Autor sich selbst – mischt sich unter die Haufen eines Volksfestes. Die ihn vom Hörensagen zu kennen meinen, mögen sich für ihn „schämen“, er spürt davon ebenso wenig wie von dem Spott, der ihn auf der Chaussee zu verfolgen scheint. Stattdessen kippt die genialverspielte Selbstironie des Bildes am Ende unerwartet um und dient nun der poetischen Apologie des Philosophen, der sich furchtlos zu sich selbst bekennt, während ihm durch halb herabgelassene Vorhänge die nunmehr ihrerseits verschämten, zugleich neugierigen Blicke nur so zufliegen. Damit steht er plötzlich nicht mehr am Rand, sondern über einer Gesellschaft, für die er, selbst um den Preis von Amt und Würde, Verantwortung übernimmt. Das Kurzgedicht Su Shis entstand 1071 in Hangzhou, noch am Anfang der Reformära unter Kanzler Wang Anshi (1021 – 1086), der im selben Jahr

knapp ausreichte, um langwierige Studien und notwendige Reiseunternehmen der Söhne zu finanGuo Xi für Kaiser Shenzong (1067 – zieren. 1085) angefertigt, spielte in den Fans Reformen sahen unter anDetails der Bildkomposition auf derem die Einschränkung der Verdie Politik des Herrschers an. erbbarkeit von Ämtern, die Erhöhung der Vergütungen für Provinzbeamte (so sollte verhindert werden, dass diese sich bestechen ließen) sowie eine Erweiterung der Beamtenprüfungen vor; die angehenden Beamten sollten nicht nur ihre liDas Landschaftsgemälde mit dem

Titel „Vorfrühling“, vom Hofmaler

58 Schönheit des Scheiterns

Reformgegner, zu denen auch Su gehörte, von Hofämtern in die Provinz versetzt und damit unschädlich gemacht hatte. An einen engen und privaten Freundeskreis gerichtet und aus der Laune eines Augenblicks entstanden, stellt das Gedicht den Autor, der eben erst durch ein Protestschreiben an den Kaiser selbst öffentlich Aufsehen erregt hatte, als unerschrocken selbstbewussten Lebemann und Star der lokalen Szene vor. Begabte Literaten verfügten über eine Vielzahl von Ausdrucksmitteln, die es ermöglichten, die politische Zensur literarischer Texte – auch ein Erzeugnis der Epoche – hinters Licht zu führen. Aber auch zum Zweck öffentlicher Lobpreisung an prominentester Stelle bediente man sich subtiler Anspielungskunst, die in anderen Kulturen und Zeitaltern ihresgleichen sucht. Nur ein Jahr nach Su Shis Protestschreiben und seinem raffiniert mehrdeutigen Vierzeiler präsentierte der Hofmaler Guo Xi (um 1010 – um 1090) dem Reformkaiser Shenzong (1067 – 1085) eine monumentale Landschaftskomposition, die gleichsam den Beginn eines neuen, großen Zeitalters zelebrierte. Das etwa eineinhalb Meter hohe und gut einen Meter breite Rollbild, das sich heute im Palastmuseum in Taipei (Republik China) befindet, stellt eine bizarr wirkende Landschaft dar, die sich um einen aus Frühjahrsdünsten ragenden Gipfel entfaltet. Den Zeitgenossen war die Assoziation „Berg – imperiale Macht“ ästhetisch ebenso vertraut wie die Verknüpfung von „Vorfrühling“ (Titelmotiv des Gemäldes) mit der kaiserlichen Gnade. Das Erstaunliche an dem Gemälde ist aber die distinguierte Indirektheit, mit der es dem politischen Utopismus der Reformer, die am Hof Shenzongs die Macht hatten, Vorschub leistet. In winzigen Details entdeckt man, hierarchisch gesondert, das klassische Gesellschaftsbild der Zeit: unten, Mitte links, eine Frau, die mit Kindern nach einer Bootsreise an Land geht; leicht darüber, Mitte rechts, Fischer, die ihren Fang an Land bringen; links außen, auf einem Pfad unterwegs in ein Nebental, buddhistische Pilger; von jenen durch einen Felsvorsprung abgesetzt und eindeutig sich auf den Hauptgipfel zu bewegend, ein reisender Literat mit zwei Trägern; auf mittlerer Höhe des Bildes, rechts vom Gipfel, die Dächer eines daoistischen Klosters, halb eingetaucht in jenen Dunstschleier, aus dem weiter oben der Gipfel als Symbol der Himmel und Erde passiv verbindenden kaiserlichen Macht ragt, gleichsam sich selbst überlassen und unerreichbar.

Fast könnte so übersehen werden, dass nur die Wegrichtung des Literaten in Richtung Gipfel weist. Als Gesamtkomposition aber steht das Gemälde für den Utopismus einer Epoche, deren führende Vertreter glaubten, die vertrackte Schieflage, in die sich das Reich der „glorreichen Song“ längst verfahren hatte, durch radikale Reformen in ein dauerhaftes Gleichgewicht befördern zu können.

Das neue Menschenbild als Ertrag politischen Scheiterns In Wirklichkeit sollten sich die Song sehr schnell und immer aussichtsloser von diesem hehren Ziel entfernen. Der jugendliche und ehrgeizige Shenzong – er bestieg 1067 den Thron als 19-Jähriger – unterstützte nicht nur den Radikalreformer Wang Anshi, der durch seine Versuche einer Landumverteilung zugunsten selbständiger Bauern die Wirtschaft stärken wollte, aber die Grundbesitzerfamilien damit gegen sich aufbrachte. Vielleicht suchte der Kaiser von um sich greifendem Unmut abzulenken, als er sich 1082 zu einem Feldzug gegen die Westlichen Xia entschloss, dessen Ziel nicht nur die Rückeroberung von Ahnenerde war, sondern natürlich auch die Aussetzung der Tributzahlungen, vielleicht gar der Anfang einer Revision der in China längst nicht akzeptierten neuen Weltordnung. Nach ersten Anfangserfolgen schlug der Versuch fehl, die Westlichen Xia erstarkten, und nicht nur Shenzong, sondern auch seine Nachfolger Zhezong (1085  –1100) und Huizong (1100  –1126) mussten sich mit wachsenden Diskrepanzen zwischen wohlhabenden und verarmenden Bevölkerungsschichten, einer bedrückenden außenpolitischen Lage, immer giftigeren Hofintrigen sowie wachsender Korruption im Staat abfinden. So mag es nicht allein dem persönlichen Charakter Huizongs geschuldet sein, dass dessen Interesse am Regieren rasch schwand, die Leidenschaft und der Sinn für die Förderung einer exquisiten und prachtvollen Reformdenker und Staatsmann: Kanzler Wang Anshi kämpfte für eine radikale Modernisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik.

59 Das neue Menschenbild als Ertrag politischen Scheiterns

akademischen Kultur am Hof dagegen zu Motiven seines Handelns wurden. Während unter Huizong die Aura das kaiserlichen Hofes als Zentrum der Zivilisation und des kultivierten Lebens im Reich und darüber hinaus an Strahlkraft gewann, verlor derselbe Hof als Zentrum des Staatswesens zunehmend an politischer Bedeutung. Der Kaiser selbst scheute keinen Aufwand, um an seiner Hofakademie die exzellentesten Maler und Bildhauer der Zeit zu versammeln, prägte eine neuartige, zugleich persönlich-sensible und höchst repräsentative Handschrift, das sogenannte magere Gold (Shou jin), und gab auch in anderen Künsten, wie Tier- und Pflanzenmalerei und der lyrischen Musik der Qin, seinen Stil vor. 1103 gründete Huizong zunächst am Hof die erste staatliche Medizinakademie, an der Gentry-Familien ihre Söhne als „LiteratenMediziner“ ausbilden lassen konnten. 1115 wurde sie zum Modell für zahlreiche Filialen auf Präfekturund Kreisebene. Die ersten Grundlagen eines staatlichen Wohlfahrtssystems waren so gelegt worden. Zugleich propagierte sein Kanzler, Cai Jing (1047  – 1126), die „Neue Linie“ (Xin Fa), ein Begriff, unter dem das radikale RegierungsproKunst und Kultur florierten, wähgramm seines Vorgängers Wang rend die Macht der Song bröckelAnshi notorisch bekannt war, als ideologisches Dogma. Währenddeste. Parallel dazu wurden den sen schienen sich die Jurchen, ein Frauen Aufgaben zugewiesen, protomandschurisches Volk, das eidie vermeintlich ihrer Rolle entnen Staat unter dem Namen Jin im sprachen (Hofdamen beim SpinNordosten etabliert hatte, den Song nen und Bearbeiten von Seide).

als Alliierte gegen ihre Hauptwidersacher, die Liao, anzubieten. Doch das Kalkül der Hofbeamten, die einen Angriff der Jin auf Liao, unter Bruch des Vertrages von Shanyuan, unterstützten, schlug fehl: 1125 griffen die Jin, unmittelbar nach ihrem Sieg über Liao, Song an und stürzten das Reich in seine tiefste Krise. Sie eroberten weite Teile Nordchinas und belagerten wiederholt die Hauptstadt, so dass Huizong schon 1126 zugunsten eines Sohnes abdankte. 1227 eroberten die Jurchen Bian endgültig, plünderten die Stadt und ihre Umgebung. Sie entführten den Kaiser selbst sowie seinen Hof, darunter mehrere tausend Künstler und Spezialisten, in ihre nördlichen Stammgebiete. In der Provinzhauptstadt Hangzhou südlich des Yangzi-Unterlaufes, der ein strategisch wichtiges Hindernis darstellte, etablierte ein entkommener Prinz das neue Verwaltungszentrum des Reiches und regierte seit 1127 als Kaiser Gaozong. Die Stadt wurde fortan offiziell der „vorübergehende Sitz“ (Xingzai) genannt, doch nach dem Abschluss eines Friedensvertrages mit den Jin im Jahr 1141 sollte sich die politische Niederlage als nicht revidierbar erweisen. Die Weltlichkeit der Literatenkünste, die wir zuvor bei Su Shi betrachtet haben, wurde jetzt mehr und mehr von einer Neigung zur introvertierten Subjektivität durchdrungen, die schon von Zeitgenossen als zwar ästhetisch attraktiv, aber moralisch verdächtig kritisiert wurde. Das hatte nicht immer so handfeste Gründe wie bei der Dichterin Li Qingzhao

60 Schönheit des Scheiterns

(1084  –1155), für welche die literarische Öffentlichkeit  –  nicht bei Hof oder in Akademien, sondern in privaten Gesellschaften der Gentry, eine neue Dimension des Öffentlichen – der einzige Raum war, der ihr die volle Teilnahme am Zeitgeschehen ermöglichte. Im folgenden Text Lis muss zwar eine vom Geliebten verlassene Frau als Subjekt vermutet werden; diese anonyme Person ist aber kaum mehr als äußere Fassade. Die dichterische Grundstimmung ist vielmehr die des Zu-Spät-Gekommen-Seins einer ganzen Epoche, die allmählich in den Schatten ihrer eigenen Ambitionen zurücktritt: „Wonach, wonach? Wohin, wohin? / So klamm und still! So still und klamm! / Vereinsamter, schwermütig-trauriger Sinn. / Jetzt ist es warm, dann wieder kalt. So flieht die Zeit. / Und kaum ein Halt darin. / Drei Becher, noch zwei Schoppen faden Schnaps – / Wer hält so stand, / Kommt kühl der Abendwind? / Wildgänse ziehn vorbei, / Wie durch mein wundes Herz, / Obwohl ich längst damit vertraut geworden bin.“ Die ästhetische Welt der Song sollte nach dem Verlust des Nordens noch an Reichtum gewinnen. Das Menschenbild der Gentry wurde in vielerlei Hin-

sicht differenzierter, kritischer, aufgeTypisch für die späte Song-Ära schlossener. Die zugleich zunehmenwar der Rückzug ins Private. de Diskriminierung der Geschlechter Auf ihren Gütern – im Bild ein war die Folge einer immer konsequenAnwesen bei Lampenlicht ter durchdachten Rollenethik. Dichte(Seidenmalerei, 13. Jahrhunrische Stile wurden nach einem Spekdert) – verfassten Dichter und trum kontrastierender Mentalitäten Literaten vielfältige Werke. zwischen „heroisch-frei“ (männlich) und „reizend-zurückhaltend“ (weiblich) geordnet und bewertet. Dazu gaben sich viele führende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie selbstverständlich eine zweite Reputation als Privatiers neben ihrer amtlichen. Die technische und kommerzielle Entwicklung des Drucks ermöglichte privaten Autoren und Herausgebern eine unabhängige Tätigkeit, welche die Wissenskultur innerhalb der Gentry diversifizierte und die von Taizong und Huizong unternommenen Versuche, intellektuelle Kompetenz gezielt an die Autorität des Hofes zu binden, unterwanderte. Während langer Urlaubsperioden auf Privatgütern, auf Reisen oder einfach nebenher wurden inoffizielle Lokalgeschichten und persönliche Wissenskompendien von teils enzyklopädischer Breite geschaffen,

61 Das neue Menschenbild als Ertrag politischen Scheiterns

zum Beispiel die „Aufzeichnungen vom Traumbach“ (Mengqi Bitan) des Shen Kuo (1031 –1095), detaillierte Reisetagebücher wie der „Bericht von der Einreise in [das entlegene] Shu“ (Ru Shu Ji) des Lu You (1125 – 1209), kunstkritische Schriften und politisch hochbrisante, lyrische Zeitporträts. Was uns vom literarischen Betrieb der letzten Jahrzehnte erhalten bleibt, zeugt von einer Zunahme der Vitalität und Bedeutung privater Öffentlichkeiten. Diese Entwicklung, die in etwa mit Jiang Kui (um 1155   –   um 1221) einsetzte, endete mit den sogenannten Vier Großen Ci-Dichtern der Song-Endzeit (Song-mo si da Cijia), die keineswegs allein als Dichter herausragen. Tatsächlich verkörpern sie alle den Typ des Rundumtalentes und reinen Literatenkünstlers, die im Sinn des Ideals vom Literatenbeamten eigentlich undenkbar war. Jiang Kui komponierte nicht nur selbst Melodien zu seinen lyrischen Texten oder schrieb Texte zu eigenen Kompositionen, sondern er war darüber hinaus Musiktheoretiker, Kalligraph und Kalligraphiekritiker. Zhang Yan (1248  –1320) verfasste das Novum einer detaillierten Poetik der Liedkunst, die musikalischen Problemen viel Platz einräumt. Und Zhou Mi (1232  –1298) schrieb, schon als Untertan des mongolischen Khans, im letzten Drittel seines Lebens ein nostalgisches Werk der kollektiven Erinnerung an die verschiedenartigsten Begebenheiten und Persönlichkeiten unter den Song, um zu zeigen, dass er „den Gedanken an das Vaterland und die Muttererde nicht aufgegeben“ habe. Von weiblichen Kapazitäten berichten die reichen Quellen der Zeit übrigens kaum. Die große Ausnahme Li Qingzhao erklärt sich wohl nicht einzig durch die Originalität ihres Werkes, sondern auch durch den Umstand, dass sie mit Zhao Mingcheng (1081  –1129), einem Literatenbeamten und Kunstkenner mit exzellenter Reputation, verheiratet war. Daher konnte eine derart begabte, geistreiche Ehefrau schlichtweg nicht ignoriert werden, mochte ihr Selbstbewusstsein auch noch so anstößig erscheinen.

prägen sie auch traditionalistische Vorstellungen in China, und zwar bezeichnenderweise ungeachtet der Realitäten, mit denen im 21. Jahrhundert zu rechnen ist. Als Kulturepoche bedeutet das Zeitalter der Song aber sehr viel mehr. Es ist nicht nur die Zeit der latenten Krisen und einer ebenso hartnäckigen wie erhellenden Gedankenarbeit, die geistige Linien entwickelt, an denen entlang sich die menschliche Welt und ihr Geschehen dauerhaft erklär- und verhandelbar machen ließen. Es ist auch die Zeit eines neu entstehenden, erstaunlich freizügigen Bewusstseins, dessen Grund ein erwachtes Interesse an der unvorhersehbaren Verwandelbarkeit des Selbst war. So schrieb ein vormals hochrangiger Beamter namens Yang Wanli (1127 – 1206), der sich aus Protest gegen die Tyrannei einer Clique von Kriegstreibern aus der offiziellen Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, um 1200 die folgenden Verse, in denen sich das Scheitern an der Realität wie von selbst aufhebt: „Beim Aufstehen nach dem Mittagsschlaf / Pelzig der Mund vom Beizgeschmack der frischen Pflaumen bleibt. / Durch Fensterseide des Bananenbaumes Laubgrün treibt. / Der Tag noch lang, erwachend schau ich, völlig unbedacht, / Dem Jungen nach, der Pollen haschend sich die Zeit vertreibt.“ In den Augen der Nachwelt behält das Zeitalter der Song noch immer den negativen Beigeschmack der innenpolitischen Debakel und militärischen Demütigungen durch seine Rivalen. Auch wenn die Forschung seit dem 20. Jahrhundert längst der Größe seiner staatsmännischen Leistungen, wirtschaftlichen Prosperität, Fähigkeit zum gesellschaftlichen Wandel, wissenschaftlichen und technischen Innovationen und der Originalität seiner Philosophie, Dichtung und Kunst Rechnung trägt – bisher scheint man sich noch nicht grundlegend mit der Frage beschäftigt zu haben, inwieweit Scheitern und Erfolg dieser Epoche einander bedingen.

Mit kulturellem Selbstbewusstsein gegen die harte Wirklichkeit Das Entstehen eines Kulturpatriotismus, der dem krassesten Widerspruch politischer Wirklichkeit erfolgreich standhält, und der Rückzug gebildeter Frauen aus dem öffentlichen Leben – dies sind Tendenzen, die sich mit den Song in die Gesellschaftsgeschichte der späten Kaiserzeit einschreiben. Bis heute

Prof. Dr. Frank Kraushaar, geb. 1967, lehrte von 2009 bis 2019 Sinologie an der Universität Lettlands in Riga.

62 Schönheit des Scheiterns

Yuan-, Ming- und frühe Qing-Dynastie

Im Zeichen der „Pax Mongolica“ Barend ter Haar

Die Zeit vom 13. bis zum 18. Jahrhundert wurde geprägt von der Mongolenherrschaft: der Yuan-Dynastie, und der an sie anknüpfenden Ming-Dynastie. Dann übernahmen die Qing, Jurchen-Stämme des Nordostens, die Macht. Lange Friedensperioden sorgten für stetiges Wirtschaftswachstum. Die Kontakte mit dem Westen nahmen zu.

Das 13. Jahrhundert ist auf dem gesamten eurasischen Kontinent die Zeit der mongolischen Feldzüge und Eroberungen. Der darauffolgende Frieden, die „Pax Mongolica“, ermöglichte erstmals direkte Kontakte zwischen Europa und China. Einzelne Missionare und mutige Händler reisten über Land unter Mühen hin und zurück, und es finden sich kleine Gruppen von Kriegsgefangenen auf allen Seiten. Dennoch waren die Kontakte in dieser Zeit eher noch zufällig und sind meist schlecht dokumentiert. Im frühen 16. Jahrhundert erreichten westliche Kaufleute China und Japan zum ersten Mal über das Meer und begannen, die bereits existierenden süd- und ostasiatischen Wirtschaftsgebiete und Handelsnetze mit Europa und Amerika zu verbinden. Es entstand eine globale Ökonomie, die sich in den nächsten Jahrhunderten stark entwickelte. Der Westen wurde zur wichtigsten militärischen Macht

Der Mongole Kublai Khan beherrschauf dem Meer, aber China war te nach dem endgültigen Niederrinund blieb vorerst die dominangen der Südlichen Song ganz China. te Wirtschaftskraft. Chinesische Die französische Buchmalerei (um Produkte waren auf allen Seiten begehrt; erst mit der illega1412) zeigt ihn mit den Reisenden len Einfuhr von Opium fanden Niccolò und Matteo Polo, denen er die Engländer im 19. Jahrhundert zum Abschied eine goldene Tafel ein Mittel, die Handelsbilanzen überreichen ließ. zu ihren Gunsten umzukehren. Unsere Vorstellung von China in jener Zeit ist maßgeblich von den Reiseberichten des venezianischen Kaufmanns Marco Polo (1254   –1324) beeinflusst, die der Berufsschreiber Rustichello unter seinem Namen auf Französisch verfasste. Auch Kolumbus besaß ein Exemplar, das mit seinen Anmerkungen versehen bis heute in Sevilla erhalten ist. Es waren jedoch nicht nur Westeuropäer, die nach China reisten, sondern beispielsweise auch der ma-

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sogar den Papst und hielt eine Messe. Ebenso machte er dem französischen sowie dem englischen König seine Aufwartung. Die „Pax Mongolica“ ermöglichte einen meist wenig sichtbaren Kulturaustausch, der jedoch von entscheidender Bedeutung für die europäische Geschichte war: Wichtige Erfindungen aus China wie das Schießpulver, der Kompass und möglicherweise sogar der Buchdruck mit beweglichen Lettern erreichten Europa in dieser Zeit. Selbst Papier aus China, wenn auch nur indirekt über die Seidenstraße und Persien, gelangte damals in den Westen. Ein dauerhafter Kontakt kam nicht zustande, aber durch den uigurischen Nestorianismus inspirierte Gerüchte über einen christlichen Fürsten im Osten – bekannt als der „Priesterkönig Johannes“ – waren eine ebenso wichtige Anregung für die großen Entdeckungsreisen im späteren 15. Jahrhundert wie die Berichte von Marco Polo.

Von Dschingis Khans Raubzügen zum durchorganisierten Reich Wie alle langen Friedensperioden gingen der „Pax Mongolica“ Jahrzehnte des Krieges voraus. Der Stammesführer Dschingis Khan (ursprünglich Temüdschin, um 1190  –1227) vereinte Ende des 12. Jahrhunderts zahlreiche türkisch-mongolische Klans nordwestlich von China zu einer schlagkräftigen Einheit, die sich nur durch die Beute immer neuer Raubzüge bei der Stange halten ließ. Erst nach und nach setzte man auf langfristige Eroberung. In diesem Prozess entstand durch die Inkorporation zahlreicher Völker mit türkischer (besser gesagt uigurischer) Kultur zum ersten Mal ein mongolisches Volk, das sich selbst als solches bezeichnete. 1218 eroberten Dschingis Khans Armeen das Reich der Kara-Kitai zwischen dem Süden des heutigen Kasachstan und Xinjiang, dessen führende Elite ursprünglich aus dem Gebiet der Kitai-Nomaden nördlich von China kam. Diese Elite brachte wichtige Sprachkenntnisse (Chinesisch, Persisch, Uigurisch) und kulturelles Wissen ein, was den Mongolen dabei half, das Jin-Reich der Jurchen im Norden Chinas und das Song-Reich im Süden zu erobern. 1234 wurde zuerst Jin zerschlagen. Damit kontrollierten die Mongolen das gesamte nördliche China oberhalb des Huai-Flusses. Parallel zu dieser Expansion begannen die Mongolen und ihre Verbündeten ernsthaft mit der langfristigen Sicherung ihrer Eroberungen, womit erstmals wirklich von einem „mongolischen Reich“ die Rede sein konnte.

rokkanische Berber Ibn Battuta (1304 –1368), der ebenfalls einen Reisebericht hinterlassen hat. nischen Kirche, die sich unter der Es gab zudem Reisende in die „Pax Mongolica“ in Richtung Jeruandere Richtung, zum Beispiel den salem aufmachten (Wandmalerei, uigurischen Mönch Rabban Bar die nestorianische Priester bei einer Sauma (um 1220 –1294), der mit Prozession am Palmsonntag darseinem Schüler Rabban Markos stellt). (1245 –1317) im Jahr 1275 eine Pilgerreise antrat. Diese sollte von der damals noch relativ neuen Hauptstadt des chinesischen Teils des mongolischen Reiches (das heutige Peking) nach Jerusalem führen. Weil Kriegshandlungen den direkten Weg versperrten, reisten sie zunächst nach Bagdad. Die zwei Männer waren keine Anhänger des Islam, sondern „Lehrer“ (Rabban) der nestorianischen Kirche, einer christlichen Tradition, die damals im Nahen Osten und in Zentralasien weit verbreitet war. Für sie war Jerusalem, ebenso wie für Juden, Muslime und andere Christen, ein heiliger Ort. In Bagdad wurde Rabban Markos zum neuen Oberhaupt seiner Kirche ernannt, während Rabban Sauma als Gesandter des mongolischen Ilkhans von Persien nach Europa geschickt wurde, um mit dem französischen König eine Allianz gegen den Islam zu bilden. Dieses Vorhaben scheiterte, aber Rabban Sauma besuchte zweimal Rom. Beim zweiten Mal traf er Früher Kontakt mit dem Westen: Es waren zwei Vertreter der nestoria-

64 Im Zeichen der „Pax Mongolica“

Persern, Uiguren und anderen, Geführt von Dschingis Khan (Seidie bei der politischen und steuerdenmalerei, 14. Jahrhundert), dranlichen Verwaltung des Reiches gen die mongolischen Reiterheere halfen und damit einen wesentvon Norden her immer weiter nach lichen Teil des repressiven StaatsChina vor. Diese Eroberungen bildeapparats ausmachten. ten die Basis für die spätere YuanDie dritte Schicht bestand aus Dynastie. der zuerst unterworfenen Bevölkerung des chinesischen Nordens, die als „Han“ bezeichnet wurde, aber verschiedene ethnische Gruppen umfasste – die Bezeichnung ist daher nicht mit dem heutigen, ethnisch konnotierten Namen für die chinesische Mehrheitsbevölkerung zu verwechseln. Die vierte und niedrigste Schicht wurde als „Manzi“ (bei Marco Polo: „Mangi“) oder „südliche Barbaren“ bezeichnet und durch die ehemaligen Untertanen der Südlichen Song gebildet. Den Angehörigen dieser niedrigsten Schicht wurde offiziell nicht das Recht zugestanden, sich an der Verwaltung des Reiches zu beteiligen, de facto waren die Beamten aus der Zentrale allerdings auf die Zusammenarbeit mit lokalen Eliten angewiesen. Außerdem gewann das Denken der „südlichen Barbaren“, der Neokonfuzianismus, zunehmend an Einfluss, auch am Hof, wo die persönlichen Tutoren des Yuan-Kaisers ihn darin unterrichteten. Als 1315 das Prüfungssystem für die Rekrutierung von Beamten

Mit der Eroberung des chinesischen Nordens standen nun wichtige Experten in den Diensten der mongolischen Herrscher, die wussten, wie man ein agrarwirtschaftliches Reich verwalten und dieses finanziell über Steuern langfristiger abschöpfen konnte als durch Beutezüge. Außerdem verfügte man nun über wichtige militärische Kenntnisse, etwa zum Einsatz von Schießpulver und Techniken der maritimen Kriegführung. Beides war entscheidend für den Kampf gegen die Südliche Song-Dynastie, da die Reiterheere der Mongolen weder die zahlreichen Gewässer im Süden ohne Schiffe überwinden noch die Grenzgarnisonsstädte ohne Artillerie einnehmen konnten. So wurden die Song erst 1276 faktisch unterworfen. 1279 sprang ein Minister nach einer verlorenen Seeschlacht mit dem letzten Kind-Kaiser beim heutigen Hongkong ins Meer und ertrank, womit die Dynastie endgültig Geschichte war. Die Eroberung des Südens fand unter Kaiser Kublai Khan (1215   –1294) statt, der seit 1264 über Nordchina herrschte und 1271 Kaiser der neugegründeten Yuan-Dynastie wurde. Die Bevölkerung wurde in vier Schichten unterteilt, mit jeweils eigenen Rechten und Pflichten. An der Spitze der Hierarchie standen die Mongolen, inzwischen stark gewachsen durch die Inkorporation von türkischen Stämmen aus dem Westen. Unter ihnen stand eine gemischte Schicht von

Die Mongolen profitierten von den wissenschaftlichen Errungenschaften der Chinesen. So übernahmen sie auch die Kenntnis des Schießpulvers (die Illustration zeigt eine chinesische Kanone, 14. Jahrhundert).

65 Von Dschingis Khans Raubzügen zum durchorganisierten Reich

wiedereingeführt wurde, erklärte man die Interpretation des Song-Philosophen Zhu Xi der „Vier Bücher“ des Konfuzius zum orthodoxen Prüfungsstoff. Die Mongolen verstanden sich auch nach dem Tod Dschingis Khans und seiner Nachkommen immer noch als Weltreich, aber de facto entstanden getrennte politische Systeme: unter Kublai Khan in China (bis 1368) und der Mongolei (in männlicher Linie bis 1388); in Form der „Goldenen Horde“ in Südrussland und in Westsibirien (bis 1502); dazu kamen das Ilkhanat in Persien und Irak (bis 1335), eine Herrschaft in Zentralasien (bis 1507), und in Indien gab es seit 1526 einen weiteren Zweig. Dessen Herrscher waren als „Moguln“ bekannt und wurden erst 1858 von der englischen Ostindien-Kompanie abgesetzt. Selbstverständlich passten diese Herrscherfamilien sich der jeweiligen lokalen Situation an, aber sie verschmolzen nicht mit den lokalen Systemen – sie gründeten „Reiche“, keine Länder. Was das bedeutet, lässt sich auch am Verhältnis zwischen dem Khan in China und verschiedenen religiösen Führern zeigen. Der Khan erkannte sie an

und förderte sie, aber nicht unbedingt aus persönlichem Glauben, sondern in seiner politischen Rolle als höchster Schiedsrichter. Deswegen förderte Kublai Khan auch den tibetischen Mönch Chögyel Phagpa (1235   –1280). Phagpa nutzte diese Unterstützung, um die Position der von ihm vertretenen Shakya-Tradition innerhalb des damaligen tibetischen Gebiets zu stärken – nicht nur religiös, sondern auch in Form militärischen Schutzes und sogar durch Bekämpfung seiner religiösen Konkurrenten. Phagpa spielte zudem eine wichtige Rolle in der symbolischen Darstellung des Kublai Khan als buddhistischer Weltherrscher. Er leitete ausführliche Rituale für seinen Schutzherrn und entwickelte sogar eine alphabetische Schrift für das neue Reich, die aber nie breit eingesetzt wurde. Als die Yuan durch die Ming ersetzt wurden, übernahmen die neuen Herrscher diese Rolle des Khans, und bis Anfang des 16. Jahrhunderts besuchten regelmäßig Delegationen aus Tibet die Hauptstadt der Ming. Erst dann gewannen die Mongolen ihre Position als Schutzherren des tibetischen Buddhismus

OSTSEE

Krakau

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GOLDENE HORDE

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1265 Sieg der Ilkhane über die Goldene Horde Urgentsch

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JAPANISCHES MEER

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YUAN-DYNASTIE obi W ü st e G

REICH TSCHAGATAI

W üs te Balasagun Ky sy lk um Otrar han Täbris Ka Wüs n S Shazhou Damaskus Akko Ti a r Taschkent Buchara t Maraga ak e (Dunhuang) Qazvin Ain Dschalut 1260 um Samarkand Jerusalem Niederlage gegen Kaschgar Nischapur Bagdad Merw Jarkand Tarim-Beck en MAMLUKEN- die Mamluken Meschhed SULTANAT Shan Khotan K u n lu n Isfahan Herat Ghazni Peschawar Hi REICH DER ILKHANE m seit 1286 a Tibet KASCHMIR l a j Schiras Kerman a Medina Lahore Multan Tsa Lhasa ngp o Hormus Delhi ra ROTES Arabische Alor put hma MEER SULTANAT Bra Halbinsel 1281

Mossul

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Ningxia

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0

400

800

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GOLF VON BENGALEN

1200 km

66 Im Zeichen der „Pax Mongolica“

1276

(Hanoi)

1277/1283/84

(Kanton)

1292/93 1285 –1288

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KHMERREICH

OSTCHINESISCHES MEER Quanzhou Formosa

Guangzhou

Thang Long

(MIEN) seit 1287

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n Ya

Provinz seit 1279

(Bagan)

ARABISCHES MEER

i 1279 erobert

gz

Saluen

Grenzen der Khanate Vasallenreiche Feldzüge der Mongolen vermutliche Reiseroute des Marco Polo (1271–1295) Schlacht

1276 erobert

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DELHI

Masan Khanbalik/ 1274/1281 Hakata Dadu (Peking) (Fukuoka) GELBES MEER

REICH DER SÜDLICHEN SONG

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1275 Kaifeng Nanjing Hangzhou 1275

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Alexandria Kairo

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heutige Grenze der Mongolei

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au RUM- MEER k a 1263 Sieg der Goldenen Horde über die Ilkhane SELDSCHUKENs Trapezunt u s KASPISCHES SULTANAT Sy Konya

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Sieg über Byzanz 1265

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RUSSISCHE FÜRSTENTÜMER

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Das Reich der Mongolen 1294

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FÜRSTENTÜMER VON NOWGOROD Smolensk

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POLNISCHE FÜRSTENTÜMER

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Alpe

(ANNAM) seit 1287

1283

Luzon

SÜDCHINESISCHES MEER

Vijaya

Angkor

CHAMPA 1293 Java; Niederlage gegen die Javaner

zurück, aber jetzt zugunsten der gerade aufgestiegenen Tradition der Gelugpa („Gelbmützen“), bei uns besser bekannt als die Tradition der Dalai Lama. Ohne diese politische und vor allem militärische Unterstützung hätte diese neue Tradition nie ihre spätere Vormachtstellung erringen können. Damit wurde Tibet keineswegs ein mongolisches Land, aber seine Variante des Buddhismus seit dem späten 16. Jahrhundert zur dominanten Religion der Mongolen. Mit der Verlegung der Hauptstadt in den Norden Chinas, um den chinesischen Teil des mongolischen Reiches besser kontrollieren zu können, erhielt diese – das spätere Peking – ihren bis heute erhaltenen Standort. In diesem Gebiet wurde damals nicht ausreichend Getreide produziert, weswegen der als Steuer erhobene Reis aus dem Gebiet des unteren Yangzi über das Meer in den Norden transportiert werden musste. Da dieser Weg damals noch sehr gefährlich war, wurde in den 1340er Jahren das Projekt begonnen, einen Verbindungsweg über inländische Wasserwege, Seen und neu gegrabene Kanäle herzustellen, der heute als „Kaiserkanal“ bekannt ist. Dieser lag jedoch quer zur Fließrichtung der nordchinesischen Flüsse und stellte daher über Jahrhunderte hinweg die Verwaltung vor große Probleme und technische Herausforderungen. Zudem konnten so schon die kleinsten Unruhen im Kanalgebiet zu einer realen Bedrohung für die Ernährung der Hauptstadt werden. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als der Kanal und der Gelbe Fluss erneut für Probleme sorgten, ermöglichten die neuen Dampfschiffe endlich eine ununterbrochene Zufuhr von Getreide in die Hauptstadt. Während der Grabung des Kaiserkanals entbrannte 1351 der Aufstand der „Roten Turbane“, inspiriert von der Erwartung, dass ein „Leuchtender König“ dem Chaos jener Zeit ein Ende setzen würde. Die messianischen Elemente dieses Aufstandes hatten ihre Wurzel in alten chinesischen Traditionen, die seit dem späten 9. Jahrhundert dokumentiert sind und bis in die 1980er Jahre Anhänger motivierten. Obwohl der Aufstand der „Roten Turbane“ zunächst erfolgreich kontrolliert werden konnte, führten Konflikte am Hof 1355 zum erzwungenen Selbstmord des wichtigsten Generals und damit zu neuerlicher Rebellion. Letztlich ging aus den Kämpfen der ehemalige Mönch Zhu Yuanzhang siegreich hervor, der 1368 die Ming-Dynastie gründete. Wahrscheinlich entlieh sie ihren Namen „Ming“ („leuchtend“) dem „Leuchtenden König“. Bis 1368 führte Zhu Yuanzhang über

Kublai Khan, der auch den Süden mehr als ein Jahrzehnt einen blutigen Bürgerkrieg mit AufstänChinas unterwarf, erkannte die dischen in anderen Gebieten diversen religiösen Traditionen in im Süden, bis er schließlich die seinem neuen Reich an. So förderte wohlhabenden Gebiete am unteer unter anderem den tibetischen ren Yangzi erobern konnte und Mönch Chögyel Phagpa (Darstelsich dann dem Norden zuwandlung aus dem 19. Jahrhundert). te, der von nordchinesischen und den Mongolen treuen Armeen verteidigt wurde. Hier zeigt sich erneut, dass die Loyalitäten in jener Zeit nicht von ethnischer Zugehörigkeit abhängig waren.

Die Dynastie der Ming als Fortsetzung der mongolischen Herrschaft In vielerlei Hinsicht führten die Ming die Yuan-Dynastie fort, obwohl man sich nominell an der SongDynastie orientierte. Der schon einige Jahrzehnte zuvor begonnene Aufschwung des Neokonfuzianismus als politische Macht setzte sich fort, obwohl sich der erste Ming-Kaiser nicht für die Rekrutierung von Beamten durch ein zentrales und von ihm nicht kontrollierbares Prüfungssystem begeistern konnte. Diese Form der Rekrutierung setzte sich erst nach 1424 wirklich durch, weiterhin mit der als orthodox

67 Die Dynastie der Ming als Fortsetzung der mongolischen Herrschaft

geltenden Interpretation des Song-Philosophen Zhu Xi der „Vier Bücher“ als Grundlage. Das Prüfungssystem existierte bis 1905 und sorgte für eine enge Verknüpfung zwischen dem kaiserlichen Zentrum und lokalen Familien, die erfolgreiche Absolventen hervorbrachten. Der Erwerb eines Prüfungsranges brachte wichtige Privilegien wie Steuerbegünstigungen und die Befreiung von körperlichen Strafen (und damit von Folter bei Gerichtsfällen) mit sich. Zudem hatten solche Familien ausgezeichnete Beziehungen zueinander und mit den lokalen Vertretern des Staates. Da Beamte ihre Posten immer nur für begrenzte Zeit besetzten (selten mehr als drei Jahre), gab es natürlich zahlreiche Möglichkeiten für diese Familien, auf lokaler Ebene Einfluss auszuüben. Grundsätzlich hatten die Vertreter dieser Eliten das gleiche jahrelange Studium von sehr moralisierenden Texten hinter sich wie die Beamten, was für ein gemeinsames Verständnis der Pflicht zur LoyaBauern beim Dreschen, Sieben und lität gegenüber dem Kaiser sorgte. Chinesische Eliten haben daher so Abtransport von Reis (Darstellung gut wie nie gegen das kaiserliche aus der Zeit der Yuan-Dynastie). System rebelliert. Unter der Herrschaft der Ming stieg Der erste Ming-Kaiser versuchdie Produktion der Landwirtschaft te, das politische System stärker kontinuierlich an.

auf sich selbst auszurichten, und direkter zu regieren. Seine Söhne und wichtige Generäle, die den Erfolg seiner Dynastiegründung ermöglicht hatten, ernannte er zu Adligen. Dieses System hielt sich jedoch nicht lange. Einer der Söhne des Dynastiegründers begann nach dem Tod seines Vaters 1398 einen Aufstand, um sich selbst auf den Thron zu heben. Er gewann den folgenden Bürgerkrieg 1402 und ist uns bekannt als der Yongle-Kaiser (bis 1424). Um kontinuierliche und verlässliche Steuereinnahmen zu garantieren, wurde die ganze Gesellschaft in Schichten unterteilt: in Bauern, Soldaten und Handwerker. Aus diesen Schichten konnte man nur durch das Prüfungssystem aufsteigen. Handel und damit die Zirkulation von Geld sollten möglichst stark beschränkt werden, und Händler durften nicht an den Beamtenprüfungen teilnehmen. Andauernde Kältewellen dämpften zunächst die wirtschaftliche Entwicklung, dennoch setzten sich langsam einige wichtige Änderungen durch, vor allem im wirtschaftlichen Kerngebiet am unteren Yangzi. So wurde immer mehr Baumwolle angebaut. In Verbindung mit der Herstellung von Seide entstand so die Grundlage für die lokale Handwerksindustrie. Das schon eine Weile bekannte System von zwei Ernten jährlich wurde nun in der gesamten

68 Im Zeichen der „Pax Mongolica“

Der Yongle-Kaiser, dritter Herrscher der Ming-Dynastie (1402 – 1424), knüpfte von seinem Selbstverständnis her an die Herrschaft der Mongolen an. Er sah sein Reich als Vielvölkerstaat.

Yangzi-Region eingeführt, was für eine enorme Zunahme in der landwirtschaftlichen Produktion sorgte. Wo genügend frisches Wasser (und Dünger) vorhanden war, konnte man meist über den Sommer hinweg einmal Reis anbauen sowie im Spätwinter oder im Frühjahr noch ein anderes Gewächs. Weiter im Süden waren sogar drei Ernten pro Jahr möglich. Die Ming hatten anfangs, ähnlich wie die vorhergehenden Dynastien, ein Problem mit der Akzeptanz ihrer aus Bronze gegossenen Münzen, was zu Deflation führte. Sie schränkten daher den Handel mit dem Ausland ein, wodurch allerdings die wichtigen Einnahmen aus Zöllen verlorengingen und der Schmuggel aufblühte. Zudem versuchten sie, den Druck von Papiergeld auszuweiten, um ihre finanziellen Probleme zu lösen, aber dies führte zur Entwertung und schließlich zur Abschaffung des Papiergeldes im frühen 15. Jahrhundert. Nun wurde Silber zum wichtigsten Zahlungsmittel für große Beträge. Da die Silbervorkommen in China selbst relativ beschränkt waren, konnte die Wirtschaft nur begrenzt wachsen. Stärker als sein Vater, der Dynastiegründer Zhu Yuanzhang, sah der Yongle-Kaiser sich als Erben des mongolischen Weltreiches der Yuan und nicht als Herrscher über ein rein chinesisches Reich mit nur einer Ethnie. Mongolische Kavallerie machte einen wesentlichen Teil seiner Armeen aus, und vor allem in Nordchina lebten immer noch größere Gruppen Mongolen. Er betrachtete sich als Schutzherrn des tibetischen Buddhismus und schickte Expeditionen nach Übersee, in Nachahmung mongolischer Expeditionen nach Japan und Java. Während diese mongolischen Unternehmungen nicht von Erfolg gekrönt gewesen waren, gelangen dem Reich der Ming zwischen 1405 und 1433 sieben Expeditionen, organisiert durch den Eunuchen Zheng He. Mit seiner Person verbinden sich viele Legenden, zeitgenössische Quellen liegen allerdings nur wenige vor. So beeinflusste die Tatsache, dass Zheng He später religiös verehrt wurde, unser Bild seit dem Der Yongle-Kaiser ließ ferne Länder durch Expeditionen erforschen. Von einer dieser Reisen brachten die Teilnehmer eine Giraffe mit an den Hof (Darstellung aus dem frühen 15. Jahrhundert).

69 Die Dynastie der Ming als Fortsetzung der mongolischen Herrschaft

der Kompass, wasserdichte Kompartimente für die verschiedenen Schiffsladungen und Feuerwaffen eine wichtige Rolle. Die überlieferten Karten beschreiben Routen von Südchina über Sri Lanka bis nach Aden. Das wichtigste Ziel dieser Expeditionen war wohl ein politisches, nämlich die Etablierung und Weiterführung von Beziehungen zu den jeweiligen Herrschern der erreichten Gebiete, wofür, falls nötig, auch militärische Gewalt eingesetzt wurde. Es fand jedoch keine dauerhafte Kolonisierung statt, auch wurde kein systematisches neues Wissen geschaffen; 1433 wurden die Expeditionen ganz eingestellt. Das aus diesen Fahrten geschöpfte geographische Wissen ging nicht vollständig verloren, hatte aber nur wenig Einfluss auf das spätkaiserzeitliche Weltbild. Erst im 20. Jahrhundert wurden die Expeditionen wiederentdeckt und als Symbol für die erwünschte Offenheit Chinas gegenüber dem Ausland, mit Zheng He als mutmaßlichem Weltentdecker, präsentiert. Der wichtigste Philosoph der Ming-Zeit war ohne Zweifel der Beamte und zeitweilige militärische Führer Wang Yangming (1472  –1529). Er zeichnete einer-

späten 16. Jahrhundert maßgeblich. Auch ein Roman und ein Theaterstück beschäftigen sich mit ihm und trugen dazu bei. Fakten und Dichtung sind oft schwer zu trennen: Ein britischer Amateurhistoriker behauptete sogar, Zheng He habe als Erster Amerika entdeckt. Dass Zheng He und andere Eunuchen bei der Vorbereitung solcher Expeditionen eine große Rolle spielten, ist sicher. Er war aber nicht bei jeder Reise dabei und war sicherlich nicht der Erfinder solcher Vorstöße, da Eunuchen schon seit den 1390er Jahren immer wieder nach Südostasien geschickt wurden, um politische Beziehungen zu knüpfen. Die Yongle-Expeditionen folgten Routen schon bestehender Handelsnetze und griffen dabei sowohl auf chinesisches als auch auf arabisch-perSilber als Zahlungsmittel gewann sisches maritimes Wissen zurück. Sowohl Zheng He als auch sein während der Ming-Dynastie zunehbekanntester Kapitän Ma Yuan mend an Bedeutung. In der abgewaren Muslime und damit ohnebildeten Szene ist die Verhüttung hin international orientiert. von Silber zu sehen. Der Großteil Bei diesen Expeditionen spieldes Silbers stammte aber aus dem ten chinesische Erfindungen wie Handel mit dem Westen.

70 Im Zeichen der „Pax Mongolica“

seits verantwortlich für die rasche Unterdrückung eines Aufstandes eines Ming-Prinzen 1519 und ebenso für die sehr blutige Niederschlagung von – aus Sicht des Ming-Kaisers – aufständischen ethnischen Minderheiten im Süden, die Tausende militärische und zivile Opfer forderte. Andererseits war er schon zu Lebzeiten als innovativer Philosoph bekannt. Wang verfügte über eine schlechte Gesundheit und war voller Fragen über die beste Art, sinnvoll zu leben. Er analysierte die damals vorhandenen religiösen Traditionen (die wir heute als daoistisch oder buddhistisch bezeichnen würden), lehnte sie jedoch ab und entwickelte eine eigene Auffassung. Diese kann man als eine religiös motivierte Interpretation von Zhu Xis Neokonfuzianismus betrachten, dem als Weltanschauung mit Absolutheitsanspruch ebenfalls ein religiöses Element innewohnte. Für Wang Yangming war die Grundlage für alles moralische Verstehen und Handeln das immer schon im Menschen angelegte „ursprüngliche Wissen“. Dieser Gedanke lag sehr nah an der weitverbreiteten buddhistischen Auffassung, dass jedem bereits die Buddha-Natur innewohne und man sie nur noch entdecken müsse. Diese Betonung des Innerlichen bedeutete für Wang Yangming jedoch nicht, dass jeder völlig frei handeln durfte; seine Werke, die erhaltenen Aufzeichnungen seiner mündlichen Aussagen und sein Verhalten als Beamter machen deutlich, dass er an der Vorstellung einer hierarchischen Gesellschaft festhielt. Dennoch interpretierten nachfolgende Autoren seine Werke als Anregung, aus dem engen Rahmen des ideologischen Konfuzianismus auszubrechen, auch in Rückgriff auf buddhistische und daoistische Traditionen. Somit eröffnete Wang intellektuelle Freiräume, die erst mit dem Beginn der Qing-Dynastie wieder geschlossen wurden – nicht zuletzt, weil sie rückblickend für den Untergang der Ming mitverantwortlich gemacht wurden. Auch die neuen QingHerrscher bevorzugten die konventionelle Interpretation der Zhu-Xi-Tradition für die Prüfungen und verbaten jegliche autonome Organisation von Literaten. In den 1520er Jahren wurde eine wichtige religiöse Änderung eingeführt. Bisher war es nur Familien, die Beamte hervorgebracht hatten, gestattet gewesen, ihre Ahnen über die Generation der Großeltern hinaus zu verehren. Diese Regelung sollte verhindern, dass sich in größerem Umfang Verwandtschaftsgruppen zu gegenseitigem Schutz und zu gegenseitiger Förderung zusammenschlossen. Von nun an wurde

dieses Privileg auf alle Menschen im Reich ausgeweitet, wodurch sich bis dahin nur lose zusammenhängende Familiengruppen durch die Definition fester Abstammungslinien sehr viel besser organisieren ließen.

Die Portugiesen gründeten 1557 an der Mündung des Perlflusses ins Südchinesische Meer die Siedlung Macau, um Handel zu treiben. Von dort aus erkundeten sie das Binnenland (Lackarbeit, 17. Jahrhundert).

Blüte der späten Ming: Bevölkerung und Wirtschaft wachsen rasant Der Versuch der frühen Ming-Kaiser, den Handel so weit wie möglich einzuschränken, dauerte nicht an. Die wachsende Agrarproduktion, das Bevölkerungswachstum aufgrund des andauernden Friedens (vor allem südlich des Huai-Flusses) von rund 85 Millionen Menschen im Jahr 1393 auf etwa 231 Millionen um 1600 und die neuen Möglichkeiten, die der Handel mit dem Westen bot, sorgten für eine starke wirtschaftliche Dynamik in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. China produzierte Seide, Tee und Porzellan – alles Waren, die im Westen sehr begehrt waren und mit Silber aus Japan und Amerika bezahlt wurden. So entstand in großen Teilen des Reiches eine duale Ökonomie, in der neben Bronzemünzen Silber eine immer wichtigere Rolle einnahm. Bald wurden auch die Steuern in Silber erhoben, was dank des großen Silberzuflusses aus dem Aus-

71 Blüte der späten Ming: Bevölkerung und Wirtschaft wachsen rasant

land für einen gleichbleibenden oder sogar sinkenden Steuerdruck sorgte. Der Handel mit dem Westen wurde zuerst illegal geführt, bis das Verbot des Überseehandels 1567 aufgehoben wurde. Westliche Historiker haben ihr Augenmerk meist auf die Niederlassung der Als 1644 die Ming-Dynastie zusamportugiesischen Händler in Mamenbrach, stießen aus dem Nordcau (1557 –1999) oder der Holosten Jurchen-Stämme nach China länder auf Taiwan (1624   –1662) vor, die sich selbst als „Mandschu“ gerichtet, die beide teils auch als bezeichneten. Nurhaci, einer ihrer Zwischenhändler in Japan tätig Stammesfürsten (hier beim Anwaren (Portugal bis 1639). Noch griff), war ein gefürchteter Krieger.

wichtiger waren aber andere Handelsströme, entweder indirekt von Japan über Korea in die Mandschurei und nach China oder von Chinesen selbst geführt über Nagasaki in Japan, Manila auf Luzon (Hauptinsel der Philippinen), das kontinentale Südostasien und die indonesische Insel. Parallel zu diesem Handel intensivierte sich auch die Migration von Chinesen nach ganz Südostasien, wo sie wichtige kommerzielle Funktionen übernahmen und im 19. Jahrhundert auch in großer Zahl als Arbeiter (sogenannte Kulis) in Minen und bei anderen Unternehmungen eingesetzt wurden. Als die Ming-Dynastie 1644 in einem Aufstand unterging und der letzte Kaiser sich hinter der Verbotenen Stadt erhängte, entstand ein Machtvakuum. Der wichtigste General an der Grenze, Wu Sangui, lief mit seiner Armee zu den Mandschu über, um den Aufstand zu bekämpfen, dessen Führer seine Lieblingskonkubine und seinen Vater hatten töten lassen. Die Mandschu erhielten so ungehinderten Zugang nach China und, wesentlich unterstützt von chinesischen Armeen wie der des Wu Sangui und weiterer Überläufer aus Nordchina, eroberten innerhalb weniger Jahre die wirtschaftlichen Zentren und bis 1662 das ganze Land. Die Geschichte der späten Ming wird meist als Teil dieses politisch-militärischen Scheiterns und der folgenden Machtübernahme durch die Qing-Dynastie verstanden. Aus Sicht der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung mussten die Ursachen für einen solchen Übergang allerdings moralischer Natur sein, weshalb man naheliegenden Gründen wie falschen militärischen oder politischen Entscheidungen in den letzten Jahren der Dynastie nur beschränkte Bedeutung zugestand. Diese moralische Orientierung der Historiker passte zum wachsenden Unbehagen der Elite über die enormen gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1560er Jahren. Die späte Ming-Zeit sah eine unglaubliche wirtschaftliche Blüte, soziale Differenzierung, kulturelle Erneuerung auf allen Ebenen, philosophische Experimente, religiösen Aufschwung in den traditionellen Bereichen des klösterlichen Buddhismus und Daoismus, aber auch auf der Ebene der Laienbewegungen, sowie das Entstehen einer neuen Literatur in der Umgangssprache. Dies provozierte eine konservative Reaktion unter den ideologisch angehauchten Literaten, die harte Kritik an einer Gesellschaft übten, in der nicht mehr alles von Prüfungsabsolventen bestimmt wurde und Kaufleute ihre „richtige“ – nämlich niedrige – Stellung nicht mehr kannten.

72 Im Zeichen der „Pax Mongolica“

Aber es wurde auch neu über das politische System nachgedacht. Obwohl die Wirtschaft von der Landwirtschaft dominiert blieb, wuchsen, vorangetrieben durch den Erfolg der Industrie am Unterlauf des Yangzi, die sich um die Seiden- und Baumwollerzeuger gebildet hatte, und den internationalen Handel an der Südostküste, viele Kleinstädte unterhalb der Bezirksebene. Sie brachten eine Gesellschaft hervor, in der vor allem Familien der Elite mehr als je zuvor ein eigenständiges kulturelles und religiöses Leben ohne viel Interaktion mit der Zentralverwaltung führten. Die Kaiser in Peking lebten weiterhin in der Auffassung, sie seien die absoluten Machthaber. Auf die frühen Kaiser – den Dynastiegründer und seine unmittelbaren Nachfolger – mag dies noch zugetroffen haben, vor allem in einer Zeit wirtschaftlicher Stagnation und direkter kaiserlicher Eingriffe in die Verwaltung. Für die späte Ming-Zeit war diese Haltung nicht mehr zu rechtfertigen und führte zu regelmäßigen Spannungen zwischen Kaiser und politischintellektuellen Eliten, vor allem im Gebiet des unteren Yangzi. Der Jiajing-Kaiser (1521–1567) beschwor Konflikte herauf, weil er seinen eigenen verstorbenen Vater, der nie Kaiser gewesen war, weiterhin verehren wollte, statt seinen direkten Vorgänger und Neffen als rituellen Vater zu akzeptieren. Der Wanli-Kaiser (1572  –1620) stritt sich mit seinen Ministern unter anderem über die Auswahl des Kronprinzen und kam mit der allgemeinen Überheblichkeit seiner Beamten nicht gut zurecht, weshalb er lange Zeit fast jeglichen Umgang mit diesen verweigerte.

Kampfstarke Jurchen-Stämme des Nordostens gründen eine neue Dynastie

fragten Ginseng kam. Aber auch Nurhaci hatte zunächst die verRaubzüge gehörten zu ihrer Leschiedenen Jurchen-Stämme unter bensart, unter anderem, um Arseiner Führung vereinigt, um dann beitskräfte zu gewinnen, die als die Nachfolge der Ming anzutreten. Sklaven eingesetzt wurden. Die von ihm gegründete Dynastie Der Stammesführer Nurhanahm den Namen Qing an. ci (1559  –1627) brachte schrittweise mit militärischen und diplomatischen Mitteln die meisten Jurchen und eine Anzahl ostmongolischer Stämme unter seine Kontrolle. Die Mongolen im Westen blieben aber unabhängig und wurden nach der Gründung der Dynastie zum größten Feind. Die Ostmongolen brachten ihre sehr wichtige Kavallerie ein und erhielten dafür einen Anteil an der Macht, nachdem die Mandschu China endgültig erobert hatten.

Die Ming hatten bis zum Ende des 16. Jahrhunderts die Mongolen im Norden und Nordwesten als die größte Bedrohung angesehen. In den letzten Jahrzehnten der Dynastie aber wurde stattdessen eine neue Bedrohung immer wichtiger: die der JurchenStämme im Nordosten. Diese stammten von derselben Ethnie ab wie die ehemalige Jin-Dynastie und präsentierten sich zuerst auch als deren Nachfolger. Erst 1635 wurde die neue ethnische Selbstbezeichnung „Mandschu“ angenommen und 1636 der dynastische Name „Qing“, womit die formale Trennung von der ehemaligen Jin-Dynastie vollzogen wurde. Die Jurchen waren keineswegs Nomaden wie die Mongolen, sondern Jäger und Händler, deren Haupteinkommen aus dem Verkauf des in China sehr ge-

73 Kampfstarke Jurchen-Stämme des Nordostens gründen eine neue Dynastie

Nurhaci baute die Stämme unter seiner Kontrolle zu einem effektiven militärischen Apparat aus. Es war stich von 1813) erwiesen sich aber sein Sohn und Nachfolger Hong als zähe Gegner des Qing-Reiches. Erst in den 1750er Jahren Taiji (1627 –1643), der die chinesischen Territorien eroberte und seiner konnten sie besiegt werden. Herrschaft damit die dauerhafte Versorgung mit landwirtschaftlichen Produkten sicherte. Zudem baute er nach und nach einen klassischen Verwaltungsapparat auf. Von den Mongolen bekamen die Qing das symbolisch wichtige kaiserliche Siegel der ehemaligen Yuan-Dynastie, das ihnen auch in chinesischen Augen Legitimität verleihen konnte. Die ethnische Identität der Mandschu ist das Thema vehementer historiographischer Debatten. Klar ist, dass sie in dieser frühen Zeit noch nicht stabil war und erst im 18. Jahrhundert ihre definitive Form annahm. Diese Entwicklung fand zur gleichen Zeit statt wie das Entstehen des modernen Begriffs „Han“ als Bezeichnung für alle Nicht-Mandschu und NichtMongolen. Nach der Eroberung Nordchinas und des wirtschaftlichen Kerngebiets am unteren Yangzi dauerte die endgültige Vernichtung aller Ming-Prätendenten im Süden noch bis 1662. 1674 brach ein Aufstand der drei chinesischen Armeeführer los, die 1644 noch die Seite der Qing gewählt hatten. Dieser Aufstand wurde erst 1681 definitiv niedergeschlagen. Ein alternatives Machtzentrum der Zheng-Familie auf Taiwan, die unter Zheng Chenggong 1662 die Holländer von der Insel vertrieben hatte, wurde 1683 besiegt,

und zwar mit Hilfe eines ehemaligen Generals des Zheng-Regimes. Taiwan wurde damit zum ersten Mal Teil des chinesischen Reiches. Die vollständige Kolonisation der Insel, die unter den Holländern begonnen hatte, wurde in den nächsten Jahrhunderten fortgesetzt. Jetzt erst wurde auch das Qing-Verbot des Überseehandels aufgehoben, wodurch wieder amerikanisches Silber ins Land gelangte und die Handelsbilanz der Dynastie bis ins frühe 19. Jahrhundert positiv blieb. Der Kampf mit den Westmongolen (oder Dschungaren) dauerte auch nach 1683 an. Deren Anführer schöpften ihre Legitimation aus der Kontinuität mit den Mongolen der Ming-Zeit und deren Rolle als Beschützer der Gelugpa unter religiöser Führung des Dalai Lama. Die Bekämpfung der Westmongolen hatte daher sowohl eine militärische als auch eine religiöse Dimension. Die Mandschu unternahmen 1720 eine militärische Expedition gegen die Dschungaren. Außerdem versuchten sie bis 1912 immer wieder, die Auswahl jeder Inkarnation des Dalai Lama zu manipulieren und so ihren Zugriff auf die Institution des Dalai Lama und auf seinen Wohnsitz Lhasa zu festigen. Die Auswahl des Dalai Lama war natürlich auch schon zuvor manipuliert worden, dann entweder von den Mongolen oder von der tibetischen Aristokratie und hohen religiösen Führern. Davon abgesehen war Tibet, oder genauer genommen waren die großen Klöster und die aristokratischen Familien unter den Qing aber so gut wie unabhängig.

Die Mongolen im Westen (hier: kalmückische Reiter, Kupfer-

74 Im Zeichen der „Pax Mongolica“

Die Qing unternahmen blutige Feldzüge in den Westen, wo die verbliebenen Mongolen in den 1750er Jahren endgültig militärisch zerschlagen und ethnisch vernichtet wurden. Diese blutige Leistung wurde möglich durch den Einsatz kleiner Kanonen, die leichter transportiert werden konnten, und die effiziente Organisation des Nachschubs, weil die Region selbst nicht imstande war, Armeen von bedeutender Größe zu ernähren. Infolge dieser Feldzüge erreichte das Qing-Reich seine größte Ausdehnung. Bis auf einige kleine Veränderungen im Zuge der Expansion des Zarenreichs im späten 19. Jahrhundert entspricht das Gebiet im Großen und Ganzen bis heute dem der Volksrepublik China. Das ehemalige mongolische Gebiet wurde von Uiguren neu besiedelt. Ein Teil der ethnischen Spannungen im heutigen China ist also die Folge der damaligen territorialen Expansion des Mandschu-Reiches.

kurz danach übergelaufen waren. Deren Beziehung zu den neuen Machthabern basierte meist auf persönlichen Bindungen oder war durch die echte oder vermeintliche Kompetenz der Fachleute bestimmt. Langfristig setzte die Dynastie auf Institutionalisierung. Sie versuchte – mit Erfolg –, über spezielle Prüfungen und kulturelle Projekte ihre Legitimation in den Augen der gebildeten Eliten zu vergrößern. Zugleich dienten solche Projekte dazu, eine andere Darstellung der Vergangenheit zu schaffen, in der ethnisch „fremde“ Eroberer positiver dargestellt und nicht mehr mit Schimpfwörtern wie „Barbaren“ bezeichnet wurden. Das eindrucksvollste Beispiel für die Kulturpolitik ist die gigantische Buchreihe „Vollständige Sammlung der Vier Schatzkammern“, die fast 4000 Werke zusammenführte, zugleich aber politisch oder anderweitig anstößige Werke und Redensarten zensierte. Letztendlich Kangxi, der zweite Qing-Kaiser, rewar der Versuch, die Eliten zu gegierte China 61 Jahre lang. 1689 winnen, allerdings auch deshalb unternahm er eine große Inspektionsreise durch Südchina. Der Landerfolgreich, weil lokale Familien es sich nicht leisten konnten, die schaftsmaler Wang Hui hielt die neue Dynastie dauerhaft abzuReise in zwölf Handrollen fest. Hier lehnen und damit steuerliche und ist der Tross des Herrschers am Berg Tai zu sehen. andere Vorteile aufzugeben.

Fähige Verwaltung, gute Kommunikation: die Qing auf dem Gipfel der Macht Für eine effektive Verwaltung des neueroberten Reiches verließen die Qing sich zuerst oft auf Chinesen aus dem Norden, die schon vor der Eroberung oder

75 Fähige Verwaltung, gute Kommunikation: die Qing auf dem Gipfel der Macht

Aber angesichts der ungleichen Beziehungen des Westens mit anderen Ländern außerhalb Europas, denen man militärisch überlegen war, ist eine solche Analyse zu eurozentrisch. Aus Sicht des politischen Zentrums in Peking war der Handel mit westlichen Ländern in Guangzhou (Kanton) nützlich, weil die Profite daraus direkt in den kaiserlichen Haushalt und den militärischen Machtapparat der Mandschu flossen. Darüber hinaus sahen sie jedoch keinen Anlass, sich ausführlicher mit dem Westen zu befassen. Damit entging dem Kaiserhof jedoch, wie sehr der Handel mit dem Westen auch auf Regionen Einfluss hatte, die nicht direkt daran beteiligt waren. Wichtige Exportprodukte waren Porzellan aus Jiangxi, Tee aus Fujian und Seide aus dem Gebiet des unteren Yangzi. Dies alles musste über Flüsse und Berge nach Guangzhou transportiert werden, weshalb nicht nur die ursprünglichen Produktionsgebiete, sondern auch die oft armen Durchgangsgebiete von diesem Handel abhängig wurden. Umgekehrt hatten die internationalen Handelsbeziehungen zur Einfuhr von neuen Religionen (Christentum) und vor allem Pflanzen geführt, die das spätkaiserliche und moderne China prägten: die Kartoffel als Hungersnot-Essen, die Süßkartoffel als Nahrung im weiten Süden, Mais, der die Rodung von Wäldern tief in den Hügelgebieten vereinfachte, und andere amerikanische Pflanzen wie scharfer Chili, Tomaten und Tabak. Letzterer wird heute vor allem mit ungesunder Sucht verbunden, aber damals war Rauchen ein probates Mittel, um den Hunger zu vertreiben. Neben dem direkten Handel mit dem Westen gab es zudem beachtliche Handelsbeziehungen mit ganz Ost- und Südostasien. Der Handel mit Ostasien, vor allem mit Japan, umfasste auch den Export von chinesischen Kulturgütern wie Büchern und gab letztlich sogar die neue chinesische Tradition des Buddhismus weiter. Der Handel mit Südostasien war wesentlich anders, weil nicht nur Güter und Objekte exportiert wurden, sondern zunehmend auch Menschen aus dem Süden Chinas dorthin emigrierten, die Südostasien bis heute mit prägen.

Für die großen militärischen Expeditionen in den Westen wurde die zentrale Verwaltung gestärkt. Schon der Kangxi-Kaiser (1661 – 1722) erlaubte es ausgewählten und kompetenten Beamten, ihre Throneingaben direkt an den Kaiser persönlich zu schicken, statt den viel langsameren und nicht besonders geheimen amtlichen Weg zu nehmen. Dieses System ermöglichte effiziente Kommunikation über das ganze Reich hinweg. Der Kaiser und seine Berater konnten so viel direkter in Probleme der lokalen Verwaltung eingreifen. Die zweite große Neuerung der Qing war der „Große Rat für Militärische Angelegenheiten“, der täglich mit einer kleinen Zahl von mandschurischen, mongolischen und Han-chinesischen Vertretern zusammentrat. Er wurde ursprünglich gegründet, um die militärischen Expeditionen des Yongzheng-Kaisers (1723   –1735) effizient durchzuführen, entwickelte sich aber allmählich zum höchsten Verwaltungsorgan schlechthin. Oftmals folgte der Kaiser den in diesem Gremium getroffenen Entscheidungen. Von 1683 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts kann man in vielerlei Hinsicht von einer Blütezeit sprechen. In den Kerngebieten des Reiches herrschte Frieden, und die günstige Handelsbilanz sorgte für eine vergleichsweise leichte Steuerlast. Bis zu den Kriegen und Aufständen der 1840er Jahre wuchs die Bevölkerung auf etwa 400 Millionen Menschen an. Dies war möglich durch immer intensivere Landwirtschaft, die Erschließung neuer Gebiete, interne und externe Migration, aber auch den Import von Reis in die Provinz Guangdong aus dem damaligen Siam (heute Thailand). Neue Gewächse aus Amerika spielten ebenfalls eine Rolle, waren aber nicht entscheidend. Obwohl der Lebensstandard der Bevölkerung wahrscheinlich nicht mehr so hoch war wie während der Song-Zeit, kam es nur selten zu größeren Krisen. Auch war die Verwaltung in der Lage, soziale und wirtschaftliche Spannungen in den Kerngebieten des Reiches zu lösen. Die größten Unruheherde befanden sich in den Randgebieten weit weg im Süden, im Westen und im mittleren Bereich des Kaiserkanals rund um den Huai-Fluss; viele Probleme erreichten allerdings erst durch das aggressive Auftreten der Briten einen Siedepunkt. Aus Sicht der späteren Geschichte wird das 18. Jahrhundert oft als eine Zeit der Isolation beschrieben, weil das kaiserliche System nicht bereit war, sich für gleichberechtigten Handel und diplomatische Beziehungen mit dem Westen zu öffnen.

Prof. Dr. Barend ter Haar

76 Im Zeichen der „Pax Mongolica“

Europa entdeckt das Reich der Mitte

Von der Utopie zum Ideal Folker Reichert

Seit dem 13. Jahrhundert kamen immer wieder Europäer nach China. Das Bild, das man sich vom Osten Asiens machte, wurde über die Jahrhunderte laufend erneuert und ergänzt. Facette um Facette schälte sich das Reich der Mitte heraus – bis es schließlich zeitweise als geradezu idealer Staat erschien.

Seit der Antike war China in Europa bekannt. Doch man kannte nicht den Namen des Landes, sondern bezeichnete dessen Bewohner einfach mit dem Wort für die wertvollste Handelsware, die von dort herkam: Serer, das sind „Seidenleute“. Damit konnte zweierlei gemeint sein: entweder das Volk, das die Seide herstellte, oder die Leute, denen man sie abkaufte. Denn jahrhundertelang hatten europäische Kaufleute keinen Zugang zu China, sondern waren auf zentralasiatische Zwischenhändler angewiesen.

Der Kaufmannssohn Marco Polo Der ältere Plinius (gest. 79) kolportierte eine Erzählung, der zufol(im Bild seine Karawane, Illustrage die Serer jenseits des Himalation um 1375) lebte von 1275 bis ja lebten und ihre Waren am Ufer 1292 am Hof des Kublai Khan. Die eines Flusses auslegten, ohne ein Reisebeschreibungen des VeneziaWort mit den fremden Kaufleuten ners lenkten das Interesse in Eurozu wechseln. Plinius glaubte auch, pa auf China, über das man bis den Wert der Importe beziffern zu dahin fast nichts gewusst hatte. können: 100 Millionen Sesterzen würden die Römer in jedem Jahr ausgeben, nur damit ihre Frauen in enganliegenden, nahezu durchsichtigen Kleidern ihre Blöße zur Schau stellen könnten. Plinius war ein konservativer Moralist, der den dekadenten Luxus der Oberschicht nicht gutheißen konnte. Er sah die Grundlagen der römischen Zivilisation in Gefahr. An alldem ist zweierlei richtig: Die Römer gaben im Handel mit den Luxusgütern mehr aus, als sie einnahmen. Die Handelsbilanz war negativ. Das Volk aber, das Plinius dafür verantwortlich machte, blieb im mythischen Halbdunkel verborgen. Griechische und byzantinische Gelehrte waren über Ostasien etwas besser informiert. Aber Genaues wussten

Was Griechen und Römer von China wissen konnten Umso spektakulärer war alles, was man sich von den Serern erzählte. Man hielt sie für friedfertig, langlebig, sittsam und rechtschaffen, für das gerechteste unter den Völkern. Bei ihnen gebe es weder Mord noch Ehebruch, weder Meineid noch Trunkenheit, keinen Diebstahl, keine Prostitution und keinen Götzendienst. Grundlage ihres Wohlstandes seien jene seidenen Stoffe, über deren Herstellung und Verkauf jedoch die abenteuerlichsten Vorstellungen umgingen.

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und je gehandelt. Der Begriff stammt aus dem späten 19. Jahrhundert, und sein Erfinder, der deutsche Geograph Ferdinand von Richthofen, irrte sich nicht nur, als er den Singular bevorzugte, sondern auch, indem er an die Seidenstoffe als einzige Handelsware dachte. Daneben wurden Gewürze, Moschus, Medizinalrhabarber, edle Hölzer, später auch Porzellan vom Osten in den Westen geschafft. Nur hochwertige Güter kamen dafür in Frage. Für Massenware lohnte sich der Aufwand nicht. Gab es auf den Landrouten politische oder militärische Probleme, wich man auf den Seeweg über den Indischen Ozean und das Chinesische Meer aus. Wie zwei kommunizierende Röhren funktionierten die kontinentalen Verkehrswege und die sogenannte maritime Seidenstraße miteinander. Europa nahm daran nur als Endverbraucher Anteil. Die mongolische Reichsbildung seit dem frühen 13. Jahrhundert sorgte für völlig neue Verhältnisse. Temüdschin, der sich später Dschingis Khan nannte, einte bzw. unterwarf zunächst die mongolischen Stämme, zerschlug dann das Reich der Kara-Kitai im Westen, überzog Choresmien (eine Landschaft im westlichen Zentralasien) mit Krieg und wollte schließlich auch China erobern. Dabei kam er ums Leben. Seine Nachfolger dehnten die Grenzen ihrer Herrschaft bis nach Ostmitteleuropa, Iran, Tibet, Südostasien, Korea und Südchina aus. Auf seinem Höhepunkt war es das größte Reich in der Geschichte. Es zerfiel zwar bald in die mehr oder weniger unabhängigen Teilreiche China (Yuan), Tschagatai, Kiptschak (Goldene Horde) und Persien (Ilkhanat). Aber theoretisch unterstanden sie alle dem Großkhan, der zunächst in Karakorum, seit 1272 in Dadu (mongolisch Daidu) nahe beim heutigen Peking residierte. Dadurch kam ein kontinentaler Rechts- und Herrschaftsraum zustande, in dem das Gebot des Großkhans galt und allen, die sich ihm unterwarfen, Sicherheit garantierte. Man spricht von einer „Pax Mongolica“ und meint damit das Schutzversprechen, das nicht nur die Untertanen, sondern auch Reisende, wenn sie in friedlicher Absicht kamen, in Anspruch nehmen durften. Erstmals war es nun möglich, durch die politischen Verhältnisse nicht behindert von Osteuropa bis

Der römische Gelehrte und Geschichtsschreiber Plinius der Ältere (gest. 79) war einer der Ersten, die etwas über die Serer, die „Seidenleute“, schrieben. Diese lebten danach jenseits des Himalaja (Kupferstich, 1584).

auch sie nicht. Die Serer galten als eines jener Fabelvölker, die man schon immer in und hinter Indien vermutete. Manche erregten Furcht und Schrecken, andere hielt man für friedfertig und allenfalls seltsam. Die Serer beeindruckten durch ihren Reichtum und die harmonische Ordnung bei ihnen. Die Lebensweise, die man ihnen zuschrieb, trug Züge einer sozialen Utopie. Sie hatten einen Platz unter den mirabilia Orientis, den „Wundern des Ostens“.

Europa profitiert von der mongolischen Reichsbildung Dabei sollte es für lange Zeit bleiben. Kein Europäer kam so weit nach Osten, dass er die Erzählungen von den Serern hätte überprüfen können. Ihr Mythos blieb über Jahrhunderte bestehen und wurde von den Gelehrten weitergegeben. Auf den „Seidenstraßen“, einem Netz von Handelsstraßen, das sich über fast ganz Asien erstreckte, wurden die Luxusgüter wie eh

Hauchdünne Kleider aus chinesischer Seide für die römische Oberschicht – das war Plinius zufolge das Ergebnis früher Handelskontakte nach Zentralasien. Das Fresko in einer Villa in Pompeji stellt die Einweihung der Frauen in den Dionysos-Kult dar.

78 Von der Utopie zum Ideal

nach Ostasien zu reisen. So wie die mongolischen Heere die Wege in den Westen erkundet hatten, so konnten nun europäische Reisende auf deren Spuren bis in den äußersten Osten Asiens vordringen: Gesandte, die mit der neuen Großmacht Kontakt aufnehmen und nebenher Spionage treiben sollten; Kaufleute, die die asiatischen Luxuswaren endlich unmittelbar bei den Erzeugern einkaufen konnten; Missionare, die für den christlichen Glauben werben wollten – denn die Ernte schien reichlich. Sie alle lernten die Weite des von den Mongolen beherrschten Raumes kennen, machten sich einen Begriff von den Ländern und Provinzen und gewannen einen Eindruck von den Lebensweisen der Völker. Bis nach China reichte ihr Blick, zunächst nur aus der Ferne, dann aus eigenem Erleben. Sie lernten, zwischen Nord- und Südchina, zwischen Cathay und Manzi, zu unterscheiden, und erfuhren von Städten, die an Größe und Bevölkerungszahl jede europäische Stadt bei weitem übertrafen. Die Gesandten richteten ihr Augenmerk auf den Hof in Dadu; die Kaufleute machten am Yangzi (Jangtsekiang) und in den südostchinesischen Häfen die besten Geschäfte; die Missionare lebten mit und unter der Bevölkerung, mussten aber bald feststellen, dass das Ergebnis ihrer Mühen bei weitem nicht ihren Erwartungen entsprach. Den einen fielen die kulturellen Leistungen der Chinesen auf, andere brachten die Reichtümer des Landes zum Staunen; aber auch Merkwürdigkeiten wie das Fischen mit Kormoranen, die verstümmelten Füße der Frauen und die überlangen Fingernägel der Männer wurden bemerkt. Doch keiner hat seine Erlebnisse und Einblicke so dicht und umfassend beschrieben wie ein junger Venezianer, den es an den Hof des Großkhans Kublai verschlug.

Marco dagegen hat sich nie Bevor Marco Polo mit seinem Vater und seinem Onkel den Fernen Osten als Kaufmann betätigt, sondern bereiste, hatten Niccolò und Maffeo war nur der Sohn eines solchen. Er kannte sich in dem Metier aus Polo diese Tour bereits einmal abund sprach auch die dafür erforsolviert. In seinem 1298/99 verfassderlichen Sprachen; aber er schlug ten Reisebericht „Das Buch von den eine ganz andere Laufbahn ein: Wundern der Welt“ ist zu sehen, Er bezeichnete sich als „Mann wie Kaiser Balduin II. von Konstandes Khans“. Das bedeutet: Er zähltinopel 1260 die beiden Kaufleute te sich zum Gefolge des Großverabschiedet. khans Kublai, dem er wenigstens für die Zeit seines Aufenthalts, wenn nicht lebenslang Treue schuldete. Er gehörte zu den „Simuren“, einer Schicht fremdländischer Funktionsträger, die zur Erledigung besonderer Aufgaben eingesetzt wurden. Welchen konkreten Rang Marco Polo bekleidete und welche Aufgaben ihm aufgetragen wurden, wissen wir nicht. Seine eigenen Angaben dazu sind teilweise vage, teilweise unglaubwürdig. Die Simuren nahmen in der Herrschaftsordnung des mongolischen China den zweiten Rang ein: unter der herrschenden Klasse der ethnischen Mongolen, aber über den Nordchinesen, deren Siedlungsgebiete schon länger zum Reich gehörten, und erst recht

Was ein venezianischer Kaufmannssohn im Dienst des Kublai Khan erlebte Marco Polo machte sich im Alter von 17 Jahren auf den Weg in den Osten und lebte von 1275 bis 1292 in Khanbalik, der „Stadt des Khans“, wie man die Residenzstadt Dadu in Europa nannte. Sein Vater und sein Onkel, Niccolò und Maffeo Polo, hatten die Reise schon einmal unternommen und sich damit als Pioniere im Direkthandel mit China etabliert. Nun nahmen sie den jungen Marco mit auf die Reise. Sie selbst gingen auch weiterhin ihren Geschäften nach und trugen im Lauf der Jahre ein kleines Vermögen zusammen.

79 Was ein venezianischer Kaufmannssohn im Dienst des Kublai Khan erlebte

über den erst durch Kublai unterworfenen Südchinesen, die man für unzuverlässig hielt. Natürlich Peking beeindruckte Marco Polo. orientierte sich Marco Polo nicht Er beschrieb sie in seinem Reisebericht (Illustration aus dem „Buch nach unten, sondern nach oben. von den Wundern der Welt“). Er dachte sich in die Kultur der Mongolen ein, erlernte ihre Sprache und machte sich die Wertvorstellungen der Eroberer zu eigen. Die Chinesen dagegen betrachtete er von außen und von oben. Obwohl er lange Jahre in China verbrachte und sicher auch den reichen Süden kennenlernte, verhielt er sich zur chinesischen Kultur als ein distanzierter, zuweilen kritischer und auch nicht immer genauer Beobachter. Er sah manches, was ihn faszinierte: technisch vollendete Bauwerke (wie die sogenannte Marco-Polo-Brücke beim heutigen Peking), zierliche Frauen, die ihm engelgleich vorkamen, schwarze Steine, die brennen (Kohle), und Wein, den man warm trinkt. Doch all das betrachtete er durch die mongolische Brille. Über warmen Reiswein urteilte er, man werde davon schnell betrunken. Das war ein mongolischer Standpunkt. Denn in der Steppe wurde viel und heftig getrunken. Dass Marco Polo in dem Buch, das er später verfasste, chinesischen Tee nicht erwähnt, erklärt sich einerseits durch seine Vorliebe für alkoholische Getränke, andererseits aus dem Umstand, dass die Mongolen erst viel später auf den Geschmack des Tees kamen. Auch andere Lücken und Leerstellen in seinem Buch (die Große Mauer, die chinesische

Schrift, die gebundenen Füße der Frauen) werden begreiflich, wenn man den Verfasser als akkulturierten Mongolen und deshalb distanzierten Beobachter versteht. Beeindruckt hat ihn die Unmenge chinesischer Großstädte. Allein im Süden soll es 1200 gegeben haben. Und in jeder von ihnen finde man bedeutende Bauten, wertvolle Waren und die Merkmale eines hochkultivierten Alltags. Die Hauptstadt „Quinsai“ (das heutige Hangzhou) beschrieb er in so leuchtenden Farben, dass man meinen konnte, es mit einer Idealstadt zu tun zu haben. „Himmelsstadt“ bedeute ihr Name (was so nicht zutrifft). Aber aus dem überschwenglichen Lob ergab sich ein grundsätzlicher Vorwurf: Die Chinesen hätten es nicht verstanden, ihr blühendes Reich gegen die Eroberer zu verteidigen. Denn das Kriegführen sei ihre Sache nicht. Ihr letzter Kaiser habe sich lieber mit Frauen und der Armenfürsorge als mit den Waffen beschäftigt. Deshalb habe er sein Reich verloren. Marco Polo verachtete ihn und sein Volk dafür. Auch das war ein ganz und gar mongolischer Standpunkt.

Die steinerne Bogenbrücke über den Fluss Yongding He beim heutigen

Das ferne Reich findet Aufnahme in die europäischen Weltkarten Marco Polo hat in den 17 Jahren, die er im mongolischen China verbrachte, das Land kennengelernt wie seinerzeit kein zweiter Europäer. Doch nur dadurch, dass er seine Erlebnisse aufschrieb, wurde China vom lesenden Publikum entdeckt. Andernfalls wäre er ein

80 Von der Utopie zum Ideal

wohlhabender Rentner geblieben, der in seinem venezianischen Palazzo seinen Erinnerungen nachhing. Nur durch das Buch, das er zusammen mit einem Ghostwriter aus Pisa verfasste, wurden seine Erkenntnisse „nachhaltig“. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und kursierte in mehreren Versionen, die sich zum Teil erheblich voneinander unterscheiden. Ungefähr 150 mittelalterliche Handschriften bezeugen seine weite Verbreitung. Erst recht durch die Erfindung des Buchdrucks wurde dem Werk öffentliche Wirksamkeit garantiert. Der erste Druck erschien 1477 in Nürnberg. Man kann von den Ausgaben und Auflagen eines Longsellers sprechen. Der Leser erfuhr von der vorbildlichen Herrschaft des Großkhans, von der fulminanten Geschichte des mongolischen Reichs und den staunenswerten Reichtümern Chinas. Er erhielt ein detailreiches Bild von einer Welt, von der man bis dahin nichts wusste. Davon profitierten zunächst die Literaten, dann die Geschichtsschreiber und – mit einer gewissen Verzögerung – schließlich auch die Geographen. Aber seit dem späten 14. Jahrhundert gab es keinen Zweifel: Wer über die östliche Welt Bescheid wissen wollte, kam an Marco Polos Buch nicht vorbei. Bis weit in die frühe Neuzeit hinein blieb es ein Grundlagenwerk des europäischen Weltbilds, der Geographie und der Kartographie. Gerade die Kartenwerke führen deutlich vor Augen, was sich mit Marco Polos Hinweisen anfangen ließ. Schon auf den ersten Blick zeigen sie, dass das Wissen der Europäer jetzt bis nach Ostasien reichte. Die Kenntnis Chinas und der benachbarten Reiche, von Marco Polo und anderen Reisenden auf den Weg gebracht, hatte sich endgültig im europäischen Weltbild befestigt. Mit Fahnen, Türmen und anderen Symbolen versuchten die Kartenmacher, einen Eindruck von der Vielzahl und der Dichte der chinesischen Städte zu vermitteln. Natürlich konnten sie nur verschwindend wenige mit Namen unterbringen. Für mehr reichte der Platz nicht. Doch die Städte Khanbalik und Quinsai ragen hervor, und über allen thront die Gestalt Kublais, der freilich schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilte. Daraus ergab sich, dass man sich Asien als langgestreckten Kontinent vorstellte, der nahe an den Westen Europas heranreichte. Der Gedanke, mit dem Schiff nach Westen über den Atlantik zu fahren, um den Osten zu erreichen, lag am Ende des 15. Jahrhunderts in der Luft. Christoph Kolumbus hat ihn in die Tat umgesetzt. Er wollte nicht Indien ansteuern, son-

dern Cathay und Manzi mit den Riesenstädten Khanbalik und Quinsai. Lange blieb offen, ob er recht hatte oder sich täuschte. Die Entdeckung Amerikas war ursprünglich als Wiederentdeckung Chinas geplant.

Kartographen füllen die Leerstellen mit neuen Informationen Gleichzeitig segelten portugiesische Seefahrer in umgekehrter Richtung, um in den asiatischen Handel einzusteigen. Sie setzten sich in Aden, Goa, an der indischen Malabarküste, auf Ceylon sowie in Südostasien fest und gelangten schließlich nach China. Dort allerdings blieb die portugiesische Präsenz auf den äußersten Süden beschränkt. Eine Gesandtschaft an den Kaiserhof in Peking scheiterte vollständig. Sie hatte sich schlecht benommen und die Spielregeln des chinesischen Marco Polos Reisebericht wurde vielfach übersetzt – auch ins MittelTributsystems verletzt. In Guangzhou (Kanton) kam es zu heftigen hochdeutsche. Bildnis des VeneziaKämpfen. Der Gesandte starb im ners in der 1477 in Nürnberg erschieGefängnis. Portugal musste einsenenen Ausgabe, gedruckt von Friedhen, dass sich das Reich der Mitte rich Creussner.

81 Kartographen füllen die Leerstellen mit neuen Informationen

auf Geschäfte nicht einließ und Gewalt keine Option war. Auch für den portugiesischen König Aldas war eine Entdeckung, nämlich der chinesischen Macht und fons V. diese kreisförmige Weltkarder eigenen Grenzen. te an (Durchmesser: rund zwei Immerhin gelang es den PorMeter). Dafür nutzte er die Berichte tugiesen, in einigen südostchiportugiesischer Seefahrer ebenso nesischen Häfen einen regen wie die Erinnerungen Marco Polos. Schmuggelhandel zu etablieren, und 1557 durften sie auf der Halbinsel Macau nahe der Mündung des Perlflusses ins Südchinesische Meer eine Siedlung errichten. Daraus sollte eine Kolonie werden, die bis 1999 bei Portugal blieb. Sie diente nicht nur als Umschlagplatz für den chinesisch-japanisch-südostasiatischen Dreieckshandel, sondern auch als Horchposten, von dem aus man in das Land hinein hörte, das sich so zugeknöpft gab.

Dadurch kamen Informationen zustande, die ein gutes Stück über das hinausgingen, was bis dahin über China bekannt war. Daran bestand in Europa nach wie vor großes Interesse. Erstmals konnten hier gedruckte Bücher erscheinen, die das Reich der Mitte zum alleinigen Gegenstand hatten, Bücher zudem, die sich nicht mit dem mongolischen, sondern dem China der seit 1368 regierenden Ming-Dynastie befassten. Von chinesischer Musik und chinesischer Schrift, von Essstäbchen und Tee, von Prostitution, Fäkalienverwertung und anderen Erscheinungen des Alltags konnte der Leser erfahren, sogar von chinesischen Gefängnissen und den dort angewandten Foltermethoden und Strafen. Denn auch davon konnten einige Portugiesen aus eigener leidvoller Erfahrung berichten.

Der venezianische Mönch Fra Mauro fertigte zwischen 1457 und 1459

82 Von der Utopie zum Ideal

Die europäischen Kartographen nutzten die via Portugal verbreiteten Informationen, um ihre Karten vollständiger, dichter und aktueller werden zu lassen. Die weißen oder nur notdürftig ausgefüllten Flecken verschwanden. Vor allem an den chinesischen Küsten konnte jetzt eine ganze Reihe von Orten eingetragen werden, von denen man bis dahin nichts gehört hatte. Daraus ergab sich jedoch ein Problem: Die von Marco Polo stammenden geographischen Namen wollte man nicht ohne weiteres aufgeben. Nur allmählich wurden sie durch die neuen verdrängt. Von Süden nach Norden, von der Küste ins Hinterland verlief dieser Prozess. Manzi wurde durch China ersetzt, Cathay konnte sich noch eine Zeitlang halten, bis auch dieser (mittlerweile völlig veraltete) Name aus den Karten verschwand. Auf diese Weise trugen die Kartographen entscheidend dazu bei, die Entdeckungen der Seefahrer in das allgemeine Wissen ihrer Zeit zu übertragen.

matik und Astronomie gaben ihm und seinem Gott in chinesischen Augen Ansehen und Gesicht. Eine große Weltkarte, die er nach europäischem Vorbild drucken ließ, zeigte, dass China nur einen kleinen Teil der Erdoberfläche ausmachte, kam aber dem konfuzianischen Weltbild insofern entgegen, als das Reich der Mitte tatsächlich die Mitte einnahm. Vor allem aber vermittelte Ricci die Inhalte des christlichen Glaubens, indem er die scheinbaren Gemeinsamkeiten mit den Lehren des Konfuzius betonte und die Die Jesuiten zeichneten in ihrem BemüUnterschiede nicht erwähnhen, das Christentum in China zu verte: Aus dem christlichen Gott ankern, ein sehr positives Bild des Kaiwurde der Herr des Himmels, serreichs. Auf diesem Wandteppich ist der chinesische Ahnenkult zur der Ordensmann und Astronom Adam bloßen Ehrerbietung, und die Schall von Bell (1591  –  1666) neben KaiVorstellung von der Unsterbser Shunzhi (1644   –  1661) abgebildet.

Strategie der Jesuiten: sich anpassen und die Elite missionieren Viel weiter als die Interessen der Kaufleute gingen die Absichten der Missionare. Franz Xaver, Mitgründer des Jesuitenordens, wollte unbedingt die Chinesen zum rechten Glauben bekehren. Doch er starb, bevor er das Land betreten durfte. Was ihm verwehrt blieb, gelang erst seinem Ordensbruder Matteo Ricci (1552–1610), der seit 1601 der Mission in Peking vorstand. Gestützt auf die Erfahrungen der Jesuiten in Japan, verfolgte er eine Strategie der Anpassung, welche die Arbeit des Missionars an den chinesischen Verhältnissen orientierte. Zu gewissen Zugeständnissen in Gewandung und Auftreten, bei den liturgischen Handlungen und bei der Übersetzung der christlichen Begriffe war er deshalb bereit. Gezielt richtete Ricci seine Bemühungen auf den Kaiserhof und die dort tonangebende Schicht der konfuzianisch gebildeten Beamten. Er ging von der Annahme aus, dass in einer hierarchisch gestuften Gesellschaft die Bevölkerung dem Beispiel der Würdenträger folgen würde. Er arbeitete sich zu diesem Zweck intensiv in die chinesische Sprache, Literatur, Philosophie und Etikette ein und publizierte sogar auf Chinesisch. Im konfuzianischen Denken erkannte er den Kern der chinesischen Kultur. Zugleich beeindruckte Ricci seine Umgebung durch profunde Kenntnisse in den westlichen Wissenschaften. Seine Beiträge zu Kartographie, Mathe-

83 Strategie der Jesuiten: sich anpassen und die Elite missionieren

lichkeit der Seele glaubte Ricci auch in den konfuzianischen Klassikern zu erkennen. Seine Nachfolger Adam Schall von Bell (1591  –1666) und Ferdinand Verbiest (1623   –1688) gingen in dieser großzügigen Um- und Ausdeutung der christlichen Glaubenslehre noch weiter. Das Vorgehen der Jesuiten in China war nie unumstritten. Franziskaner und Dominikaner sahen das christliche Dogma verwässert und die Reinheit der Lehre um des kurzfristigen Erfolgs willen gefährdet; an der Kurie machte sich Unwillen breit. Der Orden sah sich deshalb veranlasst, in Europa intensiv für die China-Mission zu werben. Bücher zur chinesischen Geschichte und Landeskunde wurden auf den Markt geworfen, die jährlichen Berichte der Missionare wenigstens in Auswahl publiziert und sogar erste „Dia-Vorträge“ über China gehalten (Hinterglasbilder, die man mit einer Laterna magica projizierte). Das europäische Publikum erhielt dadurch die Möglichkeit, sich umfassend und detailliert über die Tätigkeit der Jesuiten zu informieren, an deren Kenntnissen teilzuhaben und damit eine neue Welt für sich zu entdecken.

Dogmas fand an der Verbindung sozialer Tugenden mit einer deistischen Religiosität, wie sie angeblich in China praktiziert wurde, ein ideales Vorbild. Der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646   –1716) hielt deshalb die Auseinandersetzung mit dem Denken der Chinesen für nützlicher als die Kenntnis der Antike. Der große Voltaire (1694   –1778), Philosoph und Schriftsteller, orientierte sich am Reich der Mitte, als er sich für eine humane Monarchie aussprach, in der ein aufgeklärter Souverän auf der Grundlage von Sitten und Gesetzen herrsche, unterstützt von einer nach objektiven Kriterien ausgewählten Bildungselite. Und den Verfechtern einer agrarischen Wirtschaftsweise, den Physiokraten, kam es entgegen, dass der Kaiser von China sich persönlich um den Ackerbau kümmerte und jährlich beim Himmelstempel in Peking symbolisch den Pflug führte. Moderne Herrscher wie Ludwig XV. (1715   –1774) in Frankreich und Joseph II. (1765   –1790 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, seit 1780 Erzherzog von Österreich) folgten seinem Vorbild. Sogar im Alltag der Oberschichten machte das chinesische Beispiel Schule: Man sammelte bemalte Seidenstoffe und exotische Zierfiguren, lackierte Möbel und Gefäße. Man schlürfte den chinesischen Tee (allerdings mit Zucker) aus blau-weißem Jingdezhen-Porzellan (oder einem Imitat) und stellte ganze Porzellankabinette zusammen. Man schätzte Tapisserien, die mit Dekors in chinesischer Manier überzogen waren, und erfreute sich an Bildern, deren Maler sich von chinesischen Mustern hatten anregen lassen. Man erging sich in Landschaftsgärten, die wie ihr fernes Vorbild, der Yuanming Yuan bei Peking, in einer eigenartigen Mischung aus Berechnung und Natürlichkeit angelegt worden waren. Es gab immer auch kritische Stimmen, die mit Spott oder Sarkasmus über die Torheiten der ChinaMode herzogen. Aber das 18. Jahrhundert war ein Zeitalter der Sinophilie. Erst als das imperialistische Europa sich die Welt unterwarf und zur selben Zeit das Reich der Mitte dramatisch verfiel, sollte sich die Stimmung vollständig ändern.

Das entworfene Bild lässt China als einen idealen Staat erscheinen Das Panorama aber, das die Ordenspropaganda entwarf, war in allen seinen Teilen ein Idealbild. Es entsprach eher dem Selbstverständnis der Informanten, der konfuzianischen Literaten, als der Realität. So wurde etwa die Verfassung des chinesischen Kaiserreichs als die eines idealen Staatswesens beschrieben, regiert von Gelehrten, deren einzige Legitimation in ihrer philosophisch-literarischen Bildung bestand. Die Herrscher selbst wurden als edelmütige Monarchen dargestellt, ihr pragmatisch begründetes Verhältnis zu den europäischen Missionaren als religiöse Toleranz missverstanden. Die Chinesen seien ein Volk von Rationalisten, die dem Pfad der Tugend folgten, den Konfuzius ihnen gezeigt habe. Dieser selbst wurde den antiken Philosophen zur Seite gestellt, seine Morallehre als günstige Voraussetzung der Christianisierung ausgegeben. Vieles von dem, was aus China bekanntwurde, kam dem Zeitgeist der Aufklärung entgegen. Die Vorstellung von der Formbarkeit des Menschen, die der konfuzianischen Tugendlehre zugrunde liegt, entsprach ganz den philosophischen Intentionen im „Jahrhundert der Erziehung“, und die Auseinandersetzung der Aufklärer mit der Enge des christlichen

Prof. Dr. Folker Reichert, geb. 1949, lehrte bis 2012 mittlere Geschichte an der Universität Stuttgart. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Geschichte Ostasiens. Sowohl in Schanghai als auch in Yokohama und Bangkok hatte er Gastprofessuren inne.

84 Von der Utopie zum Ideal

Alltagsleben in Peking

Die größte Stadt der Welt Kai Vogelsang

Peking war über Jahrhunderte die Hauptstadt der Kaiser und zugleich die größte Stadt der Welt. Von hohen Mauern umgeben, zeigte sich diese Metropole äußerst vielfarbig und geschäftig. Der strikten Ordnung und Ruhe der „Inneren Stadt“, des Herrschersitzes, standen der Lärm und das Gewimmel der „Äußeren Stadt“ gegenüber.

Kaum eine andere Stadt hat China so stark geprägt wie Peking. Fast 1000 Jahre war es – mit kurzen Unterbrechungen – Hauptstadt, es war Sitz der Kaiser und Zentrum des Reichs. Dabei waren es nicht Chinesen, sondern tungusische Völker, die Peking zur Hauptstadt machten: Erst die Khitan im 10. Jahrhundert, dann 1153 die Jurchen, und 1271 grün­deten die Mongolen dort ihre „Stadt des Khans“, das sagenhafte Khanbalik, von dem Marco Polo berichtete, es sei „so großartig und mit keiner anderen Stadt zu verglei­chen“. Erst 1420, zur Zeit der Ming-Dynastie, zog in Peking erstmals ein chinesi­scher Kaiser ein; und 1644 wurde die Stadt abermals von einem tungusischen Volk, den Mandschuren, eingenommen, die dort die Hauptstadt der Dynastie Qing etablier­ten. Unter diesen beiden Dynastien war Peking – oder Beijing, wie es heute ausgespro­chen wird – rund 400 Jahre lang, von 1420 bis 1820, die größte Stadt der Welt. Weit mehr als eine Million Einwohner lebten im

Seit 1420 war Peking Sitz der chifrühen 19. Jahrhundert innerhalb sei­ nesischen Kaiser, die in einem ner Stadtmauern: der Kaiser und sein Hofstaat, der mandschurische Adel, streng abgeschirmten Teil der Soldaten und Staats­b eamte, StuStadt lebten: der „Verbotenen den­ten, Mönche, Händler, HandwerStadt“. Das chinesische Gemälde ker und Bettler, Chi­nesen aus allen aus dem 19. Jahrhundert zeigt den Eingang zum Kaiserpalast. Teilen des Reiches, Mandschuren, Uiguren, Mongolen, Tibeter, Japaner, Europäer. Peking war eine Metropole, in der die unterschiedlichsten Menschen zusam­menkamen – und wieder getrennt wur­den. Der Norden Pekings, die „Innere Stadt“ oder „Tata­ renstadt“, war weit­gehend den Mandschu­ren vorbehalten, während südlich davon, in der „Äußeren Stadt“, die Chinesen lebten; das europäische Legationsviertel, das Muslimviertel, Tempelanlagen und Hunderte ande­re Bezirke waren strikt voneinander geschie­den. Nicht zufällig waren Mauern das prägen­de Element des Pekinger Stadtbildes.

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Stadt der Mauern

den, das Chaoyang-Tor im Osten, durch das die Getreidelieferungen vom Kaiserkanal eintrafen, das Xizhi-Tor im Westen, durch das der lokale Verkehr zu den Westbergen strömte: Sie und die anderen Tore gaben der Stadt ihre Struktur und ihren Takt. Die Hauptachsen des Stra­ßennetzes liefen auf die Tore zu, durch sie zwängte sich tagsüber aller Verkehr mit dem Umland. Doch nach Tor­schluss, der vom Trommelturm weithin hörbar verkündet wurde, standen die Fuhr­werke still, bis der Glockenturm am nächsten Mor­gen ihre Öffnung verkündete. Die Mauern und Wehranlagen verwei­sen zum einen darauf, dass Peking stets eine Grenz­stadt war. Im Gegensatz zu den alten Hauptstädten Chinas – Chang’an, Luoyang, Kai­feng – die alle am Gelben Fluss lagen, im Zentrum des Reichs, liegt Peking am äußer­sten Zipfel der nord­chinesischen Lössebene. Nur 50 Kilometer nördlich der Stadt verläuft die Große Mauer, die einst die Grenze Chinas markier­te, da­hinter beginnt die mongo­lische Steppe, nord­östlich erstreckt sich die Mandschurei: die Heimat der Völker, die Peking einst gegründet hatten. Zum anderen bezeugen die Mauern, dass Peking der Sitz von Kaisern war, die ihre Untertanen durch Zwingherr­ schaft unter Kontrolle brachten. Schwerbewaffnete Garden an den Toren und abge­schlagene Köpfe, die in verschiedenen Stadien der Verwesung dort hingen, warnten den Besucher davor, die hoheitliche Macht in Peking zu missachten.

Ihr Anblick muss überwältigend gewesen sein. Pekings gewaltige Backsteinmauern, die das flache Umland weithin sichtbar überrag­ten, kündeten schon aus der Ferne von der Grandeur der „Nördlichen Hauptstadt“. Eigentlich waren es zwei Mauern: Ein 24 Kilometer langer Wall aus dem 15. Jahrhundert, bis zu 15 Metern hoch und 20 Meter dick an der Basis, mit Zinnen und Schießschar­ten bewehrt, umgab das Geviert der „Inneren Stadt“; eine weitere, etwa halb so hohe Mauer mit 28 Kilometern Länge wurde im 16. Jahrhundert um die südlichen Vororte, die „Äuße­re Stadt“, gebaut. Zusammen waren diese Anlagen über 50 Kilometer lang! Diese Stadtmauern waren umso imposanter, als Peking eine flache Stadt war, deren Gebäude nur selten höher als zwei Stockwerke waren. Auch sie waren in der Regel von Mauern umgeben: Nicht nur die Kaiser­stadt und die Ver­botene Stadt waren von vorneh­men roten Mauern umschlossen, auch die umliegenden Wohnviertel und Residen­zen, Tempel und Amtsge­bäude waren allesamt ummauert. Peking war eine Stadt der Mauern. 16 Toranlagen durchbrachen die Stadtmauern, gesichert durch Vorwerke und überbaut mit bis zu 40 Meter hohen Wehrtürmen. Das Desheng-Tor im Nordwesten, durch das die Missionen aus Zentralasien kamen, das Anding-Tor im Nordosten, durch das die Fäkalien der Stadt ins Umland gekarrt wurMehr als 50 Kilometer lang waren die Festungsmauern, die Peking sicherten. Das Foto der nordöstlichen Ecke der Außenmauer entstand 1860.

86 Die größte Stadt der Welt

lackierten Holzpfeilern getragen und über­wölbt von einem leuchtend gelben Doppeldach, ist sie ein Meisterwerk chinesi­scher Palastarchitektur. Dort und in zwei angrenzenden Hallen fanden die großen Audienzen und Zeremonien des Staates statt. Die Routineverwaltung geschah in drei inneren Palästen im Norden der „Verbo­tenen Stadt“, wo auch die Privatgemächer des Kaisers und seiner Frauen lagen. Mehrere hundert Frauen lebten dort: die Mutter des Kaisers, die eigentlich das Sagen hatte, die Kaiserin, Dutzende von blutjungen Konkubinen – sie wurden dem Kai­ser meist mit zwölf bis 13 Jahren zugeführt – und zahlreiche Hofdamen. Ihnen waren rund 2000 Eunuchen zu Diensten: Kastraten, die oft Schlüsselpositionen im kaiserlichen Haushalt einnahmen. Im Nord­osten wurden die Söhne des Kaisers erzogen, bis sie im Alter von 15 Jahren ausziehen mussten: Es durfte nur einen „echten“ Mann in der „Verbo­tenen Innerhalb der „Inneren Stadt“ lag die „Kaiserstadt“, und darin war Stadt“ geben. Der Kaiser hatte in seiner Stadt wiederum eine Fläche von rund alles, was das Herz begehrte: seide720 000 Quadratmetern als „Verbone Roben – eine neue jeden Tag –, tene Stadt“ für den Kaiser, seine köstliches Essen – 108 Gänge pro Familie und die Verwaltung abgeMahlzeit –, eine prächtige Biblio­ teilt. Die zeitgenössische Darstelthek, einen Harem, ein Areal zum lung hält eine Geburtstagsfeier für Bogenschießen, Opernbühnen und die Mutter des Qianlong-Kaisers Kunstschätze. Fuß­bodenhei­zungen (1735   –   1796) fest.

Stadt der Kaiser Der nördliche Teil Pekings, die „Innere Stadt“, war vor allem Herrschersitz. Hier lagen die Behörden, die Residenzen und die Paläste des Kaisers: das Zentrum des Reichs und die Quelle aller Ordnung. Das Straßennetz der „Inneren Stadt“, ein symmetrisches Gitter aus Nord-Süd- und Ost-West-Straßen, symbolisierte diese Ordnung, in deren Mitte, ent­lang der zentralen Achse der Stadt, die Kaiserstadt lag: eine fast sieben Quadratkilometer große Stadt in der Stadt, innerhalb deren wiederum die 720 000 Quadratmeter große „Verbotene Stadt“ lag. Die wenigen hohen Beamten, die das Privileg besaßen, ihre heiligen Hallen betreten zu dürfen, mussten zu­nächst das imposanteste Tor Pekings passieren, das 38 Meter hohe und 62 Meter breite Vor­dertor zwischen „Äußerer“ und „Innerer Stadt“. Hinter einem weiteren Tor begann der ummauer­te „1000-Schritt-Korridor“, gesäumt von Amtsgebäu­ den, der zum Tor des Him­melsfriedens führte, vorbei am kaiserlichen Ahnentempel und durch das Mittagstor ins Zentrum der Macht. Die „Verbotene Stadt“, in welcher der Kaiser residierte, war ein irdi­sches Abbild des Himmelspalastes, in dessen Mitte der Polarstern stand. Ihr Zentrum bildete die „Halle der höchsten Harmonie“: Auf einer weißen Marmorplattform gebaut, von rot

87 Stadt der Kaiser

über das sie herrschten, bekamen sie kaum je zu Gesicht. Kein Wunder, dass die Kaiser einen Großteil ihrer Zeit nicht in der „Verbotenen Stadt“, sondern in einem ihrer Sommer­paläste – dem Yuanming Yuan oder dem Yihe Yuan im Nordwesten Pekings – verbrach­ten oder mit ihrem Hofstaat nach Jehol, 250 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt, reisten, um dort den Sommer zu verbringen. Hin und wieder, so behaupten zumindest Pekinger Legenden, bega­ben Kaiser sich auch gegen alle Etikette inkogni­to unter das Volk, um etwas vom Alltagsleben der Stadt zu kosten.

Stadt der Mandschuren Die Mauern der Kai­serstadt teilten den Norden Pekings in zwei Hälften. Die wichtig­ste Achse im Osten bildete die Hata-Straße, die vom gleichnamigen Tor im Süden bis zum Lama-Tempel im Norden ver­lief. Westlich von ihr, ganz in der Nähe der „Verbotenen Stadt“, lag das Legationsviertel, das nach dem Vertrag von Tianjin (1860) entstanden war. Auch dies eine kleine Stadt in der Stadt, in der Gesandt­schaften von elf Staaten sowie Ban­ken, Han­delsfirmen, Hospi­ täler, Hotels und andere westliche Institutionen unterge­bracht waren: Mehrere hundert Europäer, Japaner und Amerikaner lebten dort. Östlich der Hata-Straße, in der Nähe der Sternwarte, die einst die Jesuiten errichtet hatten, befand sich das Prüfungsgelände. In seinen 10 000 Einzelzellen mussten Beamten­anwärter in dreitägiger Klausur Fragen zu den kanoni­schen Texten beantworten: Dort entschied sich, wer künftig die Ge­schicke des Reichs lenken sollte. Erst 1898 entstand westlich davon, gleich neben der „Verbotenen Stadt“, die erste Institution der modernen Bildung, die Peking-Universität. Weiter nördlich, vorbei am Schweinemarkt und am Hundetempel, lag der Longfu-Tempel, auf dessen Gelände alle zehn Tage ein großer Antiquitätenmarkt stattfand, ein Stück weiter standen die großen Getreidespeicher, die Speisekammern der Stadt. Hier lagerte man drei bis fünf Millionen Tonnen Reis, die jährlich aus den Anbaugebieten Süd­chinas über den Kaiser­kanal nach Peking geliefert wurden. Nicht nur die Hauptstadt, die Dynastie insgesamt war von diesen Lieferungen abhängig. Denn sie bezahlte ihre Beamten und Soldaten vorwie­gend in Naturalien. Rund 100  000 „Bannermänner“ und ihre Familien, die, auf acht „Ban­ner“-Bezirke verteilt, in der Mandschustadt wohnten, lebten von solchen Zu-

wärmten ihn im Winter, Eisblöcke aus einem unterirdischen Depot schafften im Sommer Kühlung, Stadt“, abgegrenzt von der südliHauslehrer und Diener um­sorgten chen „Äußeren Stadt“ (unterer Bildihn, die Seen und Gärten der Kaiteil). In der „Inneren Stadt“ ist die serstadt boten reizvolle Ausflugs„Kaiserstadt“ mit der „Verbotenen ziele. Stadt“ zu erkennen. Dennoch waren die Kaiser die ein­samsten Menschen unter dem Himmel. Ihre Mahlzeiten nahmen sie stets allein ein, ihre Gespielinnen wurden ihnen von Eunuchen zugeführt, die Hofbeamten muteten ihnen einen strikt getakteten Tagesablauf zu, Freunde kannten sie nicht, und das Reich, Plan der Stadt Peking (Qing-Dynastie). Oben die nördliche „Innere

88 Die größte Stadt der Welt

wendungen. Ihre Vorfahren, die Peking erobert hatten, waren furcht­erregende Krieger gewesen, aber im 19. Jahrhundert waren die Bannermänner zu Müßig­ gängern geworden, die selbst die mandschurische Sprache verlernt hatten. Manche dienten als Gendarmen und Nachtwächter, die nach der Sperrstunde mit Peitschen und Schwertern bewaffnet in den Straßen patrouillierten; andere enga­gierten sich im Gemeindeleben der lokalen Tempel. Meistens aber verbrachten sie ihre Zeit mit Essen, Trinken, Spielen und Vergnügungen. Statt selbst zu kämpfen, amüsierten sie sich mit Grillen- und Hahnenkämpfen, zogen Blumen, fütterten ihre Goldfische, besuchten Theater, ließen Papierdrachen steigen und trugen ihre Singvögel – Lerchen, Drosseln, Rubinkehlchen – in Käfigen spazieren. Viele Pe­kinger waren regel­rechte Taubennar­ren. Sie ließen die Tauben in Schwärmen fliegen, manchmal mit Flöten an den Schwänzen, so dass sie wie ein fliegender Brummkreisel klangen. Im 19. Jahrhundert lebten längst nicht mehr nur Mandschuren in der „Inneren Stadt“: Neben den Mönchen, die in den Hunderten Tempeln lebten, hatten sich auch chine­sische Händler das Wohnrecht im Norden nach und nach erschlichen, hohe Beamte hatten dort Anwesen, und ein Heer von Handwerkern, die den Hof belieferten, lebte im Norden der Kaiserstadt: Straßennamen wie Zimmerei-Gasse (hutong), Baumwoll-Gasse, Hutmacher-Gasse oder Regenmantel-Gasse erinnern an die Gewerbe, die dort ansässig waren. Tausende solcher Gassen – hutong stammt wohl vom mongolischen Wort für „Pferde­trän­ke“ ab – prägten das Stadtbild Pekings. Sie wurden gesäumt von den typischen Pekinger Hofhäusern: ummauerten Anwesen, die (mindestens) aus einem zentralen Hof und drei darum gruppierten Häusern bestanden. Im dreiräumigen Haupthaus, idealer­weise im Norden gelegen, wohnte die älteste Gene­ration, in den beiden Flügel­häusern die Jüngeren und das Gesinde. In den Höfen standen meist Bäume – Dattel-, Aprikosenoder Maulbeerbäume – und Kübelpflanzen wie Granatapfelbäumchen und Oleander, auch Gemüse wurde dort gepflanzt, und viele Topfblumen machten aus den staubigen Innen­höfen im Sommer bunte Gärten. Die Anwesen der Mandschu-Prinzen, von denen es Dutzen­de in der Mandschustadt gab, waren wesentlich prachtvoller: Sie bestan­den aus mindestens drei umfriedeten Höfen sowie zahlrei­chen Nebenhäusern und hatten sorg­fältig gestal­tete Gärten mit Teichen, Bäumen, Pavil­lons und kleinen „Bergen“ aus

bizarren „Yin-Yang“-Steinen, die aus dem Süden des Reichs importiert wurden. Diese Hofhäuser, ob groß oder klein, waren das Zentrum des privaten Lebens. Man brauchte sie eigentlich nicht zu verlassen, denn die fliegenden Händler, die – je­weils mit ihrem eigenen Erkennungs­ schrei, Glöckchen oder Gong – regelmäßig durch die Gassen kamen, brachten alles, was das Herz begehrte: Melonenkerne und Honigkuchen, Gemüse aus dem Umland, Töpfe und Messer, Früchte, Zucker, Staub­wedel, Kohle, Seife, Ratten­gift, Petroleum, Fächer und Decken, Süßwaren und Spielzeug für die Kinder. Wahrsager und Messerschleifer boten ihre Dienste auf der Straße an, Wasser­träger lieferten fri­sches Wasser von Pekings Brunnen, Kessel­flicker und andere Hand­werker reparierten Haus­haltswaren, Bar­biere schoren den In der „Inneren Stadt“, auch „TataMännern vor dem Haustor den renstadt“ oder „Mandschustadt“ genannt, lebten viele Nachkommen der Kopf, Zahnärzte zogen schmerzende Zähne, Trödler, Alt­papiermandschurischen Kriegerelite. Diese sammler, Pfandleiher und Fäka­ „Bannermänner“ (Darstellung aus lienhändler ent­sorgten alles, was dem 18. Jahrhundert) hatten im nicht mehr ge­braucht wurde. Bei 19. Jahrhundert keine militärischen vielen Händlern konnte man an­ Funktionen mehr.

89 Stadt der Mandschuren

Diese Tempel waren nicht bloß Orte religiöser Verehrung, sondern Zentren des öffentlichen Lebens: Sie richteten Feste und Märkte aus, organisierten wohl­ tätige Veran­staltungen, versorg­ten Kranke, bestatteten Tote, boten Reisenden Unter­kunft, betrieben Pfandleihen und einiges mehr. In einer Stadt, die keine öffentlichen Parks oder Plätze und kaum andere Versamm­lungs­orte bot, dienten Tempel als soziale Treff­punkte. Hinter ihren Mauern konnte sich urbanes Leben entfal­ten, das die Obrigkeit durch so viele andere Mauern zu beschränken versuchte.

Stadt der Chinesen Anders als die streng durchgeplante „Innere Stadt“ hatte die „Äußere Stadt“ den Charak­ter einer gewachsenen Siedlung. Hier herrschte geschäftiges Durcheinander, das Gewirr der hutong durchkreuzte die kaiserliche Ordnung. Der Süden hatte noch fast ländlichen Charakter: Zwischen Feldern, Fisch­ teichen, Gemüsegärten und Friedhöfen standen nur einzelne Villen und Tempel. Vom Yongding-Tor, dem südlichen Eingang zur Chinesen­stadt, erstreckte sich die kilometerlange nord-südliche Haupt­achse der Stadt, die gera­de­wegs bis zum „Vor­dertor“ der Mandschustadt führte und deren Verlängerung durch die „Verbo­tene Stadt“ zum Glocken- und Trommel­turm und bis hin zur nördlichen Stadtmauer reichte. Folgte man der Straße nach Norden, kam man zunächst an zwei riesigen ummauerten Arealen vorbei, die Normalsterblichen unzu­gänglich waren: im Osten der 270 Hektar große Park des Himmelsaltars, wo der Kaiser zur Wintersonnenwende das große Opfer an den Himmel darbrachte, im Westen der Altar des Ackerbaus, wo der Kaiser zeremoniell die ersten Furchen des Jahres zog. Während diese Anlagen in heiliger Stille lagen, herrschte vor ihren Mauern reges Treiben. Händler stellten ihre Buden auf, in denen sie neben Lebensmitteln und Haushaltswaren auch Diebesgut feilboten, in Zelten wurde Tee aus­geschenkt, auf Theater­ büh­nen wurden volks­tümliche Stücke dargeboten. Ging man über die „Himmelsbrücke“ und durch einen großen hölzernen Torbogen weiter nach Norden, verdichtete sich die Bebau­ung, die Holzbuden wichen festen Ziegelhäusern. Hier lag Pe­kings geschäftigstes Vergnügungsviertel, in dem Akrobaten, Gaukler, Wahrsager, Geschich­ten­­erzähler und ande­re Kleinkünstler die Men­ ge unter­hielten. Restaurants, Weinstuben, Teehäuser, Opium­höhlen, Theater und Spielhöllen reihten sich

schreiben lassen: Mit Kreide­ markie­rungen an den Mauern der Hofhäu­ser hielten sie die Schulder Altar des Ackerbaus. Bei einem den fest, die sie einmal im Monat jährlichen Zeremoniell (Abbildung) eintrieben. zog der Kaiser symbolisch die ersSo vielgestaltig die Menschen, ten Furchen des Jahres. so vielfältig waren auch die Religio­nen Pekings. 600 bis 700 Tempel hatte die Stadt im 19. Jahrhundert: Tempel des chinesischen, mongolischen und tibetischen Buddhismus, Zen-Klöster, daoistische und schamanisti­sche Tempel, vier katholische Kirchen, von Jesuiten gegründet, zudem zwei russisch-orthodoxe Kapellen, die Ahnentempel des Kaiserhauses, Tempel für Mond, Sonne, Himmel und Erde, Tempel für Konfuzius, den Jadekaiser, den Drachenkönig, den Arznei­könig, für die Götter des Reichtums und der Gefängnisse – und Hunderte allein für den Kriegsgott Guandi und für Guanyin, den Bodhisattva der Barm­herzigkeit. Im Westen der „Äußeren Stadt“

lag, von einer Mauer eingehegt,

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anein­ander. Pro­stituierte männli­chen und weib­li­ chen Geschlechts boten ihre Dienste an, Apotheker verkauften die Aphrodi­siaka dazu. Einfaches Volk, aber auch Händ­ler und Stu­denten amüsierten sich in diesem Viertel bis spät in die Nacht, sogar Banner­ leute aus der „Inneren Stadt“ blieben, bis die Stadt­ tore frühmor­gens wieder geöffnet wurden. Wer sich von der Haupt­straße nach Westen wandte, konnte ganz in der Nähe Dar­bietungen ganz anderer Art beiwohnen: den öffentlichen Hinrichtungen nämlich, die winters auf dem Richtplatz beim Gemüsemarkt statt­fanden. Dort wurden Verurteilte vor johlenden Zuschauermengen ge­köpft, erdrosselt oder durch „tausend Schnitte“ langsam und qualvoll umgebracht. Ebenso wie im vormodernen Europa war das abschreckende Spekta­kel des Todes allgegenwärtig, während das Alltagsleben ungestört weiterging. Unmittelbar hinter dem Richtplatz begann die Welt der Flaneure und gediegenen Geschäfte. Dort lagen die Straßen der Seiden­händler und Juwelie-

re; Laternen-, Por­zellan- und Silber­geschäfte fanden sich hier eben­so wie der berühmte Liulichang-Distrikt, dessen Buch-, Schreib­waren- und Kunsthandlungen die Bedürfnisse einer gelehrten Kundschaft bedienten. All diese Gewerbe waren säuberlich getrennt: Es gab eine Kupfergasse und eine Blumen­gasse, die Jadeschleifer saßen neben­einander, ebenso die Stoffund Fellhändler, es gab ein Papiermacherviertel, ein Rot­lichtviertel und einen speziellen Taubenmarkt, der den Pekingern ihr liebstes Federvieh lieferte. Diese gewerbliche Diffe­renzierung fiel oft mit einer regionalen zusammen: Die Zimmerleute und Apotheker kamen meist aus Ningbo, Teeund Salz­händler aus Anhui, KohBlick auf die Hauptstraße in der le- und Metallhändler aus Shanxi, „Chinesenstadt“ (um 1870). Im Wein­händler aus Shaoxing und Gegensatz zur strukturierten die Opiumhändler aus Kanton. „Inneren Stadt“ war dieser Teil In Peking kamen Menschen Pekings historisch gewachsen – ein buntes Gewimmel von Chineaus allen Teilen des Reichs zusammen. Neben Händlern und sen und Zugereisten.

91 Stadt der Chinesen

Pilgern waren es vor allem Studen­ten, die zur Reichsprüfung in die Hauptstadt reisten, die im 19. Jahrhundert fast jedes Jahr abgehal­ten wurde: Mehr als 10 000 Studenten versuchten dann ihr Glück, viele von ihnen blieben monatelang in der Stadt. Auch Beamte, die aus der Provinz zur Audienz bestellt wa­ ren, nutzten die Gelegenheit gerne zu längeren Aufenthalten. Zehntausende dieser Zugereisten mischten sich in der Südstadt unter die einheimi­sche Bevölkerung – und wurden sogleich wieder säuber­lich getrennt. Denn die meisten von ihnen lebten mit ihresgleichen in einer der mehr als 300 „Landsmann­schaften“, die Besucher aus bestimmten Provinzen oder Kreisen unter Landsleu­ten beher­bergten. Ein Drittel der „Chinesenstadt“ war ein Flicken­teppich solcher provinziel­ ler Gemeinden, in denen unterschiedlich ge­sprochen, geges­sen, gebetet und gewirt­schaftet wurde: Sie gaben dem urbanen Gewimmel seine Ord­nung und sorgten für soziale Kon­trolle. Auch die Muslime, deren Kamelkarawanen aus dem fernen Westen des Reichs durch das Guang’anTor in die Süd­stadt kamen, hatten eigene Viertel. Das größte lag um die Moschee in der Ochsenstraße: Dort gab es Gewürz­läden, Restaurants, deren Speisen halal waren, und der Imam schächtete die Schafe auf der Straße. Pekings Küche hat den Völkern aus dem Westen viel zu verdanken: Gegrilltes Lammfleisch, aber auch gedünstete Teigklöße, gefüllte Sesambrötchen, frittierte Teig­stangen und andere Köstlichkeiten, die an Stra­ßenständen verkauft wurden, stammten ursprünglich aus Zentralasien. Auf der großen Achse, die vom Guang’an-Tor nach Osten durch die Süd­stadt führte, ließ sich die ganze Fülle des Pekinger Straßenlebens beobachten. Sie war, wie fast alle Stra­ßen der Stadt, eine ungepflaster­te Lösspiste: bei Regen schlammig und schwer passierbar, bei Trockenheit hingegen so staubig, dass sie mit Wasser besprengt werden musste, um die Luft halbwegs erträglich zu halten. Im Lauf der Jahre hatten Verkaufs­stände die Straße immer weiter in Besitz genommen, so dass auf beiden Seiten nur ein schmaler Streifen blieb, auf dem sich die Fußgänger und Lastenträger mit ihren geschul­terten Bambusstangen drängten. Auf der „Pferdebahn“ in der Mitte rollten die Fuhr­werke der Händler, die Eselkarren und seit dem späteren 19. Jahrhundert auch Rik­schas. Bisweilen kam ein Würdenträger in der Sänfte vorüber, dem seine Schergen mit langen Knüppeln den Weg freischlugen, eine Hochzeitsprozession, welche die Braut

zu ihrer neuen Familie begleitete, oder ein Leichenzug, der unter lautem Klagen den Sarg zu einem Friedhof vor der Stadt begleitete. Das Pandämonium erreichte seinen Höhepunkt auf den Lebensmittelmärkten der Stadt, wo Rin­ derhälften und Schweineköpfe auslagen, Hühner gerupft und geschlachtet wurden, Innereien an Haken hingen, Blut und Zwiebelschalen den Boden bedeckten, Fische aus Wasserkübeln glotzten, Gemüsehändler ihre Ware anpriesen und allent­halben lautstark gefeilscht wurde. So ohrenbetäubend das Durcheinander der Geräu­sche war, so penetrant war der Gestank auf den Straßen: der Abfall, der Schweiß, die Tiere, der Kot. Mangels öffentlicher Toiletten verrichteten die Menschen ihre Notdurft in offenen Latrinen oder direkt am Straßenrand. Die Exkremen­te wurden, ebenso wie die Inhalte der Nacht­töpfe aus den Wohnhäusern, von Händlern eingesam­melt, die ihre heikle Ware in Kübeln durch die Straßen karrten, um sie als Dünger an Bauern zu verkaufen. Neben den Menschen bevölkerten auch viele Tiere die Straßen: die Reitesel, Pferde und Kamele der Reisenden, Schafe oder Schweine, die zum Markt getrieben wurden, Hühner und Straßenköter auf der Suche nach einem Bissen Futter. Sie konkurrierten dabei mit zerlumpten Bettlern, die singend und klap­pernd von Haustür zu Haustür zogen oder am Straßenrand kauerten. Einige waren grauenhaft verstümmel­t, andere fügten sich mit Messern oder Steinen Verletzungen zu, um die Pas­santen zu Almosen zu bewegen. Auch sie waren, wie andere Gewerbe, zünftig organisiert und hatten feste Reviere: die Farbe ihrer Kopftücher verriet, welcher Bru­der­schaft sie angehörten. Man­che „Bettlerkönige“ brachten es, ähnlich wie die „Scheißekönige“ unter den Fäkalien­sammlern, zu einigem Reichtum. Die meisten aber fristeten ein garstiges, rohes und kurzes Leben auf der Straße. Sie übernachteten unter Torbögen oder in den überdach­ten Gru­ben und primi­tiven Hühnerställen östlich der Himmelsbrücke. Unzählige von ihnen, Alte wie Kinder, erfroren oder verhungerten jährlich auf Pekings Straßen und wurden in Massen­gräbern verscharrt. Den Kaiser, der ganz in ihrer Nähe lebte, haben sie nie gesehen, und er wiederum wusste nichts von ihnen. Die Mauern Pekings schlos­sen sie zusammen und hielten sie doch himmelweit getrennt. Prof. Dr. Kai Vogelsang

92 Die größte Stadt der Welt

Das 19. Jahrhundert

Rebellen, Rauschgift und Reformer Stefan Christ

Das 19. Jahrhundert erwies sich als eine schwere Zeit für das Vielvölkerreich: wachsende Bevölkerung bei sinkenden Ernteerträgen, grassierende Arbeitslosigkeit, aufgeblähte Bürokratie und Korruption sowie ein furchtbarer Bürgerkrieg. Darüber hinaus griff der Westen nach Belieben in die Belange des Reiches ein, etwa zur Sicherung seiner Handelsinteressen in den Opiumkriegen.

Im Jahr 1814 brach im grünen und hügeligen Landesinnern südlich des Yangzi ein talentierter Student namens Wei Yuan (1794 –1857) zu seiner ersten Reise ins Zentrum des Kaiserreiches im Norden auf. Zunächst noch freudig erregt, nutzte er die Gelegenheit, berühmte Sehenswürdigkeiten entlang seiner Route zu besuchen und in schwelgerischen Gedichten die Schönheit der Landschaft zu rühmen. Als er jedoch die Ebene Zentralchinas erreichte, änderte sich sein Ton: „Seit ich nach Henan gelangt, / erstreckt sich meilenweit die Ödnis; / Keine Berge, die etwas Grün mir böten, / überall nur Wasserschlamm.“ Die Ödnis war die Folge von Überschwemmungen des Gelben Flusses, der durch die Vernachlässigung des Wasserbaus von Seiten der Zentralregierung wieder einmal besonders schlimm gewütet hatte. Doch damit nicht genug: Wiederholt beobachtete Wei ausgemergelte Bauern, die wider besseres Wissen giftige Pflanzen aßen – „aber was sollten sie ob ihres Hungers auch tun?“. Soldaten des Kaisers hat-

Die Taiping-Rebellion (1850   –   1864) brachten bei der Niederschlagung einer Rebellion auch noch die te die Qing-Herrschaft an den Rand des letzten Ressourcen vernichtet, Zusammenbruchs. Die auf riesige Heere so dass nun Hungertote den angeschwollenen Kräfte der Rebellen Weg nach Norden pflasterten. lieferten sich offene Feldschlachten mit Wo nur waren die aufrechten den Regierungstruppen, wie hier im OkBeamten, die doch eigentlich tober 1860 bei Tongcheng. für Recht und Ordnung sorgen und die Nöte des Volkes lindern sollten? Das fragte sich der Reisende, in seiner Verzweiflung an den Himmel gewandt.

Der Glanz verblasst: strukturelle Probleme des Kaiserreichs Was Wei Yuan, der zu einem der wichtigsten Denker des 19. Jahrhundert werden sollte, mit eigenen Augen beobachtete, waren Phänomene des Niedergangs, die den Glanz der mandschurischen QingDynastie unübersehbar eintrübten. Der lange Frie-

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und damit ebenso ihre Bereitschaft, sich Räuberbanden, Geheimgesellschaften, Sekten oder sonstigen Gruppen anzuschließen, die ihnen irgendeine Form von Zugehörigkeit und Aufstiegsmöglichkeiten zu bieten schienen. Schon in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts entluden sich die so aufgebauten Spannungen in gewaltsamen Aufständen in den armen Randgebieten von Sichuan, Hubei und Shaanxi, als die Qing-Regierung gegen eine vermeintlich gefährliche messianische Sekte vorging, die sie als „Weißen Lotos“ bezeichnete. Zur selben Zeit erhoben sich Angehörige des indigenen Miao-Volkes an der bergigen Grenze zwischen Hunan und Guizhou, die durch eine große Zahl Han-chinesischer Siedler unter Beihilfe lokaler Beamter von ihrem Land verdrängt wurden. Der jahrelange Kampf gegen die Aufständischen ging mit großer Grausamkeit auch gegen Unbeteiligte und horrenden Ausgaben einher. Nachdem man den „Weißen Lotos“ 1804 niedergeschlagen zu haben glaubte, nahmen neue Gruppen nur wenige Jahre später erneut den Kampf auf und drangen 1813 sogar kurz in die „Verbotene Stadt“ ein. Es waren die Folgen der Militärkampagnen gegen diese Aufstände, die Wei Yuan auf seiner Reise 1814 beobachtete. Der Druck stieg jedoch nicht nur in den untersten Volksschichten. Immer mehr Männer erwarben akademische Titel im offiziellen Prüfungssystem, die nicht nur allerlei soziale Privilegien mit sich brachten, sondern vor allem die Voraussetzung für ein offizielles Amt waren, noch immer das höchste Ziel jeder Bildungskarriere. Trotz des Bevölkerungswachstums wurde allerdings die Zahl von etwa 20 000 Beamtenposten nicht erhöht, um die nun über eine Million Titelträger konkurrierten. Umso wichtiger wurden informelle Netzwerke, basierend auf Lehrer-Schüler-Beziehungen, landsmannschaftlichen Verbindungen – und Geld. Die Korruption blühte auf allen Ebenen: Wer es nicht schaffte, einen offiziellen Posten zu erlangen, versuchte sich zumindest in eine Anstellung in speziellen Verwaltungen einzukaufen, etwa für den Transport von Tributreis über den Kaiserkanal von Süden nach Norden oder für die Organisation des kaiserlichen Salzmonopols. Auf diese Weise blähten sich die Verwaltungen zu riesigen bürokratischen Apparaten auf, die allerdings ihre Aufgaben immer schlechter erfüllten. Die Kosten stiegen unaufhörlich, aber die eingenommenen und von der Zentralregierung gestellten Gelder verschwanden in privaten Taschen, während die Kanäle

den, günstige klimatische Bedingungen, die Erschließung neuer (Minenarbeiter in Nordchina, Stich Gebiete für die Landwirtschaft aus „The Illustrated London News“ und die Einführung nahrhafter vom 29. Juli 1899), aber es gab denFeldfrüchte aus Amerika sowie sinkende Sterberaten – auch durch noch nicht genug Arbeitsplätze für umfassende Pockenimpfungen –  die wachsende Bevölkerung. hatten die Bevölkerung des Reiches über das 18. Jahrhundert von 150 Millionen auf mindestens 300 Millionen anwachsen lassen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts kamen noch einmal etwa 150 Millionen Menschen dazu. Dieses enorme Bevölkerungswachstum brachte die althergebrachten Regierungs- und Wirtschaftsweisen des Reiches an ihre Grenzen. Nachdem Ströme von Siedlern, häufig unterstützt von der Qing-Regierung, in die bis dahin spärlicher besiedelten nordöstlichen und südwestlichen Landesteile gezogen waren, gab es kaum noch neue Flächen zu erschließen, und die pro Kopf verfügbare Anbaufläche sank rapide. Ebenso nahmen die landwirtschaftlichen Erträge ab, so dass dem Einzelnen bei steigender Bevölkerung immer weniger Ressourcen zur Verfügung standen. Obwohl auch andere Wirtschaftsbereiche wie der Handel, das Handwerk, das Transportgewerbe oder der Bergbau wuchsen, konnten sie den Überschuss an Arbeitskräften nicht mehr völlig aufnehmen. Folglich wurde der Pool an jungen, bindungslosen Männern ohne jedwede Perspektive, jemals mehr als der Bodensatz der Gesellschaft zu sein, immer größer – Der Abbau von Kohle nahm im

19. Jahrhundert auch in China stark zu

94 Rebellen, Rauschgift und Reformer

zusehends versandeten und das offiziell vertriebene Salz so teuer wurde, dass der Salzschmuggel blühte. Eine andere Möglichkeit für arbeitslose Titelträger war die Anstellung bei lokalen Beamten, die einerseits auf Verbindungen zur lokalen Oberschicht angewiesen waren und andererseits für ihre zunehmend komplexeren Aufgaben das Wissen von Spezialisten in Steuer-, Rechts- und Infrastrukturfragen benötigten. Diese mussten sie allerdings aus eigener Tasche bezahlen und reichten die Kosten dafür – ebenso wie die Kosten für Geschenke an Vorgesetzte – über allerlei Zusatzabgaben an die Steuerzahler weiter. Für die Eintreibung der Steuern und andere Hilfsdienste griff man wiederum auf das riesige Reservoir an Habenichtsen zurück, die diese Chance zur persönlichen Bereicherung natürlich selten ungenutzt ließen. Der nominell niedrige Steuersatz, der vor allem auf die landwirtschaftliche Produktion erhoben wurde, lag so in der Realität um ein Vielfaches höher. Die Korruption und die hohe Belastung durch Zusatzabgaben waren schon im 18. Jahrhundert ein Problem, dessen Folgen jedoch von der steten Inflation abgemildert wurden. Diese verdankte sich dem hohen Silberzufluss aus dem Außenhandel: Chinesische Produkte wie Tee, Porzellan und Seide fanden reißenden Absatz in Europa, bezahlt wurden sie hauptsächlich mit dem Silber aus den Kolonien in Amerika. Für andere Erzeugnisse aus den Ländern der „Barbaren“ im Westen habe man schließlich „keine Verwendung“, wie der Qianlong-Kaiser (1735 – 1796) eine britische Gesandtschaft beschied, die sich 1793 um erweiterte Handelsrechte und diplomatische Beziehungen mit den Qing bemühte.

ser seit 1729 verboten und von westlichen Missionaren verdammt, schien einzig der Verkauf von Opium, das sich hervorragend in Bengalen anbauen ließ, die britische Zahlungsbilanz retten zu können. Seit den 1770er Jahren stieg der Schmuggel nach China stetig an und lag um 1800 bei etwa 4500 Kisten von je ungefähr 150 Pfund reinem Rauschgift. Blieb diese Zahl zunächst einigermaßen stabil, nahm der Verkauf nach 1820 sprunghaft zu, auf rund 20 000 Kisten um 1830 und nach der Aufhebung des Monopols der East India Company 1834 auf noch einmal das Doppelte. Die britischen Kaufleute – und über Steuern und Abgaben auch die britische Krone –  machten großen Profit: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren durch den Außenhandel noch 105 Millionen Silberdollar nach China geflossen, in der ersNicht nur über die Beamtenprüfunten Hälfte des 19. Jahrhunderts gen (französischer Stich von 1845) gelangten junge Männer in die Veraber strömte durch den Opiumwaltung, sondern auch durch Ämterhandel weit mehr als die dreifache Menge an Silber aus dem kauf und mit Hilfe korrupter Netzwerke. Land.

Wirtschaftliche Depression und entstehende Öffentlichkeit In der Tat konnte die britische East India Company die steigende Nachfrage insbesondere nach Tee, die im frühen 19. Jahrhundert fast 30 Millionen Pfund erreichte, nicht wie gehofft durch den Verkauf von Baumwolle aus ihren indischen Eroberungen gegenfinanzieren. Auch der Verkauf von Tee für Silber nach Nordamerika war angesichts der aufsässigen Kolonisten dort keine dauerhafte Alternative: Im Streit um die auf Tee erhobenen Zölle und Steuern landete im Zuge der berühmten „Tea Party“ in Boston chinesischer Tee im Hafenbecken. Dann ließen auch noch die Unabhängigkeitsbewegungen in Südamerika die Silberversorgung weltweit ins Stocken geraten. Obwohl vom chinesischen Kai-

95 Wirtschaftliche Depression und entstehende Öffentlichkeit

Die seit den 1830ern spürbare Knappheit des Edelmetalls hatte verheerende Folgen für die chider Qianlong-Kaiser kein Interesse nesische Wirtschaft, in der neben an erweiterten Beziehungen. Diese Silber für den alltäglichen Zahzeitgenössische englische Illustralungsverkehr vor allem Kupfertion stellt den Herrscher und seinen münzen genutzt wurden. Diese Hofstaat als verschlossen und rückverloren nun im Verhältnis zu Silständig dar. ber rapide an Wert, was enorme Einbußen für Arbeiter und Soldaten bedeutete, deren Gehalt in Kupfermünzen ausbezahlt wurde. Handwerker litten unter steigenden Kosten bei sinkenden Preisen; Kredite waren kaum noch zu bekommen, da reihenweise Banken kollabierten und andere Kreditgeber ihr Silber lieber horteten. Schlimm traf es auch die Bauern, die ihre Steuern üblicherweise mit Kupfermünzen oder Naturalien bezahlten, die dann jedoch in Silber getauscht werden mussten. Der immer schlechtere Wechselkurs und die damit immer höhere Steuerlast trieb unzählige von ihnen in den Ruin. Die riesigen Löcher in der einst gut gefüllten Staatskasse, die durch Korruption, den Kampf gegen Aufständische und den teuren Unterhalt des Hofes und der mandschurischen Bannerleute (die Banner waren militärische Einheiten, deren

vererbbare Zugehörigkeit auch die Angehörigen umfasste; sie wurden großzügig versorgt) gerissen worden waren, ließen sich keinesfalls mehr stopfen. Die bereits zuvor vorhandenen strukturellen Probleme des Reiches verschärften sich noch einmal deutlich. Der Kaiserhof verfiel dabei keineswegs in Apathie. Der Jiaqing-Kaiser, der 1796 die Nachfolge des Qianlong-Kaisers antrat und bis 1820 regierte, ging gegen korrupte Netzwerke an, verordnete dem Hof und der Beamtenschaft Sparsamkeit und ließ sich Vorschläge für Reformen machen. Bezeichnenderweise wurden diese aber nicht mehr nur hinter den verschlossenen Türen der „Verbotenen Stadt“ diskutiert: Zunehmend erhoben sich auch Stimmen aus den Kreisen der großen Schicht an Titelträgern, die vom Staatsapparat nicht mehr absorbiert werden konnten, aber dennoch Anteil an den Angelegenheiten der Allgemeinheit nahmen. In diesem Zusammenhang begegnen wir Wei Yuan wieder. Ihm war in der Hauptstadt wie so vielen ein Beamtenposten zunächst versagt geblieben; er konnte jedoch bei wichtigen Gelehrten seiner Zeit weiterstudieren und pflegte in inoffiziellen Netzwerken wie einem „Dichterzirkel“ auch mit Amtsträgern regen Austausch.

Als 1793 eine britische Gesandt-

schaft in Peking vorsprach, zeigte

96 Rebellen, Rauschgift und Reformer

Mitte der 1820er Jahre arbeitete er für hohe Provinzbeamte Vorschläge zum Getreidetransport über das Meer als Alternative zum versandenden Kaiserkanal und zur Reform des Salzmonopols aus und stellte eine Anthologie mit politischen Schriften zusammen – auch von Autoren, die nicht in Amt und Würden standen. „Man darf Argumente nicht aufgrund der Menschen [die sie vorbringen] verwerfen“, schrieb er im Vorwort der Textsammlung – hier war eine Öffentlichkeit im Entstehen, die alte Hierarchien unterlief. Sie profitierte von der wachsenden Zahl an Lesern, die mit der Durchsetzung des Buchdrucks in den Jahrhunderten davor einherging. Auch Weis Anthologie wurde im Gegensatz zum per Hand verfassten Schriftverkehr der Beamten gedruckt, fand weite Verbreitung und regte zahlreiche Nachfolgewerke an.

andere den illegalen Handel aufs schärfste und forderten drakonische Maßnahmen. Sie argumentierten insbesondere mit der Schwächung des Militärs, dessen Soldaten reihenweise an der Opiumpfeife hingen – möglicherweise sei genau das die Absicht der Engländer. Der Daoguang-Kaiser (1820 –1850) schlug sich auf die Seite der Hardliner und startete einen veritablen war on drugs. Ende der 1830er Jahre gingen Beamte hart gegen Schmuggler und Konsumenten vor, Unzählige wurden hingerichtet. 1839 schickte der Kaiser den besonders kompromisslosen Beamten Lin Zexu (1785   –1850) nach Kanton (Guangzhou), seit Mitte des 18. Jahrhunderts der einzige Ort, wo Ausländern unter strengen Auflagen der Handel mit China erlaubt war. Lin zögerte nicht lange, setzte die sich dort befindlichen 350 ausländischen Händler fest und beschlagnahmte 20 000 Kisten Opium, die er umgehend vernichten ließ. In einem Brief an Königin Victoria beklagte er sich: „Angenommen, es kämen Ausländer nach England, um Opium Im Auftrag des Kaisers ließ der Beamte Lin Zexu 1839 in Kanton große zu verkaufen und die Menschen zum Konsum verführen: Das würMengen Opium der dort ansässidet Ihr, ehrenwerte Königin, sigen ausländischen Händler vernichcher tief verabscheuen und enerten. Diese Aktion führte kurz dargisch unterbinden.“ auf zum Krieg mit Großbritannien.

Staatlich protegierter Drogenhandel: der erste Opiumkrieg Neben den Finanzproblemen rückten bald auch die Folgen der sich in allen Bevölkerungsschichten ausbreitenden Opiumabhängigkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit. Während einige die Legalisierung und Besteuerung der Droge vorschlugen, um dem Staat mehr Einnahmen zu verschaffen, verurteilten

97 Staatlich protegierter Drogenhandel: der erste Opiumkrieg

Dieser moralische Appell konnte allerdings nur ins Leere laufen. die britische Regierung 16 KriegsHatten die Philosophen der Aufkläschiffe nach China. Im Bild der rung im 18. Jahrhundert China aus der Ferne noch als das „kultiviertesRaddampfer mit dem programmatischen Namen „Nemesis“ (die te Reich der Welt“ (Kant) bewundert, zeichneten die Kaufleute und Misgriechische Rachegöttin), der sionare des 19. Jahrhunderts, die fruschinesische Dschunken zerstört. triert waren, dass ihnen der ungehinderte Zugang zu Abermillionen von potentiellen Käufern britischer Produkte und rettungsbedürftiger Seelen verwehrt blieb, ein ganz anderes China-Bild: Ein despotischer Kaiser und eine korrupte Beamtenschaft herrschten dort mit großem Pomp über ein bedauernswertes, in Armut und Ignoranz gefangenes Volk; mit unerträglicher Arroganz zwinge man Ausländer zum Kotau, statt andere Nationen als gleichberechtigt anzuerkennen; man verhindere nicht nur den freien Warenverkehr und sondere sich gegen alles Fremde ab, sondern verweigere sich geradezu dem Fortschritt der Geschichte. Nur vor dem Hintergrund einer solchen Wahrnehmung erklärt sich, wie der illegale Drogenschmuggel – und als solcher wurde er noch immer von vielen benannt, nicht zuletzt von britischen Parlamentariern und sogar dem Handelskommissar für China, den man zusammen mit den Händlern unter Arrest gestellt hatte – zu einer Staatsangelegenheit werden konnte und Kanonenboote zur Verteidigung der „nationalen Ehre“ entsandt wurden. Im Sommer 1840 trafen 16 britische Kriegsschiffe, darunter erstmals ein mit modernsten Waffensystemen ausgestatteter

und mit Eisen gepanzerter Raddampfer, und 4000 Soldaten in Kanton ein. Statt direkt anzugreifen, versuchten die Briten zunächst mit Seeblockaden in Kanton, im Yangzi-Delta und schließlich sogar vor Tianjin, nicht weit von der Hauptstadt im Norden, Verhandlungen zu erzwingen. Erste Verhandlungsergebnisse gingen jedoch dem chinesischen Kaiser viel zu weit und den Briten nicht weit genug. Diese griffen schließlich mit voller Wucht an, eroberten Xiamen, Ningbo, Schanghai und weitere Orte, so dass sie effektiv den gesamten Verkehr auf Chinas längstem Fluss und dem für die Versorgung der Hauptstadt essentiellen Kaiserkanal blockierten. Als sie zum Angriff auf die südliche Hauptstadt Nanjing ansetzten, kapitulierten die Qing. 1842 wurde ebendort der erste der später so genannten Ungleichen Verträge unterzeichnet, der den Briten hohe Reparationen, günstige Zölle, die Abtretung Hongkongs, die Aufnahme offizieller diplomatischer Beziehungen und die Öffnung weiterer Häfen für den Handel zusprach. Zudem sollten britische Bürger nicht mehr der Gerichtsbarkeit des chinesischen Staates unterstehen. Die nationalistische Propaganda der Volksrepublik China seit dem späten 20. Jahrhundert sieht in dieser Niederlage den Beginn eines „Jahrhunderts der nationalen Schmach“; viele Historiker lassen an diesem Punkt die Geschichte des modernen China beginnen. In der Tat wurde das multiethnische Kaiserreich nun erstmals mit einem industrialisierten Nationalstaat konfrontiert, der seine ökonomischen Interessen rücksichtslos vertrat und seine überlegenen Waffen

Kanonenboot-Politik: Im ersten

Opiumkrieg (1840 –1842) schickte

98 Rebellen, Rauschgift und Reformer

einsetzte, um internationale „Rechte“ durchzusetzen. Erneut war es Wei Yuan, der die Zeichen der Zeit erkannte und dazu aufrief, von „den überlegenen Fertigkeiten der Barbaren zu lernen, um die Barbaren zu kontrollieren“. Von Lin Zexu, dem er aus gemeinsamen Zeiten in einem Pekinger Dichterzirkel freundschaftlich verbunden war, erhielt er eine Sammlung von Informationen zu und Übersetzungen aus westlichen Nationen, die er mit weiteren Materialien und seinen eigenen Erkenntnissen aus der Befragung eines britischen Gefangenen ergänzte und als „Illustrierte Abhandlung zu den Ländern an den Meeren“ (Haiguo tuzhi) veröffentlichte, als die Tinte auf dem Vertrag von Nanjing noch kaum getrocknet war.

Am Rand des Untergangs: Taiping-Rebellion und zweiter Opiumkrieg Obwohl Weis Buch eines der frühesten Werke war, die sich mit den Ländern im fernen Westen beschäftigten, fand es zunächst kaum Beachtung. Der Konflikt mit den Briten spielte sich größtenteils fern vom Kaiserhof ab, der viel mehr mit den immer gravierenderen Konsequenzen der strukturellen Probleme beschäftigt war, zu denen eine zunehmende An-

Hong Xiuquan (1814   –1864, Holz-

Die Taiping-Rebellion war einer der

stich) war der Anführer der soge-

blutigsten Bürgerkriege der Ge-

nannten Taiping-Rebellion. 1851

schichte. Die Einnahme der wichti-

rief er ein „Himmlisches Reich des

gen Hafenstadt Anqing am Yangzi

höchsten Friedens“ aus. Hundert-

im Jahr 1861 durch regierungstreue

tausende von Unzufriedenen

Truppen (Abbildung) schwächte die

schlossen sich ihm an.

Rebellen erkennbar.

99 Am Rand des Untergangs: Taiping-Rebellion und zweiter Opiumkrieg

zahl von Aufständen zählte. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war die sche und französische Truppen Dynastie so geschwächt, dass sich einer dieser Aufstände zum blutigsPeking ein, um dem Kaiser Zugeten Bürgerkrieg der Weltgeschichte ständnisse abzupressen. Dabei entwickelte. wurde der Alte Sommerpalast in Die Erzählungen der Taiping-ReSchutt und Asche gelegt. bellion beginnen meist mit dem aus einer armen Familie stammenden Hong Xiuquan (1814    –1864), der nach wiederholtem Scheitern im offiziellen Prüfungssystem einen Nervenzusammenbruch erlitt und sich nach der Lektüre eines christlichen Traktats, das er einige Jahre zuvor von einem Missionar erhalten hatte, für den Bruder Jesu hielt, der im Namen Gottes die mandschurischen Dämonen vertreiben sollte. Es war jedoch wohl weniger die Kraft seiner „göttlichen Eingebung“ als vielmehr der weitgehende Zusammenbruch öffentlicher Ordnung in der Provinz Guangxi, im Westen von Hongs Heimat, welcher die Ausbreitung seiner „Gesellschaft zur Verehrung Gottes“ (Bai shangdi hui) beförderte. In dieser Region schwelten nicht nur Konflikte zwischen autochthonen Völkern und der großen Zahl an Siedlern aus anderen Teilen des Reiches; nach dem Opiumkrieg trieb die Präsenz der britischen Marine zudem Piraten von der Küste ins Inland und die Verlagerung von Handelswegen nach Schanghai den bereits ansässigen Triaden weitere Arbeitslose in die Arme. Die lokalen Eliten reagierten mit der Aufstellung eigener Milizen, während die kaiserlichen Be-

amten der Aufrüstung auf allen Seiten nur noch tatenlos zusehen konnten. Von allen Seiten bedroht fühlten sich dabei besonders die Hakka („Gäste“), eine ethnisch und linguistisch unterscheidbare Gruppe von Immigranten, die häufig in Randgebieten siedelten und auf die sich die Missionierungsanstrengungen von Hong Xiuquan – selbst ein Hakka – zunächst konzentrierten. 1851 sammelte er 20 000 von ihnen zum offenen Aufstand und rief ein „Himmlisches Reich des höchsten Friedens“ (Taiping tianguo) aus. Im Zug nach Norden schlossen sich ihm aber nicht nur Hakka an, sondern auch Angehörige anderer Minderheiten, Bauern, arbeitslose Bootsleute, Minenarbeiter und Köhler, Banditen und Träger niederer akademischer Titel, die sich keine Hoffnungen auf weiteren Aufstieg machen konnten. Die Botschaft vom christlichen Gott dürfte den meisten von ihnen herzlich egal gewesen sein, aber die aus allerlei unterschiedlichen – auch traditionellen – Elementen neu zusammengesetzte Ideologie der Taiping-Rebellen besaß dennoch Anziehungskraft: In Zeiten wachsender Gegensätze zwischen verschiedenen ethnischen und gesellschaftlichen Gruppen versprach sie absoluten Egalitarismus, den Verarmten und Marginalisierten die Abschaffung von Privatbesitz und brüderliche Teilung, den ans Haus gefesselten Frauen Beteiligung an der Gesellschaft, den Geknechteten und von korrupten Beamten Ausgebeuteten die Rache an ihren Unterdrückern und al-

1860, nach dem zweiten Opium-

krieg (1856 –1858), nahmen briti-

100 Rebellen, Rauschgift und Reformer

Zeit der Selbststärkung: Die Qing halten sich wider Erwarten

len die Vertreibung der mandschurischen Fremdherrscher und die Etablierung einer gerechten Führung mit göttlichem Mandat. Die kaiserlichen Truppen waren außerstande, ihren Widerstand zu koordinieren, und so konnten die Ränge der Taiping auf Hunderttausende anschwellen, die große Teile des Südens verwüsteten, bevor sie 1853 Nanjing eroberten und zu ihrer „Himmlischen Hauptstadt“ erklärten. Die etwa 40 000 dort ansässigen Mandschuren wurden massakriert. Ihre Dynastie verlor damit aber nicht nur die Kontrolle über ihre wirtschaftlich bedeutendste Region, fast überall im Reich brachen nun Aufstände los. Im Osten etwa, in der Region nördlich des HuaiFlusses, schlossen sich marodierende Räuberbanden, Schmuggler und verarmte Bauern zusammen und rieben über ein Jahrzehnt lang immer wieder QingTruppen in einem grausamen Guerillakrieg auf, unter dessen Folgen auch die zivile Bevölkerung schwer zu leiden hatte. Ganz im Süden, in Yunnan und Guizhou, sowie im Nordwesten erhoben sich Muslime und errichteten eigene Königreiche, auch Tibet war nicht mehr zu kontrollieren. Zu allem Überfluss schlugen nun auch noch die Engländer wieder los, die noch immer nicht mit ihrer Handelsbilanz zufrieden waren und von den Qing die Öffnung weiterer Häfen, bessere Handelsbedingungen sowie die Niederlassung eines britischen Gesandten direkt in Peking forderten. Zwar widerstanden sie den Avancen der „christlichen Brüder“ der Taiping und schützten sogar Schanghai vor der Eroberung, aber nach einer vorgeblichen Beleidigung der britischen Flagge schickten sie erneut eine Kriegsflotte in chinesische Gewässer, der sich dieses Mal auch französische Truppen anschlossen. Die Europäer segelten direkt nach Norden und besetzten 1858 Tianjin. In einem weiteren „ungleichen Vertrag“ wurden neben den genannten Punkten auch wieder hohe Reparationen und die Legalisierung von Opium festgeschrieben. Der Kaiser verweigerte jedoch zunächst die Unterschrift. Die Alliierten marschierten daraufhin mit 18 000 Mann nach Peking, das 1860 besetzt wurde. Der Kaiser musste aus der Hauptstadt fliehen, und sein prächtiger Sommerpalast, an dem auch jesuitische Missionare mitgebaut hatten, wurde erst geplündert und dann in Schutt und Asche gelegt – die Ruinen mahnen bis heute an die Verbrechen des Imperialismus. Dank der Meistbegünstigungsklausel profitierten auch die USA und Russland vom Vertrag von Tianjin, der schließlich doch ratifiziert wurde; weitere Nationen sollten folgen.

Als die Tage der Qing-Dynastie schon gezählt schienen, wurde sie von Männern gerettet, deren Aufstieg Wei Yuan rhetorisch vorbereitet hatte: tatkräftige Pragmatiker wie Zeng Guofan (1811–1872) und Li Hongzhang (1823  –1901), die nicht blind an den Konzepten der Vergangenheit festhielten, sondern den neuen Umständen entsprechend wirksame Maßnahmen zur Rettung des Landes ergriffen, wozu auch die Zusammenarbeit mit Ausländern gehörte. Finanziert durch neue Abgaben, die auf Handelsgüter statt auf Landbesitz erhoben und nicht mehr von der Zentrale kontrolliert wurden, bauten sie eigene, schlagkräftige Armeen Nach dem Tod des Xianfeng-Kaisers auf, denen mit Unterstützung 1861 übernahm die Kaiserinwitwe westlicher Waffen und Söldner Cixi, zunächst zusammen mit einer schließlich 1864 die Rückerobeweiteren Witwe des Herrschers, als rung Nanjings und die NiederRegentin die Macht. Cixi (Gemälde schlagung der Taiping gelang. von 1903) starb 1908.

101 Zeit der Selbststärkung: Die Qing halten sich wider Erwarten

Das Abschlachten der etwa 100 000 dort verbliebenen Einwohner setzte einen blutigen Schlusspunkt unter einen Bürgerkrieg, der insgesamt wohl 20 bis 30 Millionen Tote gefordert hatte. Die Kämpfe gegen Aufstände in anderen Teilen des Landes gingen allerdings noch bis ins nächste Jahrzehnt weiter; die Kontrolle über Tibet war langfristig verloren. Wie die großen Dynastien der Han und Tang erlebten die Qing eine „Restauration“ ihrer Herrschaft, jedoch unter gründlich veränderten Vorzeichen. Es waren vor allem die erstarkten Provinzgouverneure, deren Loyalität zunehmend weniger der Dynastie als vielmehr dem Land in einem abstrakteren Sinn gehörte und die in den 1860er und 1870er Jahren zahlreiche Maßnahmen zur „Selbststärkung“ unternahmen: die Gründung von Waffenarsenalen zur Produktion moderner Gewehre und Geschütze sowie von Werften zum Bau dampfgetriebener Kriegsschiffe, daran angeschlossen Schulen zum Unterricht in westlichen Sprachen, zur Übersetzung von ausländischen Lehrwerken und zur Ausbildung von Ingenieuren, Mathematikern und Kapitänen. Finanziert wurden viele Maßnahmen unter anderem durch ein neu eingerichtetes und vom Briten Robert Hart (1835    –1911) effizient geleitetes Seezollamt in Schanghai. In der Hauptstadt erreichte man die Einrichtung eines neuen „Außenamtes“ (Zongli yamen) für die Kommunikation mit den ausländischen Mächten, und man schickte erste Gesandtschaften und Studenten nach Europa und in die USA. Auch Industrie- und Bergbauunternehmen wurden – unter „Aufsicht von Beamten“ – gegründet. Der Hof unterstützte die Reformen keineswegs uneingeschränkt. Nach dem Tod des Xianfeng-Kaisers (1850   –1861) wurde der erst sechsjährige Sohn einer Konkubine eingesetzt, die kurz darauf selbst die Macht an sich riss. Als Kaiserinwitwe Cixi (1835   – 1908) bestimmte sie fortan die Politik der Qing und spielte erzkonservative Kräfte gegen die Reformer aus, um deren Macht zu begrenzen. Das war jedoch nicht das einzige Problem der „Selbststärker“. Die im eigenen Land produzierten Waffen waren von minderer Qualität, die selbstgebauten Schiffe blieben trotz exorbitanter Kosten technologisch weit hinter dem Stand der westlichen Nationen zurück, (schlecht) übersetzt wurden meist veraltete Werke, neue Minen und Fabriken lagen viel zu weit auseinander. Überall mangelte es zudem an qualifiziertem Personal, und die Kinder der Elite lernten weiter für die kaiserlichen Prüfungen und wollten von „westlichen Studien“ nichts wissen. Überhaupt sollten zwar die

Techniken des Westens erlernt werden, die traditionelle gesellschaftliche Ordnung aber unangetastet bleiben: „Chinesische Lehren für die Prinzipien, westliche Lehren für die Anwendung“, lautete das Schlagwort.

Zersetzung des Kaiserreichs von innen und außen Währenddessen nagten ausländische Mächte ungehindert an den Rändern des Reiches. 1871 besetzten die Russen das Ili-Gebiet, 1874 die Franzosen den „Tributstaat“ Vietnam. Als die Qing 1884 deswegen Frankreich den Krieg erklärten, pulverisierten die Franzosen in kürzester Zeit eine der modernsten chinesischen Flotten und zerstörten die Schiffswerft von Fuzhou, eines der wichtigsten Projekte der Reformer. Insbesondere im Vergleich mit dem einst belächelten Japan aber, das seit 1868 viel umfassendere Anstrengungen unternommen hatte, um sich in einen modernen Industriestaat zu verwandeln, wurden die Grenzen der „Selbststärkung“ deutlich, wie man nicht zuletzt im ersten Chinesisch-Japanischen Krieg 1894/95 schmerzlich feststellen musste. Danach kannte das Wetteifern der Kolonialmächte um ein Stück vom chinesischen Kuchen kein Halten mehr. Aber nicht nur die militärische und wirtschaftliche „Selbststärkung“ war damit krachend gescheitert, der Kontakt mit dem Westen beschleunigte ebenso die sich zuvor schon andeutende Auflösung der hierarchischen Gesellschaftsordnung des alten Kaiserreichs: Im ausgehenden Jahrhundert wurden die Themen, die Wei Yuan noch in einer großen Schriftsammlung verhandelte, in Tageszeitungen besprochen, die in den rasant wachsenden Hafenstädten gegründet wurden; nicht mehr Beamte bauten Großbetriebe auf, sondern Finanziers, Kaufleute und Unternehmer nahmen Einfluss auf die Politik; Militärführer, die Zeng Guofan noch mit „zivilen“ Werten zu beherrschen versucht hatte, übernahmen wichtige Machtpositionen; Studenten der „westlichen Lehren“ argumentierten, dass die Stärke des Westens nicht allein in seiner Technik liege, und formulierten neue Vorstellungen von Gesellschaft. Im 20. Jahrhundert rief man nicht mehr nach Reformen, sondern nach „Revolution“.

Stefan Christ M. A., geb. 1986, ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Asien-Afrika-Institut der Universität Hamburg.

102 Rebellen, Rauschgift und Reformer

Das Ende des Kaiserreichs

Aufbruch in eine neue Epoche Thomas Fröhlich

An der Wende zum 20. Jahrhundert begann in China eine Periode großer Umwälzungen, in denen die Orientierung am Westen zum entscheidenden Faktor wurde. Das Fanal für diese Transformation kam allerdings aus dem Osten: Es war die Niederlage des Qing-Reichs im Krieg gegen Japan 1895, die wie ein Brandbeschleuniger wirkte. Am Ende fiel das Kaiserreich.

Der Krieg mit Japan war im Wesentlichen ein Konflikt um Einflusszonen in Korea und im Nordosten des Qing-Reichs. Korea hatte als Tributstaat seit der Mitte des 17. Jahrhunderts über 500 Missionen nach Peking entsandt. Als Tributnehmer leistete China militärischen Beistand, so etwa am Ende des 16. Jahrhunderts, als Korea im Kampf gegen japanische Invasionskräfte mit rund 200 000 Soldaten unterstützt wurde. 300 Jahre später hatten sich die Kräfteverhältnisse grundlegend verändert. Das QingReich hatte sich 1876 erstmals japanischem Druck gebeugt, indem es die Unabhängigkeit Koreas und zugleich den japanischen Einfluss auf der Halbinsel anerkannte. Das Ringen zwischen China und Japan um Dominanz in Korea setzte sich in den folgenden Jahren fort und führte 1894 schließlich zum ersten Chinesisch-Japanischen Krieg. Dieser wurde zwischen Juli 1894 und Februar 1895 zu Land und zur See ausgefochten und endete für China in einem mili-

tärischen Desaster. Das FrieEin japanischer Kavallerist erobert eine densdiktat von Shimonoseki chinesische Flagge: Im ersten Chinesischbesiegelte das Ende des chineJapanischen Krieg 1894/95 erlitten die sischen Einflusses auf der koStreitkräfte der Qing-Dynastie eine reanischen Halbinsel und beschwere Niederlage (Illustration aus scherte Japan mit Taiwan und „Le Petit Journal“, 29. Oktober 1894). der Inselgruppe der Pescadoren zugleich seine erste Kolonie. Diese Kriegsniederlage gegen einen asiatischen Nachbarn, der jahrhundertelang als zivilisatorisch randständig gegolten hatte, zerstörte den Glauben an die Wirksamkeit der bisherigen Reformen der staatlichen Institutionen, der Landesverteidigung, der Diplomatie, aber auch der Ökonomie und des Bildungswesens. Hatte man sich vor 1895 noch als Hegemonialmacht in Ostasien gewähnt, so wurde dieser Anspruch nun schlagartig gegenstandslos. Damit war nicht nur die Vorherrschaft Chinas in Nordostasien endgültig gebrochen, es hatte sich zudem in der Gestalt Japans die Überlegenheit des

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imperialistischer Staaten. Der Reihe nach forderten das deutsche Kaiserreich (in Shandong 1898), Russland, Großbritannien und Frankreich Konzessionsgebiete zum Betrieb von Eisenbahnen und Flottenstützpunkten, für den Bau von Bergwerken und Fabriken und zur Eröffnung von Banken und Handelsunternehmen. In der internationalen Presse tauchte das Bild des Qing-Reichs als das einer Melone auf, die zum Zerteilen bereitlag. Revolutionäre wie Sun Yat-sen (1866 –1925) und später Mao Zedong (1893 –1976) bezeichneten die so entstehende Lage Chinas noch Jahre später als „halb-kolonial“. Vor diesem Hintergrund verbreitete sich in den Bildungsschichten des Reichs ein Krisenbewusstsein, das schließlich den Kaiserhof erfasste. Unter dem Eindruck des nahenden Endes des ChinesischJapanischen Kriegs hatten Kandidaten der kaiserlichen Beamtenprüfung 1895 unter Führung des südchinesischen Reformers Kang Youwei (1858 –1927) in der Hauptstadt eine Throneingabe aufgesetzt, die Vorschläge für weitreichende Veränderungen in Staat und Gesellschaft enthielt. Drei Jahre später, im Juni 1898, fanden Kang Youweis Ideen beim jungen Kaiser Guangxu (1875 –1908) Gehör. Kang wurde gegen den Widerstand konservativer Kreise am Hof das Privileg gewährt, seine Throneingaben direkt an den Kaiser zu richten. In der Zeit zwischen Juni und September 1898 wurden in atemberaubender Geschwindigkeit auf kaiserliches Geheiß rund 50 Reformedikte erlassen, welche die bisherigen Versuche einer Erneuerung des Reichs in den Schatten stellten: Die Reichsregierung in der Hauptstadt und die Verwaltungen in den Provinzen sollten massiv verschlankt und das Rechtswesen modernisiert werden. Delegationen hoher Regierungsberater sollten ins Ausland entsandt werden, um bessere Kenntnisse über westliche Staaten zu erwerben. Die Industrialisierung des Landes, einschließlich des Eisenbahnbaus, sollte durch eine Erhöhung staatlicher Förderung vorangetrieben werden. Und die traditionellen Beamtenprüfungen galt es inhaltlich an westlichen Fächern und Erkenntnissen auszurichten, was etwa die Erweiterung um eine nationalökonomische Prüfung einschloss. Zugleich wurde eine grundlegende Erneuerung der Bildung angestrebt. Die Reformen orientierten sich in vielen Bereichen an Japan, wo es dem Meiji-Kaiser gelungen war, trotz Einführung einer Verfassungsherrschaft seine Macht zu wahren und als Modernisierer des Landes zu erscheinen. Kaiser Guangxu scheiterte je-

Modells des modernen Nationalstaats erwiesen. Die chinesische Reichsidee musste daher neu gefasst werden, und zwar jenseits ihres traditionellen Anspruchs auf zivilisatorische Weltgeltung.

Vorstoß im Namen des Kaisers: die „Reform der Hundert Tage“ Die verbleibenden Jahre bis zum Sturz der QingDynastie 1912 wurden durch eine hektische Abfolge teils moderater, teils radikaler Versuche zur Erneuerung des Kaiserreichs bestimmt. Der Reformer Kang Youwei regte Die tektonische Verschiebung den jungen Kaiser Guangxu 1898 zu der Machtverhältnisse in Ostumfassenden Veränderungen in Staat asien, die sich aus der Niederlage gegen Japan ergeben hatte, und Gesellschaft an. Diese „Reform zeitigte aus chinesischer Sicht der Hundert Tage“ stieß auf starken zunächst schwere Nachbeben in Widerstand, nicht zuletzt bei der ReForm des weiteren Vordringens gentin Cixi, und scheiterte.

104 Aufbruch in eine neue Epoche

doch am offenen Widerstand konservativer Kreise um die Kaiserinwitwe Cixi und am passiven Widerstand der Provinzgouverneure, die nicht willens waren, die kaiserlichen Edikte in die Tat umzusetzen. Einzig in Hunan hatten die Provinzmächtigen umfassende Reformen eingeleitet. Doch im Herbst 1898 setzte eine landesweite Repression ein: Namhafte Reformer wurden schwer bestraft oder gar hingerichtet. Kaiser Guangxu stand bis zu seinem Tod 1908 unter Hausarrest. Kang Youwei und denjenigen Mitstreitern, die sich einer Festnahme entziehen konnten, blieb nur noch der Weg in die Emigration. Die „Reform der Hundert Tage“ löste damit die erste Welle des Exils im modernen China aus. Viele Emigranten wählten Japan als Ziel, so auch der junge Kantonese Liang Qichao (1873 –1929), der dem engsten Kreis um Kang Youwei angehört hatte. Der Einfluss seiner Exilschriften auf die Reformideen der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus war riesig. Liang orientierte sich am Modell des westlichen Nationalstaats, aber ebenso sehr an Japan, dessen Sprache er erlernte, wodurch er leicht Zugang zur japanischen Beschäftigung mit dem modernen Westen fand. Seine Sicht auf das chinesische Kaiserreich unterschied sich von derjenigen früherer Reformer Chinas. An die Stelle des dynastischen Weltreichs, das in seiner Geschichte zivilisatorische Überlegenheit gegenüber nahen und fernen Ländern beansprucht hat-

Teil der von oben verordneten Rete, trat in Liangs Außensicht auf China das Bild einer „verspäteten formen unter Guangxu sollte der Nation“, die in Ostasien, und erst Ausbau der Eisenbahn sein. Die abrecht in der Welt, ihre Leuchtkraft gebildete Schmalspur-Eisenbahn verloren habe. französischer Bauart war bereits Dieser Wandel in der Sicht1886 im nordchinesischen Tientsin weise hatte sich bereits 1895 in (Tianjin) in den Testbetrieb geganden Reformschriften Kang Yougen. weis abgezeichnet. Dort hatte Kang angemahnt, es gelte nun anzuerkennen, dass „in der Welt mehrere Staaten miteinander um die Herrschaft über die Oikumene [die gesamte bewohnte Welt] kämpfen“ und „China auf der großen Erde nur einer von 56 Staaten“ sei. Wenige Jahre später war der Versuch der Reformer, den stolzen Reichsgedanken zu erneuern, gescheitert und dem schmerzlichen Eingeständnis nationaler Schwäche gewichen. Zugleich war damit der Boden für das Streben nach einem starken Nationalstaat bereitet.

Der Aufstand der „Boxer“: „Unterstützt die Qing, vernichtet die Fremden“ Die Kriegsniederlage gegen Japan hatte in China keine antijapanische Bewegung ausgelöst, sondern im Gegenteil das Interesse an Japan und seinen Erfolgen eher bestärkt. Die Reaktionen auf das Vordringen westlicher Mächte waren am Ende des 19. Jahrhunderts hingegen widersprüchlich. Insbesondere im

105 Der Aufstand der „Boxer“: „Unterstützt die Qing, vernichtet die Fremden“

Norden Chinas verstärkten sich mit der Ausweitung der ausländischen Einflusssphären fremdenfeindliche Tendenzen. Eine wichtige Ursache für die Unrast war der Zerfall der agrarischen Ordnung, der viele Landbesitzer in die Städte trieb. Hinzu kam, dass um die Jahrhundertwende Überschwemmungen und Dürrezeiten eine Hungersnot ausgelöst hatten. Leidtragende waren die unteren Gesellschaftsschichten, zu denen Kleinbauern ebenso gehörten wie Handwerker und Transportarbeiter, die durch die Industrialisierung und den Ausbau von Eisenbahn und Binnenschifffahrt in Not geraten waren. Sammelbecken für die wachsende Zahl von Unzufriedenen waren Sekten und Geheimgesellschaften, in der Provinz Shandong diejenige der „Vereinigung für GerechGegen die ausländischen Einflüsse tigkeit und Einigkeit“. Deren Mitin China richtete sich der Aufstand glieder, die in der ausländischen der „Boxer“. Aufständische, unterPresse „Boxer“ genannt wurden, stützt von regulären Truppen, griftrugen rote Turbane und waren fen im Sommer 1900 das Gesandtmit Schwert und Lanze bewaffschaftsviertel in Peking an (zeitgenet. Unter der Parole „Unterstützt nössischer Bilderbogen).

die Qing, vernichtet die Fremden“ richtete sich ihr Zorn gegen ausländische Diplomaten und Geschäftsleute sowie gegen christliche Missionare und chinesische Konvertiten. Seit 1860 durften Missionare in China leben und predigen, übten dabei nicht nur religiösen Einfluss aus, sondern gründeten Schulen, Krankenstationen und einflussreiche Zeitungen und Zeitschriften zur Vermittlung westlichen Gedankenguts und religiöser Vorstellungen. Allerdings haftete ihnen oftmals das Stigma an, im Gefolge des gewaltsamen Vordringens der Fremdmächte nach China gekommen zu sein. Der Aufstand der „Boxer“ begann im Spätherbst des Jahres 1899 in Shandong und erreichte im Sommer 1900 die Großstädte Tianjin und Peking. Auf dem Weg nach Norden waren Kirchen zerstört, ausländische Fabriken geplündert und Bahnhöfe sowie Eisenbahnlinien beschädigt worden. Zu den Opfern zählten nicht nur „fremde“ Geschäftsleute, Missionare und Konvertiten, sondern auch Angehörige des diplomatischen Korps. In Peking, wo das Gesandtschaftsviertel unter Belagerung stand, wurde der deutsche Diplomat Klemens von Ketteler getötet.

106 Aufbruch in eine neue Epoche

Die Qing-Regierung schwankte zunächst zwischen Billigung der „Boxer“ und hartem Vorgehen gegen sie, entschied sich im Sommer 1900 aber, den Westmächten den Krieg zu erklären. Die Eroberung von Tianjin und Peking durch ein alliiertes Expeditionskorps unter japanischer Beteiligung konnte jedoch nicht verhindert werden, so dass der Kaiserhof aus der Hauptstadt fliehen musste. Die Niederwerfung des „Boxer-Aufstandes“ war von Gewalt und offener Repression geprägt, ganz im Geist der berüchtigten „Hunnenrede“, die Kaiser Wilhelm II. im Juli 1900 bei der Verabschiedung des deutschen Expeditionskorps in Bremerhaven gehalten hatte. Im internationalen „Boxer-Protokoll“ wurden China denn auch harte Bedingungen auferlegt. Diese beschränkten sich nicht auf hohe Reparationszahlungen und ein Verbot der Waffeneinfuhr, sondern sahen überdies eine Sühnegesandtschaft des Prinzen Chun nach Deutschland vor. Das Ansehen der Qing-Regierung nahm dadurch international und zugleich innerhalb der chinesischen Obrigkeit großen Schaden. Umso stärker erklang in der Folge der Ruf nach einer Wiederaufnahme der Reformpolitik von 1898.

Einschneidende Veränderungen fanden zudem in der militärischen Ausbildung statt, die nach deutschem und japanischem Vorbild gründlich erneuert wurde. Auch im gesellschaftlichen Bereich sorgte der Staat durch neue Gesetze für Veränderungen, beispielsweise durch die Legalisierung von mandschurisch-chinesischen Eheschließungen und das Verbot des traditionellen Füßebindens. Der Reformwille der Regierung machte auch vor der Staatsform selbst nicht halt. 1906 war eine Kommission nach China zurückgekehrt, welche die politischen Systeme des Westens in Augenschein genommen hatte. Ihr Bericht enthielt den Vorschlag, eine Verfassungsherrschaft mit dem Kaiser an der Spitze einzuführen, allerdings in mehreren vorbereitenden Etappen, in Nach der Niederschlagung des „Bodenen Regierung, Verwaltung und xer-Aufstands“ durch eine internaBevölkerung sich schrittweise mit tionale Koalition nahm die Qingden neuen Anforderungen verDynastie einen neuen Anlauf zu Retraut machen würden. formen. So wurde auch das traditioDieses Vorhaben sollte sich nelle Füßebinden (hier junge Frauen mit gebundenen Füßen) verboten. unter dem Druck der Ereignisse

Die „neue Politik“: Der Hof verordnet eine „Revolution von oben“ Wenige Monate nach seiner Vertreibung aus der Hauptstadt erließ der Kaiserhof ein Edikt, in welchem die höhere Beamtenschaft aufgerufen wurde, umfassende Vorschläge für eine Staatsreform vorzulegen. Daraufhin wurden innerhalb weniger Jahre die dynastischen Institutionen so weit modernisiert, dass von einer „Revolution von oben“ gesprochen werden kann. Die Zielsetzung des Hofs bestand dabei nicht so sehr in der Hinwendung zu neuen gesellschaftlichen Kräften als vielmehr darin, dem fortschreitenden Autoritätsverlust der Reichsregierung im Verhältnis zu den Provinzen und Kreisen entgegenzuwirken. Zu den institutionellen Neuerungen gehörte die Errichtung moderner Ministerien, zunächst eines Außenministeriums, danach eines Handelsministeriums, eines Polizeiministeriums und eines Bildungsministeriums. Damit war eine Rückkehr zur alten Ordnung ausgeschlossen. Das Bildungswesen wurde durch die Abschaffung der kaiserlichen Beamtenprüfungen 1905 und die Gründung neuer Mittel- und Grundschulen reformiert. Die erste moderne Universität Chinas, die Universität Peking, war wenige Jahre zuvor gegründet worden.

107 Die „neue Politik“: Der Hof verordnet eine „Revolution von oben“

Aber auch die soziale und ökonomische Transformation Chinas trug zur Destabilisierung der dynastischen Herrschaftsordnung bei. Der kaiserlichen Verwaltung entglitt zusehends die Kontrolle über die gesellschaftlichen Schichten, die sich in Handelskammern, Gilden, modernen Bildungsanstalten und Studiengesellschaften betätigten und ihre Kenntnisse über öffentliche Angelegenheiten aus neugegründeten Zeitungen und Zeitschriften bezogen. Zugleich erwachte in Kreisen der ländlichen Oberschicht, die Reformen zunächst meist ablehnend gegenüberstand, der Wunsch nach größerer lokaler Autonomie. Der traditionelle Weg zu Amtspfründen war mit der Abschaffung der kaiserlichen Beamtenprüfungen 1905 ohnehin versperrt. Damit war auch das symbolträchtige Band zertrennt, das diese Schichten mit dem kaiserlichen Staat verbunden hatte.

Wohin soll China steuern? Von der Reform zur Revolution Die neuen gesellschaftlichen Schichten, die im China der Jahrhundertwende allmählich in den Vordergrund traten, stellten in den 1900er Jahren noch keine bürgerlich-emanzipatorischen Forderungen an die Obrigkeit. Die republikanische Revolution von 1911 war denn auch keine im engeren Sinn bürgerliche Bewegung. Ausgelöst wurde die Revolution bezeichnenderweise durch eine militärische Revolte, die am 10. Oktober in Wuchang (im heutigen Wuhan) begann und Unterstützung in anderen Provinzen, zunächst in denjenigen des Südens, fand. In mehreren Provinzen, darunter Sichuan, hatte zuvor ein kaiserlicher Erlass zur Verstaatlichung aller Eisenbahnprojekte für großen Unmut gesorgt, teils auch zu gewaltsamen Protesten geführt und so die Spannungen zwischen Hauptstadt und Provinzen, Norden und Süden offen zutage treten lassen. Die chinesischen Revolutionäre, die seit über einem Jahrzehnt einen Umsturz herbeigesehnt hatten, wurden vom Aufstand in den südlichen Provinzen ebenso überrascht wie die Qing-Regierung selbst. Der Reformer Sun Yat-sen, der sich in den Vereinigten Staaten aufhielt, erfuhr von der Revolution, die vermeintlich unter seiner Führung stand, aus einer amerikanischen Tageszeitung. Sun war als eine zentrale Figur im Lager der Revolutionäre seit mehreren Jahren international in Erscheinung getreten und hatte lange Zeit aus dem asiatischen und westlichen Ausland agitiert. In Tokio hatte er schließlich 1905 den „Revolutionsbund“ gegründet, der sich die „Vertrei-

jedoch nicht mehr durchführen lassen. Zunächst trieb der wachsende Unmut in den Provinzen eine für ihr Land passende Geselldie Regierung zu immer weischaftsform zu finden. Die „Retter reichenden Zugeständnissen. tung“ sah der Journalist schließlich Schon im folgenden Jahr wurden in einer konstitutionellen Monarchie. Provinzversammlungen gewählt, und 1908 erließ der Hof einen „Verfassungsentwurf“, der vorsah, in einem Zeitraum von neun Jahren eine Verfassungsmonarchie nach japanischem Vorbild zu errichten. Aber schon kurz darauf musste die Frist für die Einberufung des ersten nationalen Parlaments in der chinesischen Geschichte auf das Jahr 1913 vorverlegt werden. Auch dazu sollte es nicht mehr kommen, denn sämtliche Reformvorhaben wurden durch die revolutionären Ereignisse von 1911 überholt, welche die Kaiserzeit beendeten. Ein wichtiger Grund für den Sturz der Qing-Dynastie bestand darin, dass es seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr gelungen war, die regionalen und lokalen Fliehkräfte politisch, ökonomisch und militärisch einzubinden. Dies hängt mit den großräumigen Verwerfungen zusammen, die im Aufstand der Taiping (1850 –1864) ihren Höhepunkt erreicht hatten und durch das Vordringen westlicher Mächte weiter befeuert wurden. Wohin, China? Reformer wie Liang

Qichao (1873 –1929) rangen darum,

108 Aufbruch in eine neue Epoche

bung der Mandschu“ und die Gründung einer Republik auf die Fahnen schrieb. Nur eine nationale Erneuerung in Gestalt einer Republik würde China, so Sun, aus der existentiellen Bedrohung befreien können, in die es durch den westlichen Imperialismus und die innere Zerrissenheit geraten war. In der Erweckung des Nationalbewusstseins sahen die Revolutionäre daher eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Sie propagierten einen bisweilen dezidiert Han-chinesischen, antimandschurischen Nationalismus. Sun Yat-sen kehrte Ende 1911 nach China zurück. Die Delegierten der aufständischen Provinzen wählten ihn zum provisorischen Präsidenten. Am 1. Januar 1912 rief er die Republik China aus. Am 12. Februar dankte Pu Yi, der letzte Kaiser, ab. Auch gemäßigte Reformer wie Liang Qichao hatten sich im japanischen Exil der „Rettung Chinas“ verschrieben. In seinen umfangreichen Schriften über den „neuen Bürger“ befürwortete Liang zunächst eine demokratische Ordnung. Nach einer mehrmonatigen Reise durch Nordamerika, die er in einem vielbeachteten Reisebericht dokumentierte, wandte er sich desillusioniert von dieser Position ab und sprach sich stattdessen für die Einführung einer konstitutionellen Monarchie nach japanischem beziehungsweise deutschem Vorbild aus. Den chinesischen Revolutionären im japanischen Exil warf Liang vor, sie würden versuchen, die ahnungslose bäuerliche Bevölkerung im eigenen parteipolitischen Interesse aufzuwiegeln. Ein sofortiger Umsturz würde, so Liang, unweigerlich zu chaotischen Zuständen führen und letztlich die Gefahr einer vollständigen Unterwerfung Chinas durch die imperialistischen Mächte erhöhen. Schonungslos legte Liang in seinen Untersuchungen zur politischen und geistigen Lage dar, dass China zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch gar keine Nation sei, kein Staatsvolk habe, ja noch nicht einmal über eine Nationalsprache verfüge. Der große Schritt vom alten Reich zum Nationalstaat könne nur gelingen, wenn die westlichen Errungenschaften des Konstitutionalismus, des modernen Staatsgedankens und des bürgerlichen Selbstverständnisses nachvollzogen würden. Wo Liang sich für die Wahrung konfuzianischer Traditionen aussprach, tat er dies unter dem Vorbehalt, dass dadurch der nationale Wille bestärkt und das wissenschaftliche Weltbild akzeptiert werde. Die Verbindung der nationalen Perspektive mit der Orientierung an der wissenschaftlichen Zivilisa-

tion, wie sie Liang Qichao anmahnte, fiel in China sofort auf fruchtbaren Boden. Dazu trug auch bei, dass diese Ideen nicht mehr völlig fremd waren. In Japan hatIm Februar 1912 musste Pu Yi, der ten namhafte Reformer wie der sechsjährige letzte Kaiser von China Gelehrte und Politiker Kato Hi(stehend, neben seinem Vater, dem royuki schon im ausgehenden Prinzen Chun, der seinen jüngeren 19. Jahrhundert dieselbe VerbinBruder auf dem Schoß hält), abdandung hergestellt und dabei die ken. Als provisorischer Präsident überEvolutionstheorien als Inbegriff nahm der Revolutionär Sun Yat-sen des wissenschaftlichen Fortdie Macht (im Bild links unten; Titelseite des „Daily Mirror“, 14. Oktober 1911). schritts im Westen identifiziert.

109 Wohin soll China steuern? Von der Reform zur Revolution

Der Sozialdarwinismus fällt auf fruchtbaren Boden

Hier überkreuzten sich drei neuartige Vorstellungen: diejenige eines gleichermaßen unabweisbaren Wandels in Geschichte und Natur, diejenige eines linearen Geschichtsverlaufs, der im Fortschritt gipfelt, und schließlich die Perspektive einer den gesamten Globus umspannenden Moderne. Dieser globalhistorische Ausblick bot Orientierung angesichts von markanten Beschleunigungserfahrungen und neuen Unübersichtlichkeiten, die sich aus der rasanten gesellschaftlichen und geistigen Transformation Chinas ergaben. In einem sehr kurzen Zeitraum war die kaiserzeitliche Ordnung von Staat und Gesellschaft zerfallen und das traditionale Welt- und Geschichtsbild mitsamt seinen Wissensordnungen zerbrochen. Dies kam aufs deutlichste im begrifflichen Wandel zum Ausdruck. In regelrechten Kaskaden ergossen sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts politische, wissenschaftliche und historische Ideenbestände und Erkenntnisse europäischer und anglo-amerikanischer Provenienz in das chinesische Selbst- und Weltverständnis. Die chinesische Sprache wurde dabei mit einer Vielzahl von neuartigen Schlüsselbegriffen der vermeintlich fortschrittlicheren „westlichen“ Zivilisation durchsetzt. Diese Begriffe hatten sich oftmals auf Umwegen über die japanische Rezeption westlichen Gedankenguts Bahn gebrochen. Hierzu gehörten gesellschaftliche und politische Ordnungsbegriffe wie „Staat“, „Gesellschaft“, „Politik“, „Welt“, „Jahrhundert“, „Revolution“, „Republik“, „Verfassung“, „Nation“, „Bürger“ und „Volk“, aber auch Bewegungsbegriffe, darunter Ismen-Bildungen wie „Nationalismus“, „Liberalismus“ und „Sozialismus“. Obwohl sich ein Großteil dieser Begriffe bestenfalls lose auf historische Erfahrungen aus der chinesischen Kaiserzeit beziehen ließ, bestimmten sie sogleich innerchinesische Debatten und ideenpolitische Auseinandersetzungen. Fortan wurde die abweichende Geschichts- und Gegenwartsdeutung der gegnerischen Partei nicht mehr lediglich als falsch aufgerechnet, sondern als fortschritts- und existenzgefährdend gebrandmarkt.

Insbesondere der Sozialdarwinismus (also die Theorie einer Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren gilt, abgeleitet von den Erkenntnissen Charles Darwins über das Tierreich) stieß in diesen Kreisen auf reges Interesse, denn man glaubte, daraus eine wissenschaftlich-universalistische Erklärung des historischen Wandels von menschlichen Gesellschaften ableiten zu können. Darüber hinaus schien der Sozialdarwinismus zugleich Handlungsrichtlinien zu liefern, die dazu dienen konnten, diesen Wandel zu beherrschen. In China war man ebenfalls auf die Evolutionstheorie und sozialdarwinistische Spekulationen aufmerksam geworden, und es war gewiss kein Zufall, dass dies vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Niederlage im Krieg gegen Japan geschah. Yan Fu (1854 –1921), einer der einflussreichsten Vermittler westlicher Geisteswissenschaften, mahnte in einem Beitrag für eine Tageszeitung aus Tianjin im März 1895 eindringlich, dass die „Lehren von Darwin“ für die Stärke westlicher Nationen entscheidend seien. Yan Fu hatte zwei Jahre am Royal Naval College in Greenwich studiert und wurde in China durch seine mitunter sehr freien Übersetzungen berühmt, darunter Werke von Evolutionstheoretikern wie Thomas Huxley („Evolution and Ethics“) und Herbert Spencer („Study of Sociology“). Die Anverwandlung des Sozialdarwinismus, für die das Werk von Yan Fu Pate stand, war für das chinesische Verständnis von Gesellschaft und Geschichte von großer Tragweite. Über ein breites Spektrum von Positionen hinweg findet sich denn auch die gemeinsame Überzeugung, dass in der modernen Welt der gesellschaftliche Wandel beherrschbar sei, vorausgesetzt, seine Grundprinzipien seien wissenschaftlich durchschaut. Was daraus zu folgen hatte, schien auf der Hand zu liegen: Wenn China im internationalen Überlebenskampf bestehen wolle, müsse es den Fortschritt wählen, wie er sich in der westlichen Hemisphäre historisch bereits abzeichnete. Als eine „verspätete Nation“ sei China in eine äußerst missliche Lage geraten, weshalb nun die Orientierung am Westen das Gebot der Stunde sei. Die Erfahrung mit der Ungleichzeitigkeit des Fortschritts wurde in diesem Zusammenhang als historische Chance verstanden, die Fehler des Westens nicht wiederholen zu müssen.

Prof. Dr. Thomas Fröhlich, geb. 1966, lehrt Sprache und Kultur Chinas an der Universität Hamburg. Schwerpunkt seiner Forschungen sind die Ideengeschichte und die Philosophie des neuzeitlichen und modernen China sowie Taiwans.

110 Aufbruch in eine neue Epoche

Das moderne China

Schmerzvoller Weg bis ins 21. Jahrhundert Thomas Fröhlich

Dem Fall des Kaiserreichs folgten Jahrzehnte des Ringens um eine stabile Republik und ein brutaler Angriff Japans. Im Bürgerkrieg zwischen Nationalpartei und Kommunisten siegten Letztere. Geführt von Mao, formten sie China ohne Rücksicht auf Menschenleben um. Reformen seit Ende der 1970er Jahre brachten einen Wirtschaftsboom, aber keine Demokratie.

Die Abschaffung der Monarchie 1912 bedeutete das Ende einer über 2000-jährigen Herrschaftstradition. Dem Beginn des neuen Zeitalters mangelte es allerdings an Symbolkraft. Denn mit der Revolution verband sich weder ein politischer Mythos, noch wurde ein republikanisches Verfassungsdokument zum Zeichen des Neubeginns. Die zwölf provisorischen Verfassungen, die bis 1947 erlassen wurden, blieben schwache Symbole – im politischen Leben der Republik entfalteten sie keine ordnende Kraft. Überhaupt war die Erfahrung mit der neuen Staatsform von Beginn an durch Enttäuschungen geprägt. Schon im zweiten Jahr seiner Amtszeit errichtete Yuan Shikai (1859   –1916), erster Präsident der Republik und früherer Oberbefehlshaber der modernen Beiyang-Armee, eine Diktatur. Er stürzte 1916, kurz nachdem er ein neues Kaiserreich ausge-

rufen hatte. Bereits im folgenden Nach Ausrufung der Volksrepublik Jahr strebte ein General, der Yuan 1949 führten die Kommunisten Shikai nahestand, die Restauraunter Mao Zedong China auf einen tion der Qing-Dynastie an, scheigänzlich neuen Weg. Während des terte aber ebenfalls. „Langen Marsches“ der kommunisDie junge Republik überlebtischen Kämpfer 1934/35 ließ sich te diese Verwerfungen zwar, sie Mao im Gespräch mit Bauern fotoblieb jedoch ein uneingelöstes grafieren. Versprechen. Daran änderte sich auch im folgenden Jahrzehnt wenig, als Kriegsherren im Norden wie im Süden um Dominanz rangen, während die republikanische Regierung in der Hauptstadt einem Kopf ohne Körper glich. Zu den Kräften, die sich gegen den Niedergang der Republik stemmten, gehörte die Nationalpartei, deren Regierung sich unter der Führung von Sun Yat-sen in den frühen 1920er Jahren in der Region

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nistischen Partei. Als deren „Nordfeldzug“ im Sommer 1926 begann, war Sun Yat-sen allerdings bereits verstorben. Der Feldzug von Südchina nach Norden wurde 1928 siegreich beendet. Die Kriegsherren waren entweder geschlagen oder einem Bündnis mit der neuen Nationalregierung beigetreten, welches ihnen weite Teile des Hinterlandes überließ. Die „Einheitsfront“ hatte sich allerdings bereits im Jahr zuvor aufgelöst, nachdem der rechte Flügel der Nationalpartei unter der Führung von Chiang Kai-shek (1887–1975) die Arbeiterbewegung in Schanghai zerschlagen hatte. Damit hatte der Kampf von Weltanschauungen mit absolutem Wahrheitsanspruch China erreicht. Weder die Nationalpartei noch die Kommunistische Partei sollten fortan bereit sein, politische Kompromisse einzugehen. Unter der Nationalregierung entstand Ende der 1920er Jahre Chinas erster Einparteienstaat. Dieser stellte jedoch kein solides Gefüge dar, denn innerhalb der Nationalpartei hatte sich ein linker Parteiflügel abgespalten, der in Wuhan und Kanton zeitweilig eine Gegenregierung bildete. Hinzu kam, dass der Einparteienstaat unter Chiang Kai-sheks militärisch ausgerichteter Führung nur geringe wirtschaftliche Erfolge zu erzielen vermochte. Die Sektoren Industrie und Handel blieben in den 1930er Jahren schwach, und das aufstrebende Bürgertum wurde durch staatskapitalistische Maßnahmen geknebelt. Das Bild eines modernen und liberalen China, welches die Auslandspropaganda des Regimes zeichnete, stand zur politischen und ökonomischen Realität in einem scharfen Gegensatz. Die Nationalregierung ergriff diktatorische Vollmachten zur Verfolgung politischer Gegner, liebäugelte zeitweilig mit dem Faschismus und unternahm eine Reihe aufwendiger militärischer Feldzüge gegen die kommunistische Bewegung, die nur mäßigen Erfolg brachten. Dennoch wird das Jahrzehnt von 1927 bis 1937 bis heute als eine Zeit gesellschaftlicher Offenheit und Erneuerung beschrieben, was zumindest im Vergleich mit den folgenden Jahrzehnten bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zutreffend ist. Im Zuge landesweiter Reformen waren zahlreiche Universitäten sowie Grund- und Mittelschulen entstanden, die eine moderne Bildung ermöglichten. In den städtischen Zentren blühten private Verlage auf, und eine beträchtliche Zahl von Zeitungen und Zeitschriften sorgte trotz der herrschenden Zensurbestimmungen für eine große Meinungsvielfalt.

von Kanton festsetzen konnte. Vom Westen hatte Sun keine Mann. Er stellte die Monarchie wieUnterstützung erhalten, aber in der her und amtierte 1915/16 als der Sowjetunion teilte man seine Einschätzung, wonach eine zweiKaiser. Hier lässt sich der Militärführer 1912 den traditionellen Zopf te, nationale Revolution zur Einigung des Landes nötig sei. abschneiden (Titelbild von „Le Petit Zu diesem Zweck unterstützte Journal“). Moskau, trotz ideologischer Differenzen, Sun bei seiner Reform der Nationalpartei. Sun formte sie zu einer zentralistischen Kaderpartei mit angegliedertem Militär. Zudem hatte Moskau aus strategischen Gründen darauf verzichtet, eine Führungsrolle für die 1921 in Schanghai gegründete Kommunistische Partei Chinas zu beanspruchen. Damit war der Weg frei für eine politisch-militärische „Einheitsfront“ der Nationalpartei und der KommuYuan Shikai war nach Ende des Kaiserreichs für kurze Zeit der starke

112 Schmerzvoller Weg bis ins 21. Jahrhundert

Der Konfuzianismus gilt als überholt, aber wie soll eine „neue Kultur“ aussehen?

Auftrieb erhielt diese „Bewegung für eine neue Kultur“ durch die landesweiten Studentenproteste, die am 4. Mai 1919 begannen, als die enttäuschenden Ergebnisse der Versailler Friedensverhandlungen bekanntgeworden waren. Weder die „Ungleichen Verträge“ (die Ergebnisse der europäischen Interventionen in China) noch Japans „Einundzwanzig Forderungen“ wurden in Versailles aufgehoben. Der Zorn darüber verband sich nun mit der wachsenden Verzweiflung an der offenkundigen Schwäche der jungen Republik. In dieser Periode des Umbruchs, die in China bis heute mit dem Schlagwort des „Vierten Mai“ bezeichnet wird, rissen die Debatten über eine politische, gesellschaftliche und kulturelle Erneuerung nicht ab. Einigkeit bestand darin, dass eine geistige und gesellschaftliche Orientierung am Westen das Gebot der Stunde sei. Aber welche westlichen Errungenschaften tatsächlich fortschrittlich waren und worauf die vermeintliche zivilisatorische Überlegenheit des Westens beruhte, das war Gegenstand intensiver Kontroversen. Großen Zuspruch fand in dieIn der Bewegung des „Vierten Mai“ sem Zusammenhang das ambibündelten sich die Debatten über tionierte Unterfangen einer kritiden weiteren Weg des Landes. Nicht schen Aufarbeitung der chinesizuletzt viele Studenten, im Bild eine schen Vergangenheit nach MaßGruppe 1919 beim Verbrennen japagabe moderner wissenschaftlicher nischer Waren, forderten eine rasche Methoden. Der daraus resultiegesellschaftliche Erneuerung.

Schon in den 1910er Jahren war der Konfuzianismus in Misskredit geraten, nachdem sich Befürworter einer konfuzianischen Staatsreligion auf die Seite der Restauration geschlagen hatten. Die Kritik am Konfuzianismus, die in einflussreichen Zeitschriften wie „Neue Jugend“ vielstimmig geäußert wurde, trug mitunter radikale Züge. Der Konfuzianismus wurde nicht mehr nur mit der alten Obrigkeit in Verbindung gebracht, sondern zum Brandmal des vormodernen China stilisiert. Im ideenpolitischen Kampf wurde das neue Schlagwort in vielzitierten Parolen wie „Zerschlagt den Laden des Konfuzius“ gefasst. Diese legten nahe, China leide bis in die Gegenwart unter der repressiven Tradition des Konfuzianismus. Die Last der vermeintlich „feudalen“ konfuzianischen Vergangenheit sollte daher endgültig abgelegt werden. Zugleich erklang in öffentlichen Diskussionen der Ruf nach einer „neuen Kultur“. Demnach sollte sich China fortan an der westlichen Moderne orientieren und umfassende politische und gesellschaftliche Reformen durchführen. Nicht zuletzt galt es, die Wissenschaften, einschließlich der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, zu fördern und eine „neue Literatur“ hervorzubringen. Diese sollte sich von der klassischen Literatensprache und den traditionellen literarischen Gattungen und Stoffen emanzipieren.

113 Der Konfuzianismus gilt als überholt, aber wie soll eine „neue Kultur“ aussehen?

zudem eine elitär geprägte demokratische Ordnung, so etwa Luo Longji (1898   –1965), der 1929 die erste chinesische Menschenrechtserklärung verfasste.

Kampf gegen Japan und der lange Bürgerkrieg Nachdem Japan seine Einflusssphäre im Nordosten Chinas durch militärischen Druck seit Beginn der 1930er Jahre kontinuierlich ausgeweitet hatte, ging es im Juli 1937 zu offener Kriegführung über. Peking und Tianjin fielen noch im selben Monat, im Herbst folgten Schanghai und 1938 Wuhan und Kanton. Der Krieg wurde unerbittlich geführt. Japan sah sich weder an die Haager Abkommen noch an die Genfer Konvention gebunden und machte in China kaum Kriegsgefangene. Nicht minder schwer wiegen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche die japanische Armee an chinesischen Zivilisten beging. Das „Massaker von Nanjing“, das im Dezember 1937 begann und sich über eineinhalb Monate hinzog, ragt im Gegenwartsbewusstsein heraus; es war aber keinesfalls ein Einzelfall. Die Opferzahlen des Nanjinger Massakers liegen je nach Schätzung zwischen 200 000 und über 300 000 Menschen. Die Berichte über unvorstellbare Grausamkeiten umfassen systematische Vergewaltigungen und andere Misshandlungen in einem enormen Ausmaß. Die chinesische Nationalarmee leistete den japanischen Aggressoren in einem äußerst verlustreichen Rückzugskampf teilweise massiven Widerstand. Zu Beginn der 1940er Jahre wurde etwa die Hälfte der Truppenkontingente Japans durch den chinesischen Verteidigungskrieg gebunden. Dazu trug auch bei, dass bis 1941 eine zweite „Einheitsfront“ zwischen der chinesischen Nationalarmee und den Verbänden der Kommunistischen Partei Chinas bestand, wobei sich Letztere insbesondere auf den Partisanenkampf konzentrierte. Erst nach dem US-amerikanischen Kriegseintritt 1941 erhielt China umfangreiche militärische und finanzielle Unterstützung. Als der Krieg schließlich durch die japanische Niederlage im Pazifik und die Atombombenabwürfe über Japan beendet wurde, war die Lage auf dem chinesischen Festland trotz des Sieges katastrophal. Die Bevölkerung war demoralisiert und litt unter der Hyperinflation, die Nationalarmee hatte acht schwere Kriegsjahre hinter sich, und die innenpolitischen Spannungen zwischen der Nationalpartei und der Kommunistischen Partei spitzten sich erneut zu.

rende neue Blick auf Chinas Vergangenheit sollte der Orientierung in Zeiten rasanten Wandels dieschen Krieg gingen die Angreifer mit äußerster Brutalität vor. Beim nen. Zwar hatte der Weltkrieg erste Zweifel an der „materialistischen „Massaker von Nanjing“ ermordeten japanische Soldaten 1937/38 Kultur“ des Westens gesät, doch gewannen die zukunftsfrohen ErwarHunderttausende Chinesen. tungen schon bald wieder die Oberhand. Die Frage, worin die „neue Kultur“ letztlich bestehen werde und wie sie in China zu etablieren sei, blieb hingegen umstritten. Vielfältige liberale, sozialistische, nationalistische und kulturkonservative Strömungen prägten das Bild einer regen chinesischen Öffentlichkeit. Zu den namhaften Schriftstellern und Intellektuellen jener Zeit gehörte der aus Shaoxing (Provinz Zhejiang) stammende Lu Xun (1881–1936), der bis heute als Wegbereiter der modernen chinesischen Literatur gilt. Er schrieb die bahnbrechenden Erzählungen „Das Tagebuch eines Verrückten“ (1918) und „Die wahre Geschichte des Ah Q“ (1921/22). Darin geißelte er die grassierende Untertanenmentalität, das Fehlen gesellschaftlicher Solidarität, die politische Ignoranz und die bornierte Weltsicht seiner Landsleute. Wie viele Gebildete seiner Zeit scheute auch Lu Xun, der sich in Japan am Studium der Medizin versucht hatte, die Rolle eines Volksaufklärers keineswegs. Er verkörperte im Gegenteil das Ideal eines politisch und gesellschaftlich engagierten Linksintellektuellen, der sich mit Verve ins Handgemenge öffentlicher Debatten stürzte. Liberale Intellektuelle wie Hu Shi (1891 – 1962) standen dem linken Lager skeptisch gegenüber, vertraten aber ebenfalls regierungskritische Positionen und forderten Rechtsstaatlichkeit sowie eine politische Öffnung. Die meisten Liberalen befürworteten 1937 griff Japan China an. In diesem zweiten Chinesisch-Japani-

114 Schmerzvoller Weg bis ins 21. Jahrhundert

Zumindest konnte China sein internationales Ansehen steigern. Als eine der Siegermächte wurde es zum ersten Signatarstaat der Gründungsurkunde der Vereinten Nationen. Der Status eines „halb-kolonialen“ Landes war überwunden. Darüber hinaus gelang es 1947, die lange Phase der Verfassungsprovisorien durch Verkündung der ersten Verfassung der Republik China zu beenden. Die vorangehenden landesweiten Parlamentswahlen hatten allerdings bereits im Schatten des Bürgerkriegs stattgefunden. Nach anfänglichen militärischen Erfolgen der Nationalarmee wendete sich das Blatt im Sommer 1947. Unter schweren Niederlagen, zunächst im Nordosten, musste sich die zahlenmäßig nach wie vor überlegene Nationalarmee immer weiter nach Süden zurückziehen. Im Dezember 1949 floh die Nationalregierung schließlich nach Taiwan. Bereits im Oktober, als Provinzgrenzen Hauptstädte Regierungsunmittelbare Städte Sonderverwaltungsregionen Provinzhauptstädte und Hauptstädte von Autonomen Regionen

im Süden des Landes noch gekämpft wurde, hatte Mao Zedong die Gründung der Volksrepublik China in Peking ausgerufen. Der Bürgerkrieg, der bis heute nicht durch einen formellen Friedenschluss beendet ist, war damit vorüber.

Nach dem Sieg der Kommunisten: Taiwans Sonderweg Bis 1950 waren rund zwei Millionen Menschen vom Festland nach Taiwan geflohen, das damals eine Bevölkerung von sechs Millionen aufwies. Die Neuankömmlinge fanden eine Gesellschaft vor, in der ein repressives politisches Klima herrschte. Taiwan war 1945 nach einem halben Jahrhundert unter japanischem Kolonialismus in die Republik China eingegliedert worden. Die folgenden vier Jahre sollten bis

China heute R US S L AND

Chabarowsk

HEILONGJIANG

Karaganda

Harbin

Ulan-Bator

KASACHSTAN MONGOLEI

INNERE MONGOLEI (Autonome Region)

Ürümqi Turpan

KIRGISISTAN

XINJIANG UIGUR (Autonome Region)

Gaochang

Dunhuang

GANSU

Kaifeng Luoyang Zhengzhou ANHUI HENAN Hefei

Lanzhou S H A A N X I Xi’an

TIBET (Autonome Region)

VOLKSREPUBLIK CHINA

gzi

Yan

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Seoul

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REP. KOREA

HEBEI Shijiazhuang Taiyuan Zibo Jinan SHANXI SHANDONG Anyang

N I N G X I A Yan’an (Autonome Region)

QINGHAI

Pjöngjang

Peking

Datong

Yinchuan Xining

D E M. VR. K O R EA

Shenyang LIAONING Chengde

Hohhot Gelb er Flus s

Almaty

Wladiwostok

JILIN Changchun

JAPAN

JIANGSU

Nanjing

Schanghai

Hangzhou Ningbo Anqing Shaoxing ZHEJIANG

HUBEI Wuhan

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Guiyang

YUNNAN

Dhaka Kalkutta 0

200

400

600 km

BANGLADESCH

GOLF VON BENGALEN

GUANGXI (Autonome Region)

Macau

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GUANGDONG

Kunming

INDIEN

Taibei (Taipeh)

Xiamen Taiwan

Guangzhou (Kanton) Hongkong

Nanning Mandalay

MYANMAR (Birma)

VIETNAM

Hanoi

LAOS

115 Nach dem Sieg der Kommunisten: Taiwans Sonderweg

Haikou Hainan

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heute die einzige Phase bleiben, in welcher das moderne Taiwan mit dem Festland verbunden war. partei und Kommunisten wieder Was als „glorreiche Wiederauf. 1949 floh die Nationalregierung eingliederung“ ausgerufen wurde, unter Chiang Kai-shek nach Taiwan, entpuppte sich jedoch spätestens wo sie eine eigene Republik errich1947 als ein Prozess gewaltsamer tete (im Bild: Wachtposten an der Unterdrückung und politischer Küste von Taiwan, 1954). Marginalisierung der einheimischen Bevölkerung. In jenem Jahr war eine Welle von Protesten gegen Behördenwillkür und Misswirtschaft durch den massiven Einsatz des Militärs gestoppt worden. Die 1950er und frühen 1960er Jahre werden heute als Zeit des „Weißen Terrors“ bezeichnet, in der Chiang Kai-sheks Regierung das Kriegsrecht beibehielt und die Opposition verfolgte. Die Bevölkerung war politisch entmündigt und wurde auf einen antikommunistischen, großchinesischen Reformnationalismus eingeschworen. Das großchinesische Geschichtsbild ließ das koloniale Erbe Taiwans, zu dem auch die Erinnerung an den taiwanischen Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft gehörte, zusehends in Vergessenheit geraten. Bis in die 1910er Jahre hatte es in Taiwan bewaffnete Aufstände gegen die japanischen Besatzer gegeben, und auch danach widersetzten sich taiwanische Kreise politisch und kulturell der japanischen Doktrin einer Assimilierung. Dieser Kolonialdoktrin zufolge sollte Taiwan so weit an Japan angeglichen werden, bis es als gleichberechtig-

te Verwaltungseinheit innerhalb des japanischen Kaiserreichs anerkannt werden könnte. Die Kolonialzeit rückte in Taiwan erst seit den 1980er Jahren allmählich wieder ins öffentliche Bewusstsein und ist seither erinnerungspolitisch umstritten. Manchen Kritikern der Nationalpartei gilt deren autoritäre Herrschaft auf Taiwan, die bis 1987 dauerte, als eine „festlandchinesische“ Kolonialherrschaft. Positiver fallen die Urteile in ökonomischer Hinsicht aus. Mit Wirtschaftshilfe der USA war in den 1950er Jahren eine Bodenreform gelungen, danach setzte eine umfangreiche Industrialisierung ein, und der international konkurrenzfähige Hochtechnologiesektor wurde aufgebaut. Im Rückblick kann von einem „Wirtschaftswunder“ gesprochen werden. Bis zum Ende der 1980er Jahre bröckelte trotz ökonomischer Erfolge die Macht der Nationalpartei. Ihr Ansehen hatte in der Bevölkerung schon 1971 Schaden genommen, als der Sitz in den Vereinten Nationen an die Volksrepublik China abgetreten werden musste. Acht Jahre später nahmen die USA diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik auf. Zwar wurde in Form des „Taiwan Relations Act“ ein Beistandspakt geschlossen, der eine amerikanische Verpflichtung zur Verteidigung Taiwans enthielt, dennoch wuchs nun die Unsicherheit angesichts eines erstarkenden China. Der Druck auf die Nationalregierung stieg in den 1980er Jahren zudem durch zivilgesellschaftliche Kräfte, darunter neue soziale Bewegungen, die sich in Taiwan herausgebildet hat-

Nach dem Sieg über Japan flammte der Bürgerkrieg zwischen National-

116 Schmerzvoller Weg bis ins 21. Jahrhundert

ten. Im Jahr 1987 wurde schließlich die Aufhebung des Kriegsrechts verkündet. Der Übergang zur Demokratie verlief in den folgenden Jahren friedlich und ließ die erste moderne Verfassungsdemokratie in der chinesischen Welt entstehen. Die Nationalpartei unter der Führung von Lee Teng-hui (geb. 1923) hielt sich in den 1990er Jahren an der Macht und gewann 1996 die erste freie und direkte Präsidentschaftswahl in der Geschichte der Republik China. Aber vier Jahre später gelang es der Demokratischen Fortschrittspartei, mit Chen Shui-bian (geb. 1950) erstmals den Präsidenten zu stellen. Seither fanden zwei weitere Regierungswechsel statt, die sinnbildlich für die demokratische Normalisierung stehen.

dender Bedeutung dafür, ob die neue Regierung Fuß fassen oder scheitern würde, war das Unterfangen, die ländlichen Schichten in die volksrepublikanische Ordnung einzubinden. Das ländliche China war zutiefst traditionell geprägt und also keineswegs eine natürliche Heimstätte des „neuen sozialistischen Menschen“, den die Kommunisten hervorbringen wollten. Im Sommer 1950 wurde eine Kampagne zur Bodenreform durchgeführt. Diese zog sich bis 1953 hin und veränderte die Lebensverhältnisse der Landbevölkerung – und damit von mehr als 80 Prozent der gesamten Bevölkerung – tiefgreifend. Auf der Grundlage einer revolutionären Klassensoziologie wurden überall im Land sogenannte Grundherren und Großbauern identifiziert, enteignet und in vielen Fällen standgerichtlich zum Tod verurteilt. Über eine Million Menschen verloren während dieses „Wiederaufbaus“ ihr Leben. Die Kontrolle über die städtischen Gebiete wurde ebenfalls nach Maßgabe Gesunde Menschen, politische Einigkeit, einer Klassenanalyse gesieine reiche Ernte: Dieses optimistische Bild chert. So wurde nicht-proder Chinesen auf dem Weg in den Kommuletarischen Schichten, die nismus zeichnete die Propaganda (Plakat für die Kampagne des „Großen Sprungs man der „nationalen Bourgeoisie“ zurechnete, eine nach vorn“, die 1958 begann).

Kollektivierung und „Großer Sprung nach vorn“: Maos katastrophale Politik Die Kommunistische Partei verstand ihren Sieg im Bürgerkrieg und die Ausrufung der Volksrepublik 1949 als Erfolg der „neudemokratischen Revolution“, wie sie Mao 1940 konzipiert hatte. In dieser Etappe auf dem Weg zum Sozialismus standen der gesellschaftliche Wiederaufbau und die Festigung der neuen Ordnung im Vordergrund. Von entschei-

117 Kollektivierung und „Großer Sprung nach vorn“: Maos katastrophale Politik

Kooperation nahegelegt, während gewaltsame Kampagnen wie jene zur „Unterdrückung von Konterwerden. In „Hinterhof-Hochöfen“ revolutionären“ den Widerstand schmolzen Bauern schließlich sogar ihre Pfannen und Töpfe ein. Meist von „Feinden“ der Revolution war das ohne Vorkenntnisse produbrachen. zierte Schmelzgut wertlos. Maßnahmen im Bereich der Erziehungs- und Familienpolitik kam ebenfalls eine wichtige Bedeutung zu. Hierzu gehörte, angesichts einer Analphabetenrate von 80 bis 90 Prozent, zunächst der Ausbau der Volksbildung. Zudem erließen die neuen Machthaber 1950/51 eine umfassende Gesetzgebung zur Ehe- und Familienreform. Ein Scheidungsrecht wurde eingeführt, Kinderehen und arrangierte Ehen wurden verboten und die Polygamie abgeschafft. Diesem Versuch, die traditionellen Strukturen in Stadt und Land direkt an der Basis – und das hieß innerhalb der Familienverbände – aufzubrechen, war aber kein durchschlagender Erfolg beschieden. Bis 1953 brachten die Kommunisten den alten Verwaltungsapparat unter ihre Kontrolle, Parteimitglieder besetzten die entscheidenden Stellen. Im selben Jahr wurde der Wiederaufbau offiziell für beendet erklärt, und bereits im Sommer 1953 verkündete die Partei den Beginn der „proletarisch-sozialistischen Revolution“. Im Zuge der „Generallinie des Übergangs zum Sozialismus“ wurde Chinas erster Fünfjahresplan erlassen. Dieser stand im Zeichen der Kommandowirtschaft nach sowjetischer Vorgabe und schrieb den Vorrang der Schwerindustrie vor der

Leicht- und Konsumgüterindustrie sowie der Landwirtschaft fest. Gleichzeitig wurde mit der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Verstaatlichung der Industrie begonnen. Im Zuge dieser Sowjetisierung erfuhr die chinesische Gesellschaft ihre umfassendste Transformation im 20. Jahrhundert. Der politische Apparat, der ökonomische Sektor, das öffentliche Leben und auch die privaten Lebensverhältnisse wurden von der Umgestaltung nach stalinistischem Muster erfasst. China war zwar nicht Teil des Ostblocks, verfolgte aber eine Politik der „Anlehnung an eine Seite“ und zählte dabei auf Unterstützung durch Tausende sowjetischer Ingenieure, Experten und Berater. Allerdings bestanden auch markante Unterschiede zwischen den beiden sozialistischen Lagern, die mit ihren unterschiedlichen Revolutionserfahrungen zusammenhingen. Während der sowjetische Stalinismus historisch betrachtet ein postrevolutionäres Phänomen ist, hatte seine sino-marxistische Variante entscheidende Impulse unter Bedingungen des Weltund Bürgerkriegs, und das heißt vor der eigentlichen Revolution, erhalten. Mao Zedong und andere Mitglieder der Führungsriege wie Liu Shaoqi (1898   –1969), Chen Yun (1905   – 1995), Zhu De (1886   –1976) und Zhou Enlai (1898   – 1976) waren durch lange Jahre des Kampfes gegen Kriegsherren, Chiang Kai-sheks Truppen und die japanische Armee geprägt. Zu den Meilensteinen der frühen Parteigeschichte gehören militärische Ereignisse wie der mythisch überhöhte „Lange Marsch“

Beim „Großen Sprung“ sollte auch die Stahlproduktion verdoppelt

118 Schmerzvoller Weg bis ins 21. Jahrhundert

und der Partisanenkampf sowie die Jahre im entlegenen Yan’an. Die drei Jahrzehnte, die zwischen der Gründung der Partei 1921 und der Eroberung Chinas lagen, waren eine Zeit des bewaffneten Konflikts, nicht der zivilen Politik. Die Parteioberen, die 1949 schon Mitte 40 oder älter waren, hatten große Erfahrung im militärischen und ideologischen Kampf, nicht aber mit staatlicher Verwaltung und bürokratischem Prozedere. Für sie blieb Politik eine Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln. Opfer dieser militarisierten Auffassung von Politik wurden früh schon die chinesischen Intellektuellen und Kunstschaffenden. Der Kultur- und Wissenschaftsbetrieb wurde im Verlauf der 1950er Jahre gleichgeschaltet und parteibürokratisch verwaltet. Dazu gehörte nicht zuletzt die Etablierung sogenannter Massenorganisationen wie des chinesischen Schriftstellerverbands. Gesinnungskampagnen gegen Intellektuelle und Schriftsteller waren bereits in Yan’an Mitte der 1940er Jahre mit großer Härte durchgeführt worden, und nach 1949 wurden sie vielfach fortgesetzt. Aus der Zeit in Yan’an stammen auch Mao Zedongs Einlassungen zur revolutionären Rolle von Kunst und Literatur, die für Jahrzehnte das herrschende Verständnis des ästhetischen Realismus bestimmten und die „Arbeit“ an der kulturellen „Front“ verpflichtend machten.

Der Kultursektor stand in den 1950er Jahren jedoch noch nicht im Zentrum des Interesses, denn die Parteiführung strebte den beschleunigten Übergang in den Sozialismus zunächst durch eine weltweit präzedenzlose Industrie- und Landwirtschaftspolitik an. Das stalinistische Modell hatte zu dieser Zeit aus chinesischer Perspektive an Strahlkraft verloren. Das lag zum einen an der Entstalinisierung in der UdSSR und zum anderen daran, dass die sowjetische Wirtschaftshilfe seit 1956 rückläufig war. Bis zum Ende des Jahrzehnts setzte sich Mao mit der Überzeugung durch, China könne seinen eigenen Weg in die sozialistische Zukunft beschreiten und dabei einen welthistorisch einzigartigen industriellen und sozialen Fortschritt erreichen. Die parteistaatliche Propaganda verkündete 1958, die Schwerindustrie könne binnen 15   Jahren einen „Großen Sprung nach vorn“ in die Welt der Industrienationen vollführen. Die Stahlproduktion sollte als Speerspitze dienen, aber auch die Landwirtschaft wurde vollständig mobilisiert. Die nur schwach mechanisierte Landwirtschaft hatte dabei eine doppelte Last zu tragen: die der Grundversorgung sowie die der industrielEnde einer Bauernfamilie: Viele Millen Produktionshilfe. Zu diesem lionen Menschen fielen der großen Zweck wurde das ländliche ChiHungersnot zum Opfer, die infolge na mit riesigen Volkskommunen des dilettantisch geplanten „Großen überzogen, in denen kollektivisSprungs“ von 1960 bis 1962 herrschte.

119 Kollektivierung und „Großer Sprung nach vorn“: Maos katastrophale Politik

tisch gelebt und in militärischer Organisation gearbeitet wurde. Nachdem günstige klimatische Bedingungen 1958 noch Rekordernten ermöglicht hatten, zeichnete sich schon im folgenden Jahr eine unheilvolle Wende ab. Massive Mängel bei der Durchführung der „Anbau- und Produktionsschlachten“, strukturelle Unzulänglichkeiten innerhalb der Kommandowirtschaft und eine durch falsche bürokratische Anreize verstärkte Tendenz, die tatsächlichen Entwicklungen zu verschleiern, führten in den Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung. Was in der Parteigeschichtsschreibung euphemistisch als die „Drei bitteren Jahre“ (1960   – 1962) bezeichnet wird, war die Mit der „Kulturrevolution“, 1966 Kehrseite eines industriepolitischen Fortschrittswahns: Dieser von Mao inszeniert, sollten durch führte in eine Hungerkatastrophe ideologische Mobilisierung Partei riesigen Ausmaßes. Schätzungen und Gesellschaft von möglichen gehen davon aus, dass weit über Gegnern „gereinigt“ werden. Eine 40 Millionen Menschen ihr Leben zentrale Rolle spielten die „Roten verloren. Garden“. Das Foto zeigt Mitglieder Der „Große Sprung nach vorn“ 1966 in Peking beim Lesen von bedeutete die Abkehr vom sowjeMao-Texten.

tischen Wirtschaftsmodell. Er besiegelte den Bruch mit der UdSSR, der 1969 in einen kurzen Grenzkrieg der beiden Atommächte mündete. Der „Große Sprung“ hatte aber auch in innerparteilicher Hinsicht weitreichende Folgen. Die Parteidisziplin war insbesondere auf lokaler Ebene im Zerfall begriffen. Mao musste im Juni 1961 auf einer Parteikonferenz in Peking Selbstkritik üben und einer Rückkehr zur gemäßigten Planwirtschaft zustimmen. Sein Prestige hatte schweren Schaden genommen.

Die „Kulturrevolution“: Entfesselung von Willkür und Gewalt Mitte der 1960er Jahre zweifelte Mao an der Gefolgschaft der Parteiführung um Liu Shaoqi, Deng Xiaoping sowie Chen Yun und unterstellte seinen früheren Mitstreitern, sie seien auf einen „kapitalistischen“, „revisionistischen“ Kurs eingeschwenkt. Mao wähnte sich im Kampf mit der Partei- und Staatsbürokratie, die in seinen Augen die Revolution zu ersticken drohte. Auf die Seite Maos hatte sich der Verteidigungsminister Lin Biao (1907 – 1971) geschlagen, der schon Jahre zuvor die Politisierung der Volksbefreiungsarmee eingeleitet hatte. Weitere Unterstützung fand Mao in der Person des einflussreichen Parteikaders Kang Sheng (1898   –1975), der in enger Beziehung zum Sicherheitsapparat stand, und seiner Gattin Jiang Qing (1914   –1991), die mit der Pekinger Kulturbürokratie über Kreuz lag und in Schanghai radikale Kreise mobilisierte. Im Sommer 1966 gingen die Maoisten zum offenen Angriff über, der einer militärischen Machtübernahme gleichkam. Zuvor war es gelungen, die Jugend an Mittelschulen und Universitäten landesweit in Aufruhr zu versetzen. Als „Rote Garden“ zogen Millionen von Jugendlichen und Studenten für die Fortführung der Revolution in den ideologischen Kampf, der sogleich gewaltsame Formen annahm. Die vermeintlichen Feinde der Revolution wurden quer durch alle Gesellschaftsschichten, Institutionen und Landesteile bekämpft, sei es durch ideologische Mittel auf Großkundgebungen, die Zerstörung von Hab und Gut oder, in zahllosen Fällen, durch gezielte Anwendung von physischer Gewalt. Die Grenze zwischen Freund und Feind verschwamm innerhalb kurzer Zeit. Die Verhältnisse in der Zeitspanne vom Winter 1966 bis zum Frühjahr 1967 glichen einem Bürgerkrieg. Offene, aber unübersichtliche Konflikte entbrannten zwischen bewaffneten Gruppen, die als „Rote Garden“, „Rote Re-

120 Schmerzvoller Weg bis ins 21. Jahrhundert

bellen“ oder Arbeiterwehren auftraten. Im Januar 1967 wies Mao die Armee an, die Ordnung wiederherzustellen. Doch es sollte bis zum Spätsommer 1968 dauern, bis die Verhältnisse in den meisten Regionen des Landes wieder übersichtlicher wurden. Noch heute sind die wahren Ausmaße dieser Ereignisse, die programmatisch als „Große Proletarische Kulturrevolution“ bezeichnet wurden, unbekannt. Hunderttausende hatten ihr Leben verloren, Millionen waren Misshandlungen zum Opfer gefallen, die Partei- und Staatsstrukturen waren zerfallen, und höhere Schulen sowie Universitäten blieben für Jahre geschlossen. Der Schaden an Kulturgütern, der landesweit angerichtet wurde, lässt sich kaum ermessen. Zahlreiche historische Bauwerke und Monumente sowie Tempel, Moscheen und Kirchen waren zerstört worden, und nicht nur in Tibet war es zur massiven Unterdrückung des religiösen Lebens gekommen. Die staatliche Propaganda sah seit den späten 1970er Jahren die Schuld für die „Kulturrevolution“ bei einer „Viererbande“, an deren Spitze Jiang Qing stand. Diese Schuldzuweisung wird der Komplexität des Geschehens nicht gerecht und lenkt davon ab, dass tiefere Ursachen mit dem Herrschaftssystem der Kommunistischen Partei und der sozialistischen Gesellschaftsordnung selbst zusammenhängen. Die „Viererbande“ stürzte nach Maos Tod im Jahr 1976 und damit in dem Jahr, das seither offiziell als Ende der „Kulturrevolution“ gilt. Tatsächlich war es schon zu Beginn der 1970er Jahre zu einer Normalisierung gekommen, nicht nur innerhalb der Gesellschaft, sondern auch in den chinesischen Außenbeziehungen, die während der „Kulturrevolution“ zeitweilig zusammengebrochen waren. 1971 hatte die Volksrepublik den chinesischen Sitz in den Vereinten Nationen übernommen, danach wurden diplomatische Beziehungen mit mehreren westlichen Staaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland, aufgenommen. Auch im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten fand eine Annäherung statt, die am Ende der Dekade zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen führte.

Deng Xiaoping (hier 1959 mit Mao) te. Deng war ein Parteikader der war seit Jahrzehnten ein treuer Parersten Stunde, hatte im Zweiten Weltkrieg als Politkommissar in teikader gewesen. Nach Maos Tod der Armee gedient und konnte 1976 gelang es ihm, die Partei zu dominieren – seit 1978 trieb er vor allem sich nach 1949 in der Parteihierarchie als Gefolgsmann wirtschaftliche Reformen voran. Maos hocharbeiten. Nach dem „Großen Sprung“ trat er für eine Konsolidierungspolitik ein und fiel in der „Kulturrevolution“ zwischenzeitlich in Ungnade. Zum Jahresende 1978 gelang es ihm, eine Politik der „Reform und Öffnung“ durchzusetzen. An die Stelle des maoistischen Revolutionskults trat die Rückbesinnung auf ein Fortschrittsversprechen, das Zhou Enlai mit der Parole der „Vier Modernisierungen“ in den Sektoren Landwirtschaft, Industrie, Landesverteidigung sowie Wissenschaft und Technik Jahre zuvor verkündet hatte. Zunächst wurden in der Landwirtschaft die Kollektive weiter abgebaut, so dass Einzelhaushalte das Ackerland faktisch in Pacht nehmen konnten. Die Agrarproduktion zeigte in kurzer Zeit bemerkenswerte Steigerungsraten. Auch in der Industrie erreichte man rasch hohe Wachstumsraten, einen markanten Anstieg der Arbeiterlöhne und bis zum Ende der 1980er Jahre eine Verdoppelung des chinesischen Anteils am Welthandel, der allerdings insgesamt noch gering war.

Dengs strategischer Ansatz: Reform und Machterhalt Das Ende der maoistischen Zeit hatte sich im Verlauf der 1970er Jahre abgezeichnet und wurde besiegelt, als am Ende des Jahrzehnts Deng Xiaoping (1904    – 1997) den inneren Machtzirkel der Partei dominier-

121 Dengs strategischer Ansatz: Reform und Machterhalt

Die begrenzte Zulassung privater Unternehmen erwies sich als wichtiger ökonomischer Anpropagierten „Vier Modernisierungen“ die Themen Industrie sowie Wisreiz. Im Bildungswesen wurden senschaft und Technik. Anregungen sowohl der Druck ideologischer Konformität gemildert als auch holte er sich unter anderem in Japan das fachliche Leistungsprinzip (Besuch bei Nissan, Oktober 1978). wieder eingeführt. Echte Chancengleichheit war so aufgrund der großen regionalen Entwicklungsunterschiede aber nicht zu erreichen. Von den Reformen blieb auch das gesellschaftliche Leben nicht unberührt. Vor allem im urbanen China war ein neuer Lebenswandel, mitunter eine Orientierung an westlicher Alltagskultur, zu beobachten. Darüber hinaus konnten sich die Intellektuellen Chinas nach Jahrzehnten der Abschottung und ideologischen Engführung wieder freier betätigen und dabei westliches Gedankengut und Gesellschaftsmodelle studieren. Im Verlauf der 1980er Jahre kam es zu politischen Reformen, obschon es dagegen teilweise erbitterten Widerstand innerhalb der Partei gab. Einschneidende Bedeutung hatte die Entscheidung, die maoistische Kampagnenpolitik aufzugeben und den Klassenkampf nicht mehr zum Fixpunkt der Politik zu machen. Künftig standen die Stabilität des Parteistaats und das beschleunigte Wachstum der Wirtschaft im Vordergrund. Die zentralistische Kontrolle, welche die Parteiorgane über staatliche Institutionen und Behörden ausübten, wurde etwas gelockert. Zudem kam es zu einem zaghaften Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen im Bereich der Wirtschaft. Dies

ließ sich nicht vermeiden, wollte man die Integration in den Weltmarkt vorantreiben. Nicht zur Debatte stand hingegen das eiserne Festhalten an den „vier grundlegenden Prinzipien“, welche die Führungsrolle der Partei in Staat und Gesellschaft festschrieben. Das parteistaatliche Verständnis von politischen Reformen unterschied sich insgesamt deutlich von westlichen Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, auch wenn ausländische Medien in Deng Xiaoping, Premierminister Zhao Ziyang (1919   –2005) und Generalsekretär Hu Yaobang (1915    –1989) bisweilen Wegbereiter einer demokratischen Öffnung zu erkennen glaubten. Forderungen nach einer weitreichenden politischen Öffnung waren seit dem Ausklang der maoistischen Zeit in China wiederholt gestellt worden. Schon 1976 war eine Trauerfeier für Zhou Enlai auf dem Tiananmen-Platz in eine Protestkundgebung gegen die Regierung umgeschlagen, die sofort unterdrückt und als „konterrevolutionär“ gebrandmarkt wurde. Im Winter 1978/79 blühte allerdings in Peking, Schanghai, Kanton, Wuhan und anderen Städten eine Demokratiebewegung auf. Zu ihren Forderungen gehörten freie Wahlen, der Schutz der Bürgerrechte und eine kritische Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit, einschließlich der Person Mao Zedongs. Nach vier Monaten schritten die Behörden ein, nachdem einer der Wortführer, Wei Jingsheng (geb. 1950), in einer Wandzeitung Deng Xiaoping namentlich kritisiert hatte. Wei und andere Dissidenten des „Pekinger Frühlings“ mussten lange Haftstrafen verbüßen.

Neben der Landwirtschaft und der

Verteidigung zählten zu den von Deng

122 Schmerzvoller Weg bis ins 21. Jahrhundert

Grenzen der Reform: die Niederschlagung der Protestbewegung von 1989

In Peking beteiligten sich zeitweilig über eine Million Menschen an den Protestkundgebungen. Es gelang den Demonstranten, den Tiananmen-Platz wochenlang friedlich zu besetzen. Zu den bekanntesten Gesichtern der Bewegung gehörten die junge Studentin Chai Ling und die gleichaltrigen Studenten Wang Dan und Wu’er Kaixi. Getragen wurde die Bewegung allerdings nicht nur von Studenten, vielmehr nahmen breite Schichten der chinesischen Bevölkerung daran teil, darunter auch Partei- und Staatskader. Als die Parteispitze um Deng Xiaoping, Yang Shangkun (1907 – 1998) und Li Peng schließlich entschied, mit Gewalt gegen die Demonstranten vorzugehen, tat sie dies im Wissen, dass der Einsatz von Armee-Einheiten vor den Augen der internationalen Presse erfolgen würde. Die dramatischen Bilder jener Tage fanden Chancenlos gegen Panzer: Am 3. den Weg in die Weltöffentlichkeit und 4. Juni 1989 beendete das chiund setzten sich in der kollektiven nesische Militär auf dem TiananErinnerung fest. Im heutigen Chimen-Platz in Peking mit Waffengena sind sie jedoch aus der öffentwalt die Proteste der chinesischen lichen Wahrnehmung verschwunDemokratiebewegung. Mehrere den. tausend Menschen wurden getötet.

An der Jahreswende 1986/87 demonstrierten Studenten in 17 Städten an weit über 100 Universitäten für Freiheit und Demokratie. Namhafte Wissenschaftler wie der Astrophysiker Fang Lizhi (1936   –   2012) hatten bereits zuvor scharfe Kritik am sozialistischen Herrschaftssystem geübt. Zur selben Zeit verschlechterte sich die ökonomische Lage, und die Preise für Konsumgüter stiegen teilweise drastisch an. Auch die Studienbedingungen weckten Unzufriedenheit. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich im Frühjahr 1989 die größte Protestbewegung der nachmaoistischen Zeit. Von Peking ausgehend, weiteten sich die Demonstrationen auf über 100 Großstädte aus. Während 50 Tagen wurden auf den von Studenten organisierten Kundgebungen Korruption und Amtsmissbrauch angeprangert und Meinungsfreiheit sowie demokratische Mitsprache gefordert. Deng Xiaoping und der unbeliebte Premierminister Li Peng (1928   –   2019) sollten nach dem Willen der Demonstranten zurücktreten.

123 Grenzen der Reform: die Niederschlagung der Protestbewegung von 1989

Nach der Niederschlagung der Protestbewegung von 1989 wurde China mit internationalen Sanktionen belegt. Bedrohlicher für die Parteiführung wirkten hingegen der Zerfall der Sowjetunion und der Umbruch in den ehemaligen Ostblockstaaten. Diese Ereignisse wurden in China mit großem Aufwand analysiert, um einer ähnlichen Entwicklung entgegenzuwirken. Zu den Schlussfolgerungen gehörte, dass die politische Kontrolle nur auf der Grundlage weiterer ökonomischer Reformen und straffer ideologischer Führung gewährleistet werden konnte. Eine entsprechende Vertiefung des Reformprozesses hatte der hochbetagte Deng Xiaoping 1992 im Anschluss an eine „Reise in den Süden“ durchgesetzt, die längst zum festen Bestandteil der Parteigeschichte gehört. Das ordnungspolitische Modell einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ fand schon im folgenden Jahr Eingang in die Verfassung der Volksrepublik China. Der privatwirtschaftliche Sektor wurde damit gestärkt. Zeitgleich sollte vermieden werden, dass dadurch der Parteistaat von innen heraus geschwächt würde. Bis zum Ende des Jahrtausends zeitigten die marktwirtschaftlichen Reformen und die staatliche Förderung von Wissenschaft und Entwicklung beachtliche Erfolge. China stieg in diesem Zeitraum zu einer internationalen Wirtschaftsmacht auf und trat im Dezember 2001 der Welthandelsorganisation bei. Unter diesen Bedingungen erhöhte sich die gesellschaftliche Mobilität, und zugleich wuchs die Mittelschicht im urbanen China, insbesondere in den reichen Provinzen der östlichen und südlichen Küstenregionen. Eine neue Demokratiebewegung entstand in diesem mittelständischen Milieu jedoch nicht, auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass in den 1990er Jahren in weiten Bevölkerungskreisen immer noch große politische Unzufriedenheit herrschte. Mit dem gewaltsamen Ende der Bewegung von 1989 hatte sich die lähmende Einsicht verbreitet, dass dem Parteistaat offensichtlich selbst mit wochenlangen, landesweiten Protesten nicht beizukommen war. Von politischer Grabesruhe kann dennoch nicht die Rede sein. So häuften sich lokal begrenzte, teils nachbarschaftlich und kommunal organisierte Proteste gegen Behördenwillkür und staatliches Versagen, etwa im Bereich der Korruptionsbekämpfung, der Boden- und Gewässerverschmutzung und der Entschädigung für Enteignungen. Insgesamt kam es dadurch zu einer massiven Zunahme von spontanen oder geplanten Protesten, die durchaus gewaltsame

Aktionen gegen staatliche Einrichtungen einschließen konnten. Die jährliche Zahl solcher Proteste lag um die Jahrtausendwende im höheren fünfstelligen Bereich. In Tibet, wo 1989 nach regierungskritischen Demonstrationen und Ausschreitungen das Kriegsrecht verhängt worden war, gab es 1993 abermals Unruhen. Eine weitere „Autonome Region“, die nicht zur Ruhe kommt, ist Xinjiang. 1990 war dort der Protest muslimischer Bevölkerungsteile militärisch unterdrückt worden. Drei Jahre später flammten erneut Demonstrationen auf, nachdem sich durch die Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken Kirgisistan und Kasachstan neue Kräfteverhältnisse in Zentralasien ergeben hatten. Die Partei unternahm unter Generalsekretär und Staatspräsident Jiang Zemin seit der Mitte der 1990er Jahre große Anstrengungen, um die politische, geistige und emotionale Bindung der Bevölkerung an den Parteistaat zu vertiefen. Dementsprechend lief auch im dritten Jahrzehnt nach Mao die staatliche Ideologieproduktion hochtourig weiter. Hierzu gehört beispielsweise die vom Zentralkomitee der Partei 1996 beschlossene Propagierung der „sozialistischen geistigen Zivilisation“, deren Kernpunkt die Förderung von Patriotismus und Nationalstolz ist. Die Rückgabe der britischen Kolonie Hongkong an China gewann vor diesem Hintergrund große symbolische Bedeutung. Mitunter feiert nun manches, was in Zeiten der „Kulturrevolution“ verteufelt worden war, wahre Urstände, etwa die Wertschätzung des Konfuzianismus. Die Kommunistische Partei selbst erfuhr in den 1990er Jahren ebenfalls eine Umgestaltung. Der „Sozialismus chinesischer Prägung“, den sie sich seither auf die Fahnen schreibt, kommt einer ideologischen Neuausrichtung gleich, die in der „Theorie der Drei Vertretungen“ gipfelte. Diese Doktrin wird Jiang Zemin zugeschrieben und war nach intensiven innerparteilichen Debatten bis 2003 sowohl im Parteistatut als auch in der Verfassung verankert worden. Demnach vertritt die Partei neue gesellschaftliche Schichten, darunter „fortschrittliche Produktionskräfte“, zu denen ausdrücklich auch private Unternehmer gerechnet werden. 80 Jahre nach ihrer Gründung hat sich die Kommunistische Partei Chinas damit offiziell dem alten Klassenfeind geöffnet.

Prof. Dr. Thomas Fröhlich

124 Schmerzvoller Weg bis ins 21. Jahrhundert

Chronologie 13. – 11. Jahrhundert v. Chr.: Die Shang-Dynastie markiert den Beginn der chinesischen Geschichte: Sie hebt sich durch erste schriftliche Quellen von anderen Regionalkulturen ab.

220    –   280: „Zeit der Drei Reiche“: Parallel bestehen die Dynastien der Wei in Nordchina, der Shu-Han im Südwesten und der Wu im Südosten.

etwa 1050  v. Chr.: Die Zhou besiegen die Shang in der Schlacht von Muye.

265    –     420: Nach Zerschlagung der „Drei Reiche“ begründet der Sima-Klan die Westliche JinDynastie, seit 318 dann als Östliche Jin mit Sitz im heutigen Nanjing.

842 –   828  v. Chr.: Eine Gruppe von Adligen übernimmt zeitweise die Herrschaft („Gonghe-Interregnum“). 9. Jahrhundert v. Chr.: Ein markanter Wandel der Bronzekunst bezeugt eine „rituelle Revolution“: Die Ahnenkulte verändern sich. Zugleich entsteht eine homogene Schicht der Fürsten und Würdenträger. 771  v. Chr.: Ende der Zhou-Herrschaft 8.   –    5. Jahrhundert v. Chr.: „Frühling und Herbst“Periode, geprägt durch heftige Konflikte, aber auch das Zusammenwachsen regionaler Herrschaften 551 –     479  v. Chr.: Lebenszeit des Konfuzius um 453   –    221  v. Chr.: Die Zeit der „Streitenden Reiche“ (auch „Kämpfende Staaten“) steht neben zahlreichen Kriegen für einen kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung. 4.   –    3. Jahrhundert v. Chr.: Zum Schutz vor Angreifern errichten verschiedene Herrscher mehrere „Lange Mauern“, die im Lauf der Zeit zur heutigen „Chinesischen Mauer“ ausgebaut wurden.

356    –    589: Es folgt die Zeit der Nördlichen (386   –    580) und Südlichen (420   –   589) Dynastien. Im Norden entstehen zusätzlich die „Sechzehn Reiche der Fünf Barbaren“. 589: Nach mehr als 300 Jahren vereinigt General Yang Jian das geteilte China und gründet als Kaiser Wen die Sui-Dynastie. Der Bau des Kaiserkanals beginnt. 618: Gründung der Tang-Dynastie (618   –   908) unter General Li Yuan. 755: Das Reich der Tang zerfällt mit dem Aufstand des An Lushan. 960    –  1126: Herrschaft der Song-Dynastie 1126: Die Jurchen (tungusische Stämme aus der Mandschurei) erobern die Hauptstadt Kaifeng, nehmen die Song-Kaiser gefangen und besetzen Nordchina. Ein Song-Prinz lässt sich daraufhin in Lin’an, südlich des Yangzi-Flusses, zum Kaiser ausrufen und führt die Dynastie als Südliche Song bis 1279 fort.

221  v. Chr.: Die Qin vereinen die chinesische Welt erstmals in einem Großreich. Ihr Herrscher nimmt den Namen Qin Shi Huangdi, „Erster Erhabener Kaiser von Qin“, an.

1153: Die Jurchen machen Zhongdu (Peking) zur Hauptstadt.

202  v. Chr.: Die Han-Dynastie löst die Herrschaft der Qin ab.

1271: Die Mongolen gründen auf dem Gebiet des heutigen Peking die „Stadt des Khans“, Khanbalik. Hier lebt Marco Polo von 1275 bis 1292.

9    –    23  n. Chr.: Mit dem Interregnum des Wang Mang (Xin-Dynastie) endet das chinesische Altertum. 65: erste schriftliche Erwähnung des Buddhismus spätes 2./3. Jahrhundert: Die Erhebung eigenständiger Machthaber gegen die Zentralmacht führt zur politischen Zerschlagung Chinas für mehr als 300 Jahre.

1234: Die Mongolen unter Dschingis Khan erobern das Reich der Jurchen.

1280: Der Mongole Kublai Khan erringt die Herrschaft über ganz China und begründet die YuanDynastie. 1368    –  1644: Die Ming-Dynastie herrscht über China, nachdem sie Khanbalik erobert hat. 1420 wird Peking erstmals unter einem chinesischen Kaiser zur Hauptstadt. ▶

125

Chronologie 1644: Mandschuren, die von den Jurchen abstammen, erobern Peking und machen es zur Hauptstadt der Qing-Dynastie (1644     –1912). 1796    –  1804: Die Erträge der Landwirtschaft sinken, die Bevölkerung wächst, die Steuerlast steigt. Vor diesem Hintergrund bricht im Zeichen des „Weißen Lotos“ eine Rebellion gegen die QingRegierung aus. 1840    –  1842: Zwischen Großbritannien und China findet der erste Opiumkrieg statt, an dessen Ende die „Ungleichen Verträge“ mit hohen chinesischen Abgabeleistungen stehen. 1850    –  1864: Große Teile des Reiches südlich des Yangzi geraten in die Hände der Taiping-Rebellen – ursprünglich eine christlich inspirierte Bewegung von Land- und Arbeitslosen sowie Angehörigen kleiner Völker. Der Aufstand wird zum Bürgerkrieg, 20 bis 30 Millionen Menschen kommen darin um.

1937: Die Japaner greifen China an. Nachdem sie Peking und Schanghai erobert haben, verüben sie in Nanjing ein Massaker an der chinesischen Bevölkerung. 1945: Mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki enden der Zweite Weltkrieg und die japanische Besetzung Chinas. 1946    –  1949: Chinesischer Bürgerkrieg: Nach dem Sieg der Kommunistischen Partei ziehen sich die von Chiang Kai-shek geführten Truppen der Kuomintang nach Taiwan zurück. 1. Oktober 1949: Mao Zedong ruft die Volksrepublik China aus. 1950    –  1953: Im Koreakrieg unterstützt China Nordkorea. 1958    –  1962: „Großer Sprung nach vorn“: China erlebt eine große Hungersnot, der mindestens 40 Millionen Menschen zum Opfer fallen.

1856    –  1858: Infolge des zweiten Opiumkriegs stimmen die unterlegenen Qing hohen Reparationen, der Legalisierung von Opium und der Öffnung von zehn weiteren Häfen für den Handel zu.

1966    –  1976: Die „Große Proletarische Kulturrevolution“ wirft China gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell zurück.

1894/95: Am Ende des ersten Chinesisch-Japanischen Krieges fällt Taiwan als Kolonie an Japan.

1976: Tod Mao Zedongs. Ein Jahr später wird Deng Xiaoping der starke Mann.

Ende des 19. Jahrhunderts: In den Bildungsschichten des Kaiserreichs fordert man umfassende Reformen für Staat und Gesellschaft.

1980er Jahre: Deng reformiert China nach dem Prinzip der „Vier Modernisierungen“: Landwirtschaft, Industrie, Militär sowie Wissenschaft und Technik.

1900: Aufstand der „Boxer“ gegen die europäische Einflussnahme. Der Kaiserhof flieht aus der Hauptstadt, nachdem Peking von alliierten Truppen besetzt wird. 1911: Nach dem Aufstand von Wuhan erklären 15 Provinzen ihre Unabhängigkeit und läuten damit das Ende der Qing-Dynastie ein. 1912: Am 1. Januar wird die Republik China ausgerufen, im Februar tritt der letzte Qing-Kaiser zurück. 1921: Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) entsteht, daneben gründet Sun Yat-sen die Nationalregierung Kuomintang (KMT) neu. 1932: Die Japaner besetzen die Mandschurei und gründen den Marionettenstaat Manchukuo.

1971: China tritt den Vereinten Nationen bei.

1989: Studenten und Teile der Bevölkerung demonstrieren in mehr als 20 Städten für mehr Freiheit. Die Regierung schlägt die Proteste am 4. Juni auf dem Tiananmen-Platz blutig nieder. 1992: China führt offiziell die „sozialistische Marktwirtschaft“ ein. 1997: Großbritannien gibt Hongkong an China zurück. 2001: China tritt der Welthandelsorganisation (WTO) bei. 2013: Xi Jinping, seit 2012 Generalsekretär der Kommunistischen Partei, übernimmt auch das Amt des Staatspräsidenten der Volksrepublik China.

126 Chronologie

Literatur Das alte China

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Europa entdeckt das Reich der Mitte

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128 Literatur