Chefsache Digitale Nachhaltigkeit: Herausforderungen erkennen - Lösungen umsetzen 3658411589, 9783658411589, 9783658411596

Dieses Fachbuch wurde von sieben Interim Managern, Consultants und erfahrenen Führungskräften geschrieben. Aus vielfälti

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Chefsache Digitale Nachhaltigkeit: Herausforderungen erkennen - Lösungen umsetzen
 3658411589, 9783658411589, 9783658411596

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Lieferketten brauchen Entscheider
1.1 Digitalisierung ist Mannschaftssport
1.1.1 Vom nachhaltigen Widerspruch
1.1.2 Vergleichende Bewertung von Lieferketten
1.2 Entscheidungen
1.2.1 Nicht getroffene Entscheidungen
1.2.2 Die Folgen nicht getroffener Entscheidungen
1.2.3 Umkehr. Die Welt ist genug
1.2.4 Zielkonflikte
1.3 Rückblick
1.3.1 Wachstum in einem Verkäufermarkt
1.3.2 Kundennutzen in den Fokus rücken
1.3.3 Entscheidungsgeschwindigkeit als wettbewerbsdifferenzierender Faktor
1.4 Die integrierte Geschäftsplanung
1.5 Aus der Praxis
1.5.1 Praxisbeispiel 1
1.5.2 Fazit
1.5.3 Praxisbeispiel 2
1.5.4 Kapazitätsplanung
1.5.5 Fazit
1.5.6 Praxisbeispiel 3
1.5.7 Fazit
1.6 Methodenteil
1.6.1 Produktlebenszyklus
1.6.3 Das SIPOC-Diagramm
1.6.4 Die Nutzwertanalyse, Prozess der Entscheidungsfindung
1.6.5 Ishikawa-Diagramm, das Ursache-Wirkungs-Diagramm
1.6.6 Die Vier-Felder-Matrix
1.6.7 Die Prozessbegehung
1.6.8 Fazit
Quellenangabe, zum Beitrag von Ulrike Bertrand
2 Megatrends: Digitale Nachhaltigkeit und Klimaschutz
2.1 Einleitung: Gegenwart verstehen – Zukunft nachhaltig gestalten
2.2 Megatrend: Digitale Nachhaltigkeit
2.2.1 CO2 als Klimakiller
2.2.2 Foodporn: Ruinieren Essens-Bilder wirklich den Planeten?
2.2.3 Handynutzung – mit Suchtpotenzial?
2.3 Die digitale Transformation ist in vollem Gange
2.3.1 Von Managern werden neue Rollenmodelle erwartet
2.3.2 Umdenken – Wahrnehmung und Verhalten ändern
2.3.3 Rahmenbedingungen einer nachhaltigen Digitalisierung
2.4 4.0. KI die Welt erklären
2.4.1 Gesundheitswesen – Roboter helfen in der Pflege
2.4.2 Zukunft im Gesundheitswesen – Veränderung erfordert Wachsamkeit
2.4.3 Zukunftsmarkt Neurotechnologie – das Gehirn programmieren
2.4.4 Wo ist bei Neurotechnologie der digitale Nachhaltigkeitsnutzen?
2.4.5 Der Mensch gewinnt durch KI wertvolle Zeit!
2.4.6 Smarte Services erfordern neue Ideen
2.4.7 Services stehen 7 × 24 h zur Verfügung
2.4.8 KI optimiert Prozesse
2.5 Daten – eine neue Währung
2.6 DSGVO – sensible Daten im Gesundheitswesen haben Priorität
2.7 Defizite der Konzepte
2.8 Chancen und Risiken
2.9 Wie kriegen wir das hin?
2.10 Fazit
Literatur
3 Digital Leadership – Be strict. Focus the non-digital!
3.1 Digital Leadership ist mehr als Technical Excellence
3.2 Die eigentliche Herausforderung von Digitalisierung ist nicht die IT
3.3 Transformation ist CHEFSACHE
3.4 The Human Success Factor – focus on people, not on projects
3.5 Let’s change with emotions – strukturiertes Aktivieren für Veränderung
3.6 Steuerinstrument für den Kapitän der digitalen Veränderung
3.7 Digital Leadership – erfolgreiches Rollenverständnis
3.7.1 Digital Leader halten das Ruder in der Hand
3.7.2 Erfolgreiche Digital Leader führen anders
3.8 Be strict. Veränderung braucht Führung
3.9 Make it happen – die Checkliste für Digital Leadership
3.9.1 Self-Assessment „Wie fit sind Sie als Digital Leader“
3.9.2 Assessment des digitalen Transformationsprojekts
3.10 Wie Digitalisierung dank Leadership mehr als die Summe Ihrer Software Features wird
3.11 Anführer gesucht
Literatur
4 Fallstricke und Möglichkeiten anhand von Praxisbeispielen (Untertitel)
4.1 Lange Planung oder schneller Livegang?
4.1.1 Bei der Planung alle Prozessschritte berücksichtigen
4.1.2 Just do it!
4.2 Digitalisierung all-inclusive
4.2.1 Geschäftsmodell und Firmenstrategie anpassen
4.2.2 Digitalisierung beginnt beim ERP und Stammdatenmanagement
4.2.3 Moderner Führungsstil und Fehlerkultur
4.2.4 Kunden und Lieferanten in die Prozessgestaltung einbeziehen
4.2.4.1 Was der Kunde braucht
4.2.4.2 Was der Lieferant leisten kann
4.2.4.3 Schnittstellen und Datenaustausch
4.2.5 Mit digitalen Lösungen die Vorteile von Serien- und Projektgeschäft gewinnbringend konsolidieren
4.3 Automatisierung und Tools
4.3.1 ERP nach Maß gesucht
4.3.2 Projektmanagement-Tools
4.3.3 Das IoT und Cloud-Anwendungen
4.3.4 Der digitale Zwilling
4.3.5 Virtual Reality (VR)
4.3.6 Künstliche Intelligenz (KI)
4.3.7 3-D-Druck
4.3.8 Automatisierung
4.4 Fazit
5 Wertschöpfung für Gewinner
5.1 Herausforderung Unternehmensumfeld
5.1.1 Die VUCA-Welt
5.1.2 ESG (Environmental – Social – Governance)
5.2 Klimaschutz
5.3 Kreislaufwirtschaft
5.4 Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG)
5.5 Entwicklung und Wertschöpfung im VUCA- & ESG-Umfeld
5.6 Die Arbeitsschritte zum Aufbau einer nachhaltigen erfolgreichen Wertschöpfungskette
5.6.1 Schritt 1: Kundenorientierung – Wertbeitrag und Wertschöpfung
5.6.2 Schritt 2: Selbstverständnis – das eigene Geschäftsmodell
5.6.2.1 Das Delta-Modell
5.6.2.2 Plattformökonomie und Ökosysteme
5.6.3 Schritt 3: Produktidee und erwarteter Kundennutzen
5.6.4 Schritt 4: Verkaufsmodell und Finanzierung
5.7 Erfolgskritische Faktoren
5.7.1 Mehrfachnutzen & Kreislaufwirtschaft
5.7.2 Ressource Wertschöpfungspartner
5.8 Vertrauen und Kooperationswille der Wertschöpfungspartner
5.8.1 Kundenfokussierung aller Beteiligten
5.8.2 Risikomanagement und Resilienz
5.8.3 Der Vertrieb als Kundenbarometer
5.8.4 Wertbeitrag für den Kunden: Planung der Wertschöpfungskette
5.8.5 Arbeit am eigenen Unternehmen
5.8.6 Wertbeitrag Lieferanteninnovationen
5.8.7 Zukauf von Komponenten, Teilen & Dienstleistungen
5.8.8 Wertschöpfungspartnerschaft managen
5.9 Fazit
Literatur
6 Digitalisierung liefern, Klima schützen
6.1 Ausgangssituation: Nur analog war einmal
6.2 „Digital“ und „Nachhaltig“ konkret werden
6.3 IoT: Eine vernetzte Welt von Maschinen
6.3.1 Gegenüberstellung Industrie 4.0 und IoT
6.3.2 Die Reifegradstufen für eine IoT-fähige Maschine
6.4 Einen wirtschaftlichen Mehrwert durch IoT schaffen
6.4.1 Die verschiedenen Maßnahmen zur Effizienzsteigerung
6.4.2 Lebenszykluskosten als Empfehlung bei einer Kostenrechnung
6.5 Besser nachhaltig als nachlässig digitalisieren
6.5.1 Ökologische Nachhaltigkeit: Es geht um Ressourceneffizienz
6.5.2 Welches Darstellungsmodell für die Nachhaltigkeit?
Literatur
7 Zur Nachhaltigkeit und ihrer Umsetzung
7.1 Die Grundsätze der digitalen Nachhaltigkeit
7.1.1 Was ist der Brundtland-Report
7.1.2 Was ist ein Grundsatz
7.2 Was sind die Grundsätze der digitalen Nachhaltigkeit
7.2.1 Grundsatz 01. Ausgereift
7.2.2 Grundsatz 02. Transparente Strukturen
7.2.3 Grundsatz 03. Semantische Daten
7.2.4 Grundsatz 04. Verteilte Standorte
7.2.5 Grundsatz 05. Freie Lizenz
7.2.6 Grundsatz 06. Geteiltes Wissen
7.2.7 Grundsatz 07. Partizipationskultur
7.2.8 Grundsatz 08. Faire Führungsstrukturen
7.2.9 Grundsatz 09. Breit abgestützte Finanzierung
7.2.10 Grundsatz 10. Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung
7.2.11 Korrelation und Kausalität oder doch Interdependenz?
7.2.12 Gedankenexperiment zur Vorgehensweise
7.2.13 Zur Ausganglage
7.2.14 Zum Projektplan
7.2.15 Wie weiter?
7.3 Analyse
7.4 Fazit
Weiterführende Literatur

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Peter Buchenau Hrsg.

Chefsache Digitale Nachhaltigkeit Herausforderungen erkennen – Lösungen umsetzen re 10 Jah che Chefsa

Chefsache Reihe herausgegeben von Peter Buchenau, The Right Way GmbH, Oberterzen, Schweiz

Die Management-Reihe „Chefsache“ beschäftigt sich mit Führungsthemen und Aufgabengebieten, die für die Führungskräfte von Morgen wichtig sind. Neben klassischen Themen wie Organisation, Führung, Human Ressource Management oder Vertrieb nehmen Gender-, Diversity- und Gesundheitsthemen oder Soft Skills eine besondere Stellung ein – laut dem Institut für Führungskultur im digitalen Zeitalter sind dies jene wichtige Faktoren für ein erfolgreiches Agieren am Markt. Das Führungsverhalten wird sich demnach in den nächsten Jahren massiv verändern. Künftige Chefs, die sich deren Relevanz bewusst sind, sie verstehen und berücksichtigen, werden zu den Gewinnern von Morgen gehören. Die Chefsache-Reihe besteht aus Autoren- und Herausgeberwerken. Erfolgreiche Manager bringen ihre Erfahrungen ein und bieten den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit, sich Fachwissen anzueignen und im eigenen beruflichen Kontext umzusetzen. Peter Buchenau als Initiator der Chefsache-Serie lädt regelmäßig Führungskräfte aus unterschiedlichsten Institutionen ein, ihre Expertise in der Buchreihe auf verständliche und anschauliche Weise umsetzungsorientiert einzubringen. Die Fachbücher sind Werke von Profis für Profis, aus der Praxis für die Praxis. Zur Zielgruppe zählen Führungskräfte der zweiten und dritten Führungsebene in Konzernen, Unternehmer im klein- und mittelständischen Bereich sowie Selbstständige.

Peter Buchenau (Hrsg.)

Chefsache Digitale Nachhaltigkeit Herausforderungen erkennen – Lösungen umsetzen

Hrsg. Peter Buchenau Waldbrunn, Deutschland

ISSN 2730-6887 ISSN 2730-6895  (electronic) Chefsache ISBN 978-3-658-41158-9 ISBN 978-3-658-41159-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-41159-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Isabella Hanser Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Nachhaltigkeitsexperten. Digitale Strategen. Erfolgsaktivisten. – Digitale Nachhaltigkeit im Interim Management Von Dr. Marei Strack, Vorstandsvorsitzende, DDIM e. V. Interim Manager werden in den Medien oftmals als „Manager auf Zeit“ bezeichnet: Interim-Experten sind jedoch weit mehr als „Lückenbüßer“. Sie sind Nachhaltigkeitsexperten, digitale Strategen und vor allem Erfolgsaktivisten. Als Nachhaltigkeitsexperten gehen sie planvoll und zielgerichtet in Unternehmen und verwirklichen nachhaltige Strukturen und Prozesse, von denen Menschen, Unternehmen und Umwelt gleichermaßen profitieren. Als digitale Strategen setzen sie wiederum innovative Digitalisierungsprozesse in Gang, bei denen Manpower und Automation zu einer hocheffizienten Einheit zusammenwachsen. Und als Erfolgsaktivisten ermöglichen sie maximale Wertschöpfung bei minimalem Aufwand. In jeder Krise sehen die modernen Führungspersönlichkeiten die Chance für nachhaltige Verbesserung. Mit dem übergeordneten Ziel, Unternehmen zu mehr Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu befähigen, setzen sie ihr einzigartiges Praxiswissen in Effizienz und Erfolg um. Ihr Wissen resultiert aus nationaler und internationaler Führungs- und Projekterfahrung in kleineren und mittleren Unternehmen oder auch Konzernen. Dabei wird ihr „Skill-Koffer“ zwar immer voller, aber nie schwerer. Mit einer unvergleichbaren Leichtigkeit sowie einer umfassenden Fach- und Führungskompetenz stellen sie sich scheinbar unlösbaren Unternehmensszenarien, verschaffen sich innerhalb kürzester Zeit einen Überblick und intervenieren planvoll, nachhaltig und ergebnisorientiert. Interim Management in Zahlen Über 11.500 Interim Manager sind in Deutschland auf den oberen Führungsebenen aktiv. Die Aufgabenfelder und Branchen könnten vielfältiger nicht sein. Laut Prognoseumfrage der Dachgesellschaft Deutsches Interim Management e. V. (DDIM), durchgeführt über den Jahreswechsel 2022/2023, waren die meistgefragten Aufgabenstellungen für Interim Manager Change Management, Projektmanagement, Prozessoptimierung,

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Vorwort

Geschäftsführung sowie Restrukturierung/Sanierung und Kostenreduktion.1 Die meisten Interim-Mandate wurden in den Branchen Automotive, Maschinen- und Anlagenbau, Bauindustrie sowie Elektrotechnik vergeben.2 Die Erwartungen für 2023 decken sich annähernd mit den Ist-Werten aus 2022. Eine Nachfragezunahme, wenn auch auf niedrigerem Niveau als in den Top-Branchen, wird in den Branchen Gesundheitswesen/Healthcare, Energie sowie Regenerative Energien/Umwelttechnik erwartet.3 Das Gesamtmarktvolumen lag im Jahr 2022 bei 2,5 Mrd. €. Für 2023 wird ein Anstieg auf 2,75 Mrd. € erwartet.4 Das verwundert nicht: Der Mehrwert, den Interim Manager für Unternehmen generieren, übersteigt die eingesetzten Kosten oftmals um ein Vielfaches. Laut der Studie Interim Management-Marktgeschehen 2022 der Ludwig Heuse GmbH beträgt der Return on Interim Management (RoIM) bei einem Fünftel der Interim-Projekte das Zehnfache des finanziellen Aufwands.5 In kürzester Zeit erkennen und nutzen Interim Manager Einsparpotenziale und bauen neue Kompetenzen auf, die selbst großen, langsamen Unternehmen eine enorme Schubkraft verleihen. Viele Entscheidungsträger auf Kundenseite sind sich des RoIM zunehmend bewusst, weshalb sie vor Tagessätzen von durchschnittlich knapp 1.300 Euro, aber auch bis zu 2500 € nicht zurückschrecken. Das war vor zehn Jahren noch anders. Doch heute wissen viele Unternehmen um den Mehrwert von Interim Management. Für die DDIM eine erfreuliche Erkenntnis, denn sie ist auch das Ergebnis jahrelanger Verbandsarbeit auf wirtschaftlicher und politischer Ebene. Das Nadelöhr der Branche: Dachgesellschaft Deutsches Interim Management e. V. Die DDIM ist der führende Wirtschafts- und Berufsverband für Interim Management in Deutschland. Sie agiert als Interessenvertretung für ihre Mitglieder sowie als Stimme der Branche. Eine besonders wichtige Aufgabe des Verbandes besteht darin, die unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten von Interim Managern aufzuzeigen. Denn: Der Einsatz eines Managers auf Zeit muss gut geplant sein, insbesondere im Hinblick auf die Aufgabenstellung, die Zieldefinition, die erforderlichen Kompetenzen sowie die rechtssichere Vertragsgestaltung. Hier unterstützt die DDIM und stellt ihren Mitgliedern rechtssichere Musterverträge für einen unkomplizierten Mandatsabschluss zur Verfügung. Als Dachverband setzt die DDIM die Standards: Um der Kundenseite höchstmögliche Transparenz zu bieten, durchlaufen neue Mitglieder einen definierten, mehrstufigen

1

vgl. Prognoseumfrage der Dachgesellschaft Deutsches Interim Management e. V. (DDIM); durchgeführt im Januar 2023. 2 ebd. 3 ebd. 4 ebd. 5 Cropp, M., Rupp, J. (2022). Interim Management-Marktgeschehen 2022. Studie zur D-A-CH Region. Ludwig Heuse GmbH interim-management.de. S.16.

Vorwort

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Aufnahmeprozess. In diesem Sinne entwickelt die DDIM Qualitätskriterien, die Interim Manager vor der Aufnahme in den Verband zwingend erfüllen müssen. Alle Mitglieder der DDIM unterstehen einem verbindlichen Ehrenkodex, den sie mitentwickelt haben. Danach verpflichtet sich jedes DDIM Mitglied dazu, seine Entscheidungen und Handlungen am Wohlergehen des beauftragenden Unternehmens, dessen Mitarbeitern und Gesellschaftern, unter Einhaltung des Ehrenkodex der DDIM auszurichten. Um diese Standards zu erreichen, unterstützt und fördert die DDIM ihre Mitglieder durch kontinuierlichen Wissenstransfer und diverse Weiterbildungsangebote. Auch fördert die DDIM den Dialog und das Netzwerken: Als branchenweite Plattform bringt die DDIM Interim Manager, Interim Management Provider, Kundenunternehmen sowie wichtige Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft auf Kongressen und Events zusammen – seit 2020 auch vermehrt im digitalen Format. In den DDIM Fachgruppen organisieren sich Interim Manager aus ähnlichen Fachrichtungen oder mit ähnlichen Branchenschwerpunkten, um Erfahrungswissen zu teilen, Know-how aufzubauen und Kunden einen noch größeren Mehrwert zu bieten. Was bedeutet nun „digitale Nachhaltigkeit“ im Interim Management? Mit ihrem neuen Buch aus der Reihe „Chefsache“ von Peter Buchenau zeigen die Interim Manager und DDIM Mitglieder Ulrike Bertrand, Elmar R. Gorich, Matthias Koppe, Dr. Eberhard Müller, Guido von Rohr sowie Change-Beraterin Petra Kopp als Gastautorin auf, inwieweit sich die Bedeutung von Interim Management durch die zunehmende Digitalisierung von Markt- und Geschäftsfeldern erneut verändert hat und welche Relevanz dieser Wandel für Interim Manager hat, die nicht nur digitale, sondern vor allem auch nachhaltige Lösungen anstreben. Der Beitrag von Ulrike Bertrand wendet sich an die Entscheider in Unternehmen und nimmt sie in die Pflicht, zielgerichtet an der beschlossenen Unternehmensstrategie entlang übergreifende Sales- und Operation-Planning-Prozesse (S&OP) aufzusetzen sowie strukturelle Entscheidungen zu treffen. Ebenso wendet sich das Kapitel Lieferketten brauchen Entscheider aber auch an interessierte Leser, die bisher nicht in solche Entscheidungsprozesse eingebunden wurden, um deren Verständnis zu ermöglichen. Im zweiten Teil des Beitrags werden Methoden erörtert, die auf dem Weg zur integrierten Geschäftsplanung und zum Aufbau bzw. Umbau einer nachhaltigen digitalen Lieferkette gute Unterstützung leisten. In seinem Kapitel Megatrends: Digitale Nachhaltigkeit und Klimaschutz beleuchtet Elmar R. Gorich die Chancen und Risiken einer zunehmend voll digitalisierten Welt. Die Entwicklung des Konsumverhaltens und der Wertesysteme der Menschen erforderten aus Sicht des Experten neue Rollenmodelle und Kommunikationsformen – sowohl für Politiker als auch für Manager. Die Schlagworte für moderne Führung lauten hier: agile Führung und Leadership, nachhaltige Ausrichtung der Unternehmen und psychosoziale Empathie.

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Vorwort

Eine methodische und strategische Herleitung der Rolle eines Change und Transformation Managers liefert Petra Kopp in ihrem Beitrag Digital Leadership – Be strict. Focus the non-digital! und zeigt dabei auf, welche Rolle konsequente C-Level-Führungsarbeit und elementare Soft Skills für unternehmerisch erfolgreiche Transformation spielen. Mit einem mentalen und methodischen Self-Assessment für Führungskräfte erfährt der Leser, wie er sich für seine Rolle als Change Leader mental und methodisch „gut aufstellen“ kann. Die Fallstricke und Möglichkeiten von Digitalisierung stellt Matthias Koppe anhand von Praxisbeispielen in seinem Kapitel vor. Entgegen dem blinden Aktionismus vieler Unternehmen präsentiert der Interim Manager in seinem Beitrag fundierte, praxisorientierte und nachhaltige Digitalisierungslösungen. Laut dem DDIM Fachgruppenkoordinator Dr. Eberhard Müller müssen alle Organisationsebenen der gleichen Mission folgen und die gleiche Unternehmensstrategie selbstständig umsetzen, um ein Unternehmen zu nachhaltigem Erfolg zu führen. In seinem Kapitel Wertschöpfung für Gewinner erörtert der Interim-Experte zusätzliche Anforderungen an Klimaschutz, Menschenrechte und Governance, die aus seiner Sicht mehr Nähe zu Wertschöpfungspartnern erfordern. Im Kapitel Digitalisierung liefern. Klima schützen. erörtert Guido von Rohr, welchen Beitrag zur ökologischen Nachhaltigkeit ein Industrieunternehmen durch digitale Technologien leisten kann. Der Beitrag des Interim Managers versteht sich als Motivation für alle Verantwortlichen aus Wirtschaft und Politik, um Potenziale für eine ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit durch digitale Technologien zu erkennen und umzusetzen. Dieses Buch steht für Best Practice sowie „state-of-the-art“ Fach- und FührungsKnow-how. Aus unserer Sicht trägt jedes Kapitel signifikant zu mehr Wissenstransfer und Austausch im Interim Management bei. Die Autoren geben uns tiefe Einblicke in die Vielschichtigkeit und teilweise noch unausgeschöpften Potenziale der Branche. Überdies erfahren die Leser, dass Interim Manger weitaus mehr sind als nur „Freelancer auf der Chefetage“. Sie sind Krisenmanager, Entscheider, Klimaexperten, Digitalisierer, agile Ökologen, Strategen und Empathen; und sie funktionieren auch dann noch, wenn intern bereits „die weiße Fahne gehisst“ wurde. Wir bedanken uns im Namen der gesamten DDIM für die wertvollen Beiträge der Autoren, die mit dem Fachbuch Digitale Nachhaltigkeit: Herausforderungen erkennen – Lösungen umsetzen entscheidend dazu beitragen, Interim Management – für Auftraggeber, Politiker und andere Stakeholder – noch bekannter und verständlicher zu machen. Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht Ihnen Dr. Marei Strack (Vorstandsvorsitzende, DDIM e. V.)

Inhaltsverzeichnis

1 Lieferketten brauchen Entscheider. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ulrike Bertrand 2 Megatrends: Digitale Nachhaltigkeit und Klimaschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Elmar R. Gorich 3 Digital Leadership – Be strict. Focus the non-digital!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Petra Kopp 4 Fallstricke und Möglichkeiten anhand von Praxisbeispielen (Untertitel). . . 87 Matthias Koppe 5 Wertschöpfung für Gewinner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Eberhard Müller 6 Digitalisierung liefern, Klima schützen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Guido von Rohr 7 Zur Nachhaltigkeit und ihrer Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Ludger Wiedemeier

IX

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über den Herausgeber Peter Buchenau  „Mr. Chefsache“ und Experte für den privaten und beruflichen Neuanfang im deutschsprachigen Raum, ist ein Mann von der Praxis für die Praxis. Er gibt Tipps vom Profi für den Profi – unabhängig ob Selbstständiger, Freiberufler oder Angestellter. Früher war er selbst Manager und Geschäftsführer in namhaften Unternehmen wie Ciba-Geigy, MANOR, Unisys oder eibe. Heute ist er Fach- und Führungskräftekünstler (Trainer, Berater, Coach, Redner), mehrfacher Autor und Herausgeber, Comedian und Dozent an zwei Hochschulen. Peter Buchenau begleitet Sie bei der Umsetzung Ihres Weges, damit Sie Spuren hinterlassen – Spuren, an die man sich noch lange erinnern wird. In seinen über 30 Büchern und unzähligen Keynote-Vorträgen verblüfft er die Teilnehmer mit seinen einfachen und schnell nachvollziehbaren Praxisbeispielen. Er versteht es vorbildlich, ernste und kritische Sachverhalte so unterhaltsam und kabarettistisch zu präsentieren, dass die emotionalen Highlights und Pointen zum Erlebnis werden. Als Autoren-Scout und Literaturagent hat er schon über 200 Autoren zum eigenen Buch verholfen. Zudem steht er über 150-mal pro Jahr mit seiner Comedy-Kabarett-Show „Männerschnupfen“ auf der Theaterbühne. Das bedeutet: Präsenz, Wirkung und Sichtbarkeit vom Feinsten! Mehr auf: https://peterbuchenau.de https://buchenau-comedy.de XI

XII

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis Ulrike Bertrand  Moving Supplies GmbH, Buchholz, Deutschland Elmar R. Gorich  EGO-Consulting/Advisory & Management Services, Menden/Sauerland, Deutschland Petra Kopp  Veränderungswerkstatt, München, Deutschland Matthias Koppe  Matthias Koppe – Digitalisierung im Mittelstand, Hamburg, Deutschland Eberhard Müller Dr. Müller Interim Management & Beratung, Darmstadt, Deutschland Guido von Rohr  FAGUS Management, Landkreis Rosenheim, Deutschland Ludger Wiedemeier  LWRC Consult, Steinheim, Deutschland

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1.1 Abb. 1.2

Vergleichende Bewertung zweier oder mehrerer Lieferketten.. . . . . . . . 4 Benötigte Erden bei Annahme eines globalen Lebensstils der dargestellten Länder. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Abb. 1.3 Funktions- und Prozessorientierung und ihre Auswirkung auf den Prozessablauf. (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Abb. 1.4 Die Ausrichtung der Struktur in Unternehmen folgt dem Prozess. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Abb. 1.5 Prozessziele mit den Zielen des Unternehmens verknüpfen. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Abb. 1.6 Schematische Darstellung der Supply Chain Performance. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Abb. 1.7 Ausrichtung der Prozesse auf den Kundennutzen und deren Wirkung. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Abb. 1.8 Fortgeschrittene integrierte Planung durch verschiedene ineinandergreifende Planungshorizonte. (Eigene Darstellung) . . . . . . . 13 Abb. 1.9 Entkoppelte Planungsabteilungen. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . 20 Abb. 1.10 SIPOC-Beispiel Teezubereitung. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . 25 Abb. 1.11 Ursache-Wirkungsanalyse im Ishikawa-Diagramm. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Abb. 1.12 Prozessmanagement. (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Abb. 2.1 Quelle vom 22.5.22/17:17 Uhr: https://www.bundesregierung.de/ breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/die-un-nachhaltigkeitsziele. . . . 34 Abb. 2.2 Quelle: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/technologie/ rechenzentren-energiebedarf-101.html. Der jährliche Energiebedarf der Server und Rechenzentren bzw. Rechenzentrumsstruktur in Deutschland für die Jahre 2010 bis 2020. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Abb. 2.3 Eigene Darstellung/CO2-Fußabdruck pro Kopf in Deutschland. (Quelle: www.google.com/. Zugriff 30.04.22/19 Uhr). . . . . . . . . . . . . . 37 Abb. 2.4 Eigene Darstellung. (Angelehnt an Michael Jakob, Digitalisierung und Nachhaltigkeit, S. 27) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 XIII

XIV

Abb. 3.1 Abb. 3.2 Abb. 3.3 Abb. 5.1 Abb. 5.2 Abb. 5.3 Abb. 6.1 Abb. 6.2 Abb. 6.3

Abb. 6.4 Abb. 6.5 Abb. 6.6 Abb. 6.7 Abb. 6.8 Abb. 6.9 Abb. 6.10 Abb. 6.11 Abb. 6.12 Abb. 6.13

Abbildungsverzeichnis

Veränderungstreppe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Change Splash. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Team Canvas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Kreislaufwirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Produkt-Life-Cycle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Delta-Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Wandel der Wirtschaftswelt. (Quelle: Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . 134 Zielkonflikte der Digitalisierung. (Quelle: Eigene Darstellung). . . . . . . 136 Wertschöpfungskette und Handlungsfelder der Energiewende. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Leitfaden für effiziente Energienutzung in Industrie und Gewerbe 2009, S. 9). . . 138 Energieeffizienzpotenziale in Industrie und Gewerbe. (Quelle: DENA 2015). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Drei-Ebenen-Modell der Eingrenzung bei Digitalisierungsprojekten. (Quelle: Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Google Trends Digitalisierung (aufgerufen am 01.05.2022) . . . . . . . . . 141 Google Trends Digitalisierung (aufgerufen am 01.05.2022) . . . . . . . . . 142 IoT und Industrie 4.0 Gegenüberstellung. (Quelle: Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 IoT-Stufenmodell der Digitalisierung. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an den Leitfaden Industrie 4.0 des VDMA). . . . . . . . . . . . . 145 Übersicht Nutzungsphase mit Teilprozessen und Kostentreibern. (Quelle: Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Doppelseitige Effekt der Ressourceneffizienz. (Quelle: Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Übersicht Beitrag von IoT für Ökonomie und Ökologie. (Quelle: Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Schnittmengenmodell der Nachhaltigkeit. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an u. a. Bergmann und Daub). . . . . . . . . . . . 157

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Lieferketten brauchen Entscheider Wer Zielkonflikte nicht entscheidet, leidet Ulrike Bertrand

Fazit

In diesem Beitrag erfährt der Leser wie Lieferketten als Teil eines digital unterstützten oder basierten Geschäftsmodells risikoarm aufgesetzt werden und welche Methodiken dabei Anwendung finden können. Welche Voraussetzungen Nachhaltigkeit benötigen, wird erörtert. Der Beitrag wendet sich an die Entscheider in Unternehmen und nimmt sie in die Pflicht, zielgerichtet an der beschlossenen Unternehmensstrategie entlang übergreifende Sales- und Operation-Planning-Prozesse (S&OP) aufzusetzen und strukturelle Entscheidungen zu treffen. Es wird beschrieben, wie unter Berücksichtigung einer digitalen Schnittstellenkommunikation ein strategisches Rahmenwerk mittels wertschöpfender Prozesse in Planung umgesetzt wird. Genauso wendet sich dieser Beitrag aber auch an interessierte Leser, die bisher nicht in solche Entscheidungsprozesse eingebunden wurden, um deren Verständnis zu ermöglichen. Der Beitrag geht in Beispielen auf mögliche Organisationsformen je nach strategischer Ausrichtung ein sowie auf Fallen und Widersprüche, mit denen Entscheider zu kämpfen haben. Er zeigt an drei konkreten Beispielen aus der Praxis Situationen auf, in denen klare Entscheidungen gefragt sind und Nicht-Entscheidungen zu später fatalen, nicht nachhaltigen „Lösungen“ führen. Der Beitrag zeigt auf, dass es nicht den einen, richtigen Weg gibt, aber für eine bestimmte Unternehmensausrichtung Pfade, die mit hoher Sicherheit zu optimalen nachhaltigen digitalen Lieferketten führen. Es wird hergeleitet, warum für eine nach-

U. Bertrand ()  Moving Supplies GmbH, Buchholz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Buchenau (Hrsg.), Chefsache Digitale Nachhaltigkeit, Chefsache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41159-6_1

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haltige Digitalisierung eines Unternehmens der Materialfluss und die Wertschöpfung in den Daten eines ERPs (Enterprise Resource System oder Warenwirtschaftssystem) stets nachvollziehbar und verfolgbar sein müssen und dass die Mitarbeiter ihren eigenen Anteil daran kennen sollten. In Abschn. 1.6 dieses Beitrags werden einige Methoden erörtert, die auf dem Weg zur integrierten Geschäftsplanung und dem Aufbau bzw. Umbau zu einer nachhaltigen digitalen Lieferkette gute Unterstützung leisten.

1.1 Digitalisierung ist Mannschaftssport Eine digitale, nachhaltige Lieferkette ist die Königsdisziplin. Unternehmensübergreifende Zusammenarbeit in Lieferketten geht über das Teilen von Wissen und Informationen deutlich hinaus, es benötigt einen ganzheitlicheren Ansatz zwischen Kunden und Lieferanten, die prozessorientierte Einbindung aller Mitarbeiter, eine solide strategische Arbeit, die Erarbeitung von relevanten Handlungsoptionen, fähige Teams und vor allem klare Entscheidungen. Gemeint sind hier Entscheidungen, die den Rahmen und die Struktur für die Operative vorgeben und den Mitarbeitern die Bearbeitung der Prozesse entlang des Wertstromes ermöglichen. Dieses komplexe Themengebiet erfordert Chefs mit einem bestimmten Mindset, es ist Chefsache. Zudem benötigt es auch die gesamte Mannschaft, wie hier im Einzelnen erörtert werden wird. Wie kann man Nachhaltigkeit in einer Lieferkette erzeugen? Indem man das Angebot konsequent sowohl am Kundennutzen als auch strikt nachfragegesteuert ausrichtet. Daran kann und muss jeder einzelne Mitarbeiter – wenn auch zu unterschiedlichen Anteilen – in einem Unternehmen beteiligt sein. Unternehmen, in denen die Mitarbeiter darüber Transparenz haben, sind durchweg sehr erfolgreich.

1.1.1 Vom nachhaltigen Widerspruch Es scheint einen Bewusstseinswandel gegeben zu haben, zumindest wenn man in die IAB Studie1 schaut. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) hat knapp 16.000 Unternehmen befragt: „Wie wichtig sind ökologische Nachhaltigkeit und Umweltschutz in Ihrer Geschäftstätigkeit?“ Das Ergebnis wurde 2019 veröffentlicht (IAB Forschungsbericht 2019). Für 53 % der Unternehmen ist Nachhaltigkeit ein bedeutsames Thema, ein Drittel sah es als weniger wichtig an. Findet man hier den Bewusstseinswandel hin zu nachhaltigem Handeln bestätigt? Möglich. Es könnte sich aber auch um Lippenbekenntnisse handeln, denn in vielen – geschäftlichen, gesellschaftlichen und privaten – Bereichen gehen Wachstum und steigende Lebensqualität immer noch mit einem steigenden Ressourcenverbrauch einher!

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Die Zahlen zum weltweiten Paketaufkommen beispielsweise steigen kontinuierlich. Der Pitney Bowes Parcel Shipping Index misst das globale Paketvolumen und hat im Jahr 2019 erstmalig über 100 Mrd. versendete Pakete registriert, im Jahr 2020 waren es bereits 131 Mrd. Stück und im Jahr 2022 wurden gesamt 161 Milliarden Pakete global versendet. Diese Zahl entspricht 5102 versendeten Paketen pro Sekunde, im Jahr 2020 wurden in jeder Sekunde 4160 Pakete ausgeliefert, im Jahr davor waren es 3248 Stück.1 Der Pitney Bowes Parcel Shipping Index wertet den Paketversand von 13 wichtigen Märkten aus und umfasst alle Paketsendungen unabhängig davon, ob es private oder geschäftlich veranlasste Sendungen sind. Diese Märkte sind Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Norwegen, Schweden, Australien, Brasilien, China, Indien, Japan, Kanada und die USA. Zusammen repräsentieren diese Märkte in etwa 3,85 Mrd. Menschen, also ca. die halbe Erdbevölkerung. Auch in Deutschland hat sich das Paketaufkommen in den letzten Jahren sehr rasant entwickelt bis hin zu einer Verdoppelung in kurzer Zeit. In 2020 wurde mit 4,1 Mrd. Paketen erstmals die Vier-Milliarden-Marke überschritten, das entspricht 49 Paketen pro Kopf, im Vergleich dazu waren es im Jahr 2019 44 Stück. Bereits im darauffolgenden Jahr 2021 stieg das Paketvolumen pro Kopf in Deutschland auf über 50 an, im Jahr 2022 wurden 4,2 Milliarden Pakete verschickt, empfangen oder retourniert. Die Prognose der Experten sieht für die nächsten Jahre weiterhin ein signifikantes Wachstum vor. Schaut man sich beispielsweise die Zahlen aus China an, wird diese Einschätzung rückblickend richtig gewesen sein: Zwischen 2017 und 2022 wuchs das chinesische Paketvolumen mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 23 Prozent. Diese Daten zeigen, dass die Nachhaltigkeitsbestrebungen noch ein großes Potenzial nach oben haben und der Ressourcenschonung entgegenstehen.

1.1.2 Vergleichende Bewertung von Lieferketten In der Presse sieht man immer wieder Überschriften von Artikeln, wie z. B. funktionieren unsere Lieferketten noch? Oder „lohnen sich globale Lieferketten noch?“ (Willy C. Chih, Harward Business Manager 2022). Diese Texte enden meist mit dem Fazit, dass ein neues Zeitalter angebrochen sei und man nun Anderes oder Weiteres zu berücksichtigen habe. Dabei hat es Störungen 1 Pitney

Bowes Inc. (NYSE: PBI), ein globales Technologieunternehmen und Anbieter von Geschäftslösungen in den Bereichen E-Commerce, Paketversand, Postverarbeitung, Daten und Finanzdienstleistungen Der Pitney Bowes Parcel Shipping Index wertet den Paketversand von 13 wichtigen Märkten aus: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Norwegen, Schweden, Australien, Brasilien, China, Indien, Japan, Kanada und die USA. Zusammen repräsentieren die Märkte 3,85 Mrd. Menschen. Seit 2015 wird der jährliche Index basierend auf unternehmenseigenen und öffentlich zugänglichen Daten erstellt und hat sich zu einem anerkannten Branchenstandard entwickelt.

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Abb. 1.1   Vergleichende Bewertung zweier oder mehrerer Lieferketten.

in Lieferketten schon seit jeher gegeben, seien es Vulkanausbrüche, die den Flugverkehr lahmlegten, Umweltereignisse wie das Ahrtalhochwasser, global sich ausbreitende Viren wie SARS oder Covid-19, die Blockade des Suezkanals oder der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, um nur mal einige wenige zu nennen. Für uns Supply Chain Professionals sind es Störungen, die vorkommen und immer vorkommen werden. Man weiß nicht so genau, wann die Störungen auftreten und wie genau (lokal, global/einzelne, alle Branchen), aber gewiss ist, dass Störungen kommen! In diesem Zusammenhang ist wichtig, sich mit den möglichen Risiken innerhalb der eigenen Lieferkette und denen der Vorlieferanten auseinanderzusetzen und die Risiken in den gesamten Ketten zu managen. Mit welchem doch sehr einfachen Handwerkszeug man sich darauf am besten vorbereiten kann, wird in den folgenden Abschn. 1.2 dargelegt. Zur Einordnung von Begrifflichkeiten zunächst zur Frage, ob man die Lieferketten z. B. zweier im Wettbewerb stehender Unternehmen vergleichen und bewerten kann? Ja, das ist möglich, wenngleich die Skala nicht standardisiert ist. Die Bewertung würde in etwa so aussehen, wobei das Level 3 alle vorherigen Zustände einschließt (Abb. 1.1).

1.2 Entscheidungen Manager werden für das Treffen von Entscheidungen bezahlt, dazu führen diese in der Regel organisatorische Einheiten, die den Entscheidungsprozess unterstützen. Im besten Fall sind die Rahmenbedingungen und Kriterien, nach denen wie zu entscheiden ist, nicht nur jedem Mitarbeiter klar und transparent, sondern auch die Grundlage ihres täglichen Tuns. So weit, so gut. Nur wie sieht es in der Realität tatsächlich aus? Interim ManagerInnen finden Einsatz in verschiedensten Unternehmen, das können Hersteller mit einer (Klein)-Serienfertigung, im reinen Projektgeschäft und/oder mit einer breiten Dienstleistungsprodukte-Palette sein. Bei zuvor genannten, aber auch bei

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globalen Mittelständlern oder namhaften multinationalen Konzernen machen die Manager nahezu identische Erfahrungen, u. a. hinsichtlich des Entscheidungsmanagements. Das hat weitreichende Konsequenzen.

1.2.1 Nicht getroffene Entscheidungen Im Folgenden sollen die Auswirkungen nicht getroffener Entscheidungen auf nachhaltige digitale Lieferketten, die Materialverfügbarkeiten und schlussendlich auf den eigenen Geschäftserfolg betrachtet werden. Darüber hinaus wird in diesem Beitrag erörtert, wie insbesondere die Bedarfsplanungen im Bereich der Fertigungsplanung, Nachhaltigkeit und Digitalisierung zusammenhängen und damit die wirtschaftliche Komponente eines Unternehmens beeinflussen. Ferner wird in einem größeren Kontext die soziale Auswirkung nicht getroffener Entscheidungen aufgezeigt. Warum Menschen sich mit Entscheidungen schwertun, diese möglichst lange aufschieben oder vermeintlich überhaupt nicht entscheiden, hat verschiedene Ursachen. Wie man vornehmlich der Angst zu Fehlentscheidungen begegnen kann und welche Methodiken man zum Aufbau von Entscheidungskompetenz anwenden kann, dazu gibt es umfassende Literatur (Sauerland und Gewehr 2017).

1.2.2 Die Folgen nicht getroffener Entscheidungen Die Folgen nicht getroffener Entscheidungen in Unternehmen sind weitreichend, hier liegt ein großes Potenzial zur Schonung von Ressourcen, welches es zu heben gilt. Es bedarf der Trennung des linearen Zusammenhangs von Wachstum und steigender Lebensqualität einerseits und dem damit einhergehenden steigenden Ressourcenverbrauch andererseits. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die weltweiten Ressourcen nicht nur von Produzenten, sondern zu einem bestimmenden Anteil auch von Konsumenten im Übermaß verschwendet werden. In diesem Beitrag wird der Anteil der produzierenden Unternehmen betrachtet. In Bezug auf Nachhaltigkeit im Unternehmen wird der Fokus heute zunehmend auf Recyclingkonzepte, grüne Rohstoffe und Cradle-to-Cradle (beschreibt kontinuierliche Kreisläufe mit einem biologisch abbaubaren und natürlichen Nährstoffkreislauf) Ansätze gelegt. Dabei bietet Effizienzsteigerung durch Einführung einer integrierten Supply Chain einen nennenswerten Hebel zur Reduzierung des Ressourcenverbrauchs. Dieser ist dringend nötig und lässt sich heutzutage im Verbrauch von Erden ausdrücken. Einige Nationen – vor allem die westlichen Industrienationen – treiben den Mittelwert der verbrauchten Erden in die Höhe. Gegenwärtig verbraucht die Menschheit 74 % mehr Ressourcen, als die Ökosysteme des Planten regenerieren können – oder 1,74 Erden.

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Abb. 1.2   Benötigte Erden bei Annahme eines globalen Lebensstils der dargestellten Länder. (Eigene Darstellung)

Wie in Abb. 1.2 „Eine Welt ist nicht genug“ dargestellt, verbraucht die Bevölkerung Katars aufgrund einer verschwenderischen Lebensweise besonders viele Ressourcen. Würden alle 7,5 Mrd. Menschen auf der Erde einen solchen Lebensstil pflegen, bräuchte es insgesamt gut neun Erden. Die Lebensweise der Amerikaner übertragen auf die Weltbevölkerung würde zu einem Verbrauch von 5,1 Erden führen. Bei einer Lebensweise aller Erdbewohner, die der Indiens gleicht, würde die Menschheit nur dreiviertel Erden zum Leben benötigen. Im globalen Schnitt werden in etwa 1,74 Erden benötigt.

1.2.3 Umkehr. Die Welt ist genug In Abschnitt. 1.6, im Methodenteil, erhält der Leser einen Ein- und Überblick, unter Einsatz welcher Methoden man zu einer integrierten Supply Chain kommen kann. Besonders detailliert wird das Thema OKR (Objectives and Key Results) veranschaulicht. OKR ist ein umsetzungsorientiertes Steuerungsinstrument für die Teamarbeit und unterstützt die Ausrichtung der Mitarbeiter auf übergreifende Ziele des Unternehmens. Viele Unternehmen haben eine hohe Funktionsorientierung. Die Prozesse im Unternehmen folgen der Struktur, da Verantwortlichkeiten ausschließlich an eine Funktion und nicht an einen Prozess gekoppelt sind. Der Einkaufsleiter entscheidet beispielsweise über Prozesse im Einkauf, die Produktion entscheidet, was produziert wird. Der arbeitsteilige Prozess findet somit in Silos statt, in denen sich jede Funktion selbst optimiert.

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Abb. 1.3   Funktions- und Prozessorientierung und ihre Auswirkung auf den Prozessablauf. (Eigene Darstellung)

Abb. 1.4   Die Ausrichtung der Struktur in Unternehmen folgt dem Prozess. (Eigene Darstellung)

Das große zusammenhängende Geflecht rückt damit ein Stück weiter in die Ferne, mit weitreichenden wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Konsequenzen. Die Transformation von einer Funktionsorientierung zu einer Prozessorientierung in einem Unternehmen, wie in Abb. 1.3, 1.4 dargestellt, ist eine wesentliche Voraussetzung, um mit nachfragegesteuerten Prozessen einen effektiven Ressourcenverbrauch

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Abb. 1.5   Prozessziele mit den Zielen des Unternehmens verknüpfen. (Eigene Darstellung)

zu organisieren und Wachstum und Wohlstand vom damit einhergehenden ansteigenden Ressourcenverbrauch ein Stück weit zu entkoppeln.

1.2.4 Zielkonflikte Das Supply Chain Management beinhaltet – wie vermutlich kein weiteres Fachgebiet – intrinsische Zielkonflikte (Neumann 2016) und (Sunil Chopra und Peter Meindl 2014). Nur wenn diese Zielkonflikte klar benannt und in der jeweiligen Auswirkung für das eigene Unternehmen betrachtet werden, können die agierenden Manager eines Unternehmens der Geschäftsstrategie folgend im Gleichklang handeln und alle vorhandenen Ressourcen effizient einsetzen. Das ist zudem kein Einmalprozess, sondern bedarf einer steten Anpassung, nicht nur innerhalb der Supply Chain, sondern insbesondere auch über alle agierenden Unternehmensbereiche hinweg und von der Geschäftsstrategie abgeleitet. Die Abb. 1.5 zeigt die schematische Darstellung, wie man von der Geschäftsstrategie zu den Prozesszielen kommen kann. Einige Beispiele für Zielkonflikte: • Höchste Materialkostenminimierung versus – herausragende Produkt-Qualität, – Erfüllung bestmöglicher Umweltstandards,

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– steigendes Versorgungsrisiko, – hohe Produktvariantenvielfalt • Hohe Lieferbereitschaft eines Produktes an den Kunden versus geringe Lagerkosten, aber auch Aufgabe der Flexibilität hinsichtlich Produktvarianten oder SKU (Farben, Verpackungen und Gebinde etc.) • Maximale Material-/Rohstoffverfügbarkeit versus niedrige Bestände, geringere Kapitalbindung • Niedrige Einstandspreise für Rohmaterialien versus kleinteilige und häufige Belieferungen • Anzahl der Produktvarianten versus Reaktionszeiten hinsichtlich Nachfrageänderungen • Versorgungs-/Liefersicherheit der Lieferanten versus Anzahl der freigegebenen Lieferanten • Schnelle und pünktliche Lieferung versus minimale Frachtkosten und maximal befüllte Transportmittel Diese Liste ist nur ein erster Anfang und könnte weiter fortgesetzt werden. Bereits aus oben genannter Aufzählung wird deutlich, dass es an den Schnittstellen im betrieblichen Ablauf zu Interessenkonflikten kommt, die einer klaren Direktive bedürfen (vergleiche hierzu auch Abschn. 1.4: Die integrierte Geschäftsplanung.) Diese Direktive besteht aus Vorfahrtsregeln für Ressourcenkonflikte, die dann auf Produktgruppenebene entsprechend heruntergebrochen wird, um am heutigen Markt mit kurzfristigen Angebotsund Nachfrageschwankungen erfolgreich bestehen zu können. Daraus resultiert die Supply Chain Performance, die sehr Markt-, Kunden-, Produkt- und Unternehmens-spezifisch ist. Die folgende Abb. 1.6 zeigt eine schematische Darstellung der Supply Chain Performance.

1.3 Rückblick Schaut man zurück in vergangene Jahre und Jahrzehnte, so haben sich die Anforderungen und Aufgaben an die Supply Chain sehr stark verändert.

1.3.1 Wachstum in einem Verkäufermarkt So galt es in vielen Jahren, in denen die Nachfrage die Angebote überstieg, also in einem Verkäufermarkt, den maximalen Output in einer Supply Chain zu organisieren. Das ist lange her. Erste Sättigungstendenzen hatten den Wettbewerbsdruck erhöht, aufgrund der insgesamt immer noch starken allgemeinen Nachfrage hatten aber Planungsungenauigkeiten und Schludrigkeiten im Prozess die Unternehmen nicht gleich in die Krise geführt. Es folgten Jahre, in denen es vornehmlich um Kostenreduktion und Geschäftsaus-

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Abb. 1.6   Schematische Darstellung der Supply Chain Performance. (Eigene Darstellung)

weitung bei gleichem Produktangebot ging. Erzielte man Erfolge jeweils nur mit einem der beiden zuvor genannten Faktoren, hat es zumeist immer noch für ein ordentliches Plus am Ende eines jeden Geschäftsjahres gereicht. Selbst wenn Liefertermine nicht eingehalten werden konnten und Materialien und Güter im größeren Stil um den Erdball geflogen wurden, erzielte man zumeist eine schwarze Zahl am Geschäftsjahresende.

1.3.2 Kundennutzen in den Fokus rücken Heute, in Zeiten, in denen der Kunde individuelle Produkte zu geringsten Kosten und transparenten Lieferketten erwartet, muss man nicht nur die Variantenvielfalt und kurze Produktlebenszyklen mit Wertschöpfung managen können, um am Markt zu bestehen. Nein, jedes erfolgreiche Unternehmen benötigt klare Entscheidungen zu allen Zielkonflikten, und zwar nicht nur für jede Business Unit oder Sparte, sondern auf Produktgruppenebene ist eine Ausrichtung aller Aktivitäten auf den Kundennutzen unabdingbar. Diese Zentrierung aller Aktivitäten auf den Kundennutzen liefert in der konsequenten Abarbeitung im Unternehmen die Klärung aller Zielkonflikte. Dazu sind stringente funktionsübergreifende Entscheidungen entlang einer nachfrageorientierten Prozesskette unerlässlich (Abb. 1.7).

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Abb. 1.7   Ausrichtung der Prozesse auf den Kundennutzen und deren Wirkung. (Eigene Darstellung)

1.3.3 Entscheidungsgeschwindigkeit als wettbewerbsdifferenzierender Faktor Heutzutage gibt es noch einen weiteren wichtigen, wenn nicht den Einflussfaktor schlechthin: die Entscheidungsgeschwindigkeit. Insbesondere diese Geschwindigkeit, mit der Entscheidungen getroffen werden können, und die Fähigkeit, auf Basis von „was wäre wenn …- Szenarien“ die Auswirkungen der jeweils möglichen Entscheidung durchgehen zu können, entscheiden sehr digital über den unternehmerischen Erfolg oder Misserfolg. Die Entscheidungsgeschwindigkeit ist ein wichtiger wettbewerbsdifferenzierende Faktor, da dieser zur ressourcenorientierten Anpassung bei Angebotsund Nachfrageschwankungen verhilft. Um die Entscheidungsgeschwindigkeit zu optimieren, ist es notwendig, mittels einer integrierten Geschäftsplanung die bestmögliche Entscheidungsgrundlage verfügbar zu halten. Für die Einführung einer integrierten Geschäftsplanung bedient man sich eines bestimmten Prozesses, der im nächsten Abschnitt beschrieben wird.

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1.4 Die integrierte Geschäftsplanung Führt man eine integrierte Geschäftsplanung mithilfe eines Sales- und Operations-Planning-Prozesses (S&OP) ein, so ist die Bedarfsplanung üblicherweise der erste Schritt. Im Deutschen ist der Name für einen Sales und Operations-Planning-Prozess (S&OP) sehr sperrig: integrierte Verkaufs-, Kapazitäts-, Bestands- und Absatzplanung. Hier werden Bedarfe und Kapazitäten mit dem Verkaufsplan und den Beständen in Einklang gebracht. Aus diesem Abgleich entsteht der sogenannte Consensus Plan, der den abteilungsübergreifend zumeist monatlich abgestimmten Arbeitsplan für alle Funktionen eines Unternehmens, wie Einkauf, Logistik, Planung, Produktion etc., darstellt. Üblicherweise betrachtet man 3 unterschiedliche Zeiträume, wenn man eine integrierte Geschäftsplanung macht. Die Zeithorizonte unterscheiden sich vor allem in der Granularität der Planung: Zeithorizont 1: Die Langfristplanung ist sehr grob und wird allenfalls auf Produktgruppenebene abgearbeitet. Die Langfristplanung umfasst ca. die nächsten 1–3 Jahre je nach Unternehmen und Geschäftsfeld. Unternehmen mit einem sehr kostenintensiven Maschinenpark arbeiten mitunter auch mit einem 5-Jahresplan. Zeithorizont 2: Die mittelfristige oder taktische Planung wird auf Produktebene beplant. Hier werden die geplanten Verkäufe für die nächsten ca. 2–6 Monate bis zu einem Zeitraum von 18–24 Monaten voraus mit den Bedarfen und Kapazitäten und (geplanten) Beständen abgeglichen. Andere kritische Faktoren, die hier berücksichtigt werden, sind z. B. Produktlaunches oder Wiederbeschaffungszeiten kritischer Vormaterialien. Zeithorizont 3: Die operative Planung enthält schlussendlich alle Details auf StockKeeping-Unit-Ebene (SKU), wie Produktvarianten (z. B. unterschiedliche Farben, Verpackungen, Gebinde). Auch welche Variante auf welcher Linie bzw. Maschine gefertigt wird, findet man hier. Es ist der Plan der nächsten 1–6 Wochen, manchmal auch der nächsten 1–16 Wochen. Eine „Frozen Period“, ein Plan, der eingefroren und nicht mehr geändert wird, ist äußerst empfehlenswert, wie wir später in dem Praxisbeispiel in Abschn. 1.5 sehen werden. Diese fixe Phase kann 10 Tage, aber auch bis zu 3 Monate lang sein, es hängt vom Unternehmen, dem Markt und den jeweiligen Randbedingungen ab. Das kann man nicht verallgemeinern, hier kann man aber auch nicht viel falsch machen. Äußerst wichtig hingegen ist die Disziplin innerhalb des Unternehmens, mit der sich daran gehalten wird (Abb. 1.8). Der S&OP-Prozess ist ein Entscheidungsprozess. Eine strukturierte Metrik der Abstimmungsbesprechungen, klare Verantwortlichkeiten und Rollen innerhalb dieses Prozesses sorgen für eine maximal effiziente Umsetzung der Strategie des Unternehmens – über alle Abteilungen hinweg. Die Effizienz kommt aus der Prozessorientierung und der Abkehr von der Funktionsorientierung, s. Abb. 1.3 und 1.4. Die Einbindung aller zur Entscheidung notwendigen Informationen ist zum gefragten Zeitpunkt vorbereitet, danach gibt es einen gemeinsam verabschiedeten

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Abb. 1.8   Fortgeschrittene integrierte Planung durch verschiedene ineinandergreifende Planungshorizonte. (Eigene Darstellung)

Plan, den alle Beteiligten umsetzen. Es gibt zwischen verschiedenen Abteilungen keine Reibungsverluste, Bedarfe und Kapazitäten sind mit einer der Strategie entsprechenden Priorität versehen, selbst die Eskalationsszenarien haben eine klare Struktur. Richtig aufgesetzt, liefert dieser Prozess eine sogenannte End-to-End-Transparenz, das meint volle Transparenz vom Kundenbedarf über die gesamte Lieferketten hinweg bis hin zur Lieferung des Produktes oder der Dienstleistung an den Kunden. Diese End-to-End-Transparenz ist erfolgskritisch und ermöglicht wettbewerbsrelevante Entscheidungen in bestmöglicher Geschwindigkeit. Ferner führt dies zur optimalen Supply Chain Performance, vgl. Abb. 1.6.

1.5 Aus der Praxis Im hier folgenden Abschnitt teile ich Erfahrungen aus verschiedenen Fach- und Führungs-Tätigkeiten von fast 3 Jahrzehnten in produzierenden Unternehmen. Aber auch im Rahmen meiner internationalen Trainings in Supply Chain (Teil-)Disziplinen habe ich Erfahrungen sammeln dürfen, die mich dazu veranlasst haben, dieses Thema hier einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen. Die hier genannten Aspekte spiegeln

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weder den vollen jeweils bearbeiteten Projektumfang noch -fortschritt wider. Es geht um einzelne Aspekte aus diesen Projekten. Vorweg: Es gibt keine allgemeingültigen Regeln für alle Unternehmen oder die einer Branche, z. B. die der Getränke- oder Schiffbauindustrie, mit denen man eine Supply Chain effektiver gestalten kann. Auch gibt es keine Formel, mithilfe derer man den optimalen Ressourceneinsatz einer Lieferkette berechnen könnte. Auch der mit dem optimalen Ressourceneinsatz einer Lieferkette im Zusammenhang stehende Grad der Digitalisierung lässt sich nicht mathematisch greifen. Dazu ein Blick in die Presse: Die Ressourcennutzung in Deutschland wird vom Umweltbundesamt mit genutzter Rohstoffentnahme [Tonne/Kopf] in den deutschen Bundesländern gleichgesetzt, was meines Erachtens besonders bezüglich des Begriffes „Ressource“ viel zu kurz greift. Anmerkung der Autorin: Produktionskapazitäten sind auch Ressourcen! Zum Zusammenhang Digitalisierungsgrad, Bedarf an Energie und natürlichen Ressourcen sind Programme der deutschen Bundesregierung und auch der Europäischen Union aufgelegt und veröffentlicht.2 Ergebnisse gibt es dazu noch keine. Allerdings werde mithilfe eines Modells der deutschen Volkswirtschaft, dem makroökonometrischen Input-Output-Modell, der aktuelle Rohstoffverbrauch des digitalen Wandels sowohl für einzelne Wirtschaftssektoren als auch für die gesamte Volkswirtschaft untersucht. Dabei werde auch berücksichtigt, dass Zwischenprodukte außerhalb Deutschlands gefertigt würden. Anschließend würde dieses Modell genutzt werden, um mögliche zukünftige Entwicklungen der Digitalisierung bis in das Jahr 2060 zu simulieren. Hier würde zum Beispiel unterschieden hinsichtlich der Entwicklung von Produktionsprozessen, der Konsumnachfrage oder der genutzten Energieträger Rechnung getragen.3 Selbstverständlich kann man für Teildisziplinen der Supply Chain mit Formeln bzw. einem mathematischen Ansatz zu einem Ergebnis kommen, sei es, dass man Netzwerkoptimierungsmodelle oder Formeln zur saisonbereinigten Nachfrage (Sunil Chopra und

2 Bundesrepublik

Deutschland, vertreten durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV), dieses vertreten durch den Präsidenten des Umweltbundesamtes. Umweltbundesamt (Hrsg), 2016. Ein ressourceneffizientes Europa – Ein Programm für Klima, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung. Stellungnahme der Ressourcenkommission des Umweltbundesamtes. 3  Forschungsvorhaben „Digitalisierung und natürliche Ressourcen – Analyse der Ressourcenintensität des digitalen Wandels in Deutschland“ (DigitalRessourcen) Laufzeit: 2020–2023 Forschungskennzahl: FKZ 3720 31 101 0 Auftragnehmerinnen und Auftragnehmer: Ramboll Deutschland GmbH, Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung (GWS), Fraunhofer Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme IAIS, Deutsches Institut für Normung (DIN).

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Peter Meindl 2014) heranzieht, optimale Bestellmengen und optimale Losgrößen bestimmt, wie z. B. mit der Andler Formel.4 So vorzugehen, hilft aber im Ergebnis nichts, wenn man im Vorfeld wesentliche und viel offensichtlichere Fragestellungen außer Acht gelassen hat bzw. die absolut notwendigen Entscheidungen nicht getroffen hat.

1.5.1 Praxisbeispiel 1 In unserem ersten Beispiel aus der Praxis ging es um einen großen multinationalen Konsumgüter-Konzern mit mehr als 20 eigenen Produktionsstandorten sowie diversen Lohnfertigungsunternehmen und vielen Tausend Mitarbeitern. Dieser Konzern hatte ein großes Produktsortiment mit hoher SKU-Dynamik. Bei leicht verderblichen Produkten wurde in vier verschiedenen Geschäftseinheiten eine IT-basierte, nahezu alle Kunden umfassende Bedarfsplanung gemacht, dazu war gerade eine neue Software eingeführt worden. Die Planer tauschten sich auf ihrer Ebene auch untereinander über die Geschäftsbereiche hinweg aus und justierten ihre Forecasts im Bereich der nächsten 1–2 Wochen. Ferner sollte ein übergreifender Sales- and Operations-Planning-Prozess eingeführt werden. Dazu sollten die Kernprozesse optimiert und die Supply-Chain-Prozesse neu strukturiert werden. Der Vorteil, den eine bereichsübergreifende Prozessharmonisierung mit sich bringen würde, wurde klar gesehen und dies nährte den Wunsch, eine integrierte Kapazitäts-, Bestands- und Absatzplanung (S&OP) aufzusetzen. Wie eigentlich immer in derartigen Projekten, sollte zunächst eine bereichsübergreifende Bedarfsplanung mit taktischem Horizont implementiert werden. Eine sehr gute Idee! Man wollte die reaktive kurzfristige Handlungsweise hinter sich lassen, die in der Vergangenheit aufgrund von „Topmanagement-Last-Minute-Entscheidungen“ viele Ressourcen verbraucht hatte und in deren Folge dann in der Supply Chain andere Probleme im kurzfristigen Zeithorizont verursacht wurden, wie z. B. die geplanten und verfügbaren Packmittel passten zum ursprünglichen (aber nicht zum neuen) Plan, Lieferbestätigungen zu Kunden mussten „umgebucht“ werden, bestätigte Transportkapazitäten passten nicht zur neuen Entscheidung. Die operative Hektik hinter sich lassen zu wollen, darin waren sich die Verantwortlichen einig. Schwierigkeiten bereitete den Top-Entscheidern in diesem Unternehmen etwas anderes, nämlich die Randbedingungen und notwendigen Entscheidungskriterien für eine solche integrierte Geschäftsplanung aus der Strategie abzuleiten und in ihrer Organisation umzusetzen. Dazu ist noch zu erwähnen, dass alle Geschäftsbereiche einen einzigen

4 Andler

Formel, Prof. Dr. Winfried Krieger, Prof. Krieger Consulting GmbH, Quelle: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/andler-formel-30927.

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Ausgangsrohstoff hatten und dessen Verfügbarkeit in Menge und Qualität die Planungsgrundlage bildete. Die Top-Manager schafften es während der Projektdauer nicht, für alle Geschäftsbereiche die Bedarfe aller Kunden zusammenzufassen, die Vorfahrtsregeln bei Ressourcenkonflikten übergreifend abzustimmen und entsprechend den Input für die Bedarfsplanung klar zu definieren. Stattdessen haben die 4 Geschäftsbereiche weiterhin völlig unabhängig voneinander geplant und sind in der Summe zu einem Vielfachen der verfügbaren Rohstoffmenge gekommen. Jede Geschäftseinheit plante in der Folge im Detail auf SKU-Ebene mit einer Menge, die überhaupt nicht zur Verfügung stand. Welchen administrativen und nicht wertschöpfenden Aufwand man damit in der Operativen erzeugte, kann man sich gut vorstellen. Ein Prozess zur gemeinsamen Anpassung des Planes an die jeweils verfügbare Ausgangsmaterialmenge ließ sich aufgrund von Abteilungs- und Geschäftsbereichsegoismen nicht etablieren, daran hatte auch das Gespräch mit dem CEO nichts geändert, obwohl klare Anforderungen adressiert wurden. Man schob die Verantwortung für die Budgetabweichung zwischen den Geschäftsbereichen weiter hin und her, anstatt einem übergreifend abgestimmten Kapazitäts- und Liefer-Plan zu folgen. Eine Heerschar an Controllern hat einen Produktmix vorgegeben, sich in verschiedenen Szenarien geübt und am Ende gab es weiterhin Last-Minute-Entscheidungen durch (einzelne) Vorstände, welcher Kunde nun womit zuerst beliefert werden würde. Konkret: Die nicht getroffene Entscheidung, die strategischen Vorgaben des Unternehmens strukturiert in die Umsetzung zu bringen, ist alles in allem eine ausnehmend teure und nicht nachhaltige, Ressourcen vergeudende Vorgehensweise, die überhaupt nur so lange markt- bzw. zukunftsfähig sein dürfte, bis es einen Wettbewerber gibt, der es besser machen wird. Anders ausgedrückt, im hier beschriebenen Beispiel wurde ein großes Potenzial nicht genutzt und es blieb viel Geld der Firmenanteilseigner liegen. Dagegen hilft kein Planungstool, keine künstliche Intelligenz und auch kein Digitalisierungsprojekt, sondern einzig und allein eine Besprechung, in der Folgendes festgelegt wird: In welchen Geschäftsfeldern/Units engagieren? In welchen nicht? Welche (Markt)Position soll je Business Unit (BU) erreicht werden? Wo steht die BU heute? Wo(für) will das Unternehmen/jede Geschäftseinheit zukünftig stehen? Was differenziert uns vom Wettbewerb (qualitativ und grob quantitativ)? Die Antworten auf die o. g. Fragen sind in der richtigen Reihenfolge die Eingangsgrößen für eine Supply Chain, damit wird die Strategie des Unternehmens in der Organisation umgesetzt. Das strategische Rahmenwerk wird mithilfe von Parametern für die langfristige Ausrichtung und kurzfristigen Flexibilitäten in Planung umgesetzt. Hilfreich ist es auch, Finanzziele zur Strategieumsetzung zu kommunizieren (z. B. kein Auftrag unter XY % Deckungsbeitrag), messbare Größen sichtbar zu machen.

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Das Angebot wird dann an der Nachfrage konsequent ausgerichtet, Vorfahrtsregeln für mögliche Ressourcenkonflikte definiert, z. B.: Welcher Kunde/Markt wird bedient, welcher nicht? Welches Produkt wird produziert, welches nicht? Welches Produktportfolio benötigen wir in den nächsten 12 Monaten? Wann wird aus einem kg oder l in einer sales order 1 kg/l in einem Forecast oder wann ein Bedarf in einer Business Unit? Eigen-/Fremdfertigung, (wann) kaufen wir zu? Selbstverständlich gab es auch im Rahmen dieses Projektes die üblichen seitlich gelagerten Themen, die je nach politischer Notwendigkeit innerhalb des Unternehmens und Beziehung der agierenden Personen untereinander unterschiedlich stark in den Fokus gerückt wurden. Ich spreche von Grundvoraussetzungen für eine solche End-to-End-Transparenz, wie durchgängige und ein-eindeutige Artikelnummern. Im hier genannten Beispiel waren bei manchen Artikelnummern die Verpackung, Produktionsvarianten, teils Fertigungsverfahren oder -orte mit kodiert, bei anderen wiederum nicht. Auch die Forecasts wurden in den Geschäftsbereichen unterschiedlich gehandhabt, mal verbindlicher, mal weniger, mal auf granularer Ebene und in anderer zeitlicher Reihenfolge, mal nicht. Das ergibt sich schon fast zwangsläufig, wenn keine übergeordnete Abstimmung und eine bindende Entscheidung hinsichtlich der einzuhaltenden Struktur entlang des Wertstromes vorgenommen wird. Nicht in die vier zuvor genannten Geschäftsbereiche organisatorisch eingebunden waren sogenannte Zentralfunktionen wie Controlling, Einkauf und z. B. die IT. Dies hielt die Zentralfunktionen aber in keiner Weise davon ab, eigene Projekte aufzusetzen und entsprechend einer eigenen Sicht auf die Dinge und abteilungsinterner Vorgaben zu priorisieren und quer durch die Organisation zu tragen. Eine eindeutige Verantwortung für die saubere Trennung von Stamm- und Bewegungsdaten gab es nicht und ließ sich auch nicht etablieren.

1.5.2 Fazit Der S&OP ist ein Entscheidungsprozess. Um diesen erfolgreich aufsetzen zu können, bedarf es eines nachhaltigen Commitments aller Top-Entscheider und der Disziplin, diesen stringent aufzusetzen und durchzuhalten. Dabei sind die Randbedingungen, nach denen in diesem Prozess entschieden wird, eindeutig durch den ranghöchsten Manager und sein Team festzulegen. Über den S&OP-Prozess erhalten die Mitarbeiter eine Entscheidungsmatrix, die sie für die tägliche Arbeit nutzen. Nicht getroffene Entscheidungen führen zu einem erhöhten Ressourcenverbrauch und damit zu verringerter Profitabilität und Wettbewerbsfähigkeit. Der erhöhte Ressourcenverbrauch in materieller, energetischer und personeller Hinsicht bedeutet im Umkehrschluss eine geringe Nachhaltigkeit.

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Ein Nachfrageorientierung im Produktangebot eines Unternehmens beginnt mit einer Bedarfsplanung, die die Produktion steuert. Dies ist der erste Baustein zu einer nachhaltigen Lieferkette. Für verschiedene Geschäftsbereiche eines Unternehmens kann man unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen, die allesamt in einer einzigen Lieferkette abgearbeitet werden.

1.5.3 Praxisbeispiel 2 In einem anderen Beispiel aus der Praxis ging es um die Produktion eines neuen empfindlichen Produktes, welches sehr „plötzlich“ in sehr großen Mengen und millionenfach nachgefragt wurde. Das fachlich exzellente Unternehmen mit Spezialisierung auf hochwertige Produkte in kleinen Mengen hatte keinerlei Erfahrungen im Fertigen von großvolumigen Produkten und praktisch keine Prozesse und Strukturen etabliert. Bei entsprechend großer Nachfrage und fehlenden eigenen nennenswerten Fertigungskapazitäten in einem mehrstufigen chargenbasierten Prozess bedeutete dies in logischer Konsequenz eine nahezu vollständige Fremdfertigung. In einer solchen Situation ist dies eine gute Möglichkeit ist, der Nachfrage zumindest in Teilen gerecht zu werden. Im hier vorliegenden Beispiel handelte es sich um einen mehrstufigen Produktionsprozess, es galt, ein Produktionsnetzwerk aufzubauen und hinsichtlich des maximalen Ausstoßes zu stabilisieren. Zu Beginn gab es kein Fremdfertigungsunternehmen, das mehr als eine Stufe in diesem Netzwerk herstellen konnte, sodass hinsichtlich des Materialflusses Einiges zu organisieren war. Der Koordinierungsaufwand an den Supply-Chain-Schnittstellen intern und zu externen Partnern war maximal groß und zog Transporte quer durch Europa für jede Fertigungsstufe mit sich. Jedes der in Lohn fertigenden Unternehmen hatte natürlich eine andere Herangehensweise und Prozesse in der Planung, die mit teils unterschiedlichsten Informationen vor, während und nach der Produktion versorgt werden mussten. Jede Charge erhielt somit in jedem Fertigungsschritt eine neue und vom Lohnfertigungsunternehmen nach eigener Nomenklatur vergebene Nummerierung, sodass das Fertigprodukt wenigstens 3 vorherige Nummernwechsel mit sich trug. Die Halbfertig- und Fertigprodukte waren unter spezifischen Bedingungen zu produzieren, zu lagern und zu transportieren. Das Fertigprodukt erforderte eine Lagerung bzw. einen Umschlag bei den sehr spezifischen Bedingungen, das verfügbare Angebot solcher Lager- und Transportkapazitäten am Markt war nahezu nicht vorhanden. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass einer Fertigungs- und Absatzplanung hinsichtlich der Aspekte Lagerung und Transport eine besondere Bedeutung zukam. Explizit zu erwähnen ist, dass Excel als Planungstool als gesetzt gesehen wurde. Innerhalb der Firma gab es nichts anderes und die Kommunikation mit den in Lohn fertigenden Partnern ließ sich in der Kürze der Zeit kaum anders darstellen, da alle unterschiedliche ERP-Systeme benutzten.

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Wir Interim Manager empfinden diese Aufgabe bzw. Umfeld als sehr spannend, da man die Umsetzung in eine voll integrierte Supply Chain unterstützen kann. Warum findet dieses Beispiel hier Eingang? Nun, wie im vorherigen Beispiel bereits angeführt, startet die Einführung eines geordneten Planungsprozesses mit der Bedarfsplanung. Dazu ist es notwendig, die Verkaufsplanung, insbesondere die fixen Verkäufe mit der Kapazitätsplanung in Einklang zu bringen. Dazu gilt es, mit einem abgestimmten Forecast zu agieren und die externen Produktionspartner entsprechend zu beplanen. Und hier trat das erste Problem auf, denn der Bedarf des Produktes wurde nicht kommuniziert. In der ganzen Firma hatten maximal 5 Personen darüber Kenntnis, die allesamt von der Planung/Supply Chain oder der Abteilung Operation weit entfernt waren. Es war keine Frage von fehlenden Geheimhaltungsvereinbarungen mit beauftragten Managern, Freiberuflern und/oder Unternehmensberatern. Sämtliche Bemühungen, diese Zahlen über bestimmte besonders zur Verschwiegenheit verpflichteten Personengruppen als Ausgangsgröße in die Planung zu bekommen, schlugen fehl. Ja, es fehlte sogar an dem Verständnis dafür, warum dies nötig sei. Ein Blick in die Organisation der Planung: Die Planung bestand aus einer Lang- und Mittelfristplanung, die auf Jahresebene und in Excel Kapazitätsjahreszahlen durch 12 geteilt hat und so als Monatswerte verarbeitet hat. Hier gab es Kontakt zum Vorstand und dem Vorstandsgremium, einem beschlussfreudigen Gremium. Diese Abteilung gehörte in das Ressort Operations. Es gab eine weitere Abteilung, die „kurzfristige End-2-End-Planung“, die organisatorisch im Bereich der Supply Chain (oder besser: Lagerlogistik) angesiedelt war. Man darf sich vom Namen der Abteilung nicht täuschen lassen, das hatte nichts mit End-2End zu tun, es beschreibt nur den gewünschten und richtigerweise angepeilten Zielzustand. Beide Planungsabteilungen waren komplett voneinander entkoppelt, in unterschiedlichen Besprechungen organisiert und die Kollegen stimmten sich, wenn überhaupt, mehr zufällig ab, vgl. Abb. 1.9. Das führte beispielsweise dazu, dass beide Planungsabteilungen sehr unterschiedliche Forecasts für den/die nächsten Monat(e) an ein und dasselbe extern beauftragte Lohnfertigungsunternehmen sendeten und dann einige Zeit nötig war, um die Verwirrung zu beseitigen. Nicht selten blieben gebuchte Produktionskapazitäten ungenutzt. Manchmal nahmen auch Vorstände oder deren direkte Mitarbeiter einen aktiven Part in der Produktionsplanung ein, indem sie Zahlen und Mengen mit Lohnfertigungsunternehmen kommunizierten, die Mitarbeiter aus den entsprechenden Planungsabteilungen aber nicht darüber informierten. Oder sie beschlossen Änderungen in dem Plan der laufenden Woche, was dann erheblichen (nicht wertschöpfenden!) Aufwand erzeugte. Dies, obwohl mit allen Mitteln an der gemeinsamen Datengrundlage zur Stabilisierung der Fertigungsplanung gearbeitet wurde und sehr für die Einführung der „Frozen Period“ gekämpft worden war.

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Abb. 1.9   Entkoppelte Planungsabteilungen. (Eigene Darstellung)

Wie folgenschwer die Entkopplung und Ineffektivität der beiden Planungsabteilungen ist, wird Entscheidern leider nicht immer wirklich deutlich: Bei einem solchen hier beschriebenem Set-up hängt die Menge das maximalen Outputs bzw. der Produktion an der maximalen Kapazität, die die in Lohn fertigenden Unternehmen zur Verfügung stellen können. Dabei stellt die Fertigungsstufe mit der geringsten freigegebenen Menge am Ende des betrachteten Zeitraumes den Engpass dar. Daher ist die präzise Kapazitätsplanung der Fertigung, des Lagers und Transports je nach geforderten Rahmenbedingungen entscheidend und hängt direkt mit dem Erlös des Produktes in Euro zusammen!

1.5.4 Kapazitätsplanung Die eingekaufte Fertigungskapazität wurde zu 100 % gesetzt und dieser Gedanke hielt sich hartnäckig! Es hat einige Mühen gekostet, den Unterschied zwischen eingekaufter Fertigungskapazität, realer und maximal möglicher Fertigungskapazität in Betracht zu ziehen und den Einkauf grundsätzlich stärker in die Kapazitätsplanung sowie die Plan/Ist-Werte der geschlossenen Verträge mit einzubeziehen. Die Einführung des Sales and Operations-Planning-Prozesses wurde begonnen. Nach den ersten strukturell anders verlaufenden Treffen mit klarer Entscheidungsstruktur entlang einer Prozesskette wurde der S&OP mit der Aussage, dass es für dieses Produkt/ Branche/Unternehmen … nicht funktioniere, beendet. Gleichzeitig fehlte es kurze Zeit später signifikant an Lager- und bestimmten Fertigungskapazitäten. Diese Szenarien wurden dann wiederum aufwendig in Excel simuliert, was weitere Ressourcen gebunden hat, ohne Wertschöpfung zu generieren.

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1.5.5 Fazit Bedarfe und die verschiedenen Kapazitäten sind unabdingbar notwendige Planungseingangsgrößen, diese Zahlen müssen innerhalb des Unternehmens transparent gemacht werden. Fertigungsplanungen im Tabellenkalkulationsprogramm sieht man des Öfteren, leider ist das Programm für diesen Zweck nicht geeignet. Eine stabile Fertigung – egal bei welchem Produkt und in welchem Bereich – hat immer eine solide Datengrundlage, die die Prozesse entlang des Wertstromes unterstützt und eine effektive Zusammenarbeit über Abteilungsgrenzen hinweg fördert. Dabei ist wichtig, dass die zunehmende Wertschöpfung in den Daten entlang der Prozesskette erkennbar ist und der physische Materialstatus mit dem im ERP-System zu jedem Zeitpunkt absolut deckungsgleich ist.

1.5.6 Praxisbeispiel 3 In einem dritten Beispiel aus der Praxis geht es um die Prozessorientierung im Unternehmen sowie die Bedeutung der Darstellung der Wertschöpfung im ERP. Das Unternehmen arbeitete in einer Projektorganisation, in der sowohl Konstruktionsdaten als auch Fertigungsdaten zu verarbeiten waren. Mein Auftrag kam u. a. deswegen zustande, weil ein Kunde (und gleichzeitig in Teilen ein Wettbewerber) über den Flur des Bürogebäudes ging und jemanden aus der Abteilung Supply Chain meines Kunden sprechen wollte, die es nicht gab. Bei dem Unternehmen ohne Supply-Chain-Abteilung handelte es sich um einen Zulieferer für Schiffsbetriebstechniksysteme, das weltweit tätig war. Sie lieferten Produkte für jegliche Schiffstypen von Kreuzfahrtschiffen über Yachten, Fähren, Marineschiffe sowie U-Boote. Verkauft wurden auch Service, Wartung, Instandhaltung und Ersatzteillieferungen. In diesem Unternehmen unterschied man im Grunde drei Bereiche, „grau“ (Marineprodukte), „weiß“ (Passagierprodukte) und Ersatzteile, Wartung und Service. Es gab so gut wie keine vertikale Integration, d. h., jeder der drei Bereiche bearbeitete seine Kundenaufträge nach eigenen (z. B. unterschiedlichen Bestell-)Prozessen ab, sequenziell und manchmal auch im ERP. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass vieles am System „vorbei“ ging. Die Konstruktionsdaten wurden nicht so verwendet, dass man die Wertschöpfung im Fertigungsprozess über die verschiedenen Baugruppen hätte nachverfolgen können oder dass man Synergien für Folgeaufträge daraus hätte ziehen können. Es gab eine Artikelvielfalt, die hinderlich war. Spezifikationen wurden nicht strategisch angegangen im Sinne einer Baukastenstrategie.

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Für manche Aufträge wurden einzelne Teile oder Baugruppen mehrfach oder sogar vielfach bestellt, weil nicht mehr nachvollziehbar war, wo sich das Material physisch befand. An einem Beispiel für einen Auftrag nachgerechnet, wurden Kupferrohre in der ca. dreifachen Schiffslänge eingekauft, die aber niemals auf dem Schiff eingebaut und deshalb auch nicht vom Kunden bezahlt wurden. Ähnlich war die Situation mit den Dienstleistungen, die in einem Umfang abgerechnet wurden, der mehr als unverhältnismäßig war. Es gab viele „Läger“, Materialzu- und -abgänge wurden nicht gebucht. Läger waren im ERP nicht angelegt. Es war also sehr schnell klar, dass es eine ganze Reihe von Ungleichungen gab: Bedarfsmengen ≠ Liefermengen Bestellmengen ≠ Liefermengen Liefermengen ≠ Verbrauch Verbrauch ≠ Bedarf Rechnungsumfang ≠ Installationsfortschritt Das führte erwartungsgemäß zu: umgesetzter Auftrag ≠ Gewinn Neben der Materialflussoptimierung ist in diesem Projekt die Performance spezifiziert und in Stücklisten umgesetzt worden. Track und Trace – Aktivitäten, die schon im Design Berücksichtigung fanden und entlang des Wertstromes im ERP abgebildet wurden, neben platz- und bestandsgeführten professionell bewirtschafteten Lägern. In den funktionalen Einheiten des Unternehmens sind eine Reihe von Rollen und Verantwortlichkeiten neu geklärt worden, sodass beispielsweise nur der Einkauf einkaufte (und nicht jeder beliebige Mitarbeiter)!

1.5.7 Fazit Der Materialfluss und die Wertschöpfung, beides muss in den Daten eines ERP vollständig vorhanden und verfolgbar sein. Entkoppelungen von Daten, sei es, dass ein Teil des Geschäftes überhaupt nicht oder in einem anderen System erfasst wird, kommen einem Blindflug gleich. Eine Steuerung des Geschäftes wird dann unmöglich. Das ERP ist das Rückgrat einer wirtschaftlichen Unternehmung. Nachhaltige und digitale Lieferketten sind Chefsache und erfordern ein Team mit entsprechenden Kompetenzen. Abteilungsgerangel und Funktionsoptimierung im eigenen „Silo“ sind ein Nebenkriegsschauplatz, den sich in der Zukunft immer weniger Unternehmen werden leisten können. Nur wenn alle Mitarbeiter in die Nachfrageorientierung durch Kunden mit eingebunden werden, können sie die Ressourcen optimal planen und nutzbar machen.

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1.6 Methodenteil In diesem Abschnitt werden gängige Methoden beschrieben, die für die Transformation zu einer integrierten Supply Chain sehr hilfreich sind und deren Einsatz in meinen Projekten den Kunden Transparenz gewährte und Unterstützung geleistet hat. Es sind Beispiele, die hier genannte Auswahl erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Die hier benannten Methoden lassen sich allesamt mit gängigen Office-Programmen oder sogar auf Brown Paper und Flipchart anwenden. Mit dieser Aussage möchte ich den Leser ermutigen, sich nicht an Methodenfragen aufzuhalten, sondern einfach und am besten unmittelbar anzufangen. Die Klärung der in in Abschn. 1.2.4 beschriebenen Zielkonflikte einer jeden Supply Chain kann beispielsweise im Rahmen der Planung der verschiedenen Produktlebenszyklen stattfinden.

1.6.1 Produktlebenszyklus Im Produktlebenszyklus wird der Absatz eines Produktes/einer Produktgruppe in einem Markt im Lauf der Zeit dargestellt. Im Modell des Produktlebenszyklus werden 5 Phasen unterschieden (Markteinführung, Wachstum, Reife, Sättigung, Verfall).

1.6.2 Objectives and Key Results (OKR) Umsetzungsorientiertes Steuerungsinstrument für die Teamarbeit, Ausrichtung der Mitarbeiter auf übergreifende Ziele des Unternehmens (Doerr 2018). Hat ein Unternehmen ausgehend von einer Vision für einige Jahre seine ambitionierten Ziele für einen kürzeren Zeitraum definiert, gilt es sicherzustellen, dass jeder Einzelne dazu beiträgt, dass diese Ziele erreicht werden. Mit der OKR-Methode kann man Teams auf die wirklich relevanten Ziele ausrichten und jederzeit erkennen, wie gut die Teams ihre Ziele erreichen. Voraussetzung ist, dass die Teams selbstverantwortlich und agil arbeiten können. OKR basiert auf qualitativen Zielen (Objectives), die allen im Team zeigen, in welche Richtung es gehen soll. Messbare Kennzahlen (Key Results) machen sichtbar, wie man auf diesem Weg vorankommt. Die Anwendung dieser Methode leistet dabei Folgendes: Die langfristigen Visionen, Ziele und Strategien des Unternehmens mit den kurzfristigen Zielen und Aktivitäten in den einzelnen Teams verknüpfen. Alle MitarbeiterInnen wissen, was für das Unternehmen wichtig ist und wie sie sich wertschöpfend einbringen können, idealerweise sehen sie konkret ihren Beitrag am Geschäftsergebnis. Sie wissen, woran sie die nächsten drei Monate arbeiten sollen.

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Sie erkennen, welchen Erfolg ihr Engagement und die von ihnen initiierten Aktivitäten bringen. Die Abstimmung innerhalb der Teams und zwischen den Teams, den Vorständen und Führungskräften erfolgt nicht darüber, was zu tun ist, sondern was und wozu es erreicht werden soll. Jedes Team kann sich selbstständig steuern und festlegen, durch welche OKR es am besten zu den Unternehmenszielen beitragen kann. Fördert ein werte-orientiertes Mindset in allen Ebenen, Übergang in einen kontinuierlichen Prozess, bewertbares Vorwärtskommen. Die OKR-Methode fokussiert auf das, was erreicht werden soll, also den Outcome (vorgelagerte Effekte im Einklang mit dem Ziel) oder besser dem Impact (Effekt, der direkt GuV, oder wettbewerbswirksam ist). So erhält man die angestrebte Zustandsänderung (Was) und den sich daraus ergebenden Effekt (Wozu), also Transparenz und Umsetzungsstärke. Outcome: was am Ende erreicht wird, Kundennutzen Impact: was das Team dafür erschafft Konkret könnte es beispielsweise folgendermaßen lauten: „ERP als Enabler“. Mit gleichen Bestellprozessen in allen Geschäftsbereichen zu mehr Standardisierung (50 % weniger Schnittstellen, 25 % weniger Personalkosten (->Ressourcen werden für andere wertschöpfende Tätigkeiten frei!) und 10 % weniger IT und Lizenzkosten. Es ist empfehlenswert, nicht alle Ziele (Objectives) nur top-down in einer Hierarchie vorzugeben, sondern die Teams bzw. die operative Ebene daran zu beteiligen, das schafft gemeinsame Bereitschaft, sich mit den Objectives der jeweils anderen Partei (Unternehmensleitung bzw. der operativen Ebene) zu beschäftigen. Als Faustregel könnte man ca. eine 50:50-Aufteilung anstreben, beide Teile müssen in Einklang gebracht werden. Die Verantwortung bleibt in der Führungsebene, das Team unterstützt mit erhöhter Motivation und Identifikation.

1.6.3 Das SIPOC-Diagramm SIPOC bedeutet: Supplier, Input, Process, Output, Customer Prozesse eines Unternehmens oder eines Bereiches können in Form eines einfachen und übersichtlichen Diagramms beschrieben und voneinander abgegrenzt werden. Das SIPOC-Modell ist Grundlage für Prozessanalysen, wie sie beispielsweise im Rahmen von Six Sigma oder Lean-Initiativen durchgeführt werden. Welche Informationen letztendlich im SIPOC enthalten sind, hängt vom Zweck ab, den man mit der Erstellung verfolgt. Entscheidende Aspekte und Merkmale eines Prozesses werden in 5 Kategorien benannt:

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Abb. 1.10   SIPOC-Beispiel Teezubereitung. (Eigene Darstellung)

Supplier: Lieferanten eines Prozesses Input: Eingangsgrößen Process: Prozessschritte (idealerweise 5–7 Schritte) Output: Prozessergebnisse Customer: Kunden eines Prozesses Klarer wird es an einem einfachen SIPOC-Beispiel aus dem Alltag (Abb. 1.10).

1.6.4 Die Nutzwertanalyse, Prozess der Entscheidungsfindung Die Nutzwertanalyse zeigt auf, was eine Handlungsoption im Vergleich zu einer Alternative zur Zielerreichung beitragen kann. Somit ist sie eine Methode zur Vorbereitung und Klärung von Entscheidungen. Mit der Analyse der Zielbeiträge wird diejenige Option herausgearbeitet, die am meisten auf die gewünschte Zielerreichung einzahlt. Zu beachten ist bei der Formulierung der Ziele und Bewertungskriterien Folgendes: Die Ziele müssen relevant und vollständig sein und in einem direkten Bezug zum Entscheidungsproblem stehen. Ziele und Bewertungskriterien sollten überschneidungsfrei sein, damit ein und derselbe Sachverhalt nicht mehrfach bewertet wird und dadurch ein Übergewicht erhalten würde. Die Option mit dem größten Gesamtnutzwert kann von den Entscheidern ausgewählt werden und dokumentiert, wie diese Entscheidung über die gewichteten Teilnutzenwerte zustande gekommen ist. Ein Beispiel: Die Nutzwertanalyse könnte Anwendung finden bei der Auswahl und dem Vergleich zweier Software- oder ERP-Systeme. Auch in der vergleichenden Transportmittelwahl könnte die Methode beispielsweise angewendet werden.

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Abb. 1.11   Ursache-Wirkungsanalyse im Ishikawa-Diagramm. (Eigene Darstellung)

1.6.5 Ishikawa-Diagramm, das Ursache-Wirkungs-Diagramm Dieses Diagramm ist auch unter dem Namen Fischgräten-Diagramm bekannt, manche nennen es auch 7M-Methode. Die 7 „M“ stehen für: Methode, Material, Mitwelt, Management, Maschine, Messverfahren, Mensch. Das Diagramm dient der Fehlerursachenanalyse oder der Analyse des Engpasses in einem Prozess. Die Methode ist äußerst einfach anzuwenden, man schreibt das zu untersuchende Problem auf die rechte Seite unter Effekt und kann dann strukturiert die Ursachen in den 7 Kategorien auf der linken Seite durchgehen. In dem folgenden Beispiel werden 6 Ursachen zur Liefer- oder Lagerperfomance bei geringsten Kosten betrachtet (Abb. 1.11).

1.6.6 Die Vier-Felder-Matrix Die Vier-Felder-Matrix ist der Einstieg in die Portfolio-Analyse, mit deren Hilfe man auf einfache Art und Weise einen Überblick über komplexe Sachverhalte bekommt und die Bewertungen und Entscheidungsfindungen hervorragend unterstützen kann. Die sogenannte Vier-Felder-Matrix baut auf der Portfolio-Analyse der Boston Consulting Group (BCG Matrix) auf, in welcher Produkte nach ihrer Lebensdauer in vier Felder einsortiert werden. Daraus können wichtige strategische Maßnahmen für das Unternehmen abgeleitet werden.

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Die Methode liefert zuverlässige grafische Transparenz, unabhängig davon, ob man sie unter Vertriebsgesichtspunkten oder beispielsweise zur Lieferantenbewertung und Portfoliosteuerung im Einkauf heranzieht, z. B. wie bei der Anwendung der Kraljic-Matrix. Die Eisenhower-Matrix arbeitet ebenfalls mit dieser grafischen Methode. Hier werden Projekte in ihre Dringlichkeit (X-Achse) und Wichtigkeit (Y-Achse) unterteilt.

1.6.7 Die Prozessbegehung Die Prozessbegehung ist die wichtigste Grundlage und die Basis für jedes Verbesserungs- und/oder Transformationsprojekt. Tatsächlich kann ich mich nicht erinnern, jemals ein Projekt ohne diese Prozessbegehung absolviert zu haben, denn dies ist die Grundlage für eine bessere Kundenorientierung, höhere Qualität, geringere Kosten oder kürzere Auftragsdurchlaufzeiten. Hier beginnt die konsequente Ausrichtung auf den Kundennutzen durch Überprüfung der Wertschöpfung je Prozessschritt. Für ein Transformationsprojekt kommt dann noch eine Change-Impact-Analyse hinzu, d. h., man startet mit dem Abgleich der Prozesse „as is“ im Vergleich zu „to be“ und beurteilt dann den Einfluss der Veränderung je Prozessteilschritt. Ein Prozess besteht aus „I“ wie Input, „L“ wie Leistung und einem Output „O“.

Abb. 1.12   Prozessmanagement. (Eigene Darstellung)

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Der Input kann der Eingang eines Materials, einer Dienstleistung, einer Information oder ein anders gearteter Trigger sein. Die Leistung beschreibt, warum es diesen Prozess gibt. Ist die Leistung des Prozesses wertschöpfend, ist die Existenz des Prozesses gerechtfertigt. Besteht die Leistung beispielsweise aus purem Warten, was ich leider auch schon oft gesehen habe, ist der Prozess nicht wertschöpfend und muss abgeschafft werden. Der Output bzw. das Prozessergebnis ist für den Kunden erstellt worden, den dieser honoriert, indem er die Dienstleistung, das Produkt oder die Information bezahlt. Die nachfolgende Grafik veranschaulicht, was bei der Prozessaufnahme und Dokumentation zu beachten ist (Abb. 1.12). Die Ausrichtung der Prozesse zielt immer auf die Kernkunden und die dazu notwendigen Geschäftsprozesse entlang der Wertschöpfung ab.

1.6.8 Fazit Die hier angeführten Methoden stellen eine kleine und einfach anzuwendende Auswahl für wirksame Verbesserungsvorhaben in Unternehmen dar. Diese sind ohne grossen Materialeinsatz sofort verfügbar und begleiten auf dem Weg zur integrierten Gschäftsplanung und bei dem Aufbau bzw. Umbau zu einer nachhaltigen digitalen Lieferkette.

Quellenangabe, zum Beitrag von Ulrike Bertrand Chopra S, Meindl P (2014) Supply chain management: Strategie, Planung und Umsetzung, 5. aktualisierte Aufl., Pearson Verlag, München Doerr J (2018) Objectives & key results. Vahlen, S 254 IAB-FORSCHUNGSBERICHT, Aktuelle Ergebnisse aus der Projektarbeit des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. 8|2019 Ökologische Nachhaltigkeit in deutschen Unternehmen: Empirische Ergebnisse auf Basis des IAB-Betriebspanels 2018, Lutz Bellmann, Theresa Koch http://doku.iab.de/forschungsbericht/2019/fb0819.pdf Neumann F (2016) Ziele der Materialwirtschaft, Logistik und Produktionswirtschaft. Leistungstypen und Produktionssystem. GRIN Verlag, München. https://www.grin.com/document/379454 Sauerland M, Gewehr P (2017) Entscheidungen erfolgreich treffen. Springer Fachmedien Wiesbaden, Springer Gabler, Springer, Berlin Willy C, SHIH, Harvard Business Manager (Juni 2022) Lohnen sich globale Lieferketten noch? S 50–55

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Ulrike Bertrand  ist eine End-to-End Supply Chain Expertin, die Prozesse entlang des Wertstromes etabliert und eine effektivere Zusammenarbeit über Abteilungsgrenzen hinweg fördert, “Anti-Siloing“. Sie beschäftigt sich seit über 25 Jahren mit dem Thema Supply-Chain-Optimierung. In verschiedensten Unternehmen in leitenden Einkaufs- und Supply-Chain-Positionen sowie als Beraterin mehrerer Vorstände konnte sie Lieferketten für unterschiedlichste Unternehmensziele optimiert aufsetzen und strukturell verbessern. Zu ihren Spezialitäten als Interim Managerin und Beraterin gehören Sales & Operation Planning (S&OP)-Implementierungen unter Nutzung moderner digitaler Möglichkeiten und der Vernetzung aller beteiligten Stakeholder. Nachhaltigkeit in der Lieferkette ist ihr ein Grundbedürfnis und inhärenter Teil ihrer Arbeit. Es ist ihr Anspruch, durch ein grundlegendes Verständnis des Firmenmodells ineffiziente und nicht nachhaltige Supply Chains zu transformieren und entsprechend der jeweiligen Unternehmensstrategie zu optimieren.

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Megatrends: Digitale Nachhaltigkeit und Klimaschutz Gegenwart verstehen – Zukunft nachhaltig gestalten Elmar R. Gorich

Fazit

Der Trend zu langlebigen Produkten und klimafreundlicher Produktion kann in direktem Zusammenhang mit den Themen der digitalen Transformation gesehen werden, wovon jeder Bürger, jede Bürgerin, jede Institution und jede Volkswirtschaft direkt betroffen ist und in Zukunft noch intensiver betroffen sein wird. Wir alle müssen radikal umdenken. Die Art, wie wir bisher gelebt und konsumiert haben, kannibalisiert die noch vorhandenen Ressourcen auf der Welt und wird vorhersehbar den zukünftigen Generationen Probleme bereiten, wenn wir nicht alle schnell unser Konsumverhalten überdenken und ändern. Aufstrebende Volkswirtschaften in Südamerika, Afrika und Asien, aber auch die aktuell dominierenden Weltmächte wie die USA, Russland und China erkennen, dass sich die Zukunft mittel- und langfristig nicht mit den bisherigen Konzepten und politischen Strategien nachhaltig und zukunftsweisend gestalten lässt. Eine zirkuläre Ökonomie wird zunehmend ein wichtiges Wettbewerbskriterium und ist ein nachhaltiges Instrument zur Reduzierung von Ressourcen. Produkte sollen langlebiger werden und im Produktlebenszyklus mehrfach repariert werden können, um so die knapper werdenden Rohstoffe und wertvollen Produktionsressourcen sinnvoll und mehrfach einzusetzen.

E. R. Gorich (*)  EGO-Consulting/Advisory & Management Services, Menden/Sauerland, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Buchenau (Hrsg.), Chefsache Digitale Nachhaltigkeit, Chefsache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41159-6_2

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Ebenso der CO2-Abdruck von Unternehmen und Produkten steht im Fokus des allgemeinen Interesses. Angestrebt wird eine Klimaneutralität der gesamten Industrie bis 2050, was bis dahin eine kontinuierliche und konsequente Reduktion der Nutzung fossiler Energien, hin zu erneuerbaren Energien, erfordert. Die digitale Transformation ist in vollem Gange. Die vorhandenen technischen Innovationen in den Bereichen KI (künstliche Intelligenz), Analytics und Robotic lassen ahnen, was in immer schnelleren Entwicklungszyklen für die Gestaltung der Zukunft verfügbar sein wird. Es gilt, die Chancen, aber auch die Risiken einer zunehmend voll digitalisierten Welt fest im Blick zu haben. Unbestritten hat eine immer technologisch komplexere Lebenswelt großen Einfluss auf jeden Menschen, in seinem beruflichen und privaten Umfeld. Das Konsumverhalten und die Wertesysteme der Menschen werden und müssen sich nach Meinung von Wissenschaftlern und Experten deutlich verändern, damit die vorhandenen Ressourcen auch für folgende Generationen nutzbar sind und das Weltklima weiterhin ein Leben auf diesem Planeten lebenswert ermöglicht. Von Managern und Politikern werden neue Rollenmodelle und Kommunikationsformen erwartet. Agile Führung und Leadership, nachhaltige Ausrichtung der Unternehmen und psychosoziale Empathie für die wichtigste Ressource, den Menschen, sind nur einige Neuerungen im Umgang mit einer sich immer schneller veränderten Lebenswirklichkeit – die smarte Nutzung technischer Hilfsmittel verändert die Arbeitswelten und die individuelle Lebensplanung schneller, als dies je vorher der Fall war.

2.1 Einleitung: Gegenwart verstehen – Zukunft nachhaltig gestalten Das Thema digitale Nachhaltigkeit ist aktuell ein Megatrend, der in direkter Verbindung zum Klimaschutz, der Politik und der Wirtschaft steht. Dieser Megatrend beschäftigt die Menschheit wohl auch noch in den kommenden Jahrzehnten. Seit den 1970er-Jahren haben sich Ökonomie und Soziologie mit der Frage der Nachhaltigkeit international auseinandergesetzt. Es wurde in den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch Wissenschaftler und Experten, nicht zuletzt auch durch Bewegungen wie „Fridays for Future“, ein Bewusstsein in breiten Schichten der Bevölkerung entwickelt, dass sich das Leben der Menschen und die permanenten Wachstumsbestrebungen der Volkswirtschaften nicht mit den tendenziell abnehmenden und knapper werdenden Ressourcen in Einklang bringen lassen. Bereits 1972 warnte der Club of Rome in seinem viel beachteten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ vor einer endlichen Ausbeutung der vorhandenen Weltressourcen, zugunsten von permanentem Wachstum und zulasten zukünftiger Generationen.

2  Megatrends: Digitale Nachhaltigkeit und Klimaschutz

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Durch den Club of Rome wurde ein „rasches und entschiedenes Handeln“ „angemahnt“, um die seinerzeitigen „Wachstumstendenzen“ noch zum Positiven ändern zu können, damit ein „ökologischer und wirtschaftlicher Gleichgewichtszustand“ herbeigeführt werden kann. Die Studie sensibilisierte die breite Weltöffentlichkeit für eine internationale Umweltpolitik. „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umwelt-verschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht“ (Dennis Maedows 1972). So gilt als gültige Lehrmeinung, dass eine nachhaltige Entwicklung darauf ausgerichtet ist, dass künftige Generationen nicht schlechtergestellt sein sollen als die jetzt lebende Generation, um die individuellen Bedürfnisse weiterhin befriedigen zu können (Sühlmann und Remmler 2018). Die heutigen von der UN (United Nation) formulierten UN-Nachhaltigkeitsziele fassen die Ziele für nachhaltige Entwicklungen in 17 Themenfeldern zusammen. Diese dienen international zur Orientierung für nachhaltiges handeln. Wirtschaft muss neu gedacht werden Wirtschaft muss in unseren Tagen neu gedacht werden, will man den existenziellen Bedrohungen unserer Zeit, etwa dem Klimawandel, der Teilhabe an Wohlstand für die industriell unterentwickelten Volkswirtschaften und den Abhängigkeiten von imperialen Tendenzen einzelner Staaten, mit Blick auf die zukünftige Gestaltung von erstrebenswerten Lebensformen, begegnen. Ein Kollaps der Wirtschaftssysteme dürfte in absehbarer Zukunft unvermeidbar sein, wenn die Menschheit, primär die Vertreter der Politik und die Führer der Wirtschaft, hier nicht aktiv gegensteuern und umdenken. Die Zeit arbeitet gegen die Bemühungen, die Zukunft zu denken und zu gestalten. Wissenschaftler sprechen von einem Zeitpunkt um das Jahr 2030, bis die ökonomischen und ökologischen Systeme kollabieren – ein Zeitpunkt, der bedrohlich naherückt. Die Erderwärmung ist nicht mehr zu leugnen. Naturkatastrophen nehmen weltweit zu, verursacht durch die Zerstörung der ökologischen Systeme, Umweltverschmutzung und falsche Energie- und Wirtschaftspolitik wirken als extreme Verstärkung der Situation. Die UN-Nachhaltigkeitsziele sollen ein Leitfaden für alle Nationen sein, um eine neue und nachhaltige Welt zu denken und zu gestalten (Abb. 2.1). Insbesondere die Kombination aus der Neuorientierung von Arbeit und Wirtschaftswachstum (Ziel 8), mit einer innovativen Industrie und einer modernen Infrastruktur (Ziel 9) für einen nachhaltigen Konsum und Produktion (Ziel 12) steht in einem engen Zusammenhang mit den Themen der Digitalisierung.

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Abb. 2.1   Quelle vom 22.5.22/17:17 Uhr: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/die-un-nachhaltigkeitsziele

So gilt es, Gewinne von Unternehmen bereits generisch umwelt- und sozialverträglich zu erwirtschaften, um folgenden Generationen auch noch ein lebenswertes und nachhaltig orientiertes Ökosystem zu hinterlassen. Nicht zuletzt durch die kriegerischen Aktivitäten, ausgehend von Russland, in der Ukraine, im Februar 2022, haben der Welt drastisch gezeigt, wie abhängig und verletzlich Staaten von Energien und dem reibungslosen Funktionieren der Lieferketten sind. War vor Februar 2022 die Globalisierung und die dezentrale Produktion in Ländern mit niedrigen Arbeits- und Produktionskosten im Fokus der Unternehmer, so ist ein Wandel zu beobachten. Ein Wandel, hin zu lokaler Produktion, mit verkürzten Lieferketten (SCO – Supply Chain Optimization) ist eine strategische Entwicklung, die sich mit Sicherheit in den kommenden Jahren weiterentwickeln und verstärken wird. Möglich macht dies eine zunehmend digitale Wirtschaft, mit vernetzten Systemen bei Lieferanten, Produktionsunternehmen und Kunden. Hier kommen z. B. 3-D-Druck-Konzepte zum Einsatz, die es ermöglichen, das Produkt, oder Einzelteil, schnell und effizient am Point of Sale zu produzieren. Lagerhaltung, Logistik und Kapitalbindung lassen sich optimieren oder ganz substituieren – lange Lieferwege können entfallen. Der Kundennutzen liegt in der schnellen Verfügbarkeit und trotzdem einer hohen Qualität. So wird aus einem digitalen Nutzen auch eine digitale Nachhaltigkeit, die Ressourcen schont.

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2.2 Megatrend: Digitale Nachhaltigkeit Das Zeitalter der Digitalisierung braucht jetzt und in Zukunft Unmengen an Energie, um die Volkswirtschaften funktionsfähig zu halten und Wohlstand für alle Menschen auf dem Planeten Erde zu realisieren und zu erhalten. Hier soll nicht auf die sozioökonomischen Rahmenbedingungen Bezug genommen werden – hierzu gibt es ausreichend Literatur und fundierte Erkenntnisse und Meinungen (siehe weiterführende Literatur). Betrachten wir an dieser Stelle nur eine Determinante der erforderlichen Ressourcen, den enormen Stromverbrauch, der erforderlich ist, um allein in Deutschland die für die Digitalisierung erforderlichen Computer, Rechenzentren und Infrastrukturen zu betreiben. Allein in Deutschland werden mehr als 3000 größere Rechenzentren betrieben, mit der Tendenz zu immer mehr Leistung, um die zunehmenden Produkte und Lösungen der Digitalisierung zu verarbeiten. Im Jahr 2021 verbrauchten diese Rechenzentren rund 16 Mrd. Kilowattstunden Strom, was deutlich mehr Stromverbrauch ist, als die Stadt Berlin mit rund 3,7 Mio. Einwohnern im gleichen Jahr verbraucht hat, Tendenz steigend. Im Vergleich hierzu, ein durchschnittlicher Haushalt verbraucht ca. 2300–3000 kWh Strom pro Jahr (Abb. 2.2).

Abb. 2.2   Quelle: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/technologie/rechenzentren-energiebedarf-101. html. Der jährliche Energiebedarf der Server und Rechenzentren bzw. Rechenzentrumsstruktur in Deutschland für die Jahre 2010 bis 2020

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Immer neue Bereiche der modernen IT erfordern auch in Zukunft immer höhere Anforderungen an Energie, Datensicherheit bezüglich der Speichermedien und Schutz vor Cyberattacken. Das Ziel der Politik ist es, bis 2027 alle neu installierten Rechenzentren in Deutschland klimaneutral zu betreiben. Auch die Europäische Kommission folgt dem deutschen Weg und nimmt das Jahr 2030 für alle Mitgliedsländer der EU in den Fokus.

2.2.1 CO2 als Klimakiller Auch der CO2-Abdruck von Unternehmen und Produkten steht im Fokus des öffentlichen und allgemeinen Interesses. Angestrebt wird eine Klimaneutralität der gesamten Industrie bis 2050, was bis dahin eine kontinuierliche und konsequente Reduktion der Nutzung fossiler Energien, hin zu erneuerbaren Energien, erfordert. Bei einem Pro-Kopf-Verbrauch von aktuell 11,17 t CO2 pro Kopf in Deutschland entfallen allein auf den Bereich Wohnen und Mobilität 37 % CO2 pro Jahr, gefolgt von 34 % für den allgemeinen Konsum. Angestrebt wird eine Senkung auf rund 1 t CO2 pro Kopf, um die von der Regierung geforderten Klimaziele zu erreichen. Es liegt auf der Hand, dass hier kurz- und mittelfristig Handlungsbedarf besteht (Abb. 2.3). Google, als einer der ganz großen Internet-Plattformbetreiber, wirbt in ganzseitigen Anzeigen für seine Nachhaltigkeitsziele. Nach eigenen Angaben arbeitet Google seit 2007 klimaneutral, indem sämtliche Rechenzentren mit Strom aus erneuerbaren Energiequellen betrieben werden (Manager Magazin 2022). Neben der Energiepolitik sieht Kate Brandt, Chief Sustainability Officer bei Google, die Klimakrise als „drängendste Herausforderung unserer Zeit“ und spricht dabei auch vom praktischen Nutzen der angestrebten digitalen Nachhaltigkeitsziele des Konzerns. Als Beispiel wird von Kate Brandt die App „Google-Maps“ genannt: Der Nutzer bekommt nicht nur den kürzesten Weg angeboten, sondern auch eine optimal umweltfreundliche Route. Als großes Ziel des Konzerns bezeichnet Kate Brandt, dass Google sehr ambitioniert bis 2030 komplett CO2-frei arbeiten wird. Bis dahin werden mehr als eine Milliarde Euro durch Google in digitale Infrastruktur und saubere Energien investiert. Kooperationen mit Solarparks und über 22 Windparks in Deutschland unterstützen diese Nachhaltigkeitsziele des Konzerns.

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Abb. 2.3   Eigene Darstellung/CO2-Fußabdruck pro Kopf in Deutschland. (Quelle: www.google. com/. Zugriff 30.04.22/19 Uhr)

2.2.2 Foodporn: Ruinieren Essens-Bilder wirklich den Planeten? Im Frühjahr 2022 dachten die G7-Minister anlässlich eines Treffens in Düsseldorf über ein Phänomen nach, das als „Foodporn“ bekannt ist. Das Fotografieren von Essen und damit verbunden die Speicherung der weltweit gespeicherten Bilder verbrauchen, so der zuständige Bundesminister Wissing (FDP), „weltweit einen enormen Energiebedarf“ (Schiffer 2022). Nur am Beispiel von Essens-Bildern und dem Streamen von Filmen wurde die Frage gestellt, ob diese vom Bürger und Konsumenten genutzte moderne Technik der Umwelt schadet. Die Nutzung des Internets, für fast jeden Bürger in der heutigen Zeit ein täglich genutztes Medium, spielt bei der Betrachtung der Nachhaltigkeit eine große Rolle. Um Bilder in Dateien zu speichern und zu verarbeiten, so Wissing, müssen Rechenzentren betrieben und Serverfarmen energieintensiv gekühlt werden. So fand eine britische Studie 2021 heraus, dass der CO2-Abdruck von überflüssig gespeicherten Daten ähnlich groß ist wie der des internationalen Flugverkehrs. Zu dem Datenmüll gehören E-Mails, Videos, aber auch Bilder. Die Forschenden gingen davon aus, dass ein durchschnittlicher Brite etwa 900 Bilder pro Jahr aufnimmt und es dabei einen großen Teil an Dubletten gibt, die aber trotzdem in den Rechenzentren gespeichert und verwaltet werden.

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Um hier ein Gefühl für das Datenvolumen zu bekommen: Fotos mit 12 Megapixel verbrauchen etwa zwischen 2 MB und 10 MB (meistens 3 MB). Fotos mit 108 Megapixel beanspruchen hingegen zwischen 24 MB und 45 MB (meistens 30 MB). Mit einer 10-MP-Frontkamera aufgenommene Selfies machen sich mit 1 MB bis 4 MB (häufig 1,5 MB) Speicherbedarf bemerkbar (Kingston Technology 2022). Die Empfehlung der Minister: Wer also sein Essen umweltschonend fotografieren möchte, der sollte regelmäßig Bilder löschen!

2.2.3 Handynutzung – mit Suchtpotenzial? Die Nutzung von Mobiltelefonen (Handys) hat mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung in den Industriestaaten zu einer deutlich sichtbaren Abhängigkeit geführt. Auch in Schwellen- und Entwicklungsländern ist das Mobiltelefon weitverbreitet, da eine Mobilfunkinfrastruktur weniger investitionsintensiv ist, als Kupfer- oder Glasfaser zu verlegen. Unbestritten ist der Alltagsnutzen von Mobiltelefonen in allen Bereichen des täglichen Lebens, dennoch gilt es, einige psychosoziale Aspekte näher zu betrachten. Ein Analytiker von Apple, Ben Bajarin, hat hier konkrete Zahlen erforscht zu der Frage, wie oft wir Handynutzer pro Tag unser Handy entsperren – und das ist im Schnitt rund 80-mal. Das bedeutet, bei einem gesunden Schlaf von acht Stunden pro Tag entsperrt jeder Handy-Nutzer alle zwölf Minuten am Tag sein Handy, um sich Informationen und Inhalte von Interesse anzusehen (Google 2022). Schaut man sich bewusst in den Fußgängerzonen der Innenstädte um, so ist nicht übersehbar, dass eine Mehrzahl der Passanten „online“ ist. Mütter schieben oft ihre Kinderwagen, das Handy am Ohr. Mit dem Kind wird nicht oder nur selten interaktiv kommuniziert. Da wundert es Pädagogen und Psychologen nicht, dass viele Kinder bereits im Vorschulalter mit sprachlichen und kognitiven Entwicklungsdefiziten auffallen.

2.3 Die digitale Transformation ist in vollem Gange Die vorhandenen technischen Innovationen in den Bereichen KI (künstliche Intelligenz), Analytics und Robotic lassen erahnen, was in immer schnelleren Entwicklungszyklen auf den Markt kommen und die Gestaltung der privaten und beruflichen Zukunft beeinflussen wird. Wer sich für Details und konkrete Anwendungsfälle interessiert, dem steht der Autor auch gern persönlich zur Verfügung, um die Themen im Rahmen von Vorträgen und Workshops zu vertiefen – sprechen Sie mich an. Das Konsumverhalten und die Wertesysteme der Menschen verändern sich, aber leider noch nicht in dem Tempo, wie es erforderlich und wünschenswert ist, um dem

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Klimawandel und der gerechten Teilhabe an den Ressourcen den entscheidenden Impuls zur Veränderung zu geben. Die Informationen liegen vor – alles ist theoretisch gedacht, beschrieben und gesagt – jetzt wird es Zeit, ins TUN zu kommen.

2.3.1 Von Managern werden neue Rollenmodelle erwartet Agile Führung und Leadership, nachhaltige Ausrichtung der Unternehmen und psychosoziale Empathie für die wichtigste Ressource, den Menschen, sind nur einige Handlungsfelder für Führungskräfte und Politiker, um Veränderungen den Weg zu ebnen. Die smarte Nutzung technischer Hilfsmittel verändert die Arbeitswelten und hat auch Einfluss auf die individuelle Lebensführung. Insbesondere die Trends zur digitalen Nachhaltigkeit werden anhand der bereits vorhandenen Werkzeuge wie KI, 3-D-Printing, Augmented Reality, Plattform-Business, Industrie-Roboter, aber auch „personal Robots“ etc. in Publikationen und TV-Magazinen beschrieben und dargestellt. Sowohl für das Management als auch für Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten ergeben sich viele Ansätze für nachhaltige Digitalkonzepte, die zum gegenseitigen Nutzen wirken – sowohl für die Wirtschaft als auch für die Umwelt. Den Datenstrategien in Unternehmen und der Rolle des CDO (Chief Digital Officer) oder CIO (Chief Digital Officer) wird zukünftig viel Aufmerksamkeit zu widmen sein. Diese neuen Funktionen werden zunehmend strategisch positioniert und wirken als Teil der Geschäftsleitung richtungsweisend für die strategische Ausrichtung der Unternehmen und die nachhaltige Gestaltung der digitalen Geschäftsprozesse in Unternehmen.

2.3.2 Umdenken – Wahrnehmung und Verhalten ändern In der Geschichte der Menschheit gab es bereits viele gesellschaftspolitische und technologische Veränderungen, die eine Neuausrichtung und Anpassung auf sich verändernde Situationen erforderlich gemacht haben. Manche Veränderungen wurden mit Sicherheit als schmerzlich, herausfordernd und disruptiv erlebt, aber nur so konnten neue Entwicklungen, technischer Fortschritt und unsere heutigen modernen Lebenswelten entstehen. Veränderung hat stets mit Bewusstsein zu tun. Jede Gesellschaft verändert sich nachhaltiger, wenn sich die Menschen ihrer individuellen Stärken bewusst sind und diese für den gesellschaftlichen Wandel in Richtung einer nachhaltigeren Zukunft einsetzen (Deckert und Saß 2020). Nachhaltige Entwicklung zu beeinflussen und voranzutreiben bedeutet, bei sich selbst zu beginnen und auf den relevanten Handlungsfeldern aktiv Veränderungen zu initiieren und konsequent voranzutreiben (Deckert und Saß 2020).

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Deckert und Saß sprechen hier von #BEKBEE, den 6 Handlungsfeldern, auf denen wir alle bewusst aktiv werden müssen, um nachhaltige Veränderungen zu bewirken: Bewegung Ernährung Konsum Besitz Energie Engagement Es muss uns Menschen bewusst sein, dass wir uns als Teil einer immer digitalisierteren Umwelt nur mit menschlichen Fähigkeiten und menschlichem Verhalten, insbesondere auch von künstlicher Intelligenz, differenzieren können.

2.3.3 Rahmenbedingungen einer nachhaltigen Digitalisierung Genügte es in der Vergangenheit, einzelne Prozesse in einem Unternehmen zu designen, so haben wir es bei der digitalen Transformation mit einem langwierigen Veränderungsprozess zu tun, der das gesamte Unternehmen, aber auch andere Marktteilnehmer betrifft. Der Einfluss der Digitalisierung reicht bis in das Privatleben und ist eng verwoben mit der Arbeitswelt. Die digitalen Konzepte sind integrativ zu denken, nach der Erkenntnis von Alexander v. Humboldt: „Alles hängt mit allem zusammen.“ Digitalisierung tangiert nicht nur den technischen Fortschritt, sondern auch die elementaren Bereiche der menschlichen Existenz, wie Ökologie und Sozialsysteme (Abb. 2.4).

Abb. 2.4   Eigene Darstellung. (Angelehnt an Michael Jakob, Digitalisierung und Nachhaltigkeit, S. 27)

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2.4 4.0. KI die Welt erklären KI darf nicht verwechselt werden mit der Intelligenz, die uns Menschen ausmacht. Alles, was uns Menschen schwerfällt, fällt Maschinen leicht. So kann eine Maschine alles ausführen, was sich als ein Prozess beschreiben lässt. Ethik und Moral sind Bereiche menschlichen Verhaltens, die nach heutigem Stand nicht von Maschinen nachgebildet werden können, ebenso wenig wie Kreativität. Chris Boos, einer der namhaften Visionäre und Experten auf dem Gebiet der KI, sagt in einem Vortrag: „KI kommt immer am Anfang leer daher“ (Boos 2019). Wir müssen der KI „die Welt erklären“ – also genau beschreiben, wie die Welt ist. Um zu verdeutlichen, welche technischen Limitierungen mit KI heute noch bestehen, liefert Chris Boos ein einprägsames Beispiel, indem er die Anzahl der neuronalen Knoten, die wir Menschen in unseren Gehirnen haben (ca. 84 Mrd.), mit den heute durch KI abbildbaren Knoten von Super-Computern vergleicht (ca. 1 Mio.). Um Computer mit der Energie zu versorgen, die ein menschliches Gehirn nachbilden könnten, braucht man lt. Boos „ein halbes Atomkraftwerk, hingegen der Mensch braucht lediglich ein Butterbrot“ als Energiezufuhr für seine Gehirnaktivitäten. KI wird von Experten als eine große historische Chance für unser heutiges Leben und für die Zukunft gesehen. Auch wenn Stephen Hawking, der bekannte Physiker, sagte: „Eine Super-KI wäre entweder das Beste oder Schlimmste, das der Menschheit zustößt.“ „Computer können theoretisch menschliche Intelligenz emulieren und sie übertreffen“, sagte Hawking in seiner Ansprache auf dem Web Summit 2017 in Lissabon und warnte davor, die Entwicklungen unkontrolliert laufen zu lassen. Viele Anwendungen der KI helfen Menschen und Unternehmen, lästige, stupide Routinearbeiten und die Verarbeitung von Massendaten präzise zu analysieren und durch entsprechende Algorithmen zu präzisen Entscheidungsvorlagen für den Menschen zu erarbeiten – schneller und präziser, als ein Mensch es vermag. Unternehmen gewinnen konkrete Markt- und Wettbewerbsvorteile durch den Einsatz von KI-Analytics und können Kaufentscheidungen von Konsumenten tendenziell, aber auch genau vorhersehbar berechnen. Der ökonomische Nutzen von KI ist unbestritten und wird auch in Zukunft weiter an Akzeptanz gewinnen. Die Geschwindigkeit und Genauigkeit von KI-Analytics wirken auf Laien oft erschreckend und faszinierend zugleich.

2.4.1 Gesundheitswesen – Roboter helfen in der Pflege Als ein konkretes Beispiel kann der Bereich „Pflege im Gesundheitswesen“ genannt werden. So sehen bereits 76 %, also mehr als zwei Drittel der Deutschen Chancen beim Einsatz von Robotern in der Pflege. Dies ist dem Report „Pflege und digitale Technik“ des Zentrums für Qualität in der Pflege zu entnehmen (Zentrum für Pflege 2020).

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Roboter können an Medikamente und an das Essen erinnern oder bei der Kommunikation helfen (DUB Unternehmer-Magazin 2022). Noch vertrauen 89 % der Deutschen bei einer medizinischen Diagnose auf einen Arzt, aber 44 % der Befragten würden eine Zweitmeinung von einer künstlichen Intelligenz einholen, wenn diese zur Verfügung steht (DUB 2022). Nach Aussagen von Verena Fink, KI-Beraterin von Woodpecker Finch, nutzen bereits mehr als 800 Mio. Patienten weltweit digitale Gesundheitsdienste (DUB 2022). So ist sich die Autorin des Artikels „Die Aufholjagd hat begonnen“ sicher, dass das Rückgrat von Gesundheitssystemen zunehmend digital sein wird und menschliche Wertschöpfung nur noch dort eingesetzt werden wird, wo sie echten Mehrwert bringt – eine starke These, die jedoch im Zuge der allgemeinen digitalen Entwicklung, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Corona-Krise, durchaus ernst zu nehmen ist (Quelle: DUB, S. 34).

2.4.2 Zukunft im Gesundheitswesen – Veränderung erfordert Wachsamkeit Am Beispiel des zukünftigen Gesundheitswesens und der  bahnbrechenden Entwicklungen in der modernen Medizin lassen sich die Möglichkeiten der digitalen Welt sehr eindrucksvoll feststellen – auf diesem Sektor werden in den kommenden Jahren revolutionäre Entwicklungen passieren, die nachhaltig und zum Wohle der Menschheit extreme Mehrwerte bieten. So ist im Internet nachzulesen, dass seit einiger Zeit „das Uni-Klinikum Heidelberg den OP-Roboter ‚Da Vinci‘ im Bereich minimal-invasiver Präzisionschirurgie sehr erfolgreich einsetzt. Die Klinik ist damit europaweit eine der ersten Lungenfachkliniken, in der täglich robotisch-assistierte minimal-invasive Eingriffe durchgeführt werden“ (Klinikum Uni-Heidelberg 2022). Bereits 2016 wurde in einem Wissenschaftsmagazin darüber berichtet, dass ein Roboter bei einem Patienten in Italien eine Netzhaut präzise entfernte, die die Sicht des Patienten verzerrt hatte. Das Häutchen war nur ein hundertstel Millimeter dick und jeder Fehlschnitt hätte den Verlust des Augenlichtes für den Patienten zur Folge gehabt. Auch ein minimales Zittern der Hand des Operateurs wurde durch den Roboter ausgeglichen (P.M. Magazin 2016). Nicht nur in der Industrie, auch in der Medizintechnik werden 3-D-Scan und 3-DDruck zunehmend sinnvoll und nachhaltig eingesetzt werden – insbesondere bei der Herstellung von Prothesen und Orthesen. Kosmetische Prothesen, wie Ohren, Hände und Füße, lassen sich mit dieser Technik naturgetreu produzieren (Roth 2021).

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2.4.3 Zukunftsmarkt Neurotechnologie – das Gehirn programmieren Bei aller Begeisterung für die Möglichkeiten der Digitalisierung bleibt anzumerken, dass nicht alle technischen Möglichkeiten auf den ersten Blick auch sinnvoll sind. Da gibt es interessante Zukunftsprognosen, die zwar nützlich erscheinen, jedoch unsere heutigen Wertesysteme und moralischen Konzepte disruptiv beeinflussen werden, wenn wir vorbehaltlos der Technik vertrauen und die eventuell negativen Facetten und Auswirkungen vorbehaltlos akzeptieren. Elon Musk, nicht nur ein Visionär, sondern auch ein Mega-Unternehmer disruptiert eine Branche nach der anderen. So entwickelte Elon Musk eine Vision für die Zukunft, indem er einen Chip von der Größe einer Münze in den Schädel implantieren möchte, um mit dem Smartphone zu kommunizieren und eine elektronische Verbindung zum menschlichen Gehirn herzustellen. Seine Firma Neuralink hat bereits einen solchen Chip entwickelt und diesen Prototyp in Schweineschädel implantiert. Seine Vision: In ungefähr 5 Jahren wird die KI (künstliche Intelligenz) die menschliche Intelligenz überholen (WAMS – Welt am Sonntag 2021). Der anvisierte Nutzen dieser Technologie: Wenn es wirklich dauerhaft gelingt, durch eine elektronische Verbindung zum menschlichen Gehirn Einfluss auf verletztes Nervengewebe zu nehmen, können gelähmte Menschen irgendwann wieder laufen oder durch Gedanken Nachrichten verfassen. Die kognitiven Fähigkeiten der Menschen sollen durch diese Entwicklung deutlich verbessert und optimiert werden. Ein faszinierender Gedanke, dass ein kleiner Chip an der richtigen Stelle im Hirn platziert, verbunden mit dem Smartphone über Bluetooth ermöglicht, in extrem kurzer Zeit eine neue Sprache zu lernen. Neue Fähigkeiten auf diesem Weg im Hirn zu „programmieren“ erscheint aus heutiger Sicht noch befremdlich, hat aber dennoch eine Faszination und dürfte einen Multi-Milliarden-Markt kreieren.

2.4.4 Wo ist bei Neurotechnologie der digitale Nachhaltigkeitsnutzen? Mit der Weiterentwicklung eines bereits schon existierenden Hirnschrittmachers lässt sich verletztes Nervengewebe überbrücken (Quelle: www.neurolink.com), was bei der Behebung von Schmerzen, Sehbehinderungen, Hörverlust, Schlaflosigkeit, Hirnschäden sowie Rückenmarksverletzungen neue Türen in der Medizin öffnen dürfte (DUB Unternehmer-Magazin 2021; Neuralink 2022). Bereits im August 2020 präsentierte Musk einen Prototyp seines Neurolink-Chips, der im Kopf eines Schweins implantiert, Gehirnströme gemessen hat und mit Bewegungen verknüpft war.

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Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat den Chip im selben Jahr als „bahnbrechendes Gerät“ bezeichnet. Die Zulassung als Medizingerät ist in der Genehmigungsphase. Die nahe Zukunft wird zeigen, ob sich diese Technologie durchsetzt und so zum Wohle der Menschheit nachhaltig eingesetzt und akzeptiert wird.

2.4.5 Der Mensch gewinnt durch KI wertvolle Zeit! Bleibt die Frage, was wir Menschen mit der gewonnenen Zeit machen? Dieser Zeitgewinn steht dem Menschen theoretisch für die oft beschriebenen „wirklich wichtigen Dinge“ zur Verfügung. Emotionales Verhalten und Kreativität sind, wie schon erwähnt, Fähigkeiten, die von Maschinen aus heutiger Sicht echtem menschlichen Verhalten nicht nachbildbar sind. Was bei KI und Robotern auf den ersten Blick wie menschliche logische Antworten, Reaktionen oder Verhaltensweisen gefühlt wahrgenommen wird, folgt einem Algorithmus, also einer programmierten binären Struktur – auch wenn es emotional folgerichtig und menschlich wirkt. Es ist und bleibt eine „dumme Maschine“, der die Welt erklärt werden muss, bevor ein gefühlt menschliches Verhalten produziert werden kann. Dennoch, Kaufentscheidungen, Empfehlungen, schnelle Befriedigung von kurzfristen Bedarfen, z. B. die Suche nach einem bestimmten Musiktitel, eine roboterunterstützte Assistenz im Haushalt oder Entlastung bei der Erledigung von Routinetätigkeiten, erkennen wir Menschen als durchaus nützlich an – ja, die heutigen „Alexas“ und „Siris“ helfen uns stetig, die Möglichkeiten der KI zu erkennen und im Alltag zu nutzen. Der erforderliche Energieaufwand, um diese Systeme heute und zukünftig zum Nutzen der Menschheit zu betreiben, erscheint absolut gerechtfertigt, wenn man die Vorteile dieser Technologien gegen mögliche Risiken abwägt. Hier kann man ohne Übertreibung auch von einem echten digitalen Nutzen sprechen, der nachhaltig wirkt. Neben den vielen Nutzungsmöglichkeiten der „modernen Assistenten“ braucht es auch die Konsequenz und das Bewusstsein der Benutzer, sich nicht von dieser Technik abhängig zu machen und soziale, menschliche Kontakte zu vernachlässigen. Training und Unterweisung, bereits in der Grundschule, ja sogar auch schon in Vorschuleinrichtungen ist erforderlich, um den sinnvollen Umgang mit Technik zu erlernen und zu begreifen. Programmieren, um zu verstehen, wie Computer arbeiten, gilt zunehmend als „Basic-Skill“ in unserer digitalen Welt – ebenso wichtig, wie eine Fremdsprache zu erlernen. Jeder Schüler und Student wird es bereits heute als einen unverzichtbaren Komfortund Zeitvorteil ansehen, mit seinem Mobilgerät auf alles Wissen der Welt direkt zugreifen zu können und Informationen gezielt abzufragen und diese Informationen schnell ergebnisorientiert zusammenzuführen – in der Wissenschaft für Seminararbeiten, Dissertationen und gezielte Fachfragen extrem effizient. Im beruflichen Alltag schnell und präzise Antworten auf konkrete Sachfragen zu bekommen, Zugriff auf Mustertexte und

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Formulare zu haben oder Wissenslücken in kürzester Zeit aufzufüllen, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Lernerfahrungen werden im beruflichen Umfeld von der jungen Generation intuitiv und ohne Vorbehalte genutzt – analoge Recherchen, egal zu welchem Thema, wirken „old school“ und dürften in einigen Jahren als historisch angesehen werden.

2.4.6 Smarte Services erfordern neue Ideen KI wird zukünftig einen wichtigen Beitrag zu Analysen, Prognosen und Prozessen liefern. Der Vertrieb und das Marketing müssen ebenso neu gedacht werden wie Produktentwicklung und Fertigungsprozesse. Smarte Services werden wettbewerbsdifferenzierend sein und mithilfe von Bots und Robotern schneller, effizienter und kundenzentrierter den Unterschied machen, wie Kunden zukünftig einen Anbieter erleben. Wenn smarte Assistenten zunehmend für uns Menschen Kaufempfehlungen oder gar Kaufentscheidungen treffen und Roboter als persönliche Assistenten unser Leben erleichtern, dann braucht es auch eine neue Dimension von Services. Digitale Konzepte erfordern neue Ideen – insbesondere in Bereichen, in denen die menschliche Zuwendung ein wesentlicher Bestandteil von Service ist.

2.4.7 Services stehen 7 × 24 h zur Verfügung Vergleichsportale (z. B. Check24) und Einkaufsplattformen (Amazon, Zalando u. v. a.) erlauben die absolute Transparenz von der Couch im Wohnzimmer, ohne sich mit viel Zeitaufwand in der Fußgängerzone oder in Shoppingmalls vom gewünschten Produkt visuell und haptisch überzeugen zu lassen. Anstatt von oft unmotivierten, unwissenden, ja auch manchmal arroganten Verkäufern schlecht oder nicht umfassend beraten zu werden, ist jede relevante Information im Web jederzeit 7 × 24 h digital zugänglich. Additive Services, wie kostenlose Rücksendung, Kauf auf Probe oder Umtauschoptionen, machen eine Kaufentscheidung für den B2C-Konsumenten risikolos. Diese Services sind heute auch im B2B-Geschäft üblich und wettbewerbsdifferenzierend. Aus Sicht der Kundenpsychologie sind Ankerpreise und Preiseinschätzungen bei der Mehrheit der Kunden bekannt. Der Kunde entscheidet, wie seit jeher, nach seiner ganz individuellen Präferenz, aber er hat psychologisch mehrere Konten im Kopf (mental Accounting) und entscheidet auf der Basis seiner monetären Möglichkeiten und seiner individuellen Präferenz mithilfe der gebotenen Transparenz im Internet, z. B. ob er auf seinen Urlaub verzichtet oder auf ein preiswerteres Produkt ausweicht.

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Es ist jedoch nicht allein der Preis, sondern auch Faktoren wie Qualität und Nutzen sind relevante Entscheidungsfaktoren, ebenso die Strahlkraft einer Marke oder die mit dem Produkt verbundenen Serviceleistungen. Hier sind die hybriden Geschäftsmodelle zukunftsweisend – erfordern jedoch vom Anbieter eine Neuorientierung bezüglich der Art der Kundenansprache – hier sind zunehmend Tendenzen sichtbar, dass Kunden im Netz Produkte auswählen und dann im Store abholen oder gegen geringe Kosten durch einen Lieferservice an die Wohnungstür liefern lassen. Die „Internet-Generation“ geht mit diesen Angeboten vorbehaltlos und selbstverständlich um. Die Generation 60+ ist dabei, sich zunehmend digital auszurichten – überwiegen doch die individuellen Vorteile. Die Innenstädte werden zunehmend unattraktiver für den Einzelhandel – Erlebniskauf steht im Vordergrund. Der Kunde möchte ein „Kauferlebnis“ in seiner knappen Freizeit. Auch ist für Stadtplaner, Event-Agenturen und Web-Designer ein weites Betätigungsfeld gegeben, um die digitalen Trends optimal in das Bewusstsein der Kunden zu bringen – als Nachhaltigkeitseffekte wären zu nennen: weniger Kfz in den Innenstädten, autofreie Stadtviertel, begrünte parkähnliche Straßen ohne Verkehr, kinderfreundliche Lebensräume ohne Verkehr und Gefahr, dies sind nur einige Beispiele für konkrete Nachhaltigkeitseffekte.

2.4.8 KI optimiert Prozesse Nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch in der klassischen Kundenbeziehung im B2B- und B2C-Bereich erfordern Kosten- und Wettbewerbsdruck neues Denken. Die Möglichkeiten der digitalen Werkzeuge bieten sich hier an und werden zunehmend von den Marktteilnehmern akzeptiert. KI kann komplexe Probleme eigenständig analysieren und Lösungen anbieten. Jeder Prozess gibt der KI die Möglichkeit, zu lernen und somit immer perfekter auf Anforderungen zu reagieren. Neben der Kosteneffizienz bieten KI-Systeme auch Vorteile bei der Optimierung von Prozessen, im Sinne des KVP-Gedankens (kontinuierlicher Verbesserungsprozess). Routinetätigkeiten lassen sich durch digitale Tools, KI-gestützt, zu individuell erlebten Serviceprodukten gestalten, wie bereits erwähnt. Diese Effekte zahlen erheblich auf die Kundenzufriedenheit und ein wettbewerbsdifferenzierendes Kundenerlebnis ein (Customer Journey). Eine psychologische Komponente der KI beim Einsatz von Kundenkontakten ist, dass der Mensch in der Kommunikation mit der KI eine hohe „Ähnlichkeit“ zur menschlichen Kommunikation erlebt und diese bei längerer Nutzung auch als menschlich interpretiert. Ein wesentlicher Effekt für Unternehmen ist die Entlastung von Routinearbeiten bei qualifiziertem Fachpersonal. Qualifikation von Fachpersonal kann konzentriert und ziel-

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genau dort genutzt werden, wo der direkte und persönliche Kontakt „von Mensch zu Mensch“ unabdingbar ist – bei der Beratung oder im kreativen Bereich. Die Digitalisierung wird uns auch eine Rückkehr von Services bieten, wie wir sie schon seit langer Zeit nicht mehr erlebt haben – Service wird wieder auf ein neues Level gehoben. Der Beziehung „Von Mensch zu Mensch“ kommt in digitalen Konzepten eine extrem hohe Bedeutung zu. Der Mensch schätzt den interpersonellen Kontakt, die persönliche Ansprache eines ihm zugewandten Menschen, weil Empathie, Kreativität und Begeisterung urmenschliche Fähigkeiten sind, die Vertrauen erzeugen, zu Unternehmen, Produkten und Menschen. Kunden werden durch die digitalen Möglichkeiten nicht nur besser informiert, sondern insgesamt auch selbstbewusster und routinierter im Umgang mit digitalen Werkzeugen und Systemen. Es werden privat und geschäftlich nicht nur Preise verglichen, sondern auch Produktund Unternehmensbewertungen angeschaut. Die Kaufentscheidung wird durch leicht zugängliche Informationen stark beeinflusst.

2.5 Daten – eine neue Währung Noch ein wichtiger Aspekt bei der digitalen Nachhaltigkeit ist das Thema „Datensammlung durch Internet-Unternehmen“. Man spricht hier auch von einer neuen Währung, mit der Unternehmen gute Geschäfte machen und neben dem Kerngeschäft neue lukrative Geschäftsmodelle etabliert haben. Die gesellschaftliche Akzeptanz dieser neuen Währung „Daten“ ist noch sehr gering und mit Vorbehalten belastet. Nutzer von digitalen Diensten hinterlassen digitale Spuren im Internet, bei jeder durchgeführten Interaktion. Die hier oft unbewusst und unwissentlich „gespendeten Daten“ werden oft ohne monetäre Gegenleistung zur Verfügung gestellt. Der Mensch verliert die Verfügungsgewalt über seine eigenen Daten. Die Nutzer stellen ihre persönlichen Daten, also die digitale Spur ihres Konsumverhaltens, oft sogar ganz intime Informationen, unbewusst, freiwillig und kostenlos zur Verfügung und können lediglich den schnellen Lieferservice oder die Transparenz des Warenangebotes als Service für sich nutzen. Hier meint Jaron Lanier, ein Internet-Entwickler der ersten Stunde, dass die Menschen, als Urheber, für ihre Informationen bezahlt werden sollten (Lanier 2014). Daten und Informationen haben einen Wert – schließlich kapitalisieren Unternehmen diese erhobenen Daten zu ihrem Vorteil. Hier ist mit Sicherheit in naher Zukunft noch mit interessanten Entwicklungen zu rechnen – Lanier hat das in seinem Buch hervorragend beschrieben. Grundsätzlich ist die Tatsache, dass Amazon, Google u. v. a. Daten ohne ausdrückliche Einwilligung ihrer Kunden Daten sammeln, um etwa Profile zu erstellen, juristisch kritisch zu sehen.

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Unternehmen nutzen die Kundendaten nicht nur für die Prognosen im Kaufverhalten oder für die Positionierung von komplementären Angeboten, etwa in der Mode oder bei Büchern. Es wird mit diesen Daten, neben Kaufprognosen, auch sehr gezielt individuelle Werbung platziert – oft vom Endverbraucher als lästig empfunden. Für Handel und Industrie wird die Datenerfassung zu einem unverzichtbaren Marketing-Tool und generiert ein zusätzliches Geschäftsmodell und einen Multi-MilliardenWachstumsmarkt, der seine eigenen Regeln und spezifischen Auswirkungen in dedizierten Branchen hat. Zwar gibt es mit der DSGVO (Datenschutz-Grundverordnung) einen rechtlichen Schutz der privaten Sphäre bezüglich der Nutzung und Verbreitung von individuell zuzuordnenden Daten, aber die andere Seite der Medaille ist, dass unternehmerische Interessen, Neukunden zu identifizieren und zu kontakten, erheblich eingeschränkt werden. Dies führt sogar zu konkreten Behinderungen bei der Akquise und Kundenansprache, z. B. per Telefon oder schriftlicher Kontaktaufnahme – wird jedoch von der Mehrheit der Individuen als richtig eingeschätzt, da man sich so vor ungebetenen Werbeanrufen und Werbung in Briefkästen geschützt sieht. Eine sich verselbstständigende Nutzung von oft persönlichen und intimen Daten ermöglicht in letzter Konsequenz mithilfe von smarten KI-Tools die totale Transparenz über Menschen, Unternehmen bis hin zu Staaten. Diese Entwicklung, die schon sehr stark an George Orwell erinnert, der in seinem dystopischen Roman „1984“, bereits im Jahr 1949, einen totalitären Überwachungsstaat beschrieben hat, wird, wenn man das weiterdenkt, von sehr schnell von einer Fiktion zur Realität. Im Jahr 2021 belief sich der Umsatz im B2C-E-Commerce in Deutschland auf 86,7 Mrd. €. Im Vergleich zum Vorjahr ist der Umsatz um rund 19 % gestiegen. Damit zählt der Onlinehandel zu den klaren Gewinnern der Corona-Krise. Das Umsatzwachstum der letzten Jahre war rasant und wurde durch die pandemiebedingten Schließungen im Einzelhandel nochmals befeuert. Zum Vergleich: Im Jahr 2015 lag der B2CE-Commerce-Umsatz hierzulande noch unter 40 Mrd. £ (Statista 2022). KI braucht präzise Daten, um effizient zu arbeiten und zu lernen – je mehr Daten verfügbar sind, umso besser und präziser sind die Prognosen und Handlungsempfehlungen. Der Kunde kann nach der Vorstellung von Lanier vom Konsumenten zum „Prosumenten“ werden, was bedeutet, dass die Daten, die er produziert, einen Wert für die Unternehmen und auch für die Allgemeinheit haben. Die digitale Transformation ist ohne aktuell erhobene Daten auf Dauer nicht realisierbar. Je aktueller Daten sind, umso besser sind die „predictive results“, die in die Zukunft wirkenden Voraussagen für konkrete Fragestellungen. Da Vertrieb grundsätzlich extrem wettbewerbsorientiert ist, können digitale Konzepte helfen, die Kontaktaufnahme zu potenziellen Neukunden intelligent zu erleichtern, und so helfen, durch Geschwindigkeit bei der Beantwortung von Anfragen den entscheidenden zeitlichen Vorteil zu nutzen.

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2.6 DSGVO – sensible Daten im Gesundheitswesen haben Priorität Sensibler ist der Umgang mit personalisierten Daten im Gesundheitswesen. Hier hat die „Bitkom Digital Health Studie 2020“ ergeben, dass bei den Befragten der Umgang mit Daten bei der Einführung der elektronischen Patientenakte eine sehr hohe Priorität hat. Nach dieser Studie (u. a. zitiert im DUB Unternehmermagazin, Sommer-Spezial 2020, S. 41) sehen 64 % die Datenhoheit beim Patienten und 63 % wollen Datenschutz und Datensicherheit als extrem schützenswerte Güter behandelt wissen. Jedoch nur 42 % legen Wert darauf, dass die Daten nur in Deutschland gespeichert werden. Letzteres zeigt, dass unter den Befragten ein hohes Maß an Unkenntnis über die Abgrenzung der DSGVO zu anderen Ländern vorherrscht (DUB 2020). Sind die Daten nicht in Deutschland gespeichert, z. B. in den USA oder Asien, greift die DSGVO nicht mehr und der Handel mit hochsensiblen Gesundheitsdaten ist ohne gesetzliche Reglementierung möglich. Die nicht einheitliche Regelung zur Verwendung von Persönlichkeitsdaten und den Forschungsinteressen der Industrie, weltweit, führt in einer grenzübergreifenden digitalen Welt zu nationalen Wettbewerbsdefiziten. Unternehmen werden Wege finden, die nationalen gesetzlichen Regelungen zu unterlaufen – sehr zum Nachteil der „Datenspender“ und der Volkswirtschaften. Dabei wäre eine Monetarisierung der zur Verfügung gestellten individuellen Daten ein Anreiz für den „Prosumenten“, seine Daten gegen Vorteile, mit seiner Einwilligung, zur Verfügung zu stellen. Ein nachhaltiger digitaler Nutzen entsteht somit, wenn die Daten anonymisiert zur Verfügung stehen, um mit KI nationale und internationale Erkenntnisse im Sinne der Allgemeinheit zu gewinnen. Sowohl für das Management als auch für Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten ergeben sich viele Ansätze für nachhaltige Digitalkonzepte, die zum gegenseitigen Nutzen wirken. Den Datenstrategien im Unternehmen und den Rollen von CDO (Chief Digital Officer) und CIO (Chief Information Officer) wird zukünftig viel Aufmerksamkeit zu widmen sein, um Geschäftsprozesse digital auszurichten und Unternehmen nachhaltig wettbewerbsfähig im Markt zu halten.

2.7 Defizite der Konzepte Die Corona-Pandemie hat klar erkennbar die Defizite einer nicht umfassenden und aktuellen Datenlage vor Augen geführt. Die Nicht-Verfügbarkeit von aktuellen Fallzahlen, Krankenbettenbelegungen und Daten über den Impfstatus der Bevölkerung hat verhindert, dass selbst bei Verfügbarkeit einzelner Daten in unterschiedlichen Erfassungsszenarien die Nutzung für Entscheidungsgrundlagen nicht oder nicht hinreichend möglich war.

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Dem Bürger, der Bürgerin ist nicht zu vermitteln, dass es in einem Land wie Deutschland nicht möglich ist, in einer nationalen Notsituation, wie in einer Pandemie, tagesaktuell zu ermitteln, wie viel Menschen in der Bevölkerung geimpft sind. Bei jeder Testung und jeder Impfung wurden aus dem Personalausweis oder Pass die persönlichen Daten manuell in ein Formular übertragen. Diese Formulare wurden ebenfalls manuell im Gesundheitssystem verarbeitet und wohl auch zeitversetzt gezählt. Allein dieser Vorgang zeigt, dass die Konsolidierung von elementar wichtigen Daten nicht möglich war, um in Echtzeit den Impfstatus der Bevölkerung zu ermitteln. Die sich aus diesen Daten abzuleitenden Erkenntnisse, wie viel Prozent der Bevölkerung mit hohem Risiko auf die Intensivstationen kommen und mit schweren Verläufen das Gesundheitssystem an den Rand der Maximalbelastung bringen, waren lediglich im Rahmen von groben Schätzungen möglich. Auch die manuelle Erfassung von Restaurantbesuchen geimpfter Personen auf Zetteln, die gesammelt und dann wieder vernichtet wurden, zeugt vom Digitalisierungsstand unserer Volkswirtschaft. Dies sind nur zwei Beispiele, die zeigen, wie komplex die Meinungsbildung und Umsetzung von Digitalisierungsstrategien im öffentlichen Dienst sind, wenn viele Meinungen und Interessen miteinander kollidieren und innovative Konzepte zerredet werden. In Europa steht Deutschland auf Platz 11 im digitalen Ländervergleich, weit hinter Dänemark, Estland, Finnland und Malta. (Statista 2022) Aus der Sicht des Autors ein Armutszeugnis für ein Hochtechnologieland wie Deutschland. In der FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) vom 11. Oktober 2019 haben die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in einem Gastbeitrag ausgeführt: „Der marktwirtschaftliche Wettbewerb um die Nutzung von Daten sollte davon getrieben sein, welcher gesellschaftliche Mehrwert daraus entsteht. Es wäre das Modell einer Art von sozialer Marktwirtschaft für den europäischen Datenraum.“ Hier bleibt zu hoffen, dass die europäische Politik den Willen aufbringt zu handeln, um für die Zukunft das Gesundheitswesen zum Wohle der Bürger auf das digitale Zeitalter auszurichten.

2.8 Chancen und Risiken Die Digitalisierung bietet enorme Potenziale: Effizienzsteigerung, Produktivitätsgewinn, individuelle und flexible Lebensgestaltung und Vereinfachung oder gar Abschaffung von Routinetätigkeiten. Der Trend zu langlebigen Produkten und klimafreundlicher Produktion kann in direktem Zusammenhang mit den Themen der digitalen Transformation gesehen werden,

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wovon jeder Bürger, jede Bürgerin, jede Institution und jede Volkswirtschaft direkt betroffen ist und auch in Zukunft sein wird. Wir alle müssen radikal umdenken. Die Art, wie wir bisher gelebt und konsumiert haben, kannibalisiert die noch vorhandenen Ressourcen und wird vorhersehbar den zukünftigen Generationen Probleme bereiten. Aufstrebende Volkswirtschaften in Südamerika, Afrika, Indien und einigen Ländern in Asien, aber auch die Weltmächte wie die USA, Russland und China erkennen, dass sich die Zukunft mittel- und langfristig nicht mit den bisherigen Konzepten und politischen Strategien nachhaltig und zukunftsweisend gestalten lässt. Nur zögerlich wird politisch gegengesteuert. Nationale Interessen werden vor globale Interessen gestellt und die relevanten Themen wie Klimaschutz, Gesundheit und Ernährung werden ignoriert und zerredet. Brasilien mit seiner Regenwaldrodung ist ein negatives Beispiel, wie Ignoranz zu nachhaltigen Umweltschäden führt. Eine zirkuläre Ökonomie und eine CO2-Neutralität der Wirtschaft werden zunehmend wichtige Wettbewerbskriterien und sind nachhaltige Instrumente zur Reduzierung von natürlichen Ressourcen. Das Ziel der zirkulären Ökonomie ist es, Produkte so zu konstruieren und zu bauen, dass diese langlebiger genutzt werden können. Der Produktlebenszyklus von Produkten muss so gestaltet werden, dass das Produkt mehrfach repariert werden kann, um länger genutzt zu werden. So lassen sich die wertvollen Produktionsressourcen sinnvoll und mehrfach einsetzen.

2.9 Wie kriegen wir das hin? Die Kernfragen für die Entscheider in den Unternehmen dürften auch zukünftig sein: WO beginnen? WIE schaffe ich digitale Nachhaltigkeit für mein Unternehmen und für meine Kunden? WAS sind die Erfolgshebel und die Chancen? Deutschland als eine der führenden industriellen Volkswirtschaften hat alle erforderlichen Ressourcen, um die digitale Zukunft nachhaltig zu gestalten. Unsere Schlüsselindustrien verfügen über Wissen, kluge Köpfe und innovative Industrien, ebenso über Geld für die Transformation und jede Menge Daten, die das Detailwissen für unseren wirtschaftlichen Erfolg sichern können. Die Sache hat einen kleinen, aber wichtigen Haken. Wir schützen und bewahren die Daten und teilen diese nicht. Synergien entstehen durch Austausch von Wissen und dies muss interdisziplinär gefördert werden – dann werden neue Ideen und Konzepte generiert. Der sinnvolle Austausch von Informationen untereinander beschleunigt kreative Prozesse und führt nahezu immer zu neuen grundlegenden Ansätzen für neue Produkte.

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Wie Henry Ford (30.07.1863–07.04.1947) sagte: „Hätte ich die Menschen gefragt, was sie brauchen, hätten sie gesagt, schnellere Pferde.“ Das Auto wäre wohl so schnell nicht erfunden worden, wenn Ford sich nicht intensiv mit den technischen Optionen der mobilen Fortbewegung beschäftigt hätte, auf der Basis der Technik seiner Zeit.

2.10 Fazit Die Möglichkeiten der digitalen Welt und die damit verbundenen Veränderungen des beruflichen und privaten Alltags werden in immer schnelleren Zyklen erfahrbar. Was früher Jahre an Entwicklung und Markteinführung erforderte, passiert heute in Wochen und Monaten. Die Menschen empfinden die vielen Visionen, Konzepte, Optionen und Veränderungen durchaus als bedrohlich, zumal die Geschwindigkeit der Innovationen gefühlt immer schneller voranschreitet. Jeder technologische Fortschritt, von der Erfindung des Rades über die Akzeptanz der Eisenbahn bis hin zu Personal Computern, Mobiltelefonen, Navigationssystemen, 3-DDruck und Robotern, wurden in der Anfangsphase mit Skepsis betrachtet, kritisiert und dann sukzessive in das Bewusstsein und den Alltag der Menschen integriert. So wird es auch mit autonom fahrenden Autos, Personal Robots und KI sein. Die Digitalisierung unserer Tage hat hier jedoch noch eine zunehmend disruptive Dimension. Bewährte Geschäftsmodelle, die über viele Jahre gut funktioniert haben, halten dem internationalen Wettbewerb nicht mehr, oder nur bedingt, stand. Zwar überwiegen die Chancen der Digitalisierung für die Menschen, Unternehmen und Volkswirtschaften, aber die Latenzzeiten verkürzen sich signifikant. Während der technologische Fortschritt kontinuierlich, gefühlt sogar exponentiell wächst, können Politik und auch Unternehmen nicht so schnell die Möglichkeiten erfassen und beeinflussen. Karl-Heinz Land beschreibt es in seinem Buch „Erde 5.0 – Die Zukunft provozieren“ treffend: „Fast alle, ob Politiker oder Unternehmer, befinden sich im Reaktions- statt im Gestaltungsmodus“ (Land 2018). Die Notwendigkeit zu handeln wird durchaus erkannt, aber es wird noch viel gezögert, verschoben und zerredet – in der Zwischenzeit schreiten andere Länder mit großen Schritten voran und nutzen die sich bietenden technischen Möglichkeiten zum nachhaltigen Nutzen der Menschen und somit der eigenen Volkswirtschaft. Das Bewusstsein für den Wandel, den das digitale Zeitalter mit sich bringt, muss bereits in der Grundschule entwickelt und permanent weitergeschult werden. Programmieren ist heute ebenso wichtig, wie eine Fremdsprache zu lernen. Die Grundvoraussetzungen für eine allgemeine Akzeptanz sind Neugier und der aktive Gestaltungswille. Es braucht Kampagnen, damit die sich bietenden Möglichkeiten der Digitalisierung auf breiter Basis akzeptiert und aktiv genutzt werden – das kann in jedem Alter und

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jeder Lebensphase angegangen werden – nur, dass sich die Entwicklungszyklen extrem schneller verkürzen, als dies in den technologischen Entwicklungsphasen der Vergangenheit der Fall war. In der Wissenschaft ist unumstritten, „eine Entkopplung zwischen wirtschaftlichem Wachstum und dem Umweltverbrauch kann nur durch reduziertes Wachstum oder gar ein Nullwachstum des Volkseinkommens erreicht werden“ (Sühlmann-Faul und Rammler 2018). Die Digitalisierung passt sich den allgemein vorherrschenden Wachstumstendenzen in den Wirtschaftssystemen an und erzeugt durch Effizienz- und Expansionssteigerung eine Beschleunigung des weltweiten Ressourcenverbrauchs und dürfte wesentlich dazu beitragen, auch die damit verbundenen sozialen Probleme, insbesondere in den unterentwickelten Volkswirtschaften, zu verursachen und zu beschleunigen. Die Digitalisierung kann ein nachhaltiges Instrument sein, um volkswirtschaftliches Wachstum zu reduzieren mit dem Ziel, eine wirtschaftliche Stagnation zu erzeugen. Erkenntnistheoretisch wird durch die beschleunigte Informationstechnologie die Produktion und somit die Verfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen zu Grenzkosten, die in Richtung „zero“ tendieren, ermöglicht. Betrachten wir in diesem Zusammenhang einmal die technischen Möglichkeiten des 3-D-Drucks, mit dem Produkte zu minimalen Kosten hergestellt werden können. So ist ein „Postkapitalismus“ denkbar, wo Konsumenten zu „Prosumenten“ werden und die heute bekannte Wachstumstheorie ein Ende finden kann. Eine Vorstellung von Jeremy Rifkin, einem renommierten Forscher und BestsellerAutor, ist, dass Produkte nachhaltig produziert werden – das menschliche Zutun ist kaum noch erforderlich. Bis auf die Software-Entwicklung erledigt die Software dann den wertschöpfenden Teil der voll automatisierten Produktion. Rifkin spricht hier von „infofertigen“ oder „Infofertigung“, als Gegenteil der herkömmlichen Fertigungsmethoden, indem Produktideen in Netzwerken geteilt und permanent optimiert werden (Rifkin 2014). Selbstlernende Prozesse werden zukünftig von einer KI unterstützt, perfektionieren die produktspezifischen Details und passen diese an die individuellen Bedürfnisse der „Konsumenten“ an. Rifkin sieht in quelloffenem Design ein Konzept, in dem „Tausende, ja Millionen von Playern voneinander lernen, indem sie zusammen Dinge herstellen“. Die in diesem Konzept angestrebte „Ausschaltung des Urheberrechts am geistigen Eigentum reduziert die Kosten für gedruckte Produkte“, was dem 3-D-Druck einen entscheidenden Vorteil gegenüber den bisher bekannten Herstellerbetrieben verschafft. Diese quelloffenen Produktionsmodelle tragen, so Rifkin, zum exponentiellen Wachstum bei und induzieren sinkende Preise. Vor dem Hintergrund der digitalen Nachhaltigkeit gewinnt das theoretische Modell von Rifkin an Bedeutung und ist es wert, konkretisiert und zukunftsweisend in der Praxis erprobt und eingesetzt zu werden. Limitierende Faktoren einer nachhaltigen Digitalisierung sind, aus der Sicht des Autors, die mangelnden politischen Einflüsse und Einsichten. Start-ups sind mit allen

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­ itteln zu fördern und im Land zu halten. Die komplexen politischen Prozesse und ReM gulierungen der bestehenden Wirtschaft müssen signifikant erleichtert und vereinfacht werden. Dies wird wohl nur von einer nachwachsenden und weltoffenen jungen Generation in Führungspositionen und politischen Ämtern ermöglicht werden können. Die Schaffung von innovativen und zukunftsorientierten Rahmenbedingungen für die Wirtschaft dauert im Vergleich mit Ländern, die im Ranking der Digitalisierung weit vor Deutschland liegen, viel zu lange – hier muss schnell gegengesteuert werden, wenn wir als führende Industrienation in der digitalisierten Arbeitswelt weiterhin auf den vorderen Plätzen positioniert sein wollen. Einer der Schlüssel ist eine digital hochtechnisch entwickelte Volkswirtschaft, auf allen Ebenen. Es braucht erkenntnistheoretisch auf breiter Ebene einen nachhaltigen Kulturwandel, der die Rahmenbedingungen schafft, die wirtschaftlichen Dimensionen im Gesamtkonzept stärker zu berücksichtigen (Jakob 2019). So formuliert Jakob aus der Sicht des Unternehmertums: „Nachhaltige Digitalisierung gelingt folglich nur, wenn die Politik diesen Prozess nachhaltig reguliert, indem sie nicht nachhaltiges Verhalten verhindert, oder zumindest behindert und nachhaltiges Verhalten fördert.“ Wir alle, die wir von der Digitalisierung betroffen sind und in Zukunft verstärkt betroffen sein werden, sind gut beraten, wenn wir uns mit den Möglichkeiten, Chancen, aber auch Risken sachlich auseinandersetzen. Wie jede technische Entwicklungsphase der Vergangenheit gezeigt hat, überwiegen die Chancen und Vorteile – aber jede dieser Entwicklungen birgt auch ein Risiko in sich. So gilt es, für jeden von uns abzuwägen, wie wir uns mit den Errungenschaften der digitalen Welt auseinandersetzen, zwar positiv in die Zukunft denken, aber durchaus auch kritisch zu hinterfragen, was der reale messbare Nutzen ist. Es wartet eine spannende und herausfordernde Zukunft auf uns – in jedem Fall sollten wir die Vorteile erkennen und diese für ein besseres Leben und die Gestaltung einer nachhaltigen lebenswerten Zukunft nutzen. Bitte lassen Sie uns bei allen technischen Möglichkeiten nicht vergessen: Freundschaft, Liebe und das Streben nach dem individuellen Glück sind die wichtigsten menschlichen Facetten eines erfüllten Lebens. Das sollten wir trotz allen technischen Fortschritts immer Blick behalten. Ich freue mich auf eine spannende Zukunft und einen vertiefenden Dialog mit Ihnen.

Literatur Deckert R (2020) Digitalisierung und nachhaltige Entwicklung – Vernetzt Denken, Fühlen und Handeln für unsere Zukunft, 2. Aufl. Springer Gabler, Heidelberg Deckert R, Saß A (2020) Digitalisierung und Energiewirtschaft – Technologischer Wandel und wirtschaftliche Entwicklung. Springer, Wiesbaden

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Jacob M (2019) Digitalisierung & Nachhaltigkeit – Eine unternehmerische Perspektive. Springer Gabler, Heidelberg Land K-H (2018) Erde 5.0 – Die Zukunft provozieren. Future Vision Press, Köln Lanier J (2014) Wem gehört die Zukunft? 8. Aufl. Hoffmann und Campe, Hamburg Meadows D (1972) Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menscheit. Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg Rifkin J (2014) Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Campus, Frankfurt Sühlmann F, Rammler S (2018) Der blinde Fleck der Digitalisierung – Wie sich Nachhaltigkeit und digitale Transformation in Einklang bringen lassen. oekom, München

Magazine/Zeitschriften DUB Unternehmer-Magazin (2021) Ausgabe August 2021, S 15 DUB Unternehmer-Magazin (2022) Sommer-Spezial 2022, S 39 FAZ (2019) Gastbeitrag vom 11. Oktober 2019, Ursula von der Leyen und Jens Spahn Manager Magazin (2022) Ausgabe 08/22, S 77 P. M. Magazin, Ausgabe 12/2016, S 12 WAMS – Welt am Sonntag, Ausgabe vom 30.8.21, S 10

Links Boos C (2019) Künstliche Intelligenz und Freiheit, https://www.youtube.com/watch?v=Pd0rLx2lgJM. Zugegriffen: 21. Nov. 2022 Google (2022) Umgang mit dem Handy. Zugegriffen: 24. Apr. 2016 Kingston Technology (2022) Speichertabelle, https://www.kingston.com/de/memory-cards/storage-chart. Zugegriffen 22. Juli 2022 Klinikum Heidelberg (2020) Thoraxchirurgie, https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/verfahren/ da-vinci-roboter-205940. Zugegriffen: 28. Nov. 2022 Neuralink (2022) www.neuralink.com. Zugegriffen: 19. Juli 2022 Roth T (2021) Medica.de, Vom 3D-Scan zum 3D-Druck: Prothesen und Orthesen aus dem Computer. https://www.medica.de/de/News/Thema_des_Monats/%C3%84ltere_Themen_des_Monats/ Themen_des_Monats_2021/Digitale_Orthop%C3%A4dietechnik/Vom_3D-Scan_zum_3D_ Druck_Prothesen_und_Orthesen_aus_dem_Computer. Zugegriffen: 18. Juli 2022 Schiffer C (2022) Foodporn – Ruinieren Essensbilder wirklich den Planeten? https://www.br.de/ nachrichten/netzwelt/foodporn-ruinieren-essens-bilder-wirklich-den-planeten,T5bfGFS. Zugegriffen: 20. Juli 2022 Statista.com https://de.statista.com/statistik/daten/studie/3979/umfrage/e-commerce-umsatz-indeutschland-seit-1999/2022. Zugegriffen: 23. Juli 2022 Statista.com https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1243006/umfrage/digitalisierungsgradder-eu-laender. Zugegriffen: 26. Juli 2022 Zentrum für Qualität und Pflege (2020) https://www.zqp.de vom 15.4.19. Zuletzt aufgerufen am 14.8.22/15:30 Uhr

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Weiterführende Literatur Ford M (2015) Aufstieg der Roboter – Wie unsere Arbeitswelt gerade auf den Kopf gestellt wird – und wie wir darauf reagieren müssen. Plassen, Kulmbach Gebhardt B (2011) 2037 – Unser Alltag in der Zukunft. Körber Verlag, Hamburg Grunwald A (2019) Der unterlegene Mensch. Die Zukunft der Menschheit im Angesicht von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Robotern. riva verlag, München Jánszky SG, Abicht L (2017) 2025 – So arbeiten wir in der Zukunft. Goldegg, Berlin Jánszky SG, Abicht L (2018) 2030 – Wie viel Mensch verträgt die Zukunft. 2bAhead Verlag, Leipzig Matzler K, Bailom F, Eichen vd, Stephan F, Anschober M (2016) Digital Disruption – Wie Sie Ihr Unternehmen auf das digitale Zeitalter vorbereiten. Vahlen, München Meffert + Meffert (2017) Eins oder Null – Wie Sie Ihr Unternehmen mit Digital@Scale in die digitale Zukunft führen. Econ, Berlin Thiede W (2021) Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen, erweiterte und aktualisierte Auflage, oekom Verlag, München Walsh T (2018) It’s Alive – Wie Künstliche Intelligenz unser Leben verändern wird. Edition Körber, Hamburg Walsh T (2019) 2062 – Das Jahr, in dem die künstliche Intelligenz uns ebenbürtig sein wird. riva verlag, Müchen Yogeshwar R (2017) Nächste Ausfahrt Zukunft – Geschichten aus der Welt im Wandel. Kiepenheuer & Witsch, Köln

Elmar R. Gorich  Elmar R. Gorich ist ein Umsetzungsexperte – ein „Macher“ mit Leidenschaft und hat langjährig in internationalen, vornehmlich US-amerikanischen Unternehmen, in verschiedenen Executive Funktionen gewirkt und gilt als ausgewiesener Experte für den Lösungs- und Projektvertrieb. Über den zweiten Bildungsweg hat Elmar R. Gorich nach seiner Ausbildung zum Industrie-kaufmann nebenberuflich Betriebswirtschaft studiert und als Dipl.-Betriebswirt und MBA (Master of Business Administration) abgeschlossen. Es folgte eine psychologische Zusatz-ausbildung als Coach und Supervisor. Verschiedener Stationen als Senior Partner und Gesellschafter bei namhaften Unternehmens-beratungen gaben ihm die Möglichkeit, bei KMU, als auch bei DAX-Unternehmen über viele Jahre Projekte zu planen und umzusetzen, sowie Mandate als Coach und Vertriebstrainer zu übernehmen. Seit 2006 ist Elmar Gorich mit der Unternehmensberatung EGO-Consulting / Advisory & Management Services (www.EGO-Consulting.de) als Business Consultant, Interim Manager (DDIM Mitglied), Coach und Vortragsredner freiberuflich tätig – schwerpunktmäßig für Lösungsanbieter im IT-/ITC Markt, mit deutlichem Fokus auf den digitalen Trends und der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle. Seit 2013 ist Elmar R. Gorich auch als Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Südwestfalen tätig und betreut dort diverse Vorlesungen und Workshops am Fachbereich Entrepreneurship.

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Digital Leadership – Be strict. Focus the non-digital! Petra Kopp

Fazit

Laut McKinsey-Studie sind „focus on people, not on projects“ und die eng damit verbundene Rolle/Performance des Executive Managements der Schlüssel für erfolgreiche Transformations- und damit auch Digitalisierungsprojekte. Welche Hebel, Aufgaben, Herausforderungen und auch welches schlüssige Vorgehen und welche persönliche Haltung dabei vom Top Management/Unternehmer zu berücksichtigen, anzuwenden und einzunehmen sind, wird hier aufgeschlüsselt. Basis dafür sind zahlreiche, praktische Anwendungsbeispiele, Learnings und Erfahrungen international erfolgreicher Digital Transformation Executives aus Tech-Konzernen (u. a. Microsoft, IBM) und Mittelstand, die für das Buchprojekt interviewt wurden. Der Leser findet eine klare methodische und strategische Herleitung seiner Rolle und Aufgaben als Change Enabler, Motor und Kapitän der Transformation, der konsequent den unternehmerischen Mehrwert im Fokus behält und dafür die Strategie, die Prozesse und Menschen in seiner Organisation strukturiert und fokussiert auf das nächste Entwicklungslevel führt. Der Beitrag räumt auf mit falschen Vorstellungen liberaler, sich selbst entwickelnder Organisationen mittels kollaborativer Arbeitsmodelle und selbststeuernder Teams. Er zeigt auf, welche entscheidende Rolle die konsequente C-Level-Führungsarbeit spielt, um Transformation erfolgreich zu gestalten und unternehmerisch erfolgreich zu

P. Kopp (*)  Veränderungswerkstatt, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Buchenau (Hrsg.), Chefsache Digitale Nachhaltigkeit, Chefsache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41159-6_3

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r­ealisieren. Transformation ist CHEFSACHE: Die persönliche Führungsstärke, Überzeugungs- und Durchsetzungsfähigkeit sind elementare Schlüsselkompetenzen des CEO/Unternehmers, um Organisationen und Geschäftsmodelle nachhaltig erfolgreich weiterzuentwickeln. Der Leser erfährt im Self-Assessment, wie fit er als CEO/Unternehmer für seine Rolle als Changeability Leader ist und wie er sich als Führungspersönlichkeit mental und methodisch „gut aufstellen“ kann, um dieser herausfordernden Rolle mit dem richtigen Selbstverständnis gewachsen zu sein. In einem internationalen Ingenieurunternehmen wird eine neue Software eingeführt, um das Projektmanagement und -controlling zu vereinheitlichen und zu optimieren. Die im Vorfeld erhobenen Anforderungen aller davon im Unternehmen betroffenen Stakeholder wurden bei der Programmierung berücksichtigt. Alle Betroffenen sind geschult worden und fühlen sich fachlich und technisch gut vorbereitet für den Launch der Software. Trotzdem stellt die Geschäftsführung sechs Monate nach Einführung und Überwinden der üblichen Umstellungsschwierigkeiten fest, dass die Organisation und die User nicht wirklich mit der Software arbeiten: Auch für neue Projekte ist nur ein geringer Teil der erforderlichen Projektinformationen und Kundendatensätze in der Software hinterlegt. Die vorhandenen Daten entsprechen nicht dem aktuellen Stand der Projekte. Die anvisierte Projekttransparenz und -effizienzsteigerung sind bisher verfehlt worden, trotz hoher Investitionskosten und Hunderter Arbeitsstunden für das Projekt. Die Geschäftsführung und das involvierte Management sind zunächst ratlos und können sich nicht erklären, warum alle ins Projekt reingesteckten Kapazitäten und Investitionen erst mal nicht zum Ziel geführt haben. So oder so ähnlich verlaufen ca. 80 % aller Transformationsprojekte in Deutschland laut vorliegenden Studien zum Beispiel von Porsche Consulting aus dem Jahr 2020. Am Ende bleiben hohe Aufwände, Kosten und die Versuchung, die nächste Softwarelösung zu implementieren, weil sie verspricht, einfacher bedienbar zu sein. Die eigentlichen Ursachen für die mangelnde Akzeptanz der aktuellen digitalen Lösung werden dadurch nicht aufgelöst. Selbst bei Digitalisierungsprojekten, für die anfangs noch eine regelrechte Aufbruchstimmung in der Organisation herrscht, atomisiert sich dieses Gefühl des Neubeginns nach kurzer Zeit wieder in den geschäftlichen Alltagsproblemen. Das Digitalisierungsprojekt bleibt in der Umsetzung stecken und findet nie den Weg in die operativen Routinen der Organisation. Die Software ist eben nur so performant wie die Informationen, die sie enthält und auswerten kann. Der Digitalisierungseffekt entfällt, wenn die Organisation die digitale Transformation nicht aktiv mitträgt oder gar dagegen arbeitet. Die Neugestaltung und Verbesserung von Prozessen, Produkten und Geschäftsmodellen durch Digitalisierung kommen nur zum Tragen, wenn die Menschen im Unternehmen das digitale System mit Daten und Informationen aktiv „füttern“.

3  Digital Leadership – Be strict. Focus the non digital!

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3.1 Digital Leadership ist mehr als Technical Excellence Der Druck, sich als Unternehmen zu digitalisieren, lässt nicht nach. Wettbewerbsfähigkeit baut heute auf Digitalisierung auf: Time to Market, Internationalisierung, kürzere Innovationszyklen, Marktintelligenz, individualisierte, attraktive Kundenangebote und proaktives Kundenmanagement bauen auf Big-Data-Analysen auf. Daten sind das Gold der Zukunftsunternehmen. Wer sich der digitalen Transformation verweigert, verweigert sich der Welt von heute – nicht erst von morgen! Wie kann es also sein, dass wir trotz aller Erfahrung aus mehr als dreißig Jahren digitaler Transformation und den wissenschaftlichen Studien und Lehren von Change Management nur einen Zielerreichungsgrad von durchschnittlich 50–70 % haben? Warum sinkt die Produktivität um 40 % trotz professionell gut aufgesetzter Veränderungsprojekte, trotz Unterstützung durch externe Consultingunternehmen und zusätzlich eingesetzter interner Ressourcen in Change Teams? Warum bleibt die digitale Transformation in Unternehmen häufig auf halber Strecke stecken?

3.2 Die eigentliche Herausforderung von Digitalisierung ist nicht die IT Dreh- und Angelpunkt aller Transformationsprojekte sind die verantwortlichen Führungskräfte und das Executive Management im Unternehmen. Denn die drei identifizierten Hauptgründe für das Scheitern von Change- und Digitalisierungsprojekten sind seit Jahren Kommunikation, Führung und die Beteiligung der Mitarbeiter, wie viele Studien (u. a. Porsche Consulting 2020, Beyond performance 2.0) immer wieder unterstreichen. Die Digitalisierung stellt viele Arbeitsprozesse, Geschäftsmodelle und Systeme auf den Kopf. Sie challengt den Status quo von der Unternehmensstrategie über Prozesse bis hin zur Arbeitsweise und Arbeitsleistung der Menschen im Unternehmen. So sehr die Unternehmensstrategie sowie die dahinterliegenden Prozesse und Unternehmensstrukturen rational und technisch steuer- und veränderbar sind, so sehr hängt der Erfolg einer Transformation davon ab, dass die Menschen im Unternehmen diese Transformation mittragen. Wenn die neue Kundenmanagement-Software nicht mit Kundendaten gepflegt wird, nützt der bestdurchdachte digitalisierte After-Sales-Prozess nichts. Digital Leadership bedeutet daher mehr als IT-Expertise, Prozessmanagement und autoritäre Führung. Es verlangt ein (Selbst)Verständnis darüber, wie das Management die Menschen in Veränderungsprozessen abholt. Und wie es sie dauerhaft für die verantwortliche Mitgestaltung des digitalen Unternehmenswandels aktivieren kann. Längst hat sich herauskristallisiert, dass die konsequente Führungsarbeit eine Schlüsselrolle spielt, Transformation erfolgreich zu gestalten und unternehmerisch erfolgreich zu realisieren.

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3.3 Transformation ist CHEFSACHE Die persönliche Führungsstärke, Überzeugungs- und Durchsetzungsfähigkeit sind elementare Schlüsselkompetenzen als Digital Leader, um Organisationen und Geschäftsmodelle nachhaltig erfolgreich entlang der Digitalisierung weiterzuentwickeln. Welche Hebel, schlüssige Vorgehen und welche persönliche Haltung des Digital Leaders für eine erfolgreiche digitale Transformation von Unternehmen wichtig sind, wird hier aufgeschlüsselt. Die Basis dafür sind zahlreiche Beispiele und Learnings international erfolgreicher Digital Transformation Executives aus Technologie- und Mittelstandsunternehmen, die für dieses Kapitel persönlich interviewt wurden. Zwei Interviews sind als Zusammenfassung in diesem Kapitel integriert. Zusätzlich fanden die Ergebnisse der Studien „Change Management Studie 2017–2019“, Cap Gemini, „Change Management Kompass 2020“, Porsche Consulting, „Beyond performance 2.0“, Eingang in dieses Kapitel. Sie finden hier eine methodische Herleitung Ihrer Digital-Leader-Rolle, damit Sie als Change Enabler und Motor der Transformation das angestrebte Unternehmensziel durch Digitalisierung erreichen. Und damit Sie die Strategie, die Prozesse und die Menschen in Ihrer Organisation auf das nächste Entwicklungslevel führen. Sie erfahren im Self-Assessment, wie fit Sie als CEO/Unternehmer für Ihre Rolle als Changeability Leader sind und wie Sie sich als Führungspersönlichkeit mental und methodisch „gut aufstellen“ können, um dieser herausfordernden Rolle mit dem richtigen Selbstverständnis gewachsen zu sein. Dafür sehen wir uns in diesem Kapitel an, wie Sie als Digital Leader • Menschen in Organisationen für Veränderung und Lernen aktivieren können • Ihr Rollenverständnis und Ihre Anforderung an die Organisation setzen sollten

3.4 The Human Success Factor – focus on people, not on projects Change Management und digitale Transformation wirken immer auf drei Ebenen: • Unternehmen und Strategie • Prozesse und Strukturen • Menschen Ganz gleich, auf welcher Ebene Sie etwas verändern, beeinflusst das sofort auch die beiden anderen Ebenen. In Digitalisierungsprojekten sind häufig die Veränderungen auf den Ebenen Unternehmen und Prozesse/Strukturen gut bis sehr gut durchdacht und strukturiert. Die dritte Veränderungsebene „Mensch“ wird immer noch sehr stark im Top-downAnsatz gemanagt und häufig stark vernachlässigt.

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Die Komplexität der heutigen Arbeitsprozesse und der Druck für Unternehmen, mit der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung Schritt zu halten, erfordern eine Arbeitsweise, die die operative Wendigkeit von Organisation deutlich erhöht. Eine Ihrer wichtigsten Aufgaben als Digital Leader ist es, genau diese Arbeitsfähigkeit und operative Geschwindigkeit herzustellen. Dazu müssen Sie hierarchische Bottle Necks auflösen, um die Menschen im Unternehmen bestmöglich mitzunehmen. Arbeiten Sie mit den drei wichtigsten Erfolgsfaktoren der Mitarbeiterführung: • Förderung und Forderung von Mitarbeit • Entwickeln proaktiver Lösungskompetenz in der Organisation • Übernehmen von Verantwortung auf allen Hierarchiestufen für Ihr digitales Transformationsprojekt. Organisationen können sich nur so schnell entwickeln, wie es die Menschen in der Organisation können und wollen. Das bedeutet, dass Sie sich als Digital Leader immer mit den Emotionen und Positionen aller Beteiligten im System auseinandersetzen müssen. Treiben Sie dazu die enge Interaktion zwischen Ihren Führungskräften und Mitarbeitern voran. Setzen Sie sich als Leadership-Team proaktiv mit den Fragen und Erwartungen aller am Prozess Beteiligten auseinander. Also sowohl mit denen des Managements, der Mitarbeiter als auch Ihren eigenen! Erfolgreiches Change Business ist People Business.

3.5 Let’s change with emotions – strukturiertes Aktivieren für Veränderung Um mit diesem oft emotionalen und damit häufig nicht systematisch steuerbaren „Faktor Mensch“ umzugehen, gibt das Stufenmodell des Lernens beziehungsweise der Veränderung eine gute Orientierung. Damit können Sie als Führungskraft situativ, trotzdem gut strukturiert und bewusst auf Mitarbeiter zugehen und sie auf die Veränderungsreise mitnehmen. Dazu analysieren Sie, auf welcher Stufe der „Veränderungstreppe“ Ihre Organisation aktuell steht (Abb. 3.1).

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Abb. 3.1   Veränderungstreppe

1. Blinder Fleck Wissen Ihre Mitarbeiter1 überhaupt, worum es geht? Ohne dieses Wissen findet keine Veränderung oder Lernen statt. Menschen lernen durch Ausprobieren. Wenn sie bestimmte Methoden und damit verbundene Notwendigkeiten nicht kennen, werden sie diese nie ausprobieren: Wenn Ihre Mitarbeiter beispielsweise von der Existenz agiler Arbeitsmethoden nichts wissen, werden sie nicht ausprobieren, ob sie damit zum Beispiel die Effektivität des Projektmanagements verbessern können. Oder wenn die Führungskraft nicht rückmeldet, dass sie beim Mitarbeiter ein bestimmtes Talent sieht, wird der Mitarbeiter es eventuell auch nicht gezielt in seiner Arbeit einsetzen, da er sich dieser Stärke nicht bewusst ist. 2. Bedarf bzw. Handlungsdruck für die Veränderung erzielen Nur wenn der Einzelne eine Problemstellung als für sich wirklich belastend oder relevant empfindet oder für das Thema viel Druck aufgebaut wird, wird er versuchen, das Problem zu lösen. Wenn er mit seinen bisherigen Handlungsmustern, Herangehensweisen und Fähigkeiten dazu nicht in der Lage ist, wird er sich für neue Lösungsansätze, Methoden, Prozesse und Arbeitsweisen öffnen. Typische Fragen, die sich der einzelne Mitarbeiter dabei stellt und die Sie als Digital Leader beantworten müssen, sind:

1 Aus

Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

3  Digital Leadership – Be strict. Focus the non digital!

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Wofür brauchen wir das Veränderungs- bzw. Digitalisierungsprojekt? • Was ist die Zielsetzung und macht diese Sinn? • Was wird sich wann ändern und wie ernst ist die Situation? • Wird mich die Veränderung direkt betreffen? Kann ich das? • Bin ich in der Lage, das zu managen? • Kann ich die neuen Anforderungen erfüllen? • Wie sind die Chancen, dass ich meinen Arbeitsplatz behalte? Will ich das? • Was ist dabei für mich drin? • Was werde ich gewinnen oder verlieren? • Wie wird sich mein Status/Ansehen verändern? Die Antworten auf diese Fragen müssen dabei die Grundbedürfnisse jedes Menschen ansprechen. Diese lassen sich auf drei Punkte zusammenführen: • Sicherheit • Anerkennung • Soziale Zugehörigkeit Je spezifischer und konkreter die Argumentation für ein digitales Veränderungs- oder Transformationsprojekt auf diese Bedürfnisse einzahlt, desto überzeugender ist die ­Wirkung. Ebenso spannend ist, dass Untersuchungen gezeigt haben, dass Menschen eher an der schlechteren, aber bekannten Situationen festhalten wollen, als sich auf etwas Neues einzulassen – selbst wenn sich eine nachweisliche Verbesserung für sie einstellen würde. Die Unsicherheit des neuen Unbekannten erklärt auch, warum Organisationen viermal häufiger durch aufgebauten Veränderungsdruck zur Transformation bewegt werden ­können als durch aufgebaute Eigenmotivation. Übertragen auf digitale Veränderungsprojekte bedeutet das, dass Sie als Digital ­Leader einen sehr hohen Druck oder Bedarf (nicht nur ein Bedürfnis!) erzeugen müssen, um natürlichen Widerstand zu überwinden und überhaupt Veränderungsbereitschaft zu erzeugen. Folgerichtig reicht es nicht aus, wenn die Geschäftsführung ein Digitalisierungsprojekt als essenziell für die Zukunft des Unternehmens beschreibt. Für den einzelnen Mitarbeiter müssen argumentativ zwei Punkte abdeckt werden: 1. Es gibt einen starken systemischen/geschäftlichen Nutzen: Beispielsweise werden im Customer Service durch die automatisierte Beantwortung typischer Kundenanfragen unrentable Aufwände reduziert durch die Einführung von Servicebots.

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2. Es leitet sich daraus ein starker persönlicher Nutzen ab: Der Mitarbeiter kann sich auf die Beantwortung der individuellen und zeitaufwendigen Kundenanfragen konzentrieren, die nur im persönlichen Kontakt geklärt werden können. Nur wenn die Nutzen- und Bedarfsargumentation überzeugend und stark genug sind, besteht überhaupt die Bereitschaft beim Mitarbeiter für das aktive Verändern seiner Arbeitsweise, Erlernen neuer Prozesse oder Arbeitsinhalte. Erst damit besteht bei ihm die Bereitschaft, sich auf Stufe 3 einzulassen: 3. Lernen und erstes Verändern Erfordert Ausprobieren, Üben und Anwenden des Neuen. Dies erfordert eine konstruktive Fehlerkultur und die überzeugende „Erlaubnis“ an die Organisation, Fehler machen zu dürfen. Die Menschen werden angetrieben, sich operativ mit den spezifischen Veränderungsaufgaben und -herausforderungen auseinanderzusetzen. Durch das Anwenden der geänderten Prozesse, Arbeits- oder Verhaltensweisen müssen dabei erste kleine Lernerfolge forciert, geteilt und gefeiert werden. Diese positive Energie motiviert dann erst, anstrengende – weil bewusst auszuführende – neue Handlungsmuster immer wieder auszuprobieren, um die Beharrungskräfte und Rückkehr zu alten Handlungsmustern und Routinen zu überlagern. Eine positiv gelebte Fehlerkultur und eine „Strategie der kleinen Schritte“ hin zur großen Veränderung sind hier besonders wichtig. Erst wenn diese „Übungsphase“ von jedem Betroffenen kontinuierlich genutzt wird, kann die Organisation auf die nächsthöhere Veränderungsstufe gelangen: 4. Neue Routinen und Muster etablieren, Die das Veränderungsziel erfordert: Diese legen sich erst durch die zigfache Wiederholung – man spricht von 60–80 Wiederholungen – neu an. Neben der Verweigerung der Veränderung auf Stufe 2, liegt hier ist die größte Sollbruchstelle für erfolgreiche Transformationen. Häufig werden erste kleine Erfolge als Erreichen des eigentlichen Veränderungsziels interpretiert und der Veränderungsdruck lässt nach, bevor die tatsächliche Verstetigung der neuen Handlungsweisen erreicht wird. Oder das operative Stresslevel in der Organisation steigt so an, weil z. B. die kurzfristigen Umsatzziele erreicht werden müssen, sodass die „Extra-Meile“ für das Veränderungsprojekt nicht mehr gegangen wird. Die Folge ist, dass Organisationen wieder in die alten Muster und Routinen zurückfallen. Und, bezogen auf unser Einstiegsbeispiel, werden nach dem ersten Befüllen der oben beschriebenen neuen Kundenmanagement-Software die neuen Geschäftsdaten nicht mehr eingepflegt.

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Auf dem Weg der Veränderungstreppe gibt es typischerweise zwei konkrete „Sollbruchstellen“, die die Transformation stoppen: 1. Die Nutzenargumentation ist nicht überzeugend. 2. Das Digitalisierungsprojekt kommt über ein Bedürfnis nicht hinaus und erzeugt keine Relevanz. Das Digitalisierungsprojekt schürt Ängste bei der Organisation, die nicht entkräftet oder überhaupt nicht angesprochen werden, wie zum Beispiel die Sorge um den Wegfall des Arbeitsplatzes durch digitale Rationalisierung.

3.6 Steuerinstrument für den Kapitän der digitalen Veränderung Alle Anforderungen an Digital Leadership für erfolgreiche Transformation leiten sich aus diesem oben genannten Modell der Veränderungstreppe ab. Als Führungskraft und Digital Leader können Sie mit dessen Hilfe fortlaufend analysieren und sich vergegenwärtigen, wo Sie im Transformationsprozess aktuell stehen und woran Sie verstärkt mit der Organisation arbeiten müssen. Sie analysieren mithilfe der Fragestellung auf Stufe 2, woran es „hakt“, wenn Ihre Organisation den Veränderungsprozess nicht verfolgt. Ist es • ein „Nicht-Wollen“ durch Unwissenheit, Angst, Risiko, • ein „Nicht-Können“ aufgrund fehlender Fähigkeiten, Wissen, Rahmenbedingungen, • ein „Nicht-Dürfen“ durch soziale Konventionen, unpassende Unternehmenskultur, das ausgehebelt werden muss? Das gilt es, für Sie als Digital Leader genauso zu analysieren wie für das Management und die Mitarbeiter! Ziel ist dabei immer, die nächste, höhere Stufe auf der Veränderungstreppe zu erreichen, den kontinuierlichen Veränderungs- und Lernprozess nicht abbrechen zu lassen und als Endergebnis neue Routinen und Muster wirkungsvoll und nachhaltig in der Praxis zu etablieren. Bis der nächste Veränderungsprozess notwendig wird und der Zyklus von Neuem startet. Wenn man so will, ist dieses Modell die Urmutter der „Organisation der fortlaufenden Veränderung“. Viele der bekannten Change-Modelle von Kotter, Levin2 etc. bauen darauf in verfeinerter Struktur auf.

2 Siehe

Quellenverzeichnis.

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3.7 Digital Leadership – erfolgreiches Rollenverständnis Digitale Transformationsprojekte sind immer ein Spagat zwischen dem Erhalt des laufenden Geschäftsbetriebs und dem gleichzeitigen Aufbau neuer digitaler Geschäftsmodelle, Netzwerke, Prozesse und Strukturen. Die damit verbundene Komplexität und die limitierte Vorhersehbarkeit der Wechselwirkung aller Einflussfaktoren erzeugen Instabilität im Unternehmen. Wenn diese Transformationsphase zu lange dauert, kann sich dies negativ auf die wirtschaftliche Situation des Unternehmens und seine Marktfähigkeit auswirken. In jedem Fall ist ein Transformationsprozess immer eine Phase betrieblicher Instabilität – und diese gilt es, als Digital Leader zu managen – sowohl in Richtung Geschäftsführung als auch in die Organisation hinein. Digital Leadership ist das Entwickeln einer verheißungsvollen Vision, die mittels Digitalisierung erreicht werden soll. Als Digital Leader treiben Sie dieses Digitalisierungsprojekt durch Ihre emotionale Überzeugungskraft, Zuversicht, Durchsetzungsfähigkeit und Konsequenz maßgeblich voran. Digital Leader und Führungskräfte sind das Bindeglied zwischen Geschäftsführung und Mitarbeitern im Veränderungsprozess. Ihr Anspruch muss dabei sein, die Herausforderungen des digitalen Transformationsprozesses mit der notwendigen Agilität und Entschlossenheit im Sinne des Unternehmens zu lösen und Veränderung schnell und wirkungsvoll umzusetzen. Basis dafür sind die von vielen Studien3 bestätigten Faktoren erfolgreicher Transformationsarbeit: • projektspezifische Change Management Roadmap und -prozesse • passgenaue Change-Maßnahmen • Erfolgsmessung und Nachverfolgen der definierten Zielparameter • richtiger Zeitpunkt für das Transformationsvorhaben Es wurde aber auch deutlich, dass der Change Leader der ebenso entscheidende Erfolgsfaktor ist, dessen Performance die Wirksamkeit aller prozessualen und strukturellen Faktoren erst zum Klingen bringt.

3.7.1 Digital Leader halten das Ruder in der Hand Die letzten 30 Jahre der Digitalisierung haben gezeigt, dass Digital Leader und Führungskräfte dieser Herkulesaufgabe mit dem traditionellen Top-down-Führungsansatz schwerlich gerecht werden können.

3 Siehe

Quellenverzeichnis.

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So wie sich das wirtschaftliche Umfeld und Märkte aufgrund von Globalisierung, Verstädterung und Digitalisierung verändern, haben sich ebenso die Anforderungen und Einstellungen von Mitarbeitern an ihren Arbeitsplatz verändert. Mitbestimmung, Sinnstiftung, Work-Life-Balance, Remote Work und höchste Ausbildungslevels einerseits und steigende Belastung bestehender Arbeitsprozesse und Geschäftsmodelle durch Veränderungsdruck andererseits fordern effektivere, neue Führungs- und Talentmanagement-Konzepte. Top-down-Management gerät dabei zum limitierenden Faktor, wenn es darum geht, die vorhandenen Ressourcen, Stärken und Kompetenzen einer Organisation bestmöglich für Veränderung zu nutzen.

3.7.2 Erfolgreiche Digital Leader führen anders Fragt man heute Mitarbeiter und Management, werden als wirksamste Eigenschaften eines Digital Leaders genannt: Motivieren und Transparenz schaffen Der Digital Leader ist eine gestandene Führungspersönlichkeit, die hinter dem Wandel auch persönlich steht, diesen gestaltet und die Ziele, Strukturen, Prozesse und Menschen gleichermaßen dafür positiv beeinflusst und vorantreibt. Lösungskompetenz entwickeln Er hat eine hohe Bereitschaft zur kooperativen Teammoderation und Konfliktmanagement, erkennt intuitiv Muster und Zusammenhänge, um deren Komplexität zu reduzieren. Aktivieren Er ermutigt Mitarbeiter dazu, aktiv zu Veränderungsinitiativen beizutragen: Der Digital Leader überlasst Vordenken und operative Lösungsfindung seinen komplementären Change Teams. Er schafft dafür einen hohen Freiheitsgrad und klare „Leitplanken“. Gleichzeitig baut er eine hohe Verbindlichkeit für die Zielerreichung auf durch eine gelebte Feedback- und Vertrauenskultur. Er hat ein gutes fachliches Grundverständnis für das digitale Projektthema. Fordert aber das fachliche Detailwissen, höchste Expertise, Lösungskompetenz und Trendanalyse von seinem Expertenteam ein. Changeability aufbauen Der Digital Leader verfügt über ein breites Wissens- und Erfahrungsspektrum bei Veränderungsprojekten, das er mit seinen Change Teams teilt. Er schult und fördert Change Skills durch proaktiven Erfahrungsaustausch, konstruktive Fehlerkultur und hohen Kommunikationslevel.

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Konsequent führen Der Digital Leader kann sehr gut mit Unsicherheit im Veränderungsprojekt umgehen, überwindet auch Durststrecken mit hoher Energie und Motivationsfähigkeit und verhindert damit, dass die Organisation in die alten Verhaltensmuster zurückfällt oder Verharrungskräfte der „alten Organisation“ die Transformation aufhalten. INTERVIEW

Alexander Krüger Partner bei IBM Consulting für Strategic Partnerships Microsoft EMEA und vormals Director Partner Development bei Microsoft. Enthusiast und Spezialist für die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle und digitale Transformation in der Industrie Was sind Deine besonderen Erfahrungen und Key Learnings mit Digital Leadership? Der Fortschritt der Digitalisierung ist für mich ein Kernthema, das ich bereits seit Langem mit großer Leidenschaft in unterschiedlichen Unternehmen wie Lufthansa, British Telecom, Microsoft und IBM Consulting vorantreibe. Gerade die gemeinsamen Herausforderungen in der Digitalisierung der Kunden, welche eine Veränderung der Geschäftsprozesse, der Kundenschnittstellen oder auch der eigenen Produkte zur Zielsetzung hatten, haben mich persönlich immer am meisten motiviert. Jedes Projekt rund um Digitalisierung hat sicherlich immer seine ganz e­ igenen Herausforderungen. Wichtig war mir immer, herauszuarbeiten und möglichst genau zu definieren, was am Ende das Ziel dieser Digitalisierung oder Transformation sein soll und was Erfolg bedeutet. Am Anfang stand für mich immer die Frage des konkreten Kundennutzens und das darauffolgende Ergebnis durch den Einsatz von Technologie, der Kundenerfahrung oder auch der Produkte, die neu definiert oder entwickelt werden. Die Begleitung der Kunden bei diesen Produktoder Lösungsentwicklungen war und ist für mich immer höchst spannend. Meistens startet alles mit dem Satz „Wäre es nicht cool, wenn wir ‚das‘ machen könnten“. (Hierbei ist das „das“ natürlich die jeweilige Vision.) Die größte Chance ist, eine neue geschäftliche Vision mit den Möglichkeiten neuester Technologien zu vereinbaren und schlussendlich neue Ergebnisse und Herangehensweisen zu realisieren. Hierzu braucht es neben Technologie und der richtigen Umsetzung viel Offenheit, tiefes Vertrauen und das Verständnis für den Wettbewerb sowie auch den Mut, alte Herangehensweisen oder auch Erfahrungen zu überdenken. Es ist fantastisch zu erleben, wie Menschen mit unterschiedlichem beruflichen Hintergrund und Fokus zusammenkommen und sich gegenseitig inspirieren.

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Wie sollte sich eine Organisation aufstellen und (inter)agieren, damit die ­digitale Transformation erfolgreich realisiert werden kann? Ich glaube, dass es nicht nur um die Organisationsstruktur gehen sollte, sondern vielmehr um die Unternehmenskultur. Organisationsveränderungen können sehr langfristig sein, und ich bin der festen Überzeugung, dass die gelebte Kultur immer entscheidend ist, nachhaltige Veränderungen voranzutreiben. Genau hier spielt richtiges Leadership eine ganz entscheidende Rolle und mit der richtigen Kultur wird auch „Leadership“ ganz neu definiert. Wenn die entscheidenden Impulse nicht nur von der obersten Leitung getroffen werden, sondern von jedem Einzelnen im Unternehmen kommen können, entwickelt sich ein ganz anderes Momentum. Aber genau das bedeutet auch eine sich verändernde Definition von Leadership und der Managementkultur. Natürlich ist und bleibt es wichtig, die Vision eines Unternehmens klar zu definieren, aber das Empowerment der Mitarbeiter und die damit einhergehende Motivation und Verantwortung eines jeden Einzelnen haben enormes Potenzial. Daher ist Leadership für mich nicht die oder der eine Manager, Leadership kann jeder in jedem Moment ergreifen, zum verantwortlichen Leader in seinem Bereich werden und Inspiration fördern. Leadership sollte nicht begrenzen, sondern Menschen motivieren, über sich selber hinauszuwachsen und Projekte weiterzutreiben, als sie am Anfang gedacht oder definiert worden sind. Das gilt für alle Bereiche oder Abteilungen, über Hierarchiestufen und auch über die Unternehmensgrenzen hinweg. Dieses Potenzial konnte ich einige Male erleben und es hat mich jedes Mal besonders gefreut und motiviert. Zusammengefasst ist Leadership mehr eine Denkweise als eine Strukturebene. Was entscheidet über Erfolg oder Misserfolg des Executive Managements bei Transformationsprojekten? Es gibt unterschiedliche Arten von Transformationsprojekten: die einen, bei denen Vorgehen und Zielsetzung klar sind. Diese kann man klassisch „durchmanagen“. Bei mehr disruptiven Transformationsprojekten sind die Richtung und die ersten Meilensteine klar, aber das Ziel entwickelt sich kontinuierlich weiter, wie beispielsweise in der Software-Entwicklung. Es wird kein Produkt langfristig entwickelt und einmal an den Kunden geliefert. Vielmehr geht es um kontinuierliche Weiterentwicklung und Auslieferung von neuen Funktionen in Form von Releases. Gerade für Unternehmen mit einem hohen Qualitätsanspruch aus der klassischen Produktion kommend (wie dem guten deutschen Mittelstand), die für gewöhnlich ein perfektes Produkt liefern wollen, kann das eine Herausforderung sein. Wenn der Anspruch auf ein nahezu perfektes Endergebnis abzielen soll, ver-

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längert dies die Entwicklung und ermöglicht dem Wettbewerber, im schlechtesten Fall mit einem weit weniger vollständigen Produkt schneller Marktanteile zu gewinnen. Genau hierbei besteht aus meiner Sicht die große und verantwortungsvolle Aufgabe im Umdenken des Executive Managements beim Wandel hin zu digitalen Produkten und agilen Arbeitsweisen, indem es wichtig ist, neue Wege auszuprobieren, Fehler zuzulassen und zu tolerieren, aber ebenfalls schnell aus diesen Fehlern zu lernen. Das hört sich erst mal sehr basisdemokratisch an, aber es bedarf eines sehr starken Executive Managements, welches mit viel Mut und Vertrauen bei den Mitarbeitern alte Denkweisen aufbricht und die Zielsetzung managt, damit sich am Ende des Tages der gewünschte Erfolg einstellt. Welche Rolle spielt die Eigenverantwortung der Mitarbeiter im Veränderungsprozess? Ich glaube, dass Digitalisierung (oder weiter gefasst die technologiegestützte Weiterentwicklung bzw. Transformation) eine Verantwortung eines jeden Mitarbeiters im Unternehmen sein kann. Und dass jedes Digitalisierungsprojekt, je nach Auswirkung auf das Geschäft, einen möglichst senioren Sponsor braucht, der Blockaden beiseiteräumt, der das Projekt auch richtig vermarktet und richtig im Unternehmen platziert. Digitalisierung im Ganzen ist Chefsache. Wenn es nicht wirklich vom obersten Management gefordert und eingefordert wird, passiert es nicht. Wir sollten, wenn wir über Digitalisierung sprechen, viel weiter denken als nur über die Einführung von Technologie. Die Möglichkeiten der Digitalisierung entfalten sich nur mit der Veränderung der Unternehmenskultur und der Veränderung von Leadership. Ein Kernthema ist der Wandel von Leadership zur realen Eigenverantwortung von Mitarbeitern. Was sind die Dos and Don’ts, die Sie jeder FK mit auf den (Transformations) Weg geben? Satya Nadella (CEO Microsoft) hat seine Version einmal in drei Punkten zusammengefasst und ich kenne keine treffendere Beschreibung: Great leaders create clarity Great leaders generate energy Great leaders deliver success regardless of the circumstances Das bedeutet aber auch, dass wir unsere Gesprächsführung komplett ändern müssen: weg von einer „Inspektionskultur“, Messen von Leistungspunkten hin zu einem Coaching von Mitarbeitern. Was für mich bedeutet:

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• Immer wieder sehr klar mit der Zielsetzung sein und auch das Ausführen der richtigen Prioritäten unterstützen • Empowerment bringt Motivation und Energie • Die eigene unbändige Motivation zum Erfolg Sortieren Sie die Begriffe „Strukturen/Prozesse“, „Unternehmensstrategie“, „Menschen“ nach deren Wichtigkeit für den Erfolg der Transformation. Beginnen Sie mit dem Wichtigsten: Menschen ohne Unternehmensstrategie führt auch nicht weit. Also beide gleichberechtigt auf einer Ebene. Danach Prozesse/Strukturen. Im echten Leben ist es meistens genau andersherum. Prozesse und Strukturen werden gelebt und genutzt und das ist der Wandel, in dem wir uns befinden. Hier habe ich noch ein paar kurze „Sekt oder Selters“-Fragen für Sie: • Digitales Projektmanagement agil oder Wasserfall: auf jeden Fall agil • Führungsstil in der Transformation: Top-down oder Leadership: absolut Leadership! • Nachhaltige Digitalisierung ist für mich eine Frage von Prozess oder Kultur: auf jeden Fall Kultur Und zum Abschluss vervollständigen Sie bitte für uns: Leadership in der Transformation ist für mich … … das volle Empowerment der Mitarbeiter und zweitens weg von einer Struktur der Inspektion hin zu einer Organisation des Coachings und Enablements der Mitarbeiter.

3.8 Be strict. Veränderung braucht Führung Diese beschriebene „neue Art“ der Führung ist weit entfernt von den falschen Vorstellungen liberaler, sich selbst entwickelnder Organisationen. Der erfolgreiche Digital Leader steuert strikt und beeinflusst konsequent digitale Transformationsprojekte und eine neue digitale Unternehmenskultur bei annehmender hierarchischer Top-down-Macht und abnehmender physischer Präsenz. Er nutzt seinen Einfluss, um die zwei gegenläufigen Kräfte im Unternehmen für die Veränderung miteinander zu verbinden: Er begleitet das „alte“ System unter Würdigung seiner bisherigen Leistungen. Er übernimmt die weiterhin wertvollen Elemente und überführt es in ein mit Pionieren der Veränderung vorausgestaltetes neues System, das neue nützliche Paradigmen, Strukturen, Arbeitsweisen, Werte sowie Rollen anbietet und vorlebt.

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Er fühlt sich dabei für die Zielerreichung zuständig. Unterstützt seine Organisation mit anpassungsfähigen, aber klaren Strukturen und Prozessen, deren aktive Nutzung er einfordert. Er coacht und steuert sein Change Team mittels Selbstreflexion, sodass es seine Stärken in der gemeinsamen Arbeit entfalten kann und gleichzeitig Verbindlichkeit für die gemeinsamen Change-Ziele entwickelt. Konkret bedeutet das, dass der Digital Leader in seiner Führungsarbeit • die Stärken und persönlichen Präferenzen seiner Mitarbeiter kennt, erfragt und ihnen passende Einsatzmöglichkeiten im Change-Projekt bietet. Er kennt die Antwort auf folgende Fragen: – Wann lohnt sich die Mitarbeit für den Einzelnen im Projekt? – Was motiviert ihn? – Was ist das persönliche Entwicklungsziel des Mitarbeiters? – Wo liegen seine Stärken und Präferenzen? • Teams aufbaut, mit hohem Selbststeuerungspotenzial basierend auf: – einem gemeinsam verabschiedeten Zielkorridor – Handlungsspielraum innerhalb klar festgelegter „Leitplanken“ • sich konstruktiv mit der eigenen Teamleistung durch kontinuierliche Selbstreflexion auseinandersetzt. • über alle projektrelevanten Kompetenzen, Expertisen und sich ergänzenden Fähigkeiten im Team verfügt. • Schnelligkeit und Beweglichkeit kleiner, komplementärer Zusammenarbeit frei von hierarchischen Bremsmechanismen entwickelt. Digital Leader geben Gestaltungsraum, den Mitarbeiter ausfüllen. Sie geben aber auch klare Leitplanken und Zielsetzungen vor, deren Beachtung sie unnachgiebig einfordern. Sie bauen den Druck auf, dass sich die Organisation gegen alle Beharrungskräfte in Bewegung setzt und auf der Veränderungstreppe kontinuierlich „aufsteigt“ – auch entgegen jeglicher Widerstände und Probleme, die jedes Veränderungsprojekt mit sich bringt. INTERVIEW

Dr. Jürgen Abraham Mitglied der Geschäftsleitung von Voith Paper Digital Business Officer und President Products & Services Was sind Ihre besonderen Erfahrungen und Key Learnings mit Digital Leadership? In meiner Doppelfunktion bei Voith Paper bin ich sowohl für die Digitalisierung der internen Abläufe im Unternehmen als auch für die Entwicklung digitaler Lö-

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sungen für unsere Kunden verantwortlich und habe mit zwei Projekten besondere Erfahrungen zum Thema Leadership in der Digitalisierung gemacht: Vor 5 Jahren haben wir begonnen, Produktionsanlagen in der Papierindustrie zu digitalisieren, um damit die Effizienz und Qualität in der Papierherstellung zu steigern und Kosten zu senken. Technisch waren wir damals schon sehr weit. Die eigentliche Herausforderung war vielmehr, das Umdenken und Einlassen unserer Kunden auf die neuen, digitalen Lösungen zu erreichen. Dabei war es wichtig, das technisch Machbare ein Stückchen hinter der kulturellen Reise mit unserem Kunden anzusiedeln. Wir haben daher vor 2 Jahren einen Paradigmenwechsel vollzogen, indem wir begonnen haben, die Kunden auf eine digitale Reise mitzunehmen und dabei Schritt für Schritt unsere Kunden an die Digitalisierung heranzuführen und mehr Bedeutung zu geben. Vom ersten Sammeln von Produktionsdaten und deren Visualisierung, der darauf aufbauenden Entwicklung von Verbesserungsvorschlägen, die die Kunden dann selbst umsetzen, bis dann später zu mit KI autonom gesteuerten Produktionsanlagen. Für uns als Anbieter war das ein Learning, dass wir schrittweise den Kunden durch diese Digitalisierungsreise führen müssen. Heute ist es gelebte, erfolgreiche Praxis, dass wir dem Kunden Digitalisierung seiner Produktion als digitale Reise verkaufen, bei der er auch die Verantwortung trägt, einen Digital Champion für das Projekt aufzubauen und für das Vorantreiben der Digitalisierung von innen heraus und das Buy-in der Organisation von Grund auf zu sorgen. Bei meinem zweiten, diesmal unternehmensinternen Projekt hatten beim Aufbau eines digitalen Product Lifecycle Datamanagements, also der Betrachtung, Analyse und weiteren Verwendung von Produktdaten im Aftermarket Lifecycle, anfangs sehr große Widerstände bei unseren Vertriebsmitarbeitern. Sie haben sich sehr schwer damit getan, dass die schöne neue digitale Welt jetzt mit dem Entstauben, der Pflege und dem Aufarbeiten von Daten beginnt und der dafür benötigten Disziplin. Anfangs hatten wir dafür einen relativ geringen Buy-in unserer Mitarbeiter. Zwei Jahre später, ist das Projekt voll in Fahrt, weil unsere Verkaufsmitarbeiter den Nutzen der gepflegten Daten sehen: Sie haben mehr Transparenz und Übersicht zu Kundenbedürfnissen aufgrund der gepflegten Kundendaten. Es entwickelt sich zunehmend eine Eigendynamik für neue Anwendungsanfragen dieser Kundendaten. Es ist rückblickend eine Erfolgsgeschichte: Nachdem die Organisation den Nutzen verstanden und erfahren hat, macht digitales Datenmanagement der Organisation plötzlich Spaß. Unsere Datenmanager, die früher quasi im Keller gearbeitet haben, sind heute im Zentrum von allem, was wir tun bei Voith Paper. Wie sollte sich eine Organisation aufstellen und wie (inter)agieren, damit die digitale Transformation erfolgreich realisiert werden kann? Wir haben gelernt, dass Digitalisierung im Unternehmen als fester Bestandteil verstanden und akzeptiert sein muss bei allem, was wir tun. Das Einrichten eines

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z­ entralen Digital Office hatte bei uns im Konzern dazu geführt, dass die operativen Geschäftseinheiten sich aus dem Thema Digitalisierung herausgezogen haben. Meiner Erfahrung nach ist die einzig wirksame Möglichkeit, Digitalisierung erfolgreich im Unternehmen umzusetzen, das Thema gnadenlos in den Alltag und auf jede Agenda in den Business Units zu nehmen. Was entscheidet über Erfolg oder Misserfolg des Executive Managements bei Transformationsprojekten? Jeder Digitalisierungs- und Veränderungsprozess führt zu Unsicherheit in der Organisation bei den Mitarbeitern. Jeder erwartet vom Management Rückhalt bei Entscheidungen, eine klare Vision/Ziel, Unterstützung in der Umsetzung und klare Vorbildfunktion. Es ist nicht damit getan, ein paar Lippenbekenntnisse abzugeben zu Veränderungsprozessen. Es ist auch zwingend notwendig, dass das gesamte Top-Management mit an Bord ist, das Thema ernst nimmt, die Umsetzung aktiv mit begleitet und als Vorbild das Thema vorlebt. Der Impact von Veränderungsprozessen wird gerne mal vom Top-Management unterschätzt. Veränderung führt häufig erst mal zu Verwirrung und auch mal zur Eintrübung der Performance der betroffenen Bereiche. Gemeinsam mit Mitarbeitern diesen Einbruch der Effektivität aktiv zu durchleben mit klarem Blick auf die Zielsetzung ist Führungsaufgabe. Das gemeinsame Setzen von Zielen und Erwartungen ist ein weiterer wichtiger Punkt, der gerne mal vernachlässigt oder nicht weit genug nach unten durchkommuniziert und durchdekliniert wird. Welche Rolle spielt die Eigenverantwortung der Mitarbeiter im Veränderungsprozess? Welche Rolle spielt dabei die Führungskraft? Ich bin ein großer Fan von Bottom-up-Enablement. Ich bin für Eigenverantwortung und Gestaltungswillen der Organisation. Das ist ein Teil der Veränderungswegs. Es gibt ein paar Punkte, das müssen wir als Management übernehmen: Strategie/Ziel/Vision und Purpose setzen und formulieren: Zukunftsszenario, wo wollen wir als Organisation hinkommen, und Setzen von Leitplanken, um eine gemeinsame Ausrichtung der Organisation auf ein Ziel sicherzustellen. Grenzenlose Freiheit ist riskant, da es unterschiedliche Zielbilder und Zielkonflikte erzeugt, die verbittert ausgetragen werden und wir die Geschwindigkeit damit verlieren, nach vorne zu kommen. Die Antwort auf das WARUM muss von Top-Management kommen. Da braucht es ein gemeinsames Verständnis und Beantwortung der Führungsriege dazu, die sie stringent gemeinsam vertritt.

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Was sind die Do and Don’ts, die Sie jeder FK mit auf den (Transformations) Weg geben? Dos: Sei offen für Neues, sei neugierig, mache Fehler und sei offen dafür, sei ehrlich. Begegne Widerstand mit offener Diskussion. Kein Widerstand bleibt unerörtert. Finde den kleinsten Nenner als ersten Schritt in die richtige Richtung. Initiales Commitment für den ersten Schritt der Menschen, um etwas Neues auszuprobieren. Don’t overplan! Leitplanken, Vision und WHY der Digitalisierung sind gut und wichtig. Aber Digitalisierung ist für jedes Unternehmen anders, eine Reise voller Überraschungen und wir müssen offen sein, um diese Überraschungen anzunehmen und darauf einzugehen. Sortieren Sie die Begriffe „Strukturen/Prozesse“, „Unternehmensstrategie“, „Menschen“ nach deren Wichtigkeit für den Erfolg der Transformation. Beginnen Sie mit dem Wichtigsten: Alle drei sehr wichtig. 1. Mensch 2. Unternehmensstrategie 3. Prozesse/Strukturen Hier habe ich noch ein paar kurze „Sekt oder Selters“-Fragen: • Digitales Projekt agil oder Wasserfall: agil, agil, agil wie unser Marktumfeld • Führungsstil in der Transformation: Top-down oder Leadership: Leadership, da ich nicht alle Facetten des Change-Prozesses abdecken kann als Führungskraft. Vieles ist in der Gruppe einfacher und präziser; mehr Facetten und Themen im Team abdeckbar. • Nachhaltige Digitalisierung ist für mich eine Frage von Prozess oder Kultur: Kultur – ohne kulturelle Offenheit für Digitalisierung nutzt der beste Prozess nichts. Wir haben sehr viele clevere Mitarbeiter, die in der Lage sind, den besten Prozess zu umgehen. Und zum Abschluss vervollständigen Sie bitte für uns: Leadership in der Transformation ist für mich … … der Mut voranzugehen, Mut, die Ziele für die Zukunft zu definieren, und auf dem Weg dann die Offenheit zu haben, Mitarbeiter mitzunehmen, Mitarbeiter-Input aufzunehmen, zu verarbeiten, zu begeistern auf diesem Weg, Bedenken aufzunehmen, zu entkräften und damit offen umzugehen. Um dadurch gemeinsam das Ziel zu erreichen und Erfolge zu feiern.

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3.9 Make it happen – die Checkliste für Digital Leadership Was heißt das nun für Ihre praktische Arbeit als Digital Leader? Das Adressieren der Veränderungsebene „Unternehmen“ und „Prozesse und Strukturen“ mit einem professionellen Change Set-up ist die Grundvoraussetzung. Darauf wollen wir in diesem Kapitel nicht näher eingehen. Eine praxisorientierte Anleitung dazu finden Sie unter anderem auf: www.veraenderungswerkstatt.com/ change-suite. Wir befassen uns in diesem Kapitel damit, wie Sie als Digital Leader Ihre Führungsarbeit auf der erfolgskritischen Veränderungsebene „Mensch“ gut gestalten. Die folgende CHECKLISTE bietet Ihnen die Möglichkeit, sich konkret darauf vorzubereiten oder bei einem laufenden Transformationsprojekt relevante Punkte nachzuschärfen. Gehen Sie einfach die folgenden Assessment-Bereiche Schritt für Schritt durch:

3.9.1 Self-Assessment „Wie fit sind Sie als Digital Leader“ Führung fängt mit der Frage an „Was führt mich“ als Leader – unabhängig davon, ob ich disziplinarische Führungskraft bin oder Projektleitung. Seien Sie sich im Klaren darüber, was Ihre persönlichen Antreiber sind, welche persönlichen Präferenzen und Verhaltensmuster, Werte und Überzeugungen Sie in Ihrer täglichen Arbeit als Digital Leader leiten. Hilfreiche Arbeitsmittel und Empfehlungen für mögliche einfache Testtools wie Werte, persönliche Antreiber und Persönlichkeitstypologie finden Sie dazu auf: www. veraenderungswerkstatt.com/change-suite. Change Splash Als sehr hilfreich hat sich dieses Self-Assessment-Tool erwiesen: Wie fit sind Sie als Digital Leader für Ihr anstehendes digitales Transformationsprojekt? (Abb. 3.2) Zusätzliche Reflexionsfragen Denken Sie diese Fragen in Ruhe für sich durch. Notieren Sie Ihre Gedanken dazu und überlegen Sie, wie Sie mit möglichen „ungelösten“ oder kritischen Punkten umgehen. Besprechen Sie idealerweise die Ergebnisse mit einem anderen transformationserfahrenen Kollegen oder Ihrem Coach: 1. Was macht diese digitale Transformation mit mir als Person? Eine weitere hilfreiche Frage dabei können sein: Fühle ich mich wohl mit der Projektverantwortung? 2. Was hilft mir dabei, dass ich das Transformationsprojekt gut für mich gestalte? Habe ich einen klaren Plan, wie ich vorgehen werde?

3  Digital Leadership – Be strict. Focus the non digital! Change Splash: Wie fit fühlen Sie sich als Digital Leader für Veränderung? Bitte bewerten Sie die angezeigten Eckpunkte auf einer Skala von 1 bis 5 dahingehend, wie kompetent Sie Ich kommuniziere klar die gefühlt diese Aspekte vertreten, Veränderungsziele anwenden und leben in Ihrer und -folgen täglichen Praxis. Verbinden Sie anschließend die einzelnen Punkte durch Linien, um sich Ihre “Ausprägungen“ besser zu visualisieren.

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Ich akzeptiere für mich selbst die Notwendigkeit der Veränderung

Ich kommuniziere proaktiv und regelmäßig zum laufenden Veränderungsprojekt je Mitarbeiter

Ich habe eine vertrauensvolle Beziehung zu meinen Mitarbeitern

Ich fühle mich selbst sicher im laufenden Veränderungsprozess

Ich fühle mich methodisch gerüstet für die Veränderungsgespräche

Ich habe einen klaren Plan wie ich mit jedem Mitarbeiter an der Veränderung arbeite

Abb. 3.2   Change Splash

Bin ich offen für alle Anstrengungen, Unsicherheiten und Fragen, auf die ich dabei stoßen werde? Wie werde ich damit umgehen? Was sind meine Stärken, die ich dafür gut einbringen kann? Wie treffe ich auch unangenehme Entscheidungen? Welche Kriterien leiten mich bei meiner Entscheidungsfindung? Wen benötige ich als Sparringspartner und Unterstützer? Habe ich das fachliche Grundwissen, um das Projekt zu leiten? CHECKLISTE „Mein Digital-Leadership-Stil“ □ Ich trage die Vision des digitalen Wandels ins Unternehmen: mache Digitalisierung zum essenziellen, akzeptierten und gelebten Bestandteil des operativen Business: Digitalisierung gehört auf jede Agenda und ist Bestandteil jedes Projekts. □ Ich bin gelassen, unabhängig, erfahren und integer im Kontext des Veränderungsprojekts. □ Ich führe den Wandel leidenschaftlich an. □ Ich lasse meinen Mitarbeitern und Change-Partnern Wertschätzung erkennen und kommuniziere offen, klar und fair. □ Ich gehe mit Irrtümern, Fehlern und Mängeln gelassen um und weiß, dass es dafür eine Lösung gibt. □ Ich führe die Organisation aktiv durch die im Laufe des Projekts auch entstehenden Performanceeintrübungen.

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□ Ich orientiere mich an der Geschwindigkeit und Aufnahmefähigkeit der Organisation, um die Veränderung nachvollziehbar voranzutreiben und möglichst alle mitzunehmen. □ Ich fokussiere mich auf das unnachgiebige Vorantreiben der Veränderung und akzeptiere „Beharrungskräfte“, die ich mit den ersten Projekterfolgen im laufenden Veränderungsprojekt abhole.

3.9.2 Assessment des digitalen Transformationsprojekts Diese „Eckpfeiler“ sind relevant für den Erfolg Ihres Transformationsprojekts: CHECKLISTE „Set-up“: □ Es gibt eine klare Vision und Projektzielsetzung mit einem greifbaren, relevanten Mehrwert. □ Die hohe Dringlichkeit beziehungsweise der Bedarf für Transformation ist für alle Beteiligten und Betroffenen nachvollziehbar. □ Das Executive Management/Geschäftsführung steht hinter dem Change-Projekt und treibt es aktiv mit an. □ Transformations-Ziel und das WOFÜR sind überzeugend und relevant -> alle Beteiligten finden darin einen konkreten geschäftlichen und persönlicher Nutzen. □ Es ist absehbar, dass Digitalisierung in dem angestrebten Projekt Mehrwert liefern kann und Sinn macht. CHECKLISTE „Gestaltung des digitalen Transformationsprojekts“ □ Die Risikofaktoren, potenziellen Roadblocker bzw. Sollbruchstellen im Veränderungsprozess sind analysiert. □ Der Status der Organisation entlang der Veränderungstreppe ist identifiziert: Können-, Wollen-, Dürfen-Faktoren sind verstanden. □ Die bisherige „Historie“ der Organisation mit dem Veränderungsthema ist Ihnen bekannt. □ Umsetzungsziele und Erwartungen sind konkret runtergebrochen für alle Beteiligten, durchdekliniert und verständlich kommuniziert. □ Es gibt ein klares Erwartungsmanagement (auch vom Top-Management) und eine konstruktive Fehlerkultur wird entwickelt. □ Es gibt eine terminierte, mit dem Change Team gemeinsam verabschiedete Change Roadmap, die den Bedarf der Organisation nach Können-Wollen-Dürfen-Maßnahmen berücksichtigt. □ Erste Erfolge und erzielter Mehrwert werden fortlaufend im Projekt kommuniziert, gefeiert und der Organisation vorgestellt.

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CHECKLISTE „Digitales Transformations-Team“ □ Das Transformations-Team ist so besetzt, dass alle für das Digitalisierungsprojekt relevanten Kompetenzen an Bord sind. □ Das Change Team hat Kapazitäten für und Durchgriff auf das Veränderungsprojekt. □ Die relevanten „Rollen“ im Change-Projekt sind besetzt: – „Professor“, dessen fachliche Expertise im Unternehmen geachtet ist – „Buddy“, der als informeller Netzwerker das Veränderungsprojekt in die Organisation trägt – „Entscheider“, der die Durchsetzungsfähigkeit und Kompetenzen hat, Entscheidungen zu treffen. (J. Kottler, Das Pinguin-Prinzip) □ Das Team hat ein gemeinsames Selbstverständnis und glaubt an seine Selbstwirksamkeit. Es hat sich, zum Beispiel mithilfe der Team-Canvas-Arbeit, verständigt auf: – den Nutzen der gemeinsamen Projektarbeit als Team – die Berücksichtigung der persönlichen Intentionen und Anforderungen – der einzelnen Teammitglieder im Projekt – die Kenntnis und bewusste Nutzung der vorhandenen Stärken und – Talente des Teams – explizite Team-Ziele und Zielparameter – gemeinsame Werte, Kultur und Formate der Zusammenarbeit (Abb. 3.3)

MENSCHEN & ROLLEN

WERTE

ZIELE

REGELN & AKTIVITÄTEN

ZWECK

PERSÖNLICHE ZIELE

STÄRKEN & VORTEILE

Abb. 3.3   Team Canvas

BEDÜRFNISSE & ERWARTUNGEN

SCHWÄCHEN & RISIKEN

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Arbeitsformate Veränderungsprojekte, insbesondere Digitalisierungsprojekte, arbeiten effizienter in neuen Arbeitsformaten. Oft macht es Sinn, auch alte Routinen in der Projektarbeit aufzugeben und der Dynamik und Komplexität von Digitalisierungsprojekten damit Rechnung zu tragen. Den Umfang dieser Änderungen in der Arbeitsweise sollte man sehr umsichtig anpassen an die bisherige Arbeitskultur, Beweglichkeit und Kapazitäten der Organisation. Eine angepasste und lieber stetige Veränderung ist hier wirkungsvoller als ein radikaler Schnitt und unreflektierte Umstellung auf zum Beispiel SCRUM als agile Methode. Wichtig ist, dass insgesamt die Effektivität, Entwicklungs- und Umsetzungsgeschwindigkeit der Organisation und des Transformationsteams gesteigert werden. Das Erarbeiten, Testen und schnelle Weiterentwickeln von konkreten (Zwischen)Ergebnissen erhöhen die Entwicklungsgeschwindigkeit – nicht nur in der Software-Entwicklung. Es reicht im ersten Schritt oft schon aus, einzelne „agile“ Arbeitsformate zu implementieren, die die bisherigen Muster uneffektiver Zusammenarbeit „aufbrechen“. CHECKLISTE „Arbeitsformate“ □ Review und Retrospektiven regelmäßig in Projektablauf einbauen: Typische Fragestellungen dafür: Wo stehen wir? Was läuft gut? Wo hakt es? Was können wir Neues ausprobieren, um besser zu werden? Was übernehmen wir, was ist wertvoll und wird erhalten? □ Neue Meetingformate nutzen, die das effektive Zusammenarbeiten, Informationslevel und die Ergebnisorientierung steigern: – Kurze, regelmäßige Projektupdates („Dailies“ „Weeklies“, …) ersetzen klassisch geführte Projektmeetings: Jeder Teilnehmer hat maximal 5 min Zeit, diese drei Fragen zu beantworten: Was habe ich für das Projekt neu erledigt? Woran arbeite ich als Nächstes? Wo benötige ich Hilfe, weil ich nicht weiterkomme? – Dabei werden nötige Diskussion von kleinen Gruppen nachgelagert, außerhalb der Projektupdates geführt. – Projekt-Board: Für alle Projektmitglieder wird ein, möglichst online, zugänglicher Projektplan erstellt, der Projektaufgaben sammelt sowie aufzeigt, was geplant, in Arbeit und abgeschlossen ist. Mögliche Beispiele finden sich bei Kanban oder sonstiger Projektmanagement-Software. – Weitere Vorschläge und Anregungen zu Arbeitsformaten und Work hacks finden Sie auch unter: www.veraenderungswerkstatt.de/change-suite □ Dialogformate unter Anleitung eines unabhängigen Moderators oder Change Managers wie Sparrings, kollegialer Austausch zu Lernerfahrungen (Fehlerkultur!) und Methoden des Innovationsmanagements, Selbstreflexions- und Selbstregulationssessions für Teams, Teamkaleidoskop und vieles mehr, jeweils auf den spezifischen Bedarf der Projektteams abgestimmt.

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Nächste Schritte nach dem Assessment: Arbeiten Sie im Projekt jetzt die Dinge nach, die Sie auf der Checkliste nicht abhaken können, aber eine wichtige Rolle für Ihren Erfolg als Digital Leader spielen werden. Setzen Sie von Anfang an das Projekt richtig auf, damit die Menschen in der Organisation Ihr digitales Transformationsprojekt mit vorantreiben.

3.10 Wie Digitalisierung dank Leadership mehr als die Summe Ihrer Software Features wird Lassen Sie uns zurückkommen auf das eingangs erwähnte Digitalisierungsprojekt: Im Fall des deutschen Ingenieurunternehmens hätte professionelles Digital Leadership das Blatt gewendet: Der eigentliche Grund für das vorläufige Scheitern der Projektmanagement- und Controlling-Software war über eine nachträglich durchgeführte Interviewbefragung schnell identifiziert: Die verwendete Software hatte die fachlichen Anforderungen aller erfüllt. Damit konnte sowohl die Unternehmensstrategie als auch die dafür benötigten Prozesse faktisch effektiv unterstützt werden. Was fehlte, war das konsequentes Digital Leadership, das die Menschen in der Organisation abgeholt hat. Nicht alle involvierten Projektverantwortlichen agierten als Digital Leader: Transformation gelingt nur mit dem Commitment der Unternehmensleitung. Der Geschäftsführer selbst sah in der Digitalisierung des Projektmanagements einen hohen operativen Nutzen für das Unternehmen. Die Entwicklungsprojekte würden durch Datenmonitoring effektiver gesteuert werden können. Zudem würde er ein verlässliches Reportingtool erhalten, um aussagekräftige, vergleichende Analysen der Entwicklungsbereiche abrufen zu können. Bisher hatte jeder Bereich sein eigenes „System“, um Projekte und Prozesse voranzutreiben. Basis für die monatlichen Projekt-Reportings waren sowohl Excel-Listen, Handzettel als auch handgestrickte, lokale Softwarelösungen. Das Verschulden von immer wieder auftretenden Reportinglücken und -fehlern wurde zwischen den beteiligten Bereichen bereits jahrelang hin und hergeschoben. Der Geschäftsführer hatte die Verantwortung für das Projekt an seine davon betroffenen Bereichsleiter Vertrieb, Projektentwicklung und Projektcontrolling abgegeben. Das Transformations-Team hatte die Vorgabe, dafür zu sorgen, dass die Software genutzt wird. Das Digital Leadership Team muss überzeugend vorangehen. Aber die Projektleiter waren weder erfahren mit digitalen Transformationsprojekten, noch hatten sich die Leiter mit der Software beschäftigt. Es fehlte auch das beschriebene Selbstverständnis eines Digital Leaders.

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Die Bereichsleiter empfanden die „Anordnung“ des Geschäftsführers als verdeckte Kritik an ihrer bisherigen Arbeit. Sie standen auch untereinander in direkter Konkurrenz. Die Zuständigkeiten für das Kosten-Monitoring im Projektmanagement waren nie geklärt worden. Insgesamt gab es keine eindeutige Aufgabenverteilung zwischen den Bereichen. Und ein zurate gezogenes Projekt-Handbuch ließ dafür auch viel Interpretationsspielraum. Besonders schwer wog die Tatsache, dass das Digital Leadership Team den Nutzen des Projekts nicht gesehen hat. Die mit der Einführung der Projektmanagement-Software entstehende neue Transparenz und Vergleichbarkeit der Projekte hätte belegt, was hinter vorgehaltener Hand schon länger bekannt war: Die Entwicklungsprojekte verliefen zunehmend unprofitabel. Gründe dafür waren einerseits ein tatsächlich uneffektives Projektmanagement, aber auch zu niedrige Projektpreise bei der Angebotserstellung aufgrund von Wettbewerbsdruck und falschen Annahmen bei den Planungsparametern. Das Transformations-Ziel und das WOFÜR waren nicht überzeugend. Die Bereichsleiter konnten in dem Kontext keinen konkreten geschäftlichen und persönlicher Nutzen für sich ableiten. Sie sahen erst einmal nur, dass sie kontrolliert und perspektivisch bloßgestellt werden würden. Die gelebte Arbeitskultur im Unternehmen unterstützte die abwehrende Haltung der Bereiche dem Projekt gegenüber: „Silodenken“, Ablenken von eigentlichen Problemen durch das Eröffnen und Verweisen auf Nebenkriegsschauplätze waren gelebte Praxis. Zielvorgaben zu ignorieren war möglich, da keine ernsthaften Konsequenzen befürchtet werden mussten. Fehler waren dazu da, sie gegen die interne Konkurrenz zu verwenden. Aufgrund bereits mehrfach durchlaufener Merger und zweifacher Übernahme durch internationale Konzerne war das Unternehmen zudem in einem bereits mehrere Jahre andauernden Change-Prozess mit fortlaufenden Veränderungen und Umstrukturierungen. Es gab einen hohen Grad an Unsicherheit. Auch der Weg zum Ziel muss klar strukturiert sein Es gab nur das Ziel, die Nutzung der Software in der Organisation durchzusetzen. Dies wurde erst mal nur als zusätzlicher Arbeitsaufwand verstanden, der neben dem hektischen Tagesgeschäft auch noch zu bewältigen sein würde. Es fehlten eine erstrebenswerte Vision für alle und eine klar strukturierte, auf die Bedürfnisse und Blockaden eingehende Transformations-Roadmap. Daher blieb das Projekt auf der Veränderungstreppe schon vor der ersten Stufe stehen. Blockaden erkennen Das Softwareprogramm konnte weder das vorhandene hohe Bedürfnis nach Sicherheit und Anerkennung bedienen, noch hinderliche kulturelle Denk- und Arbeitsmuster überwinden. Aufgrund der Angst vor dem Aufdecken der operativen Unzulänglichkeit gab es keinen Grund, diese Veränderung zu wollen und voranzutreiben.

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Der Wunsch oder Bedarf nach Dazulernen und Verändern wurde nicht ausgelöst. Die Software wurde „nicht angerührt“ Die fehlende Befüllung des Systems und dessen Nutzung war insofern eine logische Folge. Blockaden auflösen für erfolgreiche digitale Transformation Ein guter Digital Leader könnte hier mit seiner Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit und diesen hier exemplarisch genannten, essenziellen Interventionen das Projekt zum Erfolg führen: • Fokussierung auf das Transformationsziel und den für alle relevanten Nutzen – weg vom Problemdenken: – Entwickeln einer für alle erstrebenswerten Vision und praktischen Projektnutzens: z. B.: „Verbessern der Wettbewerbssituation im Angebotsprozess und Reduzieren der Reportingaufwendungen für die Bereiche durch automatisierte, gemeinsam aufgesetzte Softwareanalysen“. Herunterbrechen des Mehrwerts und der Auswirkungen auf die operative Situation der betroffenen Bereiche. Berücksichtigung der Bedürfnisse Sicherheit, Zugehörigkeit und Anerkennung. – Benennen der analysierten Gründe für das bisherige Scheitern des Transformationsprojekts, um daran zu arbeiten. • Aufbau eines schlagkräftigen komplementären Transformations-Teams, mit wertschätzender Bewusstmachung der vorhandenen Stärken und Ausstattung mit Handlungskompetenzen: – Förderung eines kollaborativen Arbeitsklimas – Allparteiliche Moderation durch Change-Experten – Mitglieder sind nur Bereichsleiter und Mitarbeiter, die sich für das Projekt engagieren wollen – Interaktive Arbeitsformate und Durchsetzen kontinuierlicher, effektiver Meetingstrukturen • Operative Vernetzung des Transformationsprojekts mit dem Software-Entwicklungsprojekt. Festlegen gemeinsamer Zielparameter für die kontinuierliche Erfolgsmessung. • Analyse und Förderung der digitalen Projektmanagement- und Digital LeadershipSkills. • Entwicklung eines operativen Transformations-Maßnahmenplans – begleitet durch einen erfahrenen Transformationsmanager. – mit Fokus auf Ergebnisse und das Auflösen der identifizierter Roadblocker. – mit wirkungsvollen Maßnahmen für Kommunikation, Training, Change. • Forcieren erster kleiner Projekterfolge und Lernkurven zur emotionalen Aktivierung der Organisation und der Entwicklung neuer Routinen. • Der Geschäftsführer als „oberster Digital Leder“ setzt sich als Sponsor des Projekts ein und erhält den operativen Transformationsdruck auf dem Projekt durch

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– Einrichten monatlicher Projekt-Reviewmeetings zum aktiven Ausräumen potenzieller Projektblocker, die durch sein Digital Leadership Team identifiziert wurden. – regelmäßige Kommunikation in die Organisation. – das Schaffen von Visibilität, Relevanz und Verbindlichkeit für das Projekt in der gesamten Organisation. Alle exemplarisch genannten Maßnahmen dienen dazu, die identifizierten und auch im Laufe des Transformationsprozesses neu aufkommenden Blockaden auf den Ebenen Strategie, Prozesse und Strukturen und Mensch aufzulösen.

3.11 Anführer gesucht Organisationen brauchen Visionen und klare Ziele in Transformationsprojekten, die sie sachlich wie emotional davon überzeugen, den ersten Schritt zu tun. Der Weg dahin ist immer mit Unsicherheit und Anstrengung verbunden. Es braucht eine Führungspersönlichkeit, die entschlossen vorangeht, die Menschen dort „abholt“, wo sie stehen, und sie befähigt, loszugehen. Dieser Anführer kennt vielleicht nicht den genauen Weg, aber er hat den Kompass aus Lösungskompetenz und Erfahrung, den Weg zum Ziel zu finden. Er geht entschlossen voran und stellt die Leitplanken, damit seine Organisation auf kürzestem Weg das gemeinsame anvisierte Ziel aus eigener Kraft erreichen kann. Er hält die Truppe zusammen, wenn es Orientierungsprobleme gibt, und sorgt dafür, dass alle verstehen, wieso welcher Weg eingeschlagen oder auch korrigiert wird. Der Digital Leader übernimmt die Verantwortung für die Wegführung. Er übergibt seiner Organisation die Verantwortung dafür, den vorgezeichneten Weg zu gehen und zu gestalten, um gestärkt und nicht erschöpft am Ziel anzukommen. Er stattet seine Organisation mit allem Notwendigen aus, was sie auf dem Weg braucht, damit sich „Kondition“ und Selbstvertrauen in Form von neuem Wissen und Fähigkeiten entwickeln können. Er unterstützt dabei als Coach, Enabler und Katalysator. Er schafft ein Bewusstsein für diese neue Selbstwirksamkeit in der Organisation. Und teilt und feiert jeden Erfolg mit seiner Organisation. Digital Leadership ist mehr als nur das Führen in eine digitalisierte Zukunft mit neuen Geschäftsmodellen, Produkten und Prozessen. Denn Digitalisierung ist komplex, revolutionär und dynamisch. Das stellt neue Ansprüche an die Leitung von Unternehmen, um die Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Der Treibstoff für die erfolgreiche Digitalisierung eines Unternehmens ist die Wandlungsfähigkeit seiner Organisation. Digital Leadership bedeutet vor allem Fördern und Fordern von Kollaboration, Lösungskompetenz, Teamplay und Lernfähigkeit bei den Menschen, die die Digitalisierung im Unternehmen leben sollen.

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Denn die Weiterentwicklung der Organisation auf das nächste Leistungslevel ist die Basis für die nachhaltig erfolgreiche Weiterentwicklung jeden Unternehmens.

Literatur Cap Gemini, Change Management Kompass 2020 Kotter J, Rathgeber H (2005) Das Pinguin-Prinzip, Droemer, München Lewin K (1963) Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften. Dorwin Cartwright. Huber, Bern McKinsey, https://www.mckinsey.com/business-functions/people-and-organizational-performance/ our-insights/the-four-building-blocks--of-change Porsche Consulting, Beyond performance 2.0 Team Canvas – theteamcanvas.com

Petra Kopps  beruflicher Werdegang ist untrennbar mit der Digitalisierung verbunden: Als langjährige Führungskraft, Executive Managerin und Aufsichtsrätin im strategischen und operativen Vertrieb und Produktmarketing hat sie sowohl internationale Tech-Firmen, u. a. Microsoft, Siemens Mobile Phones, als auch mittelständische Unternehmen durch die Entwicklung des digitalen Marktes mehr als 20 Jahre begleitet und weiterentwickelt. Sie weiß, wie selbst die besten (Digitalisierungs-)Strategien und Transformationsprozesse am „Nicht-Können“ oder „Nicht-Wollen“ der Menschen im Unternehmen scheitern können. Ihr besonderes Augenmerk gilt daher heute dem erfolgreichen Entwickeln von Changeability und Digital Leadership im internationalen Mittelstand und Konzernen. In ihrer heutigen Rolle als unternehmensführende Beraterin und Change-Projektmanagerin unterstützt und stärkt sie das Executive Management beim Erreichen seiner „next level“-Marktziele und der Wertschöpfung durch digitale Transformation.

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Fallstricke und Möglichkeiten anhand von Praxisbeispielen (Untertitel) Matthias Koppe

Aus Fehlern lernt man am besten – am wenigsten schmerzhaft aus denen anderer … Fazit

Viele Projekte, die das Ziel haben, die Digitalisierung im Unternehmen voranzutreiben, sind gekennzeichnet durch kleinteiligen Aktionismus und mangelnde Nachhaltigkeit. In der Regel mit überschaubarem Erfolg, denn die Puzzleteile passen nicht zusammen. Es gibt keine übergeordnete Strategie, sondern nur halbherzige Aktionen, die zu kurz greifen. Anhand von Beispielen aus der Praxis soll hier aufgezeigt werden, mit welchen Herangehensweisen man Schiffbruch erleidet und wie eine fundierte, nachhaltige Praxislösung aussehen kann. Griffige Praxisbeispiele verdeutlichen, wie Fußangeln zu vermeiden sind und was eine nachhaltige Digitalisierungslösung benötigt. Mit „Lessons Learned“ aus Best-Practice-Projekten rund um die Fertigung erfahren Entscheider und Projektleiter in Unternehmen, worauf es bei Digitalisierungsprojekten ankommt, um sie nachhaltig im Unternehmen zu implementieren.

M. Koppe (*)  Matthias Koppe – Digitalisierung im Mittelstand, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Buchenau (Hrsg.), Chefsache Digitale Nachhaltigkeit, Chefsache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41159-6_4

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4.1 Lange Planung oder schneller Livegang? Viele Geschäftsführer im Bereich der KMU verfügen über Top-Qualifikationen, sind es aber gewohnt, ohne große Herausforderungen auf stabilen Märkten zu arbeiten. Dementsprechend sehen sie sich bei Digitalisierungsprojekten, die Strukturierung, Fantasie und das Entwerfen neuer Geschäftsmodelle erfordern, schnell überfordert. Hier kann oft ein externer Interim Manager helfen, der die Lage im Unternehmen mit objektivem Blick betrachtet und zudem viel Erfahrung aus vergangenen Digitalisierungsprojekten mitbringt. Doch der qualifizierte Kooperationspartner auf Zeit muss auch zum Unternehmen passen. Wenn ein Unternehmen von anderen Menschen aufgebaut bzw. umstrukturiert wird als jenen, die es später weiterentwickeln, drohen Diskrepanzen und Stolpersteine. Der richtige Partner sollte mit Sorgfalt ausgesucht werden. Gleiches gilt für die Planung der einzelnen Schritte: Digitalisierungsprojekte unter dem Motto „Wir machen jetzt mal ein bisschen Digitalisierung“ sind meistens nicht von Erfolg gekrönt.

4.1.1 Bei der Planung alle Prozessschritte berücksichtigen Beschließt ein Unternehmen beispielsweise, seine Produkte zukünftig online über einen Webshop zu verkaufen, nur um die Beschäftigung weiterer Vertriebsmitarbeiter zu umgehen, ist das zu kurz gedacht. Denn mit der Einrichtung des Webshops ist es nicht getan. Vielmehr sind an eine solche Umstellung des Geschäftsmodells zahlreiche weitere Prozessschritte gekoppelt, z. B in Bezug auf die Logistik. Jedes Zahnrad muss hier ineinandergreifen, denn in Zeiten von Amazon und Co. erwartet der Kunde den Versand schon am nächsten Tag. Es braucht Transparenz über die gesamte Prozesskette hinweg. Die Logistik muss in der Lage sein, hohe Nachfragen abzuwickeln. Bietet ein Unternehmen neben dem Verkauf der Standardprodukte auch ein Ersatzteilgeschäft, braucht es Parallelprozesse mit kurzen Reaktionszeiten nur für diesen Bereich. Die Serienproduktion muss davon losgelöst bleiben. Ein wichtiger Faktor bei Digitalisierungsprojekten ist die IT. Geht ein Auftrag ein, muss dieser sofort an die Logistik weitergeleitet werden. Dieser Prozess hat automatisch und ohne Zeitverzögerung zu erfolgen. Hier gibt es eine große Auswahl an Tools, die eine solche Automatisierung gewährleisten können. Alle Prozessschritte müssen transparent, miteinander vernetzt und aufeinander abgestimmt sein. Gleiches gilt für die Mitarbeiter, die frühzeitig einzubinden und zu schulen sind, wenn neue oder andere Arbeitsschritte erforderlich werden. Ist die Datenverarbeitung datenschutzkonform? Liegen alle relevanten Produktdaten (z. B. Abmessungen) digital vor? Ist das Produkt in verschiedenen Materialien verfügbar, muss für den Kunden im Shop ersichtlich sein, welche Materialien für welches Einsatzgebiet vorgesehen sind. Gibt es eine Support-Hotline, die Fragen zu den Produkten beantworten und Hilfestellung leisten kann? Das alles sind Fragen, die es in der Planungsphase klar zu beantworten gilt.

4  Fallstricke und Möglichkeiten anhand von Praxisbeispielen …

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Einerseits ist also ein wohldurchdachtes Konzept zu entwickeln und zu klären, wie das Digitalisierungskonzept in die Gesamtprozesse des Unternehmens passt. Insbesondere für Tech-Firmen bedeutet das, dass sie sämtliche Prozesse aus der Sicht des Kunden denken und es ihm so einfach wie möglich machen müssen. Das haben die US-Giganten wie Amazon und Apple perfekt vorgemacht. Andererseits bedarf es der Flexibilität, um nach der Liveschaltung noch Optimierungen vorzunehmen. Denn der Digitalisierungsprozess ist mit dem Livegang längst nicht abgeschlossen. Deshalb darf und soll ab einem bestimmten Punkt der Sprung ins kalte Wasser gewagt werden. Nach dem Prinzip „fail early“ lassen sich dann mögliche Bugfixes schnell erkennen und umsetzen. Der Praxistest sollte also keinesfalls zu lange hinausgezögert werden.

4.1.2 Just do it! Ungeachtet minutiöser Planung kann sich eine Strategie oder ein Prozess doch als Sackgasse herausstellen. Dann gilt es, umgehend nachzujustieren und einen anderen Weg zu probieren. Je früher, desto besser, denn dann wurden noch nicht zu viele Ressourcen verschwendet. Hier kommt das Thema Fehlerkultur ins Spiel: Fehler müssen erlaubt sein, um daraus zu lernen. Wenn etwas nicht funktioniert, sind daraus wichtige Erfahrungen für die Zukunft mitzunehmen. Eine vernünftige Fehlerkultur ist in deutschen Unternehmen leider noch rar. Dabei erfordert Entwicklung auch immer Fehler, denn es ist ein Lernprozess. Wird eine neue Software entwickelt, lohnt es sich, früh mit einem soliden Grundkonzept live zu gehen und später einzelne Komponenten nachzujustieren. Zu lange Planung birgt die Gefahr, dass die Software an der Praxis vorbeigeht. Neue Wege wollen manchmal einfach gegangen werden. Was funktioniert, was funktioniert nicht? Je früher diese Fragen beantwortet werden, desto besser.

4.2 Digitalisierung all-inclusive Unabhängig von Branche, Firmengröße und Geschäftsmodell erfordert eine nachhaltige Digitalisierung, dass sämtliche Firmenstrukturen und internen Abläufe auf den Prüfstand gestellt und an das digitale Konzept angepasst werden. Mit der Implementierung eines neuen ERP-Systems ist es nicht getan. Das alte Geschäftsmodell muss vollumfänglich überarbeitet werden. Denn digitale Geschäftsmodelle dürfen keine Insellösungen enthalten. Umgekehrt lässt sich nicht ein universelles Digitalisierungskonzept über jedes Unternehmen stülpen. Viele verschiedene Faktoren, vom Geschäftsmodell über die Mitarbeiterführung und eine offene Fehlerkultur bis hin zu modernen Tools wie VR und KI, spielen in der Digitalisierungsstrategie eine wichtige Rolle.

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4.2.1 Geschäftsmodell und Firmenstrategie anpassen Die Digitalisierung verändert Geschäftsmodelle und Firmenstrategien. Das hat Auswirkungen auf die unternehmensinternen Prozesse, die überarbeitet, neu gedacht, schneller und digitaler gestaltet werden müssen. Wertvolles Feedback in Form von Daten gibt es da vom Kunden. Dabei geht es keineswegs um sensible Daten, sondern um die Nutzung des Produkts bzw. der Services. Verkauft ein Unternehmen seinem Kunden eine Säge, muss es wissen, wie der Kunde dieses Produkt nutzt, z. B. wie oft gesägt wird und wie lange. Es müssen also Daten generiert werden, die es dem Unternehmen erlauben, das Produkt weiterzuentwickeln und zu verbessern. Wie oft ist die Säge kaputt und muss repariert werden? Kann und möchte der Kunde das selbst tun oder bedarf es eines Wartungs- und Reparaturservices? Nur wenn solche Daten erfasst werden, lässt sich das Produkt so weiterentwickeln, dass das nächste Modell signifikant besser ist und dem Kunden einen deutlichen Mehrwert bietet. „One size fits all“ funktioniert in diesem Fall nicht. Ein wichtiger Schritt in Richtung einer nachhaltigen Digitalisierungsstrategie ist daher die Auswertung von Daten. Moderne, selbstlernende Tools wie künstliche Intelligenz (KI) können hier den entscheidenden Vorteil bringen, um auf dem Markt ganz vorne mitzuspielen. Sämtliche Parameter müssen bekannt sein, um den Kundennutzen zu optimieren. Es gilt also zunächst, möglichst viele Daten zu erfassen. Viele dieser Parameter mögen zu Beginn noch nicht relevant sein, können sich aber später als äußerst wertvoll erweisen, weil sich Probleme evtl. softwareseitig beheben lassen. Softwarelösungen sind ohnehin dankbare Tools: Sie werden einmal programmiert und können anschließend beliebig oft skaliert und verkauft werden. Basierend auf den erhobenen Daten, können zusätzliche Wartungsverträge mit den Kunden geschlossen werden, um das Geschäftsmodell zu ergänzen. Durch den Einsatz von Predictive Maintenance lassen sich Ausfall- bzw. Stillstandszeiten beim Kunden drastisch minimieren. Wenn ein Unternehmen weiß, wie oft bzw. wann sein Produkt ausfällt, weiß es auch, wann und wie reagiert werden muss, damit der Fehler gar nicht erst auftritt und der Kunde keine Ausfälle hat. Geheimwaffe Mitarbeiter Bei der Datenerhebung sind die Mitarbeiter unbedingt einzubinden. So kann die Kommunikation zwischen Mitarbeitern von Service und Vertrieb von unschätzbarem Wert sein. Baut ein Kunde etwa eine neue Betriebshalle oder erweitert seine Produktionsanlage, bekommen die Servicemitarbeiter das im Zuge der Wartungsarbeiten vor Ort mit. Vielleicht benötigt der Kunde bald neue oder andere Produkte. Wird das frühzeitig an den Vertrieb kommuniziert, kann dieser proaktiv auf den Kunden zugehen. Die einzelnen Geschäftsbereiche müssen also offen miteinander kommunizieren und ineinandergreifen. Das bedeutet, dass die Mitarbeiter entsprechend zu schulen und für solche Situationen zu sensibilisieren sind.

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Funktioniert die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit nicht, ist dies meistens auf Kommunikationsprobleme zurückzuführen. Große Meetings und lange Berichte helfen da nicht. Das effektivste Mittel ist die direkte Kommunikation. Schon einfachste Lösungen können die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit erleichtern: Setzt man die Mitarbeiter aus Service und Vertrieb beispielsweise in dasselbe Büro, können über den kleinen Dienstweg bereits viele Informationen fließen, z. B. am Kaffeeautomat. Beispiel aus der Praxis Soll ein Webshop aufgebaut werden, betrifft das jede Abteilung des Unternehmens. Zunächst wird hier ein effizientes ERP (Enterprise Resource Planning) benötigt. Geht ein Auftrag ein, hat sofort eine Aufforderung zur Kommissionierung an die Logistik zu gehen. Gleiches gilt für die Lagerlogistik: Geht ein Produkt oder Material zur Neige, muss automatisch eine Aufforderung eingehen, Nachschub zu bestellen. Oder ist für den Versand evtl. ein Schwertransport nötig? Ein automatisierter Warnhinweis bei Auftragseingang erlaubt ausreichend Planungszeit. Der komplette Prozess von der Bestellung bis zur Auslieferung ist also zu durchdenken. Gibt es im Kundenstamm Kandidaten, für die der geplante Webshop interessant sein könnte, lohnt es sich, diese in den Planungsprozess mit einzubinden – ebenso in einen frühzeitigen Probelauf nach dem Prinzip „just do it!“. Das stellt keineswegs einen Widerspruch zu einer vollumfänglichen Planung dar. Es bedeutet lediglich, dass man früh in die Umsetzung einsteigt und einige Korrekturschleifen fährt. Ein vergleichbares Szenario ist die Einführung einer neuen Software: Einige Key User können vor dem offiziellen Launch bereits damit arbeiten und sie auf Praxistauglichkeit testen. Diese Schleifen sollten keinesfalls übersprungen werden, denn nur so können grobe Fehler frühzeitig ausgemerzt werden. Das Finetuning erfolgt später und hört in der Regel nie auf, denn es gibt immer neue Features, Module, Services oder Produkte, die es aufzunehmen gilt.20.

4.2.2 Digitalisierung beginnt beim ERP und Stammdatenmanagement Um die Unternehmensprozesse nachhaltig zu digitalisieren, sind große Mengen an digitalen Daten und deren effiziente digitale Verarbeitung nötig. Das fängt mit einem potenten ERP an, geht über effiziente Tools bis hin zu einem effektiven Stammdatenmanagement. In vielen Unternehmen werden Aufträge noch von Hand eingegeben. In einer separaten Lagersoftware müssen die Daten dann erneut manuell bearbeitet und übertragen werden. Gleiches gilt für die Bestände selbst. Nicht selten stimmen diese in wichtigen Augenblicken nicht. Das häufigste „Stiefkind“ sind allerdings die Stammdaten. Diese müssen immer aktuell und korrekt sein, sonst können die darauf aufbauenden Prozesse nicht funktionieren. Hier sind eine zentrale Datenbank und Software nötig, damit alle Abteilungen mit den gleichen Daten arbeiten.

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Mit einer vernünftigen Stammdatenpflege und einem passenden ERP wird eine solide Basis geschaffen. In jedem weiteren Prozessschritt erfolgt dann die Aktualisierung der Daten. Die gesamte Prozesskette muss transparent abgebildet werden. Das erfordert gute Tools. Viele Firmen programmieren diese noch selbst. Mit dem Ergebnis, dass jedes verkaufte Produkt ein einzelnes Projekt wird. Überblick und Planung bleiben auf der Strecke. Dabei gibt es schon lange hervorragende Softwarelösungen, an denen man sich bedienen und ggf. ein wenig nachjustieren kann. Die Anbieter bieten neben erprobten Standardlösungen auch immer Erweiterungen bzw. individuelle Lösungen an. Einfach, effizient und oft günstiger als die Inhouse-Softwarelösung. Beispiel aus der Praxis In einem Unternehmen hatte jede Abteilung ihre eigene Datenbank, individuelle Listen usw. Alles wurde händisch und abteilungsintern gepflegt – für 120 verschiedene Projekte. Das hatte zur Folge, dass nicht ein Projekt on time abgeschlossen wurde, denn die individuellen Prozessschritte waren untereinander nicht transparent. Es gab keine praxisnahe Kapazitätsplanung, sodass es immer wieder zu Unterbrechungen kam und Liefertermine verschoben werden mussten. Also wurde eine gängige Softwarelösung implementiert, die eine effiziente Kapazitätsplanung ermöglichte. Schließlich verkauft ein Unternehmen nicht nur sein Produkt, sondern auch Fertigungskapazität. Mithilfe gut gepflegter Stammdaten, z. B. zur Dauer der einzelnen Fertigungsschritte, erlaubte die Softwarelösung eine dezidierte zeitliche Koordination. So war eine transparente Planung der Fertigungskapazitäten möglich und die Produktion lief wie ein Uhrwerk. Die Software war nach ca. einem Jahr perfekt auskonfiguriert und alle Projekte liefen on time.

4.2.3 Moderner Führungsstil und Fehlerkultur Um Digitalisierungsprojekte erfolgreich und nachhaltig umzusetzen, bedarf es eines modernen Führungsstils auf Augenhöhe und einer Firmenkultur, die nicht nur Kooperation, Commitment und Kreativität der Mitarbeiter fördert, sondern auch Fehler zulässt. Immer noch funktioniert Führung oft als One-Man-Show. Dabei sitzt der Geschäftsführer wie eine Spinne im Netz und hält alle Fäden in der Hand. In Zeiten der Digitalisierung, in denen alles sehr schnell gehen und jeder mitdenken muss, ist ein solcher Führungsstil kontraproduktiv. Denn der Geschäftsführer ist das Nadelöhr, in dem sich wichtige Entscheidungen stauen. Die Mitarbeiter denken nicht mit. Aus Angst, Fehler zu machen, ziehen sie sich zurück. Es sind also weniger MITarbeiter als vielmehr ABarbeiter. Dabei ist gerade bei Digitalisierungsprojekten ihr Input gefragt, denn sie sind die Experten. Auch die verschiedenen Abteilungen arbeiten häufig eher gegeneinander anstatt miteinander. Es braucht aber eine aktive und abteilungsübergreifende Kooperation, um Digitalisierungsprojekte zukunftsfähig umzusetzen.

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Die Grundvoraussetzung ist Kommunikation auf Augenhöhe. Privates darf geteilt werden, z. B. zum letzten Urlaub. Der Chef darf und muss sogar als Mensch wahrgenommen werden. Gibt es ein Problem und der Mitarbeiter kann den Chef nicht einschätzen, wird er zögern, ihn anzusprechen. Dadurch werden Probleme zu spät kommuniziert. Wird hingegen auf Augenhöhe kommuniziert, erfolgt der Informationsfluss von ganz allein. Die Mitarbeiter sollten zudem mit mehr Verantwortung betraut werden. Das fördert Kreativität und Eigeninitiative. Und Vorgesetzte erkennen schnell, ob jemand über sich hinauswächst oder ob es sich um einen Industrieschauspieler handelt. Entsteht dann tatsächlich ein Problem, sind die Mitarbeiter in der Lage, selbst eine Lösung zu finden. So werden Probleme früher erkannt, adressiert und gebannt. Beispiel aus der Praxis Ein Unternehmen hatte katastrophale Stammdaten. Die Geschäftsführung beschloss, SAP zu implementieren. Doch es war nicht klar, ob dafür überhaupt genug Stammdaten vorhanden waren. Also wurde die IT-Abteilung beauftragt, eine Übersicht sämtlicher Stammdaten zu erstellen: einerseits die Geschäftsprozesse von Auftragseingang bis zum Versand, andererseits eine Übersicht darüber, welche Daten überhaupt vorlagen. Die Mitarbeiter der IT, erstmals mit einer derart wichtigen Aufgabe betraut, organisierten selbstständig Meetings mit Mitarbeitern aus anderen Abteilungen und erstellten so die geforderte Übersicht innerhalb von nur zwei Wochen. Anschließend wurden die Mitarbeiter gebeten, die Daten zu vervollständigen. Alle Beteiligten waren in höchstem Maße motiviert. Alles wurde konsolidiert und zentral erfasst – unter der Projektleitung der ITler, die zuvor nur auf Anweisung arbeiten durften. So wurde ein hohes Maß an Commitment, Kreativität und abteilungsübergreifender Zusammenarbeit freigesetzt. Die SAP-Einführung erfolgte später problemlos. Zukünftig wurde den IT-Mitarbeitern auch in weiteren Projekten das Projektmanagement übertragen. Eine Aufgabe, über die sie sich nicht nur gefreut haben, sondern die sie auch stets zur vollsten Zufriedenheit der Geschäftsleitung erfüllt haben.

4.2.4 Kunden und Lieferanten in die Prozessgestaltung einbeziehen Sowohl die Bedürfnisse der Kunden als auch die Leistungsfähigkeit der Lieferanten müssen in die digitale Prozessgestaltung einfließen, um eine hohe Performance zu gewährleisten. Sämtliche Prozesse sind dabei aus Sicht des Kunden zu denken – unabhängig vom Geschäftsmodell. Denn sowohl Seriengeschäft als auch Projektgeschäft bauen auf den Kundenbedürfnissen auf.

4.2.4.1 Was der Kunde braucht Der Kunde will am Produkt mitkonfigurieren, es auf seine Bedürfnisse abstimmen. Es gilt also, viele, frei wählbare Features anzubieten, die für sich jeweils auskonfiguriert

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sind. Ein Baukastenprinzip, das dem Kunden das Gefühl gibt, ein individuelles Produkt zu erhalten. Tatsächlich handelt es sich aber um Standardelemente. Denn der Produktionsprozess muss massenproduktionsfähig sein. Mithilfe von Modulen und Standardfeatures ist das problemlos möglich. Die Kunst ist zu wissen, was der Kunde braucht. Denn im Prinzip kauft er kein Produkt. Er hat ein Problem und kauft eine Lösung. Viele Kunden wollen heutzutage ein Spezialprodukt, aber bitte zum Standardpreis. Für den Hersteller ist das wirtschaftlich nicht tragbar. Bietet man dem Kunden aber ein Standardprodukt mit zusätzlichen, entsprechend bepreisten Sonderfeatures an, wird er sich in der Regel für die günstigere Variante entscheiden. Im Projektgeschäft bietet sich ein attraktiver Standardkatalog an, aus dem mit verschiedenen Modulen individuelle Kundenlösungen ohne großen Mehraufwand geschaffen werden können. 90–95 % müssen Standard sein, sonst ist die Produktion zu kostenintensiv und aufwendig. Die restlichen 10 % bestehen aus Sonderlösungen. Benötigt ein Kunde tatsächlich eine funktionierende, zuverlässige Individuallösung, zahlt er den Mehraufwand dafür gerne.

4.2.4.2 Was der Lieferant leisten kann Welche Standardmodule angeboten werden, hängt in großem Maße von den Lieferanten ab. Engpässe in den Lieferketten erschweren den reibungslosen Ablauf inzwischen enorm. Das Projektgeschäft stellt die Supplier vor eine zusätzliche Herausforderung, denn da werden nicht jeden Monat die gleichen Mengen benötigt. Planbarkeit ist kaum möglich. Doch auch dafür gibt es Lösungen: So kann eine Jahresmenge vereinbart und der Lagerbestand zwischen dem Lager des Unternehmens und dem des Lieferanten aufgeteilt werden. Transparente Softwareanbindungen erlauben Einsicht in die Lagerbestände von beiden Seiten, sodass der Lieferant frühzeitig nachbestellen kann und Engpässe einfach vermieden werden. Entsprechende Schnittstellen ermöglichen zudem die Benachrichtigung des Lieferanten, sobald beim Kunden ein Auftrag eingeht. Bei Großaufträgen ist so gewährleistet, dass auch größere Mengen Material vorrätig sind. Das Auftragsgeschäft ist äußerst volatil und erfordert, so weit wie möglich vorauszuplanen und abzuschätzen, wann welche Ressourcen benötigt werden. Ist das nicht der Fall, kommen Überstunden und erhebliche Mehrkosten hinzu. Ein Krisenmodus, der viel Geld und Ressourcen verschwendet. Mit gängigen Software- und Vernetzungsmöglichkeiten lassen sich solche Kostenexplosionen jedoch vermeiden. 4.2.4.3 Schnittstellen und Datenaustausch Viele Unternehmen haben aber ihre eigenen Lagerbestände nicht angemessen erfasst und digitalisiert. Auch in Sachen IT-Infrastruktur gibt es vielerorts noch Optimierungsbedarf. Hier braucht es ein ERP, das über eine Schnittstelle zum Lieferanten exportiert werden kann. Dabei gibt es neben SAP auch zahlreiche „kleinere“ Systeme, die für KMU ­absolut ausreichend sind.

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Bei der Implementierung eines neuen ERP ist die Lieferantenentwicklung von elementarer Bedeutung. Denn ein Supplier, der Bestellungen noch per Fax, nicht mittels EDI (elektronischer Datenaustausch) entgegennimmt, ist für ein Digitalisierungsprojekt ungeeignet. Das Supplier-Netzwerk ist aber für alle nachgelagerten Prozessschritte erfolgsentscheidend – von der Produktqualität über Lieferperformance und Bestände bis hin zu Kommunikationswegen. Ist ein Produkt auf den ersten Blick teurer, punktet es im Nachgang dadurch, dass Folgekosten durch Nachbestellungen, den Austausch defekter Ware oder lange Lieferzeiten vermieden werden.

4.2.5 Mit digitalen Lösungen die Vorteile von Serien- und Projektgeschäft gewinnbringend konsolidieren Serien- und Projektgeschäfte stellen nur scheinbare Gegensätze dar, denn durch digitale Lösungen lassen sich deren Vorteile vereinen. Grundsätzlich ist das Seriengeschäft planbarer. Es gibt eine kalkulierbare, messbare Produktion eines Standardprodukts. Das Projektgeschäft ist hingegen deutlich volatiler und aufwendiger. Zwar wird immer wieder versucht, das Projektgeschäft mit verschiedenen Standards abzudecken, doch das ist nur in einem geringen Prozentsatz der Fälle möglich. Standardmodule sind für 10–20 % der Anfragen nicht speziell genug. Umgekehrt ist eine „Standardlösung“, die nur einmal verkauft werden kann, wirtschaftlich nicht rentabel. Es gilt also, einen separaten Prozess zu etablieren – evtl. eine eigene Abteilung. Wichtig ist, dass diese vom Seriengeschäft getrennt bleibt. Wenn die geforderten Modifikationen gar nicht so weit vom Standardprodukt abweichen, lässt sich ohne großen Aufwand ein separater Prozess aufsetzen. Wie lassen sich Serien- und Projektauftrag störungsfrei in die Unternehmensprozesse einbinden? Verfügt ein Unternehmen über gut abgestimmte Standardprozesse, können diese überarbeitet und für ein reines Projektgeschäft modifiziert werden. Bedient man den Kunden neben Serienprodukten auch mit Sonderlösungen, trägt dies zu einer langfristigen Kundenbindung bei. In vernünftigem Maße kann sich die Hinzunahme des Projektgeschäfts daher als Mehrwert erweisen. In wirtschaftlicher Hinsicht handelt es sich um eine Mischkalkulation: Wenn der Großteil der Kundenaufträge durch Standards und Module abgedeckt werden kann, machen Sonderlösungen nur einen geringen Prozentsatz aus. Ist eine wirtschaftliche Umsetzung möglich, lassen sich Geschäftsmodell und Mehrwert für den Kunden gleichermaßen problemlos erweitern. Sonderwünsche bedeuten zudem nicht immer nur Mehraufwand, sie bergen oft großes Zukunftspotenzial. Wird eine Sonderlösung gefordert, lohnt es sich zu prüfen, ob sich evtl. ein Trend abzeichnet. Möglicherweise handelt es sich dabei um eine produktive Erweiterung des bestehenden Geschäftsmodells. Der Sonderwunsch von heute könnte der Standard von morgen sein. Schließlich bleibt auch das Seriengeschäft in seiner Entwicklung nicht stehen.

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Beispiel aus der Praxis Ein Unternehmen produzierte serienmäßig Messvehikel. Ein Kunde wünschte sich eine Variante, die autonom fahren kann. Diese war jedoch im derzeitigen Stadium der Serienproduktion nicht vorgesehen. Also galt es, Folgendes zu prüfen: Was bedeutet für den Kunden autonomes Fahren? Was sind die Anforderungen? Wie kann das Gerät aufgeladen werden? Ist induktives Laden möglich? Oder wäre eine Ladestation eine effektivere und schnellere Lösung? All das sind Beispiele wichtiger Features, die mit Sonderwünschen im Projektgeschäft entstehen und später in der Serienproduktion übernommen werden können. Im Rahmen eines Projekts wurden die neuen Features zunächst getestet. Der Kundenwunsch zeigte, dass es eine Nachfrage nach dem Feature autonomes Fahren gab, welches später in die Serienproduktion übernommen wurde. So konnte ein Projektauftrag die Serienproduktion nachhaltig verbessern und erweitern.

4.3 Automatisierung und Tools Dank der rasanten Entwicklung im Bereich digitaler Technologien bieten sich für sämtliche Industrien eine Vielzahl an Auswahlmöglichkeiten für Digitalisierungsprojekte. Damit aber digitale Lösungen ihren maximalen Nutzen entfalten können, müssen sie im Kern der Wertschöpfungskette verankert sein. Bei der Einführung von Automatisierung und digitalen Tools geht es in erster Linie darum, von der Customer Experience (CX) her zu denken. Investiert ein Unternehmen in digitale Technologien, gilt es daher, nicht nur an neue digitale Geschäftsmodelle, Kostenersparnis, Produktivitätssteigerung und Nachhaltigkeit zu denken, sondern ebenso an das zu erwartende Dienstleistungspotenzial. Moderne Technologien wie IoT-Anwendungen, Cloud, 3-D-Druck und künstliche Intelligenz (KI) bieten schier unendliche Möglichkeiten, um die Customer Experience in gleichem Maße zu verbessern wie Nachhaltigkeits- und Profitabilitätsziele. Die Königsdisziplin besteht darin, die verschiedenen Technologien so miteinander zu kombinieren, dass ihre Vorteile über sämtliche Ebenen des Unternehmens – und idealerweise der Supply Chain – hinweg zum Tragen kommen, von der Optimierung von Geschäftsprozessen über eine effizientere Wertschöpfung bis hin zu einer verbesserten Mitarbeiterproduktivität und Kundenzufriedenheit.

4.3.1 ERP nach Maß gesucht Das richtige ERP für ein Unternehmen zu finden, ist der erste Schritt in Richtung eines nachhaltigen Digitalisierungsprojekts. Die Geschäftsprozesse müssen im ERP automatisch ablaufen. Dafür sind die zugrunde liegenden Stammdaten optimal zu pflegen. Das ERP muss alle relevanten Daten enthalten (Datenkrake), denn es bildet mit den Stammdaten das Rückgrat für jedes weitere Tool. Oft wird bei der Auswahl versäumt,

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die eigene IT-Abteilung einzubinden. Ein Fehler, muss die IT das ERP-System doch später warten bzw. programmieren können. Ist das ERP-System zu groß für das Unternehmen und seine Prozesse, wird es schnell zur Kostenfalle und zum Entwicklungshemmer. Viele tendieren beim ERP sofort zu SAP. Doch SAP ist meistens zu komplex, denn es richtet sich primär an Unternehmensgrößen im fünfstelligen Mitarbeiterbereich. Selbst die Light-Version ist oft noch zu umfangreich. Mit kleinsten Modifikationen sind sofort große Kosten verbunden. Bildlich gesprochen, entspricht die Performance von SAP der eines Supertankers: Für kleinere Häfen wurde sie nicht konzipiert. Dabei gibt es eine Vielzahl hervorragender „kleiner“ Lösungen. Durch das schlanke Konstrukt und kurze Wege zum Anbieter können diese ERP-Systeme schnell und kostengünstig individualisiert werden. Ist das ERP hingegen zu klein, kann es später nicht mit der Firma wachsen. Es ist das Nadelöhr für alle nachgelagerten Prozesse. Bietet die Software nicht genug Features oder ist die dahinterliegende Datenbank für die Bedürfnisse des Unternehmens zu klein, sind alle zukünftigen Entwicklungen gehemmt. Oder es kommt zu Downtimes, weil die Software zu langsam ist. Für die Auswahl des richtigen ERP sollten also Zeit und Sorgfalt aufgewendet werden. Es gilt, ein System zu finden, das den aktuellen Geschäftsprozessen und Anforderungen des Unternehmens entspricht, das aber auch genug Flexibilität für zukünftige Weiterentwicklungen und geplante Digitalisierungsprojekte bietet. Ein ERPAnbieter sollte daher in etwa die gleiche Größe wie das eigene Unternehmen haben.

4.3.2 Projektmanagement-Tools Für das Projektgeschäft existiert eine Vielzahl an Projektmanagement-Tools (PM). Hier wird oft der Fehler gemacht, ein solches Tool selbst zu programmieren, weil die eigene Branche vermeintlich sehr speziell ist. Dabei gibt es diverse Anbieter sehr professioneller und potenter PM-Tools wie Innosoft oder Visual Planning, die über ausgeklügelte Standardlösungen verfügen, aber auch individuelle Modifikationen anbieten. Gleiches gilt für Konfiguratoren (CPQ) für Modullösungen wie KIM oder Encoway. Entscheidend ist, dass die Software effektiv mit dem ERP interagiert, damit es zu weniger Blindleistung kommt. Die Geschäftsprozesse laufen dann deutlich effizienter ab und der Arbeitsaufwand für die Mitarbeiter reduziert sich drastisch. Daher sollte die Geschäftsführung bei der Suche nach einem solchen Tool unbedingt die späteren Anwender unter den Mitarbeitern einbeziehen. Auswahl und Implementierung eines Projektmanagement-Tools erfolgen idealerweise als Teamarbeit. Einzubinden sind die IT, die Projektmanager, Abteilungen und Personen, die entlang der Wertschöpfungskette mit der Software arbeiten sollen. Es ist Aufgabe der Geschäftsführung sicherzustellen, dass hier nicht aneinander vorbeigeredet wird. Es braucht eine Lösung, die den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht wird und eine hohe Akzeptanz findet. Wenn die Anwender am Auswahlprozess

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beteiligt sind, dann arbeiten sie später auch ebenso gerne wie effektiv damit. Wird hingegen über die Köpfe der Mitarbeiter hinweg entschieden, ist das Ergebnis eine Software, die am Problem vorbeigeht und zu kompliziert in der Anwendung ist.

4.3.3 Das IoT und Cloud-Anwendungen Durch Industrie 4.0 entwickeln sich Industriesektoren zunehmend zu vernetzten Ökosystemen. Die rapide wachsende Technologielandschaft, Apps, APIs und IoT-Integrationen erlauben die Einbindung industrieller Assets wie einzelner Maschinen oder ganzer Produktionsanlagen in ein gemeinsames Ökosystem, das das eigene Unternehmen mit Kunden, Lieferanten, aber auch sonstigen Kooperationspartnern effektiv verbindet. Daher sind IoT-Projekte für die meisten Unternehmen besonders attraktiv. Bis 2025 sollen ca. 37 Mrd. Geräte mit dem Industrial Internet of Things (IIoT) verbunden sein. Die Herausforderung besteht aktuell darin, die Informationstechnologie (Information Technology – IT) und die Betriebstechnologie (Operational Technology – OT) effektiv zusammenzuführen, denn diese haben sich weitgehend unabhängig voneinander entwickelt. Immer noch sind viele Maschinen und Anlagen geschlossene Systeme mit veralteter, teilweise firmenintern entwickelter Software. Doch mithilfe von Cloud-Plattformen, die den Zugriff auf sämtliche Systeme und Maschinen über eine einheitliche Schnittstelle erlauben, können diese Insellösungen nun beseitigt werden. Für die erfolgreiche Umsetzung von IoT-Projekten bedarf es effizienter End-to-EndLösungen. Dabei kommt den Daten eine besondere Bedeutung zu. Um diese Daten auch bei älteren Maschinen erfassen und generieren zu können, gibt es inzwischen diverse Sensoren, die zur Datenerfassung an den Maschinen nachgerüstet werden können. Es muss also nicht gleich die große Investition in einen neuen Maschinenbestand sein. Mithilfe moderner Kommunikationstechnik mit Übertrage- und Protokollkonvertierungen lassen sich die Daten der Maschinensensoren dann zu einem sogenannten Gateway weiterleiten. Hierbei ist besonders darauf zu achten, dass das System die neu gewonnenen, großen Datenmengen auch erfassen, speichern und verarbeiten kann. Es braucht also leistungsfähige Analysemodule, um die Daten zur Gewinnung aussagekräftiger Erkenntnisse zu nutzen und diese in End-to-End-Lösungen einzusetzen. IoT-Gateways sammeln Maschinen- und Prozessdaten von verschiedenen IoT-Geräten und Sensoren innerhalb einer IoT-Infrastruktur. Gateways mit KI erlauben zudem die Analyse und Weiterverarbeitung von Daten direkt an den Endpunkten. Die Daten stehen anschließend in der Cloud zur Verfügung und können im unternehmenseigenen System, aber auch in den Systemen von Kunden und Lieferanten weiterverarbeitet werden. Ein IoT-Gateway ist unter Einsatz von KI außerdem in der Lage, Prozesse zu optimieren und Ausfallzeiten zu reduzieren, etwa in Form von Predictive Maintenance oder Automatisierung. Hybridmodelle, die die interne IT-Infrastruktur mit der Cloud kombinieren, eröffnen den Unternehmen ganz neue Möglichkeiten: von der Kostensenkung und

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Gefahrenreduktion über Prozessoptimierung und Automatisierung bis hin zur Erschließung neuer Geschäftsmodelle. So kaufte beispielsweise Shell ein IoT-System, mit dem der Konzern die Kraftstoffversorgung in Echtzeit überwachen konnte. Mithilfe von an den Stationen und in den Lkw installierten Sensoren wurden Daten gesammelt und vom System kontinuierlich ausgewertet. Mithilfe dieser Technologie konnten die Kraftstoffverluste reduziert, der Kraftstoffdiebstahl eingedämmt und Pannenzeiten verkürzt werden. Potenzielle Sicherheitsrisiken Diese IT-OT-Konvergenz birgt allerdings auch Risiken. Denn durch die zunehmende Digitalisierung der OT-Systeme und deren Anbindung an die Cloud bietet sich auch eine neue Angriffsfläche für Cyberkriminelle, die es bei der firmeninternen Insellösung in der Form nicht gab. Die IoT-Technologie steuert und verbindet Prozesse und Maschinen und bindet diese an ein Ökosystem an, das für externe Eingriffe prinzipiell anfälliger ist. Durch Angriffe von außen kann es zu Ausfällen kommen, die teilweise schwerwiegende Folgen haben können. Produktivität, Umsatz und sensible Daten sind ebenso gefährdet wie das Wohlergehen der Mitarbeiter. So verlor ein Stahlwerk in Deutschland 2014 durch einen Phishing-Angriff die Kontrolle über einen Hochofen. Hacker hatten sich Zugriff auf das Steuerungssystem des Werks verschafft. Der Vorfall war besonders kritisch, weil ein solcher Hochofen Tonnen von geschmolzenem Metall enthält, das auf extrem hohe Temperaturen erhitzt wird. Glücklicherweise wurde bei dem Vorfall niemand verletzt, aber die Anlage trug massive Schäden davon. Dies ist einer der ersten Cyberangriffe, die eine akute Gefährdung von Menschenleben zur Folge hatten. Unternehmen sollten daher bei der Suche nach einer IoT-Lösung dem Thema Sicherheit und Schutz vor Cyberangriffen die gleiche Priorität beimessen wie Fragen der Profitabilität, Prozessoptimierung, Kostenersparnis usw. Es gilt, für eine robuste OTSecurity-Architektur zu sorgen, damit die Vorteile nicht zulasten einer breiteren Angriffsfläche gehen. Auch hier gibt es bereits eine große Bandbreite an Sicherheitslösungen, die für die unterschiedlichsten Bedarfe geeignet sind oder entsprechend individualisiert werden können. In der Regel bieten Serviceprovider im Bereich IoT-Lösungen ein entsprechendes Sicherheitspaket direkt mit an. Im Einzelfall bleibt allerdings zu prüfen, ob das angebotene Paket die in der Praxis zu erwartenden Sicherheitsrisiken auch bestmöglich abdeckt.

4.3.4 Der digitale Zwilling Ein Beispiel für die optimale Einbindung und Nutzung digitaler Technologien ist der sogenannte „digitale Zwilling“. Dabei handelt es sich um ein digitales Spiegelbild von physischen Anlagen, Personal, Systemen, Prozessen und Geräten – sozusagen ein Abbild des Unternehmens als Ganzes. Es werden Echtzeit-Informationen der verbundenen

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Systeme abgebildet, sodass genaue Aussagen über die Effizienz verschiedener Prozesse gemacht werden können. So lassen sich beispielsweise neue Anlagen digital testen, Mitarbeiter schulen oder der laufende Betrieb optimieren. Auch die Effektivität von aktiven Anlagen und Maschinen lässt sich auf diese Weise in Echtzeit verfolgen. Auch geplante Erweiterungsmaßnahmen lassen sich virtuell im Vorfeld simulieren und auf ihre Durchführbarkeit bzw. Rentabilität im Unternehmenskontext prüfen. Durch die Kombination mit Machine Learning und IoT-Funktionen lassen sich Funktionalität und Effizienz von Anlagen genau überwachen und mithilfe von Predictive Maintenance ungeplante Ausfallzeiten vermeiden. Sämtliche Messwerte wie Anlagentemperaturen, Stromverbrauch, Pumpendruck oder Durchflussraten werden in Echtzeit abgebildet, sodass das System kontinuierlich optimiert werden kann. Mithilfe von Simulationen lässt sich der Produktionsablauf um Millisekunden in die Zukunft projizieren, um Fehlfunktionen voraussagen zu können. Sogar ganze Lieferketten lassen sich als digitaler Zwilling abbilden und sorgen so für maximale Transparenz für alle Beteiligten. Zudem lassen sich die physischen Komponenten so realitätsgetreu abbilden, dass sämtliche Prozessoptimierungen „unter realen Bedingungen“ getestet werden können, um Produktionsabläufe zu optimieren oder Ausschuss zu minimieren. Die Herausforderung bei dieser Technologie bestand bisher in einem einheitlichen industriellen Standard. Aktuell scheint sich die sog. Verwaltungsschale (engl. Asset Administration Shell, AAS) durchzusetzen. Dabei handelt es sich um eine konkrete, standardisierte Umsetzung des digitalen Zwillings, mit der Interoperabilität und Integrationsfähigkeit gesichert werden. Das heißt, dass sämtliche Daten und Informationen in einem standardisierten Format gespeichert und dann von verschiedenen Systemen verwendet werden können. Schließlich kann diese Technologie ihren vollen Nutzen nicht entfalten, wenn die gewonnenen Daten nicht von anderen Stakeholdern, Kunden oder Lieferanten genutzt werden können, weil deren System mit einem anderen Datenformat arbeitet. Die erfolgreiche Umsetzung des digitalen Zwillings findet man aktuell vornehmlich bei finanziell gut aufgestellten Großkonzernen. Eine günstigere und weniger aufwendige Einstiegsmöglichkeit in diese Technologie für KMU bietet das sogenannte „digitale Typenschild“ für Maschinen und Anlagen. Es handelt sich dabei um eine Art Teilmodell der Verwaltungsschale. Dabei werden Informationen zur Maschine oder Anlage, z. B. Hersteller, Herstellungsjahr, Seriennummer, verbaute Komponenten und Handbücher, gebündelt und können mittels eines QR- oder Datenmatrix-Codes auf der Maschine oder per RFID abgerufen werden. Für mittelständische Unternehmen bietet sich so die Möglichkeit eines graduellen Einstiegs in die Technologie zu vergleichsweise geringen Kosten. Zudem lassen sich Informationen aus beliebigen Quellsystemen kombinieren, sodass der Datenzugriff auf alle relevanten Informationen gewährleistet ist – und zwar nicht nur unternehmensintern, sondern auch für sämtliche Partner aus der Wertschöpfungskette.

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4.3.5 Virtual Reality (VR) Virtual-Reality-Tools bieten fortschrittliche Möglichkeiten der dezentralen Kollaboration und sind damit ein beliebter Baustein von „New Work“-Modellen. Verschiedene Kommunikations- und Planungsprozesse lassen sich so ortsunabhängig, schneller und effektiver umsetzen. Doch insbesondere bei der Planung und Umsetzung von Automatisierungsprojekten, z. B. die Konzeption einer neuen Fertigungsstraße, ist Virtual Reality eine große Hilfe. Bei solchen Projekten im Anlagen- und Maschinenbau gestaltet sich die Planung oft schwer, weil wichtige Schnittstellen zwischen den Gewerken im Großprojekt nur in Meetings abgestimmt werden. Schon in der Planungsphase bedarf es aber einer transparenten Kommunikation und eines intensiven Austauschs unter den Beteiligten, deren Arbeit in der Regel aufeinander aufbaut. Verzögerungen in der Anfangsphase, etwa aufgrund eines Brechungsfehlers, weiten sich zu einem massiven zeitlichen Verzug im fortschreitenden Projekt aus. Eine händisch gepflegte, per Mail verschickte Action-Liste – wie noch vielfach praktiziert – bildet solche Vorhaben und deren Anforderungen nicht realitätsnah ab. So werden in der Planungsphase unter anderem potenziell teure Fehler übersehen. Bei der Planung einer neuen Anlage sah der Projektablauf bislang wie folgt aus: Ein Ingenieur erstellte mithilfe eines CAD-Tools einen Entwurf. Dieser wurde dann zur CAE-Simulation an einen Analysten übermittelt. Nach erfolgter Simulation übermittelte der Analyst sein Feedback an den Ingenieur, der darauf aufbauend Änderungen am Entwurf vornahm. Dieser Prozess wiederholte sich so lange, bis alles abgestimmt war. Zeitaufwendig, unzuverlässig und unproduktiv. Mit AR/VR, CAD und CAE in der Cloud können nun mehrere Ingenieure zeitgleich designen, analysieren und schrittweise Verbesserungen vornehmen. Und zwar so, als würden sie alle gemeinsam vor Ort am physischen Produkt arbeiten. Zudem können die entstandenen Entwürfe auch gleich in verschiedenen realistischen Szenarien getestet werden, z. B. Resilienz gegen extrem hohe Temperaturen oder Beschleunigungen, Materialermüdung, maximale Tragfähigkeit usw. Da sich Daten aus verschiedenen Quellen zusammenführen lassen, kann eine besonders vielfältige und genaue virtuelle Testumgebung geschaffen werden. Mit VR-Lösungen wie TechViz können zudem CAD-Daten verschiedener Gewerke in 3-D und Originalgröße dargestellt und miteinander abgeglichen sowie virtuelle Begehungen und Inspektionen durchgeführt werden. So lässt sich mithilfe von AR/VR und CAD- bzw. CAE-Simulationen in der Cloud gemeinsam im Vorfeld ein Anlagenkonzept prüfen und Clashes oder Fehler frühzeitig ausmerzen, damit es später in der Montage nicht zu Problemen kommt. Nicht selten stellt sich dabei auch heraus, dass die geplante Produktionsanlage mehr kann als ursprünglich gedacht. Dadurch wird die Effizienz der Designphase ebenso wie die spätere Funktionalität der Anlagen um ein Vielfaches gesteigert, während Produktentwicklungs- bzw. Montagezeiten und Fehlerkosten drastisch reduziert werden.

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Dabei lohnt sich der Einsatz dieser Technologie nicht nur für die Planung bzw. den Bau und Betrieb großer Fertigungsstraßen, sondern auch bei der Herstellung von Motoren oder anderen kleinteiligen Komponenten. Mithilfe von Augmented Reality und Virtual Reality können Ingenieure sämtlicher Industriezweige ihre Produkte in 3-D visualisieren und haben so die Möglichkeit, neue Ideen viel weiter zu entwickeln, effizient und zeitnah umzusetzen sowie Fehler deutlich früher auszumerzen. Hilfreich ist Virtual Reality auch für umfassende Schulungen von Service, Vertrieb und Einkauf – selbst wenn sich die Anlage noch in der Planungsphase befindet. So können die Monteure die Anlage vorab virtuell studieren und wissen beim ersten Einsatz genau, wo sich welche Komponente befindet. Auch der Einkauf kann sich bereits mit konkreten Informationen an die Arbeit machen. Die Nachhaltigkeit solcher Digitalisierungsprojekte zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass es weniger „Verschnitt“ gibt. Fehler können beseitigt werden, bevor sie Schaden anrichten oder überhaupt entstehen, und die Produktion kann sofort sauber anlaufen. Durch die enge Kooperation sämtlicher beteiligter Gewerke von Anfang an können Projekte fehlerfrei, zeitnah und möglicherweise effektiver als ursprünglich gedacht umgesetzt werden.

4.3.6 Künstliche Intelligenz (KI) Die Fortschritte in Sachen KI sind enorm, die Anwendungsmöglichkeiten vielfältig. Selbstlernende Software kann Unternehmen heutzutage viel Fleißarbeit abnehmen und entlastet so die Mitarbeiter, damit diese sich auf ihre Kerntätigkeit konzentrieren können. Das lässt sich anschaulich am simplen Beispiel der Reisekostenabrechnung verdeutlichen. Hier ist viel Fleißarbeit gefragt: Der Sachbearbeiter erhält die Abrechnung des Mitarbeiters und muss diese mit den Rechnungen abgleichen. Wird hier KI eingesetzt, übernimmt die Software den Abgleich und löst, bei Übereinstimmung, direkt die Überweisung der Rechnung aus. Stimmt das Ergebnis nicht, erhält der Sachbearbeiter automatisch eine Benachrichtigung. Die Software ist außerdem lernfähig. Wenn es zu Problemen kommt, etwa weil die Abrechnung in Euro, die Rechnung aber in US-Dollar vorliegt, kann ihr der Sachbearbeiter „beibringen“, die Dollar-Beträge über einen Online-Währungsrechner umzurechnen. So lernt das Programm nach und nach neue Features, um sein Aufgabenfeld stetig zu erweitern und so den Mitarbeiter immer stärker zu entlasten. Im Maschinen- und Anlagenbau wird KI zurzeit vornehmlich für die Datenanalyse und vorausschauende Instandhaltung sowie im Qualitätsmanagement eingesetzt. Die Bandbreite verfügbarer Tools ist vielfältig: Je nach Zielvorgabe kommen Machine Learning, Deep Learning, künstliche Intelligenz, neuronale Netze und Natural Language Processing zum Einsatz. Egal ob eine Verbesserung der Produktivität, der Qualität, des Arbeitsschutzes, eine Optimierung in puncto Mitarbeiterschulung oder Compliance gewünscht ist: KI-basierte Softwareplattformen können so ziemlich jedes Projekt vorantreiben.

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So kann künstliche Intelligenz sogar dabei helfen, Risiken und Gefahren in Betrieben zu reduzieren. KI-Verfahren mit Bilderkennung tragen aktiv zu deutlichen Verbesserungen in Bezug auf Arbeitssicherheit, Objektschutz und Zugriffskontrolle bei. Durch den Einsatz neuronaler Netze für Bilderkennung (Computer Vision) lassen sich in vielen Situationen Arbeitsunfälle verhindern. Wenn zum Beispiel ein Gabelstapler auf einen Mitarbeiter zufährt, dieser es aber ebenso wenig bemerkt wie der Fahrer, kann eine KI-Lösung die Beteiligten alarmieren. Kommt es dennoch zu einem Arbeitsunfall, ist die Technologie in der Lage, diesen als solchen zu erkennen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten, z. B. Ersthelfer oder den Werkschutz zu alarmieren. KI-Lösungen können sogar erkennen, ob die für einen Arbeitsbereich vorgeschriebene Schutzkleidung fehlt, und beispielsweise dem Mitarbeiter den Zugang verwehren. Die wichtigste Voraussetzung für ein erfolgreiches KI-Projekt ist zunächst die Bereitstellung von ausreichend aussagekräftigen Rohdaten, denn künstliche Intelligenz benötigt Input, um effektiv arbeiten und lernen zu können. Damit wird das neuronale Netz trainiert, sodass es auffällige Muster erkennen kann, also dass der Helm oder die Schutzbrille fehlen oder dass ein Werkstück nicht den vorgegebenen Qualitätsstandards entspricht. Man spricht hier von Deep Learning oder Machine Learning. Dieser Prozess findet in der Regel in der Cloud statt, denn dort stehen genügend Rechenleistung für die Verarbeitung und unbegrenzter Speicherplatz für die Daten zur Verfügung. Beispiele aus der Praxis Die Einsatzmöglichkeiten und Wirkpotenziale von KI extrem breit gefächert. Ein klassischer Einsatzbereich in der produzierenden Industrie betrifft die Überwachung von Fertigungsmaschinen. Mithilfe von sogenannten Smart Resilience Services (SRS) können sensorische Daten der Produktionsmaschinen ebenso analysiert werden wie Daten zur Qualität von Werkzeugen, Rohstoffen und Werkstücken. Darauf aufbauend lassen sich Handlungsempfehlungen zur Optimierung der Produktion, der Planung von Wartungsintervallen oder zum präventiven Abbruch eines Produktionslaufs erstellen. Die SRS analysieren beispielsweise den Verschleißzustand eines Schneidwerkzeugs und berechnen, wie lange dieses noch effektiv eingesetzt werden kann. Auf diese Weise lässt sich die Nutzung der maximal möglichen Einsatzzeit einer Maschine ebenso gewährleisten wie das rechtzeitige Eingreifen vor der Entstehung eines Produkts, das nicht den festgelegten Qualitätsstandards entspricht. Anhand solcher Prognosen wird eine optimierte Ressourcenplanung möglich und durch Predictive Maintenance ein deutlich geringerer Wartungsaufwand für die Maschinen sichergestellt. Stillstandszeiten der Maschinen lassen sich auf ein Minimum reduzieren. Selbst im Wohnungsbau wird künstliche Intelligenz bereits eingesetzt. Beispielsweise werden KI-gestützte Erfassungssysteme zur Modellierung von Bestands- und geplanten Bauwerken genutzt. Das fertige digitale Modell eines Neubaus umfasst dann sämtliche Bauteile ebenso wie Informationen zu Kühl-, Lüftungs-, Trinkwarmwasser- und Heizungsanlagen. So können alle Bedarfe simuliert und exakt berechnet sowie erforderliche Maßnahmen zur Optimierung des Energieverbrauchs abgeleitet werden. Gleiches

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lässt sich auch für Bestandsgebäude umsetzen. Die Optimierung des Energieverbrauchs zur Reduzierung der CO2-Emissionen wird dadurch denkbar einfach. Das gilt gleichermaßen für die Heizkostenoptimierung in Privathaushalten. Zur Bereitstellung der monatlichen Verbrauchsinformationen an die Mieter kann ein SmartEED-System eingesetzt werden. Basierend auf KI-Methoden, stellt dieses System den Mietern Informationen und Prognosen zu ihrem Heizverhalten sowie zu Kosten, kWh-Verbrauch und CO2-Ausstoß zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es Empfehlungen, wie sie ihr Verhalten anpassen können, um die Verbrauchskosten zu senken. Die Nutzer können eingeben, welches ihre gewünschte Temperatur ist, und das System berechnet ihnen die dafür benötigte Einstellung der Heizung. Auch ein Vergleich des aktuellen Verbrauchs mit den Daten aus dem Vorjahr ist möglich. Für die jeweiligen Heizempfehlungen bezieht das System sämtliche externen Parameter wie aktuelle Energiepreise, Steuern und sonstige Kostenpunkte bis hin zu Wetterdaten in seine Kalkulationen mit ein. Die auf diese Weise generierten Informationen lassen sich tagesaktuell per App oder über eine Webseite abrufen.

4.3.7 3-D-Druck Ob in der Automobilindustrie, in der Luft- und Raumfahrt oder im Maschinen- und Anlagenbau: Dank rasanter Fortschritte der Technologie und spürbaren Kosteneinsparpotenzialen sind 3-D-gedruckte Produkte für viele Branchen schon heute eine echte Alternative. In der Automobilindustrie wird derzeit intensiv das Potenzial unterschiedlicher Werkstoffe für die additive Fertigung erforscht. In Bezug auf Komponenten für den Fahrzeuginnenraum ist der 3-D-Kunststoffdruck schon bald für die Serienfertigung geeignet. Und auch der 3-D-Metalldruck zur Fertigung von unterschiedlichsten Ersatzteilen, Prototypen oder innovativen Werkzeugkomponenten dürfte für zahllose Unternehmen die Technologie der Zukunft sein. Auf diese Weise könnten beispielsweise auch Märkte mit schwer zugänglichen oder möglicherweise beim Hersteller nicht mehr verfügbaren Komponenten – wie die Ersatzteilproduktion für Oldtimer-Fahrzeuge – eine ganz neue Bandbreite an verfügbaren Produkten und folglich eine Renaissance erleben. Doch die additive Fertigung mit Metallpulver verspricht nicht nur in der Automobilindustrie ganz neue Perspektiven. Auch andere Branchen und Unternehmen aus dem produzierenden Gewerbe sollten die Entwicklungen im Bereich des 3-D-Drucks genau beobachten. In der Luft- und Raumfahrt ist der 3-D-Druck längst im Einsatz und stellt seine Vorzüge unter Beweis. So wird dieses Fertigungsverfahren beispielsweise genutzt, um Montagewinkel für Flugzeugtüren und sogar die Turbinenschaufeln für den hochmodernen Ultralangstreckenjet Boeing 777X zu produzieren. Selbst komplette Raketentriebwerke lassen sich inzwischen mit rostfreiem Edelstahl drucken, z. B. die sogenannten Raptor-Triebwerke der Starship-Raketen des Raumfahrtunternehmens SpaceX von Elon Musk.

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Auch im Maschinen- und Anlagenbau hat sich der 3-D-Druck bereits in einigen Bereichen etabliert, etwa für den Werkzeugbau oder die Fertigung von Sonderteilen. Insbesondere in der Ersatzteilfertigung sind die kurzen Vorlaufzeiten von großem Wert. Doch selbst Vor-, Klein- und Mittelserien sind heutzutage nicht nur möglich, sondern auch schnell realisierbar. Die Anwendungsbereiche scheinen unbegrenzt. Die additive Fertigung hat auch in puncto Nachhaltigkeit einiges zu bieten. Durch das geringere Gewicht der auf diese Weise hergestellten Komponenten lässt sich eine CO2-neutrale Leichtbau-Produktionstechnik mit energieeffizienten Anlagen für die automatisierte Fertigung umsetzen. Auch der Materialverbrauch profitiert vom 3-D-Druck, denn bei der Fertigung wird nur die tatsächlich benötigte Materialmenge eingesetzt. In Bezug auf Stabilität und Haltbarkeit sind die Komponenten herkömmlich produzierten Bauteilen absolut ebenbürtig. Deshalb hält der 3-D-Druck auch in der Architektur Einzug. Inzwischen können sogar Brücken mithilfe dieser Technologie hergestellt werden. Die erste ihrer Art steht in Amsterdam. 3-D-Metalldruck: Stand der Technik Der 3-D-Metalldruck bietet neben einer Gewichtsreduktion, der drastischen Verkürzung von Herstellungs- und Montagezeiten sowie der Individualisierbarkeit von Produkten viele weitere neue Möglichkeiten. Durch den schichtweisen Materialauftrag werden selbst aus komplexesten virtuellen 3-D-Modellen hochwertige montagefertige Bauteile. Die auf diese Weise gefertigten Produkte punkten mit struktureller Widerstandsfähigkeit und maximaler Funktionalität. Ein weiterer Vorteil für Hersteller: Der Materialverbrauch und folglich die Produktionskosten sind deutlich geringer. Auch Änderungen am Design sind noch während des laufenden Projekts durchführbar und die anschließende Montage wird dank der passgenauen Bauweise denkbar einfach. Durch den Einsatz von 3-D-Scans lässt sich so ziemlich jedes Produkt reproduzieren. Vereinfacht wird der Produktionsprozess zudem durch die Tatsache, dass inzwischen vielfältigste CAD-Daten als Druckvorlagen verfügbar sind. Das Rad muss also nicht bei jeder Produktion neu erfunden werden, sondern man kann auf einen breiten Bestand an hochwertigen Vorlagen zurückgreifen. Die Produktion von Metallbauteilen ist sowohl „just in time“ als auch „on demand“ durchführbar und die Anschaffungskosten werden immer bezahlbarer, sodass der 3-D-Metalldruck auch für KMU eine echte Alternative, mindestens aber eine lukrative Ergänzung zur maschinellen Produktion darstellt, da die Customer Experience dadurch – sowohl in Bezug auf Individualisierbarkeit als auch hinsichtlich Produktionskosten und -zeiten – deutlich verbessert wird. Die benötigten Metallwerkstoffe sind für gewöhnlich in Pulverform erhältlich. Diese sind zwar aufgrund der aufwendigen Herstellung in der Anschaffung etwas teurer, holen die Investition aber mit dem deutlich geringeren Materialverbrauch schnell wieder rein. Als Werkstoffe sind unter anderem Aluminium, Werkzeugstahl und Titan sowie rostfreie Stähle verfügbar, die auch in Pulverform ihre üblichen Eigenschaften nicht verlieren. Insbesondere im Anlagenbau hat sich austenitischer Edelstahl durchgesetzt, der eine hohe Duktilität, Korrosionsbeständigkeit und Hitzebeständigkeit aufweist. Nickel-

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Chrom-Legierungen wiederum weisen hervorragende mechanische Eigenschaften auch bei extrem niedrigen bzw. hohen Temperaturen und Beständigkeit gegen organische Säuren und Laugen auf. Damit eignen sie sich besonders gut für Bauteile, die hohen Belastungen widerstehen müssen. Das Verfahren mit der aktuell höchsten Industriereife ist das pulverbettbasierte Laserschmelzen – Laser Metal Fusion (LMF), auch bekannt als Selective Laser Melting (SLM) oder Laser Powder Bed Fusion (LPBF) bzw. Direct Metal Laser Sintering (DMLS). Hierbei werden CAD-Daten in maschinenlesbare Daten umgewandelt und in zweidimensionale Druckschichten zerlegt. Der Laser bietet sehr spezifische Einstellungsmöglichkeiten wie Schichtstärke, Bahnführung pro Schicht, Geschwindigkeit und Temperatur. Anschließend wird das Bauteil vom 3-D-Drucker schichtweise aufgebaut. Erst wenn die zuletzt aufgetragene Schicht zu einer festen Struktur verschmolzen ist, wird die nächste Metallpulverschicht aufgesprüht. Ein weiterer Bonus: Nicht verschmolzenes Metallpulver kann eingesammelt und wiederverwendet werden. Es gibt bereits einige weitere Verfahrenstechnologien für den 3-D-Metalldruck, die sich für unterschiedliche Materialien, Bauteile und Anwendungsgebiete eignen. Wer den 3-D-Metalldruck für das eigene Unternehmen in Betracht zieht, hat also die Qual der Wahl. Zunächst gilt es daher, sich intensiv mit den unterschiedlichen Technologien und Materialien auseinanderzusetzen. Doch der Aufwand lohnt sich, denn konventionelle Fertigungsverfahren bleiben zunehmend hinter den Vorzügen des 3-D-Metalldrucks zurück. Dieser ermöglicht inzwischen eine ebenso schnelle wie flexible und in höchstem Maße individualisierbare Fertigung. Immer mehr hochleistungsfähige Werkstoffe wie rostfreier Edelstahl können bereits verarbeitet werden und verlieren auch in Pulverform keine ihrer chemischen, mechanischen oder thermischen Eigenschaften. Die schnelle Reaktionsfähigkeit auf individuelle Kundenwünsche und der geringe Materialverbrauch erlauben es den Unternehmen, die Grätsche zwischen Serienproduktion und Fertigung on demand zu schlagen, sodass auch Sonderwünsche der Kunden ohne großen Aufwand bedient werden können. Damit wird die Customer Experience mit Standardprodukten im Baukastenprinzip aus der klassischen Produktion und vollständig individualisierbaren Sonderfertigungen aus dem 3-D-Drucker perfekt abgerundet, ohne dass im eigenen Unternehmen ein zu hoher Aufwand entsteht.

4.3.8 Automatisierung Automatisierungslösungen bieten in der Produktion ein hohes Maß an Zuverlässigkeit, Sicherheit und Planbarkeit. Sie variieren stark von Branche zu Branche, finden aber hauptsächlich in der Fertigung ihren Platz. Neben einer stark skalierbaren Produktion bringen sie noch weitere Vorzüge mit sich. So herrscht in Europa insbesondere im Niedriglohnsektor ein dramatischer Arbeitskräftemangel. Dadurch kommt es zu hohen Personalkosten für einfache Tätigkeiten. Mit den heutigen Automatisierungslösungen lässt sich dieses Problem nicht nur lösen, sondern auch in einen Mehrwert verwandeln.

4  Fallstricke und Möglichkeiten anhand von Praxisbeispielen …

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Bei der Implementierung einer Automatisierungslösung sind jedoch einige Faktoren zu berücksichtigen, denn die Rahmenbedingungen auf dem Markt haben sich in den letzten Jahren stark geändert. So hat einerseits ein starker Preisverfall bei Robotern und Automatisierungstechnik stattgefunden. Andererseits sind die langen Lieferketten nach Fernost zunehmend unzuverlässig, es kommt mitunter zu langen Wartzeiten und die Transportkosten sind in die Höhe geschnellt. Bei der Auswahl einer Automatisierungslösung ist also Sorgfalt geboten. Die Herausforderung besteht darin, die Produktion nachhaltig und effizient zu automatisieren und eine hohe Prozesssicherheit zu gewährleisten. Dafür braucht es hochwertige Lösungen in puncto IT und KI. Nur so gelingt das Insourcing der Produktion und damit einhergehend die Verkürzung der Supply Chain. Die Reaktionszeiten auf Produktionsänderungen verkürzen sich dramatisch. So kann ein Unternehmen flexibel auf sich ändernde Marktanforderungen reagieren und die Wertschöpfung im eigenen Wirtschaftsraum optimieren.

4.4 Fazit Ein Digitalisierungsprojekt umfasst die unterschiedlichsten Komponenten, die je nach Branche und Unternehmensgröße zu einem sinnvollen Ganzen zusammengesetzt werden müssen. Eine Digitalisierungsstrategie, die nicht zum Geschäftsmodell passt, wird daher ihren Nutzen verfehlen. Jegliche Digitalisierungsmaßnahme muss zunächst aus der Warte des Kunden, also im Sinne einer optimalen Customer Experience, gedacht werden. Das gilt für die Ausarbeitung und Umsetzung einer unternehmensweiten Digitalisierungsstrategie ebenso wie für den Einsatz einzelner Technologien wie IoT, Cloud, KI und 3-D-Druck oder die Auswahl eines ERPs. Jede noch so kleine Entscheidung muss als Teil des Ganzen und bis zu Ende gedacht werden, sonst verpuffen die jeweiligen Vorteile im Chaos von halbgaren Digitalisierungsmaßnahmen. Das bedeutet, dass die Bereitschaft bestehen muss, sämtliche Unternehmensstrukturen neu zu denken und in einem einheitlichen Konzept aufeinander abzustimmen. Eine neue Software hier, ein Webshop da sind lediglich Insellösungen, die hinter einem nachhaltigen Digitalisierungskonzept weit zurückbleiben. Was will der Kunde? Was ist für das Unternehmen wirtschaftlich? Wie sind die Lieferanten und Mitarbeiter einzubinden? Auf all diese Fragen muss eine Antwort gefunden werden, bevor man sich den einzelnen Maßnahmen des Konzepts nähert. Aufgrund dieser Größenordnung schrecken viele mittelständische Unternehmen davor zurück, das Projekt Digitalisierung anzugehen. Doch wer zu lange wartet, wird von der Konkurrenz schon bald abgehängt. Die gute Nachricht: Nicht alle Maßnahmen müssen sofort umgesetzt werden und nicht überall müssen Altbestände wie Maschinen und Fertigungsanlagen komplett ausgemustert werden. In vielen Bereichen gibt es heute eine Vielzahl kostengünstiger Einstiegsmöglichkeiten, die ein schrittweises Annähern und Umstellen auf die neue Technologie auch für KMU durchführbar machen.

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Dennoch erfordert die Entwicklung und Umsetzung eines unternehmensweiten Digitalisierungsprojekts den Blick auf das große Ganze, aber ebenso den Blick in die Tiefe, wenn es um die Ausgestaltung der einzelnen Prozessschritte geht, die perfekt aufeinander abzustimmen sind. Im Tagesgeschäft oft eine unlösbare Herausforderung. Daher kann es sich lohnen, für das Digitalisierungsprojekt einen externen Experten an Bord zu holen, der nicht nur die entsprechende Fachkompetenz und Erfahrung mitbringt, sondern der diese Themen zielgerichtet, strukturiert und zeitorientiert umsetzen und das Unternehmen zukunftsfähig und digital aufstellen kann. Matthias Koppe  ist gelernter Maschinenschlosser und Dipl.-Ingenieur im Maschinenbau mit den fachlichen Schwerpunkten Geschäftsführung, Logistik, Fertigung und Konstruktion. Als Interim Manager und Unternehmensberater begleitet er mittelständische Unternehmen und internationale Konzerne. Seine anspruchsvollen Auftraggeber kommen in der Regel aus dem Maschinenbau, der industriellen Fertigung, der Automobilindustrie, der Energiewirtschaft sowie den Bereichen Luftfahrt, Transport und Logistik. Nach weit mehr als einem Jahrzehnt Erfahrung in der IT, dem Qualitäts-, Lieferanten- und Projektmanagement sowie Leitungsfunktionen in der Konstruktion, der Fertigungssteuerung sowie in IT- und Management-Projekten übernimmt er heute vorzugsweise Mandate auf C-Level – vor allem in der Geschäftsführung mittelständischer Unternehmen oder in Konzernstrukturen. Matthias Koppe ist ein ganzheitlicher Stratege, der komplexe technologische Prozesse genauso optimiert und gestaltet wie menschliche Leistungspotenziale und Bedürfnisse. Diese Kombination und sein tiefes Wissen machen Matthias Koppe sowohl zu einem erfolgreichen Restrukturierer und Optimierer als auch zum wertschöpfenden, generationenübergreifenden Kulturwandler, der alle Beteiligten und alle Prozesse im Blick hat. https://koppe-interim.de/

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Wertschöpfung für Gewinner Über Plattformdenken und Wertschöpfungspartnerschaften zum Erfolg Eberhard Müller

Wer seinen Kunden verstanden hat und sein Wertschöpfungsnetzwerk zu managen weiß, ist ein Gewinner. Fazit

Eine durchgängige Kundenorientierung erfordert, dass alle Funktionen und Ländergesellschaften eines Unternehmens bzw. einer internationalen Unternehmensgruppe in abgestimmter und transparenter Weise verstanden haben, was dem Kunden Vorteile bringt und wie der Kundennutzen noch gesteigert werden kann. Alle müssen der gleichen Mission folgen und die gleiche Unternehmensstrategie selbstständig umsetzen. Die Steigerung des Kundennutzens mit Produkten bzw. Dienstleistungen geht einher mit Fragen, wie: Was mache ich selbst? Was kaufe ich von Wertschöpfungspartnern zu? Welche meiner Innovationen bzw. die meiner Wertschöpfungspartner können einen Mehrwert schaffen? Inwieweit kann Digitalisierung einen Beitrag leisten? Rechnet sich die Kundenlösung bzw. ist der Kunde bereit, von seinem Nutzen einen Teil abzugeben? Auf alle diese Fragen gilt es, Antworten zu finden, um das Unternehmen zukunftsfähig aufzustellen und langfristige Kundenbeziehungen aufzubauen. Zusätzliche Anforderungen an Klimaschutz, Menschenrechte und Governance erfordern außerdem, dass der Einkauf näher an den Wertschöpfungspartnern sein und mit diesen im ständigen Austausch stehen muss. Wer ein modernes produzierendes

E. Müller (*)  Dr. Müller Interim Management & Beratung, Darmstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Buchenau (Hrsg.), Chefsache Digitale Nachhaltigkeit, Chefsache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41159-6_5

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E. Müller

Unternehmen zukunftsfähig etablieren will, muss Randbedingungen und Zusammenhänge des globalen Marktes sowie Handlungsfelder für die zukünftige Ausrichtung erkennen. Nur so kann Nachhaltigkeit in die Praxis umgesetzt werden und das Unternehmen seine Wettbewerbsfähigkeit stärken.

5.1 Herausforderung Unternehmensumfeld Das Unternehmensumfeld der Zukunft wird immer herausfordernder und komplexer. Dies zeigt sich schon jetzt in diversen Problematiken, mit denen sich Unternehmen von heute bereits konfrontiert sehen. Auf all diese Herausforderungen muss eine moderne Unternehmensführung Antworten haben, wenn sie am Markt langfristig vorne mitspielen möchte. Und sie muss verstehen, dass sich die heutigen Antworten morgen der jeweiligen Situation angepasst ändern können.

5.1.1 Die VUCA-Welt Die Herausforderungen der modernen, vom digitalen Wandel geprägten Welt, in der sich Unternehmen bewegen, werden im VUCA-Modell als „Volatility“ (Volatilität), „Uncertainty“ (Unsicherheit), „Complexity“ (Komplexität) und „Ambiguity“ (Mehrdeutigkeit) zusammengefasst. Das Modell beschreibt die veränderten Rahmenbedingungen und Herausforderungen, innerhalb derer Führungskräfte und Unternehmen durch die Digitalisierung agieren und die erfordern, Strategien und Konzepte zu entwickeln, um sich in der schwer greifbaren VUCA-Umwelt zu behaupten. Die Antwort auf die Herausforderungen von VUCA lautet wiederum VUCA. In diesem Fall: „Vision“ (Vision), „Understanding“ (Verstehen), „Clarity“ (Klarheit) und „Agility“ (Agilität). Zusammengefasst ist damit die Loslösung von alten Strukturen gemeint. Das spiegelt sich zuerst im Führungsstil wider: weg von überholten Hierarchiestrukturen und aufwendigen Entscheidungswegen, hin zu flexiblen und selbstständigen Teams, die schnell agieren können. Für die Unternehmensführung gilt es, althergebrachte Standards neu zu überdenken und immer wieder neue individuelle Lösungen zu erarbeiten (Gabler Wirtschaftslexikon VUCA 2021).

5.1.2 ESG (Environmental – Social – Governance) Zudem sind Unternehmen heute gefordert, im Sinne von ESG (Umwelt-, Sozial- und Unternehmensführung) nachhaltig und sozial zu agieren. Rein marktwirtschaftliches Handeln führt dazu, dass Unternehmen betriebswirtschaftlich zwar erfolgreich sind, jedoch Umwelt und gesellschaftliche Werte nicht genügend berücksichtigt werden. Damit sind zusätzliche Kosten verbunden, die das Unternehmensergebnis schmälern. Solange es keine verbindlichen Anforderungen für alle Akteure gibt, wird der Wettbewerb bei

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gleicher Produktfunktionalität und gleichem Marktpreis verzerrt: Das Unternehmen, dem ESG wichtig ist und das über die geltenden Vorschriften hinaus darin investiert, wird zu höheren Kosten produzieren und weniger Gewinn erwirtschaften. Doch je mehr zahlungskräftige Kunden es gibt, die aus Überzeugung mehr Geld für Produkte mit höherem ESG-Standard ausgeben, umso mehr etabliert sich ein neuer Markt, auf dem Unternehmen mit höheren ESG-Standards über höhere Preise auch mehr verdienen können. Ein Prozess, der sich anschaulich an BIO-Produkten nachverfolgen lässt. Noch sind BIO-Produkte zwar in der Minderheit, doch nimmt das Segment stark zu, sodass etablierte Handelsketten wie REWE, ALDI & Co. diese Entwicklung aufgreifen und ihr Sortiment zunehmend auf BIO umstellen. Diese positive Entwicklung wurde durch die zur Zeit hohe Inflation gebremst, wird sich aber aller Vorraussicht nach bei geringerer Inflation und höherer Kaufkraft wiederbeleben. Neben nachhaltigen Produkten und umweltbewusstem Handeln spielt auch die soziale Komponente eine immer größere Rolle. So sehen sich Unternehmen in puncto Sozialverantwortung mit Themen wie Chancengleichheit, Menschenrechte, Corporate Social Responsibility u. v. m. konfrontiert, die es ebenfalls zu berücksichtigen gilt. Um höhere ESG-Standards schneller umzusetzen, braucht es in einer weltweit vernetzten Ökonomie einheitliche Standards, die verbindlich per Gesetz umzusetzen sind. Damit haben alle die gleichen Rahmenbedingungen, und die Wettbewerbsfähigkeit drückt sich in einer intelligenten, schnellen und kostenoptimalen Umsetzung aus. Die EU hat hier eine Vorreiterrolle.

5.2 Klimaschutz Der Klimaschutz ist spätestens seit der Pariser UN-Klimakonferenz (2015), dem EU Green Deal (2019) und der UN-Klimawandel-Konferenz in Glasgow (2021) ein wichtiger Erfolgsfaktor geworden. Um die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu beschränken, sind umfangreiche Investitionen und Maßnahmen nötig (EU Green Deal Communications 2019). Die EU soll zu einer fairen und wohlhabenden Gesellschaft mit einer modernen, ressourcen-effizienten und wettbewerbsfähigen Ökonomie transformiert werden. Das bedeutet, dass wirtschaftliches Wachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppelt wird. Zur Umsetzung des „EU Green Deals“ werden alle politischen Hebel genutzt: Regulierung und Standardisierung, Investitionen und Innovationen, nationale Reformen, Dialog mit Sozialpartnern und internationale Kooperation. So sollen Treibhausgase nun bis 2030 um mindestens 50 bzw. 55 % gegenüber 1990 reduziert werden. Ein Emissionshandels-System mit hohen CO2-Preisen und die Erweiterung der CO2-Bepreisung auf andere Sektoren sollen dazu beitragen. Falls andere Regionen und Staaten sich weniger anstrengen, die Treibhausgase zu reduzieren, und deren Industrie deutlich weniger Kosten für Treibhausgas-Emissionen hat, so entsteht für europäische Standorte ein Wettbewerbsnachteil. Werden die Waren von „Low Carbon Cost Countries“ in die EU importiert, so haben diese CO2 zu geringeren K ­ osten

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„im Rucksack“, wohingegen die europäischen Produzenten in klimaneutrale Prozesse investieren müssen und ggf. für restliche Treibhausgas-Emissionen hohe CO2-Aufschläge zahlen. Dieser Kostennachteil muss zur Sicherstellung des fairen Wettbewerbs an der Grenze über Abgaben ausgeglichen werden. Wenn alle Staaten gleichermaßen ihre Anstrengungen und die Kosten für Treibhausgas-Emissionen hoch halten, dann sind Klimaneutralität und Wettbewerbsfähigkeit in Einklang. Da über 75 % aller Treibhausgas-Emissionen mit der Produktion und der Nutzung von Energie über alle Wirtschaftssektoren entstehen, ist die Energieeffizienz zu priorisieren. Regenerative Energien müssen ausgebaut und die Nutzung von Kohle und anderen fossilen Energieträgern reduziert werden. Dabei soll die Energie aber noch bezahlbar bleiben. Ein weiterer Beitrag ist die Nutzung der Kreislaufwirtschaft und der Ausbau des Recyclings. Alle energieintensiven Branchen in Europa sollen seitens der EU durch strategische Programme bei ihrer Transformation unterstützt werden. Durch eine Taxonomie und daraus abgeleitete Regularien soll erreicht werden, dass vermehrt und bevorzugt Kapital in Technologien investiert wird, die zur Erreichung der Ziele beitragen. Hierzu zählt die Finanzierung von Herstellern und Betreibern von Wind-, Solar- und Wasserstoffanlagen sowie von Transformationsprojekten zur Dekarbonisierung in CO2-emittierenden Branchen (z. B. Stahl-, Zement-, Automobil-, Bauindustrie, Transport etc.). Die Regularien führen dazu, dass zunehmend Kapitalströme in zukunftsfähige Branchen und Unternehmen fließen und „schmutzige“ Produktion nicht mehr unterstützt wird. Dabei stehen alle Akteure unter Beobachtung der weltweiten Börsen und der Öffentlichkeit bzw. Presse. Wer keinen Beitrag zum Klimaschutz leistet, wird abgestraft. Die EU geht von einem konservativ geschätzten Investitionsvolumen von 260 Mrd. Euro zur Erreichung der Zwischenziele bis 2030 aus, was 1,5 % des GDPs entspricht.

5.3 Kreislaufwirtschaft Die Kreislaufwirtschaft ist ein Modell der Produktion und des Verbrauchs, bei dem bestehende Materialien und Produkte so lange wie möglich geteilt, geleast, wiederverwendet, repariert, aufgearbeitet und recycelt werden. Auf diese Weise wird der Lebenszyklus der Produkte drastisch verlängert und Abfälle auf ein Minimum reduziert. Nachdem ein Produkt das Ende seiner Lebensdauer erreicht hat, verbleiben die Ressourcen und Materialien so weit wie möglich in der Wirtschaft. Sie werden also immer wieder produktiv weiterverwendet, um weiterhin Wertschöpfung zu generieren. Die Kreislaufwirtschaft steht im Gegensatz zum traditionellen, linearen Wirtschaftsmodell (Wegwerfwirtschaft). Dieses Modell setzt auf große Mengen billiger, leicht zugänglicher Materialien und Energie. „Geplante Obsoleszenz“ ist ein weiteres Merkmal, dem der Kampf angesagt wurde: Das Europäische Parlament fordert Maßnahmen dagegen, dass Geräte vorzeitig kaputtgehen. In Abb. 5.1 ist dieser Ansatz aus logistischer Sicht dargestellt. Im Falle von Recycling II werden die demontierten Komponenten im Reststofflager gesammelt und können

5  Wertschöpfung für Gewinner

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Prinzip der Nachhaltigkeit bei Gestaltung von Produktions- und Logistiksystemen Produktion/ Reparatur Distributionslager

Verbraucher

Rohstofflager Sammlung Altgeräte

Entsorgung

?

?

Aufbereitung

Verfahren noch unbekannt

Sortierung/ Demontage Geringe

Reststofflager

Thermische Verwertung

Reststoffmengen

Deponie

Abb. 5.1   Kreislaufwirtschaft

dann mit einem noch zu entwickelnden Verfahren wieder in einzelne Rohstoffe zerlegt und wiederverwendet werden. Das gilt insbesondere für vermengte Rohstoffe, die heute nur schwer zu trennen sind. In ein paar Jahren ist möglicherweise bereits die notwendige Technologie verfügbar, um sie der Kreislaufwirtschaft erneut zuzuführen. Würde beispielsweise ein Verfahren entwickelt, um die radioaktive Strahlung von Atommüll um mehrere Zehnerpotenzen zu verkürzen: Die Gefahr für die Menschheit wäre dramatisch reduziert. Dies setzt jedoch voraus, dass eine Endlagerstätte den Zugriff auf jede einzelne Atommüll-Charge erlaubt, z. B. durch ein Kammersystem. Solche Systeme sind in Finnland und Frankreich bereits in der Planung. Wenn Fässer mit radioaktivem Inhalt einfach in Salzstöcken vergraben werden, ist ein späterer Einzelzugriff auf Chargen nur schwer durchführbar bis unmöglich.

5.4 Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) Im Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte (NAP) ist die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht aller Unternehmen entlang globaler Liefer- und Wertschöpfungsketten in einem festen Rahmen verankert. Mit dem 2021 verabschiedeten Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) wird zudem die Verantwortung deutscher Großunternehmen für die Achtung von Menschenrechten in globalen Lieferketten erstmals verbindlich geregelt. Das Gesetz soll der Verbesserung der internationalen Menschenrechtslage dienen, indem es Anforderungen an ein verantwortungsvolles Management von Lieferketten festlegt. Unternehmen sind somit verpflichtet, in ihren Lieferketten menschenrechtliche und bestimmte umweltbezogene Sorgfaltspflichten in angemessener Weise zu beachten. Die

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zu erfüllenden Pflichten sind nach den tatsächlichen Einflussmöglichkeiten abgestuft, je nachdem, ob es sich um den eigenen Geschäftsbereich, einen direkten Vertragspartner oder einen mittelbareren Zulieferer handelt. Das Gesetz trat am 1. Januar 2023 für in Deutschland ansässige Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten in Kraft; ab 1. Januar 2024 gilt es für Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten. Der Katalog umfasst folgende Sorgfaltspflichten: • Einrichtung eines Risikomanagements und Durchführung einer Risikoanalyse • Verabschiedung einer Grundsatzerklärung der unternehmerischen Menschenrechtsstrategie • Verankerung von Präventionsmaßnahmen • Sofortige Ergreifung von Abhilfemaßnahmen bei festgestellten Rechtsverstößen • Einrichtung eines Beschwerdeverfahrens • Dokumentations- und Berichtspflicht für die Erfüllung der Sorgfaltspflichten

5.5 Entwicklung und Wertschöpfung im VUCA- & ESG-Umfeld Die Komplexität der Umgebung und die Schnelligkeit der Änderungen mit VUCA & ESG erfordern von jedem Unternehmen, sich intensiver mit den Kunden, dem Markt, der Gesellschaft, den staatlichen Rahmenbedingungen, aber auch mit sich selbst auseinanderzusetzen. Wie bereits erläutert, sind dabei Verantwortung für die Gesellschaft und Umwelt im Sinne von Nachhaltigkeit ein „Muss“. Dies führt dazu, dass Produkt-, Service- und Software-Ideen zu Ende gedacht werden müssen und auch Klimaschutz sowie Kreislaufwirtschaft bereits in der Produktentwicklung vorauszudenken sind. Etwa, was passiert, wenn das Produkt entsorgt werden soll, wie es der Kreislaufwirtschaft erneut zuzuführen ist usw. Es gilt, die Prozesskette zu Ende zu denken. Kommunikation und Echtzeit-Informationsflüsse sind zunehmend wichtiger im Unternehmen. Stimmen diese nicht, so kommt es zu internen Abstimmungsproblemen zwischen unterschiedlichen Funktionen im Unternehmen, sodass die Kundenbedürfnisse verloren gehen und Geschäftsprozesse ineffizient, langsam und teuer ablaufen. So manches Unternehmen, das durch M&A gewachsen ist und sich bei guten Geschäftszahlen trotz geplanter Synergien davor gescheut hat, diese effizient zu integrieren, zahlt dafür im Nachgang einen sehr viel höheren Preis. So müssen oft redundante IT-Strukturen, Funktionen und Ländergesellschaften aufwendig koordiniert werden. Oder man lebt mit den offensichtlichen Synergieverlusten, den damit verbundenen höheren Kosten und der geringeren Geschwindigkeit. All das wird der Kunde spüren und negativ bewerten, was wiederum zu verminderter Wettbewerbsfähigkeit führt. Besser ist es, eine Mission und eine Strategie für das Unternehmen zu finden, die auf lange Sicht Vorteile bringen und regelmäßig überprüft werden. Diese müssen von allen Beteiligten im Unternehmen akzeptiert und getragen werden. Das ist die Basis für eine erfolgreiche Post-Merger-Integration, um im Sinne von „Lean“ die Unternehmenssituation und Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Auf taktischer Ebene ist es dann an

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allen Beteiligten, nach „Meta-Stabilität“ – also nach Zielen und Maßnahmen – zu suchen, die zumindest einige Monate gelten und das Fernziel trotz aller Hindernisse ermöglichen. Dabei gilt es, immer agil zu bleiben und auf Änderungen der Rahmenbedingungen adäquat zu reagieren. Kundenfokussierung und Kundenbindung sind die entscheidenden Erfolgsparameter im weltweiten ökosozialen VUCA-Umfeld. Professionelles Risikomanagement über mehrere Wertschöpfungsstufen hinweg und die Einhaltung der Governance-Regeln sind dabei Pflicht und setzen eine hohe Transparenz im Wertschöpfungsnetzwerk voraus. Das beinhaltet: Realtime-Informationen über Störungen von Lieferungen und Leistungen, Rückverfolgbarkeit bei Qualitätsmängeln, Insolvenzgefahr von Wertschöpfungspartnern und Kunden, die Einhaltung von Zollregularien, Sanktionslisten und ESG-Regeln wie das Verbot von Kinderarbeit und Umweltverschmutzung, Information über das Management von Wertschöpfungspartnern und Kunden, umweltrelevante Störfälle und zunehmend CO2-Fußabdruck im Sinne von „Klimaneutralität“. Um hier von vorneherein wettbewerbsfähig zu sein, ist ein „Collaborative Management“-Ansatz für die Produktentwicklung und die Gestaltung der Wertschöpfung hilfreich. Das heißt, alle Funktionen und Ländergesellschaften eines Unternehmens, Pilotkunden und strategische Lieferanten als Wertschöpfungspartner sind in die Konzepterstellung, Entscheidungen und Freigabe von Gates einzubeziehen. Für eine Freigabe von Gates durch Entscheidungsträger aller Beteiligten wird die jeweilige Situation hinsichtlich vieler Kriterien beleuchtet und der Business Case dadurch multidimensional aufgewertet. Die Kriterien können dabei aus den folgenden Bereichen kommen: • Wertbeitrag für den Kunden: Welchen Vorteil hat der Kunde vom Produkt bzw. Service? (Der Wertbeitrag ist möglichst konkret zu benennen. Ebenso, welchen Anteil der Kunde bereit ist, mit den Leistungserbringern zu teilen.) • Markt und konkurrierende Technologien • Wirtschaftlicher Erfolg • Resilienz in der VUCA-Welt • Risks und Risk Mitigations • ESG und Nachhaltigkeit – Klimaschutz – Kreislaufwirtschaft – Vereinbarkeit mit sozialen und ökologischen Normen weltweit – Gesellschaftliche Akzeptanz • Unternehmenskultur und Geschäftsmodell Es ist ratsam, einen solchen Entwicklungsprozess für jedes Unternehmen zu präzisieren und für jedes Produkt, jede Dienstleistung oder Software als Life-Cycle-Begleitung für alle in der jeweiligen Unternehmensgruppe verbindlich vorzuschreiben. Dabei sollte die richtige Balance zwischen Detaillierungsgrad und Schnelligkeit gefunden werden. Eine eingebaute schnelle Lernkurve und zeitnahe Business-Entscheidungen können hier

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z­ ielführend sein und teure Fehler vermeiden helfen. Dies funktioniert, wenn unter den Beteiligten ein offenes und vertrauensvolles Miteinander herrscht und niemand Angst haben muss, bei schlechten Nachrichten oder Ergebnissen bestraft zu werden. Besser Probleme früh erkennen und sofort reagieren, als diese nach dem Prinzip Hoffnung oder aus Angst weiter eskalieren zu lassen. Ein modernes, teamorientiertes, agiles Projektmanagement – auch unter Nutzung von SCRUM – kann wertvolle Beiträge leisten und den administrativen Aufwand minimieren. In der nachfolgenden Abbildung sind die Zusammenhänge zwischen dem Produktentwicklungsprozess, der Gestaltung der Wertschöpfung und dem Product-Life-Cycle (PLC)-Prozess wiedergegeben. Dieser nachhaltige Produktentwicklungsprozess dauert zwar möglicherweise anfänglich durch die intensive Kommunikation etwas länger, dafür kann die Umsetzung schneller erfolgen, da in dieser Phase weniger Widerstände auftreten und die Ergebnisse eine hohe Qualität haben (Abb. 5.2). Bei jedem Gate kann es vorkommen, dass man einen oder mehrere Schritte zurückgehen muss, weil neue Aspekte aufgetaucht sind, um dann erneut dem Prozess zu folgen. Falls die Produkt-, Service- oder Software-Idee nicht zum Unternehmen passen sollte und kein neues Geschäftsfeld aufgebaut werden soll, kann es auch eine Option sein, die Geschäftsidee an ein anderes Unternehmen bzw. mittels Investoren teilweise oder ganz zu verkaufen, sodass die ersten Arbeiten refinanziert sind und sich das Engagement lohnt.

5.6 Die Arbeitsschritte zum Aufbau einer nachhaltigen erfolgreichen Wertschöpfungskette 5.6.1 Schritt 1: Kundenorientierung – Wertbeitrag und Wertschöpfung Zunächst ist der Wertbeitrag zu identifizieren, nämlich: Was ist mein Wertbeitrag für meinen direkten Kunden? Wie kann ich mit meinem Beitrag (Lieferungen, Dienstleistungen oder Software) seine Wettbewerbsfähigkeit erhöhen? Können dadurch Kosten gesenkt, Qualität bzw. Geschwindigkeit erhöht, Zeit gespart, Governance-Konformität unterstützt werden? Kann ich Beiträge und Innovationen liefern, die dem Kunden des Kunden Vorteile bringen, sodass mein direkter Kunde neue Fähigkeiten und Leistungen anbieten kann? Den eigenen Kunden zu stärken, führt in der Regel zu einer langfristigen Zusammenarbeit, bei der das eigene Unternehmen als Lieferant agiert. Dieser Gedanke lässt sich auch noch auf den Kunden des Kunden des Kunden usw., also die Wertschöpfungskette hinauf, anwenden. Dadurch können wertschöpfungskettenübergreifende Partnerschaften entstehen, die langfristig stabil sind und große Vorteile für alle beteiligten Parteien bieten. Im Folgenden werden die zu definierenden Prozessschritte am Beispiel des direkten Kunden erläutert:

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Nachhaltige Produktentwicklung und Wertschöpfung im VUCA- und ESG- Umfeld Schritt

Check - Gates

1

Kunde verstehen - Wertschöpfung (eigene + Partner) definieren Sich selbst verstehen: Wie sieht mein Geschäftsmodell aus? Produktidee und erwarteter Nutzen:Was biete ich meinem Kunden an? Check Umsetzbarkeit, Technologie, Partner & Risiken Business Case 1.0 mit ersten Abschätzungen

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Detailcheck Markt, Technologien, Partner, Risiken und Nachhaltigkeit - auch mit Einbindung von Pilotkunden und Strategischen Lieferanten (Wertschöpfungspartner) Wie verkaufe ich? Klassisch oder mit Finanzierungspartnern? Welche sind die erfolgskritischen Faktoren? Welche Risiken können auftreten und was kann ich dagegen tun? Wie schaffe ich Resilienz im VUCA- Umfeld ? Wie gestalte ich meinen Vertrieb i.S. von Kundenmanagement? Wie generiere ich ein starkes und nachhaltiges Kundenerlebnis? Business Case 2.0 - verifiziert Freigabe Entwicklung Freigabe Prototypbau und Test Freigabe Vorserie für Pilotkunden Freigabe Produkteinführung und Serienproduktion sowie Aufbau/Sicherstellung Services für Lifetime und Kreislaufwirtschaft Wachstumsphase Reife Sättigung Ggf. Produkt- Update/Relaunch Degeneration Einstellung Produktion Management der installierten Basis - Ersatzteile, Wartung, Instandhaltung, Verkauf Alternativlösungen Demontage, Recycling, Entsorgung

Gate PLC-Phase Iterationen 1

Business Opportunity

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3

4

5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Business Opportunity verifiziert

Entwicklung

Markteintritt Wachstum Reife Sättigung Degeneration

Marktaustritt

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Abb. 5.2   Produkt-Life-Cycle

a) Bereitschaft des Kunden, sich an einen Lieferanten zu binden: „Yellow Page“ (weniger als 1 Jahr), Rahmenvertrag (1 bis 5 Jahre), Systempartnerschaft (~5 Jahre), Entwicklungspartnerschaft (5 bis 10 Jahre) oder „Lifetime-Partnerschaft“ (über 10 Jahre) Je länger die Zusammenarbeit angelegt ist, desto mehr kann in die Kooperation investiert werden und desto höher können der Wertbeitrag für und der Umsatz des Kunden (und des eigenen Unternehmens) ausfallen. b) Bereitschaft des Kunden, Kapital einzusetzen: Wie will der Kunde für die erbrachte Leistung bezahlen? i. Als klassischer Lieferant: Kunde bezahlt pro Lieferung bzw. Dienstleistung. Bei Anlagen: Investiert der Kunde selbst? Die Wartung, Instandhaltung sowie Reparatur der Anlage werden dabei oft vom Kunden und dem Lieferanten in Abstimmung durchgeführt.

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ii. Als Leasinggeber mit Vereinbarungen zu Wartung, Instandhaltung und Reparatur iii. Als „Lifetime-Partner“ im Falle von Anlagen: Entgelt für Miete, vorbeugende Wartung und Instandhaltung von Anlagen ggf. mit Reparaturen. Das heißt, die Anlage bleibt im Besitz des Lieferanten bzw. dessen Finanzierungspartners. Das Entgelt kann dabei als monatliche Zahlung mit definierter Anlagenverfügbarkeit vereinbart werden oder z. B. als Nutzungsgebühr je produzierter Einheit bzw. je Nutzungsstunde im Sinne von „pay per use“. Im letzteren Fall wird es aus wirtschaftlichen Gründen eine „Mindestnutzung“ geben. c) Chancen-/Risikoanalyse des Geschäftes mit dem Kunden: Als Lieferant ist es erforderlich, den Kunden hinsichtlich der potenziell auftretenden Risiken des Geschäftes mit einer Abschätzung der möglichen Risiko-Auswirkung sowie der Risiko-Eintrittswahrscheinlichkeit zu analysieren. Hierbei müssen für jedes Risiko geeignete Gegenmaßnahmen (Risk Mitigations) definiert werden, sodass große Schäden vermieden werden bzw. diese bei Eintreten beherrschbar bleiben und das eigene Unternehmen dadurch nicht in seiner Existenz gefährdet wird. d) Vertragsgestaltung mit dem Kunden: Hier eröffnet sich ein weites Feld: vom einfachen Kaufvertrag über Dienstleistungs-, Leasing- bis hin zu Werkverträgen und Lifetime-Partnerverträgen mit umfangreichen zugesicherten Leistungen, die bei Nichteinhaltung auch größere Schadenersatzzahlungen auslösen können. Ebenso können bei einem Lifetime-Partnervertrag aber auch Bonuszahlungen vereinbart werden, wenn der Kundennutzen besonders hoch ausfällt, weil etwa die Verfügbarkeit der Anlage sehr hoch ist und der Kunde keine Stillstände hat, sodass er mehr produzieren kann. In dieser Konstellation können sich Updates auf Komponenten und Software für den Lifetime-Partner lohnen, sowohl wirtschaftlich als auch zur Steigerung der Kundenzufriedenheit.

5.6.2 Schritt 2: Selbstverständnis – das eigene Geschäftsmodell Nachdem die Kundensituation und der Wertbeitrag für den Kunden geklärt sind, ist es ratsam, das eigene Unternehmen und Geschäftsmodell zu hinterfragen, um sich mit neuen „Business Opportunities“ auch strategisch weiterzuentwickeln. Im Folgenden werden dazu zwei Ansätze für die strategische Positionierung und das Geschäftsmodell vorgestellt, die auch kombiniert werden können: das Delta-Modell und die Plattformökonomie bzw. Ökosysteme. Beide Ansätze haben das Ziel, die Kundenfokussierung und -bindung deutlich zu erhöhen und einen gesteigerten Mehrwert für den Kunden zu generieren – auch über die eigenen Fähigkeiten hinaus, wenn Wertschöpfungspartner mit eingebunden werden.

5.6.2.1 Das Delta-Modell Das Delta-Modell ist eines der einflussreichsten Modelle zur Gestaltung strategischer Wettbewerbspositionierungen mit Kundenfokus. Es dient als fundamentales Tool der Wettbewerbsanalyse und lässt sich auch auf die Anforderungen übertragen, vor denen

5  Wertschöpfung für Gewinner

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Abb. 5.3   Delta-Modell

Unternehmen im Zuge der Digitalisierung stehen. Die Grundpfeiler des Modells bilden sog. Komplementoren und Koopkurrenz-Beziehungen. Komplementoren bezeichnen jene Geschäftspartner, die die Produkte eines Unternehmens im Wettbewerb erweitern oder ergänzen. Koopkurrenz bedeutet die Gleichzeitigkeit von Kooperation und Konkurrenz, der sich viele Unternehmen ausgesetzt sehen. Auf dieser Grundlage formuliert das Delta-Modell drei Wettbewerbsstrategien (Abb. 5.3). • produktorientierte Strategien (Best Product) • kundenlösungsorientierte Strategien (Total Customer Solutions) • systemorientierte Strategien (System Lock-in) Bei den produktorientierten Strategien (Best Product) handelt es sich um klassische Wettbewerbsstrategien. Die Produkte sind entweder durch eine Kostenführerschaftsoder eine Differenzierungsstrategie gekennzeichnet. Dabei hilft die Technologieführerschaft, die Kosten zu senken und den zeitlichen Vorsprung vor dem Wettbewerb zu sichern.

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Bei den Kundenlösungsstrategien (Total Customer Solutions) verschiebt sich der Fokus vom Produkt auf den Kunden. Die Positionierung im Wettbewerb erfolgt über eine Kombination von Produkt und Dienstleistung – ggf. auch mit weiteren Wertschöpfungspartnern, um die Kundenbedürfnisse optimiert zu befriedigen. Ziele sind die direktere Integration in die Wertschöpfungskette der Kunden und eine starke Kundenbindung (Customer Bonding). Diese aufzubauen und dauerhaft aufrechtzuerhalten, stellt für Unternehmen im digitalen Zeitalter eine besondere Herausforderung dar. Schließlich ist die Konkurrenz immer nur einen Klick entfernt. Wie jede Beziehung erfordert auch die eines Betriebs zu seinen Kunden Arbeit, insbesondere seitens des Vertriebs. Wer hier nicht investiert, wird kaum über eine kurze Bekanntschaft hinauskommen. Um nachhaltiges Vertrauen zu schaffen, ist es wichtig, nicht nur darauf zu hören, was die Kunden wünschen, sondern proaktiv neue Potenziale für einen höheren Kundennutzen aufzuzeigen, um für die Kunden bessere Ergebnisse und größeren Erfolg zu erzielen. Dadurch wird der Kunde emotional an die eigene Marke gebunden und es werden immer neue Produkte bzw. Dienstleistungen verkauft. Firmen, die Maßnahmen zur Verlagerung ihres Produktangebots hin zu Produktsystemen umsetzen, verfolgen hingegen eine systemorientierte Wettbewerbsstrategie (System Lock-in). Darunter versteht man eine Art Abhängigkeitsverhältnis vom Kunden zum Anbieter. Dieser Anbindeeffekt entsteht dadurch, dass ein Wechsel des Kunden zu einem anderen Anbieter aufgrund hoher Wechselkosten unwirtschaftlich ist. Ein Wechsel macht also nur dann Sinn, wenn der neu entstandene Nutzen größer, mindestens aber gleich groß wäre wie die Kosten des Wechsels. Für einen Anbieter ist der Lock-in grundsätzlich positiv, während der Kunde ihn durchaus als negativ empfinden kann – vor allem, wenn er mit dem aktuellen Produkt oder Dienst nicht zufrieden ist. Unternehmen, die sich von „Best Product“ über „Total Customer Solutions“ zu „System Lock-in“ entwickeln, werden mit zunehmender Profitabilität belohnt, sodass sich die neuen Fähigkeiten, die zusätzlichen Wertschöpfungspartner und die Intensivierung des Kundenkontaktes auszahlen.

5.6.2.2 Plattformökonomie und Ökosysteme Ein weiterer wichtiger Aspekt für die strategische Positionierung betrifft die Nutzung der Plattformökonomie. Viele der heute erfolgreichsten Unternehmen arbeiten auf Basis des Plattformgeschäftsmodells – z. B. Microsoft oder Amazon. Als Vorreiter der Plattformökonomie gelten Google und Apple. Apple hat mit seinem ersten iPhone eine Plattform geschaffen, auf der das eigene Produkt mit App-Entwicklern und Kunden verbunden wurde. So erhielten die App-Entwickler im B2C-Geschäft direkten Zugang zu den Smartphone-Besitzern, ihren potenziellen Kunden. Davon profitierten sowohl die AppEntwickler und Plattformbetreiber als auch die Kunden. Auf der Plattform werden also die Plattform-Besitzer mit anderen Anbietern bzw. Wertschöpfungspartner und den Kunden direkt zusammengebracht. Die operative Umsetzung der Wertschöpfungskette wird gemeinsam vorangetrieben und so neue Marktstandards gesetzt. Inzwischen sorgen Plattformen dafür, dass sich zunehmend auch

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­ eitere ökonomische und soziale Bereiche zu wandeln beginnen – wie z. B. der Stahlw handel (B2B), das Gesundheits- und Bildungssystem, die Energieversorgung sowie öffentliche Institutionen. Der höchste Kundennutzen und damit die größte Profitabilität in Verbindung mit Nachhaltigkeit lässt sich in der Kombination von „System Lock-in“ und Plattform-Ökosystem erreichen. Dies setzt jedoch hohe systemische Kompetenz und Kooperationsfähigkeit im Sinne von Collaborative Management voraus. Alle beteiligten Akteure müssen funktions- und länderübergreifend auf Augenhöhe zusammenarbeiten, um den größtmöglichen Kundennutzen zu gewährleisten. Alle profitieren gleichermaßen von der Kooperation, sind aber ebenso verpflichtet, ihren Beitrag, z. B. zur ESG-Governance, zu leisten.

5.6.3 Schritt 3: Produktidee und erwarteter Kundennutzen Ausgehend vom Verständnis der Kundensituation und der eigenen strategischen Positionierung, wird anschließend die Wertschöpfung für den Kunden definiert. Dabei kann die Wertschöpfung auch durch mögliche Beiträge von Partnerfirmen ganz oder teilweise erbracht werden. Das Angebot an den Kunden kann folgendes Portfolio umfassen: • Produkte, Ersatzteile, Software • Anlagen • Dienstleistungen • Systempartnerschaft • Entwicklungspartnerschaft • Lifetime-Partnerschaft • Recycling Die Entwicklungspartnerschaft und die anschließende Lifetime-Partnerschaft inklusive Recycling sind dabei äußerst profitable und erstrebenswerte Ziele, setzen jedoch umfangreiche Fähigkeiten und Kompetenzen voraus. Zudem gilt es, genau zu definieren, was die eigene Wertschöpfung sein sollte und was über Wertschöpfungspartner zugekauft werden kann. Viele Unternehmen behaupten zwar von sich, kundenorientiert aufgestellt zu sein, sind aber de facto nicht über den reinen Produktverkauf hinausgekommen. Kundennähe und -verständnis erfordern eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der Kunden, aus denen dann mögliche zusätzliche Wertbeiträge abgeleitet werden können. Zum Beispiel die Fragen: Spart der Kunde durch das Produkt Energie oder Personal? Reduziert sich der Wartungsaufwand durch längere Laufzeiten? Wann erzielt der Kunde einen ROI, in 2 oder in 20 Jahren? Nur wer bereit ist, sich auf dieser Ebene mit den Kundenbedürfnissen auseinanderzusetzen, ist auch bereit für eine Lifetime-Partnerschaft.

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5.6.4 Schritt 4: Verkaufsmodell und Finanzierung Ist das Produkt bzw. das Geschäftsmodell entwickelt, stellt sich die Frage nach Investition und Verkaufsmodellen. Soll klassisch oder auf lange Sicht im Sinne von Software-as-a-Service (SaaS) verkauft werden? Müssen Finanzierungspartner eingebunden werden? So brauchen auch internationale Kunden, die eine moderne Maschine oder Anlage kaufen wollen, möglicherweise eine Finanzierung. Dominieren hier die internen Prioritäten, beispielsweise in der Produktentwicklung, verzögern sich vorteilhafte Investitionen womöglich. Für Kunde und Lieferant gleichermaßen frustrierend. Um aus der Blockade herauszukommen und für beide Seiten das Risiko zu minimieren, bieten Maschinen- und Anlagenhersteller mit eigener Banklizenz inzwischen an, die Investition zu finanzieren. Sogar nutzungsabhängige „pay per use“-Lösungen sind im Maschinenbau bereits möglich. Ein Lieferant, der solche Lösungen anbietet, hat die Situation seines Kunden verstanden. Über Finanzierungspartner können dem Kunden maßgeschneiderte Finanzierungslösungen angeboten werden. Das trägt maßgeblich zur Kundenbindung bei und gibt dem Maschinen- und Anlagenhersteller zudem die Möglichkeit, regelmäßige Umsätze durch Finanzierungs- und Wartungsdienstleistungen zu erzielen. Gemäß dem Delta-Modell findet hierbei die Weiterentwicklung von „Customer Solutions“ in Richtung „System Lock-in“ statt. Die Vertragsgestaltung zwischen Kunde und Maschinenund Anlagenlieferant ist dabei von elementarer Bedeutung und muss für einen akzeptablen Risiko- und Interessenausgleich sorgen. Darüber hinaus bringt diese Lösung auch hinsichtlich der Kreislaufwirtschaft Vorteile: Denn nach der vereinbarten Nutzungszeit kann der Maschinen- und Anlagenhersteller die Anlage beim Kunden abbauen, sie aufarbeiten bzw. reparieren und bei einem anderen Kunden erneut einsetzen. Beispiele für mittelständische Global Player, die dieses Konzept verstanden und zum Vorteil ihrer Kunden und der eigenen Firma effizient umgesetzt haben, sind die Firma TRUMPF in Ditzingen und die Firma Gebr. Heller in Nürtingen (Trumpf 2022), (Markt und Mittelstand 2020), (Heller4use 2022).

5.7 Erfolgskritische Faktoren Neben der flexiblen Positionierung und Produktentwicklung anhand genau analysierter Kundenbedürfnisse müssen Unternehmen lernen, Risiken schnellstmöglich zu erkennen, zu vermeiden bzw. zu beherrschen. Schnelligkeit ist ebenso in der Umsetzung der Kundenwünsche gefragt, also kurze Lieferzeiten bei hoher Qualität. Dabei muss die Gesamtperformance besser als der Wettbewerb sein – nicht nur das Produkt oder der Service selbst. Hier ist der Einsatz von Schlüsseltechnologien ein Muss. Wettbewerbsfähige Herstellungskosten zur Bedienung der Kundenwünsche lassen sich z. B. durch den Einsatz standardisierter Baukastensysteme bewerkstelligen. Daraus lassen sich „individu-

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elle“ Kundenlösungen bauen, ohne dass von bewährten Standardmodulen abgewichen werden muss. Zusammen mit Wertschöpfungspartnern oder dem gezielten Zukauf von Low-Tech-Komponenten in geringen Stückzahlen lassen sich die „Economies of Scale“ (Skaleneffekte) optimal nutzen.

5.7.1 Mehrfachnutzen & Kreislaufwirtschaft Kann das Produkt nach langjährigem Einsatz wieder „refurbished“, also wieder nutzbar gemacht werden, ist das heutzutage ein wichtiger Wertbeitrag für den eigenen Unternehmenserfolg und ebenso eine Compliance mit ESG-Standards. Nachhaltige und langfristige Planung über den gesamten Lebenszyklus hinweg ist dabei nicht nur in Bezug auf das Produkt selbst wichtig. So kann eine mögliche Ausweitung des eigenen Portfolios die Möglichkeit für eine Lifetime-Partnerschaft mit den Kunden bieten. Etwa in Form einer Plattform für das Management von Produktpopulationen, die Durchführung proaktiver Instandhaltung und Wartung oder Softwareupdates „over the air“. Es gilt, modernste Technologien einzubinden, um den Nutzen für alle Parteien zu maximieren. So kann künstliche Intelligenz (KI) der Erkennung von Versagensmustern dienen, um „Predictive Maintenance“ optimal einzusetzen und dem Kunden so einen hohen Mehrwert auch Jahre nach dem Kauf des Produkts zu bieten. In Bezug auf Lifetime-Partnerschaften entstehen immer neue Modelle, die sowohl dem Kunden als auch dem produzierenden Unternehmen dienen, beispielsweise durch das Leasing von Anlagen und Maschinen. Diese flexiblen Modelle sind nicht nur CAPEX-schonend, sie bieten zudem die Möglichkeit, den Kunden nachhaltig an das eigene Unternehmen zu binden. Das beinhaltet auch Schulungen für das Kundenpersonal oder eine Anwendungsberatung.

5.7.2 Ressource Wertschöpfungspartner Um Lifetime-Partnerschaften mit den Kunden zu erzielen und eine stetige Weiterentwicklung des eigenen Portfolios im Sinne des maximalen Kundennutzens zu gewährleisten, ist der Zusammenschluss verschiedener Wertschöpfungspartner im Sinne einer langfristigen Kooperation von großem Vorteil. Jeder ist Spezialist auf seinem Gebiet und bringt Ideen, Knowhow und Technologie mit an den Tisch, die zur Entwicklung einer einzigartigen Kundenlösung oder eines neuen Marktstandards beitragen. Für den Aufbau einer resilienten Wertschöpfungspartnerschaft sind allerdings einige wichtige Grundregeln zu beachten. So ist für langfristige Kooperationen eine solide Finanzierung aller Wertschöpfungspartner unerlässlich. Denn eine dauerhafte geschäftliche Beziehung kann nur erfolgreich sein, wenn auch gemeinsam weltweite Krisen gemeistert werden können. Dazu sind Reserven nötig und eine Eigenkapitalquote, die deutlich über 30 % liegt. Wenn alle Vertragspartner auskömmlich verdienen, ist die Kooperation auch für alle vorteilhaft.

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­ mgekehrt hemmen und schädigen ein Ungleichgewicht bzw. Liquiditätsprobleme nicht U nur das betreffende Unternehmen selbst, sondern ebenso seine Wertschöpfungspartner.

5.8 Vertrauen und Kooperationswille der Wertschöpfungspartner Für eine langjährige, stabile Geschäftsbeziehung mit Wertschöpfungspartnern braucht es gegenseitiges Vertrauen. Alle Parteien müssen die Vorteile einer Kooperation erkennen und Freude an der Zusammenarbeit haben. Misstrauen und Missgunst haben hier keinen Raum. Der Erfolg des anderen ist immer auch der eigene Erfolg. Ein gemäß internationalem Privatrecht (IPR) vertraglich abgesichertes Umfeld bildet hier den Rahmen. So wird auch sichergestellt, dass sich die Vertragspartner gemeinsam der Steigerung des Kundennutzens oder der Effizienz der kontinuierlichen Weiterentwicklung und Optimierung widmen. Beispielsweise auch, indem konstruktive Kritik und gegenseitige Verbesserungsvorschläge ausgetauscht werden. Hierzu bedarf es der offenen und stetigen Kommunikation zwischen den Wertschöpfungspartnern. Regelmäßige Feedback-Gespräche sorgen dafür, dass alle Beteiligten auf demselben Stand sind, Probleme zeitnah erkannt werden und eine schnelle Lernkurve gewährleistet ist. Grundsätzlich gilt: Je höher die Fachkompetenz des Vertragspartners, desto höher der Nutzen des Endprodukts und desto mehr profitieren alle Beteiligten. Wenn sich zwei Spezialisten optimal ergänzen, entstehen auf diese Weise noch bessere Lösungen für den Kunden. Die Wertschöpfungspartner müssen jedoch bereit sein, eine längerfristige gegenseitige Bindung einzugehen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Anlagen selbst beim Kunden über viele Jahre in Betrieb sind und langfristig Service und Ersatzteile benötigen – darunter auch Kaufteile. Langfristige Verträge sind also sowohl im Sinne des Endkunden als auch im Sinne der Wertschöpfungspartner.

5.8.1 Kundenfokussierung aller Beteiligten Sämtliche Entwicklungen dienen dabei der Steigerung des Kundennutzens. Forderungen nach Individuallösungen seitens der Kunden sollten daher im Sinne der Kundenbindung auf ihre Umsetzbarkeit geprüft werden. Doch nicht jeder Kundenwunsch ist auch um jeden Preis umzusetzen. Zu aufwendige, teure oder gar unverschämte Forderungen dürfen und müssen sogar abgelehnt werden. Ausnahmen des guten Willens halber sind schlicht nicht wirtschaftlich. Ein Kunde, der einmal eine aufwendige Sonderlösung fordert, die für das liefernde Unternehmen unwirtschaftlich ist, und diese auch erhält, wird die gleiche Sonderbehandlung wieder einfordern. Ein Kunde, der seinen Vorteil nicht teilen will, kann vom liefernden Unternehmen keine Lösung erwarten. Zwar ist der Erfolg aller Beteiligten maßgeblich von der Frage abhängig, wie der Kundennutzen noch gesteigert werden kann. Doch nicht immer sind die Interessen der

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Kooperations- und Wertschöpfungspartner auch mit denen des Kunden konform. Es gilt also, durchaus immer wieder abzuwägen. Der Kunde weiß schließlich nicht, wo die Schnittstellen zwischen den einzelnen Wertschöpfungspartnern liegen und wie viele Parteien an dem Endprodukt beteiligt sind.

5.8.2 Risikomanagement und Resilienz Risikomanagement und Resilienz sind bei der Entwicklung von neuen Produktideen und der Positionierung keinesfalls zu vernachlässigen. Um die Kundenzufriedenheit sicherzustellen, muss ein Unternehmen auch immer die zu erwartenden Risiken im Blick und schnelle Lösungen (Risk Mitigations) parat haben. Nur so lässt sich im volatilen VUCAUmfeld Resilienz erreichen. Resilienz basiert in diesem Kontext auf koordiniert dezentralen Systemen bzw. Organisationen, mithilfe derer schnell auf Änderungen reagiert werden kann. Das bedeutet, dass mögliche Schäden und Probleme frühestmöglich erkannt und behoben bzw. zukünftig vermieden werden können. Aus Fehlern muss schnell gelernt werden, um eine Wiederholung zu verhindern. „Fail fast“ heißt hier die Devise. Das erfordert ein Höchstmaß an Flexibilität und Fachkompetenz auf allen Hierarchieebenen und möglicherweise ein frühes Beta-Testing mit einem repräsentativen Bestandskunden. So erspart man sich eine zu aufwendige und starre Planung, die später nicht in die dynamische Umgebung passt, und sichert sich gleichzeitig eine hohe Kundenzufriedenheit und -bindung, weil schnell innovative Lösungen angeboten werden können.

5.8.3 Der Vertrieb als Kundenbarometer Kundenspezifische Projekte nach dem Prinzip „make to order“ im Sinne von „aus dem Vollen geschnitzt“. sind heute kaum noch wirtschaftlich. Dabei muss genau nach Kundenvorgaben produziert werden, möglicherweise auch noch in kleinen Chargen. Das führt zu einem hohen Produktionsaufwand und hohen Kosten. Eine angemessene Materialvorhaltung ist ebenfalls kaum möglich, sodass auch hier die Kosten in die Höhe getrieben werden. Mithilfe durchdachter Standard-Baukästen lässt sich eine große Bandbreite an Produktspezifikationen bei deutlich geringeren Produktionskosten abbilden. So sind individuelle Lösungen durchaus möglich und der Kunde hat das Gefühl, eine auf ihn abgestimmte Lösung zu erhalten, die zudem deutlich günstiger ist. Wenn das Serviceportfolio mit Wartungs- und Reparaturservice dann noch entsprechend einer LifetimePartnerschaft erweitert wird, lassen sich langfristige Kundenbeziehungen aufbauen, von denen alle Beteiligten profitieren. Sollen Lifetime-Verträge abgeschlossen werden, müssen zusätzliche Wertbeiträge und Dienstleistungen wie Wartung bzw. Reparatur von Anfang an mit angeboten werden. Im Sinne einer modernen Vertragsgestaltung können hier beispielsweise Verträge

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mit einer monatlichen Pauschale angeboten werden. Der Kunde erhält so vom Hersteller nicht nur ein hochwertiges Produkt, sondern auch Wartung und Instandhaltung pauschal dazu. Das Produkt ist so immer nutzbar und es entwickelt sich über die Lifetime-Partnership ein wertvolles Vertrauensverhältnis. Das Unternehmen ist näher am Kunden, weiß immer, wie und wo das eigene Produkt genutzt wird, und kann dieses Wissen nutzen, um den Kundennutzen bei zukünftigen Produkten noch auszuweiten. Um solche LifetimePartnerschaften aufzubauen, ist der Vertrieb gefragt. Der Vertrieb ist der erste Ansprechpartner des Kunden in sämtlichen Situationen. Er durchleuchtet die Kundensituation und versteht die Wirtschaftlichkeitsrechnung der Kunden sowie deren Bedürfnisse. Die Sales-Abteilung ist also maßgeblich für die Produktions- und Materialvorhaltungsplanung mitverantwortlich. Insbesondere bei der Lagerfertigung, also „Make-to-stock“ (MTS), ist es entscheidend, von den Kunden belastbare Prognosen der Bedarfe zu bekommen, sodass man sich mit Materialien rechtzeitig und ausreichend eindecken kann. Um einschätzen zu können, welches die Vergabekriterien des Kunden sind und wie insbesondere Lifetime-Verträge mit diesem abzuschließen sind, muss der Vertrieb die „Customer Journey“ optimal gestalten. Je mehr darüber bekannt ist, was der Kunde braucht und was ihm wichtig ist, desto besser kann er abgeholt und der Wertbeitrag für ihn gesteigert werden. Aus diesen Informationen lassen sich wiederum zukünftige Geschäftsmodelle ableiten. Welcher, möglichst messbare, Mehrwert wird für den Kunden generiert und was ist dieser bereit, dafür zu zahlen? Rechnen sich diese Optionen für das eigene Unternehmen? Wer mithilfe des Vertriebs Antworten auf diese Fragen findet, kann kundenfokussierte Mehrwertsysteme als Basis seines Wertschöpfungsmanagements nutzen und die Richtung für die Zukunft vorgeben.

5.8.4 Wertbeitrag für den Kunden: Planung der Wertschöpfungskette Die Wertschöpfungskette ist hinsichtlich des Wertbeitrages für den Kunden und dessen Entscheidungskriterien für die Auftragsvergabe zu planen. Dabei gilt es, ein dynamisches Kundenumfeld mit wechselnden Prioritäten und Erwartungen zu berücksichtigen. Transparenz und Organisation von Material- und Informationsfluss sind hier entscheidend. Sind mehrere Wertschöpfungsstufen beteiligt, sollten diese über eine Plattform verbunden werden, damit z. B. etwaige Probleme eines Tier-2-Lieferanten rechtzeitig für die gesamte Wertschöpfungskette transparent werden und unmittelbar Schadensbegrenzung betrieben werden kann. Auch der Kunde kann auf diese Weise über den Produktions- bzw. Entwicklungsprozess informiert und auf dem Laufenden gehalten werden. Erfolgt die Materialversorgung durch externe Partner, ist darauf zu achten, dass es mindestens zwei – besser noch drei – qualifizierte, zugelassene Lieferanten gibt, die die gleiche Wertschöpfung erbringen. So wird das eigene Unternehmen unabhängiger und weniger erpressbar. Darüber hinaus ergeben sich zusätzliche Potenziale für ein schnelles

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Wachstum. Über eine Regelung anhand der Quote der Materialbedarfe können Lieferanten motiviert werden, günstigere Angebote zu machen, um ihrerseits an einem größeren Volumenanteil zu profitieren. Beispielsweise könnte der Lieferant mit der besten Bewertung und dem günstigsten Preis 40 bis 50 % der Bedarfe erhalten, der Zweitbeste 30 bis 40 %, der Dritte 20 bis 30 %. So lässt sich sicherstellen, dass im Falle starken Wachstums die Produktionszahlen schnell erhöht werden können. Auch die Insolvenzrisiken nehmen signifikant ab, wenn bereits im laufenden Geschäft Alternativen aufgebaut wurden.

5.8.5 Arbeit am eigenen Unternehmen Neben dem Aufbau von Kooperationen und Supply Chain Management darf die Arbeit am und im eigenen Unternehmen keinesfalls vernachlässigt werden. Um langfristige Kundenbeziehung aufbauen und erhalten zu können, sind die verschiedenen Beiträge für die Kundenlösungen in die unternehmenseigenen Prozesse zu integrieren. Es gilt zu analysieren, welche internen Maßnahmen erforderlich sind und warum. Nur so kann die Nutzung einer standardisierten Plattform für die verschiedenen Wertschöpfungsstufen und Wertschöpfungspartner optimal umgesetzt werden. Hochtechnologie sollte wenn möglich selbst aufgebaut und angewendet werden, um sich dadurch einen Wettbewerbsvorsprung zu sichern. Müssen mehrere Technologien von mehreren Wertschöpfungspartnern als eine Kundenlösung vermarktet werden, ist ein Joint Venture mit den Technologiepartnern eine praxisnahe Option. Idealerweise sollte auch hier ein Baukastensystem aufgebaut werden. Beispielsweise können dann Kundenlösungen über einen Online-Konfigurator und mittels 3-D-Grafik erzeugt werden, während im Hintergrund eine automatisierte Kalkulation erfolgt. So können in Echtzeit optimale Input-/Output-Verhältnisse berechnet werden, damit die „Economies of Scale“ greifen.

5.8.6 Wertbeitrag Lieferanteninnovationen Auch Lieferanten und Sub-Lieferanten haben oft gute Ideen und Technologien im Gepäck, die einen zusätzlichen Wertbeitrag für den Endkunden ermöglichen bzw. diesen noch erhöhen können. Ein regelmäßiger Austausch mit den Lieferanten zu möglichen lukrativen Kooperationen und Innovationen ist also ein Muss. Zudem können sie wertvolle Informationen zu Marktentwicklungen von Marktsegmenten liefern, die nicht im Fokus des eigenen Unternehmens stehen. Entwickelt sich beispielsweise ein neuer Marktstandard, der eine bislang kundenspezifische Einzellösung ablösen könnte, dann sollte dieser möglichst schnell implementiert werden. Auf diese Weise lassen sich Kosten sparen, weil teure Einzellösungen wegfallen. Der Kunde ist zufrieden, weil er möglicherweise einen gesteigerten Wertbeitrag

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erhält oder Kosten spart. Zudem lässt sich dadurch die Versorgungssicherheit deutlich erhöhen, weil zukünftig mehrere Lieferquellen zur Verfügung stehen, die den Trend am Markt erkannt haben.

5.8.7 Zukauf von Komponenten, Teilen & Dienstleistungen Bei der Entwicklung von Kundenlösungen und der Planung der Produktionsprozesse ist stets zu prüfen, welche Komponenten, Teile bzw. Dienstleistungen für die Produktion möglicherweise zugekauft werden können und welchen Wertbeitrag sie bieten. Insbesondere bei Low-Tech-Produkten – also einfache Bauteile, Technologien oder Komponenten – bietet sich ein Zukauf in der Regel an. Vor allem wenn der Bedarf an diesen Komponenten eher gering ist und auch nur sporadisch auftritt. So werden keine Ressourcen in die Herstellung oder Beschaffung von Technologie investiert, die andere Anbieter bereits voll entwickelt haben und zu günstigen Preisen zur Verfügung stellen. Die Umrüstung der eigenen Produktionsanlagen für kleinere Chargen ist immer kostenintensiv. Denn wenn die Auslastung einer Produktionsanlage zu niedrig ist, erhöhen sich die Stückkosten drastisch. Und schon ist das Endprodukt aufgrund zu hoher Produktionskosten nicht mehr wettbewerbsfähig. Handelt es sich bei den benötigten Gütern um Commodities bzw. um standardisierte Teile, ist der Zukauf der Komponenten mit wenig Risiko in Bezug auf Qualität und Lieferbarkeit bei günstigen Preisen demnach oft die effizienteste Lösung.

5.8.8 Wertschöpfungspartnerschaft managen Die Zusammenarbeit mit Wertschöpfungspartnern über Plattformen und Ökosysteme erfordert einen nahtlosen Informations- und Datenaustausch. Gemeinsame CAD-Daten bzw. -Zeichnungen und regelmäßige Meetings (virtuell wie persönlich) sind demnach essenziell. Die gemeinsame Nutzung von Dokumenten, Zeichnungen, Daten und Datenauswertungen muss im Plattformdenken verankert sein, um den Nutzen aller Beteiligten zu maximieren. Natürlich müssen der Datenaustausch und die gemeinsame Nutzung bzw. die Intellectual Property Rights klar festgelegt vertraglich geregelt werden, damit es nicht zu Missbrauch und Vertrauensverlust kommt. Dabei ist der transparente Austausch nicht nur in Bezug auf das Produkt und die Entwicklung unumgänglich, auch das Management von Netzwerken oder etwa die koordinierte Nutzung von Social Media bietet den Kooperationspartnern vielfach Vorteile. Wenn sich die Schlüsselpersonen kennen und auf Augenhöhe respektvoll zusammengearbeitet wird, erleichtert das die Kooperation und es etabliert sich ein gemeinsamer Ehrgeiz, den Wertbeitrag für den Kunden noch zu steigern. Der kann z. B. auch in Form geringerer Kosten erfolgen, weil alle Parteien an jährlichen Produktivitätszielen arbeiten und daran gemessen werden.

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Ein weiterer Vorteil ist die Schulung und Fortbildung. Jeder Partner aus der Wertschöpfungskette bringt eine eigene Fachexpertise – zum eigenen Produkt, zu aktuellen Technologieentwicklungen, einem spezifischen Marktsegment usw. – mit, an der er die Vertragspartner teilhaben lassen kann. So erfolgt ein optimaler Wissenstransfer unter den Wertschöpfungspartnern. Dieser kann wiederum auch dem Kunden zugänglich gemacht werden, wenn etwa dessen Mitarbeiter für das verkaufte Endprodukt geschult werden müssen. Der Pool aus verschiedenen Fachkompetenzen ist darüber hinaus wertvoll, wenn es konkrete (Kunden-)Probleme zu lösen gilt. Beispielsweise in Form eines „BlaulichtProzesses“ zur schnellen Lösungsfindung und bzw. zum Troubleshooting. Das gesammelte fachliche Know-how unter den Wertschöpfungspartnern entfaltet zudem in weiteren Bereichen seinen vollen Nutzen: sei es die Vereinbarung von gemeinsamen Produktionszielen oder eine umfassende Lieferantenbeurteilung. Insbesondere im globalen Business braucht es Ansprechpartner von sämtlichen beteiligten Wertschöpfungspartnern – und zwar in allen wesentlichen Ländern. Nur so lassen sich die Ressourcen und Vorteile aus sämtlichen Ländern gewinnbringend in die Lieferkette integrieren. Die Lieferanten wiederum können über den reinen Profit hinaus ebenfalls für die Vorteile der engen Zusammenarbeit sensibilisiert werden und auf persönlicher Ebene eingebunden und motiviert werden (z. B. durch Auszeichnungen).

5.9 Fazit Unternehmen, die ernsthaft am Aufbau einer nachhaltigen Wertschöpfungskette interessiert sind, müssen sich selbst flexibel und in Anlehnung auf die Kundenbedürfnisse aufstellen. Darüber hinaus müssen sie sich für Kooperationen entlang der kompletten Supply Chain sowie für Plattformlösungen öffnen, die im Sinne von Lifetime-Partnerschaften auf gegenseitigem Vertrauen und Transparenz beruhen. Flexible Verkaufs- bzw. auch Leasingmodelle investieren in langjährige Kundenbeziehungen und sichern so die Zukunft des eigenen Unternehmens. Dabei gilt es auch, erfolgreiche neue Geschäftsmodelle immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und auf Tragfähigkeit sowie Nutzen zu prüfen. Innovative, kundenfokussierte Mehrwertsysteme und der effiziente Einsatz digitaler Technologien gilt es zu nutzen, um daraus eine „Total Customer Solution“ zu kreieren. Dabei kann sich auch der Blick über den Tellerrand auf andere Märkte lohnen, um so Geschäftsmodelle zu identifizieren, die möglicherweise für das eigene Business im Sinne eines maximalen Kundennutzens adaptiert werden können. Die Entwicklung verschiedener Industrien und Marktsektoren wird auch weiterhin rasant fortschreiten, nicht zuletzt dank zunehmender Digitalisierung. Daher müssen auch Unternehmen konstant in Bewegung bleiben und sich weiterentwickeln, um weiterhin konkurrenzfähig zu bleiben. Wer auf VUCA die VUCA-Antwort hat, dynamisch und flexibel unterwegs ist, seinen Kunden verstanden hat und sein Wertschöpfungsnetzwerk zu managen weiß, ist ein Gewinner.

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Literatur Links EU Green deal communication (2019) https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/european-greendeal-communication_en.pdf. Zugegriffen: 11. Aug. 2022 Gabler Wirtschaftslexikon VUCA (2021) https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/vuca119684#:~:text=Definition%3A%20Was%20ist%20%22VUCA%22,Merkmale%20der%20 modernen%20Welt%20beschrieben; https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/vuca-119684/ version-384510. Revision von VUCA vom 13.07.2021 – 10:59. Zugegriffen: 12. Aug. 2022 HELLER4USE (2022) https://www.heller.biz/de/maschinen-und-loesungen/heller4use/zuletzt. Zugegriffen: 11. Aug. 2022 Markt UND MITTELSTAND (2020) https://www.marktundmittelstand.de/recht-steuern/dassteckt-hinter-pay-per-use-modellen-1296851/zuletzt. Zugegriffen: 11. Aug. 2022 TRUMPF (2022) https://www.trumpf.com/de_DE/unternehmen/trumpf-gruppe/financial-services/ zuletzt. Zugegriffen: 11. Aug. 2022

Weiterführende Literatur Wilde D, Hax A of the MIT/Sloan School of Management (2009) The delta model: reinventing your business strategy. Springer, Berlin. https://books.google.de/books/about/The_Delta_ Model.html?id=ROSTnjmTjxQC&redir_esc=y published in Arnoldo C. Hax Springer Science & Business Media, 27.11.2009. 235 Seiten

Dr.-Ing. Eberhard Müller ist Executive Interim Manager mit unternehmerischem Profil und internationaler Erfahrung bei mittelständischen Global Playern und Konzernen. Er ist als Spezialist in den Bereichen Einkauf, Supply Chain Management, Logistik, Digitalisierung und Industrie 4.0 tätig. Als Generalist mit einem Auge für sämtliche Geschäftsprozesse im Unternehmen unterstützt er seine Kunden aktiv in den Bereichen Geschäftsführung, Restrukturierung und bei Change- sowie Transformationsprojekten. Als Wegbereiter, Vertrauter und Transformator gestaltet er innovative Veränderungsprozesse im General Management sowie im Einkauf, Supply Chain Management und in der Logistik. Durch seine Erfahrungen aus zahlreichen Mandaten aus der Automobil-Zulieferindustrie, dem Maschinenbau, Windindustrie, Elektrotechnik bzw. Elektronik, Chemie/Pharma/Kosmetik und Medizintechnik schafft er einen beachtlichen Mehrwert für seine Auftraggeber, der sich in zukunftsfähigen Geschäftsmodellen und Firmenstrukturen niederschlägt. Er ist Autor zahlreicher Fachbeiträge und Mitglied in mehreren Fachorganisationen, unter anderem in der DDIM – Dachgesellschaft Deutsches Interim Management e. V., bei der er die Fach-

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gruppe „Digitalisierung & Industrie 4.0“ leitet. Darüber hinaus koordiniert er alle Fachgruppen der DDIM. Komprimiertes Berufsbild:

• Executive Interim Manager mit unternehmerischem Profil • Internationale Erfahrung in Großkonzernen und bei mittelständischen Global Playern • Geschäftsführung, Restrukturierung, Digitalisierung, Einkauf, Supply Chain Management, Logistik • Automobilindustrie, Maschinenbau, Elektrotechnik, Elektronik, Renewables (Wind & Solar), Prozessindustrie und Chemie, Gesundheitsbranche und Fachhandel • Expertise im Seriengeschäft sowie Projektgeschäft Meine Wertbeiträge: • • • • • •

Profitabilität verbessern Starkes Wachstum nachhaltig umsetzen Strategie & Geschäftsmodell weiterentwickeln Einkauf optimieren Supply Chain Management & Logistik voranbringen Potenziale von Digitalisierung und Industrie 4.0 effektiv nutzen

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Digitalisierung liefern, Klima schützen Welchen Beitrag zur Nachhaltigkeit kann ein Industrieunternehmen durch digitale Technologien leisten? Guido von Rohr

Besser nachhaltig als nachlässig zu digitalisieren.

Fazit

Die Folgen des Überkonsums erlebt die Menschheit aktuell als weltweites Life-Experiment: eine Art von Konsum, der über unsere planetarischen Grenzen hinausgeht und spätestens zum Zeitpunkt der aufgebrauchten natürlichen Ressourcen sein Ende finden wird. Diese Auswirkungen des Ressourcenverbrauchs werden immer transparenter, eindeutiger und nachvollziehbarer. Digitale Technologien spielen hierbei eine essenzielle Rolle, diese Herausforderungen zum Wohl der heutigen und der künftigen Generationen zu meistern. Dieser Beitrag betrachtet anhand einer konkreten Industrieanwendung, ob und wie der Einsatz einer digitalen Technologie zur ökologischen Nachhaltigkeit beitragen kann. Dabei werden Zusammenhänge zwischen diesen beiden Themen aufgezeigt und mögliche Herangehensweisen empfohlen. Dieser Beitrag soll eine weitere Motivation für alle Verantwortlichen aus Wirtschaft und Politik sein, Potenziale für eine ökonomische und zugleich ökologische Nachhaltigkeit durch digitale Technologien zu erkennen, zu fördern und diese wertschöpfend umzusetzen.

G. von Rohr (*)  FAGUS Management, Landkreis Rosenheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Buchenau (Hrsg.), Chefsache Digitale Nachhaltigkeit, Chefsache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41159-6_6

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6.1 Ausgangssituation: Nur analog war einmal Bevölkerungswachstum, Lebensstandard und Lebensraum, Wohlstand und Konsum sowie Technologisierung und letztendlich der Klimawandel selbst sind prägende Themen unserer heutigen Gesellschaft. Zahlreiche dieser Bereiche unterliegen starken, bisweilen exponentiellen Umwälzungen und stellen uns Menschheit vor großen Herausforderungen, bieten aber auch zahlreiche Möglichkeiten. Auch im Bereich der Wirtschaft als Teilsystem der Gesellschaft zeichnet sich seit einigen Jahrzehnten oftmals durch technologische Innovationen ein grundlegender Wandel ab. Mit der kontinuierlichen Zunahme an digitalen Lösungen, Technologien und Anwendungen wird neben der bisherigen vertrauten analogen Welt eine neue digitale Welt erschaffen. Prägende Elemente sind der Einsatz von digitalen Geräten, die Vernetzung von analogen Gegenständen, der Zuwachs an analysierten Daten und die Interaktion zwischen Mensch und Maschine. Die Schnittmenge zwischen diesen beiden Welten werden durch den Wandel von analogen Gegenständen in digitale Datenströme gestaltet. Diese Transformation löst zahlreiche Änderungen auf unterschiedlichen Ebenen und Bereichen aus. Folgende Auswahl an Beispielen im Bereich der Wirtschaft soll die Vielschichtigkeit dieses Wandels andeuten (Abb. 6.1).

Abb. 6.1   Wandel der Wirtschaftswelt. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Kaufentscheidungen orientieren sich am Nutzen und lösen sich von dem eigentlichen Besitzanspruch. Funktional-hierarchisch geprägte Organisationsstrukturen brechen auf und geben Raum für ablauforientierte Strukturen, die sich entlang der Wertschöpfungskette auf den Mehrwert für den Kunden fokussieren. Komplizierte ERP-Systeme, eingeschränkt durch organisatorische Grenzen, weichen digitalen Ökosystemen und ­ Netzwerken. Digitale Technologien und hohe Informationsverfügbarkeit ermöglichen nicht nur eine Flexibilisierung der Produktion, sondern schaffen neue Formen von Führungsstilen. Bei einer Vielzahl dieser Facetten des digitalen Wandels erfolgt häufig ein eindeutiger Wechsel von einem analogen in einen digitalen Gegenstand, wie am Beispiel der Dematerialisierung der klassischen Kodak-Filmrolle zu erkennen ist. Jedoch bilden sich auch Mischformen bestehend aus beiden Welten oder eine Koexistenz wie im Falle von klassischen und agilen Projektmanagement-Methoden. Aus einer betrieblichen Perspektive zeichnet sich dieser digitale Wandel unter anderem durch eine Vernetzung von Maschinen und eine kontinuierliche Erfassung von Betriebsdaten aus. Erhebliche Effizienzsteigerungen, Kosteneinsparungen und Produktivitätsgewinne entlang der gesamten Wertschöpfungskette werden möglich. Ebenso führen neue Geschäftsmodelle zu weiteren Umsatzmöglichkeiten und steigern die Wettbewerbsfähigkeit. Allerdings verbraucht diese digitale Welt auch eine große Menge an Hardware zur Herstellung der zahlreichen Rechner, Laptops, Smartphones und Sensoren. Zusätzlich führt das „Betreiben“ dieser neuen digitalen Welt zu einem enorm hohen Energieverbrauch, gespeist oft aus fossilen, nicht regenerativen Ressourcen. Und letztendlich fällt bei einer nicht fachgerechten Entsorgung ein stetig wachsender Berg an Elektroschrott an. Diese am Ende der Lebensdauer anfallende Menge von „E-Waste“ wächst proportional mit der Digitalisierung (Sühlmann-Faul und Rammler 2018). Laut einem Abschlussbericht verursachten direkte Effekte der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) 1,8 bis 3,2 % der globalen Treibhausgas-Emissionen (Gensch et al. 2021). In der Wirtschaft spricht man aus diesem Grund auch von einem Produktivitätsparadoxon, in dem die Kosten der Digitalisierung die der Produktivität übersteigen (Beckert et al. 2021). Laut Pilardeaux und Göpel steigert bisher der digitale Wandel den Verbrauch von Ressourcen und Energie, anstatt diesen wie erhofft zu senken (Pilardeaux und Göpel 2019). Vor diesem Hintergrund trägt der derzeitige Energieverbrauch im Zusammenhang mit der Digitalisierung zu einer weiteren Umweltbelastung bei bzw. führt zu höheren CO2Emissionen. Mehr sogar, der Energieverbrauch scheint aufgrund der Digitalisierung schneller als der gesamte Energieverbrauch zu wachsen (Seifried et al. 2020). Befeuert durch unsere Lebensweise, befindet sich die Maximierung von Profit und der Erhalt unserer Biodiversität auf Kollisionskurs (von Kutzschenbach 2020). Digitalisierung und Nachhaltigkeit, zwei Megatrends, treffen aufeinander und bilden derzeit einen Zielkonflikt (Abb. 6.2).

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Abb. 6.2   Zielkonflikte der Digitalisierung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Mittlerweile wird dieser Zusammenhang in verschiedenen Bereichen aufgegriffen. Nicht nur für die Wirtschaftsinformatik ist Nachhaltigkeit ein zentrales Thema geworden, sondern auch die Politik hat diese Thematik erkannt, indem sie die „Umweltpolitische Digitalagenda“ ins Leben gerufen hat und dazu schreibt: „Soziale und ökologische Gestaltung der Transformation ist nur mit Digitalisierung zu schaffen.“ (Glanze et al. 2021; BMU 2020)

Auch in der Wissenschaft wird zu diesem Thema intensiv diskutiert, ob digitale Technologien zu einer Verbesserung der Energieeffizienz führen können (Seifried et al. 2020). Entscheidend sind deshalb jene Ansätze, die mit digitalen Technologien einen effizienteren Umgang mit Energie ermöglichen. Denn eine Reduzierung des Energieverbrauchs ist entscheidend für die Energiewende und letztendlich für die Nachhaltigkeit. Der Weg in eine treibhausgasneutrale Zukunft hängt mit davon ab, wie die Digitalisierung gestaltet wird. Dieser Beitrag betrachtet eine Möglichkeit, wie Industrieunternehmen mit digitalen Technologien zur ökologischen Nachhaltigkeit beitragen können. Hierbei ist das Ziel, Schlussfolgerungen und Empfehlungen auf das eigene Umfeld anwendbar zu machen. Am Beispiel der Digitalisierung einer energieintensiven Industriepumpe werden Zusammenhänge, Vorgehensweisen sowie konkrete Handlungsempfehlungen beschrieben. Ebenso fließen Erkenntnisse aus Einzelgesprächen mit Kunden eines Pumpenherstellers sowie mit Sachkundigen aus Wissenschaft und Verbänden in Form von Einblendungen der jeweiligen Fragestellung mit ein. Dieser Beitrag soll eine weitere Motivation für alle Verantwortlichen aus Wirtschaft und Politik sein, Potenziale von digitalen Technologien für eine ökonomische und zugleich ökologische Nach-

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haltigkeit zu erkennen, zu fördern und diese wertschöpfend umzusetzen. Er soll als Ansporn dienen, die Digitalisierung als Chance zu nehmen und diesem Zielkonflikt so lange entgegenzuwirken, bis die nachhaltigen Vorteile einer Digitalisierung dominieren.

6.2 „Digital“ und „Nachhaltig“ konkret werden Bedingt durch die vielschichtigen und komplexen Zusammenhänge, wurde diese Thematik auf die folgenden drei Ebenen eingegrenzt und konkretisiert: 1. Auslösende Ebene: Einsatz von IoT1-Technologie und deren direkte Effekte 2. Anwendungsebene: Betrieb und Instandhaltung einer Pumpe in der Nutzungsphase 3. Wirkungsebene: Ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit Bei den Eingrenzungen auf der auslösenden Ebene geht es um die Aufrüstung einer Maschine mit IoT-Technologie. Mit IoT ist die Ausstattung einer Industriemaschine oder Anlage mit Sensoren zur automatischen Zustandserfassung und nutzenbringenden Weiterverarbeitung von Mess- und Betriebsdaten gemeint. Im nächsten Kapitel wird IoT, eine Anwendung der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT), im Vergleich zu Industrie 4.0 genauer erläutert. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Auswirkungen der IKT differenzieren die Wirtschaft und die Wissenschaft drei Effekte: direkte, indirekte und Rebound-Effekte (Friedrichsen und Duscha 2017). Der Fokus dieses Textes liegt auf den indirekten Effekten, die Auswirkungen durch die Nutzung von IKT behandeln. Im Gegensatz dazu beziehen sich direkte Effekte auf die ökologischen Konsequenzen der Herstellung und des Gebrauches von digitalen Technologien selbst. Der Rebound-Effekt, als dritter Effekt, beschreibt das erhöhte Nutzungsverhalten, welcher die bisherigen Einsparungen aufhebt. Rebound-Effekte, auch bekannt als Bumerang-Effekte, sind aufgrund der Komplexität und sozio-ökonomischen Dynamik schwer vorhersehbar und in der Regel im Konsumbereich anzutreffen. Die Konkretisierung auf der Ebene der „Anwendung“ zielt auf den energieintensiven Bereich (Abb. 6.3). Je nach Studie entfallen circa 29 % des gesamten Endenergieverbrauchs auf die verarbeitende Industrie und belasten als Haupttreiber für den CO2-Ausstoß die Klimabilanz eines Unternehmens (Schebek et al. 2017; Steven 2019). Deshalb wird die Reduzierung des Energieverbrauchs in diesem Sektor laut Reichert et al. als einer der wichtigsten Ansätze zur Verbesserung des ökologischen Fußabdrucks gesehen (2018, S. 63). Auch Delhi empfiehlt, sich auf die Verbesserung von Energieeffizienzen in den Anwendungen und sich weniger auf den Stromsektor zu konzentrieren (Dehli, 2020). 1 IoT = Internet

of Things.

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Abb. 6.3   Wertschöpfungskette und Handlungsfelder der Energiewende. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Leitfaden für effiziente Energienutzung in Industrie und Gewerbe 2009, S. 9)

Bereits 2007 schrieb Göttle, Präsident des Bayerischen Landesamtes für Umwelt, zu diesem Thema: „Die Steigerung der Energieeffizienz ist meist der kostengünstigste und umweltverträglichste Weg, die Emissionen von Treibhausgasen zu verringern.“ (Bayer. LfU 2009)

Der Strom, welchen wir erst gar nicht ge- und verbrauchen, muss erst gar nicht hergestellt, transportiert und gespeichert werden. Bei der Suche nach Industriebereichen mit energieintensiven Maschinen, lassen sich sechs Industrieanwendungen finden, die sich sowohl durch eine hohe Marktdurchdringung als auch durch ein hohes Einsparungspotenzial auszeichnen. Das Potenzial dieser sechs Anwendungen liegt laut einer Infografik der DENA2 aus dem Jahre 2014 zwischen 30 und 70 % (Abb. 6.4). In einer weiteren Studie, erstellt im Rahmen der nationalen Klimaschutzinitiative, werden Einsparpotenziale durch Optimierungen von Pumpensystemen im Mittel mit 54 % beziffert (Soner et al. 2016). Somit ist die Pumpe für diese Überlegungen ein repräsentatives Beispiel einer energieintensiven Industrie.

2 DENA:

Deutsche Energie-Agentur.

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Abb. 6.4   Energieeffizienzpotenziale in Industrie und Gewerbe. (Quelle: DENA 2015)

Ein weiterer Aspekt der Eingrenzung auf der Anwendungsebene ist der Produktlebenszyklus. Auch wenn mit Blick auf die Nachhaltigkeit eine Erfassung aller Digitalisierungseffekte über den gesamten Produktlebenszyklus wünschenswert wäre, ist dies mit großen Herausforderungen verbunden. Bereits 1989 beschrieb Hallay in seinem Bericht zur Ökobilanz die Schwierigkeiten einer unternehmensübergreifenden Informationserfassung, die nach wie vor bestehen (Hallay 1990). Das kooperative Teilen von Produktinformationen zwischen Hersteller und Betreiber stellt mangels Infrastruktur, Bereitschaft oder Datenverfügbarkeit weiterhin für Unternehmen eine große Herausforderung dar. Allerdings erfolgen unter dem Stichwort ‚Verwaltungsschale‘ oder ‚Asset Schell‘ dahin gehend bereits zahlreiche Ansätze, eine vertrauenswürdige und unternehmensübergreifende Plattform zu schaffen. Doch bei Betrachtung der Kostenverteilung und -aufteilung einer Pumpe über den gesamten Produktlebenszyklus, ist festzustellen, dass allein 80 % aller Kosten in der Nutzungsphase für Energiekosten (45%) und Instandhaltung 35 % (Mattes und Schröter 2012). Auf diese beiden kostenintensiven Treiber in der Betriebsphase einer Pumpe konzentrieren sich die Maßnahmen durch IoT-Anwendungen. Bei der dritten und letzten Eingrenzung geht es darum, die Auswirkungen der Digitalisierungsmaßnahmen auf die Nachhaltigkeit zu betrachten. Der Begriff ,Nachhaltigkeit‘ setzt sich aus den drei Elementen Ökologie, Ökonomie und soziale Gerechtigkeit zusammen, wobei die beiden erstgenannten den Schwerpunkt dieses Beitrags darstellen. Die Verknüpfung zwischen Ökonomie und Ökologie ergibt sich aus der ­Überlegung mit Hilfe

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von IoT-Investitionen einen Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten. Vor diesem Hintergrund ist der Aspekt der sozialen Gerechtigkeit zwar ein für die Nachhaltigkeit nicht minder relevanter Aspekt, findet in diesem Fall jedoch keine Berücksichtigung. Zur Veranschaulichung der drei Ebenen mit den beschriebenen Eingrenzungen dient das Drei-Ebenen-Modell (Abb. 6.5). Mit dessen Hilfe wird eine IoT-Maßnahme als Auslöser mit den notwendigen Änderungen auf der Anwendungsebene und letztendlich mit den Ergebnissen bzw. Auswirkungen verknüpft. Denn eine Digitalisierung allein ist nicht ausreichend, um Ziele und Zwecke einer Maßnahme zur realisieren. Unternehmen, die mit Six-Sigma-Methoden vertraut sind, erkennen die Parallele zum Input–Process–Output-Vorgehen der SIPOC3-Methode zur Prozessverbesserung.

Abb. 6.5   Drei-Ebenen-Modell der Eingrenzung bei Digitalisierungsprojekten. (Quelle: Eigene Darstellung) 3 SIPOC:

Supplier – Input – Process – Output – Customer.

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Fazit: Aufgrund des hohen Energieverbrauchs, der Einsparpotenziale und des flächendeckenden Einsatzes bietet sich die Industriepumpe als ein ideales Beispiel für eine kritische Betrachtung der ökologischen Auswirkungen durch die Digitalisierung an. Sinnvoll ist, den Fokus auf die Nutzungsphase zu beschränken, da hier der Großteil der Kosten anfällt und vielfältige Potenziale liegen.

6.3 IoT: Eine vernetzte Welt von Maschinen Nichts ist so beständig wie der Wandel. Diese Aussage trifft auch auf die Verwendung und das Verständnis der beiden Begriffe Digitalisierung und Nachhaltigkeit zu. Weil die Begrifflichkeiten weder deckungsgleich noch einheitlich verwendet und zum Teil kontrovers diskutiert werden, folgt für diesen Text deren Konkretisierung. Mit dem Begriff „Digitalisierung“ werden zahlreiche Begriffe wie „Industrie 4.0“, „Industrielle Revolution“, „Digitale Transformation“ oder „Internet of Things“ ­assoziiert, weil es nicht „den einen einzigen Pfad der Digitalisierung“ gibt (BMU 2020). Bei diesem Trend handelt es sich um eine vielschichtige, fortdauernde Entwicklung, die je nach den individuellen Begebenheiten eines jeden Unternehmens von bisweilen disruptiven Änderungen begleitet wird. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Verwendung des Begriffes selbst einem Wandel unterliegt. Ursprünglich war mit „Digitalisierung“ die Erfassung und Speicherung von Daten in einem digitalen, binären Format bestehend aus 0 und 1 gemeint. Somit wird ein digitales beziehungsweise virtuelles Abbild eines Gegenstandes oder Inhaltes erschaffen. Dieser digitale Fingerabdruck kann für ein Produkt, einen Prozess oder für eine Person gelten. Allerdings hat sich der Begriff „Digitalisierung“ mit der Zeit im Sprachumfeld als ein Sammelbegriff für all diese Themen rund um Digitalisierung durchgesetzt. Eine Google Trends-Analyse zeigt, wie deutlich sich dieser Begriff mittlerweile im Vergleich zu den Begriffen „Digitale Transformation“, „Industrie 4.0“ und „Industrielle Revolution“ abgesetzt hat (Abb.  6.6).

Abb. 6.6   Google Trends Digitalisierung (aufgerufen am 01.05.2022)

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Auch wenn der Begriff Digitalisierung ursprünglich aus dem Bereich der Informatik stammt, steht der mittlerweile für einen gesamtheitlichen Änderungsprozess innerhalb einer Organisation. Somit lässt sich die Digitalisierung als ein technologiegetriebener Veränderungsprozess mit weitreichenden ökologischen und sozio-ökonomischen Folgen betrachten (Schebek et al. 2017). Im Hinblick auf diesen Beitrag folgt eine weitere Differenzierung der Begrifflichkeiten „IoT“ und „Industrie 4.0“ Sie werden im nächsten Abschnitt näher erläutert und vergleichend gegenübergestellt.

6.3.1 Gegenüberstellung Industrie 4.0 und IoT „Industrie 4.0“ und „IoT“ sind ähnlich wie Cloud-Anwendungen, Augmented Reality oder cyberphysische Systeme nur einige von zahlreichen Lösungen der Digitalisierung. Dabei ist der Begriff „Industrie 4.0“ prägend für diesen technologischen Wandel und wird in diesem Abschnitt der IoT-Lösung gegenübergestellt. Eine Google TrendsAbfrage für Deutschland zeigt die Entwicklung der Suchanfragen von Industrie 4.0 im Vergleich zu IoT (Abb. 6.7). Interessant ist, dass seit 2016 für jeden Monat die Suchanfragen für IoT höher als die für Industrie 4.0 ausfallen. „Industrie 4.0“, erstmalig 2011 auf der Hannover-Messe erwähnt, umschreibt die Vernetzung von Maschinen und Anlagen mithilfe der Informations- und Kommunikationstechnik innerhalb eines Produktionssystems bzw. auf dem Shopfloor

Abb. 6.7   Google Trends Digitalisierung (aufgerufen am 01.05.2022)

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einer Organisation. Produktions- und Logistikabläufe entlang des gesamten Fertigungsprozesses von Beschaffung bis zum Versand werden miteinander digital verknüpft. Echtzeitfähige, intelligente Auswertungen des Produktionsablaufes ermöglicht eine Optimierung und Automatisierung von Prozessen und eine Steigerung der Effizienz bzw. Produktivität. Die betrieblichen Vorteile resultieren in einer Kombination aus reduzierten Produktionskosten, einer schlanken Produktion, auch „Lean Manufacturing“ genannt, und/oder einer Losgröße 1-Fertigung als flexible Antwort auf wechselnde Kundenanforderungen. Bei den dafür erforderlichen Voraussetzungen handelt es sich um die Vernetzung, d. h. Anbindung der Maschine an das firmeninterne Netzwerk, gefolgt von der Erfassung und Verarbeitung von Daten, bis hin zur informativen Visualisierung. Dafür sind Sensoren, Aktoren oder eingebettete Systeme mit den mechanischen und elektronischen Komponenten der Maschine miteinander zu verknüpfen. Softwareanwendungen, Speichertechnologien und entsprechende Hardware übernehmen dann die Aufgabe der automatisieren Analyse, Interpretation und Visualisierung. Der Anspruch eines Unternehmens sollte unter Beibehaltung des notwendigen Datenschutzes eine echtzeitnahe Synchronisierung von Maschinendaten zur Steuerung und Optimierung sein. Auch wenn die Voraussetzungen auf der Produkt- sowie Unternehmensebene für Industrie 4.0 sowie IoT-Lösungen fast identisch sind, so differenziert fällt die Anwendungsebene aus (Lucke et al. 2014). Im Falle einer IoT-Anwendung dreht es sich zwar auch um die Aufrüstung von kapitalintensiven Gegenständen mit Sensoren. Allerdings ist das Ziel einer IoT-Lösung nicht eine vernetzte Produktionsüberwachung entlang der Produktionskette innerhalb eines Unternehmens, sondern eine kontinuierliche Zustandsüberwachung von Produkten während des Betriebs. Es geht um die Echtzeiterfassung von umfangreichen Betriebs- und Messdaten mittels unterschiedlicher Sensoren, die durch eine intelligente Auswertung Rückschlüsse auf den Betriebszustand der Maschine geben. Häufig kommt auch hier der englische Begriff „Condition Based Monitoring“ (CBM) zum Einsatz. Die Analyseergebnisse ermöglichen dem Betreiber der Maschinen, vorbeugende Maßnahmen der Instandhaltung durchzuführen, oder dem Hersteller, neue Serviceleistungen (EaaS)4 anzubieten. Zu berücksichtigen ist, dass sich bei IoT-Anwendungen aufgrund der hohen Anzahl von installierten Geräten ein weitaus größerer Hebel von Verbesserungsmaßnahmen für eine gesamte Flotte anbietet. Die Übersicht in Abb. 6.8 verdeutlicht die gleichen Grundbausteine, aber auch die unterschiedlichen Charakteristika zwischen IoT und Industrie 4.0.

4 EaaS:

Equipment-as-a-Service.

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Abb. 6.8   IoT und Industrie 4.0 Gegenüberstellung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Dass diese beiden Begriffe allerdings auch unterschiedlich eingestuft werden können, soll folgendes Beispiel veranschaulichen. Auf die Frage „In welcher Kategorie … wird es die meisten IoT-Anwendungsfälle geben?“ gab es unter anderem die Antwortmöglichkeit: „Vernetzte Produktion (Industrie 4.0)“ (Mauerer 2022). Dieses Beispiel zeigt, dass Industrie 4.0 in diesem Fall als eine Anwendung von IoT gesehen wird. Wohl wissend, dass beide Begriffe überlappend und nicht eindeutig abzugrenzen sind, folgt für diesen Beitrag eine Kurzdefinition: Bei der Industrie 4.0 dreht es sich um die Vernetzung von Maschinen in der Produktion und den Produktionsablauf selbst. Die IoT-Maßnahme wiederum bezieht sich auf die digitale Visualisierung des Maschinenzustands. IoT-fähige Maschinen und Produkte können verschiedene Reifegradstufen einnehmen, worauf im folgenden Abschnitt näher eingegangen wird.

6.3.2 Die Reifegradstufen für eine IoT-fähige Maschine Die IT-technische Aufrüstung einer Pumpe als Mittel der digitalen Zustandsüberwachung schafft zwar die grundlegende Voraussetzung, allerdings sind weitere Maßnahmen notwendig, damit die gewünschten Einsparungen vollumfänglich realisiert werden können. In Anlehnung an den Leitfaden Industrie 4.0 des VDMA veranschaulicht das folgende IoT-Stufenmodell der Digitalisierung diese Stufen, die zu einer vollumfänglichen intelligenten Pumpe bzw. Maschine führen (Stahl et al. 2015) (Abb. 6.9).

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Abb. 6.9   IoT-Stufenmodell der Digitalisierung. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an den Leitfaden Industrie 4.0 des VDMA)

In einem ersten Schritt wird eine digitale Echtzeiterfassung von Betriebsdaten und Zuständen durch die Aufrüstung mit Sensoren an der Pumpe ermöglicht. Die Weitergabe von Rohdaten über Schnittstellen oder per Funk in ein Firmensystem oder auf einen Datenspeicher ermöglicht eine dezentrale Berechnung von Daten. Durch einen Abgleich mit Herstellervorgaben, verfügbaren Kennlinien oder ergänzenden Formeln können diese Daten angereichtet werden. Im letzten und vierten Schritt lassen sich Muster, Trends und Anomalien durch die Analyse visualisieren. An diesen letzten Reifegrad schließen sich Möglichkeiten der Prozessoptimierungen an, die im nächsten Abschnitt beschrieben werden. Natürlich sind Abweichungen zu diesen vier Reifegradstufen ebenso möglich wie eine umgekehrte Reihenfolge von Schritt zwei und drei. Als Beispiel lassen sich über eingebettete Systeme (Edge) Messwerte auch direkt vor Ort an der Maschine berechnen, und es erfolgt nur eine Weitergabe von Abweichungen (Schebek et al. 2017). Ergebnis aus der Umfrage zum Thema: Reifegradstufen einer Pumpe Fragestellung: Wie beurteilen Sie den digitalen Reifegrad der Pumpen in Ihrem Unternehmen? Etwa 59 % Pumpen sind laut der befragten Pumpenbetreiber digitalisiert. Ein Großteil der Unternehmen schätzt den Reifegrad bei einem Mittelwert 1.63 zwischen Messen und Kommunizieren ein. Der weitere Ausbau und die Steigerung des Reifegrades hängen von zahlreichen sehr unterschiedlichen Faktoren ab. Gelten für den einen Betreiber hohe Investitionskosten oder niedrige Instandhaltungskosten als Hemmnis, so stellen für den anderen der Datenschutz oder fehlende Schnittstellen die Hürden dar. Allerdings gibt es auch Betreiber, die von vornherein die Pumpe digitalisieren: „Jede Neuanlage bekommt IoT.“

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Fazit: Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Aufrüstung mit IoT-Anwendungen die notwendige Voraussetzung für betriebliche Einsparungen und Ressourceneffizienz bildet. Um aber diese Potenziale zu realisieren, ist ein entsprechend hoher Reifegrad der Digitalisierung notwendig. Weiterhin sind umfängliche Verbesserungsmaßnahmen in den betrieblichen Abläufen bzw. Prozessen durchzuführen. Diese erforderlichen Maßnahmen werden in den nächsten beiden Abschnitten beschrieben.

6.4 Einen wirtschaftlichen Mehrwert durch IoT schaffen Die Einführung von IoT schafft mit der Datentransparenz zwar die notwendige Grundlage für Einsparungen, damit aber die Investitionen zu dem gewünschten Mehrwert führen, sind weitere Schritte in der Nutzungsphase vorzunehmen. Eine Nutzungsphase erstreckt sich von der Erstinbetriebnahme bis zur endgültigen Außerbetriebnahme von Pumpen und lässt sich in die folgenden fünf Kategorien untergliedern: – Beschaffung und Inbetriebnahme – Betrieb einer Pumpe – Instandhaltung inklusive Inspektion bzw. Wartung, die zu einer geplanten Unterbrechung führt – Instandsetzung aufgrund von Störungen, welche zu einem ungeplanten Ausfall führen – Entsorgung in der Regel in Form von Verschrottung Angesichts der hohen Betriebskosten im Vergleich zu dem Gesamtaufwand und dem Risiko kostspieliger Folgeschäden bei ungeplanten Ausfällen, sollte der Fokus von Firmen besonders auf der Betriebsphase und der Instandhaltung liegen. Unternehmen sind in diesen beiden Bereichen um eine kontinuierliche Verbesserung der Effizienz ihrer Maschinen sowie eine optimale Instandhaltung stetig bemüht. Unter „Effizienz“ ist das Verhältnis zwischen dem Einsatz von Ressourcen zu dem vorgesehenen Nutzen zu verstehen (Neligan 2021). Mit einem minimalen Aufwand sollte ein vorgegebenes Ergebnis oder im Umkehrschluss ein maximales Ergebnis unter Beibehaltung eines vorgeschriebenen Aufwandes erreicht werden. Relevante Schritte zur Realisierung dieser Potenziale sind Anpassungen des Pumpensystems für einen effizienteren Betrieb sowie Änderungen der Instandhaltungsprozesse, die näher beschrieben werden. Das Prinzip der Lebenszykluskosten ist ein weiteres wichtiges Element zur Realisierung von Potenzialen durch IoTAnwendungen und wird ebenfalls näher beschrieben.

6.4.1 Die verschiedenen Maßnahmen zur Effizienzsteigerung In der Betriebsphase eines Pumpensystems ergeben sich mit und ohne IoT-Technologie vielfältige Maßnahmen für Einsparungen insbesondere unter Berücksichtigung,

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dass Pumpen laut „Leitfaden für effiziente Energienutzung in Industrie und Gewerbe“ des Bayrischen Landesamtes für Umwelt zu drei vierteln überdimensioniert sind (BLfU 2009). Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz und Reduzierung von Kosten im Pumpenbetrieb können wie unten aufgezeigt auf drei Ebenen vorgenommen werden: • Allgemeine Maßnahmen am gesamten Pumpensystem bzw. Anlage mit dem Ziel: Optimierung von Rohrleitungssystemen, Verringerung von Druckverlusten, Anpassung von Volumenströmen • Allgemeine Maßnahmen an der Pumpe selbst mit dem Ziel: Optimierung der Laufzeiten, korrekte Dimensionierung, Anpassung der Regelstrategie, Reduzierung von Stillstandszeiten und Stand-by-Verlusten • Spezifische IoT-Maßnahmen an der Pumpe mit dem Ziel: Reduzierung des Stromverbrauchs, Vermeidung von unnötigem Ersatzteiltausch, Durchführung von Leistungsvergleichen mit anderen Pumpen Ergebnis aus der Umfrage zum Thema: Priorisierung und Zweck von Effizienzmaßnahmen Fragestellung: Auf welchen der drei genannten Ebenen werden Maßnahmen zur Effizienzsteigerung und mit welcher Priorität durchgeführt? Über 95 % der Befragten haben angegeben, dass Maßnahmen auf allen drei Ebenen durchgeführt werden. Für über 60 % der Befragten besteht das Ziel der Maßnahmen darin, sowohl am gesamten Pumpensystem als auch an der Pumpe selbst Kosten einzusparen. Dagegen ist bei IoT-Maßnahmen das primäre Ziel die Vermeidung von Schäden und Ausfällen. Eindeutig als erste Priorität wurden Maßnahmen am Pumpensystem genannt, gefolgt von IoT als zweite und an der Pumpe als letzte Priorität. In der Instandhaltung geht es um Prozesse, die einen reibungslosen Betrieb der Pumpe und der Anlage gewährleisten sollen. Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit und Funktionsfähigkeit einer Pumpe sollen durch ein effektives Instandhaltungsmanagement sichergestellt werden, zumal die Pumpe oft eine kritische Komponente innerhalb eines Systems darstellt (Brumby 2020). Der Kern der Instandhaltung umfasst folgende Elemente: • Inspektionen zur Ermittlung des Zustands • Regelmäßige Durchführung von Wartungen • Instandsetzungen bei Störungen, Schäden oder Ausfällen Auch in diesem Bereich der Nutzungsphase ist die Digitalisierung der auslösende Faktor für Verbesserungen und Änderungen von Prozessen. Vor Ort durchgeführte Inspektionen können durch regelmäßige Datenerfassung oder mithilfe optische Bilderkennungen entlastet werden. Im Falle von regelmäßig und häufig durchzuführenden Wartungen ermöglicht eine digitale Zustandsüberwachung den Einsatz von Verschleißteilen bis zum Erreichen der Nutzungsgrenze, anstatt diese nach festen Herstellervorgaben zu tau-

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schen. Für das Management der Instandhaltung bedeutet dies eine Umstellung von zeitabhängigen auf zustandsbezogene Instandhaltungsprozesse. Ergebnis aus der Umfrage zum Thema: Instandhaltungsstrategien einer Pumpe Fragestellung: Welche Instandhaltungsstrategien werden für IoT-fähige Pumpen im Dauerbetrieb verwendet? (Dauerbetrieb entspricht >7.000 h pro Jahr.) 91 % der befragten Endkunden und Servicedienstleister betreiben IoT-fähige Pumpen ausschließlich im Dauerbetrieb. Allein 32 % davon betreiben Maschinen 8.500 h im Jahr. Das entspricht einer Verfügbarkeit von 97 % und erlaubt 11 Tage im Jahr für Instandhaltungen an Pumpen und Pumpensystemen. Das zeigt, wie entscheidend die Verfügbarkeit für den Betrieb ist. Allerdings nur 45 % dieser IoT-fähigen Pumpen werden zustandsbasiert gewartet, 32 % zeitabhängig und über 20 % ausfallbedingt oder gar nicht. Dies spricht zwar für eine hohe Zuverlässigkeit von Pumpen, ist allerdings ein zusätzliches Indiz für weitere Möglichkeiten der Optimierung. Seitens der Wissenschaft lautet die Empfehlung eindeutig, eine zustandsbasierende Instandhaltung durchzuführen. Folgende Tätigkeiten sind bei der Instandhaltung zur Steigerung von Effizienz, Reduzierung von Kosten und Risiken in den jeweiligen Teilschritten der Instandhaltung möglich: • Bei der Inspektion: automatische Durchführung einer dezentralen Zustandsüberwachung • Bei der Wartung: vorbeugende Instandhaltung, Ausweitung von Intervallen, Durchführung von zustandsbezogenen Wartungen, digitalisierte Dokumentation und Berichtswesen • Bei der Instandsetzung: Auswertung von Sensordaten zur Ursachenanalyse bei Schäden, Störungen und Ausfällen • Im Controlling: Unterstützung für Berichtswesen, Energiemanagementsystem und Ökobilanzierung Die Änderungen des Pumpenbetriebs und der Instandhaltungsprozesse verbessern die Anlagenverfügbarkeit und steigern somit als dritte Variable neben dem Leistungsgrad und dem Qualitätsgrad die Gesamtkennzahl Overall Equipment Efficiency (OEE). Steigerungen der OEE von 50 % auf 75 % bis zu mehr als 90 % je nach Reifegrad der Instandhaltung werden prognostiziert (Monitor Deloitte 2020). Ebenfalls reduzieren sich der Stromverbrauch, die Energie- und Materialkosten und somit die Betriebskosten. In diesem Bereich sind im Allgemeinen Einsparungen von Material- und Instandhaltungskosten von bis zu 30 % möglich (Walter 2019; Gensch et al. 2021, S. 17). Bei Pumpen konnte laut DENA in zahlreichen Fallbeispielen die Rentabilität von Investitionen in eine effizientere Auslegung von Pumpen sowie Pumpensystemen eindeutig belegt werden (DENA 2015). Zu berücksichtigen sind bei der Planung bzw. Entscheidung für eine IoT-Aufrüstung oder Durchführung von Effizienzmaßnahmen die Kritikalität, Betriebsart bzw. Betriebsdauer und der Zustand der jeweiligen Pumpen vor Ort.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, das IoT-Investitionen kombiniert mit den vielseitigen anderen Verbesserungen einen relevanten Beitrag zur Reduzierung von Kosten sowie Risiko in der Nutzungsphase leisten: 1. Während des Betriebs der Pumpe: – Reduzierung von Betriebskosten durch einen geringeren Energieverbrauch – Einsparungen von Material durch Nutzungsoptimierung von Verschleißteilen – Vermeidung von Neuanschaffungen durch längere Lebensdauer der Maschine 2. Bei Prozessen der Instandhaltung: – Reduzierung von Material und Ausfallkosten bei ungeplanten Unterbrechungen – Reduzierung von Zeitaufwand durch gestreckte, zustandsbedingte Wartungen 3. Bei indirekten Folgeschäden am System bzw. an der Anlage: – Vermeidung von ungeplanten Produktionsausfällen und Betriebsunterbrechungen – Vermeidung von Fehlproduktion und Ausschuss – Vermeidung von Folgeschäden an der Anlage und Produktionsausschuss Ergebnis aus der Umfrage zum Thema: Auswirkungen von Digitalisierungsmaßnahmen Fragestellung: Wie beurteilen Sie die Veränderungen nach der Durchführung von Digitalisierungsmaßnahmen einer Pumpe in Ihrem Unternehmen gegenüber dem Status davor? In allen drei Bereichen, also: Kosten, Schäden und Lebensdauer, werden signifikante Verbesserungen bestätigt. Eindeutig an erster Stelle steht mit über 33 % im Mittel der Rückgang an Schäden und ungeplanten Ausfällen, gefolgt von Einsparungen der Betriebskosten um 25 % und Verlängerung der Lebensdauer um 22 %. Dies bestätigt den Fokus auf die Anlagenverfügbarkeit, aber auch, dass in allen drei Bereichen während der Nutzungsdauer ein signifikanter Mehrwert zu erzielen ist. Interessant ist die Tatsache, dass 69 % weiteres Potenzial zur Vermeidung von Schäden und 47 % zur Einsparung von Betriebskosten sehen. Aus Sicht des Leitfadens haben Verbesserungen von Energieeffizienzen in der Nutzungsphase sogar eine höhere Relevanz als die Umstellung auf regenerative Energien. Dennoch wurde diesen beiden Bereichen Industrie 4.0 sowie IoT laut Sühlmann-Faul trotz der offensichtlichen Vorteile bisher kaum Beachtung geschenkt (Sühlmann-Faul 2018). In der Schwerpunktstudie „Digitalisierung und Energieeffizienz“ des BMWi konstatieren Seifred et al. sogar, dass rund 30 % der verarbeitenden Industrie über einen Zeitraum von drei Jahren keine Digitalisierungsprojekte durchgeführt haben (Seifried et al. 2020). Insbesondere der Einsatz von digitalen Technologien im Bereich Kundendienst und Instandhaltung ist im Vergleich zu anderen Kernprozessen laut einer Umfrage zum Stand der Digitalisierung im Mittelstand am wenigsten fortgeschritten (Sames und Dinges 2018). Eine der möglichen Hürden ist die mangelnde Transparenz von Leistungsdaten auf der Produktebene. In der Regel sind einzelne Maschinen wie die Pumpe in ganzen Anlagen eingebettet, und somit sind die Betriebskosten nicht ohne Weiteres individuell ausweisbar. Diese mangelnde Transparenz auf der Produktebene verhindert gezielte

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Initiativen zur Senkung von Energiekosten. Mit IoT wird die Zuordnung von Energiekosten einer Pumpe auf die Abteilungen möglich und die Basis für entsprechende Anreize geschaffen. Aber nicht nur auf der Produktebene mangelt es an Transparenz, um die Einsparpotenziale aufzuzeigen, sondern auch auf der Unternehmensebene ist eine entsprechende Kostentransparenz zur Priorisierung von Maßnahmen entscheidend (Mattes und Schröter 2012). Einen Ansatz hier bietet die Methode der Lebenszykluskosten, die als ein weiteres Element zur Realisierung von Potenzialen durch IoT-Anwendungen im folgenden Abschnitt beschrieben wird.

6.4.2 Lebenszykluskosten als Empfehlung bei einer Kostenrechnung Bei kapitalintensiven Gütern endet der Zeithorizont einer Wirtschaftlichkeitsbetrachtung oft mit dem Ablauf der Amortisation. Dabei übersteigen die Betriebs- und Instandhaltungskosten von energieintensiven Gütern mit einer langen Lebensdauer oft die anfänglichen Kosten der Anschaffung (Dehli 2020). Investitionsentscheidungen, die sich lediglich am Beschaffungsaufwand orientieren, erhöhen allerdings das Risiko einer Fehlentscheidung oder führen möglicherweise zur Vernachlässigung von wertbringenden Effizienzsteigerungen. Dagegen berücksichtigt der Ansatz der Lebenszykluskosten neben den anfänglichen Investitionskosten alle laufenden Betriebskosten, Instandhaltungskosten sowie weitere Modernisierungskosten. Dadurch werden Angebote mit unterschiedlichen Anschaffungsund Betriebskosten vergleichbar. Eine höhere Investition in der Beschaffung wie die Ausstattung mit digitalen Technologien kann sich auf den gesamten Lebenszyklus rentabler auswirken, als hohe Betriebs- und Instandhaltungskosten in Kauf zu nehmen. Anhand des Prognosemodells des VDMA5 Einheitsblattes 34.160 wird dieser ganzheitlichen Ansatz der Lebenszykluskosten wie folgt definiert: „Unter Lebenszykluskosten wird im Sinne dieses Blattes die Summe aller zum bestimmungsmäßigen Gebrauch einer geeignet ausgelegten Maschine oder anlageerforderlichen Aufwendungen von der Anschaffung bis zur Entsorgung verstanden.“ Konkreter auf den Einsatz von Pumpen bezogen, hat das europäische Sektorkomitee EUROPUMP mit dem amerikanischen Verband The Hydraulic Institute die Lebenszykluskosten für Pumpensysteme mit folgenden Kostenblöcken für die Nutzungsphase definiert (DENA 2010): • Beschaffung: Investition, Installation, Inbetriebnahme • Betrieb: Energie, Bedienung • Instandhaltung • Umweltschutz • Außerbetriebnahme 5 Verband

Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e. V.

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Bei dem hohen Energiekostenanteil ist eine möglichst genaue Erfassung des Energieverbrauchs für die Berechnung der Lebenszykluskosten notwendig. Auch hier können mit dem Einsatz von IoT-Sensoren an der Pumpe die erforderlichen Daten zur Auswertung erfasst werden. Es hat sich ebenso gezeigt, dass die Verwendung der Lebenszykluskosten zu einer häufigeren Durchführung von Energiesparmaßnahmen in einem Unternehmen führt. Allerdings ist in der Industrie diese Art der Kostenbetrachtung laut einer Studie von Mattes et al. nur zu 14 % verbreitet (Mattes und Schröter 2012). Ergebnis aus der Umfrage zum Thema: Lebenszykluskosten Fragestellung: Welche Art der Kostenrechnung bildet die Grundlage von wirtschaftlichen Entscheidungen? 72 % der Entscheidungen für anstehende Beschaffungen orientieren sich an den Anschaffungskosten. Die Methode der Lebenszykluskosten in der Nutzungsphase wird nur zu 28 % angewendet. Zwar fällt somit dieses Prinzip im Vergleich zur Studie von Mattes et al. sehr viel höher aus, aber unter Berücksichtigung der hohen Energie- und Betriebskosten im Verhältnis zu den Gesamtkosten, sollte eine noch höhere Verwendung erwarten werden. Die Gründe für den geringen Einsatz von Lebenszykluskosten mögen vielseitig sein. Zum einen kann dies an der mangelnden Transparenz von Energie- und Betriebsdaten auf der Produkt- und auch Unternehmensebene liegen. Zum anderen verhindern in Situationen, in denen Bauvorhaben und der Betrieb von Anlagen in verschiedenen Händen liegen, unterschiedliche Unternehmensvorgaben und -ziele eine ganzheitliche Betrachtung. Die folgende Übersicht in Abb. 6.10 soll die Zweckhaftigkeit einer ganzheitlichen Kostenbetrachtung über die gesamte Lebensdauer bzw. Nutzungsphase der Pumpe veranschaulichen. Denn durch die Zuordnung von Kostentreibern zu den jeweiligen Prozessschritten wird eine gute Ausgangsbasis zur Durchführung von kontinuierlichen

Abb. 6.10   Übersicht Nutzungsphase mit Teilprozessen und Kostentreibern. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Prozessverbesserungen (KVP) geschaffen. Hierbei sind der PDCA-Cycle6 oder die SixSigma DMAIC-Methode die empfohlenen Methoden zur Prozessoptimierung. Fazit: Mit dem Ansatz der Lebenszykluskosten einer Pumpe können Energiesparpotenziale aufgedeckt, quantifiziert und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz priorisiert werden. Auch für eine objektive Analyse von Umweltauswirkungen wird eine Betrachtung über den gesamten Lebenszyklus laut einer Studie zur Steigerung der Ressourceneffizienz empfohlen (Stoffels 2017).

6.5 Besser nachhaltig als nachlässig digitalisieren Wie lassen sich nun Einsparungspotenziale durch IoT auch für die Ökologie nutzen? Welche Verknüpfungen gibt es bei dem Thema Ressourceneffizienz zwischen Ökonomie und Ökologie? Antworten auf diese Fragen und die mit der Digitalisierung einer Pumpe verbundenen Auswirkungen auf die Ökologie werden in diesem Abschnitt aufgezeigt. Der Abschnitt schließt mit einer Argumentation für eine bestimmte Darstellungsform der Nachhaltigkeit.

6.5.1 Ökologische Nachhaltigkeit: Es geht um Ressourceneffizienz Für ein Unternehmen bestehen Ressourcen aus Betriebs- und Rohstoffen, Material, Kapital, Fachkräften und Energie, wobei nicht zwingend zwischen betrieblichen und natürlichen Ressourcen differenziert wird. Aus Perspektive der Ökologie wird ebenfalls von Ressourcen gesprochen. Allerdings bezieht sich das Umweltbundesamt im Zuge der Umweltpolitik bei der Definition von Ressourcen dabei nur auf die natürlichen Ressourcen: „Ressource, die Bestandteil der Natur ist. Hierzu zählen erneuerbare und nicht erneuerbare Primärrohstoffe, physischer Raum (Fläche), Umweltmedien (Wasser, Boden, Luft), strömende Ressourcen (z. B. Erdwärme, Wind-, Gezeiten- und Sonnenenergie) sowie die Biodiversität“ (Umweltbundesamt 2012).

Das heißt auch, dass eine effizientere Verwendung von Ressourcen die Lebensgrundlage jetziger und künftiger Generationen erhält und somit ein zentrales Element zur Zielerreichung der Nachhaltigkeit darstellt (Reichert et al. 2018). Vor diesem Hintergrund wird der Begriff der Nachhaltigkeit ähnlich wie auf politischen Ebenen in erster Linie mit ökologischer Verantwortlichkeit assoziiert (Grober 2011). Wenn auch ökologische Nachhaltigkeit ebenfalls uneinheitlich verwendet wird, handelt es sich im Prinzip um die Merkmale: Material-, Energie-, Wasserverbrauch, Landnutzung, Emissionen, Recycling und eine Effizienzsteigerung dieser Ressourcen (Mödritscher und Wall 2021). Die drei ökologischen Prinzipien der Nachhaltigkeit: weniger verbrauchen, länger gebrauchen und die eingesetzten Rohstoffe immer wieder 6 Plan-Do-Check-Act

Improvement Cycle nach E. Deming.

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verwenden, sind stark vergleichbar mit wirtschaftlichen Zielvorstellungen eines Unternehmens. Auf diese mögliche gemeinsame Zielrichtung und Schnittmenge wird später detaillierter eingegangen. In diesem Kontext wurde ein weiterer Begriff definiert: „Ressourceneffizienz“. Durch den VDI wurde dieser erstmalig mit der Richtlinie VDI 4800-1 „Ressourceneffizienz – Methodische Grundlagen, Prinzipien und Strategien“ in einer systematischen Form weltweit dokumentiert. Diese Richtline beschreibt eine Bewertungsgrundlage zur Ermittlung der Ressourceneffizienz basierend auf dem Aufwand von ausschließlich natürlichen Ressourcen im Verhältnis zum jeweiligen Nutzen (VDI 4800 BLATT 1). Eine Steigerung der Ressourceneffizienz erfolgt durch den verringerten Verbrauch von natürlichen Ressourcen und entspricht dem Verständnis der betrieblichen Effizienzsteigerung. Allerdings mit dem einen Unterschied, dass die elektrische Energie als eine betriebliche und nicht als eine natürliche Ressource von dieser Definition ausgenommen ist. Wenn man aber berücksichtigt, dass der Verbrauch von elektrischer Energie aufgrund des derzeitigen Strommixes auch zum Verbrauch von natürlichen Ressourcen mit dazu beiträgt und bis zu 95 % der Lebenszykluskosten verursacht, sollte Energie als Ressource in die Definition einbezogen werden (Bayer. LfU 2009). Es lässt sich festhalten, dass diese Begrifflichkeiten aus betrieblicher und ökologischer Sicht eine hohe Übereinstimmung aufweisen. Das bedeutet, die Messung, Bewertung und das Berichtswesen für beide Seiten beruhen auf den gleichen Prinzipen und sind somit ein weiterer Hinweis auf einen gemeinsamen Schnittpunkt zwischen Ökologie und Ökonomie. Unternehmen ist es somit möglich, eine Zielvorstellung zum Vorteil beider Seiten zu formulieren: Belastungen auf die Öko- und Finanzbilanz durch einen geringeren Aufwand an Ressourcen und bei gleich bleibender Qualität zu reduzieren. Das Schaubild in Abb. 6.11 veranschaulicht diesen doppelten Effekt einer Maßnahme zur Steigerung der Ressourceneffizienz in der Nutzungsphase. Diese positive

Abb. 6.11   Doppelseitige Effekt der Ressourceneffizienz. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Auswirkung der Ressourceneffizienz auf Ökonomie und Ökologie wird auch seitens der Wissenschaft bestätigt (Biedermann und Topic 2020). Aus dem Blickwinkel der Ökologie leistet eine Steigerung nicht nur einen Beitrag zur Klimaneutralität, sondern ist auch eine entscheidende betriebliche Kennzahl. Mödritscher und Wall bestätigen durch eine Analyse verschiedener Studien, dass ökologisch initiiertes Handeln ebenfall zu einem unternehmerischen Erfolg beiträgt (Mödritscher und Wall 2021). Die Abb. 6.12 fasst grafisch die Erkenntnisse aus den Kapiteln zusammen. Der Auslöser ist die IoT-Aufrüstung der Pumpe, die in der Anwendung von Produkt und Prozessen Maßnahmen zur Verbesserung ermöglicht. Die Auswirkungen resultieren in ökonomischen und ökologischen Einsparungen in Form von Energie-, und Materialverbrauch.

Abb. 6.12   Übersicht Beitrag von IoT für Ökonomie und Ökologie. (Quelle: Eigene Darstellung)

Ergebnis aus der Umfrage zum Thema: Ökologische Auswirkungen Fragestellung: Wie wirken sich die Maßnahmen der drei beschriebenen Ebenen auf die ökologische Nachhaltigkeit aus? Laut den befragten Unternehmen führen im Prinzip alle Maßnahmen auf die ein oder andere Art und Weise zu einer Vermeidung von Rohstoffen und unnötigem Ausschuss sowie zu einer Reduzierung von Energie. Insbesondere eine ausgewogene Dimensionierung, d. h. eine auf den tatsächlichen Bedarf ausgelegte Pumpe, steigert maßgeblich die Energieeffizienz. Die Ergebnisse bestätigen auch die große Schnittmenge der Auswirkungen zugleich auf Ökonomie und Ökologie. Allerdings werden die Möglichkeiten einer Kreislaufwirtschaft statt eines Schrottkreislaufs wegen der vergleichbaren hohen Kosten von überholten Geräten gegenüber Neugeräten nur bedingt gesehen. Vielleicht ändert sich diese Einstellung, wenn diese Geräte über den gleichen Zeitraum nachweislich die gleiche Leistung liefern.

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Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine Pumpe zwecks einer ökologischen Nachhaltigkeit digitalisiert wird? Auf diese weiterführende Frage wurde mit vielfältigen Perspektiven und Hinweisen geantwortet. Die Auswahl folgender Zitaten soll diese Vielfältigkeit widerspiegeln. Wirtschaftlichkeit: Ein Aspekt, der fast durchgehend in Erscheinung trat, ist die Notwendigkeit der Wirtschaftlichkeit. Zitat #1: „Es muss sich rechnen.“ Zitat #2: „Alle Maßnahmen werden aus einem wirtschaftlichen Hintergrund auch bei ökologischen Gesichtspunkten durchgeführt.“ Datenerfassung: Ohne ein gewisses Maß an Datenerfassung, -übertragung und -auswertung geht es allerdings nicht. Diese Datentransparenz ist nicht nur auf der Unternehmens-, sondern auch auf der Produktebene elementar wichtig, insbesondere für die Berechnung der Lebenszykluskosten. Zitat #3: „Bräuchte die Transparenz zum Analysieren und Ableiten von Maßnahmen.“ Nachhaltigkeit: In zahlreichen Aussagen spiegeln sich die Bereitschaft, Notwendigkeit und Offenheit für das Thema Nachhaltigkeit wider. Die Relevanz ist mittlerweile erkannt und wird mit dem Anspruch, sich auch längerfristig für diese Thematik einzusetzen, zum Ausdruck gebracht. Zitat #4: „Ökologische Nachhaltigkeit wird notwendig. Müssen als Unternehmen mehr tun.“ Zitat #5: „Langfristiges, nachhaltiges Denken ist das Ziel. Es wird zu viel über die Tools diskutiert, anstatt den Fokus auf das Ziel und das Ergebnis zu legen.“ Fazit: In die Digitalisierung einer Pumpe zu investieren ist nur der Anfang, um einen positiven „Return on Investment“ zu erzielen. In Kombination mit Prozessverbesserungen in der Instandhaltung, den Änderungen von Betriebseinstellungen an der Pumpe oder dem Pumpensystem und der Verwendung von Lebenszykluskosten lassen sich die Einspareffekte durch eine IoT-Investition dauerhaft realisieren. Das Ergebnis führt zu einer Verbesserung der Anlagenverfügbarkeit und einer Reduzierung an Material- und Energieverbrauch. Diese Effizienzsteigerung einer Pumpe hat einen doppelseitigen Ressourceneffekt sowohl auf die Ökologie als auch auf die Ökonomie, wodurch sich eine Win-win-Situation für beide Seiten ergeben hat. Somit lässt sich mit der Digitalisierung das Motto des erwähnten Leitfadens umwandeln in: • „Digitalisierung liefern – Kosten senken – Klima schützen.“ Mal weitergedacht: Es stellt sich jetzt die Frage, was einen zurückhält, sich durch Maßnahmen zugleich für Ökologie und Ökonomie einzusetzen. Vielleicht liegt ein Teil der Antworten in den folgenden Zitaten: • Zitat #6: „Wir haben nicht ein Informationsproblem, sondern ein Paradigmawechsel von EBITDA zu einer ehrlichen Einstellung ist notwendig.“ • Zitat #7: „Gesellschaft muss bereit sein, für Nachhaltigkeit zu zahlen.“

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6.5.2 Welches Darstellungsmodell für die Nachhaltigkeit? Wie lässt sich nun diese Win-win-Situation der Ressourceneffizienz mit dem vielseitigen Begriff der Nachhaltigkeit verbinden? Und welches der grafischen Modelle der ­Nachhaltigkeit empfiehlt sich für die Darstellung der eigenen Firmenstrategie zur Nachhaltigkeit? „Auf lange Sicht wirksam“ lautet die Beschreibung bei Kreuzworträtseln, wenn nach dem Begriff „Nachhaltigkeit“ gesucht wird. Im allgemeinen Sprachumgang soll mit diesem Ausdruck die Dauerhaftigkeit oder Aufrechterhaltung eines Sachverhaltes hervorgehoben werden. Mit Blick auf die Menschheitsgeschichte gibt es zu diesem Prinzip zahlreiche Beispiele. Grober beispielsweise verweist bei diesem Begriff auf die Schöpfungsgeschichte der Bibel, in der steht „… die Erde zu bebauen und bewahren“ (Grober 2011). Im deutschsprachigen Raum war man sich bereits im Mittelalter der limitierten Ressourcen bewusst und vermied eine Übernutzung. Eine Forstordnung aus dem Jahr 1560 formulierte erstmals das Prinzip der Nachhaltigkeit, ohne den Begriff selbst zu benennen, mit der Auflage, dass nur so viel Holz zu entnehmen ist, wie auf Dauer nachwachsen kann. Zweihundertfünzig Jahre später folgte eine Zusammenfassung zur nachhaltigen Waldbewirtschaftung durch den Oberberghauptmann Carl von Carlowitz. Erlegte somit den Grundbaustein der Nachhaltigkeit (Nebel 2015). Etwa weitere dreihundert Jahre später vor dem Hintergrund der Auswirkungen des Klimawandels ist der Begriff der Nachhaltigkeit auch auf politischen Ebenen in den Mittelpunkt gerückt. In einer der relevantesten Veröffentlichungen präzisiert dazu der Brundtland-Bericht aus dem Jahr 1987 den Begriff der nachhaltigen Entwicklung als: „... eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können (www.bundestag. de/webarchiv, „Was ist Nachhaltigkeit?“, aufgerufen am 10.07.2022).

Und aus wirtschaftlicher Perspektive bedeutet Nachhaltigkeit: „… nicht Gewinne zu erwirtschaften, die dann in Umwelt- und Sozialprojekte fließen, sondern Gewinne bereits umwelt- und sozialverträglich zu erwirtschaften“ (Pufé 2014).

Bei dieser komplexen Thematik mit über dreihundert unterschiedlichen Definitionen ist nicht weiter verwunderlich, dass sich diverse grafische Modelle gebildet haben. Ein vielfach verwendetes Schaubild ist das Nachhaltigkeitsdreieck, das die drei Kernbegriffe Ökonomie, Ökologie und Soziales als Dreieck darstellt. Damit wird verdeutlicht, dass es sich bei der Nachhaltigkeit um mehr als nur den Klimaschutz dreht. Eine ebenso häufig verwendete Darstellung ist das Drei-Säulen-Modell, das diese drei Dimensionen als voneinander unabhängige Säulen unter dem Dach der Nachhaltigkeit darstellt. Eine weitere Variante ist das Schnittmengenmodell, das durch drei sich überschneidende Kreise den ineinandergreifenden Charakter dieser drei Aspekte hervorhebt (Pufé 2014; Foit 2018). Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere nicht minder relevante Variationen, aber bleiben wir bei dem Schnittmengenmodell mit seinem integrativen Charakter. Ähnlich wie

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in einem Ökosystem stehen alle Elemente der Nachhaltigkeit in einer engen Wechselbeziehung zueinander. Eindimensionales Handeln wie das Streben nach maximalem Profit oder expansivem Wachstum führt eher zu einer Entkopplung und ist keine Grundlage für eine dauerhafte Nachhaltigkeit. Richtet man den Fokus seines Handelns allerdings auf die Schnittmengen, auf die Gemeinsamkeiten, also auf jenen Bereich, in dem sich Vorteile für beide Seiten realisieren lassen, so trägt man zur Steigerung der Nachhaltigkeit bei. Das Beispiel der Digitalisierung einer Pumpe hat in diesem Beitrag gezeigt, wie mit konkreten Maßnahmen die „Ressourceneffizienz“ als Schnittmenge zwischen Ökologie und Ökonomie gefördert werden kann und somit zur Steigerung der Nachhaltigkeit beiträgt. Schaut man auf die Elemente Ökonomie und soziale Verantwortung und deren Verknüpfung, zeigt sich auch hier mit dem Begriff „soziale Marktwirtschaft“ eine eindeutige Schnittmenge zwischen beiden Themen. Der Sinn der sozialen Markwirtschaft ist laut dem Begründer und Nationalökonomen Alfred Müller-Armack, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“ (1976, S. 243). Schaut man auf die Elemente Ökologie und soziale Verantwortung und deren Verknüpfung, geht es hier um den gemeinsamen Lebensraum zwischen Mensch und Natur. Dabei müssen wir immer berücksichtigen, dass die Leistungen der Natur wie saubere Luft zum Atmen uns unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden. Das bedeutet, aus der Perspektive der sozialen Verantwortung müssen die Konsequenzen unserer Lebensweise in Bezug auf Mobilität, Freizeit, Wohnen, Ernährung und Mode bekannt sein und entsprechend muss gehandelt werden. Nur eine Lebensweise, die beiden Lebensräumen zum Vorteil dient, ist auch von Dauer (Abb. 6.13).

Abb. 6.13   Schnittmengenmodell der Nachhaltigkeit. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an u. a. Bergmann und Daub)

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Zum Abschluss und zum Weiterdenken: Die vollkommen überdimensionierten Pumpen, die zu einem Überkonsum von Energie führen, sollten ein prägendes Beispiel unserer eigenen Lebensweise sein. Die Tatsache, dass wir weit über die planetarischen Grenzen hinweg die natürlichen Ressourcen verbrauchen, zeigt uns eindeutig, wie überdimensioniert und nachlässig wir mit dem eigenen Konsum umgehen. Die Frage eines jeden Einzelnen stellt sich, wie lässt sich von einem überdimensionierten und wachstumsorientierten Verbrauch, inklusive von digitalen Technologien, auf einen nachhaltigen Konsum umstellen; von einem konventionellen auf einen nachhaltigen Konsum? Sollen wir bei dem Ruf nach „noch mehr Wachstum“ mit Überproduktion antworten? Oder sollen frei gewordene Produktionskapazitäten der Nachhaltigkeit zugutekommen? Wie können Gewinne von vornherein umwelt- und sozialverträglich erwirtschaftet werden, anstatt nach der maximalen Renditejagd einen Teil davon zu spenden? Mit dem Umgang mit Energie verhält es sich ähnlich. Die Wende beginnt mit der Einsparung und Reduzierung des Energiekonsums und nicht mit der Umstellung auf regenerative Energien. Fasst man diese Gedanken zusammen, dann geht es um die Substitution von nicht regenerativen Energien in der Herstellung, um die Rationalisierung während des Verbrauchs und letztlich um eine Rationierung beim Konsum. Wie kann Digitalisierung dabei helfen? In einer Leistungsgesellschaft, in der es auf ziel- bzw. ergebnisorientiertes Handeln ankommt, sollten Mittel und Zweck des Handelns nicht miteinander verwechselt werden. Ähnlich verhält es sich mit der Digitalisierung oder dem Geld, beide dienen nur als Mittel zu einem bestimmten Zweck. Allerdings, wenn bei Entscheidungen bzw. beim Handeln das Mittel mit dem Zweck vertauscht wird, dann rückt die Möglichkeit, das wertschöpfende Ziel zu erreichen, in die Ferne. Deshalb sollten wir sicherstellen, dass mithilfe von digitalen Technologien der Fokus einer Gesellschaft auf einer nachhaltigen Lebensweise und nicht auf einer digitalisierten Welt liegt. Kein nachhaltiger Werteerhalt ohne Wertschätzung der Ressourcen aus der Natur. Handeln und umsetzen 1. Konkrete Empfehlungen zum Handeln auf der Unternehmensebene: – Ganzheitlich denken7: Implementierung von Lebenszykluskosten – Transparenz schaffen: Verwendung von IoT-Sensoren und Analyse von Daten – Prozesse verbessern: Anwendung von KVP, PDCA oder DMAIC-Prinzipien – Firmenkultur gestalten: Schaffen einer wertschätzenden Lern-, Führungs- und Fehlerkultur – Nachhaltigkeit fördern: Vision, Vorgaben und Maßnahmen auf Schnittmengen ausrichten – Umgang mit Wissen: Wissen über Produkte und Prozesse miteinander teilen

7 Im

Englischen auch als „End-to-End“ oder „Wing-to-Wing“ bekannt.

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2. Konkrete Empfehlungen zum Handeln auf der politischen Ebene: – Eine funktionierende und flächendeckende Netzinfrastruktur zur Verfügung stellen – Verwendung einheitlicher Standards und Schnittstellen zur Datenerfassung, -übertragung – Anreize für Unternehmen schaffen, damit vermehrt umweltfreundlichere und/oder sozialere Leistungen angeboten werden – Umweltauswirkungen von Produkten und Dienstleistungen der Wirtschaft durch Aufklärung und Richtlinien den Endverbrauchern nachvollziehbar machen 3. Weiterführende Fragen als Anregung: – Welcher Anreize bedarf es, damit eine energiebewusste Auslegung von Pumpensystemen von vornherein durchgeführt wird? – Welche Arten von digitalen Technologien können in der Schnittmenge Lebensraum und/oder soziale Marktwirtschaft einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten? Welche Rolle spielt in diesem Kontext die künstliche Intelligenz? – Wie lassen sich Rebound-Effekte transparenter und nachvollziehbarer darstellen, damit wir mehr über einen nachhaltigen Konsum nachdenken? In welchen Bereichen der Nachhaltigkeit sollten wir die Rebound-Effekte reduzieren? – Wie lassen sich die Prinzipien der Ökobilanz, ökologischer Fußabdruck oder andere Formen einer nachhaltigen Berichterstattung pragmatisch und für Unternehmen umsetzbar implementieren? Über die Umfrage Die Umfrage wurde im Februar und März 2022 in Form von 45–60 min. andauernden Einzelgesprächen mit sachkundigen Kunden (Geschäftsführung, Abteilungsleitung) des Pumpenhersteller Allweiler durchgeführt. Die befragten Unternehmen setzten sich zusammen aus Servicedienstleistern (33 %), Herstellern (21 %), Endkunden (21 %), Distributoren (4 %) und Sonstigen (21 %). Die Aussagen basieren laut Angaben auf einer geschätzten Anzahl von über 4.000 Tausend sich im Einsatz befindlichen Pumpen. Die Branchen bestanden aus Industrieproduktion (19 %), Chemie (19 %), Energieerzeugung (14 %), Lebensmittel (10 %), Pharma (10 %), Rohstoffe (10 %) und Sonstigen (18 %). Ergänzend wurden acht kundige Experten und Expertinnen aus Wissenschaft und relevanten Verbänden befragt, welche sich eingehend mit den digitalen Transformationsprozessen der Instandhaltung befassen. Allen Beteiligten sei für ihre Zeit und den Dialog herzlichst gedankt.

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Monitor Deloitte (2020) Der zweite Frühling für den Maschinenbau Servicedigitalisierung als Wachstumstreiber Deloitte GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Verfügbar unter: https:// www2.deloitte.com/de/de/pages/energy-and-resources/articles/digitale-services-maschinenbau. htm. Zugriffen am: 15.011.2021. Müller-Armack A (1976) Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Haupt Nebel PCK (2015) Der normative Gehalt von Nachhaltigkeitskonzepten als Grundlage der forstlichen Betriebsführung. Universität für Bodenkultur Wien Neligan A (2021) Digitalisierung als Enabler für Ressourceneffizienz in Unternehmen. Studie für Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie – Hauptbericht. Institut der deutschen Wirtschaft Pilardeaux B, Göpel M (2019) Technologischer Wandel ist kein Schicksal. politische ökologie Pufé I (2014) Was ist Nachhaltigkeit? Dimensionen und Chancen. Aus Politik und Zeitgeschichte 64. Jahrgang. Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin Reichert D, Cito C, Barjasic I (2018) Lean & Green: Best Practice. Wie sich Ressourceneffizienz in der Industrie steigern lässt; Springer Fachmedien Sames G, Dinges A (2018) Stand der Digitalisierung von Geschäftsprozessen zu Industrie 4.0 im Mittelstand – Ergebnisse einer einer Umfrage bei Unternehmen, Bd. 9. THM-Hochschulschriften Schebek L, Abele E, Campitelli A, Becker B, Joshi M (2016) Praxisleitfaden: Ressourceneffizienz in der Produktion – Zerspanungsprozesse. Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung Schebek L et al. (2017) Ressourceneffizienz durch Industrie 4.0. Potenziale für KMU des verarbeitenden Gewerbes. VDI Zentrum Ressourceneffizienz GmbH Seifried M, Lang T, Walter T (2020) Schwerpunktstudie Digitalisierung und Energieeffizienz. Erkenntnisse aus Forschung und Praxis. ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Mannheim Soner E, Stock T, Bilge P, Tufinkgi P, Kadem C, Seliger G (2016) Analyse von Potenzialen der Material- und Energieeffizienz in ausgewählten Branchen der Metall verarbeitenden Industrie, 3. Aufl. VDI Zentrum Ressourceneffizienz GmbH, Berlin Steven M (2019) Nachhaltigkeitseffekte von Industrie 4.0. Ökonomische, ökologische und soziale Aspekte. Ruhr-Universität Bochum Stoffels PD (2017) Integrierte Definition von Produkt, Produktion und Material zur Steigerung der Ressourceneffizienz. Dissertation, Universität des Saarlandes Sühlmann-Faul FE, Rammler S (2018) Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeitsdefizite der Digitalisierung auf ökologischer, ökonomischer, politischer und sozialer Ebene. Handlungsempfehlungen und Wege einer erhöhten Nachhaltigkeit durch Werkzeuge der Digitalisierung. Studie Stahl B, Anderl R, Fleischer J (2015) Leitfaden Industrie 4.0 Orientierungshilfe zur Einführung in den Mittelstand; VDMA – Forum Industrie 4.0. TU Darmstadt, Karlsruher Institut für Technologie Umweltbundesamt (2012) Glossar zum Ressourcenschutz Walter S (2019) Industrie 4.0 – einfach machen durch Open Innovation. Vorgehensweisen und praktische Erfahrungen zur Erarbeitung neuer digitaler Geschäftsmodelle. In: Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation. Herausgeber Obermaier R, Springer Gabler

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G. von Rohr Guido von Rohr  Als Digital Transformation Leader und Interim PMO implementiert Guido von Rohr nachhaltige Lösungen zur Wertsteigerung von mittelständischen Unternehmen. Schwerpunktthemen sind eine wertschätzende Führungskultur, Lean und Geschäftsprozessmanagement -sowie smart IoT-Services mithilfe von digitalen Technologien. Guido von Rohr hat zu dem Thema Digitalisierung und Nachhaltigkeit seine Masterarbeit an der FH Kufstein (Tirol) geschrieben.

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Zur Nachhaltigkeit und ihrer Umsetzung Ludger Wiedemeier

Fazit

Digitale Nachhaltigkeit und Realität Der Konzepte und Visionen zur digitalen Nachhaltigkeit gibt es gar viele. Doch wie steht es mit der Umsetzung? Wie passe ich die Vision der Geschäftsführung so an die Realität an, dass ich, der mit der Umsetzung beauftragte Projektmanager, nun irgendwie zu einem akzeptablen Ergebnis komme? Mit Beginn des Beitrags werden nun erst mal die 10 Kriterien der digitalen Nachhaltigkeit auf ihre Umsetzbarkeit untersucht. Wie will man bspw. den Einsatz von Open Source Software veranlassen, wenn es auf dem Markt keine Softwarelösung für das zu bearbeitende Problem gibt. Anhand eines Gedankenexperiments wird dann eine Struktur entworfen, welche helfen kann, selbst einen Weg aus den unterschiedlichen Anforderungen zu finden. Zum Schluss folgt noch ein aktuelles Beispiel, wie sich Nachhaltigkeit im Unternehmen zur Erreichung der eigenen Ziele dann auch ­definieren lässt. „Wir machen jetzt was in Nachhaltigkeit“, wer kennt sie nicht, diese „Wir machen jetzt was in …!“, wenn der Chef vom zentralen Manager-Meeting aus der Zentrale wieder zurückkehrt und die eigenen Mitarbeiter nun mit dieser neuen Firmenvision vor vollendete Tatsachen stellt.

L. Wiedemeier (*)  LWRC Consult, Steinheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Buchenau (Hrsg.), Chefsache Digitale Nachhaltigkeit, Chefsache, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41159-6_7

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„Wir machen jetzt was in …!“ und schon steht man als verantwortlicher Manager vor der Frage, wie diese Ankündigungen denn nun in die Praxis umgesetzt werden können. Denn eines ist hier schon klar: Zusätzliches Budget wird es natürlich nicht geben und die PowerPoint, die es vom Chef noch zusätzlich zur Ansage gab, enthält außer ausdruckslosen Worten keine Anweisungen zur Umsetzung der Aufgabe. Eine Situation, die sich dann auch nicht verbessert, wenn man eine erste Recherche zum Thema unternimmt und zahllose weiter Begriffe auftauchen, die im täglichen Berufsalltag nun genauso wenig verwendbar sind. Je nachdem, wie tief Mann bzw. Frau bohrt, lassen sich dann auch Hinweise finden, nach denen der Begriff Nachhaltigkeit erstmals 1713 von Hans Carl von Carlowitz (1713) geschaffen wurde. Von Carlowitz war Forstrat in Thüringen und er wollte damit ausdrücken, dass immer nur so viele Bäume zu fällen seien, wie auch tatsächlich nachwachsen würden. Mehr als ein Jahrhundert lang war der Begriff dann zuerst einmal nur im Bereich der Forstwissenschaft im Einsatz. Bis er dann auch den Weg in die Gesetzgebung und spätestens seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts den Weg in die Alltagssprache fand. Zunehmend verließ der Begriff damit die Forstwissenschaft, er verbreitete sich, und spätestens seit 2009, als er mit dem Begriff enkelgerecht (Könizer Zeitung 2009) verknüpft wurde, wurde er um eine Zeitkomponente erweitert. Der Beitrag selbst beschäftigt sich nun aber nicht mit den Beziehungen zwischen den Großeltern und ihren Enkeln. Thema des Beitrags stellt die Entwicklung der Rohölproduktion dar und geht insbesondere der schon seit Jahrzehnten diskutierten Frage nach, wann denn nun der Höhepunkt der Rohölproduktion erreicht sei. Dabei trifft sie keine Aussage darüber, wie groß denn nun die verbleibenden Rohölvorräte sind, und die Diskussion in Gänze liefert auch keine Handlungsanweisungen darüber, wie denn nun mit der Abnahme der Rohölvorräte insgesamt umzugehen sei1. Fehlende Anweisungen, und das wird hier noch an anderer Stelle zu zeigen sein, führen dann natürlich zu einem Problem für die Personen, welche Entscheidungen als Folge dieser nicht erteilten Anweisungen ausführen sollen. Wie soll man sich da verhalten, wenn zu berücksichtigen ist, dass die Ausführungsebene ja auch die Gelegenheit haben muss, sich abzusichern. Hat sie diese Gelegenheit nicht, unterbleibt die Ausführung und die Kosten steigen.2

1 Zur

Kritik an der Peak-Oil-Diskussion: Peak Oil: Das Erdölfördermaximum, in Lexikon der Nachhaltigkeit, auf: https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/peak_oil_das_erdoelfoerdermaximum_1130.htm abgerufen am 26.11.2021. 2 Basis der dann eventuell doch getroffenen Entscheidung ist dann die Mehrheitsmeinung, da andere Varianten mit großer Unsicherheit behaftet sind. Zitat: „Es wurde noch nie jemand entlassen, weil er bei IBM einen Vertrag unterschrieben hat.“ Zum zugrunde liegenden Theorem: https:// de.wikipedia.org/wiki/Ellsberg-Paradoxon abgerufen am 26.11.2021.

7  Zur Nachhaltigkeit und ihrer Umsetzung

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Was können Sie also von diesem Beitrag erwarten. Zuerst einmal eine Darstellung des Konzepts der digitalen Nachhaltigkeit. Eine Darstellung, bei der ich die Frage aufwerfe, ob der Ansatz der digitalen Nachhaltigkeit für den Bereich digitale Infrastrukturen überhaupt so anwendbar ist. Denn der BrundtlandReport, auf den das Konzept der Nachhaltigkeit zurückgeht, stammt von 1987.3 Zu diesem Zeitpunkt gab es noch kein Internet, wie wir es heute kennen, und Microsoft hatte noch viele Mitbewerber. Das Dogma der Notwendigkeit der Nicht-Beeinträchtigung der Bedürfnisse kommender Generationen kann schließlich nicht erfüllt werden, wenn man in Betracht zieht, dass für Softwarelösungen Rechenzentren gebaut und Datenleitungen verlegt werden müssen. Beim Bau der Rechenzentren wird Boden verdichtet, Beton verbaut und Elektroinstallationen durchgeführt. Das hat zur Folge, dass an der Stelle, an der sich nun das Rechenzentrum befindet, jetzt und in der Zukunft Kartoffeln nicht mehr angebaut werden können. So sehr das auch zu bedauern ist. Im darauffolgenden Abschnitt beschäftige ich mich mit den 10 Grundsätzen der digitalen Nachhaltigkeit, welche 2017 von Mathias Stürmer (Stuermer et al. 2017) veröffentlicht worden sind. Die Grundsätze ergänze ich dabei mit meinen eigenen Erfahrungen, welche ich im Laufe der vergangenen Jahre als Projektmanager für IT-Infrastrukturprojekte sammeln konnte. Cloud, WAN, LAN, Wifi sowie der Aufbau von Computer-Arbeitsplätzen und die Einrichtung der Applikationen sind hier meine Hauptaufgabengebiete. Dazu kommt noch die Sicherstellung des IT-Betriebs. Das darauffolgende Kapitel konzentriert sich dann auf die zentrale Fragestellung überhaupt, die der Nachhaltigkeit zugrunde liegt, aber ohne die die digitale Welt gar nicht existieren kann: die Entwicklung des Stromverbrauchs bei der ständig steigenden Zahl von angeschlossenen Geräten. Fortsetzen werde ich mit dem Versuch, die Wirkung an den Algorithmen an einem Beispiel zu erläutern, zu dem hoffentlich alle Leser dieses Buches eine eigene Meinung haben. 1994 konnte der Autor (Markus Schlegel und Ludger Wiedemeier: Fostering Brain Drain, 1994) dieses Beitrags einen Aufsatz veröffentlichen, der später dazu führte, dass ein Elon Musk das Starlink-Konzept entwickelte, welches sich aktuell in der Umsetzung befindet. Kommunikation und Datentransfer sind die Grundlagen der technischen Umsetzung der digitalen Welt und damit der digitalen Nachhaltigkeit. Datenkommunikation auf der Basis von Satelliten-Kommunikation durchzuführen bedeutet, dass keine Glasfaserleitungen verlegt werden müssen und auch keine stromfressenden Mobilfunkmasten zu betreiben sind. Dazu müssen sehr viel weniger

3  United

Nations World Commission on Environment and Development, General Assembly, Brundtland Report, A/42/427, August 4th 1987.

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­ atelliten gebaut und in die Umlaufbahn geschickt werden als Mobilfunkmasten, die erS richtet werde müssen. Bei mehr als 15.000 Mobilfunkmasten in Deutschland kann man davon ausgehen, dass eine geringere Zahl von Satelliten ausreichen wird, die Personen auf der Erde mit Breitbandkapazität zu versorgen, die diese auch benötigen.

7.1 Die Grundsätze der digitalen Nachhaltigkeit 7.1.1 Was ist der Brundtland-Report Der Brundtland-Report, benannt nach der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, setzte nach seiner Veröffentlichung durch die Vereinten Nationen im Jahr 1987 erstmals eine Bewegung in Gang, sich über die weitere Entwicklung des Ressourcenverbrauchs Gedanken zu machen. Vorläuferarbeiten, wie bspw. die Arbeiten des Club of Rome oder die Studie Global 2000 des US-Präsidenten Carter lösten nach ihrer Veröffentlichung keine derartigen Konsequenzen aus. Der Brundtland-Report war Auslöser der Agenda 21 Konferenzen und erzeugte eine ganze Reihe von Anreizen neuer Geschäftsfelder wie die Windturbinen und den Photovoltaik-Sektor. Sieht man sich die Teilnehmerliste an, welche sich in einer Reihe von Versionen des Reports heute noch befindet, kann man sich schon die Frage stellen, ob Teilnehmer aus dem Sudan, Saudi-Arabien, Algerien oder Nigeria auch heute so respektiert werden würden, wie sie es in der Endphase des Kalten Krieges wurden.4 Innerhalb des Reports findet sich nun auf der Seite 29 der Vorwurf, der nun sich im Laufe der Jahre wohl zur Kernthese der Nachhaltigkeitsdebatte entwickelt hat, der Vorwurf des überhöhten Ressourcenverbrauchs. Doch schaut man sich den englischen Originaltext an, dann findet sich nicht nur der Begriff Ressourcen, sondern auch Begriffe aus der Buchhaltung wie Konto, Kapital und Bilanz.5 Eine Bilanz muss, im Hier und Jetzt, immer ausgeglichen sein, nicht erst in der Zukunft. Andernfalls gerät das Geschäft in eine Schräglage und die Insolvenzgefahr steigt.

4 Brundtland-Report.

S. 5. Vergleich Seite 29. „They draw too heavily, too quickly, on already overdrawn environmental resource accounts to be affordable far into the future without bankrupting those accounts. They may show profits on the balance sheets of our generation, but our children will inherit the losses. We borrow environmental capital from future generations with no intention or prospect of repaying. They may damn us for our spendthrift ways, but they can never collect on our debt to then. We act as we do because we can get away with it: future generations do not vote; they have no political or financial power; they cannot challenge our decisions“.

5 Zum

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Eine Bilanz besteht zudem aus mehr als einer Position und auch mehr als nur einem Konto. Eine Ressource, welche verbraucht wird, wie bspw. ein Stück Land, welches mit einem Cloud-Rechenzentrum bebaut wird, muss damit an einer anderen Stelle wieder ausgeglichen werden, damit die Bilanz als solche ausgeglichen wird. Eine Aufgabenstellung, welche im Jahr 2021 in Deutschland durch die Bereitstellung sog. Ausgleichsflächen gelöst wird.6 Die Aufgabe der Ausgleichsfläche besteht darin, so die Vorstellung, den Flächenverbrauch an Boden für die Natur auszugleichen. Doch zieht man in Betracht, dass beim Bau neuer großer Industriebauten in erster Linie landwirtschaftliche Ackerfläche verbraucht wird und es sich bei der Ausgleichsfläche in erster Linie auch wieder um landwirtschaftliche Ackerfläche handelt, dann ergibt sich in der Frage der Nahrungsmittelerzeugung, welche ja für nachfolgende Generationen von großer Bedeutung ist, folgendes Resultat. Da, wo vor der Diskussion um die Nachhaltigkeit ein Stück wertvolles Ackerland für den Bau des Industriegebäudes verloren ging, stehen nun zwei Stücke wertvolles Ackerland nicht mehr für die Produktion von Lebensmitteln zur Verfügung. • Das Kernziel des Reports wird nicht erreicht, der Lösungsansatz Ausgleichsfläche bei Bauten führt nur dazu, dass nun 2 Flächen Ackerland für die Erzeugung von Nahrungsmitteln nicht mehr zur Verfügung stehen.

7.1.2 Was ist ein Grundsatz Der „Grundsatz“ begegnet dem Mitarbeiter eines Unternehmens, der sich mit der Aufgabe konfrontiert sieht, ein Projekt zur Nachhaltigkeit im Unternehmen umzusetzen, in verschiedensten Variationen. Da sind die sog. Visionen, sowohl die Rede zur Steigerung der Motivation als auch der Aufruf, um den Turnaround doch noch zu schaffen. Ist Englisch die vorherrschende Sprache im Konzern und das Unternehmen in vielen Ländern präsent, werden die Herausforderungen gleich noch größer. Denn nur in den seltensten Fällen existiert ein Bewusstsein dafür, dass es höchst unterschiedliche Definitionen für den gleichen englischsprachigen Begriff geben kann. Im Zuge eines Projekts für den Aufbau einer neuen Netzwerkinfrastruktur für eine Frankfurter Großbank7 versammelte ich einmal alle Mitarbeiter und jeder musste seine

6 Zur

Problematik Ausgleichsflächen und ihre Bereitstellung bei der Ansiedlung von Bauprojekten. https://www.nw.de/lokal/kreis_hoexter/steinheim/23137518_Ausgleichsflaechen-und-Planaenderungen-fuer-das-Amazon-Gelaende-an-der-Kreisgrenze.html. 7 10 Projektmitarbeiter, die von 14 verschiedenen Firmen gestellt wurden. Mehrere Mitarbeiter waren über Agenturen bzw. Sub-Dienstleister im Projekt.

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„englischen Begriffe“ einmal selbst definieren. Spitzenreiter war der Begriff DNS, für den wir 8 leicht verschiedene Definitionen feststellten. Was ist also ein Grundsatz und ab welchem Punkt entstehen dann die Probleme in der Umsetzung des Projekts? Ein Grundsatz ist eine Aussage, Erfahrung, Erkenntnis oder Regel, so die Wikipedia,8 welche die Grundlage für nachfolgende Handlungen, Tätigkeiten oder Unterlassungen bildet. Grundsätze müssen dabei allgemein anerkannt, klar und eindeutig formulierbar, nicht weiter reduzierbar sowie konsistent und einleuchtend sein. Anforderungen, die auch aus dem Anforderungsprofil eines Projekts stammen könnten. Aber leider ist das noch nicht alles. In der Theologie taucht der Grundsatz unter dem Begriff des Dogmas auf. Vom Dogma wiederum ist es nicht weit bis zum ParadigmaBegriff des Amerikaners Thomas Kuhn (1962). Paradigmen spiegeln einen gewissen allgemein anerkannten Konsens über Annahmen und Vorstellungen wider, die es ermöglichen, für eine Vielzahl von Fragestellungen Lösungen zu bieten. Mit Konsens, Annahmen und vorab festgelegten Regeln alleine lassen sich Digitalisierungsprojekte, die viele Bereiche eines Unternehmens erreichen, in letzter Konsequenz nicht alleine umsetzen. Niemand, der den Bau eines Hauses plant, geht zum Bauherrn, welcher ihm das Haus bauen soll, und erzählt ihm etwas von einer Vision, von Vorstellungen oder benutzt neue englischsprachige Begriffe, die gerade neu erfunden worden sind. Eine der interessantesten Erfahrungen, die Sie im Leben machen können, tritt dann zutage, wenn Sie feststellen, dass die in der hausinternen Kommunikation eingesetzten englischsprachigen Begriffe nun definitiv gar keine Entsprechung in der Realität haben. Eine aus der Luftfahrt bekannte Blackbox, der Flugdatenschreiber, kann dann auch schon mal als Synonym für einen VMware Server benutzt werden und dann auch noch anders eingesetzt werden. Grundsätze, Visionen und Paradigmen entstammen den Medien, großen Konferenzen oder plötzlich auftretenden disruptiven Ereignissen. Die Praktiken, mit diesen Ereignissen umzugehen, gehen auf britische Regierungsbehörden zurück, deren Ansätze in den vergangenen 20 Jahren dann in Deutschland zumeist auf Privatinitiative verbreitet haben. Als der Brundtland-Report veröffentlicht wurde, gab es ISO 27001, Prince 2 und ITIL noch nicht. • Grundsätze und Paradigmen liefern keine Checklisten für die Lösung von Problemen und Herausforderungen. Kommen sie zudem mit Mutmaßungen, Glauben und Denkverboten, sind sie kontraproduktiv und helfen in der aktuellen Problemlösung nicht weiter.

8 https://de.wikipedia.org/wiki/Grundsatz

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7.2 Was sind die Grundsätze der digitalen Nachhaltigkeit Was können wir nun aber unter dem Begriff der digitalen Nachhaltigkeit verstehen? „Die Kurzversion der Digitalen Nachhaltigkeit beschreibt die langfristig orientierte Herstellung und Weiterentwicklung von digitalen Wissensgütern und behandelt die ­Tragik der Anti-Allmende.“9 • Open-Source-Programme und ihre gemeinnützige Weiterentwicklung wären nachhaltig. Für das Business setzen wir aber keine Open-Source-Produkte, sondern Software meist amerikanischer Hersteller ein, für welche monatliche Lizenzzahlungen fällig sind. Ausgangspunkt aller Probleme, mit denen sich die Personen auseinandersetzen müssen, welche digitale Projekte umsetzen müssen, ist das Budget. Budget muss beantragt werden, muss bewilligt werden und reicht dann am Ende nicht aus, weil die Kosten für digitale Produkte, hier verstanden als Kosten für Softwarelizenzen, am Ende doch zu knapp berechnet worden sind. Und warum sind diese Kosten dann zu niedrig angesetzt worden? Warum wird am Ende immer mehr Geld für Adobe- oder Microsoft-Lizenzen ausgegeben als zu Beginn des Projekts geplant? Das Problem beginnt damit, dass die einzige Person, welche sich mit den Lizenzverträgen für Microsoft Software auskennt, im Jahr 2022 nicht mehr für Microsoft, sondern für eine Firma mit dem Namen Login arbeitet.10 Was aber lässt sich unter dem Begriff der Allmende bzw. der Anti-Allmende verstehen? Der Begriff Allmende ist zu verstehen als ein Zustand gemeinschaftlichen Eigentums an landwirtschaftlich genutztem Grund und Boden. Entstanden ist der Begriff in der Zeit des Hochmittelalters und bezeichnete hierbei Boden, welcher von allen Mitgliedern einer Gemeinde gemeinsam genutzt wurde11. Dieser ursprünglich aus der Landwirtschaft stammende Begriff findet heutzutage sowohl Verwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften als auch in den Informationswissenschaften. In der IT dann vor allem als Anti-Allmende.12 Digitale Güter werden hierbei per definitionem als Wissensgüter, also immaterielle Güter definiert. Damit sind dann Softwarelizenzen, Patente, Gebrauchsmuster bzw. Marken und Trademarks gemeint. Patente, um nur ein Beispiel zu nennen, hatten zum Zeitpunkt der

9 https://de.wikipedia.org/wiki/Tragik_der_Anti-Allmende 10 Behauptung

des Referenten von Login, als er Lizenzmodelle in einem Webinar erklärte. https://de.wikipedia.org/wiki/Allmende abgerufen am 11.12.2021. 12 Hierzu: https://de.wikipedia.org/wiki/Digitale_Nachhaltigkeit. 11 Hierzu:

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Verabschiedung des Brundtland-Reports eine Laufzeit von 20 Jahren. Heute kann es passieren, dass für Schutzrechte auch schon mal 70 Jahre lang gezahlt werden soll.13

7.2.1 Grundsatz 01. Ausgereift Das digitale Gut muss qualitativ ausgereift sein. Beispielsweise muss eine Softwarelösung qualitativ hochwertig programmiert sein, korrekt und sicher funktionieren und die benötigten Anforderungen vollständig abdecken. Grundsatz Nr. 1 erzeugt damit gleich eine Schwierigkeit. Denn wenn die Forderung aufgestellt wird, dass die benötigten Anforderungen vollständig abgedeckt werden sollen, dann muss erst mal festgestellt werden, was die Anforderungen denn sind. Das ist in vielerlei Hinsicht schwierig. Vielfach sind grundlegende Anforderungen nicht bekannt, sondern werden nach dem „Haben wir immer schon so gemacht“-Prinzip bearbeitet. Zudem besteht das Problem, dass Anforderungen, bspw. staatlicher Stellen, sich so häufig ändern, dass sich in der Auftragsbearbeitung Excel-Tabellen oder Papier eingefressen hat. Das Requirement Engineering, die Erstellung der Anforderungen, als Ausgangspunkt für Digitalisierungsprojekte, steht damit auf schwammigen Grund.14

7.2.2 Grundsatz 02. Transparente Strukturen Digitale nachhaltige Güter müssen transparente Strukturen aufweisen, das heißt, der Quellcode einer Software muss vollständig offengelegt und das Format von Daten mittels eines offenen Standards öffentlich nachvollziehbar dokumentiert sein. Diese technische Transparenz ermöglicht Kontrolle und Verbesserungen, was zu mehr Vertrauen und weniger Fehlern führt. Grundsatz Nr. 2 der digitalen Nachhaltigkeit steht damit vor einem weiteren Problem. Open Source Software, die Software, welche normalerweise mit einer offenen quelloffenen Struktur am Markt angeboten wird, besitzt nicht die Verbreitung wie kommerziell vertriebene Software angelsächsischer Wettbewerber. Dazu kommt die Vorstellung, dass eine Open Source Software nicht die Funktionen besitzt, welche in Kauf-Software vorhanden ist.

13 Es

gibt Historiker, welche die These aufgestellt haben, dass das Römische Reiche aus dem Grund zugrunde ging, weil zu viel Seide in China eingekauft wurde. Wie noch zu zeigen sein wird, stellt das Mietmodell im Cloud-Umfeld nicht nur ein finanzielles, sondern auch ein extremes Problem für die Nachhaltigkeit dar. 14 Unklare Ziele zählen zu den 7 wichtigsten Gründen, warum Projekte scheitern. Dazu https:// asana.com/de/resources/why-projects-fail abgerufen am 17.01.2022.

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Viele Versionen dieser kommerziellen Software lassen sich heute auch nicht mehr erwerben, sondern nur noch mieten.15 Damit wird der Käufer eines digitalen Produktes nicht mehr der Eigentümer, sondern einzelne Elemente, wie bspw. Ergebnisse der Arbeit, verbleiben im Besitz des Lieferanten. Im Agrarsektor, der seit dem Zweiten Weltkrieg immer eine Vorreiterrolle in der Digitalisierung und Effizienzsteigerung gespielt hat, zeigen aktuelle Entwicklungen, dass die Digitalisierung auch eine Richtung einschlagen kann, die ganz und gar nicht im Sinne der Betroffenen sein kann. Denn neueste Traktoren von John Deere können gar nicht mehr vollständig von den Kunden erworben werden. Die Rechte an den Ergebnissen des Landwirts behält der Lieferant.16

7.2.3 Grundsatz 03. Semantische Daten Die fortschreitende Digitalisierung erfordert, dass Informationen nicht nur von Menschen, sondern auch von Maschinen verstanden werden. Folglich müssen digital nachhaltige Informationen durch semantische Daten miteinander verknüpft sein. Durch solche Metadaten lassen sich große Mengen digitaler Informationen maschinell weiterverarbeiten, aggregieren und interpretieren. Der Grundsatz Nr. 3 steht damit vor der Herausforderung, jemanden finden zu müssen, der die semantischen Daten erst einmal: a) zusammenstellt, b) prüft, ob die Daten auch korrekt sind (Gefahr von Rechtschreibfehlern), c) die Daten dann auch in ein ERP-System (Verarbeitungssystem) eingibt, d) testet, ob die Daten überhaupt verarbeitet werden können. Der Abteilung hat dann zusätzlich die Aufgabe, die verarbeiteten Daten gegen unbefugte Änderung zu schützen, jede Änderung zu dokumentieren und sicherzustellen, dass die Regeln der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung eingehalten werden.

15  Hier

eine Entscheidungsgrundlage für Kauf oder Miete. Man beachte, dass in dieser Entscheidungshilfe von einer einzelnen Lizenz die Rede ist. Sodass man schnell versucht ist, die finanziellen Folgen außer Acht zu lassen. Was sind schon 1,86 EUR über 36 Monate.!!! Werden bspw. Office-Lizenzen benötigt, muss man diese Zahl auch mal mit 20.000 multiplizieren. Da sieht es dann schon wieder anders aus. https://www.intex-publishing.de/pdf/Software_kaufen_oder_ mieten.pdf. 16 Recht auf Reparatur: Wie Landwirte ihre Traktoren zurückerobern wollen, abgerufen von https:// www.heise.de/hintergrund/Recht-auf-Reparatur-Wie-Landwirte-ihre-Traktoren-zurueckerobernwollen-6326181.html.

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Einmal in zehn Jahren war ich in einem Unternehmen beschäftigt, welches Personal für die Stammdatenpflege zur Verfügung hatte. Diese Personen waren aber auch nur damit beschäftigt und hatten keine weiteren Aufgaben. Diese äußerst wichtige Datenpflege findet sich häufig als Zusatzaufgabe für den Vertrieb, für Praktikanten oder wird im Rahmen von Masterarbeiten dann an Studenten für die Abschlussarbeiten ausgegeben. In diesem Kontext wurde auch schon argumentiert, dass Personen, welche an Autismus erkrankt sind, für die korrekte Bearbeitung großer Datenmengen besonders geeignet seien.17 Aber wie ich bereits ausgeführt habe, ist es mit der korrekten Datenpflege auch nicht getan. Sondern die Daten müssen ja auch weiterverarbeitet und gespeichert werden können. Das hat dann zwangsläufig zur Folge, dass die Personen, welche semantische Daten verarbeiten, auch kommunikative Fähigkeiten besitzen müssen.

7.2.4 Grundsatz 04. Verteilte Standorte In der digitalen Welt spielt auch der physische Aspekt eine wichtige Rolle. Sind Daten nur an einem Ort gespeichert oder läuft ein System nur auf einem einzigen Server, ist die langfristige Verfügbarkeit dieser digitalen Güter gefährdet. Digital nachhaltig ist es, wenn Informationen und Anwendungen redundant zum Beispiel mittels Peer-to-PeerAnsätzen mehrfach an unterschiedlichen Orten gespeichert sind. So wird die Abhängigkeit vom physischen Standort reduziert und die dauerhafte Verfügbarkeit erhöht. Der Grundsatz Nr. 4 stellt damit eine Steilvorlage für die Verlagerung sämtlicher Daten und Applikationen in die Cloud dar. Alles in die Cloud, und schon ist die Digitalisierung nachhaltig. Doch schon die Formulierungen des Grundsatzes Nr. 4 werfen die Frage auf, wo hier denn nun die Nachhaltigkeit ist, wenn die gleichen Daten nun an mehr als einem Standort gespeichert, mehrfach gesichert und geschützt werden. Denn da, wo bislang Daten einmal auf einem Server gespeichert wurden, passiert dies nun mehrfach. Wo bislang nur einmal Ressourcen wie Strom Metalle, seltene Erden benötigt wurden, steigt der Ressourcenverbrauch. Als die Cloud in der Mitte des vorigen Jahrzehnts immer mehr in den Fokus rückte, war das Thema Nachhaltigkeit noch nicht im Fokus. Stattdessen herrschte die Vorstellung, man könne auf diese Weise die Herausforderungen des Tagesgeschäfts meistern18, das Wachstum begleiten und natürlich die Kosten für die IT senken.19

17 https://de.wikipedia.org/wiki/Autismus,

abgerufen am 22. Januar 2022. aus 2015. https://de.eas-mag.digital/7-gruende-warum-mittelstaendler-ihr-erp-in-diecloud-verlagern/. 19 Eine Eisenbahn fährt ja auch nicht ohne Schienen, Lilith Wittmann, in https://www.heise.de/ news/Krawall-Influencerin-Lilith-Wittmann-Baut-intern-Kompetenz-auf-6335264.html. 18  Gründe

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Dabei wurde vollkommen übersehen, dass die IT die Basisinfrastruktur bereitstellt, ohne die das Unternehmen wie auch öffentliche Verwaltungen so gar nicht bestehen können. Der Autor erlebte es mehr als einmal, dass der erste Schritt im Cloud-Projekt, nach der Vertragsunterzeichnung, im Personalabbau bestand. Doch damit fehlten dann die Mitarbeiter, die dem Cloud-Dienstleister erklären konnten, welche Anforderungen für Datenübernahmen bestanden, und die Anbindung des Firmennetzwerks an den neuen Dienstleister. Die Ausarbeitung von Verträgen mit Cloud-Anbietern, die im Allgemeinen aus dem angelsächsischen Raum stammen, ist keine einfache Angelegenheit und erfordert hohen Abstimmungsbedarf innerhalb des eigenen Hauses. Diese Abstimmungsprozesse sind im Allgemeinem nach dem ISO-Standard 27001 definiert. Dieser Standard ist, im Gegensatz zur allgemeinen Vorstellung, kein Gesetzeswerk, sondern höchst individuell anpassbar. Diese Individualität ist nun aber nicht im Interesse des Anbieters von Cloud-Dienstleistungen, denn sein Business Case geht nicht auf, wenn für jeden seiner Kunden eigenständige Prozesse notwendig werden. Insbesondere bei der Bearbeitung großer Datenmengen stoßen Cloud-Lösungen damit schnell an ihre Grenzen und die erwarteten Kosteneinsparungen bleiben aus.20 Für die konkrete Umsetzung von nachhaltigen Digitalisierungsprojekten stellt der einseitige Druck zur Kostenreduktion ein Problem dar, da die notwendigen Aufgaben zur Zielerreichung als Folge fehlenden Budgets nicht angegangenen werden. Der Grundsatz Nr. 4 der digitalen Nachhaltigkeit liefert aber die Argumente für die Notwendigkeit, IT-Infrastrukturen auf heutige rechtliche Anforderungen wie Kritis und dem Cyber Resilience Act der EU für den Krisenfall aufzustellen. • Voraussetzung für die digitale Nachhaltigkeit. IT-Infrastrukturen müssen redundant aufgestellt und eine sicherere und redundant ausgelegte Datensicherung eingerichtet sein.

7.2.5 Grundsatz 05. Freie Lizenz Rechtliche Rahmenbedingungen müssen erlauben, dass digitale Güter beliebig genutzt, verändert und weiterverteilt werden dürfen. So kann einmal erschaffenes digitales Wissen durch die Gesellschaft verbessert und uneingeschränkt angewendet werden. Dies ist beispielsweise der Fall bei Open-Source-, Open-Data- oder Open-Access-Lizenzen. Der Grundsatz Nr. 5 erklärt nicht, wie digitale Güter, welche beliebig verändert und weiterverteilt werden dürfen, betrieben und weiterentwickelt werden können.

20 Dazu https://www.computerwoche.de/a/lohnt-sich-der-rueckzug-aus-der-public-cloud,3549662 abgerufen am 31.01.2022.

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In dem Maße, in dem das digitale Gut sich im Markt etabliert, wächst der Ressourcenbedarf an Platz zum Speichern der Daten, an Personal für die Organisation des Betriebs und dem Ausrollen von Sicherheitsupdates und neuen Funktionen sowie an Elektrizität. Die Kosten für Softwarelizenzen sind nicht das einzige Kriterium, das es im Rahmen des Einsatzes zu berücksichtigen gilt. Unabhängig davon, ob ein IT-Techniker nun gekaufte oder Open Source Software für die Lösung von Aufgaben innerhalb eines Unternehmens einsetzt, erwartet dieser ein Gehalt, mit welchem er die Kosten für den Lebensunterhalt bestreiten kann. Der zentrale Vorteil beim Einsatz von Open Source Software zeigt sich dann, wenn es um das Eigentum an den erzeugten Daten geht. Die erstellten Daten sind immer im Eigentum der Person bzw. Organisation, welche diese einsetzt. Die EU-Kommission arbeitet hier aber an Initiativen, diese Fragestellungen zu lösen.21 • Die Frage des Eigentumsrechts an den Ergebnissen, die mit den Softwarenlizenzen erstellt worden sind, wird hier übersehen und nicht beachtet. Im kommerziellen Umfeld gibt es aktuell Bestrebungen seitens der Lizenzgeber, sich ein Eigentumsrecht an den Daten zu verschaffen, welche mit der speziellen Softwarelösung erstellt worden ist.22

7.2.6 Grundsatz 06. Geteiltes Wissen Die fachkundige Verbesserung und Erweiterung digitalen Wissens verlangen, dass Know-how und Erfahrungen (implizites Wissen) auf möglichst viele Menschen aus unterschiedlichen Organisationen verteilt ist. So kann die Wissens-Abhängigkeit von einzelnen Personen und Firmen (Lock-in-Effekt) reduziert und die Beiträge von anderen zahlreicher werden. Wissen ist Macht, so heißt es, doch wie kann ein Projektmanager, welcher beauftragt ist, ein Digitalisierungsprojekt in einem Unternehmen umzusetzen, die Mitarbeiter auf die neue Applikation, den neuen Prozess schulen? Hier entstehen regelmäßig Schwierigkeiten insbesondere im Bereich des Erwartungsmanagements. Denn im Allgemeinen wird erwartet, das die Umstellungen doch nicht so

21  https://www.heise.de/news/Open-Source-Gipfel-Nur-offene-Technologie-ist-nach-

haltig-6350862.html abgerufen am 06.02.2022. 22 Dazu: Bestrebungen des US-Konzerns John Deere, sich Besitzrechte an den Felddaten der Landwirte anzueignen: https://www.heise.de/hintergrund/Recht-auf-Reparatur-Wie-Landwirte-ihre-Traktoren-zurueckerobern-wollen-6326181.html.

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groß sind, dass die Mitarbeiter sich die Kenntnisse schon nebenbei beibringen könnten oder das „Train der Trainer“-Konzept Anwendung finden sollte. Das „Train der Trainer“-Konzept besagt, dass einzelne ausgewählte Mitarbeiter die Schulung der ganzen betroffenen Abteilung übernehmen sollen. Was aber zu Problemen führt: • Die betroffenen Mitarbeiter sind die zentralen Leistungsträger, welche für das Unternehmen benötigt werden. • Im Zuge ihrer Vorbereitung auf diese Position haben sie sich mit den Funktionen des neuen Systems beschäftigt, aber dabei die Aufmerksamkeit auf die Aspekte gelegt, welche für sie besonders wichtig waren. Damit können sie ihren Kollegen nur sehr selektiv helfen. • Zieht sich die Einführung der neuen Applikation hin, sind relativ schnell neue Releases auszurollen, dann zieht sich auch die erhöhte Sonderbelastung für die betroffenen Mitarbeiter hin. Damit sollten dann auf jeden Fall motivationserhaltende Maßnahmen eingeleitet werden, da andernfalls auch schnell mal nach neuem Personal zu suchen ist. • Damit sollten Schulungsveranstaltungen immer offiziell mit eingeplant werden. Es entstehen hier Kosten, doch die indirekten Kosten des „Train der Trainer“ Konzepts können sehr viel höher sein.

7.2.7 Grundsatz 07. Partizipationskultur Alle kompetenten Personen sollen sich mit konstruktiven Beiträgen an der Erweiterung und Weiterentwicklung des digitalen Guts beteiligen können. Dazu braucht es eine gesunde Partizipations-Kultur. Zum Beispiel können Peer-Review-Prozesse in der Community die erforderliche Qualität der Daten und Software sicherstellen. Was zeichnet eine kompetente Person aus? Eine Frage, die sich natürlich sofort stellt, wenn solch eine Bedingung aufgestellt wird. Denn ein Produkt unterliegt unabhängig davon, ob mit oder ohne Gewinnerzielungsabsicht hergestellt, letztlich doch einer Art von Produktlebenszyklus.23 Produktänderungen müssen zuerst einmal gefordert und dann näher spezifiziert werden. In der nächsten Stufe sind dem Projekt dann Ressourcen und Budget in ausreichender Menge zuzuweisen. Nach erfolgreicher Erledigung der Arbeiten muss dann auch sichergestellt bleiben, dass das digitale Gut auch weiterhin betrieben werden kann. Bei vielen Angeboten, insbesondere wenn es sich um Softwareangebote handelt, die zum Ziel haben, es den Menschen bequemer zu machen, stellt sich aber auch die Frage,

23 Zum Thema PLM, Produkt Lifecycle. Product Lifecycle Management – Wikipedia abgerufen am 20.02.2022.

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ob hier nicht unerwünschte Arbeit aus dem Haus herausgelöst und den Interessenten übergestülpt werden soll. Hier denke ich an Angebote des öffentlichen Sektors zum Bestellen von Anträgen und Formularen. • Ein digitales Gut fällt nicht vom Himmel, sondern ist immer das Gemeinschaftswerk einer Gruppe von Personen, die ganz unterschiedliche Interessen haben können. • Für jede Änderung am Gut müssen die beteiligten Gruppen wieder zusammengeholt und koordiniert werden. Gründlichkeit geht hier vor Schnelligkeit.

7.2.8 Grundsatz 08. Faire Führungsstrukturen Faire Führungsstrukturen gewährleisten, dass die Kontrolle über das digitale Gut nicht bei einer einzigen Person oder Organisation liegt, sondern möglichst dezentral verteilt ist. Transparente Governance-Strukturen wie öffentliche Wahlen oder das MeritokratiePrinzip regeln dabei die Verantwortlichkeiten. Dieses Kriterium lehnt sich an das Konzept von Good Governance an. Der Projektmanager, welcher ein digitales Gut in einer Organisation einführen soll, steht hier nun vor einem Dilemma. Spätestens dann, wenn Entscheidungen hinsichtlich der Organisation des Betriebs des digitalen Gutes zu treffen sind, sind hier die Empfehlungen des ITIL-Rahmenwerks24 zu berücksichtigen. Dieses Rahmenwerk firmiert in Deutschland auch unter dem Begriff BSI Grundschutz.25 Dieses Rahmenwerk, welches die ISO-Nummer 27001 trägt, kennt nur das sog. „Highlander Prinzip“, welches besagt, dass nur eine Person, der sog. Service Manager, Entscheidungen trifft.26 Die Organisation des Betriebs des digitalen Gutes, die Sicherstellung der Einsatzbereitschaft, liegt hiermit in der Verantwortung einer einzelnen Person bzw. Rolle. Meritokratie-Prinzipien sind hier nicht anwendbar, da die Organisation des Betriebs bereits sowohl eine Vollzeitaufgabe darstellt als auch eine spezielle Ausbildung erfordert. Super User, auch Test User etc. genannt, können diese Rolle gar nicht ausfüllen, da sie im

24 Hintergrundinformationen zum ITIL-Rahmenwerk https://de.wikipedia.org/wiki/ITIL abgerufen am 25.02.2022. 25 Der Grundschutzkatalog wird vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik Bonn herausgegeben. Dieser Katalog wird beständig und permanent weiterentwickelt. Dazu https:// www.bsi.bund.de/DE/Themen/Unternehmen-und-Organisationen/Standards-und-Zertifizierung/ITGrundschutz/IT-Grundschutz-Kompendium/IT-Grundschutz-Bausteine/Bausteine_Download_Edition_node.html. 26 Zur Rolle des Service Managers bzw. des Service Managements für die Organisation von IT-Projekten. https://de.wikipedia.org/wiki/IT-Service-Management.

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­ llgemeinen bereits mehrere Rollen ausfüllen. Im Ergebnis wird dann nur Stückwerk A produziert. • Klare Verantwortlichkeiten festlegen und vorab prüfen, ob die angedachten Personen für die Aufgabe auch die Kapazitäten haben, sie auszufüllen. Die Abteilung „Das können die auch noch mit übernehmen“ als auch Herr und Frau „Die haben sich doch immer darum gekümmert“ können das nicht. • Governance-Strukturen dabei nicht nur aufbauen, sondern auch leben. Steering-Committee-Sitzungen müssen auch tatsächlich regelmäßig stattfinden.

7.2.9 Grundsatz 09. Breit abgestützte Finanzierung Die Infrastruktur (beispielsweise Internet-Server), das zuständige Personal und weitere Ressourcen sollten von möglichst unterschiedlichen Akteuren bezahlt werden. Eine breit abgestützte Finanzierung erlaubt Unabhängigkeit von einer einzelnen Institution und reduziert Interessenkonflikte. Position 9 der Grundsätze der digitalen Nachhaltigkeit steht natürlich in ganz besonderem Gegensatz zur Realität/Erfordernissen für die Umsetzung. Denn werden Internet-Server, das Personal und weitere Ressourcen, wie bspw. die Kosten für das Gebäude, immer aus unterschiedlichen Quellen bezahlt, fällt jedes Mal die Umsatzsteuer an. Ein Vorgang, welcher den Ressourcenverbrauch ex post, also schon im Vornhinein, vergrößert. Dem Ziel der Nachhaltigkeit, den Ressourcenverbrauch nicht zu vergrößern, läuft das zuwider. • Die Finanzierung digitaler Projekte aus jeweils unterschiedlichen Projekten ist mit dem Steuerrecht nicht vereinbar. Für jeden weiteren Akteur bzw. weitere Körperschaft, welche sich engagiert, wird jeweils Umsatzsteuer fällig. • Aufbau von ITIL-Prozessen und Organisationsstrukturen notwendig, um den Betrieb des digitalen Gutes sicherzustellen zu können. Da mehrere Akteure hierbei im Einsatz sind, sind weitere Ressourcen notwendig, um die Compliance-Auflagen wie die DSGVO sicherzustellen.

7.2.10 Grundsatz 10. Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung Digital nachhaltige Güter und deren Communities sollen einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung im klassischen Sinne leisten. Mit anderen Worten haben digital nachhaltige Programme und Daten eine positive ökologische, soziale oder ökonomische Wirkung. Gleichzeitig müssen digital nachhaltige Güter in ihrer Herstellung und Anwendung ­Ressourcen aus nachhaltigem Hintergrund benutzen. Beispielsweise soll die Herstellung

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der digitalen Güter durch Arbeitskräfte mit fairer Entlohnung geschehen und Strom aus erneuerbaren Energiequellen verwendet werden. Die Grundsätze der digitalen Nachhaltigkeit wurden 2017 verfasst (Stuermer et al. 2017). Diese hier vorliegenden Anmerkungen wurden in den Tagen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine verfasst, in dessen Folge sich Energiekosten vervielfachten und Lieferketten noch stärker unter Druck gerieten. Explodierende Nahrungsmittelpreise und erneuerbare Energien geraten dadurch in einen Konflikt, denn die Windräder stehen im Normallfall auf bestem Ackerland. Da, wo 6000 t Beton für ein Windrad im Boden versenkt werden müssen, damit dieses im Betrieb nicht umfällt, wächst kein Weizen mehr. Da, wo kein Weizen mehr wachsen kann, kann auch kein Mehl für Brot mehr erzeugt werden.

7.2.11 Korrelation und Kausalität oder doch Interdependenz27? Was also tun, wenn man als verantwortlicher Projektleiter einerseits den Auftrag erhält, ein Digitalisierungsprojekt umzusetzen, welches natürlich helfen soll, die Kosten zu senken, und man gleichzeitig sieht, dass die Energiekosten auf breiter Front steigen? Der verantwortliche Projektleiter steht damit vor dem Problem, ob in seinem Projekt nun Probleme der Kausalität, also des Ursache-Wirkungs-Prinzips, zu betrachten sind. Beispiel: Das WLAN in der Firma soll neu aufgebaut und erweitert werden. Die Umsetzung des Projekts setzt nun voraus, dass die passende WLAN Hardware nicht nur bestellt, sondern auch produziert und geliefert werden kann. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie vor gut zwei Jahren sehen wir uns aber alle mit großen Störungen in den globalen Lieferketten konfrontiert. Dazu kommen große Störungen im Bereich der Energieversorgung, welche aktuell zur Folge hatten, dass mit Ausbruch des Ukraine-Kriegs das Heizöl urplötzlich teurer war als E5 Superbenzin28. Wie jetzt mit solchen Situationen, die ja ursächlich mit dem eigenen Projekt auf die eine oder andere Art und Weise interagieren, umgehen? Wie dann auch noch auf politische Vorgaben, und die Nachhaltigkeitsdebatte ist ja zuerst einmal eine politische Debatte, in diesem Zusammenhang eingehen?

7.2.12 Gedankenexperiment zur Vorgehensweise Die Digitalisierung ist eine Querschnittsaufgabe, welche dazu zwingt, dass innerhalb eines Unternehmens verschiedenste Bereiche ihre Erbhöfe verlassen und zusammenarbeiten müssen. 27 Zu den Fragestellungen verweise ich hier auf Autoren wie Thomas Kuhn und auch auf Niklas Luhmann. 28 Siehe dazu die Check24.de bzw. Verivoxx.de vom 9. März 2022.

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Das ist insofern nicht einfach, wenn die beteiligten Personen nur ihre Blickwinkel kennen und auch die Ausbildungen der kürzlich eingestellten Mitarbeiter sich im Ausfüllen von Fragebögen erschöpfen. Damit stelle ich Ihnen hier ein Gedankenexperiment vor, welches das Ziel hat, Ihnen eine Reihe von Platzhaltern zu liefern, welche Sie dann für Ihre tägliche Arbeit austauschen können.

7.2.13 Zur Ausganglage Viele Bereiche des Wirtschaftslebens sind im Jahr 2022 dadurch gekennzeichnet, dass dort nur noch einige wenige, häufig sogar nur noch ein einzelner Marktteilnehmer vorhanden ist. Beispiele hierfür wäre Microsoft im Bereich der Bürosoftware, Amazon im Bereich der Logistik und Warenverteilung oder auch SpaceX. Für Deutschland sind hier auch die sog. Hidden Champions29 zu nennen, eine Gruppe von ca. 500 Mittelständlern, welche in einem ganz bestimmten Produktsegment den Weltmarkt dominieren oder zumindest noch einen Wettbewerber haben, der dann seine Zentrale im gleichen Ort hat. Ende des 13. Jh. war die Marktkonzentration noch größer, denn die wirtschaftlichen Interessen des Templerordens hatten dazu geführt, dass alle diese Unternehmen damals in einer einzigen Organisation zusammengefasst waren. Dieser Orden unterhielt an die 10.000 Niederlassungen sowohl zwischen den schottischen Highlands und Zypern auf der einen Seite als auch Nordspanien und Reval im Osten. Dieser Orden, bzw. dieser alles umfassende Konzern (Barber Malcolm 1992), wurde mit Bescheid vom 26. März 1312 aufgelöst und zum Termin 2. Mai 1312 dann auch schon final abgewickelt.

In dem gleichen Maße, in dem der Begriff Digitalisierung sich bei der erstmaligen Betrachtung als ein sehr nebulöser Begriff darstellt, fehlt es genauso an dem Bewusstsein, das viele Fragestellungen des heutigen Wirtschaftslebens auch zur Zeit des Templerordens schon vorhanden und nicht gelöst waren. Wenn Sie jetzt frei nach Goethe mit den Worten, „Die Stories und Gerüchte kenn ich viel, allein es fehlen die Fakten“ zitieren, dann ist Ihnen zuerst einmal recht zu geben. Heutzutage fehlen vielfach die Dokumente, aber das heißt nicht, dass diese Dokumente nicht existiert haben. Mit dem Beschluss des Konzils von Vienne von 1312 wurde der Templerorden aufgelöst und sein Eigentum den Johannitern nach Abzug einer Bearbeitungsgebühr übertragen.30 Die Akten, welche aus ganz Europa nach Vienne geschickt worden waren, um die Verfehlungen von Ordensmitgliedern belegen zu können, wurden damit nicht mehr gebraucht und wurden damit in die Alpentäler geworfen, wo sie verrotteten (Schottmüller 1887).

29 Dazu:

https://en.wikipedia.org/wiki/Hidden_champions.

30 https://de.wikipedia.org/wiki/konzil_von_vienne

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Was lehrt uns das? Die Digitalisierung begleitet Unternehmen nun schon seit einer Reihe von Jahren und hat dabei zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen geführt. Aber wenn ein Unternehmen im Jahr 2022 noch existiert, dann hat es in der ein oder anderen Art und Weise in der Vergangenheit bereits Digitalisierungsprojekte erfolgreich durchgeführt, auch wenn auf den ersten Blick keine brauchbare Dokumentation mehr darüber existiert. Wäre das nicht der Fall gewesen, würde das Unternehmen gar nicht mehr existieren. Zum Start des Projekts sollte man sich also durch eine nicht existierende Datenlage irritieren lassen. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, das interne Leistungsträger in der Vergangenheit schon Konzepte für die Umsetzung dieser Projekte ausgearbeitet hatten. Konzepte, die dann aber nie umgesetzt werden konnten, weil sie ja aus dem eigenen Haus stammten.31 Sich beim Start eines Digitalisierungsprojektes, welches eine große Zahl an Abteilungen eines Unternehmens betrifft, sich auch immer auf die Suche nach den Super Usern im Haus zu machen. Im Zuge des späteren Projektfortschritts ist die Zusammenarbeit hier sowieso notwendig.

7.2.14 Zum Projektplan Die Erstellung eines Projektplans, welcher mehr sein soll als ein „einmal hergestellt, dann vergessen“-Projektplan, ist in einem Digitalprojekt wesentlich schwieriger als bspw. in einem Projekt, welches nur eine einzelne Abteilung eines Unternehmens ­umfasst. Betrachten wir hier einmal die Berichte, Mythen und Geschichten, die im Kontext der Zerschlagung des Templerordens im Umlauf sind.32 Wer jetzt mit den Templern nichts am Hut hat, kann die hier benannten Variablen auch durch das Insolvenzverfahren der Northern Telecom ersetzen.33 Stellen Sie sich nun einmal vor, Sie haben den Projektauftrag, die wichtigsten Unterlagen Ihres Hauses an einen anderen Standort zu bringen, was werden Sie tun? a) Sie können von Paris aus nach Norden aufbrechen. b) Sie können von Paris nach Süden ziehen. c) Sie können von Paris aus versuchen, die Atlantikküste zu erreichen, und entweder Richtung Grönland oder auch in Richtung Portugal fahren. d) Sie können Paris Richtung Osten, also Richtung Berlin-Tempelhof, verlassen.

31 Der

Prophet gilt nichts im eigenen Haus. Einlesen ins Thema https://de.wikipedia.org/wiki/Templerorden. 33 https://de.wikipedia.org/wiki/nortel 32 Zum

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Variante A steht vor dem Problem, dass im Norden viele Jahre lang gegen die Engländer gekämpft und verloren wurde. Im Unternehmen steht das für diejenigen, die schon immer dagegen waren. Variante B steht vor dem Problem, dass im Süden die Soldaten des Papstes warten, genauso begierig wie der französische König, sich Zugriff auf die Finanzmittel des Unternehmens zu verschaffen. Im Unternehmen stehen sie für diejenigen, denen die Pläne nicht weit genug gehen. Variante C steht Ihnen auch zur Verfügung. Aber Sie benötigen dann Schiffe. Schiffe erfordern Mannschaften, Ausrüstung, zusätzlichen Proviant und auch passende Wetterbedingungen. Dazu kommt, dass Sie sich an Tiden-Zeiten, Urlaubspläne der Mannschaften und mancherlei mehr halten müssen. Viele zu berücksichtigende Faktoren und im Projekt als „hintenherum und dreimal quer durchs Auge“ bekannt. Variante D, der lange Weg über den Kontinent, ein Dauerlauf, welcher keinen Quick-Win34 verspricht. Gesetzt den Fall, dass Sie sich schon einmal mit der Thematik beschäftigt haben, und sei es nur durch kurze Filme auf YouTube, dann wird Ihnen vielleicht aufgefallen sein, dass das Deutsche Reich und Mitteleuropa gar nicht vorkommen. Das ungeachtet der Tatsache, dass bspw. ein Ort wie Berlin-Tempelhof35 von Templern gegründet und der Orden schon im 12. Jahrhundert von deutschen Kaisern36 unterstützt wurde. Diese etwas kuriose Situation sehe ich darin begründet, dass Beziehungsgeflechte zwischen Deutschen und Franzosen sich im Laufe der Jahrhunderte fundamental geändert haben. Während Deutsche und Franzosen bei der Schlacht von Crécy37 1346 noch gemeinsam gegen die Engländer kämpften, änderte sich das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ja vollständig und überdeckte alles andere. Wie häufig sieht man sich im Projekt auch einer ähnlichen Situation gegenüber. Eigentlich beauftragt ist die Variante A, aber es existiert auch eine große Fraktion im Haus, welche für Variante B plädiert. Sind beide Fraktionen ungefähr gleich stark, empfiehlt der gesunde Menschenverstand zuerst einmal den Kompromiss, die Variante C. Doch die sprengt dann den Budgetrahmen. Damit ist dann auch eine vollständige Überarbeitung des Projektplans in Betracht zu ziehen und die ausgetretenen Pfade38 zu verlassen. Zu empfehlen ist das aber nur, wenn

34 Quick-Win, zu verstehen, ohne allzu großen Einsatz von Ressourcen Erfolge berichten zu können. 35 https://de.wikipedia.org/wiki/komturei_tempelhof 36 https://de.wikipedia.org/wiki/Lothar_III._(HRR) 37 https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_Cr%C3%A9cy 38 https://www.netz98.de/blog/digitalisierung/die-groessten-fehler-bei-der-digitalisierung-von-unternehmen/

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sich entweder die Einsicht bei allen beteiligten Gruppen durchgesetzt hat, dass die bislang eingeschlagenen Wege nicht funktionieren und ein Neustart notwendig ist, oder Sie feststellen, dass die Gruppen nicht mehr da sind. Da allesamt gefeuert. Der Auftrag lautet hier dann in erster Linie, das Projekt noch irgendwie zu retten und „zum Laufen“ zu bekommen.

7.2.15 Wie weiter? Wie weiter? Wo ist der rote Faden, der einem den Weg aus der Projektsituation zeigt? Im Fall der Templer sei darauf verwiesen, dass von Paris über Aachen nach Berlin ein Handelsweg führt. Dieser Weg, ab Aachen als Reichsstraße 1 bzw. als B1 bezeichnet, zeichnet einen Weg auf, den die Templer im Nachgang der beginnenden Auflösung des Ordens auch genommen haben können. Ein Szenario, welches als Folge der sich mit dem Beginn der Neuzeit verschlechternden Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich dann vollkommen aus dem Bewusstsein verschwunden ist. Stehen Sie nun vor der Herausforderung, das Projekt zur digitalen Nachhaltigkeit im Haus komplett wieder neu aufsetzen zu müssen, sollten Sie sich von folgenden Überlegungen leiten lassen: a) Das Unternehmen besteht noch und verdient Geld, das bedeutet, Sie machen etwas richtig. Versuchen Sie, das zu analysieren und schriftlich festzuhalten. b) Versuchen Sie herauszufinden, warum ähnlich gelagerte Projekte in der Vergangenheit gescheitert sind. c) Im Allgemeinen können Sie davon ausgehen, dass Mitarbeiter des Hauses schon längst Lösungen für die Themen ausgearbeitet haben. Aber getreu dem Motto, dass der Prophet im eigenen Hause nicht gilt, wurden diese Vorschläge zum Verdruss von Knowledge-Trägern nie umgesetzt und liegen unbearbeitet in der Schublade. Identifizieren Sie diese Personen und nehmen Sie Kontakt mit ihnen auf. Das ist kein einfacher Vorgang, denn häufig werden Sie davor gewarnt, mit diesen Personen zu sprechen. Hinweise, dass sie schwierige Zeitgenossen seien, gehören da noch zu den moderateren Kommentaren. Mein Vorschlag ist, nehmen Sie sich diese Umsetzungsvorschläge vor, prüfen Sie diese auf ihre Umsetzbarkeit, und die Situation ist damit gerettet.39

39  Weitere

Hinweise finden Sie hier: https://www.spiegel.de/start/neu-im-team-wie-man-informelle-hierarchien-aufspuert-und-sich-zunutze-macht-a-a4716625-3d19-45e8-a4be03f7eb97f2c7?xing_share=news.

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7.3 Analyse Projekte zur digitalen Nachhaltigkeit sind kompliziert, schwer zu begründen und stehen vor dem Problem, dass sie sich auch nicht so einfach umsetzen lassen. Spätestens ab dem Zeitpunkt, ab dem man als „Beauftragte Person“ nun loslaufen soll, das Projekt umzusetzen, haben sich die Umgebungsparameter verändert. Wurden Steuern geändert, wurden Lieferketten neu ausgerichtet40 und wurde vielleicht auch der Chef, welcher die Idee am Anfang hatte, schon längst wieder ausgetauscht, dann gerät man schnell in die Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Doch berücksichtigt man nach einem Blick auf die Karte, dass zur Geschichte der Auflösung des Templerordens noch weitere Richtungen gehören, in denen der TemplerSchatz möglicherweise abtransportiert worden ist, dann sollte man auch immer berücksichtigen, dass es auch für besonders komplizierte und problembeladene Digitalprojekte doch noch eine Lösung geben kann. Die Grundsätze der digitalen Nachhaltigkeit, sortiert nach den Einflussmöglichkeiten des mit der Realisierung des Projekts beauftragten Projektmanagers: a) Grundsatz 4 Aufbau der Infrastruktur. Der Aufbau von IT-Infrastrukturen ist zeitaufwendig, kostspielig und muss sorgfältig geplant werden, wenn er nachhaltig sein soll, also keine Ressourcenvergeudung generiert. Denn ohne redundant verlegte Datenleitungen und mehrfach gesicherte Rechenzentren keine digitale Welt. Für den Aufbau dieser Art von Strukturen ist Zeit einzuplanen, da im Falle des Neubaus von Rechenzentren Zeit für nicht kontrollierbare Meilensteine wie das Einholen von Baugenehmigungen seitens der öffentlichen Hand einzuplanen ist. b) Grundsatz 3 Semantische Daten. Daten müssen konsistent und korrekt sein, und diese Daten müssen auch gepflegt werden. Das erfordert einen Prozess und dieser Prozess kann nicht darin bestehen, dass sich einfach irgendjemand darum kümmert oder das Ganze einfach komplett vergessen wird. Sowohl Herr und Frau „Kümmre dich drum“ als auch die Person „Jemand anders“ sind bekanntermaßen während der großen Finanzkrise von 2008 verstorben. c) Die Grundsätze 2 Transparenz im Projekt und 8 Faires Führungsverhalten des beauftragten Managers sind Grundvoraussetzungen für die erfolgreiche Umsetzung im ­Projekt. d) Grundsätze wie Finanzierungsfragen, Partizipationskultur, der Einsatz von Open Source Software und auch der Grad an Obsoleszenz41 des eingesetzten Produkts,

40 https://www.spektrum.de/news/fuer-die-energiewende-werden-die-rohstoffe-knapp/2005387 41 Wie

ausgereift sind das Produkt und wie viele Fehler gibt es noch. Als ein Beispiel zum Problem, der James Bond-Film „Der Morgen stirbt nie“. https://www.youtube.com/watch?v=-nBZu1ilBI.

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­ elche vom Manager des digitalen Projekts zur Nachhaltigkeit so erst einmal nicht w beeinflusst werden können. Denn hier in diesem Bereich befinden wir uns im Übergang zu rechtlichen Fragen und ein Projektmanager ist eigentlich kein Absolvent einer juristischen Fakultät. Weitergehende rechtliche Fragen zählen (Mador Luc 2022) dann auch zur übergeordneten Unternehmensstrategie und sollten damit geklärt sein, bevor das digitale Projekt startet.

7.4 Fazit Beginnt man zu realisieren, dass Veränderung unvermeidlich ist, dann wird es notwendig, einen Plan auszuarbeiten, wie mit den Veränderungen umgegangen werden kann und zu welchen Konsequenzen solch ein Projekt führt. Die Digitalisierung erfasst dabei alle Teile des Unternehmens, was zur Folge hat, dass solch ein Projekt von der Geschäftsführung zu initiieren und zu leiten ist, denn diese Arten von Projekten haben zur Folge, dass mehrere Abteilungen eines Unternehmens koordiniert zusammenarbeiten müssen. Hierbei ist es dann auch erforderlich, dass die Geschäftsführung festlegt, wie sie mit den aktuell nicht wirklich geklärten Rechtsfragen (Schrems II)42 umgeht. Diese Themen sind aktuell im Fluss und da hier auch ein drittes Verfahren ansteht, sollten die möglichen Konsequenzen dieser Urteile zum Privacy Shield und zur Datenschutz-Grundverordnung bei der Planung mitberücksichtigt werden. Hat das Unternehmen bspw. ein eigenes Rechenzentrum im Betrieb, sollte man sich schon die Frage stellen, ob man denn nun immer noch in die MS Cloud umziehen muss. Da es Kosteneinsparungen so in der IT erst einmal nicht gibt43, sollte die Planung schon am Anfang so ganzheitlich aufgesetzt werden, dass zumindest der Versuch gemacht wird, sich keine Steine in den Weg zu rollen, auf dem man in den kommenden Wochen spazieren will. Verlagerungen in die Cloud erfordern einen parallelen Aufbau von Infrastruktur, der im Allgemeinen länger dauert als vorgesehen und zur Folge hat, dass die erhofften Kosteneinsparungen nicht realisiert werden. Die Übergabe der IT-Abteilung an einen ITDienstleister hat dann einen massiven Know-how-Verlust zur Folge, in dessen Folge digitale Projekte nicht mehr umgesetzt werden können, da die Mitarbeiter, die für die Aufnahme der Prozesse erforderlich sind, ja dann bei einer anderen Firma arbeiten. Entscheidungen zu treffen, nur um damit einem Hype hinterherzulaufen, sollte sich damit natürlich erst einmal von selbst verbieten. Denn das sind sehr teure Entscheidungen.

42 https://de.wikipedia.org/wiki/EU-US_Privacy_Shield 43 205 Mio.

EUR: Bund zahlte 2021 für Mic… | Forum – heise online.

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Unternehmen wie Phoenix Contact, Amazon, SpaceX und Tesla sind Beispiele für Unternehmen, welche a) ein eigenes Qualitätsmanagement im Hause haben und damit selber sicherstellen können, dass ihre Software ausgereift ist und ständig verbessert wird. b) eine eigene Finanzierungsinfrastruktur zur Verfügung haben und nicht von externen Geldgebern abhängig sind. Die Kosten für die Finanzierungsinfrastruktur können damit vermieden werden. Denn mit der Aufnahme von Krediten oder der Ausgabe von Anleihen kommen nicht nur die Kosten für die Zinsen, sondern auch die Ausgaben für Ratingagenturen, welche ihre Anleihen bewerten. c) Benötigen Sie MS Office 365 wirklich?44 Primär wird ein Mail-Programm im Remote- bzw. Homeoffice-Einsatz benötigt, und da gibt es zahlreiche interessante Alternativen, wie bspw. only Office, die es wert sind, dass sie zumindest einmal geprüft werden. Denken Sie bei der Auswahl der Office Suite auch daran, dass nicht nur die Kompatibilität zu MS Office sichergestellt sein muss, sondern auch zu den zahllosen Cloud-Produkten. Only Office unterstützt hierbei die Word-Formate45 und ist damit zu Varianten wie klassischen Open-Source-Office-Lösungen wie „libre office“ oder „open office“ nicht kompatibel. d) Mit Mietlösungen kommt der administrative Aufwand. Sie benötigen hier dann eine Betriebsorganisation, welche in der Lage ist, sowohl die unterschiedlichen Verbräuche an Softwarelizenzen als auch an Server Hardware, Storage-Platz, Bandbreite und all den weiteren Varianten von „as a Service“ genau zu überwachen. Spätestens dann, wenn der erste IT-Mitarbeiter Ihnen seine Kündigung überreicht, weil er kein Controller sein will, müssen Sie daran arbeiten, den administrativen Aufwand in der IT nicht weiter wachsen zu lassen. e) Überarbeiten Sie die Pläne Ihrer Geschäftsführung, auf Big Data zu setzen. Denn in dem Maße, in dem die Prozesse und Veränderungen schneller geworden sind, wurden sie interdependenter und es steigt damit die Komplexität. Während komplizierte Probleme dadurch beherrschbar sind, indem sich eine Person oder eine bestimmte Gruppe von Personen einfach nur besonders anstrengt, funktioniert dieser Ansatz in einer komplexen Welt nicht, denn diese ist weniger vorhersehbar (McCrystal 2022). Diese Unvorhersehbarkeit, so führt McCrystal an dieser Stelle weiter aus, ist grundlegend inkompatibel mit reduktionistischen Modellen, welche auf Planung und Vorhersage basieren. Die neue Umgebung, so McCrystal, erfordert einen neuen Ansatz.

44 Bund:

Microsoft-Kosten seit 2015 fast vervierfacht auf 178 Mio. EUR | heise online. oder LibreOffice? | ONLYOFFICE Blog.

45 ONLYOFFICE

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Anstatt eines Schlussworts – das unbekannte Land, die Zukunft46 In dem gleichen Maße, in dem die Checkliste für digitale Nachhaltigkeit nicht die perfekte Liste liefert, die nur abgearbeitet werden muss, damit alles gut wird, liefern Modelle, die auf Planung und Vorhersage (auch bezeichnet als Business Case) beruhen, auch nicht die perfekten Vorhersagen. Denn hier ist nicht nur zu berücksichtigen, dass die erforderliche Datenmenge, so wie es Stanley McChrystal formuliert, niemals ausreicht, sondern das Problem beginnt bereits bei dem Wissenschaftsparadigma des Göttinger Wirtschaftswissenschaftlers Wilhelm Abel, welches der These des Klimawandels und der Nachhaltigkeit zugrunde liegt. Abel konzentriert sich im Zuge seiner These zur Agrarkrise primär auf Änderungen des Klimas, welche die Lage der Bevölkerung ab dem Beginn und dann mit dem Ausbruch der Pest ab 1347/48 weiter verschlechtert hätten. Aber mit der Zerschlagung des Templerordens 1312 wurden vermutlich Hunderttausende Menschen in Europa arbeitslos. Verschlimmert wurde dann die Lage noch zusätzlich durch die Schlacht von Crécy von 134647, im Jahr vor dem Ausbruch der Pest. In dieser Schlacht starben nicht nur große Teile der politischen Führungsschicht Frankreichs, sondern auch eine große Zahl an Grafenfamilien, die unter dem König von Böhmen den Franzosen zu Hilfe geeilt waren. Das Klima allein war damit nicht allein für die, so Abel, Agrarkrise des 14. Jh. verantwortlich, sondern die Massenarbeitslosigkeit als Folge der Ordenszerschlagung und der Tod der politischen Führungsschicht Mitteleuropas im Rahmen der Schlacht von Crécy. Die Zukunft ist damit das unbekannte Land, das vor uns liegt. Keines der unzähligen Modelle, Methoden und Empfehlungen, welche mittlerweile kursieren, liefert damit den Ansatz, der den Erfolg von vorneherein garantiert. Die Zukunft ist komplex und unvorhersehbar. Schlussendlich muss der Projektmanager damit auf neue Situationen reagieren und dafür auch den notwendigen Entscheidungsrahmen haben, um das digitale Projekt erfolgreich zum Abschluss bringen zu können. Denn was ist nachhaltig? Die European Space Agency hat 2019 mit dem Project Comet Interceptor ein Projekt aufgesetzt, welches zum Ziel hat, einen Satelliten hochzuschicken, der Kometen und Asteroiden einsammeln soll. Zuerst einmal, um sicherzustellen, dass sie nicht auf die Erde fallen. Zum anderen, und da sind wir bei dem Szenario aus „Don’t look up“, die Mineralien dieses Kometen dann auch für die Erde aufzubereiten. Auf der einen Seite „verrückter Wissenschaftskram“, auf der anderen Seite ein Nachhaltigkeitsprojekt. Denn in dem Maße, in dem

46 Kanzler

Gorkon, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Star_Trek_VI:_Das_unentdeckte_Land.

47 https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/1247133.

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Coltan und andere wichtige Rohstoffe im Weltraum abgebaut werden können, werden im Kongo Kinder nicht mehr ausgebeutet.48

Weiterführende Literatur Barber M (1992) Supplying the crusader states: the role of the templars. In: Benjamin ZK (Hrsg) The Horns of Hattin. Jerusalem and London, S 314–326 Big Data wird uns nicht retten: McCrystal S et al. (2020) Team of teams Wie Organisationen ihre Anpassungsfähigkeit in einer komplexen Welt verbessern können, München, S 82 ff Carlowitz HC (1713) Sylvicultura oeconomica. Braun, Leipzig, S 105 Könizer Zeitung (2009) Wir sind bald auf dem Gipfel angekommen! (Memento vom 14. Juli 2010 im Internet Archive). Zugegriffen: Nov 2009. https://web.archive.org/web/20100714061226/ https:/www.danieleganser.ch/assets/files/Inhalte/Rezensionen/Vortraege/Vortrag%20Okt%20 09%20gantrisch_forum Kuhn TS (1962) The structure of scientific revolutions (=International Encyclopaedia of Unified Science). University of Chicago Press, Chicago Mehr Rechtssicherheit wünschenswert, Mador, Luc: Selbst ist die Firma, in: Funkschau, 14. April 2022 Stuermer M, Abu-Tayeh G, Myrach T (2017) Digital sustainability: basic conditions for sustainable digital artifacts and their ecosystems. Sustain Sci 12:247–262. https://doi.org/10.1007/ s11625-016-0412-2 Schottmüller (1887) Der Untergang des Templer Ordens. Mittler und Sohn, Berlin. Schlegel M, Wiedemeier L (1994) Fostering brain drain – data communication in the developing world with special regard to the Situation on the African continent. Communications – The European Journal of Communciation, Saur 1/1994 105–126. https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/comm.1994.19.1.105/html

48 Hierzu,

die Webseite leitet dann auch auf die ESA weiter. https://www.cometinterceptor.space/.

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L. Wiedemeier Ludger Wiedemeier  konzentriert sich seit mehr als 20 Jahren auf den Spannungsbogen zwischen Prozessentwicklung und Umsetzung dieser Prozesse in der IT. Die Vision ist das eine, die Umsetzung der Vision im Unternehmen ist eine ganz andere Herausforderung. Im Spannungsfeld zwischen Lieferkettenproblemen und steigenden Kosten auch noch die Visionen zur Nachhaltigkeit im eigenen Unternehmen umsetzen wird dann spannend. Was tun, wenn die Vision auf Wirklichkeit trifft? Wenn Open Source Software eingesetzt werden soll, die Lieferfirma dann aber ein Betriebskonzept hat, welches den Ansprüchen der ComplianceRegelungen wie NIST, FIS, Basel III oder Dodd Frank nicht gerecht wird? Ludger Wiedemeier ist seit mehr als 20 Jahren als Interim Manager als auch Projektleiter für die Umsetzung von Visionen tätig. Aus Visionen Realität machen, so sein Motto. Aber auch dabei immer in Betracht ziehen, dass sich kurzfristige Aufgaben nur dann lösen lassen, wenn sich die Vision an die Realität anpassen lässt. Ludger Wiedemeier übernahm nach seinem Studium in Deutschland und in den USA zunächst eine Management-Position in einem Konzern in Irland. Seit mehr als zwanzig Jahren leitet er branchenübergreifend Projekte in mittelständischen Unternehmen und internationalen Konzernen rund um die Themen Digitalisierung, IT-Infrastruktur, IT-Sicherheit und IT-Governance. IT verantwortlich zu nutzen, Risiken abzuschätzen, sichere Schnittstellen zu schaffen und IT-Anwendungen in der Praxis so zu gestalten, dass sie beherrschbar bleiben, ist seine Passion. Sein umfassendes Wissen und sein kritischer Blick weit über den technologischen Tellerrand hinaus machen ihn zu einem gefragten Digitalisierungsexperten, der nicht nur die Chancen nutzt, sondern auch die Schwachstellen entdeckt.