Cechovs Kosmos: Theater, Raum und Zeit 9783412215279, 9783412208707

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Cechovs Kosmos: Theater, Raum und Zeit
 9783412215279, 9783412208707

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BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HARDER (†) und HANS ROTHE Herausgegeben von KARL GUTSCHMIDT, roland Marti, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY

Reihe A: slavistische forschungen Begründet von Reinhold Olesch (†)

Band 75

Čechovs Kosmos Theater, Raum und Zeit

von

Wolfgang Stephan Kissel

2012 BÖH LAU V E R L A G K Ö L N WEIM AR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung des Privatfonds Schulze-Thiergen

Wolfgang Stephan Kissel ist Professor für Kulturgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas an der Universität Bremen.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Foto einer Aufführung von Giorgio Strehlers Inszenierung des Kirschgartens, Piccolo Teatro di Milano, 1974. Die Aufnahme wurde veröffentlicht in der Zeitschrift Théâtre en Europe und stammt von Ph. Ciminaghi, vgl. Laurence Senelick, The Chekhov theatre. A century of the plays in performance, Cambridge University Press 1997, S. 269. © 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: xPrint s.r.o., Pribram Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20870-7

Inhalt

Danksagung ..................................................................................... VI Vorbemerkung ................................................................................ VII 1. Mensch und Maske: !echovs Theaterleben .................................. 1 2. Die frühen Farcen: Lachen unter Tränen..................................... 22 3. Der Flug der Möwe: Von der Lebensbühne zum Bühnenleben ................................................................................ 62 4. Vanjas Wirtschaft: Menschenwerk und Naturzerstörung............ 95 5. Blinde Parzen: Zeit und Selbsterkenntnis.................................. 132 6. Die Welt im Monolog: Über die Schädlichkeit des Tabaks ...... 193 7. Kirschblütenträume: Endspiel im Garten Eden ......................... 209 8. Raum und Zeit: Spieler im kosmischen Spiel ........................... 236 Bibliographie ................................................................................. 267 Bibliographische Notiz .................................................................. 277 Register .......................................................................................... 278

Danksagung

Dem Verfasser dieser Monographie ist es eine angenehme Pflicht einigen Personen zu danken. Frau Dr. Marlene Hiller, Stuttgart, war die erste Leserin, von der ich Ermutigung und wertvolle Kritik erfuhr. Mit Herrn Dr. Kai Hochscheid, Dozent für Philosophie an der Hochschule Bremen, führte ich während der Arbeit am Buch regelmäßig Gespräche über den Zeitbegriff, aus denen ich manche Anregung schöpfte. Frau Dr. Yvonne Pörzgen, wissenschaftliche Assistentin am Seminar für Ost- und Mitteleuropäische Studien der Universität Bremen, hat ebenfalls eine frühe Variante gelesen und mir mit kritischen Beobachtungen weitergeholfen. Frau Katharina Bauer, MA, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slavistik der Justus-Liebig-Universität Gießen, hat das Endmanuskript sorgfältig Korrektur gelesen. Prof. em. Dr. Peter Thiergen, Universität Bamberg, hat nicht nur die Aufnahme in die Reihe Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte befürwortet, sondern den Druck der Monographie auch aus den Mitteln des Privatfonds SchulzeThiergen finanziert. All diesen Personen gilt mein aufrichtiger Dank. Einem Menschen kann ich nicht mehr persönlich danken, doch kann ich seiner ehrend gedenken. Die Rede geht von Semen Arkad’evi" Barkan, Theaterpädagoge und Regisseur, in Polock 1916 geboren, in Petrograd/Leningrad aufgewachsen, die meiste Zeit seines Lebens tätig an Theatern in Moskau, von 1994 bis zu seinem Tod 2010 in Bremen ansässig. Obwohl es ihn erst im vorgerückten Alter nach Deutschland verschlug, fand er die Kraft, ein Theater zu gründen und während der anderthalb Jahrzehnte, die ihm noch vergönnt waren, mit jugendlicher Begeisterungsfähigkeit und unermüdlichem Einsatz in ein Zentrum russischer Kultur außerhalb Russlands zu verwandeln. Ich hatte das Glück, an einigen Aufführungen mitzuwirken und so einen neuen Blick auf das Theater und das Schauspielen zu gewinnen. Die gemeinsame Arbeit am Monolog Über die Schädlichkeit des Tabaks von 2002-2005 gab einen wichtigen Anstoß, meine Beobachtungen zu den Dramen !echovs in einem Buch zu verdichten. Wolfgang Stephan Kissel, Bremen im Mai 2012

Vorbemerkung

Diese Monographie sucht anhand genauer Lektüren, die immer auch auf den russischen Originaltext zurückgreifen, einen neuen Zugang zur Gesamtheit der Dramen Anton !echovs und zu ihrer inneren Einheit. Sie berücksichtigt, soweit es für die Argumentation notwendig und sinvoll erschien, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Literatur, aber sie wendet sich nicht nur an Spezialisten, Slavisten oder Literaturwissenschaftler, sondern mindestens ebenso an Theaterliebhaber und Theatermacher. Sie will diesen Lesern im günstigsten Fall auch als Führer durch die Landschaft der Dramen dienen. Daher wurde im Haupttext die bekannte, leicht zugängliche und auf vielen Bühnen erprobte Übersetzung von Peter Urban verwandt, während der russische Originaltext nach der Akademieausgabe in Fußnoten angeführt wird. Wie bei allen Übersetzungen großer Literatur sind andere Lösungen denkbar und auch von unterschiedlichen Übersetzern in neueren Übersetzungen versucht worden. Urbans Übersetzung bietet jedoch den Vorzug eines einheitlichen Entwurfes für das gesamte Dramenwerk. Für die Wiedergabe russischer Namen, Begriffe und Buchtitel wurde konsequent die übliche wissenschaftliche Transliteration verwandt, die in einigen wenigen Fällen von der Transliteration in Urbans Übersetzungen abweicht. Schließlich wurde der Index um ein Verzeichnis der fiktiven Figuren erweitert, das interessierten Lesern eine leichtere Orientierung in den Werken ermöglichen soll.

1. Mensch und Maske: !echovs Theaterleben

I Die Dramen Anton !echovs werden heute auf allen Bühnen der Welt aufgeführt, !echovs Präsenz stellt nicht nur alle anderen russischen Dramatiker in den Schatten, er übertrifft an Einfluss und Wirkung viele westliche Dramatiker, die noch vor wenigen Jahrzehnten unsere Bühnen beherrschten. Nicht nur im deutschen, englischen, französischen, tschechischen oder polnischen Theater haben die Dramen sich durchgesetzt, auch außerhalb Europas, z.B. in China und Japan lassen sich Die Möwe, Onkel Vanja, Drei Schwestern und Der Kirschgarten nicht mehr aus dem Repertoire fortdenken.1 Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben mehrere Generationen von Regisseuren versucht, sich die Ausdruckssprache dieser Dramen anzueignen und ein großes Spektrum an sehr verschiedenartigen Interpretationen erarbeitet.2 Eine Richtung der Inszenierungen betont die Nähe zum Realismus oder Naturalismus, eine andere zum Symbolismus, ein dritte zur Groteske oder zum absurden Theater, wieder andere versuchen sich in einer radikalen Aktualisierung im Sinn von Postmoderne oder Popkultur.3 Nicht von ungefähr fällt eine besonders intensive Phase der Auseinandersetzung in die zweite Hälfte und mehr noch in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts, eine Epoche, in der das Vertrauen auf technischen 1 2

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Vgl. J. Douglas CLAYTON (Ed.), Chekhov Then and Now. The Reception of Chekhov in World Culture. New York 1997. Vgl. Laurence SENELICK, The Chekhov Theatre. A century of the plays in performance. Cambridge 1997 und ders. Chekhov and the bubble reputation. In: J. Douglas CLAYTON (Ed.), Chekhov Then and Now, S. 5-18. Senelick legt ausführlich dar, dass in Russland bzw. der Sowjetunion die Aufführungspraxis lange Zeit unter dem zweischneidigen Einfluss Stanislavskijs stand, er zeigt aber auch, wie in den siebziger und achtziger Jahren jüngere Regisseure wie Anatolij #fros oder Oleg Efremov neue Wege gesucht und gefunden haben. Die !echov-Rezeption und -aufführungspraxis der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist mit führenden Regisseuren verbunden und markiert bis heute in den verschiedenen nationalen Theaterkulturen eine Zäsur. Man denke für Italien an Giorgio Strehler, für Frankreich an Jean-Louis Barrault, Peter Brook (als englischer Regisseur, der in Frankreich bzw. Paris gearbeitet hat), Alain Françon oder Stéphane Braunschweig, für das tschechische Theater und besonders für Prag an Otomar Krej"a (der eine europäische, wenn nicht weltweite Ausstrahlung erreichte), für das deutsche Theater an die Inszenierungen von Rudolf Noelte, Peter Stein, Peter Zadek, Jürgen Gosch. In Japan hat Tadashi Suzuki eine eigene !echov-Interpretation begründet. Zur besonderen Affinität japanischer Schriftsteller zu !echov vgl. Evgeny STEINER, The reception of Chekhov in Japan, in: J. Douglas CLAYTON (Ed.), Chekhov Then and Now, S. 191-200.

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!echovs Theaterleben

Fortschritt und unbegrenztes Wachstum der Sorge um den Erhalt der natürlichen Grundlagen der menschlichen Zivilisation gewichen ist. Die Präsenz auf nahezu allen Bühnen der Welt, die Vielfalt der Deutungen und deren Nähe zu den drängenden Fragen der Gegenwart ist die erste, sichtbarste Schicht von !echovs Welttheater.4 Das schmale Textkorpus der vier Meisterdramen, der Monologe und Einakter täuscht jedoch leicht darüber hinweg, dass !echovs Theater noch in einem anderen Sinn Welttheater ist. Das gesamte dramatische Werk !echovs lässt sich mit Gewinn nach der theatrum mundi-Metaphorik lesen, die in der Antike entstanden ist, im christlichen Mittelalter in ihrer heutigen Gestalt geprägt und schließlich im Barocktheater zu einer umfassenden Weltdeutung erweitert wurde.5 Nach dieser Auffassung ist die ganze Welt ein einziges unablässiges Schauspiel, in dem jeder Mensch eine Rolle zu spielen hat, bis der Tod sein Spiel beendet.6 Das Spiel auf der Bühne lässt die Stellung des Menschen in einem großen Weltgefüge, einer kosmischen Ordnung sinnfällig werden.7 Da Menschsein von seiner Anlage her auf das Agieren vor und mit anderen angewiesen ist, kann keine Kunst es so tief erfassen wie das Theater, das die Spieler und ihr Zusammenspiel in den Blick der Zuschauer bringt. Entscheidend ist also die Analogie zwischen Theater als Kunstform und Welt als Theaterspiel.8 In der Antike verwendeten vor allem Philosophen oder Philosophie treibende Schriftsteller die Schauspiel-Metaphorik.9 Für die Polis Athen 4 5

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Vgl. Boris ZINGERMAN, Teatr !echova i ego mirovoe zna"enie. Izdanie vtoroe, dopolnennoe. Moskva 2001. Für eine diachrone Übersicht vgl. den Eintrag J.M. GONZÁLEZ GARCÍA / Ralf KONERSMANN, Theatrum mundi. In: Joachim RITTER / Gottfried GRÜNDER / Gottfried GABRIEL (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. X. Basel 1998, S. 10511054. Vgl. Franz LINK, Götter, Gott und Spielleiter, in: ders. / Günther NIGGL (Hg.), Theatrum Mundi. Götter, Gott und Spielleiter im Drama von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 1981, S. 1-49. Hans Urs von BALTHASAR, Theodramatik. Erster Band: Prolegomena, Einsiedeln 1973, vgl. insbesondere: Der Topos Welttheater, S. 121-238. Ralf KONERSMANN, Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik. Frankfurt am Main 1994, S. 85 f. verweist auf „eine besondere Eigenschaft der Theatermetaphorik: sie ist allumfassend und totalitär. Es gibt nichts, was sich nicht als Veranstaltung eines Bühnenspektakels auffassen ließe, und das gilt nicht zuletzt auch für das Gewahrwerden und Aussprechen dieser Einsicht selbst.“ Ernst Robert CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Neunte Auflage. Bern 1978, S. 148-154 stellt eine Übersicht über „Schauspielmetaphern“ in Antike, Mittelalter, Barock und Neuzeit zusammen. Dabei führt er u. a. Belege aus Platon, Seneca, Epiktet, Plotin, Boethius und Augustinus an. Zur neueren Aufarbeitung von Ideengeschichte und Tradition des Topos vgl. Lynda G. CHRISTIAN, Theatrum Mundi. The History of an Idea. New York 1989.

Mensch und Maske

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erlangten das Theater und insbesondere die Tragödie im 5. Jahrhundert v. Chr. zentrale Bedeutung. Die jährliche Aufführung der neuen Tragödien an den Städtischen Dionysien war ein Höhepunkt attischer Kultur und erinnerte die Zuschauer, die freien Bürger der Polis, an die Grundlagen ihres Gemeinwesens. Die Tragödienautoren, unter denen die Trias Aischylos, Sophokles und Euripides hervorragt, formten die alten Mythen über Hybris, Bruderzwist und Familienfehden zu strengen Bühnenkunstwerken um. So konnten Ritual, Kultus und Mythos im performativen Akt der Tragödie zusammenwirken und die Botschaft übermitteln, dass Gewalt und Chaos der Vorzeit überwunden werden mussten, um eine stabile politische Ordnung zu begründen. In diesem Kontext fanden Theatermetaphern über die Institution des Theaters hinaus Verbreitung und dienten als prägnante Formeln für das perfekte Zusammenspiel der Bürger und ihrer Institutionen. Platon war der erste Denker, der eine theatrum mundi-Metaphorik in diesem Sinne einsetzte.10 Im siebten Buch der Gesetze geht die Rede von einer idealen politischen Ordnung, die von der Gemeinschaft freier Bürger geschaffen wird– ein kollektives Kunstwerk, das in der Wirklichkeit gegen alle Anfechtungen fortdauert und über aller Kunst steht.11 Im ersten Buch der Gesetze heißt es ferner, die Götter hätten die Menschen als „Marionetten zu ihrem Zeitvertreib oder für ernste Zwecke gefertigt“.12 Damit wird der Wirkungsradius der Metapher weit über die Polis hinaus auf den Kosmos und das Verhältnis Götter und Menschen ausgedehnt. Im hellenistischen Griechenland und im Imperium Romanum ist es vor allem die philosophische Schule der Stoa, die die Metaphorik weiterentwickelt.13 Die Trias der Ataraxia, der Unerschütterlichkeit, der Apathia, der Unempfindlichkeit gegen Schmerz, und der Autarkia, der geistigen Unabhängigkeit, soll den Weisen in die Lage versetzen, gegenüber dem Welttheater und seiner eigenen Rolle eine Beobachterposition einzunehmen. In der jüngeren Stoa setzt Seneca die Metapher in seinen Epistulae morales mit mahnendem Unterton ein: „(...) dieses Drama des menschlichen Lebens, das uns Rollen, die wir schlecht spielen, zuweist.“14 Es kommt gerade darauf an, sich einen Überblick über das Weltenschauspiel zu verschaffen, um mit Gleichmut auf 10 11 12

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Vgl. CHRISTIAN, Theatrum Mundi, S. 4-11. PLATON, Nomoi Buch VII, 817 b-d: „eine Darstellung des schönsten und besten Lebens, die einzige, wahre Tragödie.“ Vgl. dazu CHRISTIAN, Theatrum Mundi, S. 5-6. Vgl. Platons Nomoi Buch I, 644 d-e: „Denken wir uns ein jedes von uns lebenden Wesen als eine Marionette der Götter, mag sie nun als Spielzeug für diese oder zu irgendeinem ernsten Zweck zusammengesetzt worden sein; (...).“ Zur Stoa vgl. CHRISTIAN, Theatrum Mundi, S. 11-23. Vgl. SENECA, Ad Lucilium. Epistulae morales, 87,7: „hic humanae vitae mimus, qui nobis partes, quas male agamus, adsignat.“ Die intensive Seneca Rezeption in der frühen Neuzeit macht die Epistulae auch zu einer Quelle von theatrum mundiMetaphorik für Autoren wie Montaigne.

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!echovs Theaterleben

alle Herausforderungen reagieren zu können und auch den Tod nur als unausweichlichen letzten Akt eines Dramas anzusehen. Ist die Würde des Weisen bedroht, so muss er in der Lage sein, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Senecas Suizid geht als letzter Beweis für die Gültigkeit seiner Philosophie in die Geschichte ein. Marc Aurel musste als römischer Imperator im zweiten nachchristlichen Jahrhundert eine „vita activa“ an der Spitze der sozialen und politischen Hierarchie führen. In einem Notizbuch legte er sich Rechenschaft über sein alltägliches Tun ab und griff auf Techniken der stoischen Selbstbefragung und Selbstkritik zurück. In den Selbstbetrachtungen taucht die theatrum mundi-Metaphorik vor allem auf, wenn es um die Ausbildung einer Grundhaltung der Unerschütterlichkeit gegenüber Zeit, Vergänglichkeit und Tod geht.15 Im dritten nachchristlichen Jahrhundert integrierte der Neoplatoniker Plotin die Vorstellung von der Welt als Theater in sein philosophisches System des Alleinen, des Henkaipan.16 Der Besuch des Theaters gewährt uns nach Plotin Einblick in den Logos, der das Universum geschaffen hat und erhält. Erkennt der Betrachter des Kosmos, dass er nur in einem großen Schauspiel als Maske (griech. prosopon, lat. persona) agiert, so kann er leichter Distanz gegenüber dem chaotischen, katastrophischen Geschehen bewahren.17 Vergleichen wir unsere Rolle auf der Lebensbühne mit der Maske des Schauspielers, so können wir uns von unserer Verhaftung an das eigene Leben einen Moment lösen, in Distanz zu uns selbst treten und uns als Akteur unter Akteuren betrachten. Der Blick auf Plotin erhellt noch einmal, dass die antike und spätantike Schauspielmetaphorik eingebunden ist in eine Philosophie der Lebensführung oder Lebensanleitung. Die jüngere Stoa, Seneca und Marc Aurel und der Neoplatonismus Plotins integrieren das überall herrschende agonale Prinzip, die fortwährende Verdrängung von Lebewesen durch andere Lebewesen, Kriege, Naturkatastrophen und nicht zuletzt Sterblichkeit und Tod in ein alles umfassendes kosmisches Schauspiel, um dem Erkennenden oder Weisen einen Weg zur inneren Ruhe zu zeigen.

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Spätere Herausgeber haben diesen Notaten den griechischen Titel Ta eis heauton bzw. lateinischen Titel Ad se ipsum gegeben. Vgl. Marc AUREL, Wege zu sich selbst. Markou Antoninou Autokratoros Ta eis heauton, herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel. 2. Auflage. Darmstadt 1998. Zum Stand der Forschung vgl. Pierre HADOT, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. Berlin 1991 sowie Pierre HADOT, La citadelle intérieure. Introduction aux Pensées de Marc Aurèle. Paris 1992. Plotins Vergleich von Weltgeschehen und Bühnenspiel findet sich in Abschnitt 15 und 16 der dritten Enneade. Vgl. PLOTINUS, Ennead III. With an English Translation by A. H. Armstrong. Cambridge / Massachusetts / London 1999, S. 88-107. Zu Plotin im Kontext spätantiker Skepsis vgl. Markus GABRIEL, Skeptizismus und Idealismus in der Antike. Frankfurt am Main 2009, insbesondere S. 306 ff.

Mensch und Maske

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In der Spätantike deuteten die Kirchenväter Tertullian und Augustinus den Topos christlich um. Während für die paganen Philosophen das Schwergewicht der Metaphorik eindeutig auf dem angemessenen Verhalten, dem Zusammenspiel von Bürgern in der Polis oder im Staat, bzw. der Stellung des Menschen im Kosmos lag, betonten die christliche Autoren Trug und Täuschung, Eitelkeit und Hochmut des Weltschauspiels.18 Für den Christen ist das irdische Leben nur ein vergängliches Schauspiel, das wirkliche Leben wartet auf ihn nach dem Tod. Gegen Ende der Spätantike erlebte das Theater als pagane Institution einen Niedergang, die Theatermetapher verschwand für fast sieben Jahrhunderte aus der Literatur. Erst Johannes von Salisbury knüpfte im hohen Mittelalter an seine antiken Vorgänger an und prägte in seinem Policraticus (1159) die lateinische Formel theatrum mundi.19 Das Barockzeitalter hat diese Formel dann zu einem Welttheater, zu einer großen Daseinsallegorie entfaltet. Das Barocktheater war theozentrisch, d.h. ausgerichtet auf den christlichen Gott als Autor und Regisseur des Dramas und als Schöpfer der Figuren. Welt und Bühne, Mensch und Schauspieler, Gott und Regisseur werden in Parallele gesetzt. Beispielhaft steht dafür Gott als Richter auf der Bühne, das Weltgericht lief als Drama vor den Augen der Zuschauer ab. Das Wesen des Schauspiels und der conditio humana führen kann. In Spanien verfasste Calderón de la Barca um 1635 ein „auto sacramental alegórico“, ein allegorisches einaktiges Drama für die Fronleichnamsprozession mit dem Titel Das Große Welttheater / El gran teatro del mundo, das eine streng hierarchische Weltordnung inszeniert, die in oben und unten, Himmel und Erde, Schöpfer und Welt unterteilt ist.20 In der ersten Szene tritt der Schöpfer im Sternenmantel und mit Strahlenkrone auf und blickt wohlgefällig

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CHRISTIAN, Theatrum Mundi, S. 34-41, sowie Hans Urs von BALTHASAR, Theodramatik. Erster Band: Prolegomena. Einsiedeln 1973, S.81-112 „Kirche und Theater“. Vgl. CHRISTIAN, Theatrum Mundi, S. 63-70. Schon CURTIUS, Mittelalter, S.149 f. weist auf die Schlüsselstellung des Johannes von Salisbury für die Weitergabe der Metapher im hohen Mittelalter hin. CURTIUS, Mittelalter, S. 152 hebt die Besonderheit des theozentrischen Theaters Calderóns hervor: „Calderón ist der erste Dichter, der das von Gott gelenkte theatrum mundi zum Gegenstand eines sakralen Dramas macht. Der tiefsinnige Gedanke, den Platon einmal hinwarf und der in der ungeheueren Fülle seines Werkes wie verloren ruht; der dann aus dem Theologischen ins Anthropologische gewendet und moralisch trivialisiert wurde – erfährt eine leuchtende Palingenesie im katholischen Spanien des 17. Jahrhunderts. Die Schauspielmetapher, gespeist von antiker und mittelalterlicher Tradition, kehrt in ein lebendiges Theater zurück und wird Ausdrucksform für eine theozentrische Auffassung des Menschenlebens, die weder das englische noch das französische Schauspiel kennt.“

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!echovs Theaterleben

auf die „Herrliche Einrichtung / der vielgestaltigen unteren Architektur“.21 Danach werden die Schauspieler auf die Bühne gerufen, die keine individuellen Personen, sondern Rollen zu verkörpern haben, die heißen: König, Schönheit, Weisheit, Reicher, Bauer, Armer, Kind. Das göttliche Gesetz schreibt den Akteuren vor, wie sie die Rolle, die der Schöpfer ihnen angewiesen hat, ausfüllen können, doch die Ausführung liegt bei den Spielern, während des Auftritts haben sie die Freiheit, ihre Rolle zu spielen, wie sie wollen. Wieder und wieder singt das Gesetz die Mahnung: „Obrar bien, que Dios es Dios.“22 Da der christliche Gott mit sich selbst vollkommen identisch, die Quelle des Seins und des Guten ist, ergibt sich aus dem göttlichen Wesen das Gebot, sittlich verantwortungsvoll zu handeln und u.a. den Armen zu spenden. Calderóns auto sacramental feiert mit einem irdischen Schauspiel die unerschütterliche göttliche Ordnung. Der allmächtige und allwissende Gott lässt dem Menschen die Freiheit, sich gegen das göttliche Gebot zu entscheiden. Zur Verherrlichung des göttlichen Gesetzes bedarf es der Willensfreiheit des Menschen, er kann sich zu Gott bekennen oder sich von ihm abwenden. Nur vor dem Hintergrund der Willensfreiheit erhält das Weltgericht vom „auto sacramental“, vor den Gläubigen inszeniert, seine ganze Bedeutung. Die christliche Sündenlehre liefert den poetologischen Subtext dieser Weltgerichtsdramatik. Die sieben Todsünden avaritia / Geiz, invidia / Neid, ira / Zorn, gula / Völlerei, luxuria / Wohlleben, superbia / Hochmut und acedia / Trägheit des Geistes werden im Fehlverhalten der Schauspieler vor- und später dem Urteil Gottes zugeführt. Nicht zuletzt die christliche Tugend- und Lasterlehre mit der Warnung vor der Verführung durch Geld und Luxus bleibt präsent. Die Zuschauer des Welttheaters sollten Trost und Sicherheit in dem Gedanken finden, dass Gott als allwissender Regisseur des Weltenspiels das Ende des Stückes bereits kenne. Die theatrum mundi-Vorstellungen des Barockzeitalters blieben nicht auf die Bühne beschränkt, sondern prägten die gesamte Lebenswelt: An den Höfen Europas wurde das Welttheater inszeniert, vielbändige Weltgeschichten wurden unter dieser Bezeichnung veröffentlicht, auf Jahrmärkten waren Belustigungen sehr beliebt, bei denen das Weltgeschehen explizit als „theatrum mundi“ auch dem einfachen Volk zur Unterhaltung und Belehrung dienen konnte.23 21

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Pedro CALDERÓN DE LA BARCA, El gran teatro del mundo. Das Große Welttheater. Übersetzt und herausgegeben von Gerhard Poppenberg. Stuttgart 2009, darin das Nachwort des Herausgebers: Rolle und Freiheit – die Zeit des Spiels im Welttheater, S. 147-167. Zum ersten Mal findet sich diese Mahnung im 1. Akt, Vers 438, später wird das Gesetz sie den Schauspielern mehrfach ins Gedächtnis rufen. Zur Omnipräsenz der Welttheater-Vorstellung in Alltagskultur und Lebenswelt des Barockzeitalters vgl. auch Richard ALEWYN, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. München 1985.

Mensch und Maske

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Doch gibt es innerhalb der europäischen Literaturen auch einen anderen Strang, schon eine Generation vor Calderón durchbricht Shakespeares Theater um 1600 die Theozentrik des Barock; die Skepsis und Melancholie des Protagonisten Hamlet lassen eine Erosion christlicher Heilsgewissheit erahnen. Im Hamlet ist Schauspielerei als ars dissimulationis, als Kunst der Verstellung, auch eine höfische Überlebenstechnik, eine Distanzierungsstrategie, die es erlaubt, auf dem Theater der Welt zu bestehen, weil man das theatrum internum, die Bühne, auf der die inneren Konflikte ausgetragen werden, geschickt verbirgt. Das Theater im Theater, die Verdopplung der Theatralität stellt den Höhepunkt der Tragödie und ihrer Intrige dar und enthüllt zugleich eine tiefere Wahrheit über das menschliche Schauspiel. Damit hatte der Autor den Nerv seiner Epoche getroffen, denn das im Jahr 1599 errichtete Globe Theatre, Zentrum und Inbegriff der Theaterkultur der Elisabethanischen Epoche, zierte der Sinnspruch: „Totus mundus agit histrionem.“ / „Jedermann handelt wie ein Schauspieler.“24 Auf der Bühne des Globe der Melancholiker Jack aus der Komödie As you like it formuliert dieses Weltbild in einem längeren Reflexionsmonolog: „All the world’s a stage.“25 Im Laufe des 18. Jahrhunderts erschüttern die europäischen Aufklärungsvarianten und ihre Säkularisierungsschübe die christliche Weltordnung und demontieren Zug um Zug den Glauben an einen allmächtigen Gott, der über das einzelne Leben wacht und zum Schluss alles Leid und alle Ungerechtigkeit in einem Weltgericht ausgleichen kann. Das Fundament für ein theozentisches Drama löst sich auf, doch verschwindet die Metaphorik des Welttheaters nicht einfach, sie erfährt vielmehr einen tiefgreifenden Wandel, der bis in die Moderne andauert.26 An die Stelle Gottes treten anonyme Mächte, diese Verschiebung öffnet der Metapher neue Bedeutungsfelder und -potentiale.27 Ohnehin gibt es keine geradlinige Entwicklung von einem theozentrischen Welttheater, das Gottes Wirken in den Mittelpunkt stellt, zu einem anthropozentrischen, das nur noch den Menschen in dieser Welt kennt. Schon in vielen antiken Texten blieb offen, ob ein Gott, Götter, die Zeit oder der Zufall als Auto-

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Vgl. CURTIUS, Mittelalter, S. 150-151, der nachweist, dass das Motto des „Globe Theatre“ leicht verändert aus dem Policraticus übernommen wurde. As you like it, Act II, Scene VII: „All the world’s a stage./ And all the men and women merely players:/ They have their exits and their entrances; and one man in his time plays many parts,/ His acts being seven ages.“ Vgl. Irene PIEPER, Modernes Welttheater. Untersuchungen zum Welttheatermotiv zwischen Katastrophenerfahrung und Welt-Anschauungssuche bei Walter Benjamin, Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal und Else Lasker-Schüler. Berlin 2000. Zur Übertragung des Modells auf verschiedene Kontexte vgl. Joseph M. GONZÁLEZ GARCÍA, Zwischen Literatur, Philosophie und Soziologie: Die Metapher des ‚Theatrum mundi‘, in: Christiane SCHILDKNECHT und Dieter TEICHERT (Hg.), Philosophie in Literatur. Fankfurt a. M. 1996, S. 87-108.

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!echovs Theaterleben

ren und Regisseure der Stücke fungieren, die von den Menschen aufgeführt werden.28

II !echovs Dramen entstehen in der russischen Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die noch vom russisch-orthodoxen Christentum maßgeblich geprägt ist, aber das Welt- und Menschenbild des Autors steht mit dieser Prägung schon nicht mehr in Einklang, es gehört einer Epoche an, in der sich ein rascher, tiefgreifender Wandel der sozialen Beziehungen, der Lebensrhythmen, der Wertvorstellungen vollzieht.29 !echov war diesem Wandel auf Grund seiner Herkunft und seines Bildungsweges besonders stark ausgesetzt: er stammte aus der tiefsten Provinz, aus Taganrog am Azovschen Meer, war Enkel eines Leibeigenen, Sohn eines Gemischtwarenhändlers, der Bankrott machte und es bald darauf dem mittleren Sohn überließ, mit seinen literarischen Skizzen und Farcen die Familie zu ernähren.30 Der Aufstieg des Gymnasiasten und Medizinstudenten aus beschränkten Verhältnissen zu einem der größten Schriftsteller Russlands lässt sich nur zum Teil mit seinem einzigartigen literarischen Talent, seinem außergewöhnlichen Fleiß, seinem Bildungshunger, seinen vielseitigen Interessen, seiner intellektuellen Unabhängigkeit erklären, auch für seine besten Biographen besteht ein undurchdringliches Geheimnis um seine Person. Bei aller freundlichen Anteilnahme, bei allem sozialen und philanthropischen Engagement war er zu einer absolut kalten Beobachtung imstande. Eine gewisse Unnahbarkeit und Verschlossenheit bewahrte sich !echov bis an sein 28

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Für Ernst Robert Curtius knüpfte Das Große Salzburger Welttheater Hugo von Hofmannsthals in einer Ära der Katastrophen und des Wertezerfalls erfolgreich an die mittelalterliche katholische Tradition an und begründete so das theozentrische Welttheater Calderóns neu, vgl. CURTIUS, Mittelalter, S. 152-154. Doch jüngere Detailuntersuchungen haben entgegengesetzte Ergebnisse zu Tage gefördert, vgl. z.B. Peter MICHELSEN, Das ‚Große Welttheater‘ bei Calderón und Hofmannsthal, in: Pedro Calderón de la Barca. Vorträge anläßlich der Jahrestagung der Görres-Gesellschaft 1978 herausgegeben von Theodor Berchem und Siegfried Sudhof. Berlin 1983, S. 2947, dort S. 40: „Eine Gegenwart Gottes – wie sie im Mysterium der Eucharistie, in das Calderóns Auto einmündet, Ereignis wird – ist für die Menschen des Hofmannsthalschen Welttheaters an keiner Stelle gegeben.“ Manche Autoren greifen für diesen Wandel auch auf den Begriff „postmetaphysisch“ zurück, also eine Zeit nach dem Ende der metaphysischen Tradition, die mit Platon beginnt und bis zu Kant und Hegel reicht. Zur Problematik des Begriffs „postmetaphysisch“ vgl. z.B. Theo KOBUSCH, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. 2. Auflage. Darmstadt 1997. Zur Kindheit und Jugend vgl. Alevtina P. KUZI!EVA, !echov. $izn’ „otdel’nogo "eloveka“. Moskva 2010, S. 6-50 und Donald RAYFIELD, Anton Chekhov. A Life. London 1997, S. 3-69.

Mensch und Maske

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Lebensende, so dass viele Zeitgenossen sogar von einem Leben hinter der Maske sprachen. Vielleicht ist !echov der am wenigsten bekannte unter den 31 herausragenden russischen Schriftstellern. Bei der Entwicklung dieser Eigenschaften spielte das Theater eine in jeder Hinsicht entscheidende Rolle. Noch vor aller weltlichen Theatererfahrung und Theaterpraxis machte er schmerzhafte Erfahrungen mit dem „Kultdrama“ des russisch-orthodoxen Gottesdienstes.32 Über lange Jahre mussten die drei ältesten Söhne der !echov-Familie als Sänger an den frühmorgendlichen Gottesdiensten teilnehmen, der streng gläubige Vater trieb sie oft genug unter Schlägen in die Kirche.33 Die erzwungene Teilnahme an der orthodoxen Liturgie und die Gewalt im Elternhaus hinterließen unauschlöschliche Spuren in der Psyche !echovs, noch den erwachsenen Mann kostete es große Überwindung, davon zu sprechen. So erstaunt nicht, dass er zur orthodoxen Kirche und ihrer Botschaft auf große Distanz ging: Von der Religion sei ihm nur der Klang der Osterglocken geblieben, äußerte er gegenüber seinem Schuldfreund, dem späteren Schauspieler Aleksandr Vi%nevskij.34 Diese Bemerkung weist jedoch in eine Richtung, die für das theatrum mundi-Modell wichtig ist. Gerade die Wirkung des Kultdramas in Gestalt des Glockenklangs, des Chorgesangs, der Musik und des Kirchenslavischen dauerte an. !echov wurde nicht zu einem offenen Feind der Kirche oder der Religion, sondern nahm ihr gegenüber die Position eines distanzierten Beobachters ein. Er stellte die grundlegende orthodoxe Prägung der russischen Kultur seiner Zeit nicht in Abrede, vielmehr machte er sie zu einem der Gegenstände, der Themen seiner Erzählungen und Theaterstücke.35 Noch eine

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Seine russische Biographin Alevtina Kuzi"eva hat ihrer Darstellung den Untertitel „Das Leben eines einzelnen Menschen“ gegeben. Zum Kultdrama vgl. BALTHASAR, Theodramatik, S. 96-100 „Vom Mysterium zum Drama“, insbesondere S. 96: „Das Kultdrama, die Liturgie mit der Eucharistie als Zentrum und ihrer Entfaltung durch das Kirchenjahr – für die Ostkirche bis heute der Quellpunkt allen christlichen Lebens – entfaltet im Westen theatralische Möglichkeiten, die zu erlebnismäßiger Aktualisierung verhelfen.“ Vgl. RAYFIELD, Chekhov, S. 13 ff. Ebd., S. 14. Zur Gewalt in der Familie vgl. Aleksandr A. IZMAJLOV, !echov. Biografija. Moskva 2003 (Originalausgabe 1916), S. 20 f. Grundlegend für eine neue Sicht von !echovs Verhältnis zum Christentum und insbesondere zum russisch-orthodoxen Christentum ist die Studie von Savelij SENDEROVI!, !echov – s glazu na glaz. Istorija odnoj oder&imosti A P. !echova. Opyt fenomenologii tvor"estva. Sankt-Peterburg 1994. Sie verfolgt die Transformation der Legende vom Heiligen Georg in einer langen Reihe von Erzählungen und weist die „Obsession“ des Autors durch die Figur und das Wirken des Heiligen nach. Weiterhin zu diesem Themenkomplex Julie W. de SHERBININ, Chekhov and Christianity. The Critical Evolution. In: J. Douglas CLAYTON (Ed.), Chekhov Then and Now. The Reception of Chekhov in World Culture. New York 1997, S. 285-299 sowie dies.,

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seiner letzten Erzählungen mit dem Titel Der Bischof über das Sterben eines hohen orthodoxen Würdenträgers zeugt von genauer Kennerschaft der orthodoxen Alltagskultur und Lebenswelt, der Hierarchie der Geistlichkeit, vor allem aber der russisch-orthodoxen Liturgie und ihrer starken ästhetischen Wirkung. Wie in vielen Erzählungen, so ist auch in allen großen Dramen eine Schicht biblischer Bilder, Anspielungen oder Zitate vorhanden. So ist z.B. Der Kirschgarten ohne den reichen Fundus an Bildern über den Garten Eden, die Vertreibung aus und die Sehnsucht nach dem Paradies nicht zu verstehen. Die Entdeckung des Theaters geht auf seine Gymnasialzeit in der Provinzstadt Taganrog am Azovschen Meer zurück, sie bedeutete für !echov die Befreiung vom Zwang des Elternhauses und der Kirche. Weitaus mehr als das altsprachliche Gymnasium war das Theater die Bildungsinstitution seiner Jugend.36 Während ihn der Drill in den alten Sprachen anödete, erlebte er das Theater als Brücke in eine fremde Welt, die ihn aus der Enge der Provinz herausführte. Taganrog hatte auf Grund seiner wohlhabenden, kosmopolitisch nach Griechenland und der Levante hin ausgerichteten Kaufmannschaft ein Theater- und Musikleben weit über dem Niveau, das man von einer Provinzund Hafenstadt am Rande des Zarenreiches hätte erwarten können. Nicht nur die beliebten Vaudevilles französischer Prägung, unterhaltsame Farcen und Einakter gab es zu sehen, sondern auch Oper und Operette, etwa Jacques Offenbachs komische Oper („opéra-bouffe“) La Belle Hélène, aus der !echov Anregungen für seine Farcen und Komödien schöpfte.37 Schließlich bot Taganrog Stücke des klassischen russischen und europäischen Theaters, die Dramen Griboedovs und Gogol’s, vor allem aber die wichtigsten Tragödien Shakespeares. Auf den jungen !echov übte dieses Repertoire eine starke Wirkung aus. Zu Hause spielte er die gesehenen Stücke nach und dachte sich eigene aus, die Familie diente als Publikum und Partner. Sein erstes großes Stück schrieb er mit 18 Jahren, wahrscheinlich gibt es aber schon frühere Versuche mit Farcen und Einaktern.38 Durch Nikolaj Gogol’s Vermittlung wirkte die Kultur des ukrainischen Barock auf den jungen !echov ein.39 Im Theater von Taganrog sah er zum ersten

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Chekhov and Russian Religious Culture. The Poetics of the Marian Paradigm. Evanston / Illinois 1997. Vgl. RAYFIELD, Chekhov, S. 27 ff. Vgl. Laurence SENELICK, Offenbach and Chekhov; or, La Belle Elena, in: Robert Louis JACKSON (Ed.), Reading Chekhov’s Text. Evanston / Illinois 1993, S. 201-213. Zu den schauspielerischen Fähigkeiten und der Theaterbegeisterung !echovs vgl. IZMAJLOV S. 35 ff. Wie intensiv Gogol’ u.a. als Schüler auf dem Gymnasium von Ne&in barocke Architekur erlebte, zeigt Gavriel SHAPIRO, Nikolai Gogol and the Baroque Cultural Heritage. Pennsylvania State University Press 1993, S. 11-23. Viele Verwandte Gogol’s wurden an der Kiever Akademie, einem Zentrum barocker und jesuitischer

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Mal Gogol’s Revizor, eine Verwechslungskomödie um den kleinen Beamten Chlestakov, den die korrupten Honoratioren einer Provinzstadt für den Revizor halten, einen Beamten, der ihr Geschäfts- und Verwaltungsgebaren im staatlichen Auftrag überprüfen soll, dessen Kommen ihnen angekündigt wurde und den sie nun ihrerseits auf jede nur erdenkliche Weise günstig zu stimmen suchen.40 Auf der Ebene des Sujets geht es um Bestechlichkeit und Unfähigkeit in der russischen Provinz, wie manche Kritiker meinten, um die Verkommenheit und Verlogenheit der gesamten russischen Gesellschaft unter Nikolaj I., die zusammen mit den betrogenen Betrügern, allen voran dem Stadthauptmannn, der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Doch ist der Revizor weitaus mehr als eine Komödie mit satirischen Tendenzen: Gogol’ erschuf ein Welttheater in barocker Tradition, in dem sich das Böse, in der christlich geprägten Sicht des Autors das Diabolische und Dämonische, unter der Maske des Trivialen verbirgt.41 In diesem eigenständigen Theateruniversum bewegen sich die Menschen wie in einem surrealen Alptraum, ihrer Lebendigkeit beraubt, scheinen sie an den Strippen eines großen Puppenspielers namens Banalität (po%lost’) zu hängen.42 Ohne diesen Prätext sind !echovs Dramen kaum denkbar, wörtliche Gogol’-Zitate und zahlreiche Anspielungen auf Texte Gogol’s finden sich z.B. in den Drei Schwestern. Ebenfalls im Theater von Taganrog lernte der Gymnasiast !echov Shakespeares Tragödien, allen voran Hamlet kennen.43 Von der prägenden Wirkung dieser Gestalt auf die russische, ja die gesamte europäische Kultur hatte Ivan S. Turgenev 1860 in einer Rede mit dem Titel Hamlet und Don-Quixote gesprochen. Er stellte die beiden Protagonisten als Idealtypen gegenüber: hier der Prinz und vollendete Höfling, Skeptiker und Melancholiker, der an der Überlast der Gedanken scheitert und, kaum zu einem eigenen Entschluss in der Lage, wie ferngesteuert durch den toten Vater und dessen Rachegebot

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Gelehrsamkeit, erzogen. Auch die nostalgische Beschwörung eines Goldenen Zeitalters der polnischen Rzeczpospolita war Gogol’ nicht fremd. RAYFIELD, Chekhov, S. 28 berichtet von Amateuraufführungen des Revizors, in denen !echovs selbst die Rolle des Stadthauptmanns spielte. Zu Gogol’s Idee des Bösen vgl. Urs HEFTRICH, Gogol’s Schuld und Sühne. Versuch einer Deutung des Romans Die toten Seelen. Stuttgart 2004. Für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreich ist die Nähe der Toten Seelen zum Drama, die Heftrich genau belegt, vgl. S. 233-239. SHAPIRO, Nikolai Gogol, S. 130 ff. Gogol’ war vertraut mit Calderón de la Barca und seinem El gran teatro del mundo, das Gott als Weltenrichter und das Theater als Weltgericht inszeniert. Zur Calderón-Rezeption in Russland vgl. Roberto MONFORTE DUPRET, Calderón y Rusia. In: Javier HUERTA CALVO / Emilio PERAL VEGA / Héctor URZÁIZ TORTAJADA (eds.), Calderón en Europa. Madrid 2002, S. 343-355, der von einer starken Faszination vieler russischer Intellektueller und Schriftsteller im 19. und frühen 20. Jahrhundert für das Theater Calderóns spricht. Zur Wirkung des Hamlet in der modernen russischen Literatur vgl. Eleanor ROWE, Hamlet, a window on Russia. New York 1976.

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handelt, dort der Enthusiast, der sein Potential, seine Kraft, seine Grenzen maßlos überschätzt, aber immerfort von einem kühnen Entschluss zum nächsten eilt.44 Dem jungen !echov vermittelte Hamlet mit Sicherheit die Vorstellung von der Welt als Bühne, die in Shakespeares Theaterschaffen allgegenwärtig ist.45 Die Verfahren verdoppelter oder potenzierter Theatralität markieren einen entscheidenden Entwicklungsschritt in !echovs Dramenwerk. Dabei bilden Hamlet, Macbeth und Othello unentbehrliche Folien für Die Möwe oder Drei Schwestern. !echovs frühe Gogol’- und Shakespeare-Rezeption stellt eine Nähe zum Barock- und Renaissance-Theater her und führt auf eine entscheidende Spur tief in die europäische Ideengeschichte hinein. Nach Elternhaus, Kirche, Gymnasium, Theaterbesuchen und ersten Experimenten mit dem großen Drama, Vaudevilles und Farcen bringt !echovs Medizinstudium in Moskau eine neue Dimension ins Spiel.46 Der Student macht sich nicht nur mit dem naturwissenschaftlichen Denken der Epoche vertraut, sondern er durchläuft auch eine hohe Schule des exakten Sehens, die nicht ohne Auswirkungen auf sein Menschenbild blieb.47 !echov wurde durch seine Ausbildung Teil einer modernen Institution, die in dieser Zeit gerade dabei war, ein Arsenal neuer kultureller Praktiken hervorzubringen. Die Klinik lieferte ihm reiches Anschauungsmaterial für die biologische und soziale Determiniertheit des Menschen, er setzte sich in der Folge intensiv mit der Philosophie des materialistischen Positivismus auseinander, die seinen Freiheitsdrang und sein Künstlertum aufs Äußerste herausfordern musste.48 44 45

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Vgl. I.S. TURGENEV, Gamlet i Don-Kichot. In: So"inenija. Tom vos’moj. MoskvaLeningrad 1964. RAYFIELD, !echov, S. 27: „In the 1870s, Taganrog’s repertoire had 324 different productions. Much was French farce and vaudeville, adapted or merely translated, and operetta. Shakespeare too was performed: Hamlet, King Lear, The Merchant of Venice. Anton’s fascination with, and variations on, Hamlet were spawned by the Taganrog theatre.“ Vgl. IZMAJLOV, !echov, S. 180 ff., insbesondere S. 182, der von der „beherrschenden Wirkung“ spricht, die die naturwissenschaftliche Bildung und medizinische Ausbildung auf !echov ausgeübt habe. Die prägende Wirkung medizinischer Untersuchungsmethoden auf die literarischen Verfahren der Prosa hat nachgewiesen Vladimir B. KATAEV, Proza !echova: problemy interpretacii. Moskva 1979. Vgl. RAYFIELD, Chekhov, S.73 ff., insbesondere S. 74: „All his life his eye for a fatal disease and a victim’s life expectancy was feared, and his autopsies admired.“ Der amerikanische Slavist Michael Finke sieht einen grundlegenden Konflikt zwischen der ärztlichen Aktivität des genauen Beobachtens und der Furcht, selbst zum Objekt eines solchen Blickes zu werden. Vgl. Michael FINKE, Seeing Chekhov. Life and Art. Ithaca and London 2005, S. 4: „(…) a central concern for Chekhov himself, (…) and deeply problematic, were precisely the issues of seeing and being seen.“ Vgl. die wichtigste neuere Untersuchung zu diesem Thema Petr DOL$ENKOV, !echov i pozitivizm. Izdanie vtoroe, ispravlennoe i dopolnennoe. Moskva 2003. Zum Konflikt von Positivismus bzw. Materialismus und Willensfreiheit und möglichen Formen der Vermittlung vgl. Vladimir B. KATAEV, Proza !echova sowie ders., #voljucija i "udo v

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Das Lehrprogramm des Medizinstudiums brachte ihn u.a. mit der Evolutionslehre Darwins in Berührung. Diese Lektüre formte sein Welt- und Menschenbild und hinterließ viele Spuren in seiner Prosa und seinen Dramen, auf den „Vulgärdarwinismus“ seiner Zeit jedoch, die zahlreichen vereinfachten und vergröberten Rezeptionsvarianten reagierte er ablehnend.49 Die moderne Medizin ist nicht zuletzt eine Medizin des diagnostischen Blicks im umfassenden Sinn, der Blick des Arztes bringt den Körper des Patienten in eine Distanz, aus der er erst als wissenschaftlicher Gegenstand wahrgenommener werden kann.50 Dieser Blick und seine technischen Hilfsmittel (heute die sog. bildgebenden Verfahren) zerlegen den menschlichen Körper in seine Bestandteile, um die Ursachen von Krankheiten zu ermitteln, er kontrolliert aber auch den Patienten und seine Krankheit oder gibt zumindest vor, dies zu tun.51 Ohne den kontrollierenden, ja sezierenden Blick wäre die moderne wissenschaftliche Medizin nicht denkbar, über den Primat des Sehsinns steht sie als „Leitwissenschaft” in enger Verbindung mit Modernität überhaupt, bzw. zur neuzeitlichen naturwissenschaftlich-technischen Zivilisation, auf deren Affinität zum Sehsinn und zu einer visuellen Metaphorik wiederholt hingewiesen wurde. Die Praxis des diagnostischen Blicks schärfte !echovs Wahrnehmungsvermögen, seine Unterscheidungsfähigkeit, seine Kenntnis von anatomischen und physiologischen Anomalien und Pathologien, von nervösen Ticks und Marotten.52 Aber !echov war nicht nur engagierter Arzt, sondern seit seiner Erkrankung an Tuberkulose im Alter von 24 Jahren auch Patient. In dieser doppelten Rolle nahm er die Macht des diagnostischen Blicks in ihrer ganzen Ambivalenz wahr, er selbst entzog sich dem Blick der Kollegen bezeichnenderweise so lange wie möglich durch Banalisierung oder gar Verleugnung

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mire !echova. In: Vladimir B. KATAEV / Rolf-Dieter KLUGE / Regine NOHEJL (Hg.), Anton P. !echov, Philosophische und religiöse Dimensionen im Leben und Werk. München 1997, S. 351-356. Zur russischen Darwin-Rezeption vgl. Alexander VUCINICH, Darwin in Russian Thought. Berkeley and Los Angeles 1988, einige Überlegungen zu !echovs DarwinRezeption stellt an Jacqueline de PROYART, Tchékhov et Darwin. Limites et portée d’une influence. In: Silex, Bd. 16. Grenoble 1980, S. 101-105. Die Bedeutung des okzidentalen Okularzentrismus für die Herausbildung der neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Medizin hat Michel FOUCAULT untersucht: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. 7. Auflage. Frankfurt am Main 2005, vgl. ebd. u.a. S.11: „Das Auge wird zum Hüter und zur Quelle der Wahrheit.“ Die Folgen des visuellen Primats für Ärzte und Patienten arbeitet besonders klar heraus Bernhard KATHAN, Das Elend der ärztlichen Kunst. Eine andere Geschichte der Medizin. Berlin 2003. Vgl. FINKE, Seeing Chekhov, insbesondere S. 51-98.

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seiner Krankheit.53 Es gibt Hinweise darauf, dass er eine Art von Selbstexperiment betrieb, in dessen Verlauf er das „Material“ seiner Erkrankung für sein literarisches Schaffen systematisch ausbeutete.54 Sein Blick auf das Theater und sein Dramenschaffen wurden auf jeden Fall von der ambivalenten Position des Arztes und des Patienten geprägt, von der Schule des Sehens auf der einen Seite und dem erhöhten Bewusstsein visueller Exponiertheit und körperlicher Fragilität auf der anderen Seite. Die Dramen kreisen nicht zuletzt auch um den Konflikt zwischen Sehen und Gesehenwerden, der sich auf der äußeren Bühne ebenso wie auf dem theatrum internum der Akteure abspielt. Während seines Studiums in Moskau hatte er zudem vielfach Gelegenheit, das Theaterleben der alten Hauptstadt zu beobachten, das ihm in üblen Gewohnheiten und kleinlichen Intrigen erstarrt schien. Nicht nur an der Schmiere und dem falschen Pathos, auch an der mangelnden Professionalität und Ernsthaftigkeit der Schauspieler übte er scharfe Kritik.55 Die Schauspieler standen allerdings unter dem Diktat der damals herrschenden festen Rollenerwartungen, die mit dem Theaterterminus „amplua“ bezeichnet wurden, waren also nur zum Teil für das niedrige Niveau verantwortlich zu machen. !echov suchte dagegen nach einem Theater, das von Pathos und Deklamation möglichst ebenso weit entfernt sein sollte wie von flachem Realismus oder Naturalismus. Sein Neuerertum verbarg er unter der Maske der „Normalität“ und Unauffälligkeit, nichts war ihm fremder als der Gestus des Bilderstürmers oder Revolutionärs.56 53

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Der Schriftsteller und Verleger A.S. Suvorin, ein naher Freund und Vertrauter, schildert, wie !echov einer Untersuchung durch seine Kollegen lange auswich, bis ein schwerer Blutungsanfall ihm keine andere Wahl ließ. Vgl. dazu IZMAJLOV, !echov, S. 402 ff., insbesondere S. 403. Vgl. auch FINKE, Seeing Chekhov, S. 6: „Chekhov’s resistance to the gaze of others plays out, (…) in his long avoidance of the status of medical patient. The tuberculosis that attacked him for nearly half of his short life, and that carried off close relatives, including his elder brother Nikolai, was met with denial verging on the pathological.“ So war !echov das Phänomen der Hämorrhagie, das er in einigen Erzählungen (Der schwarze Mönch, Die Braut) effetkvoll nutzt, aus seiner eigenen Krankengeschichte bestens vertraut. Auf andere Motive wie z.B. Halluzinationen weisen u.a. Auszüge aus den Memoiren von Michail Pavlovi" !echov hin, die IZMAJLOV S. 403 zitiert. So soll der „schwarze Mönch“, Titel und Gestalt einer berühmten Erzählung, auch dem erkrankten Schriftsteller in seinen Alpträumen erschienen sein. Vgl. RAYFIELD, Chekhov, S. 96. Bei dieser ostentativen Normalität und Durchschnittlichkeit dürfte es sich um eine sehr bewusste Verhaltensstrategie !echovs gehandelt haben – eine Strategie, die ihre irritierende Wirkung auf Künstler und Exzentriker des Fin de siècle nicht verfehlte, wie das Beispiel von Zinaida Gippius und Dmitrij Mere&kovskij belegt. Vgl. N.V. KAPUSTIN, Z. Gippius o !echove (K voprosu ob anti"echovskich nastroenijach v kul’ture „serebrjanogo veka“). In: !echoviana. Iz veka XX v XXI. Itogi i o&idanija. Moskva 2007, S. 176-188.

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So erfolgreich !echov schon in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre mit Farcen und Vaudevilles war, so schwierig gestaltete sich der Übergang zum großen Drama. Die drei frühen Versuche, Platonov von 1883, Ivanov vom November 1887 und Der Waldgeist vom Sommer 1889, erwiesen sich entweder als unspielbar oder so mit Mängeln behaftet, dass weder das Publikum noch der Autor sich auf Dauer mit ihnen anfreunden konnten. Platonov bleibt bis heute eine Herausforderung für Geduld und Leidensfähigkeit von Schauspielern wie Zuschauern. Der Waldgeist wurde nach fünf Aufführungen in Moskau im Dezember 1889 wieder abgesetzt und verschwand aus dem Repertoire. Das Scheitern am großen Drama trug bei zu der schweren Existenz- und Schaffenskrise, die !echov Ende der achtziger Jahre durchlebte. Er fürchtete, in einer Sackgasse gelandet, ausgebrannt und erschöpft zu sein. Um der Drohung dauerhafter Stagnation und Leere zu entkommen, entschied er sich für eine Reise nach Sachalin, die gefürchtete Sträflingsinsel am Rande der zivilisierten Welt, selbst auf das Risiko hin, seine angeschlagene Gesundheit endgültig zu ruinieren. Nicht nur bewältigte er die gefahrvolle Route durch Sibirien, er absolvierte auf Sachalin auch ein gewaltiges Arbeitspensum und sammelte Material für eine wissenschaftliche Beschreibung der Bedingungen, unter denen die Strafgefangenen dahinvegetierten. Das Prosawerk, das danach entstand, trägt den Titel Die Insel Sachalin / Ostrov Sachalin, kombiniert Autobiographie, Reisetext und natur- bzw. sozialwissenschaftliche Prosa und setzt in mancher Hinsicht auch Verfahren moderner Humanwissenschaften wie der Ethnologie ein.57 Die Eindrücke und Erfahrungen dieser Reise haben ihn so gezeichnet, dass manche Forscher seine Biographie in eine Epoche vor und eine nach Sachalin einteilen. Nach seiner Rückkehr frequentierte er wieder Künstler- und Theaterkreise in Moskau und setzte seine Suche nach dem großen Drama fort, weiterhin ohne greifbare Ergebnisse. In dieser anhaltenden Blockade wandte er sich Autoren wie Strindberg und Hauptmann, später auch Maeterlinck zu, diese Lektüren gaben ihm wichtige Impulse und hinterließen deutliche Spuren in seiner Dramenpoetik. Im Herbst 1895 nahm ein neues Drama mit dem Titel Die Möwe erkennbare Umrisse an. Bei der Uraufführung des Stücks im Dezember 1896 erlitt er jedoch eine so schwere Niederlage, dass er zunächst beschloss, keine weiteren Dramen zu schreiben.58 Erst als sich der Kontakt zu den Regisseuren Konstantin Stanislavskij und Vladimir Nemirovi"-Dan"enko 57

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Vgl. Thomas GROB, Der Autor auf der Flucht. Anton !echovs Reise nach Sachalin und an die Ränder der Literatur. In: Wolfgang Stephan KISSEL (Hg.), Flüchtige Blicke. Relektüren russischer Reisetexte des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2009, S. 45-70, hier S. 49-54. IZMAJLOV, !echov, S. 376 sieht in dieser Zäsur sogar den vorzeitigen Beginn eines „Lebensherbstes“.

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festigte, willigte er in eine Wiederaufnahme der Möwe ein. Dem Ensemble des Moskauer Künstlertheaters, das Stanislavskij zusammen mit Nemirovi"Dan"enko 1897 gegründet hatte, gelang mit der zweiten „Premiere“ im Dezember 1898 ein durchschlagender Erfolg, der die letzte Phase von !echovs dramatischem Schaffen einleitete. Nun begann eine dauerhafte, wenn auch konfliktreiche Zusammenarbeit mit dem Künstlertheater. Stanislavskij, autodidaktischer Schauspieler und selbsternannter Regisseur, der in seiner Anfangszeit stark vom Naturalismus der Meininger Truppe beeinflusst wurde, versuchte diesen Stempel auch den Dramen !echovs aufzudrücken – gegen den erklärten Willen !echovs, der das professionelle Niveau Stanislavskijs und seiner Truppe sehr kritisch beurteilte. Während !echov sich wünschte, dass seine Dramen als leichte Komödien, als Vaudevilles oder Farcen inszeniert werden sollten, deutete Stanislavskij sie vorwiegend im Sinne von Melancholie, Elegie und Tragik und erzeugte damit eine Fülle von Klischees, die sich über russische Exiltheater auch im Ausland festsetzten und für einige Jahrzehnte die Inszenierungspraxis blockierten. Diese Missverständnisse und permanenten Spannungen änderten jedoch nichts daran, dass !echov die drei folgenden großen Dramen für das Künstlertheater schrieb. Diese intensive künstlerische Zusammenarbeit wurde endgültig zu einer Art von Symbiose, als !echov 1898 eine Schauspielerin des Theaters, die dreißigjährige Ol’ga Knipper kennenlernte, die er im Mai 1901 heiratete. Ol’ga Knipper verkörperte weibliche Hauptrollen wie die Arkadina, Elena Andreevna, Ma%a und Ljubov’ Ranevskaja bei den Uraufführungen und prägte damit das Bild dieser Frauen. Mehr als einmal vermittelte sie in Krisen zwischen Autor und Theatertruppe. Am 17. Januar 1904, an !echovs Namenstag, wurde der Kirschgarten uraufgeführt, die Familie überredete den todkranken Autor, nach dem dritten Akt ins Theater zu fahren, dort bereiteten ihm Künstler und Publikum begeisterte Ovationen. Vladimir Nemirovi"-Dan"enko bekundete in einer Ansprache die Verehrung der russischen Intelligencija und nannte das Künstlertheater !echovs Theater. Dieser nahm die öffentliche Huldigung mit gemischten Gefühlen entgegen und soll mehrfach das Wort „%kaf“ / „Schrank“ gemurmelt haben: eine Anspielung auf Gaevs Lobrede auf einen Bücherschrank im ersten Akt des Kirschgartens, zugleich eine Parodie auf die Kanonisierung von Autoren durch die Intelligencija – und auf den Sarg, der auf !echov wartete. Die Anwesenden verstanden, dass die Premierenfeier mindestens ebenso ein Abschied wie eine Ehrung war.59 Anfang Juni 1904 folgte !echov einem Vorschlag seiner ratlosen russischen Ärzte und begab sich mit seiner Frau Ol’ga Knipper auf eine Reise in den deutschen Kurort Badenweiler. Doch auch die deutschen Koryphäen konnten nur den hoffnungslosen Zustand des Kranken bestätigen. Seine 59

Zu dieser Szene vgl. RAYFIELD, Chekhov, S. 587 f.

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letzten Wochen in einem Land, dessen Sprache er kaum sprach und in dem er sich vollkommen fremd fühlte, haben schon die Zeitgenossen an ein Theaterstück erinnert. Zum Zeitvertreib ersann der Schriftsteller für seine Frau kleine satirische Erzählungen über das geregelte Kurleben von Badenweiler mit seinen pedantischen Ritualen und seinem geschäftigen Leerlauf. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli verschlechterte sich sein Zustand rapide, zu dem behandelnden deutschen Arzt Schwörer sagte !echov auf Deutsch: „Ich sterbe.“ Schwörer fühlte seinen Puls und ließ ihm dann ein Glas Champagner reichen, wie es der Ehrenkodex gegenüber einem sterbenden Kollegen verlangte. !echov nahm das Glas mit den Worten entgegen: „Ich habe lange keinen Champagner mehr getrunken.“60 Nur wenige Augenblicke später starb er. Die Rückführung des Leichnams nach Russland wurde zu einer komplizierten bürokratischen Aktion, denn für den notwendigen Kühlwagen mussten alle deutschen Bahnhöfe eine Sondergenehmigung erteilen. Gor’kij berichtete später empört, auf dem Moskauer Novodevi"ij Friedhof sei der Leichnam in einem Gefährt mit der Aufschrift „Für frische Austern“ eingetroffen.61 Noch in seinen letzten Lebensmonaten kreisten !echovs Gedanken um ein neues Drama. Den Erinnerungen Ol’ga Knipper-!echovas zufolge plante er nach dem Kirschgarten ein Stück, das von einem Wissenschaftler handeln sollte, der aus enttäuschter Liebe in den hohen Norden aufbrach. Von seinen Entwürfen zum dritten Akt heißt es: “ (...) ein Dampfer liegt fest, im Eis – das Nordlicht, der Wissenschaftler steht einsam an Deck, Stille, Frieden und majestätische Nacht, auf einmal sieht er fern im Nordlicht den Schatten der geliebten Frau vorüberziehen...“62 Eine zweite Überlieferungsvariante der Idee findet sich in den Erinnerungen Konstantin Stanislavskijs Mein Leben in der Kunst. In dieser Variante geht es um zwei junge Freunde, die in die gleiche Frau verliebt sind und aus der komplizierten Situation von Freundschaft und Rivalität keinen Ausweg finden. Schließlich brechen sie zu einer Forschungsexpedition in den hohen Norden auf. Als das Schiff in den 60 61 62

Vgl. RAYFIELD, Chekhov, S. 595 f. und KUZI!EVA, !echov, S. 839 f. Vgl. RAYFIELD, Chekhov, S. 599. Ol’ga Leonardova KNIPPER-!ECHOVA, Vospominanija i stat’i. Perepiska s A. P. !echovym (1902-1904), Moskva. 1972, S. 61. Vgl. auch Peter URBAN, !echovChronik, Daten zu Leben und Werk. Zürich 2004, S. 407, der dieses Zitat chronologisch dem Mai 1904 zuordnet. Allerdings kann sich diese Zuordnung nur auf die Erinnerungen Konstantin Stanislavskijs stützen, der von einem Treffen mit !echov in diesem Monat berichtet, während in den Memoiren Ol’ga Knipper-!echovas die Rede vom gesamten letzten Lebensjahr ist, in dem dieser Plan immer wieder auftauchte. Donald Rayfield verlegt die Idee ganz in die letzten Badenweiler Lebenswochen und erwähnt das Sujet nur in einer extrem gekürzten Form. Vgl. Rayfield, Chekhov, S. 595: „Sometimes Anton forgot about death. He devised a subject for a play: passengers on an ice-bound ship.“

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Eismassen festliegt, erscheint im Schnee der Schatten der geliebten Frau, die in der Heimat verstorben ist.63 Diese Idee zu einem letzten Stück zeigt, wie groß das Entwicklungspotential seiner Dramenpoetik war. Das nicht realisierte Stück über Eis und Schnee wurde als Versuch über die Leere und damit als Beleg für !echovs Tendenz zu Symbolismus und Abstraktion gedeutet im Gegensatz zum kruden Realismus oder Naturalismus, den ihm Regisseure wie Stanislavskij und viele andere in dessen Nachfolge aufdrängten.64 Als Fazit lässt sich festhalten: !echovs Biographie und sein literarisches Werk waren von einem sehr frühen Zeitpunkt an unauflöslich mit dem Theater verbunden. Er schrieb seine Dramen aus genauer Kenntnis des Theaters und seiner Techniken, aber auch des Theaterumfelds, der Schauspieler und ihrer Welt. Er erzielte früh mit Einaktern, Farcen und Vaudevilles außergewöhnliche Erfolge, rang allerdings über lange Jahre ohne befriedigende Ergebnisse mit der Form des mehraktigen Dramas. Während er die Bemühungen um die große narrative Form, den Roman, rasch als seiner Begabung nicht gemäß aufgab, gelang ihm nach fast zwei Jahrzehnten der Experimente der Durchbruch zum großen Drama. Die dramatische Produktion der letzten Lebensjahre übertraf schließlich den Umfang der Prosa aus dieser Periode. Spätestens seit der engen Zusammenarbeit mit dem Künstlertheater war !echovs Leben Teil der russischen Theatergeschichte, die russische Theatergeschichte Teil seines Lebens. Bei aller philanthropischen Anteilnahme, bei allem sozialen Engagement, die er als Arzt und Zemstvo-Abgeordneter an den Tag legte, konstruierte !echov seine literarischen Texte von einer Position unbeteiligter Beobachtung, ja absoluter Kälte. Vielleicht liegt ein besonderer Reiz seines Dramenschaffens auch darin, dass ein so introvertierter Schriftsteller sich einer so extrovertierten Kunstform widmete, dabei aber immer auf Distanz zum Theater blieb und gegenüber den Versuchungen des Narzissmus, der Hysterie, der Zurschaustellung immun war. Sein Habitus der Nüchternheit und Zurückhaltung machte ihn zu einem antitheatralischen Dramenautor. Es geht in den folgenden Untersuchungen der Farcen und Dramen nicht darum, nachzuweisen, dass !echov mit einem förmlichen theatrum mundiKonzept arbeitete oder dass er seine Dramen mit der Absicht schrieb, ein Welttheater zu begründen. Der Ansatz zielt vielmehr darauf ab, das epistemologische Potential der Welttheater-Metaphorik für !echovs Dramen neu zu entdecken und zu gewichten. Dabei kann eine Vielzahl von Forschungsergebnissen der letzten Jahrzehnte in einer Synthese zusammengeführt werden, um 63 64

Vgl. Konstantin STANISLAVSKIJ, Moja &izn’ v iskusstve. Moskva 2000, S. 299. Vgl. Peter Stein im Gespräch mit Georges Banu in: Peter STEIN, Mon Tchekhov. Arles (Actes Sud) 2002, S. 75 f. Vgl. auch Georges BANU, Les Trois Soeurs ou le Paradis Perdu. In: Anton Chekhov: Les Trois Soeurs. Drame en quatre actes traduit du russe par André Markowicz et François Morvan. Actes Sud 1993, S. 152-153.

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die immer noch unterschätzte philosophische und erkenntnistheoretische Leistung der Dramen angemessener zu würdigen.65 Indem die Metapher „Welttheater“ als Lektüreraster, als hermeneutisches Verfahren eingesetzt wird, sollen unbekannte Zusammenhänge erschlossen und bekannte kohärenter und umfassender erklärt werden.66 Die bevorzugte hermeneutische und kulturhistorische Lesart folgt dem Lauf und Ablauf der Dramen bis in Details der Sprache hinein.67 Dabei kristallisiert sich heraus, dass in diesem Werk die Grundkategorien des dramatischen Textes, Raum und Zeit sowie die Figuren und ihre sprachlichen und außersprachlichen Aktivitäten neu entworfen werden, ohne jedoch einen offenen Bruch mit dem Theater der Vorläufer herbeizuführen.68 Über eine einzigartige Behandlung von Raum und Zeit ist !echovs Theater des Alltags mit der Welt, d.h. letztlich mit der Gesamtheit der Phänomene im Kosmos verbunden und wird zu einem Instrument der Wahrheitssuche in einem offenen Universum.69 War es im barocken Welttheater Gott, der die Menschen 65

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Seit den siebziger Jahren hat die westliche und russische Literaturwissenschaft eine Fülle neuer Erkenntnisse zu den Dramen zusammengetragen. Große Verdienste hat sich die angelsächsische !echov-Forschung erworben mit einschlägigen Monographien von Peace, Rayfield, Gilman, Finke oder de Sherbinin u.a. In Russland haben die Monographien von Kataev und Tolstaja für die Prosa und von Zingerman zum Theater der Forschung wichtige Impulse gegeben. Seit den neunziger Jahren erscheinen zudem in unregelmäßigen Abständen Bände der Reihe !echoviana mit neueren russischen und westlichen Forschungen zum Dramenwerk. Für die deutschsprachige Forschung sind u.a. die Sammelbände von Zelinsky und die drei Ergebnisbände der Badenweiler Symposien von 1985, 1994 und 2004 zu nennen. Damit bewegt sich die Studie auf der Linie einer „Metaphorologie“ und einer „Theorie der Unbegrifflichkeit“, zu der Hans Blumenberg wegweisende Beiträge geleistet hat. Vgl. Hans BLUMENBERG, Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt am Main 1998 sowie Hans BLUMENBERG, Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Anselm Haverkamp. Frankfurt am Main 2007, hier insbesondere S. 9 f. und 97-110. Mit Gewinn verfahren ähnlich Richard GILMAN, Chekhov’s Plays. An Opening into Eternity. Yale University Press. 1995, Donald RAYFIELD, Understanding Chekhov. A Critical Study of Chekhov’s Prose and Drama. London 1999 oder ZINGERMAN, Teatr. Zur „Raum- und Zeitstruktur“ im Drama vgl. Manfred PFISTER, Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Auflage. München 2001, S. 321-381. Die Darstellung vermeidet den Terminus „Raumzeit“, den die moderne (Astro)Physik und Mathematik definiert hat. So hat Hermann Minkowski 1908 eine „elegante mathematische Formulierung der Speziellen Relativitätstheorie“ vorgeschlagen und dabei den dreidimensionalen Raum und die eindimensionale Zeit zur vierdimensionalen Raumzeit verdichtet, vgl. Claus KIEFER, Der Quantenkosmos. Von der zeitlosen Welt zum expandierenden Universum. Frankfurt am Main 2008, S. 27-50, insbesondere S. 35. Der Begriff „Raumzeit“ hat sich in den folgenden Jahrzehnten in manchen philosophischen Diskursen durchgesetzt, dabei aber an mathematischer und physikalischer Präzision verloren, vgl. zu einer genauen Abgrenzung Lawrence SKLAR, Space, time and spacetime. Berkeley 1977. Hingegen wird bei den Analysen der

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!echovs Theaterleben

führte und strafte oder belohnte, der alles voraussah und die Schauspieler am Ende richtete, so drängen nun die anonymen Mächte Zeit und Zufall auf die Bühne. In einem nie gekannten Ausmaß manifestiert sich in den Handlungen der Akteure Kontingenz, da die Ereignisse auch immer einen gänzlich anderen Verlauf nehmen könnten und für den Menschen daher notwendigerweise Widerfahrnisse sind.70 !echovs Insistieren auf dem Komödiencharakter seiner Dramen, vor allem der Möwe und des Kirschgartens, gewinnt aus dieser Perspektive einen neuen Sinn. Indem sich sein Theater von den Regeln und Normen der klassischen Poetik befreit, kann es im Alltag zudem die spezifische Theatralität menschlichen Verhaltens exponieren, für die Zuschauer aber kann die distanzierte Betrachtung des Schauspiels eine Quelle von Freiheit werden.71 Mit der Öffnung des Dramas hin zu einer differenzierten Phänomenologie von Raum und Zeit nahm !echov teil an einer übergreifenden Strömung europäischer Kultur um 1900, die das Zeitverständnis grundlegend verändert hat.72 Wissenschaftler, Philosophen und Künstler begannen sich gegen Mitte des 19. Jahrhunderts vom mechanischen Welt- und Naturbild zu lösen, Zeit und Raum wurden nicht länger als unveränderliche Größen, sondern als

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Dramen mehrfach an zentraler Stelle zurückgegriffen auf den Terminus „Chronotopos“ im Anschluss an Michail Bachtin. „Chronotopos“ ist nicht einfach ein Synonym für die physikalische „Raumzeit“, obwohl die griechischen Komponenten „Zeit“ und „Raum“ bedeuten, sondern bezieht sich ausschließlich auf Zeit und Raum in literarischer Transformation. Zum Stand philosophischer und kultur- bzw. literaturwissenschaftlicher Reflexion zur Kontingenz vgl. Gerhart v. GRAEVENITZ/ Odo MARQUARD (Hg.) in Zusammenarbeit mit Matthias Christen, Kontingenz. München 1998. Zur Bedeutung der Kontingenz für unsere Konstruktionen von Sprache, Gesellschaft und unsere Ich-Erzählungen vgl. Richard RORTY, Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main 1992. Zum Begriff des „Widerfahrnisses“ vgl. Wilhelm KAMLAH, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik. Mannheim 1972, besonders S. 34-40. Die russische Kultur der Moderne hat wichtige Beiträge zu einer Theorie der Theatralität geleistet. So entwickelte der Petersburger Regisseur und Dramatiker Nikolaj Evreinov in der Abhandlung Das Theater als solches (Teatr kak takovoj, 1912) seine Vorstellung vom „theatralischen Instinkt“, der in jedem Menschen angelegt sei, und prägte den russischen Begriff „teatral’nost’“. Vgl. Nikolaj EVREINOV, Demon teatral’nosti. Moskva / Sankt Peterburg 2002. Zum heutigen Stand der Theorie vgl. vor allem Erika FISCHER-LICHTE (Hg.), Theatralität und die Krisen der Repräsentation, Stuttgart 2001 sowie Erika FISCHERLICHTE, Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main 2004. Vgl. KIEFER, Quantenkosmos, S. 14-73. Zur Vorgeschichte im 16. und 17. Jahrhundert Floris COHEN, Die zweite Erschaffung der Welt. Wie die moderne Naturwissenschaft entstand. Frankfurt am Main 2010.

Mensch und Maske

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permanent sich verschiebende Relationen und Prozesse beschrieben.73 Ebenso schwand die Überzeugung von einer Essenz oder Substanz des Seins, einer unwandelbaren menschlichen Natur, einer ein für alle Mal feststehenden Wahrheit über den Menschen. Wenige Jahre nach !echovs Tod wurde in der europäischen Kultur auf verschiedene Weise ein neues Zeitverständnis physikalisch begründet und philosophisch und literarisch formuliert: durch die Relativitätstheorie Einsteins und die Quantenphysik Max Plancks, die Gedächtnistheorie Henri Bergsons, die Phänomenologie Edmund Husserls und ihre Weiterentwicklung durch Martin Heidegger, die Romane von Marcel Proust, Thomas Mann, James Joyce und Vladimir Nabokov. !echovs Welttheater fragt darüberhinaus nach der Autonomie menschlicher Subjekte in einer Zivilisation, die zunehmend von Naturwissenschaft und Technik geprägt wird und sich insbesondere mit den Folgen der Evolutionslehre für ihr Menschenbild auseinandersetzen muss. In diesem Sinne ist es Theater nach Darwin: ein Theater, das mit neuen dramatischen Mitteln nach den Grenzen nicht nur der naturwissenschaftlichen Erklärungsfähigkeit, sondern der menschlichen Erkenntnis überhaupt sucht.74 Die Einsicht in die biologische und soziale Bedingtheit des Menschen gerät dabei in Konflikt mit seinem Anspruch auf Willensfreiheit und Selbstbestimmung.

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Zu diesem großen Paradigmenwechsel vgl. Ilya PRIGOGINE / Isabelle STENGERS, Das Paradox der Zeit. Zeit, Chaos und Quanten. München / Zürich 1993, S. 37 ff. mit kritischer Diskussion der Position Bergsons. Zur Bedeutung der Evolutionslehre in der globalen Wissenschaftskultur des 21. Jahrhunderts vgl. Philipp KITCHER, Mit Darwin leben. Evolution, Intelligent Design und die Zukunft des Glaubens. Frankfurt am Main 2009.

2. Die frühen Farcen: Lachen unter Tränen

I !echovs dramatische Anfänge führen zurück zum volkstümlichen Theater in Taganrog und zur Jahrmarktsposse, russisch „balagan“ genannt, wie auch zum kommerziellen Unterhaltungstheater, das zumeist aus Frankreich importiert, als Farce und Vaudeville bezeichnet wurde. Im 15. Jahrhundert verstand man in Frankreich unter Vaudeville (nach einer möglichen Etymologie von „vaux de vire“ abgeleitet) satirische Gesänge oder Trinklieder, die im 18. Jahrhundert zunehmend in die Theatervorführungen der Jahrmärkte eingegliedert wurden. Im frühen 19. Jahrhundert verschob sich die Bedeutung hin zu einer Variante der Boulevardkomödie, die meist mit Musikeinlagen dargeboten wurde. Der leichte Wechsel zwischen Musik- und Sprechtheater gehörte also zum Grundbestand der Gattung. Zu den bekannteren französischen Autoren der Epoche gehören z.B. Augustin Scribe, Eugène Labiche, Ludovic Halévy, Henri Meilhac und Georges Feydeau.1 Diese Vaudevilles hatten Erfolg, weil sie den Erwartungen des Publikums entsprachen, sie waren effekt- und pointensicher, aber ihre Autoren waren am bewährten Alten, nicht an Neuerungen interessiert, sie wagten sich nicht weiter vor und exponierten sich nicht. Auch und gerade in Russland waren diese Stücke sehr beliebt, durch zahlreiche Übersetzungen und freie Bearbeitungen entstand ein Hybridgenre, das die französischen Intrigen an ein russisches Personal und eine russische Umgebung anpasste.2 Die Abgrenzung von Farce und Vaudeville ist nicht ganz scharf, doch lässt sich als Differenzkriterium anführen, dass die Farce in der Regel gröber ist als das Vaudeville, von expressiverer Körperlichkeit, ohne Rücksichtnahme auf Konvention, Feingefühl oder Takt.3 Es handelt sich um bühnennahe und -wirksame Stücke, die in erster Linie ein zahlreiches Publikum (möglichst oft)

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Vgl. Henri LEMAITRE, Dictionnaire Bordas de la littérature française et francophone, Paris 1985, S. 782 sowie Winfried ENGLER, Lexikon der französischen Literatur, Stuttgart 1974, S. 926. Vgl. Carola DÜRR, Das russische Vaudeville am Beispiel der Stücke von D. T. Lenskij (1828-1855) und ihrer französischen Vorlagen. Wiesbaden 2000 sowie Okke SCHLÜTER, A. A. 'achovskoj als Vaudevilleautor im Russland Aleksanders I.: ein „homme de théâtre“ zwischen Programmatik und Pragmatismus. Hamburg 2002. Gerhard MACK, Die Farce. Studien zur Begriffsbestimmung und Gattungsgeschichte in der neueren deutschen Literatur. München 1989.

Lachen unter Tränen

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zum Lachen bringen sollen.4 Um das Publikum zu unterhalten, können die Schauspieler auch improvisieren, chargieren, derbe oder obszöne Scherze anbringen.5 Die Farce verzichtet auf Wahrheit, auf jegliche Wertvorgabe, im Extremfall will sie das Lachen ohne und gegen jede ethische Norm bewirken. Sie führt teilweise mittelalterliche Traditionen des komisch-grotesken Leibes und der Ausstellung von Körperlichkeit fort, ihre Etymologie, die sich von dem lateinischen Verbum „farcire“, „ausstopfen“ ableitet, erinnert daran. Der klassische bzw. klassizistische Kanon siedelt die Farce am unteren Rand der Theaterhierarchie an oder grenzt sie vollkommen aus.6 Die Grenzen zu anderen kleinen Gattungen hin sind fließend, Elemente des Variététheaters, Gesang und Tanzeinlagen sind häufig anzutreffen. Es gibt keinen Bruch zwischen diesem dramatischen Frühwerk und der großen Form seines letzten Lebensjahrzehnts. !echov hat die Gattungen seiner theatralischen Anfangszeit niemals aufgegeben oder verworfen, im Gegenteil, in allen Dramen finden sich Elemente der Farce oder farcenhafte Einlagen, und das letzte Drama, Der Kirschgarten, lässt sich als eine Abfolge von Farcen lesen.7 Bei der Arbeit mit den kleinen Formen erprobte !echov den ökonomischen Einsatz seiner dramatischen Mittel und erwarb ein sicheres Urteil über Bühnenwirksamkeit und Spielbarkeit seiner Texte. Er gewann ebenfalls früh eine große Routine und Sicherheit darin, komische Effekte zu erzeugen. Er kannte sein Publikum, wusste, was man von ihm erwartete und lieferte die gewünschte Ware, die auf den ersten Blick vor allem leicht konsumierbar ist, auf den zweiten aber sehr viel komplexer, als man gemeinhin animmt. Die Farcen, Vaudevilles und Einakter bergen den Kern zu größeren Formen in sich, sie sind ebenso Fundament wie Bausteine des späteren Welttheaters. Dem jungen !echov öffnen gerade die Rand- und Hybridgattungen aus russischem Balagan und französischem frivolem Unterhaltungsgenre den Weg

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In der deutschsprachigen Theatersprache existiert dafür der Terminus „Lachtheater“, vgl. Volker KLOTZ, Bürgerliches Lachtheater. Komödie. Posse. Schwank. Operette. 4. Auflage. Heidelberg 2007. Sie gehören damit in das „derbe Theater“, vgl. Peter BROOK, Der leere Raum. Aus dem Englischen von Walter Hasenclever. 2. Auflage. Berlin 1995, S. 93-142. Zur Abgrenzung der Farce vgl. Gerhard MACK, Die Farce. Aus guten Gründen hat die Forschung begonnen, die Einakter und Monologe einer Neubewertung zu unterziehen. Vgl. ZINGERMAN, Teatr, S. 193-223; Vera GOTTLIEB, Chekhov and the Vaudeville. A Study of Chekhov’s One-Act Plays. Cambridge 1982 und dies., Chekhovs’s one-act plays and the full-length plays. In: Vera GOTTLIEB and Paul ALLAIN, The Cambridge Companion to Chekhov. Cambridge 2000, S. 57-70. Ferner Jenny STELLEMANN / Herta SCHMID (Hg.), !echovs Einakter Tat’jana Repina. Analyse und Umfeld eines verkannten Meisterwerks. München 2006.

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Die frühen Farcen

zum Theater.8 So wie er mit Humoresken, kleinen unterhaltsamen Erzählungen für ein Massenpublikum begann, sind seine dramatischen Versuche und Entwürfe der frühen Jahre zumindest an der Oberfläche auf Zerstreuung, Abwechslung und Amüsement ausgerichtet. In den Jahren bis 1891 schrieb er eine Reihe von Vaudevilles und Farcen, die sich rasch durchsetzen konnten und in den Haupt- und Provinzstädten häufig auf den Spielplänen standen. Dazu gehören die dramatische Etüde in einem Akt Schwanengesang (Kalchas, 1886) und die Farcen ("utki) in einem Akt Der Bär (Medved’, 1888) und Der Heiratsantrag (Predlo#enie, 1889). Die dramatische Etüde Schwanengesang (Kalchas, 1886) steht nicht nur chronologisch am Anfang der Reihe, sie exponiert programmatisch das Problem des Schauspielers, des Theaters und des Verhältnisses von Leben und Kunst. Das Sujet des kleinen Dramas spielte !echov zuvor in einer Kurzgeschichte mit dem Titel Kalchas durch, in der die Lebenskrise eines alten Schauspielers beschrieben wird. Auf der Bühne eines Provinztheaters erwacht in tiefer Nacht ein alter Schauspieler, der sich nach der Vorstellung betrunken hat, in der Garderobe eingeschlafen ist und sich nun im dunklen Theater vollkommen allein wiederfindet. Er trägt noch das Kostüm des Kalchas, den er am Abend zuvor gespielt haben muss. Zu ihm stößt ein alter Souffleur, der im Theater mangels Bleibe übernachtet. Diesem beichtet der Schauspieler sein Leben, lässt sich von ihm trösten und schließlich davonführen. In der dramatischen Umsetzung gewinnt die Idee an Wirksamkeit durch die tatsächliche Verkörperung der Rollen auf der Bühne und durch das doppelbödige Spiel mit dem Beruf des Schauspielers, das durch die Ambiguität des Namen Kalchas gesteigert wird. Dieser enthält einen dreifachen Verweis auf Literatur und Musik: das antike Epos Ilias, Shakespeares Tragikomödie Troilus and Cressida und die moderne Oper La Belle Hélène von Jacques Offenbach. In der Ilias tritt der blinde Seher während des Troianischen Krieges in Schlüsselmomenten auf und führt durch seine Prophezeiungen Entscheidungen herbei. In Shakespeares Tragikomödie Troilus and Cressida hat er Verrat an Troja geübt und ist auf die griechische Seite gewechselt. In der komischen Oper („opéra-bouffe“) La Belle Hélène von Jacques Offenbach, die auf russischen Bühnen in den siebziger und achtziger Jahren große Erfolge errang, wird die antike Mythologie in modernem Gewand verspottet. Der Name des alten Schauspielers lautet Svetlovidov, was wörtlich „Hellseher“ bedeutet, eine ironische Anspielung auf die prophetischen Gaben des Kalchas, die Rolle, die er am Abend zuvor verkörpert hat und deren Kostüm er noch trägt. Tatsächlich wird Svetlovidov eine besondere Hellsicht 8

Zu diesen Anfängen vgl. etwa Beverly HAHN, Chekhov. A study of the major stories and plays. Cambridge 1977, S. 39-52.

Lachen unter Tränen

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an den Tag legen, allerdings nicht als Prophet fremder Schicksale, sondern rückblickend auf sein eigenes Leben, dessen Verfehltheit ihm aufgeht. Zu Beginn der Szene kommt Svetlovidov aus der Garderobe, in der er im Suff eingeschlafen war, findet auf der leeren Bühne einen Hocker vor und setzt sich darauf. Diese Handlung wird begleitet von heftigen Selbstvorwürfen und vergeblichen Rufen nach den Theaterdienern, die längst gegangen sind. Offensichtlich plagen den einsamen Mimen die Nachwirkungen des Alkohols, er ist körperlich und psychisch angeschlagen und ekelt sich vor seinem eigenen Zustand: „Im ganzen Körper nichts als Sprit, und im Mund ein ganzes Dutzend Zungen…(44)“9 Den Worten und dem Verhalten des Schauspielers liegt eine exakte physiologische Beobachtung zugrunde: Nach einem Alkoholexzess, einem Rauschzustand stellen sich häufig düstere Gedanken, quälende Selbstvorwürfe, bisweilen Selbstmordabsichten ein. Nach diesem Muster gerät auch Svetlovidov, kaum dass er erwacht ist, ins Grübeln und stößt auf das drängendste Problem, sein Alter: Das Alter… Wie du es auch anstellst, ob du den Tapferen spielst oder den Narren – das Leben ist gelebt… achtundsechzig Jahre sind - fft, habe die Ehre! Die holst du nicht zurück… Die Flasche ist ausgetrunken bis zur Neige… Nur der Bodensatz ist noch drin… Ja… So stehen die Dinge, Vanju%ka…Ob du willst oder nicht, du kannst schon mal die Rolle des Leichnams einstudieren (44).10

In der lautmalerischen Geste wird die Schnelligkeit, mit der das Leben vorüberzog, imitiert und noch einmal gesteigert. Alle Jahre und ihre einzelnen Augenblicke, ihre kaum zu zählenden Zeitpartikel ziehen sich zu einem einzigen onomatopoetischen Geräusch zusammen, das den unwiederbringlichen Verlust konkret werden läßt, den das Leben immer bedeutet. Nachdem der ernüchterte Blick Svetlovidovs zunächst auf die eigene Person gefallen ist, beäugt er darauf seine Umgebung, das nächtliche Theater, das er wie zum ersten Mal sieht. Er tritt an die Rampe, versucht etwas zu erspähen und erkennt gerade noch die Konturen des Souffleurskasten, dabei wirkt der dunkle, leere Zuschauerraum auf den angestrengt Suchenden mehr 9

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Die Zitate folgen der deutschen Übersetzung: Anton !ECHOV, Sämtliche Einakter. Übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Frankfurt am Main 2001. Die Schreibweise russischer Namen folgt auch im Weiteren der wissenschaftlichen Transliteration. Es kann deshalb im Vergleich zu Urban vereinzelt zu abweichenden Schreibweisen kommen. Für die russische Originalfassung s. A.P. !ECHOV, So"inenija. Tom odinnadcatyj. P’esy 1878-1888. Moskva 1978. „() *+,- .,/, 0,1,231 +.)4., 3 *) 1.5 6*5736,+8.9 8:;.… ?1).4*7)…“ (207). Sämtliche Seitenangaben folgen von nun an in Klammern im unmittelbaren Anschluss an die Zitate. „@.31)+.9… A3< 74 B47.4, , -), 0)=.,74,! H, *)1).4G9… (+I 5F *;04.) 4: D5.;/ 73*,17),.“ (7 f.). „/,20* (& %23).)“ (151).

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Blinde Parzen

Fremdbestimmtheit handelt, schließt sich unmittelbar ein lächerlicher Streit Solenyjs mit !ebutykin um die Bedeutung der kaukasischen Worte für „Bärlauch“ bzw. eine georgische Suppe ("erem%a bzw. "echartma) an. Damit fällt Solenyj !ebutykin gegenüber sofort wieder in seine eingeübten Verhaltensmuster von Streitsucht und Rechthaberei zurück, !ebutykins Wirkung auf ihn heizt also den Konflikt zwischen den Offizieren wieder an, den Konflikt, der letztlich Irinas Lebensglück zerstören und die Familienmitglieder endgültig zerstreuen wird. Tuzenbach fragt nach den Maskierten, Irina kündigt sie für neun an, ihr Eintreffen stehe unmittelbar bevor, darauf ergibt sich eine kleine Szene von Vorfreude, Tuzenbach, Andrej und !ebutykin beginnen zu singen und zu tanzen. Selbst in diesen gelösten Momenten bricht Solenyjs kleinliche Streitsucht durch. Als !ebutykin einen Trinkspruch auf die Moskauer Universität ausbringt, fällt er ihm ins Wort und beharrt darauf, dass es in Moskau zwei Universitäten gebe. Tuzenbach spielt dennoch unbekümmert auf dem Klavier einen Walzer, Ma%a tanzt dazu allein. Alle scheinen bereit für ein ausgelassenes Fest, für Rausch, Vergessen, für ein Leben im Augenblick, da flüstert Nata%a !ebutykin etwas ins Ohr, dieser macht sich bereitwillig zum Komplizen Nata%as und ermahnt die Gesellschaft, es sei Zeit zu gehen. Aus voller Vorfreude heraus bricht das Fest ab, die Enttäuschung ist allgemein und groß, doch seltsamerweise gibt es wenig Gegenwehr, Nata%as Dominanz wird hingenommen. Auch Andrej gesteht den Schwestern widerwillig, dass es keinen Maskentanz geben wird. Jegliche Vorfreude fällt nun in sich zusammen, der sehnsüchtig erwartete Auftritt der Masken findet nicht statt, die Familie und ihre Freunde, die Zuschauer werden um den Höhepunkt des Festes gebracht, an seine Stelle treten Leere und Melancholie. Das mit Spannung und Vorfreude erwartete Maskenspiel und die Enttäuschung lassen ein überwölbendes Grundmuster von Illusion und Desillusionierung erkennen. Die Freude auf das Fest war schon das ganze Fest, die gefühlskalte Kleinbürgerin Nata%a verhindert, dass alle sich in Verschwendung und Rausch, die ein Fest im vollen Sinne immer bedeutet, für einen Augenblick von der Herrschaft der Zeit befreien können. Als die Gäste das Haus verlassen, schleicht sich Andrej mit !ebutykin zum Glücksspiel. Diese Szene, ein Nachklang des verhinderten Festes, wirft abermals ein zweifelhaftes Licht auf !ebutykins Verhalten, denn nun wird deutlich, dass ihm die Absage an die Maskierten nicht ungelegen kam, kann er doch so mit Andrej seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Glücksspiel, nachgehen. Er bestärkt Andrej also in seiner ungezügelten Spielleidenschaft und trägt so zum Niedergang der Familie bei. Aber er ist selbst auch nur ein Getriebener, er flieht vor seiner Einsamkeit und inneren Kälte. Ungefragt glaubt er seine Ehelosigkeit rechtfertigen zu müssen: das Leben sei vorübergezogen wie ein Blitz, und er habe die Mutter Andrejs, die Mutter der

Zeit und Selbsterkenntnis

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drei Schwestern, über die Maßen geliebt. Andrej tut die Ehe daraufhin als „langweilig“ (sku"no) ab, im Zusammenleben mit Nata%a ist er so einsam wie der ewige Junggeselle !ebutykin außerhalb der Ehe. Nicht von ungefähr quälen den jungen Andrej schon Symptome des Alterns, seine Fettsucht, sein Phlegma lassen ihn kurzatmig werden. Er fragt den Arzt nach Mitteln gegen seine Beschwerden, doch !ebutykin verweigert wie Dorn in der Möwe jede ärztliche Auskunft, er habe längst alles vergessen. Für den gegen die Menschen gleichgültig gewordenen Arzt gibt es nichts mehr zu heilen, ist die Heilkunst nur eine ferne, verblassende Erinnerung. Solenyj trifft die allein zurückgebliebene Irina an, erneut gibt er den romantischen Helden, bedrängt sie, macht ihr einen pathetischen Antrag – wohl kaum aus echter Empfingung, sondern vielmehr aus Rollenzwang heraus. Irina weist ihn scharf zurück, er nimmt ihre Ablehnung hin, kündigt jedoch an, wenigstens keinen Rivalen zu dulden. Damit ist die Versöhnung mit Baron Tuzenbach faktisch widerrrufen. Abermals handelt und spricht Solenyj, als empfange er seine Handlungsanweisungen von einem anderen Menschen: das Verhaltensmodell „Lermontov“ gibt ihm Aktionen, Reaktionen, sogar Redewendungen vor. Die Beleidigungen und Belästigungen, mit denen er dem Baron nachstellt, die lächerlichen Streitereien mit !ebutykin über die Zahl der Moskauer Universitäten oder kaukasische Gerichte, schließlich der Antrag wirken aus dieser Sicht beinahe automatenhaft. Auch das Ereignis eines tödlichen Duells ist damit vorgezeichnet. Währenddessen fährt Nata%a, die den anderen das Fest verdorben hat, mit ihrem Liebhaber Protopopov auf und davon. Sie betrügt ihren lebensuntüchtigen Mann mit dessen Vorgesetzten. Protopopov, in dessen Namen das orthodoxe Priesteramt wie zum Hohn anklingt, wird mit dieser Szene endgültig zum großen Abwesenden in diesem Drama. Als Vorsitzender des Zemstvo verkörpert er eine neue mächtige Bürokratie in der Provinzstadt, den Aufstieg einer neuen Welt und Epoche, die die Prozorovs hinter sich lassen wird. So streben schließlich alle aus dem Haus, dem vorgesehenen Ort des Festes, in die Stadt, in den Spielklub, auf die Straße. Die frustrierte Hoffnung auf Zerstreuung in der Zeit, im herausgehobenen Moment des Festes, wird abgelöst von der kompensatorischen Zerstreuung im Raum. Auch die letzten Worte des Aktes, in die Irina ihre ganze Sehnsucht legt, bestätigen diese zentrifugale Richtung, nur diesmal auf einer höheren Ebene, fort aus der Provinz hin zum Mittelpunkt des Reiches, der Welt, der Phantasie und Sehnsucht: „Nach Moskau, nach Moskau (54).“42

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