Castrum sanctae Mariae: Die Marienburg als Burg, Residenz und Museum [1 ed.] 9783737008839, 9783847108832

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Castrum sanctae Mariae: Die Marienburg als Burg, Residenz und Museum [1 ed.]
 9783737008839, 9783847108832

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Vestigia Prussica Forschungen zur ost- und westpreußischen Landesgeschichte

Band 1

Herausgegeben im Auftrag der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung von Arno Mentzel-Reuters, Jürgen Sarnowsky und Sven Tode

Arno Mentzel-Reuters / Stefan Samerski (Hg.)

Castrum sanctae Mariae Die Marienburg als Burg, Residenz und Museum

Mit 142 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Historischen Kommission fþr ost- und westpreußische Landesforschung.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Die Marienburg von der çstlichen Seite; nach Zeichnung von Johann Carl Schultz, Stecher: W. Witthoeft, ca. Mitte des 19. Jh. Sammlung des Schlossmuseums Marienburg, MZM/R/83. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2628-1899 ISBN 978-3-7370-0883-9

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgekürzt zitierte Literatur

9

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Andreas Sohn Die königliche Residenzanlage auf der 6le de la Cit8, vornehmlich zur Zeit Ludwigs IX. (1226–1270), und die Niederlassung der Templer in Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Udo Arnold Die Marienburg auf dem Weg zum Machtzentrum des Deutschen Ordens

47

Sławomir Jjz´wiak / Janusz Trupinda Die Lebensorganisation im Schloss Marienburg in der Ordenszeit . . . .

79

Arno Mentzel-Reuters Zur Sakraltopologie der Marienburg

99

I. Mittelalter

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christofer Herrmann Die Hochmeisterkapelle auf der Marienburg . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Tadeusz Jurkowlaniec / Maria Poksin´ska Die Heilig-Kreuz-Legende am Südportal der Annen-Kapelle auf der Marienburg. Zur politischen Aussage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Jürgen Sarnowsky Das Tressleramt – Aufgaben und Raumbedarf

. . . . . . . . . . . . . . . 251

6

Inhalt

Grischa Vercamer Die Hausämter auf der Marienburg. Wirtschaftsführung und Wirtschaftsräume (1309–1457) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

II. Frühe Neuzeit Wiesław Długoke˛cki Die Änderung der Schlossverwaltung 1454–1522. Ursachen und Folgen . 297 Janusz Hochleitner (†) / Karol Polejowski Die Funktionen des Marienburger Hochschlosses im 17. Jahrhundert

. . 309

Aleksandra Girsztowt Das Marienburger Schloss in der Mitte des 16. Jahrhunderts . . . . . . . 335 Kazimierz Pospieszny Destruktion und Umgestaltung der Architektur der Marienburger Marienkirche im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Stefan Samerski Die Burg als ungeliebte Alternative – Jesuiten auf der Marienburg . . . . 373 Wojciech Zawadzki Literaturbericht über das Marienburger Jesuiten-Erbe . . . . . . . . . . . 399

III. Neuzeit Tomasz Torbus Der Wiederaufbau der Marienburg 1817–1944. Parallelitäten und Interferenzen im europäischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Bernhart Jähnig Die Bedeutung der Marienburg für das Geschichtsverständnis von Theodor von Schön . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Artur Dobry Restaurierungsaktivitäten von Carl August Gersdorff auf dem Schloss Marienburg in den Jahren 1819–1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Bartłomiej Butryn Die Restaurierung der historischen künstlerischen Schlosseinrichtung aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

Inhalt

7

Mirosław Jonakowski Die Restaurierung der Schlosskirche St. Marien in Marienburg im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477

Vorwort

»Alles Gute und Würdige erstehe wie dieser Bau« – so lautete der Trinkspruch, mit dem der preußische Kronprinz und spätere König Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1822 auf einem Festbankett im Großen Remter der Marienburg den Abschluss der ersten Restaurierungsphase des ehemaligen Haupthauses des Deutschen Ordens verkündete.1 Der Wechsel von Aufbau und Zerstörung prägte die Geschichte des Bauwerks. Bei allen Arbeiten stand die Wiedergewinnung des Zustandes während der Zeit als Hochmeisterresidenz im Vordergrund, die bei großzügiger Rechnung von 1309 bis 1456, also nicht ganz einhundertfünfzig Jahre, währte. Danach gehörten Stadt und Burg Marienburg mehr 320 Jahre lang zum Königreich Polen. Das Schloss diente als königliche Residenz und Sitz des Woiwoden, die Kirche und Teile der Burg als Residenz der Jesuiten. Nach der Ersten Polnischen Teilung von 1772 schien das Schicksal der Burgruine besiegelt; Friedrich der Große verbot jedoch den Abriss. Dennoch kam es bis 1819 zu gröberen Eingriffen in die mittelalterliche Bausubstanz als in der gesamten Zeit zuvor. Dem 1816 zum Oberpräsidenten von Westpreußen ernannten Theodor von Schön ist es zu danken, dass die industrielle Nutzung des Gebäudes beendet und es fortan als Museum hergerichtet wurde. In den 200 Jahren, die seither verstrichen sind, hat sich die Euphorie des preußischen Kronprinzen nicht bewahrheitet. Nach einem kontinuierlichen Weiterbau im Sinne des Hohenzollernstaates und als legitimierendes Symbol seiner vermeintlichen Wurzeln teilte es auch dessen Schicksal. 1945 wurden große Teile des Schlosses zerstört. Seither haben polnische Restauratoren in mühevoller Arbeit das Baudenkmal zunächst gesichert und schließlich rekonstruiert. Der Abschluss dieser international geförderten und geachteten Arbeiten war die Wiederherstellung der Marienkirche und der überlebensgroßen Marienfigur im Jahr 2016. 1 Joseph von Eichendorff: Die Wiederherstellung des Schlosses der deutschen Ordensritter zu Marienburg, Berlin 1844, S. 140.

10

Vorwort

Im Mai 2017 trafen sich auf Initiative der Historischen Kommission für Ostund Westpreußische Landesforschung polnische und deutsche Experten im Karwan der Marienburg zu einer Bestandsaufnahme. Die Konferenz fand in Kooperation mit dem Muzeum Zamkowe w Malborku und der Universität Danzig statt. Die Beiträge der Konferenz übergeben wir hiermit der Öffentlichkeit. Sie zeigen, wie die kontinuierliche Arbeit am und mit dem Bauwerk auch die Wahrnehmung des Objektes verändert. Es soll die gesamte Geschichte der Anlage berücksichtigen. Es ist ein besonderes Anliegen des Bandes, auch die Beiträge der polnischen Forschung aus den letzten Jahrzehnten in deutscher Sprache zugänglich zu machen. Ein geschlossenes Bild, wie es dem Kronprinzen 1822 vor Augen stand, ist heute nicht mehr zu liefern, zu vielfältig sind die Interpretationsansätze und Fragen, die an 700 Jahre Geschichte gerichtet werden müssen. Insofern liegt die Verantwortung für die Beiträge alleine bei den Autoren, die Herausgeber haben sich lediglich um eine einheitliche äußere Gestaltung und redaktionelle Geschlossenheit bemüht. Es ist erstaunlich, wie trotz zweihundertjähriger intensiver wissenschaftlicher Bemühungen um die Marienburg in vielen zentralen Bereichen nach wie vor Klärungsbedarf besteht. Der Band soll in diesem Sinne keine abschließenden Antworten präsentieren, sondern anregend wirken und das lebhafte Interesse an einem zentralen Zeugnis europäischer Geschichte fördern. Die Herausgeber danken in besonderer Weise allen Institutionen und Privatpersonen, die zu beigetragen haben, dass dieser Band reich bebildert werden konnte, insbesondere dem Muzeum zamkowe w Malborku, dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin und Udo Arnold (Münstereifel). München und Berlin, im August 2018 Arno Mentzel-Reuters

Stefan Samerski

Abgekürzt zitierte Literatur

Das Ausgabebuch des Marienburger Hauskomturs für die Jahre 1410–1420, hg. Walther Ziesemer, Königsberg 1911 APB Altpreußische Biographie APF Altpreußische Forschungen APH Acta Poloniae Historica APM Altpreußische Monatsschrift GÄB Das Grosse Ämterbuch des Deutschen Ordens, hg. Walther Ziesemer, Danzig 1921 GZB Das große Zinsbuch des Deutschen Ritterordens (1414–1438), hg. Peter G. Thielen, Marburg 1958 JH Regesta historico-diplomatica Ordinis S. Mariae Theutonicorum 1198–1525, bearb. unter Mitwirkung zahlreicher Anderer von Erich Joachim, hg. von Walther Hubatsch, Bd. 1,1–3, Göttingen 1948–1965 KH Kwartalnik Historyczny KNMP Janusz Hochleitner/Mariusz Mierzwin´ski (Hg.), Kos´cijł Najs´wie˛tszej Marii Panny na Zamku Wysokim w Malborku, dzieje-wystrjj-konserwacja, Malbork 2016 MÄB Das Marienburger Ämterbuch, hg. Walther Ziesemer, Danzig 1916 MKB Das Marienburger Konventsbuch der Jahre 1399–1412, hg. Walther Ziesemer, Danzig 1913 MTB Das Marienburger Tresslerbuch der Jahre 1399–1409, hg. Erich Joachim, Königsberg 1896 OM Ordines militares. Torun´ QStGDO Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens SRP Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preussischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft / hrsg. von Theodor Hirsch, Max Töppen und Ernst Strehlke, 1–5, Leipzig 1861–1874 ZH Zapiski Historyczne ZHM Das Zinsbuch des Hauses Marienburg (1400–1412), hg. von Walther Ziesemer, Marienburg 1910 AMH

I. Mittelalter

Andreas Sohn

Die königliche Residenzanlage auf der Île de la Cité, vornehmlich zur Zeit Ludwigs IX. (1226–1270), und die Niederlassung der Templer in Paris Werner Paravicini zum 75. Geburtstag herzlich gewidmet

1.

Der Aufstieg von Paris

Dass Paris zur Hauptstadt Frankreichs bis zum 13. Jahrhundert und mit mehr als 200.000 Einwohnern im beginnenden 14. Jahrhundert zur größten Stadt des spätmittelalterlichen Europa aufstieg, ist eng verzahnt mit der Entwicklung der kapetingischen Monarchie.1 König Heinrich I. (1031–1060) leitete in der Mitte des 11. Jahrhunderts mit seiner Abkehr von Orl8ans und seiner Bevorzugung von Paris als Residenzort einen Prozess ein, welcher die Capitale zunächst der Krondomäne, dann des gesamten Königreiches entstehen ließ. Die urbane Zentralitätsbildung mit ihrer gewaltigen Dynamik war bis zum Ende der Königsherrschaft Philipps II. (1180–1223) bereits weit gediehen und verstärkte sich noch unter seinem Enkel Ludwig IX. (1226–1270), dessen am 11. August 1297 erfolgte Heiligsprechung durch Papst Bonifaz VIII. (1294–1303) gleichsam die Aufgipfelung der kapetingischen Monarchie im 13. Jahrhundert besiegelte.2 Die französische Interessen- und Machtpolitik griff dabei weit in den Mittelmeerraum aus, so auf die Apenninenhalbinsel und nach Sizilien, ja bis nach Nordafrika und ins Heilige Land. Viele mittelalterliche Imprägnierungen werden noch im heutigen Stadtbild von Paris ansichtig, mitunter in Fragmenten, und können im urbanen Memorialraum erschlossen werden.3 Zwei herausragende Residenzanlagen des mittelalterlichen

1 Andreas Sohn, Von der Residenz zur Hauptstadt. Paris im hohen Mittelalter, Ostfildern 2012. 2 Zu König Ludwig IX. von Frankreich: Jacques Le Goff, Saint Louis, Paris 1996 (deutsche Übersetzung 2000). Siehe zu diesem Historiker Andreas Sohn, Vom Appetit auf Geschichte und von der Liebe zum lebendigen Gedächtnis. Zu Leben und Werk des Historikers Jacques Le Goff (1924–2014), in: Historisches Jahrbuch 135 (2015), S. 524–556. 3 Andreas Sohn, Paris als urbaner Memorialraum, in: Ders. (Hg.), Memoria: Kultur – Stadt –

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Andreas Sohn

Paris, welche die französischen Könige auf der 6le de la Cit8 und die Templer auf dem rechten Seineufer schufen, sollen im Folgenden vorgestellt werden.

Abb. 1: Ansicht der 6le de la Cit8, Kalenderbild des Monats Juni aus dem Stundenbuch des Herzogs Johann II. von Berry († 1416), ›TrHs Riches Heures du Duc de Berry‹ (Chantilly, Mus8e Cond8, MS 65, Quelle: Wikimedia).

Museum / M8moire: Culture – Ville – Mus8e, Bochum 2006 (Herausforderungen. Historischpolitische Analysen, Bd. 18), S. 235–259.

Die königliche Residenzanlage auf der Île de la Cité

2.

17

Die Genese der königlichen Residenz auf der Île de la Cité

Von der größten Flussinsel in der Seine aus entwickelte sich die Stadt Paris und gewann ihre bis heute mutatis mutandis bestehende charakteristische Dreiteilung: Im östlichen Bereich der Insel entstanden die Kathedrale, in gotischem Baustil ab 1163, das Baptisterium und das bischöfliche Palais, im westlichen Bereich die Königsresidenz.4 Die urbane Entwicklung auf dem rechten, nördlichen Seineufer wurde hauptsächlich von Handel, Handwerk und Wirtschaft bestimmt; dort lebten in dichter Bebauungsstruktur die meisten Einwohner. Das linke, südliche Seineufer, mit Wiesen und Weiden bis zur Höhe des Genovefahügels ansteigend, prägten zunächst vereinzelt Klöster und Kirchen, dann immer stärker die Universität, die in den Jahren um 1200 entstand und mit derjenigen im norditalienischen Bologna die erste in Europa war. Ein regelrechtes Stadtviertel bildete sich um die Universität und die zahlreichen Kollegien aus, später als »Quartier Latin« bezeichnet, und füllte sich auch mit zahlreichen Tavernen. Erstmals ist unter König Robert II. dem Frommen (996–1031) belegt, dass sich eine Pfalz an der westlichen Inselspitze erhob.5 Dass Insel und palatium unzureichend gesichert waren, führte im März 1111 die erfolgreiche Eroberung beider durch den ehrgeizigen Widersacher König Ludwigs VI. (1108–1137), den Grafen von Meulan, Robert von Beaumont, vor. Nach der erfolgreichen Rückeroberung ließ der Kapetinger mit dem Beinamen der Dicke ein mehrstufiges Fortifikationssystem errichten.6 Die Pfalz wurde neu befestigt und mit einem großen, runden Festungsturm versehen, der einen Durchmesser von 11,70 Metern hatte. Die Mauerstärke des Donjon maß an der Basis 3 Meter. Dieser galt als

4 Hier und im folgenden nach Sohn, Residenz (wie Anm. 1). Zur Kathedrale und zum bischöflichen Residenzbezirk siehe auch Ders., 850 Jahre Notre-Dame de Paris. Anmerkungen zu Neuerscheinungen und zum Memorialdiskurs in Frankreich, in: Historisches Jahrbuch 134 (2014), S. 421–450. 5 Hinsichtlich der Geschichte der Pfalz beziehungsweise der Residenz der Kapetinger grundlegend: Jean Guérout, Le Palais de la Cit8 / Paris des origines / 1417. Essai topographique et arch8ologique, in: M8moires de la F8d8ration des Soci8t8s historiques et arch8ologiques de Paris et de l’6le-de-France 1 (1949), S. 57–212; 2 (1950), S. 21–204; 3 (1951), S. 7–101. 6 Zum Fortifikationssystem der Königsresidenz und der Stadt Paris: Andreas Sohn, Paris als Festung. König, Hof, Topographie und Urbanismus in der französischen Hauptstadt des hohen Mittelalters, in: Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Hg.), Der Hof und die Stadt. Konfrontation, Koexistenz und Integration in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. 9. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen veranstaltet in Zusammenarbeit mit der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt, dem Institut für Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und dem Deutschen Historischen Institut Paris, Halle an der Saale, 25.–28. September 2004, Ostfildern 2006 (Residenzenforschung, Bd. 20), S. 371–385.

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Andreas Sohn

so sicher, dass der königliche Schatz auf Geheiß Ludwigs VI. dort aufbewahrt wurde.7 Um den Schutz so wirkungsvoll wie möglich zu gestalten, ließ dieser die beiden einzigen, nunmehr steinernen Brückenzugänge zur Insel mit Turmburgen sichern: mit dem »Grand Ch.telet« auf dem rechten Ufer (die entsprechende Brücke war zugleich etwas Seine abwärts verlegt worden, also näher zur Pfalz hin) und mit dem »Petit Ch.telet« auf dem linken Ufer. Die »große Turmburg« wurde zum Sitz des vom König ernannten praepositus, Pr8vit, der administrative, richterliche und polizeiliche Befugnisse ausübte, und zum Gefängnis. Dieses Fortifikationssystem wurde von König Philipp II. wirkungsvoll ergänzt. Dabei war eine Sicherheitskonzeption leitend, die stärker auf die gesamte Stadt, nicht mehr nur hauptsächlich auf die Residenz und die 6le de la Cit8 ausgerichtet war. Bevor Philipp II. zum Dritten Kreuzzug 1190 aufbrach, ließ er den Bau einer Stadtmauer – noch ohne vorgelagerte Wassergräben – auf dem nördlichen Seineufer einleiten. Eine entsprechende Wehrmauer auf dem südlichen Seineufer entstand bis 1212 oder 1215. Die Stadtmauer auf beiden Ufern war 2,60 m breit, 8 bis 10 m hoch und insgesamt etwa 5.400 m lang. Sie hatte 70 runde Türme, 13 Tore und einen umlaufenden, zinnengekrönten Wehrgang. Zwillingstürme sicherten die Tore. Die eingeschlossene Stadtfläche belief sich auf mehr als 250 Hektar. Angesichts des kapetingisch-anglo-normannischen Konflikts ließ Philipp II. außerdem eine mächtige Festung im Westen von Paris, vor der Stadtmauer des rechten Ufers, errichten: den Louvre, der fast unmittelbar an der Seine aufragte. Der Name des Ortes, Lup(p)ara oder Luppera, ging möglicherweise auf einen ursprünglich dort aufgestellten Hundezwinger für die Jagd auf Wölfe zurück – und auf die Burg über. Diese sollte einen möglichen feindlichen Angriff normannischer oder englischer Truppen – vorgetragen über den Fluss oder auf dem Landweg – abwehren.

3.

Ausbau und Funktionserweiterung der Residenz unter Ludwig IX.

Die Königsherrschaft Ludwigs IX., der – so der Mediävist Joachim Ehlers – »zum ungekrönten Kaiser des Abendlandes«8 aufstieg, zumal nach dem Tode des staufischen Kaisers Friedrich II. im Jahre 1250, erwies sich in vielem als Einschnitt und besonders bedeutungsvoll für Frankreich, wie es sich auch im kol7 Geoffroy de Courlon, Chronique de l’abbaye de Saint-Pierre-le-Vif de Sens, ed. Gustave Julliot, Sens 1876, S. 470. 8 Joachim Ehlers, Geschichte Frankreichs im Mittelalter, Darmstadt 2009, S. 161.

Die königliche Residenzanlage auf der Île de la Cité

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lektiven Gedächtnis der französischen Nation niedergeschlagen hat.9 Es ist bezeichnend, dass der königliche Residenzbezirk auf der 6le de la Cit8 von diesem kapetingischen Monarchen weiter ausgebaut wurde, damit die funktionelle Abrundung sowie die architektonische und künstlerische Krönung erfuhr.10 Bis dahin gab es drei Sakralbauten: die Nikolauskapelle seit der Zeit Roberts des Frommen, das Marienoratorium und die Michaelskapelle, die beide König Ludwig VII. (1137–1180) hatte errichten lassen.11 Anlass für den Bau eines neuen Sakralgebäudes waren hochbedeutende Reliquien, die Ludwig IX. für gewaltige Geldsummen vom lateinischen Kaiser Balduin II. von Courtenay, seinem stets von drückenden Finanznöten geplagten, 1273 verstorbenen Vetter, in Byzanz beziehungsweise Konstantinopel erwarb.12 Darunter befanden sich zuvörderst die Dornenkrone Christi, corona spinea, und Teile vom Heiligen Kreuz und von der Heiligen Lanze. Es kamen Reliquien vom Heiligen Blut und dem purpurnen Mantel der Verspottung und dem Schwamm hinzu, der gemäß den Evangelien in Essig getaucht Jesus Christus zur Löschung seines Durstes gereicht worden war, ferner von dem Schilfrohr, das er als Zepter gehalten hatte, sowie ein Quäntchen von der Milch der Gottesmutter und die Häupter der Heiligen Johannes des Täufers, Blasius, Simeon und Clemens.13 Papst Innozenz IV. sollte in seiner Bulle vom 24. Mai 1244 die herausragende Stellung des französischen Königs mit Bezug auf die Dornenkrone Christi unterstreichen: … nec immeritk reputamus, 9 Hinsichtlich Ludwigs IX. im kollektiven Gedächtnis der französischen Nation siehe unter anderem: Fr8d8ric Lacaille, L’image de saint Louis dans la peinture au XIXe siHcle, in: Pierre-Yves Le Pogam (Hg.), Saint Louis [Ausstellungskatalog], Paris 2014, S. 23–35; Andreas Sohn, Frankreichs Berufung. Zu den Fastenpredigten des Hochschulrektors und späteren Kardinals Alfred Baudrillart in der Pariser Kathedralkirche Notre-Dame (1928), in: Gabriele Annas/Jessika Nowak (Hg.), Et l’homme dans tout cela? Von Menschen, Mächten und Motiven. Festschrift für Heribert Müller zum 70. Geburtstag (Frankfurter Historische Abhandlungen, Bd. 48), Stuttgart 2017, S. 251–275, hier S. 265. 10 Zu Ludwig IX.: Le Goff, Saint Louis (wie Anm. 2); Ludwig Vones, Ludwig IX. 1226–1270, in: Joachim Ehlers/Heribert Müller/Bernd Schneidmüller (Hg.), Die französischen Könige des Mittelalters. Von Odo bis Karl VIII. 888–1498, München 1996, S. 176–193; Le Pogam, Saint Louis (wie Anm. 9). 11 Sohn, Residenz (wie Anm. 1), S. 79–82. Zur Lage der Kapellen siehe den Plan der königlichen Residenzanlage bei Guérout, Le Palais (wie Anm. 5), 1949, zwischen den Seiten 56 und 57 (hier mit Einzeichnung der Sainte-Chapelle, deren Vorgängerbau die Nikolauskapelle war). 12 Sauveur-J8rime Morand, Histoire de la Sainte-Chapelle Royale du Palais, Paris 1790, S. 3–7 (Urkunde Ludwigs IX. von Januar 1246), hier S. 3 (Quellenanhang mit separater Paginierung): … fundavimus & aedificavimus infra septa dom0s nostrae Parisiensis, Domino concedente, capellam, in qu. eadem sacrosancta corona Domini, crux sancta, & aliae quamplures pretiosae reliquiae repositae continentur, quae ut divinae laudis obsequio jugiter honerentur, idem locus in perpetuum debito& devoto divini cult0s servitio frequentetur … Zur Bedeutung von Reliquien für Herrscher in Spätantike und Mittelalter : Edina Bozóky, La politique des reliques de Constantin / Saint Louis, Paris 2006. 13 Im Juni 1247 bestätigte der lateinische Kaiser Balduin II. die Überlassung der Reliquien (Morand, Histoire de la Sainte-Chapelle [wie Anm. 12], S. 7f.).

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Andreas Sohn

quod te Dominus in su. coron. spine., cuius custodiam ineffabili dispositione tuae commisit excellentiae, coronavit.14 In Zusammenhang mit der Überführung der Dornenkrone (und weiterer Reliquien) nach Paris merkte der englische Geschichtsschreiber Matthäus Paris an: Universi igitur et singuli Deum, qui regnum Francorum prae omnibus aliis speciali complectitur dilectione, consolatur, et tuetur, junctis manibus glorificarunt. Sic igitur Dominus noster Jesus Christus, Rex regum et Dominus dominantium, …, in Cujus manu corda sunt regum, dans salutem quibus vult, ipsum regnum Franciae his tribus dotavit et ditavit in brevi tempore beneficiis pretiosis …15

Ludwig IX. dachte nicht daran, die Passionsreliquien der benediktinischen, 9 km nördlich der 6le de la Cit8 gelegenen Abtei Saint-Denis mit der Grablege seiner Dynastie dauerhaft zu überlassen, auch nicht der Kathedralkirche NotreDame auf der 6le de la Cit8 oder anderen, von ihm oder Angehörigen seiner Familie gegründeten Klöstern wie Royaumont oder Maubuisson.16 Das Gotteshaus der Abtei Saint-Denis und die Kathedrale brachten zum sichtbaren Ausdruck, wie die Gotik in der Sakralbaukunst ab den Jahrzehnten um die Mitte des 12. Jahrhunderts in der 6le-de-France und in Paris Gestalt annahm. Für Ludwig IX. stand die »physische Nähe« dieser Heiltümer im Vordergrund: Fortan sollten sie mit der außerordentlichen und unüberbietbaren virtus neben den fortifikatorischen Schutzbauten aus vergangenen Herrschaftszeiten ihn selbst, seine Familie und sein Königtum sichern – nach dem Vorbild der byzantinischen Kaiser. Eine ähnliche architektonische Raumlösung wie in Byzanz beziehungsweise Konstantinopel wurde auch in Paris gefunden: nämlich innerhalb des königlichen Residenzbezirkes.17 Die romanische Nikolauskapelle musste dem neuen zweistöckigen Sakralbau weichen, der – in der architektonischen Tradition von Pfalzdoppelkapellen stehend – in der Formensprache der Kunst der Zeit, nämlich im gotischen Stil, von 1241 bis spätestens 1247 entstand und mit farbigen, intensiv leuchtenden 14 Bulle von Innozenz IV.: Morand, Histoire de la Sainte-Chapelle (wie Anm. 12), S. 2f., Zitat auf S. 2. 15 Matthaei Parisiensis, monachi sancti Albani, Chronica Majora, ed. Henry Richards Luard, Bde. 1–7, London 1872–1883 (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores 57,1–7), hier Bd. 4, S. 91. 16 Sohn, Residenz (wie Anm. 1), S. 103–108. 17 Vgl. Bernard Flusin, Les reliques de la Sainte-Chapelle et leur pass8 imp8rial / Constantinople, in: Jannic Durand/Marie-Pierre Laffitte (Hg.), Le tr8sor de la Sainte-Chapelle [Ausstellungskatalog], Paris 2001, S. 20–31; Alexei Lidov, A Byzantine Jerusalem. The Imperial Pharos Chapel as the Holy Sepulchre, in: Annette Hoffmann/Gerhard Wolf (Hg.), Jerusalem as Narrative Space. Erzählraum Jerusalem (Visualising the Middle Ages 6), LeidenBoston 2012, S. 63–103; Meredith Cohen, The Sainte-Chapelle and the Construction of Sacral Monarchy. Royal Architecture in Thirteenth-century Paris, Cambridge 2015, S. 115– 125.

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Glasfenstern versehen war.18 Der Neubau mit einem Schieferdach, wie das architektonische Pendant in Byzanz beziehungsweise Konstantinopel seit 1248 als »heilig« bezeichnet, stand völlig frei im weiten Hof der Residenz.19 Die untere, aus statischen Gründen massiv gebaute Kapelle, 6,60 m hoch und zu Ehren der Gottesmutter konsekriert, konnte vom Hof der Residenz aus betreten werden. Die obere Kapelle, dem Heiligen Kreuz und der Dornenkrone geweiht, war einschiffig, hatte vier Joche und schloss mit einem Chor über sieben Seiten des Zwölfecks. Sie maß 20,50 m in der Höhe und reichte größenmäßig damit sogar an die Höhe von Kathedralkirchen, so beispielsweise an diejenige von Noyon, heran und übertraf sogar andere Bischofskirchen. Allein die Gesamtfläche der hohen Glasfenster der Oberkapelle (ohne Rosette) betrug 670 m2.20 Das mittlere der sieben Glasfenster des Chores galt der Passion Christi, das erste Glasfenster zur Rechten – vom Eingangsbereich aus gesehen – war der Geschichte der Passionsreliquien gewidmet. Die Weihe der Oberkapelle vollzog der Kardinal Odo von Ch.teauroux, der ehemalige Domkanoniker von Notre-Dame und Kanzler der Pariser Universität, am 26. April 1248, diejenige der Unterkapelle der Erzbischof Pierre Berruyer von Bourges.21 Ludwig IX., der bald darauf am 12. Juni 1248 zum Kreuzzug ins Heilige Land aufbrach, hatte sich zum Bau der SainteChapelle in honorem Dei omnipotentis, & sacrosanctae spineae coronae Domini nostri Jesu Christi entschlossen und verwirklichte dieses Vorhaben pro salute animae nostrae, & pro remedio animarum inclytae recordationis regis Ludovici, 18 Zur Pariser Sainte-Chapelle (Auswahl): Willibald Sauerländer, Die Sainte-Chapelle du Palais Ludwigs des Heiligen, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1977), S. 92–115; Claudine Billot, Le message spirituel et politique de la Sainte-Chapelle de Paris, in: Revue Mabillon 63, n. S. 2 (1991), S. 119–141; Matthias Müller, Paris, das neue Jerusalem? Die Ste-Chapelle als Imitation der Golgatha-Kapellen, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 59 (1996), S. 325–336; Claudine Billot, Les Saintes Chapelles royales et princiHres, Paris 1998; Laurence de Finance, La Sainte-Chapelle. Palais de la Cit8, Paris, Paris 1999; Durand/Laffitte, Le tr8sor (wie Anm. 17); Ruth Wessel, Die Sainte-Chapelle in Frankreich. Genese, Funktion und Wandel eines sakralen Raumtyps, Diss., Düsseldorf 2003 (Digitalisat); Christine Hediger (Hg.), La Sainte-Chapelle de Paris. Royaume de France ou J8rusalem c8leste? Actes du colloque (Paris, CollHge de France, 2001) (Culture et soci8t8 m8di8vales, Bd. 10), Turnhout 2007; Jean-Michel Leniaud/FranÅoise Perrot, La SainteChapelle, Paris 2007; Pierre-Yves Le Pogam, La Sainte-Chapelle : architecture et d8cor, in: Ders., Saint-Louis (wie Anm. 9), S. 101–109; Cohen, The Sainte-Chapelle (wie Anm. 17). 19 Morand, Histoire de la Sainte-Chapelle (wie Anm. 12), S. 8: sacram capellam (in der Urkunde König Ludwigs IX. von August 1248, ausgestellt in Aigues-Mortes vor der Überquerung des Mittelmeeres). Zum Patrozinium: Claudine Billot, Les Saintes-Chapelles (XIIIe–XVIe siHcles). Approche compar8e de fondations dynastiques, in: Revue d’histoire de l’Pglise de France 73 (1987), S. 229–248, hier S. 245. 20 De Finance, La Sainte-Chapelle (wie Anm. 18), S. 30. Zum ikonographischen Programm der Glasfenster in der oberen Kapelle: FranÅoise Perrot, Un message vitr8 au XIIIe siHcle, in: Leniaud/Perrot, La Sainte-Chapelle (wie Anm. 18), S. 121–173. 21 Zum Datum der Konsekration: Marcel Aubert, La date de la d8dicace de la Sainte-Chapelle de Paris, in: Bulletin monumental 106 (1948), S. 141–143.

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genitoris nostri, & charissimae Dominae & matris nostrae Blanchae illustris reginae, & omnium antecessorum nostrorum.22

Abb. 2: Sainte-Chapelle, Bauzustand vor der Restaurierung. Rechts und links neben dem Ziborium über dem entfernten Hochaltar die Treppen zur Reliquienbühne, zwischen den leuchtenden Fenstern die Apostelgalerie (Postkarte, um 1875).

Jener hatte also zu seinem eigenen Seelenheil, zu dem seiner Eltern Ludwig VIII. und Blanca von Kastilien sowie aller seiner königlichen Vorgänger gehandelt. Um dem König und seiner Familie zu ermöglichen, rasch, ungehindert und trockenen Fußes zur Sainte-Chapelle zu gelangen, wurde ein langer gedeckter Flur, später Galerie des Merciers genannt, gebaut.23 Außerdem wurde ein mehrgeschossiges Gebäude an der Nordseite der Kapelle errichtet, welches im

22 Morand, Histoire de la Sainte-Chapelle (wie Anm. 12), S. 8 (Urkunde Ludwigs IX. von August 1248, ausgestellt in Aigues-Mortes). 23 Sohn, Residenz (wie Anm. 1), S. 108.

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zweiten Obergeschoß für das Archiv mit den Urkunden des Königtums, den Tr8sor des chartes, bestimmt war. Zum Bauensemble gehörte eine Ausgabestelle für Pergamentstücke, die dort eigens für die Belange der königlichen Verwaltung hergerichtet wurden. Diese hatte sich im Verlauf des 12. Jahrhunderts herausgebildet, unter anderem mit der Kanzlei und dem Hofgericht, dem späteren Parlement, und differenzierte sich immer stärker. So war der Residenzbezirk zu einem administrativen Mittelpunkt des französischen Königreiches geworden. An der Nordseite, zum Seineufer hin, veranlasste Ludwig IX. zudem den Bau eines neuen Saales und eines Turmes (Tour Bonbec). Fortgeführt wurden die architektonischen Veränderungen durch seinen Enkel Philipp IV. den Schönen, der umfangreiche Umbau- und Renovierungsarbeiten in der Residenz ausführen und den damals wohl größten, vierschiffigen Saal Europas erbauen ließ, Salle des Gens d’armes genannt.24 Dieser war 64 m lang, 27 m breit und 8,5 m hoch und konnte ungefähr 2000 Personen aufnehmen. Er wurde als Refektorium für die Bediensteten des Hofes und auch für Versammlungen genutzt. Heute finden dort hin und wieder Modedefilees, Vernissagen, Feiern von Unternehmen und Banken statt. Im weiteren Verlauf des 14. Jahrhunderts, namentlich unter Johann II. (1350–1364) und Karl V. (1364–1380), kamen die mittelalterlichen Baueingriffe in den stark erweiterten und verdichteten Residenzbezirk zu einem gewissen Abschluß.25 Dem entsprach es, dass fortan andere königliche Residenzen auf dem rechten Seineufer in Paris eine Bevorzugung erhielten, so der Louvre, der sich von einer kargen Festung mehr und mehr in ein Palais mit den diesbezüglichen Annehmlichkeiten wandelte, und die Anlage bei Saint-Paul (auch: Saint-Pol) im Osten der Stadt.26

24 Guérout, Le Palais (wie Anm. 5), 1949, S. 173–197; 1950, S. 21–44, 65–67; Jean Favier, Philippe le Bel, Paris 1978, S. 62–64, 70–72. 25 Jean Guérout, L’hitel du roi au palais de la Cit8 / Paris sous Jean II et Charles V, in: Vincennes aux origines de l’Ptat moderne. Actes du colloque scientifique sur Les Cap8tiens et Vincennes au Moyen ffge organis8 par Jean Chapelot et Plisabeth Lalou / Vincennes les 8, 9 et 10 juin 1994, Paris 1996, S. 219–288. 26 Zu Paris als urbanem Entfaltungsraum der königlichen Residenzen und der höfischen Gesellschaft: Andr8 Devèche, Les 7 r8sidences parisiennes des rois de France, Paris 1986, hier zum Louvre S. 9–14, zum Hitel Saint-Pol Fernand Bournon, L’Hitel royal de Saint-Pol / Paris, in: M8moires de la Soci8t8 de l’histoire de Paris et de l’6le-de-France 6 (1879), S. 54–179; Le Louvre des rois. De la forteresse de Philippe Auguste au palais-mus8e de Louis XVI (Dossiers d’Arch8ologie), Dijon 1995; Boris Bove/Murielle Gaude-Ferragu/C8dric Michon (Hg.), Paris, ville de cour (XIIIe–XVIIIe siHcle), Rennes 2017.

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Abb. 3: Weihnachtlicher Gottesdienst in der Sainte-Chapelle, ›TrHs Riches Heures du Duc de Berry‹ (Chantilly, Mus8e Cond8, MS 65,158r, Quelle: Wikimedia).

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Die Sainte-Chapelle als liturgischer und memorialer Mittelpunkt des französischen Königtums

Von den mittelalterlichen Bauten der königlichen Residenzanlage auf der 6le de la Cit8 hat wohl keiner ein so großes Interesse in der Forschung, besonders der kunst- und architekturgeschichtlichen, gefunden wie die Sainte-Chapelle. Schon auf dem Monatsbild Juni im prächtig ausgeschmückten Stundenbuch des 1416 verstorbenen Herzogs Johann II. von Berry (Chantilly, Mus8e Cond8, ms. 65), die Residenzanlage vom linken Seineufer aus darstellend, hebt sich die hoch aufragende Doppelkapelle von den anderen Bauwerken ab.27 Zahlreich sind die Beiträge zur Genese und Funktion des Sakralbaus, auch zu seiner Einordnung in die europäische Kunst und Architektur. Die erste Darstellung mit dem Abdruck von Quellen ist dem Kanoniker Sauveur-J8rime Morand zu verdanken, der seine Publikation 1790 an die Assembl8e Nationale richtete und gleichwohl die Profanierung des Sakralbaus bald danach nicht verhindern konnte.28 Einigkeit besteht in der Forschung darin, dass es sich um ein herausragendes Zeugnis der Gotik handelt. Der Bau- und Kunsthistoriker Günther Binding sieht die Sainte-Chapelle als »Höhepunkt in der Entwicklung der Hochgotik in der 6lede-France«.29 Gemäß den Kunsthistorikern Dieter Kimpel und Robert Suckale ist die Sainte-Chapelle »nach Karls des Großen Aachener Pfalzkapelle das vielleicht anspruchsvollste herrscherliche Bauwerk des Mittelalters«.30 Wie die Gotik von der 6le-de-France und Paris aus in die Regionen Frankreichs und weite Teile Europas ausstrahlte, so wurde die Sainte-Chapelle vielerorts nachgeahmt: als dynastischer (und nationaler) Gedenkort, als sakraler, künstlerischer und architektonischer Baukörper. Freilich lassen sich die anderen »Saintes-Chapelles« in Frankreich klarer und eindeutiger fassen, als es im Zuge eines komplexen Rezeptionsprozesses des Öfteren für weitere Bauten in West-, Mittel- und Südeuropa möglich ist.31 27 Abgebildet in FranÅoise Besse/J8rime Godeau, Tableaux parisiens. Du Moyen ffge / nos jours, six siHcles de peinture en capitale, Paris 2005, S. 17. Siehe zur Pariser Sainte-Chapelle die bibliographischen Verweise unter Anm. 18. 28 Morand, Histoire de la Sainte-Chapelle (wie Anm. 12). 29 Günther Binding, Was ist Gotik? Eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland 1140–1350, Darmstadt 2000, S. 146. 30 Dieter Kimpel/Robert Suckale, Die gotische Architektur in Frankreich 1130–1270, München 1985, hier nach der überarbeiteten Studienausgabe 1995 zitiert, S. 401. 31 Vgl. hier nur Billot, Les Saintes-Chapelles (wie Anm. 19), S. 229–248; Marc Carel Schurr, Zu den Nachfolgebauten der Sainte-Chapelle im Heiligen Römischen Reich. Die Palastkapellen von Aachen und Prag und das Problem des Architekturzitats, in: Stephan Gasser/ Christian Freigang/Bruno Boerner (Hg.), Architektur und Monumentalskulptur des 12.–14. Jahrhunderts. Produktion und Rezeption. Festschrift für Peter Kurmann zum 65. Geburtstag, Bern 2006, S. 163–181; Marc Carel Schurr, Kopie, Zitat, Mode – Die Pariser Sainte-Chapelle und die Rezeption der Gotik in Deutschland, in: Wolfgang Augustyn/

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Wer heute die Sainte-Chapelle bei dem Pariser Justizpalast aufsucht, kann infolge der dichten Bebauung rings um sie herum nur noch die ursprüngliche topographische Lage im königlichen Residenzbezirk erahnen. Ihrer liturgischen Funktion ist jene – wie schon erwähnt – im Zuge der Französischen Revolution entkleidet worden (der Profanierung folgte die Nutzung als Klublokal, Mehlspeicher und Depot für Gerichtsakten), ihre memoriale Bedeutung kann hingegen noch über den erhaltenen Bau mit den Glasfenstern und Skulpturen erschlossen werden, jedoch nicht über den Reliquienschatz, der in großen Teilen verlorengegangen ist. Auf Betreiben Ludwigs IX. wurde im Januar 1246 eine (später noch erweiterte) Kanonikerkommunität mit Hilfspersonal, zuvörderst quinque presbyteri principales, sive magistri capellani eingesetzt, die nicht mit der schon seit karolingischen Zeiten bestehenden capella regis, der Hofkapelle, zu verwechseln ist.32 Diese, benannt nach der Mantelreliquie, cappa, des heiligen Martin von Tours († 397), war eine eigenständige Personengruppe in der Umgebung des Königs, die sich wie schon in karolingischer Zeit um den herrscherlichen Gottesdienst zu kümmern hatte, ferner zu diplomatischen und administrativen Aufgaben herangezogen wurde und ihn auch auf Reisen begleitete. Der neuen Kanonikerkommunität war aufgetragen, die kostbaren Reliquien in der SainteChapelle zu hüten, die täglichen und wöchentlichen Offizien sowie die neuen liturgischen Feste im Kirchenjahr zu feiern.33 Für die Kanoniker wurden zumindest drei Häuser gebaut, die sich südlich der Sainte-Chapelle an der ehemaligen römischen Inselwehrmauer des späten dritten Jahrhunderts erhoben. Die Sainte-Chapelle mit der Kanonikerkommunität, geleitet von einem thesaurarius, war exemt, unterstand also nicht der Gerichtsbarkeit des Pariser Ortsbischofs und somit direkt dem Heiligen Stuhl beziehungsweise dem Papst. Ein großer, 2,70 m langer Schrein aus Silber und vergoldetem Kupfer, der Ulrich Söding (Hg.), Original – Kopie – Zitat. Kunstwerke des Mittelalters und der Frühen Neuzeit: Wege der Aneignung – Formen der Überlieferung (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, Bd. 26), Passau 2010, S. 37–49. – Auf den Diskurs über die Nachahmung der Pariser Sainte-Chapelle in Deutschland, auch am Sitz des Deutschen Ordens, in den Fachdisziplinen Profan- und Kirchengeschichte, Kunst- und Architekturgeschichte kann an dieser Stelle nur hingewiesen, aber nicht näher eingegangen werden. Die Ausführungen des Vfs. sollen auch diesem Diskurs dienlich sein. 32 Morand, Histoire de la Sainte-Chapelle (wie Anm. 12), S. 3–7 (Zitat auf S. 3). Siehe zur Kanonikerkommunität: Claudine Billot, La fondation de saint Louis. Le collHge des chanoines de la Sainte-Chapelle (1248–1555), in: Durand/Laffitte, Le tr8sor (wie Anm. 17), S. 98–105. Vgl. zur capella regis hier nur Josef Fleckenstein/Theo Kölzer/Xavier de la Selle/Karl Schnith, Hofkapelle, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, München-Zürich 1991, Sp. 70–74; ferner Robert Branner, The Sainte-Chapelle and the Capella Regis in the Thirteenth Century, in: Gesta 10 (1971), S. 19–22. 33 Pric Palazzo, La liturgie de la Sainte-Chapelle : un modHle pour les chapelles royales franÅaises ?, in: Hediger, La Sainte-Chapelle (wie Anm. 18), S. 101–111, hier S. 104–111.

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Bundeslade des Alten Bundes (zwischen Jahwe und seinem auserwählten Volk Israel) nachempfunden und im Laufe der Französischen Revolution eingeschmolzen, nahm die wertvollsten Reliquien in der Oberkapelle auf.34 Er stand zunächst auf dem Altar und war dann auf einer eigenen, von 1264 bis 1267 errichteten, erhöhten Schaubühne zur Verehrung ausgestellt, wohin zwei Wendeltreppen führten. Mit der Sainte-Chapelle, gleichsam einem gläsernen, kostbar gestalteten »architektonischen Reliquienschrein«, vielleicht vom Werkmeister Pierre de Montreuil35 errichtet, wurde die besondere Gottesnähe und Legitimation des französischen Königtums zum Ausdruck gebracht und zugleich der Machtanspruch der Kapetinger weiter sakralisiert sowie öffentlich symbolisiert. Kein anderer Monarch des Abendlandes verfügte über Vergleichbares, auch nicht der staufische Kaiser Friedrich II. und der englische König Heinrich III. (1216–1272): weder während der Herrschaft Ludwigs IX. noch in der Zeit bis zum ausgehenden Mittelalter. Ja, die französische Monarchie übertraf mit ihrem Reliquienschatz fortan wohl auch die byzantinischen Kaiser, denen die Rückeroberung Konstantinopels 1261 gelang und deren definitives Herrschaftsende mit dem Fall ihrer Hauptstadt im Jahre 1453 kommen sollte. Das lateinische Titularkaisertum bestand zwar bis 1383, doch führte es ein ephemeres Dasein. In Bezug auf die heiltumsmäßige Aufladung kam dem kapetingischen palatium keine andere Residenz im französischen Königreich gleich. Auf Initiative des Königs, seiner Nachfolger oder der Prinzen der Dynastie entstanden an verschiedenen Orten Frankreichs, zum Beispiel in Bourges, weitere »heilige Kapellen«, die also die Sainte-Chapelle nicht nur architektonisch, sondern auch in ihrem Reliquienprogramm und der mit ihr verbundenen Liturgie nachahmten.36 Natürlich wurde dann auch Ludwig IX. in besonderer Weise als Heiliger kommemoriert. Dass die Sainte-Chapelle mehr als eine Privatkapelle war, zeigte sich schon zu Lebzeiten dieses Kapetingers. In der und um die Sainte-Chapelle entfaltete sich 34 Zu Schrein und Reliquien: Jannic Durand, La Grande Ch.sse aux reliques, in: Durand/ Laffitte, Le tr8sor (wie Anm. 17), S. 107–112; Johannes Tripps, Wunderheilungen, mechanische Reliquiare und heiliges Spiel. Zum Leben in der Pariser Sainte-Chapelle am Ausgang des Mittelalters, in: Werner Rösener/Carola Fey (Hg.), Fürstenhof und Sakralkultur im Spätmittelalter, Göttingen 2008 (Formen der Erinnerung, Bd. 35), S. 109–124, besonders S. 109–113 (Schlüssel im Besitz des Königs Ludwig IX.). 35 Vgl. Günther Binding, Pierre de Montreuil, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, MünchenZürich 1993, Sp. 2139f. 36 Zu Begriff und Genese der »Saintes-Chapelles« in Frankreich: Billot, Les Saintes-Chapelles (wie Anm. 19), S. 229–248 (eine Karte mit den verzeichneten Kapellen S. 233); ferner Billot, Les Saintes-Chapelles royales et princiHres (wie Anm. 18), S. 14 (chronologisches Verzeichnis), 15 (Karte). Siehe zum Beispiel B8atrice de Chancel-Bardelot/Cl8mence Raynaud (Hg.), La Sainte-Chapelle de Bourges. Une fondation disparue de Jean de France, duc de Berry [Ausstellungskatalog], Paris-Bourges 2004.

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eine vom König stark geförderte und persönlich akzentuierte sowie vom Papsttum privilegierte Liturgie.37 Die liturgischen Vollzüge (mit den spezifischen Gedenktagen, täglichen Messen und Gebetszeiten sowie der ausgestalteten memoria von Angehörigen der Dynastie) waren eingebettet in den von den Offizien der Kanoniker strukturierten Tagesablauf und in das Kirchenjahr. Mehrere Hochfeste wurden in dessen Verlauf eingefügt: so unter anderem der 11. August mit Bezug auf den Empfang der Dornenkrone an diesem Tag des Jahres 1239, an welchem der Kapetinger mit Familie und Gefolge eigens nach Villeneuve-l’ArchevÞque im Erzbistum Sens gekommen war, der 30. September als Feier der heiligen Reliquien sowie der 26. April, der Weihetag der Sainte-Chapelle.38 Freilich bleibt unsere Kenntnis der Liturgie hinsichtlich der Zeit Ludwigs IX. beziehungsweise des 13. Jahrhunderts lückenhaft. Dies hängt mit der Überlieferungssituation zusammen. Besser sind wir über die Liturgie des 14. und weitaus mehr noch über diejenige des 15. Jahrhunderts unterrichtet. Von den relativ zahlreichen liturgischen Büchern aus dem Mittelalter, die bei der SainteChapelle aufbewahrt wurden, sind nur relativ wenige erhalten, darunter mehrere Evangeliare und ein Ordinarium (Paris, BibliothHque nationale de France, ms. lat. 1435) aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts sowie ein weiteres (Paris, BibliothHque de l’Arsenal, ms. 114), allerdings erst aus dem Jahre 1471.39 Die liturgischen Usancen des 15. Jahrhunderts lassen sich nicht einfach auf das 13. Jahrhundert übertragen, weder hinsichtlich der unteren Kapelle noch bezüglich der oberen Kapelle. In der Geschichte der Pariser Sainte-Chapelle stellt jedenfalls die Herrschaftszeit Philipps IV. des Schönen einen Einschnitt dar. Die Mediävistin Cecilia Gaposchkin hat dessen Rolle wie folgt umrissen: »As Louis had made the Ste.-Chapelle as monument to Christ’s Passion, Philip was making it a monument to Louis.«40 Ob eine solch zugespitzte Formulierung in bezug auf das 37 Billot, Les Saintes-Chapelles (wie Anm. 19), S. 246f.; Ptienne Anheim/Ghislain Brunel, La Sainte-Chapelle : fondation et liturgie, in: Le Pogam, Saint Louis (wie Anm. 9), S. 89–99, hier S. 93–95; Cohen, The Sainte-Chapelle (wie Anm. 17), S. 151–158. Zu den Musikern und Chorknaben in der Sainte-Chapelle von Paris (und Bourges): Jacques Szpirglas, Prosopographie des musiciens des Saintes-Chapelles de Paris (1248–ca1640) et de Bourges (1405–ca1640). Musique, musicologie et arts de la scHne, Diss., Tours 2015 (Digitalisat). 38 Vgl. Billot, Le message (wie Anm. 18), S. 126; Palazzo, La liturgie de la Sainte-Chapelle (wie Anm. 33), S. 108–110. Siehe zu den in der Pariser Ortskirche begangenen Festen Jean Vezin, L’8volution du culte des saints / Paris aux XIIIe et XIVe siHcles, in: Paul De Clerck/ Pric Palazzo (Hg.), Rituels. M8langes offerts / Pierre-Marie Gy, o.p., Paris 1990, S. 473–479. 39 Barbara Haggh, An Ordinal of Ockeghem’s Time from the Sainte-Chapelle of Paris: Paris, BibliothHque de l’Arsenal, MS 114, in: Tijdschrift van de Koninklijke Vereniging voor Nederlandse Muziekgeschiedenis 47 (1997), S. 33–71; Palazzo, La liturgie de la Sainte-Chapelle (wie Anm. 33), S. 101–111; Cohen, The Sainte-Chapelle (wie Anm. 17), S. 154–156. 40 Marianne Cecilia Gaposchkin, The Making of Saint Louis. Kingship, Sanctity, and Crusade in the Later Middle Ages, Ithaca-London 2008, S. 74.

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Handeln Philipps IV. und dessen Zielgerichtetheit zutreffend ist, mag hier dahingestellt bleiben. Unstrittig dürfte sein, dass dieser Kapetinger das Gedenken an seinen heiligen Großvater in besonderer Weise gefördert und dessen memoria mit der Sainte-Chapelle ganz stark verbunden hat (auch die von jenem veranlasste Neuanordnung und –gestaltung der Gräber der kapetingischen Dynastie in der Abteikirche von Saint-Denis unterstreicht die herausgehobene Beziehung zu diesem, an dessen Seite er später bestattet werden wollte). So kam es zu einer intensiven Verehrung sowohl der Passionsreliquien als auch des heiligen Ludwig, die sich in liturgischen Vollzügen manifestierte und konkretisierte, miteinander verknüpft wurde und so eine auf Jesus Christus hingerichtete kultische Zentrierung erfuhr. Im Zuge dieser Entwicklung wahrte Philipp IV. zwar die spezifische sakrale Dignität der Sainte-Chapelle innerhalb des königlichen Residenzbezirkes, doch ergänzte die private Frömmigkeitspraxis, wie sie sich von Seiten der kapetingischen Dynastie im Raum des oberen Oratoriums entfaltete, seither eine weitaus stärkere öffentliche Partizipation an der gefeierten Liturgie – gerade im Vergleich mit der Zeit seines Großvaters und in Bezug auf die Propagierung des Ludwigkultes.41 Dass Philipp IV. sich durch seine weit gefächerten Bemühungen um eine öffentlichkeitswirksame Verehrung des heiligen Ludwig eine Stärkung seiner machtpolitischen Position im französischen Königreich und mehr noch in Europa anstrebte, liegt auf der Hand. Ludwig IX. wurde zwar der Tradition folgend in der Abteikirche Saint-Denis bestattet, doch sorgte sein Enkel Philipp IV. dafür, dass am 17. Mai 1306 sein Haupt in einem goldenen Reliquiar in die Sainte-Chapelle gelangte. Dieser hatte damit den Pariser Goldschmied Guillaume Julien beauftragt.42 Es war auch Philipp IV., welcher den Kreis der Mitfeiernden in der Sainte-Chapelle erweiterte und mit Stiftungen versah, indem er ab dem Jahre 1306 die Augustiner-Eremiten zum Translationsfest seines Großvaters Ludwig IX. dazu bestellte. Zudem ließ jener ab 1309 jeweils 60 Pitanzen für Franziskaner und Dominikaner, die an dem Festtag desselbigen zugegen waren, einrichten.43 In dem der Sainte-Chapelle eigenen liturgischen Kalender war das Fest des heiligen Ludwig am 25. August (sein Sterbetag in Karthago), von Papst Bonifaz VIII. anlässlich der Kanonisation festgesetzt, hervorgehoben. 41 Vgl. zur Rolle Philipps IV. als Klostergründer : Plisabeth Lalou, Les abbayes fond8es par Philippe le Bel, in: Revue Mabillon 63, n. S. 2 (1991), S. 143–165. 42 Guérout, Le Palais (wie Anm. 5), 1950, S. 42f.; Lalou, Les abbayes (wie Anm. 41), S. 145. 43 Lalou, Les abbayes (wie Anm. 41), S. 145. Nach dem franziskanischen Biographen Guillaume de Saint-Pathus, der auch als Beichtvater der Gemahlin Ludwigs IX., Margaretes von Provence, tätig war, hatte dieser bereits Dominikaner und Franziskaner sowie Angehörige einer weiteren Pariser Ordensniederlassung zu Hochfesten in der Sainte-Chapelle gerufen (Guillaume de Saint-Pathus, confesseur de la reine Marguerite, Vie de saint Louis, ed. HenriFranÅois Delaborde [Collection de textes pour servir / l’8tude et / l’enseignement de l’histoire 27), Paris 1899, S. 42.

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Das erste, dynastisch geprägte, auf Frankreich bezogene und auf die SainteChapelle zentrierte Memorialnetz, das Ludwig IX. und seine Nachfolger durch die Vergabe von Partikeln erworbener Reliquien wie insbesondere der Dornenkrone Christi grundgelegt hatten, wurde durch ein zweites in Europa ergänzt. Ebenfalls entstand dieses durch die Schenkung von Reliquienpartikeln, um das Ansehen der französischen Monarchie zu mehren, die Verehrung des heiligen Ludwig zu fördern, die Bande zwischen den Kapetingern und anderen Dynastien, zwischen dem lieu de m8moire der Sainte-Chapelle und weiteren Gedenkorten außerhalb des Königreiches zu stärken.44 Das Memorialnetz reichte im Norden bis nach Schottland und Norwegen, im Osten bis nach Böhmen (jedoch nach dem heutigen Forschungsstand nicht in den Ostseeraum beziehungsweise bis zu den Gebieten im Einflussbereich des Deutschen Ordens), im Süden bis nach Spanien und Sizilien.45 Von der Weihe der Ober- und Unterkapelle an war deren Zweckbestimmung klar: Die untere Kapelle fungierte für die obere als architektonische Basis und diente mit ihren Offizien den Bediensteten und Bewohnern des Residenzbezirkes sowie Teilen der höfischen Gesellschaft. Kanoniker und Kapläne konnten dort ihre letzte Ruhestätte finden oder auf dem Friedhof direkt beim Sakralbau.46 Die obere Kapelle war für den König und seine Familie, seinen Beichtvater und Kanoniker der neuen Kommunität bestimmt, war jedoch – wie bereits angedeutet – nicht vollständig beziehungsweise ganzjährig auf ihre Funktion als Privatkapelle begrenzt.47 Mit Gedenkmessen, Heiltumsweisungen, Prozessionen, Salbungen und Krönungen französischer Königinnen, Hochzeiten von Angehörigen der Dynastie, Besuchen auswärtiger Herrscher (wie später Karls IV.) oder Gesandter wurde der rein private Charakter der Oberkapelle überschritten – seit der Zeit Philipps IV. erkennbar häufiger.48 Als beispielsweise der englische König Heinrich III. 1254 in Paris weilte, suchte er, vom Kapetinger Ludwig IX. geführt, die obere Kapelle auf: capellam illam pulcherrimam, quae in curia est ejusdem domini regis Francorum, et reliquias ibidem existentes orans regalibus oblationibus honoravit.49 44 Billot, Le message (wie Anm. 18), S. 130f., 139; Billot, Les Saintes-Chapelles royales et princiHres (wie Anm. 18), S. 27, 29 (Verzeichnis und Karte), 30. 45 Gemäß Billot, Les Saintes-Chapelles royales et princiHres (wie Anm. 18), S. 29. 46 Billot, Les Saintes-Chapelles royales et princiHres (wie Anm. 18), S. 35f.; Cohen, The Sainte-Chapelle (wie Anm. 17), S. 158f. 47 Vgl. Billot, Les Saintes-Chapelles (wie Anm. 19), S. 246f.; Cohen, The Sainte-Chapelle (wie Anm. 17), S. 159–164. 48 Zum liturgischen Festkalender der Sainte-Chapelle und zu den Heiltumsweisungen: Billot, Les Saintes-Chapelles (wie Anm. 19), S. 246; Billot, Les Saintes-Chapelles royales et princiHres (wie Anm. 18), S. 22–24. 49 Matthaei Parisiensis, monachi sancti Albani, Chronica Majora (wie Anm. 15), Bd. 5, S. 479. Siehe auch ebd., S. 475: capellam regis Francorum nobilissimam, quae est Parisius, simul cum incomparabilibus, quae in eis habentur, reliquiis …

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Die in der Sainte-Chapelle gefeierte Liturgie steuerte in der Karwoche auf ihren Höhepunkt zu, was dem Kirchenjahr und dem Kernbestand des Reliquienschatzes, den mit Jesus Christus verbundenen Passionsheiltümern, entsprach.50 Dies galt besonders für das Triduum von Karfreitag bis Ostersonntag, wenn des Leidens und der Auferstehung Jesu Christi gedacht wurde. Es handelte sich um die Zeit der intensivsten und feierlichsten liturgischen Verehrung der Passionsreliquien. Ein größerer Kreis von Gläubigen konnte der Heiltümer ansichtig werden. Beispielsweise hatten Kranke in der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag Zugang zur Sainte-Chapelle, um dort das Heilige Kreuz zu verehren und auf die Heilung insbesondere von der Epilepsie zu hoffen.51 Gegen Mitternacht wurde die Reliquie den Kranken gewiesen. Der Bedeutung der Sainte-Chapelle entsprachen die besonderen Ablässe (omnibus vere penitentibus et confessis) – beginnend mit Papst Innozenz IV. –, die von Karfreitag bis zum Ostersonntag und darüber hinaus gewährt wurden, auch zu den Festen des heiligen Johannes des Täufers, der Überführung der Dornenkrone Christi und der Kreuzerhöhung.52 Zugleich verwiesen die Indulgenzen darauf, dass eine über den König und seine Familie sowie die Kanonikerkommunität hinausgehende Öffentlichkeit angestrebt war. Im Übrigen wurde durch eine im Laufe des Spätmittelalters zunehmende Zahl an Prozessionen, die innerhalb und außerhalb des Residenzbezirkes, auf der 6le de la Cit8 und den beiden Seineufern stattfanden, die Präsenz von Reliquien der SainteChapelle im öffentlichen Raum der Pariser Ortskirche und der Gesellschaft der französischen Hauptstadt verstärkt.53 Nach dem franziskanischen Biographen Guillaume de Saint-Pathus trug der kapetingische König Ludwig IX. auch selbst Reliquien bei Prozessionen, denen sich »li clergi8 de Paris et li pueples«, also Klerus und Volk von Paris, anschlossen.54 Die Pariser Sainte-Chapelle, für die wohl noch eingehendere Untersuchungen zu Liturgie – und Zeremoniell – mit jeweiliger Fokussierung auf die untere und obere Kapelle durchzuführen wären (hier konnten nur Einblicke gewährt wer50 Vgl. Haggh, An Ordinal (wie Anm. 39), S. 40–47. 51 Morand, Histoire de la Sainte-Chapelle (wie Anm. 12), S. 171–173; Jean-Michel Leniaud, Reliques, reliquaires, c8r8monies et vie quotidienne, in: Leniaud/Perrot, La Sainte-Chapelle (wie Anm. 18), S. 49–77, hier S. 72. 52 Vgl. Billot, Les Saintes-Chapelles (wie Anm. 19), S. 247. Nähere Darlegungen von Meredith Cohen, An Indulgence for the Visitor. The Public at the Sainte-Chapelle of Paris, in: Speculum 83 (2008), S. 840–883; siehe ferner Cohen, The Sainte-Chapelle (wie Anm. 17), S. 151–154, Texte mitgeteilt S. 211ff. 53 Billot, Les Saintes-Chapelles (wie Anm. 19), S. 246f.; Billot, Le message (wie Anm. 18), S. 127f.; Billot, Les Saintes-Chapelles royales et princiHres (wie Anm. 18), S. 26f.; Cohen, The Sainte-Chapelle (wie Anm. 17), S. 164–167. 54 Guillaume de Saint-Pathus, Vie de saint Louis (wie Anm. 43), S. 42.

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den), figurierte als Abbild des himmlischen Jerusalem und als memorialer Bezugspunkt der Dynastie und krönte somit den königlichen Residenzbezirk auf der 6le de la Cit8, mit dem kein adeliges Palais der Seinestadt und des französischen regnum mehr konkurrieren konnte. Die zwölf Apostelstatuen an den Pfeilern der Oberkapelle flankierten den neuen Heiligen, der Frankreich zur kontinentalen Großmacht geführt hatte und gleichsam zum Schutzpatron der kapetingischen Dynastie in Spätmittelalter und Früher Neuzeit avancierte. Himmlische Bezüge des Sakralbaus evozierte der adelige Philosoph Jean de Jandun, als er im Jahre 1323 seinen Tractatus de laudibus Parisius vorlegte und ein vielstimmiges Lob der französischen Hauptstadt anstimmte. Diesem erschien das Betreten der Sainte-Chapelle gleichsam als Entrückung in den Himmel; er verglich jenes mit dem Öffnen eines der vorzüglichsten Zimmer des Paradieses.55

5.

Die Genese des Templerordens

Wenden wir uns jetzt dem ältesten geistlichen Ritterorden zu, dessen Geschichte in besonderer Weise mit derjenigen Frankreichs und der kapetingischen Monarchie und auch mit Paris verwoben ist: von den ersten Jahrzehnten seines Bestehens im 12. Jahrhundert bis zu seinem tragischen Ende im beginnenden 14. Jahrhundert.56 Es war der Ritter Hugo von Payens aus der Champagne, der sich 1120 mit acht 55 Jean de Jandun, Tractatus de laudibus Parisius. Ploge de Paris compos8 en 1323 par un habitant de Senlis, hg. von Nicolas Rodolphe Taranne/Antoine Jean Victor Leroux de Lincy, Paris 1856, S. 13: … ut, in eam subingrediens, quasi raptus ad celum, se non immerito unam de paradisi potissimis cameris putet intrare. Zu Jean de Jandun (1285/89–1328): Ludwig Schmugge, Johannes von Jandun, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 5, Freiburg 1996, Sp. 917f. 56 Zur Geschichte des Templerordens (eine kleine Auswahl): Marie Luise Bulst-Thiele, Sacrae Domus Militiae Templi Hierosolymitani Magistri. Untersuchungen zur Geschichte des Templerordens 1118/19–1314, Göttingen 1974 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge, Nr. 86); Nicolaus Heutger, Die Ritterorden im Heiligen Land: Die Hospitäler und Ordensgemeinschaften, in: Hans-Jürgen Kotzur (Hg.), Die Kreuzzüge. Kein Krieg ist heilig [Ausstellungskatalog], Mainz 2004, S. 137–153, hier S. 139–149; Malcolm Barber, Die Templer. Geschichte und Mythos, 2. Aufl., Düsseldorf 2006 (Erstveröffentlichung in englischer Sprache 1994); Alain Demurger, Die Templer. Aufstieg und Untergang 1120–1314, München 2007 (Erstveröffentlichung in französischer Sprache 1993); Jürgen Sarnowsky, Die Templer, München 2016. Zu den Anfängen siehe auch Josef Fleckenstein, Die Rechtfertigung der geistlichen Ritterorden nach der Schrift »De laude novae militiae« Bernhards von Clairvaux, in: Josef Fleckenstein/Manfred Hellmann (Hg.), Die geistlichen Ritterorden Europas, Sigmaringen 1980 (Vorträge und Forschungen, Bd. 26), S. 9–22; Marion Melville, Les D8buts de l’Ordre du Tempe, in: Ebd., S. 23–30.

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weiteren Rittern zusammenschloss, um Pilgern im Heiligen Land und in Jerusalem Schutz und Sicherheit zu gewähren. Bezeichnenderweise gab das Konzil von Troyes, rund 150 km südöstlich von Paris in der Champagne gelegen, am 13. Januar 1129 der geistlichen Rittergemeinschaft eine Regel.57 Die spirituelle Grundlegung besorgte der zisterziensische Abt Bernhard von Clairvaux. Sein Traktat Ad milites templi de laude novae militiae (»Vom Lob der neuen Ritterschaft«) eröffnete den Rittern eine neue Lebensform der Nachfolge Christi, die im Zeichen der Pilgerfahrten und Kreuzzüge auf großen Widerhall in Europa stieß, zumal im Adel. Wie Gert Melville bezüglich der Templer und anderer geistlicher Ritterorden herausgestellt hat, verband sich »mönchisch reguliertes Leben mit Pilgerschutz und Heidenkampf«.58 Weitreichende päpstliche Privilegien, beginnend 1139 mit demjenigen von Innozenz II. (Omne datum optimum) für die Pauperes commilitones Christi templique Salomonici Hierosolemitanis, trugen zu einer raschen Ausbreitung bei.59 Der Orden besaß eine exemte Stellung (somit der bischöflichen Jurisdiktion entzogen), war dem Papst direkt unterstellt und von jedweden Abgaben befreit. Der Jerusalemer Tempelberg wurde zum Sitz des Ordens mit dem Großmeister an der Spitze. Als die Truppen Saladins, des Begründers der kurdischen Dynastie der Ayyubiden, im Jahre 1187 Jerusalem eroberten, wurde der Ordenssitz nach Akkon am Mittelmeer und später für kurze Zeit in die Felsenfestung Chastel PHlerin, Castrum Peregrinorum, etwa 15 Kilometer südlich von Haifa verlegt.60 Nach dem Fall der Hafenstadt Akkon und dem Verlust jeglichen Festlandbesitzes im Jahre 1291 – die Templer verfügten nur noch über die Burg auf der Insel Ruad 3 Kilometer südwestlich von Tartus oder Tortosa in Syrien – bot sich Zypern als Rückzugsbasis und auch als administratives Zentrum für den Ritterorden an.61 Die topographische Verankerung auf den Grundmauern des salomonischen Tempels in Jerusalem – infolge der Schenkung des 1131 verstorbenen Königs Balduin II. – wurde namengebend für den neuen Ritterorden und im Zuge der 57 Rudolf Hiestand, Kardinalbischof Matthäus von Albano, das Konzil von Troyes und die Entstehung des Templerordens, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 99 (1988), S. 295–325. 58 Gert Melville, Religiosentum – Klöster und Orden, in: Gert Melville/Martial Staub (Hg.), Enzyklopädie des Mittelalters, Bd. 1, Darmstadt 2008, S. 99–110, Zitat auf S. 106. Siehe auch Gert Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen, München 2012, S. 150–153. 59 Barber, Die Templer (wie Anm. 56), S. 70–73. 60 Peter Thorau, Chastel PHlerin, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, München-Zürich 1983, Sp. 1763f. Zum Hintergrund: Alfried Wieczorek/Mamoun Fansa/Harald Meller (Hg.), Saladin und die Kreuzfahrer [Ausstellungskatalog], Mannheim-Mainz 2005 (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen, Bd. 17; Schriftenreihe des Landesmuseums für Natur und Mensch, Oldenburg, Heft 37). 61 Peter Thorau, Tortosa, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 1997, Sp. 884f.

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Weiterung für dessen Niederlassungen, auch für diejenige in Paris.62 Dieser setzte sich aus adligen Rittern und Kaplänen sowie nichtadligen, dienenden Brüdern für den Waffendienst und das Handwerk, den sogenannten Servienten, zusammen.

6.

Der festungsartige Tempel in Paris

6.1.

Zu Genese und Topographie

Die Einwurzelung der Templer in Paris begann noch vor der Mitte des 12. Jahrhunderts, vermutlich um 1140. Mehrere Schenkungen begünstigten dies, darunter eine, die eine Mühle auf der Großen Brücke militibus Templi Ierosolimitani übertrug.63 Diese Brücke verband das rechte Seineufer mit der großen Flussinsel. Auch König Ludwig VII. von Frankreich zeigte sich als Wohltäter des Ordens, wie aus der Überlassung eines jährlichen Geldbetrages Templi nos militibus Ierosolimitani im Jahre 1143 oder 1144 hervorgeht.64 Der Dekan Bartholomäus des Pariser Domkapitels schenkte sacrosancto Salvatoris nostri Templo et reverendis militibus Templi insgesamt LXta solidos, quos de dono et elemosina regis in Cambitorio.65 Der Bischof Simon von Noyon überließ den Pariser Rittermönchen die Kirche in Tracy-le-Val, und zwar Parisius in Templo, presente magistro et conventu militum.66 Damit wird Bezug genommen auf das Generalkapitel der Templer, das sich im Vorfeld des Zweiten Kreuzzuges an der Seine versammelt hatte. Aus einer weiteren Schenkungsurkunde – dieses Mal von Bernard de Bailleul zum 28. April 1147 – erfahren wir Näheres dazu. Am Oktavtag von Ostern, am 62 Ein Rekonstruktionsvorschlag der Jerusalemer Bauten bei Thomas Biller, Templerburgen, Darmstadt 2014, S. 62. Siehe auch Barber, Die Templer (wie Anm. 56), S. 104–108. 63 Robert de Lasteyrie (Hg.), Cartulaire g8n8ral de Paris ou recueil de documents relatifs / l’histoire et / la topographie de Paris, Paris 1887 (Histoire g8n8ral de Paris. Collection de documents), S. 265 (vom Editor zwischen dem 1. August 1137 und dem 9. Juni 1147 datiert), siehe hierzu auch S. 408f. Die Wohltäterin nomine Genta vollzog die Schenkung pro remedio anime mee predecessorumque meorum, et pro anima nobilissimi Francorum regis venerandeque memorie Ludovici (ebd., S. 265). Damit ist König Ludwig VI. von Frankreich gemeint, der am 1. August 1137 verstorben war. Vgl. zur Besitzgeschichte des Pariser Tempels GeneviHve Ptienne, Ptude topographique sur les possessions de la maison du Temple / Paris (XIIe-XIVe siHcle), in: Positions des thHses de l’Pcole des chartes (1974), S. 83–92. 64 Lasteyrie, Cartulaire g8n8ral de Paris (wie Anm. 63), S. 288 (in mensis nummulariorum Parisius, libras viginti septemque, quotannis in Nativitate beati Johannis Baptiste reddendas). 65 Lasteyrie, Cartulaire g8n8ral de Paris (wie Anm. 63), S. 297f., Zitat auf S. 297. Die Schenkung mit königlicher Billigung und Bestätigung erfolgte nach dem Editor gegen 1145. 66 Lasteyrie, Cartulaire g8n8ral de Paris (wie Anm. 63), S. 299 (vom Editor zwischen dem 31. März 1146 und dem 19. April 1147 datiert).

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Weißen Sonntag, fanden sich 130 Ritter, angetan mit dem weißen Ordensmantel, in Paris ein.67 Die Bedeutung des Generalkapitels wurde durch die Anwesenheit des zisterziensischen Papstes Eugen III. (1145–1153) und des französischen Königs Ludwig VII. sowie der Erzbischöfe von Sens, Bordeaux, Rouen und Tours unterstrichen. Der Papst verlieh wohl bei dieser Gelegenheit den Templern das rote, achtspitzige (Tatzen-) Kreuz, das fortan die weißen Ordensmäntel zierte.68 Unter den Wohltätern der Pariser Templer fand sich auch der Graf Mathäus von Beaumont, der ihnen im Jahre 1152 oder 1153 unter anderem ein Haus und einen Backofen überließ.69 König Ludwigs VII. Schwester Konstanze vermachte im Jahre 1172 oder 1173 ein Haus den Pariser Templern, das in Campellis lag, also vermutlich außerhalb des bebauten städtischen Areals auf dem rechten Seineufer – eben »in den Feldern«.70 Sie tat dies für ihr eigenes Seelenheil, auch das ihrer Eltern und ihres Bruders. Die Schenkung vollzog sie in manu fratris Eustachii Canis, eodem tempore preceptoris domus Templi Parisius.71 Eustachius Canis, aus Flandern stammend, stand dem kapetingischen Königshaus nahe und war schon Ludwig VII. zu Diensten gewesen.72 Er wurde auch Präzeptor der Ordensprovinz Frankreich. Wie eng die französische Monarchie mit dem Pariser Tempel verbunden war, zeigt sich in vielem. Beispielsweise trat Terricus Galerannus aus der königlichen Umgebung – er war Kapellan und Berater des Königs – 1163 in den Orden der Templer ein und diente wohl mit als Bindeglied in dem stets dichter geknüpften Beziehungsnetz zwischen der kapetingischen Dynastie und der Pariser Nie-

67 Lasteyrie, Cartulaire g8n8ral de Paris (wie Anm. 63), S. 307: Hoc donum in capitolio, quod in octavis Pasche Parisius fuit, feci, domino apostolico Eugenio presente, et ipso rege Francie, et archiepiscopo Senonensi, et Burdegalensi, et Rothomagensi, et Turonensi, et fratribus militibus Templi alba clamide indutis Cm XXXa … Die Schenkung von Bernard de Bailleul betraf XV libratas terre mee, quam in Anglia possideo. Den Besitz in England gab er fratribus militibus de Templo Salomonis (ebd.). 68 Bulst-Thiele, Sacrae Domus Militiae Templi Hierosolymitani Magistri (wie Anm. 56), S. 38. 69 Lasteyrie, Cartulaire g8n8ral de Paris (wie Anm. 63), S. 333. 70 Lasteyrie, Cartulaire g8n8ral de Paris (wie Anm. 63), S. 422f., Zitat auf S. 422. 71 Lasteyrie, Cartulaire g8n8ral de Paris (wie Anm. 63), S. 423. In einer Urkunde, welche der Editor gegen 1175 datiert, begegnet frater Eustachius, qui tunc commendator erat domus que est Parisius (ebd., S. 437), also als Komtur. In derselben Urkunde erscheint Walterius de Barut, qui eo tempore magister fui in Francia (ebd., S. 437), demnach an der Spitze der Ordensprovinz Frankreich. Zur Bezeichnung der Pariser Niederlassung siehe auch die rechtliche Übereinkunft mit domui Templi Parisiensis aus dem Jahre 1175 oder 1176, auf Betreiben des Priors Isenbardus von Saint-Ploi (ebd., S. 434). 72 Marie Luise Bulst-Thiele, Templer in königlichen und päpstlichen Diensten, in: Peter Classen/Peter Scheibert (Hg.), Festschrift Percy Ernst Schramm zu seinem siebzigsten Geburtstag von Schülern und Freunden zugeeignet, Bd. 1, Wiesbaden 1964, S. 289–308, hier S. 291.

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derlassung des Ritterordens.73 Dieser war schon am Weißen Sonntag des Jahres 1147 anlässlich des Generalkapitels der Templer zugegen gewesen. Die von Marie Luise Bulst-Thiele mitgeteilten prosopographischen Beobachtungen haben gezeigt, dass die französischen Könige – wie in ähnlicher Weise auch die englischen Monarchen auf Ordensangehörige in London – immer wieder auf Dienste von Pariser Templern zurückgriffen und sie auch in ihre nähere Umgebung beriefen.74 Ein französischer Königssohn erblickte sogar in einer Templerburg des Heiligen Landes das Licht der Welt: Peter 1251 in der schon genannten Festung Chastel PHlerin.75 Der Taufpate des jüngsten Sohnes von Ludwig IX., des späteren Grafen von AlenÅon, war der damalige Großmeister des Ritterordens, Renaud de Vichiers, der zwischen 1241 und 1248 als Präzeptor an der Spitze der Templer in Frankreich gestanden hatte.76 Wie sehr sich auch die Zeugnisse für die Präsenz der Templer in Paris ab den Jahren um 1140 mehren, so bleiben doch die topographischen Konturen ihrer Niederlassung für diese Zeit im Dunkeln. An die erste Ordensniederlassung mag vielleicht noch heute der Name der rue Vieille-du-Temple (im dritten und vierten Arrondissement) – das Marais durchziehend und am Nationalarchiv vorbeiführend – erinnern, doch bezieht sich das Adjektiv ›alt‹ auf die Straße und nicht auf den Tempel.77 Insofern ist es unzulässig, aus dem Straßennamen auf einen »alten« und einen »neuen« Tempel zu schließen. Ein eigener Hafen der Templer in der Nähe der Kirche Saint-Gervais (und damit etwa des heutigen Rathauses), wie hier und da zu lesen ist, lässt sich nicht fassen.78 Bislang lassen sich nur vereinzelte Hinweise zu Besitz in den Händen des Templerordens aus der Zeit der ersten Jahrzehnte zusammentragen, der am oder auf dem rechten Seineufer zu lokalisieren ist. Eine größere Gesamtanlage der geistlichen Ritter innerhalb des bebauten städtischen Areals beziehungsweise innerhalb des Wehrringes König Philipps II. ist daraus nicht zu erkennen. Eine derartige Niederlassung dürfte indes schon 1147 bestanden haben, als die Templer ein Ordenskapitel mit immerhin 130 Rittern (und noch zahlreicheren Sergeanten und dienenden Brüdern, die sie begleiteten) sowie hochgestellten Gästen wie Papst und König mit Gefolge abhielten. Daher liegt es nicht nahe, von zwei separaten, aufeinander folgenden Niederlassungen größeren Zuschnitts auszugehen. 73 Bulst-Thiele, Templer (wie Anm. 72), S. 292. 74 Bulst-Thiele, Templer (wie Anm. 72), S. 290–295, 306–308. 75 Bulst-Thiele, Templer (wie Anm. 72), S. 306; Le Goff, Saint Louis (wie Anm. 2), S. 269f., 304, 339, 379, 474, 720, 737f. 76 Bulst-Thiele, Templer (wie Anm. 72), S. 306. 77 Vgl. Mairie de Paris, Nomenclature officielle des voies publiques et priv8es, 9. Aufl., Paris 1997, ND 1999, S. 515. Zur Rue du Temple (ebenfalls im dritten und vierten Arrondissement) ebd., S. 486. 78 Vgl. Alfred Fierro, Histoire et dictionnaire de Paris, Paris 1996, S. 24.

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Es war wohl mit dem kapetingischen König Ludwig VII. zu verdanken, dass sich die Templer in Paris einwurzeln und eine bedeutende bauliche Anlage mit Pertinenzien errichten konnten, und zwar in einiger Entfernung zum bebauten Stadtgebiet des rechten Seineufers. Seine Förderung des geistlichen Ritterordens trat zu derjenigen der Zisterzienser hinzu, deren Klosterkirche Notre-Dame-deBarbeaux bei Fontainebleau er sich zur Grablege erwählte.79 Dieses Kloster hatte er selbst gegründet. Im Hinblick auf den Zweiten Kreuzzug – er hatte am 31. März 1146 in V8zelay das Kreuz genommen – war er auf die militärische und finanzielle Unterstützung des Templerordens angewiesen. In einem Brief an Abt Suger von Saint-Denis, welchem er zusammen mit dem Erzbischof Samson von Reims und dem Grafen Rudolf von Vermandois die Regentschaft während des Zweiten Kreuzzuges von 1147 bis 1149 anvertraut hatte,80 ist davon die Rede. Der König berichtete im Jahre 1148 oder 1149 darin, dass er sich eine beträchtliche Summe bei den Templern geliehen hatte, um seinen Aufenthalt im Heiligen Land zu finanzieren.81 In einem weiteren Brief äußerte sich der Kapetinger voll des Lobes über die Dienste, die ihm die Templer geleistet hatten, und bekannte, sie überall dort zu verteidigen, wo sie angegriffen würden.82 Eine Stütze auf dem Kreuzzug war dem König der französische Ordensmeister Ebrardus de Barris, der später zum Großmeister des Ritterordens aufrückte.83 Das ausgewählte, großflächige Gelände auf dem rechten Pariser Seineufer lag topographisch ausgesprochen günstig und reichte fast bis an den nördlichen, halbkreisförmigen, von Sümpfen umsäumten Seinearm heran.84 Die nördliche Wehrmauer König Philipps II. Schloss im Wesentlichen die bebauten Stadtviertel des rechten Ufers ein, allerdings nicht die Ordensniederlassung.85 Dies hatten die 79 Joseph-Marie Canivez, Barbeaux, in: Dictionnaire d’histoire et de g8ographie eccl8siastiques, Bd. 6, Paris 1932, Sp. 629–631; Jean Favier, Dictionnaire de la France m8di8vale, Paris 1993, S. 115. 80 Sohn, Residenz (wie Anm. 1), S. 71f. 81 FranÅoise Gasparri (Hg.), Suger. Œuvres, vol. 2, 2. Aufl., Paris 2008 (Les classiques de l’histoire de France au Moyen ffge 41), S. 117f. (zwischen dem 24. Juli 1148 und dem 3. April 1149). Der Brief enthält auch Ausführungsbestimmungen zur Rückzahlung. Siehe auch ebd., S. 119f. 82 Suger, Œuvres,vol. 2, 2 (wie Anm. 81)., S. 118f. (ebenfalls zwischen dem 24. Juli 1148 und dem 3. April 1149). 83 Bulst-Thiele, Templer (wie Anm. 72), S. 290. 84 Jacques Boussard, Paris de la fin du siHge de 885–886 / la mort de Philippe Auguste, 2. Aufl., Paris 1997 (Nouvelle histoire de Paris), S. 174–177; ferner Raymond Cazelles, Paris de la fin du rHgne de Philippe Auguste / la mort de Charles V 1223–1380, Paris 1994 (Nouvelle histoire de Paris), S. 56–58, 238f.; Pierre Lavedan, Histoire de l’Urbanisme / Paris. R8impression de l’8dition originale avec un compl8ment bibliographique et un suppl8ment (1974–1993) par Jean Bastié, Paris 1993 (Nouvelle Histoire de Paris), S. 95f. 85 Zum Wehrring König Philipps II. und zu den weiteren Stadtmauern von Paris: Andreas Sohn, Stadtmauern als Normen urbanen Wachstums. Das Beispiel Paris, vornehmlich im Mittelalter, in: Andreas Otto Weber (Hg.), Städtische Normen – genormte Städte. Zur Pla-

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Templer mit den Cluniacensern gemeinsam, deren weiter westlich gelegenes Kloster Saint-Martin-des-Champs (ab 1079) sich ebenfalls vor der Stadtmauer, am Weg zur Abtei Saint-Denis, erhob.86 Im Zuge der sich nach Norden kontinuierlich ausdehnenden Stadt schloss erst die Wehrmauer König Karls V. (1364–1380) mit der Burg Bastille – dem Verlauf des erwähnten Seinearms folgend – die Anlage des Tempels ein, der damals bereits in die Hände der Hospitaliter gelangt war.

Abb. 4: Die Anlage des Temple in Paris um 1734 nach Hoffbauer beziehungsweise Brezet (Quelle: Wikimedia.org).

nung und Regelhaftigkeit urbanen Lebens und regionaler Entwicklung zwischen Mittelalter und Neuzeit, 43. Arbeitstagung des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung, Rothenburg ob der Tauber, 12.–14. November 2004, Ostfildern 2009 (Stadt in der Geschichte, Bd. 34), S. 33–57. 86 Siehe hier nur Andreas Sohn, Vom Kanonikerstift zum Kloster und Klosterverband. SaintMartin-des-Champs in Paris, in: Hagen Keller/Franz Neiske (Hg.), Vom Kloster zum Klosterverband. Das Werkzeug der Schriftlichkeit. Akten des Internationalen Kolloquiums des Projekts L 2 im SFB 231 (22.–23. Februar 1996), München 1997 (Münstersche MittelalterSchriften, Bd. 74), S. 206–238; Andreas Sohn, Die Kapetinger und das Pariser Priorat SaintMartin-des-Champs im 11. und 12. Jahrhundert. Mit Ausblicken auf die Beziehungen zwischen dem Konvent und den englischen Königen, in: Francia 25/1 (1998), S. 77–121.

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Da keine Stadtmauer die trapezförmige Anlage der Tempelritter schützte, bedurfte es umso mehr einer umlaufenden, hohen Wehrmauer. Für die Sicherheitsbedürfnisse der Templer mag es von Vorteil gewesen sein, dass ihre Niederlassung nordöstlich der bebauten Stadt, abseits der beiden parallelen Hauptstraßen des rechten Seineufers lag, die zur Abtei Saint-Denis beziehungsweise nach Flandern und ins Rheinland führten. Jene mussten gewiss einen Teil des großen Geländes trockenlegen. Der Zugang zur Ordensniederlassung erfolgte von Westen aus. In der Zone zwischen der Wehrmauer Philipps II. und dieser verdichtete sich der Besitz der Templer, woraus infolge von Trockenlegung und fortschreitender Erschließung durch den Bau von Wegen und Häusern, die Ansiedlung von Handwerkern und andere Initiativen ein eigenes Viertel entstand.87 König Philipp III. (1270–1285) gestand den Templern hierüber 1279 die hohe Gerichtsbarkeit und weitere Rechte zu. Was den Forschungsstand zum Pariser Tempel anbelangt, so ist er in mancher Hinsicht unbefriedigend. Dies hängt mit der Quellenlage zusammen. Bekanntlich ist das Ordenszentralarchiv verlorengegangen; vom Archiv der Templerprovinz Frankreich sind Restbestände erhalten.88 Aufs Ganze gesehen ist die Überlieferung fragmentarisch und verstreut. Unser Kenntnisstand wird dadurch beeinträchtigt, dass sämtliche Bauten bis zum zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts vollständig abgetragen worden sind und das Gelände heute größtenteils überbaut ist. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass nicht durchgehend genau zu unterscheiden ist, was im Einzelnen auf die Templer und ihre Rechtsnachfolger an diesem Ort, die Hospitaliter, zurückgeht. Im Blick auf die Rekonstruktion der Gesamtanlage sind wir im Wesentlichen auf Miniaturen, Stiche und Gemälde angewiesen, die indes allesamt aus der Zeit nach dem Ende des Templerordens stammen.89 Hinzu kommen Visitationsprotokolle ab dem 15. Jahrhundert und Beschreibungen der Örtlichkeiten in der stadthistorischen Literatur seit dem 16. Jahrhundert. Inwieweit die umfangreichen Zeugnisse vom Templerprozess weiterführende Aussagen über die Pariser Residenz enthalten, wäre noch im Einzelnen zu überprüfen.90 Punktuelle stadtarchäologische Aus87 GeneviHve Ptienne, La Villeneuve du Temple / Paris aux XIIIe et XIVe siHcles, in: Actes du 100e CongrHs national des Soci8t8s savantes, Paris 1975, Section de philologie et d’histoire jusqu’/ 1610, Bd. 2, Paris 1978, S. 87–99. 88 Rudolf Hiestand, Zum Problem des Templerzentralarchivs, in: Archivalische Zeitschrift 76 (1980), S. 17–38, mit Bemerkungen zu Restbeständen des Archivs der Templerprovinz Frankreich S. 25, 31, 33–35. Vgl. [Andr8] D’Albon, Cartulaire g8n8ral de l’ordre du Temple 1119?-1150. Recueil des Chartes et des Bulles relatives / l’Ordre du Temple, Paris 1913. 89 Vgl. Florian Meunier, Le Temple au Moyen ffge, in: Ren8e Davray-Piekolek/Florian Meunier/Manuel Charpy/Marc Le Cflur/Philippe Simon, Le Carreau du Temple, Paris 2014, S. 30–63 (mit Abbildungen). 90 Vgl. zum Templerprozeß: Johannes Fried, Wille, Freiwilligkeit und Geständnis um 1300. Zur Beurteilung des letzten Templergroßmeisters Jacques de Molay, in: Historisches Jahrbuch

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grabungen haben für unsere heutige Fragestellung kaum etwas beibringen können.91 Da der Templerorden keinen eigenen, spezifischen Burgentyp hervorgebracht hat, lässt sich die Pariser Anlage nicht mittels eines Analogieschlusses rekonstruieren.92 Der in Frankreich naturalisierte Architekturmaler Theodor Josef Hubert Hoffbauer, im niederrheinischen Neuss geboren, bietet uns zwar eine beeindruckende, detailreiche Ansicht von der Gesamtanlage in dem Buch »Paris / travers les .ges« (1875–1882), das in verschiedenen Lieferungen erschienen ist, doch bleibt nicht weniges hieran hypothetisch.93 Diese Ansicht vermag indes eine Vorstellung zu vermitteln, wie der Pariser Tempel cum grano salis ausgesehen haben könnte. Unsere stark begrenzte Kenntnis der genauen baulichen Struktur der Gesamtanlage kontrastiert mit der Bedeutung, welche dem Pariser Tempel in der Stadt Paris, im französischen Königreich und im Ritterorden zugekommen ist. Es mag bezeichnend sein, dass wir immer noch verwiesen sind auf die Monographie von Henri de Curzon aus dem Jahre 1888.94 Auf diese Veröffentlichung bezieht sich auch der Kunst- und Architekturhistoriker Thomas Biller wiederholt in seinem 2014 erschienenen Buch »Templerburgen«.95

6.2.

Bauanlage und Funktionen

Der Pariser Niederlassung wuchsen Funktionen zu, die ihn sowohl im gesamten Ritterorden als auch in Frankreich heraushoben. Dazu trug wohl bei, dass die Templer den dichtesten und umfangreichsten Besitz in Frankreich – mit einer Konzentration in und um Paris sowie in der 6le-de-France – hatten und die meisten Ordensangehörigen aus diesem Land kamen. Zuvörderst war der Pariser Tempel Sitz des Meisters der Ordensprovinz Frankreich, praeceptor Francie, sodann die einzige Komturei im näheren Umkreis der Seinestadt. Ferner

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105 ( 1985), S. 388–425; William J. Courtenay/Karl Ubl, Gelehrte Gutachten und königliche Politik im Templerprozeß, Hannover 2010 (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 51); Malcom Barber, Der Templerprozeß. Das Ende eines Ritterordens, Düsseldorf 2008 (Erstveröffentlichung in englischer Sprache 1978). Vgl. unter anderem Isabelle Caillot, Fouilles au Carreau, in: Davray-Piekolek/Meunier/ Charpy/Le Cflur/Simon, Le Carreau du Temple (wie Anm. 89), S. 27–29. Biller, Templerburgen (wie Anm. 62), S. 156, 166. Paris / travers les .ges, 13e livraison : Le Temple et la rue Royale, Paris [1881], Abb. 5 (1450) im Anhang, siehe auch Abb. 1 (1450). Zu Hoffbauer : Maria Deurbergue, Feodor Hoffbauer (1839–1922), metteur en scHne du Paris ancien, in: Bulletin de la Soci8t8 de l’histoire de Paris et de l’6le-de-France 139 (2012), S. 153–161. Henri de Curzon, La Maison du Temple de Paris. Histoire et description, Paris 1888. Biller, Templerburgen (wie Anm. 62), ad indicem.

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vertrauten die französischen Könige, beginnend mit Philipp II. im Jahre 1202, den Templern den Thronschatz und eingezogene Abgaben und Einkünfte aus dem Königreich an.96 Lediglich Philipp IV. ließ den Thronschatz 1295 in den Louvre verlegen (mit der Einrichtung eines neuen königlichen Schatzamtes verbunden), doch 1303 wieder zurückbringen.97 Spitzenbeamte der Verwaltung, die pr8vits und baillis, brachten dreimal im Jahr – zu Allerheiligen, Mariä Lichtmess und Christi Himmelfahrt – ihre Erträge in den Tempel und ließen sich das quittieren. Die Finanz- und Bankdienste der Templer, Darlehen eingeschlossen, wurden – erstmals durch den Mediävisten L8opold Delisle 1889 profund dargelegt – von den französischen Königen und Angehörigen ihrer Dynastie, von Philipp II. wie Ludwig IX. oder dessen Mutter Blanca von Kastilien, Adeligen und auch Pariser Bürgern, die ihr Vermögen sicher aufbewahrt wissen wollten, in Anspruch genommen.98 Dass der Ritterorden aufgrund seiner weit verzweigten Niederlassungen in Europa und im Orient ein sicheres, differenziertes Finanzsystem von Depot (für Geld und Wertgegenstände aller Art), Wechsel und Darlehen, Rechnungs- und Kontoführung entwickelte, führte zu seiner wachsenden Attraktivität und zur Konkurrenz mit italienischen Banken und deren führenden Repräsentanten.99 In diesem Finanzsystem spielte der Pariser Tempel, der nie Sitz des Großmeisters weder vor noch nach 1291 war, eine zentrale Rolle. Bestrebungen, das administrative Zentrum des Ritterordens an die Seine zu verlegen, sind im Übrigen nicht erkennbar. Fast im topographischen Mittelpunkt der ummauerten Pariser Anlage von mehr als 6 ha lag die als Rundbau errichtete Kirche zu Ehren der heiligen Simon und Juda, welche die Rotunde über dem Heiligen Grab in Jerusalem nachahmte und – anders als von dem Architekten, Kunsthistoriker und Denkmalpfleger 96 Marie Luise Bulst-Thiele, Der Prozeß gegen den Templerorden, in: Fleckenstein/ Hellmann, Ritterorden (wie Anm. 56), S. 375–402, hier S. 378f. 97 Zwei Hoffinanziers Philipps IV., die Brüder Albizzo († vor Juni 1306) und Musciatto Guidi de’ Franzesi († vor 8. März 1307), mögen den König mit zu dieser Entscheidung und damit zur vorübergehenden Loslösung von den Templern bewegt haben. Der Volksmund nannte die beiden italienischen Bankiers »biche et mouche«. Zum Hintergrund der Vorgänge und zu den beiden Hoffinanziers: Favier, Philippe le Bel (wie Anm. 24), S. 75–77; Barber, Die Templer (wie Anm. 56), S. 257–259. 98 L8opold Delisle, M8moire sur les op8rations financiHres des Templiers, Paris 1889 (Separatdruck aus M8moires de l’Acad8mie des Inscriptions et Belles-Lettres, Bd. 33, 2e partie), zu den finanziellen Beziehungen zwischen den französischen Königen und den Templern in Paris S. 40–61; Barber, Die Templer (wie Anm. 56), S. 235, 257–259 (mit einer Auflistung der finanziellen Aufgaben, welche die Pariser Templer für die französische Krone ausführten, bis hin zu Soldzahlungen für Soldaten und zur Begleichung von Auslagen für diplomatische Dienste). 99 Vgl. Jules Piquet, Des banquiers au Moyen ffge. Les Templiers. Ptude de leurs op8rations financiHres, Paris 1939; Favier, Philippe le Bel (wie Anm. 24), S. 75–78, 430–432; Heutger, Ritterorden (wie Anm. 56), S. 147f.

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EugHne Viollet-le-Duc (1814–1879) in seinem »Dictionnaire raisonn8 de l’Architecture franÅaise« postuliert – nicht als typisch für die Templerkirchen in Okzident und Orient aufzufassen ist.100 Die Kuppel wird von sechs Säulen im Inneren getragen. Im 13. Jahrhundert wurde an den Rundbau mit 19,50 m im Durchmesser östlich ein eingewölbtes gotisches Langhaus angefügt, das absidial abgeschlossen war und 33 Meter in der Länge maß. Eine Weiheinschrift mit Datumsangabe ist hier in Paris anders als beim Londoner Pendant nicht erhalten.101 Über die gefeierte Liturgie und das spirituelle Gemeinschaftsleben der Pariser Templer ist bislang kaum etwas bekannt.

Abb. 5: Der große Festungsturm der Templeranlage, Federzeichnung aus der Collection Hippolyte Destailleur, 1789 (Quelle: BibliothHque Nationale, www.gallica.fr).

Auf dem Gelände gab es zwei freistehende Festungstürme nördlich und südlich der Kirche, wovon uns jetzt der größere des 13. Jahrhunderts, wohl zur Zeit Ludwigs IX. errichtet, interessieren soll.102 Dieser ist gewissermaßen zum die 100 Siehe Plie Lambert, L’architecture des Templiers, Paris 1955, ND Paris 1978, zur kritischen Auseinandersetzung mit Viollet-le-Duc besonders S. 5–8, zur Kirche der Anlage in Paris S. 66–71. 101 Zum Londoner Tempel und zur dortigen Kirche: Lambert, L’architecture des Templiers (wie Anm. 100), S. 72–75. Die Weihe der Rotunde des Sakralbaus nahm gemäß der Inschrift der Patriarch Heraclius von Jerusalem im Jahre 1185 vor. 102 Aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts scheint der erste Festungsturm – als »tour de

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Jahrhunderte überdauernden Sinnbild der Templeranlage geworden und häufiger abgebildet worden, so zum Beispiel von Jean Fouquet in einer Handschrift der Grandes Chroniques de France aus der Mitte des 15. Jahrhunderts.103 Der viereckige Turm, aus wuchtigen Pariser Kalksteinquadern gebaut, hatte eine Mauerstärke von 2,27 m, besaß vier Geschosse und hatte zudem einen Speicher unter dem Bleidach. Vier runde Ecktürme flankierten ihn. Dieser, von einem Wassergraben umgeben, verfügte über einen Keller, einen Brunnen, eine Kapelle, einen Mühlstein und einen Backofen. Bis zu 50 m soll jener aufgeragt sein. Eine Vorstellung von dem mächtigen Turm vermag der diese Höhe erreichende Donjon zu geben, dessen Bau der kapetingische König Karl V. von 1365 bis 1367 in seiner Residenz Vincennes östlich von Paris fertigstellen ließ – wohl nach dem Vorbild der Templeranlage.104 Es lässt sich leicht vorstellen, wie sicher die Truhen mit Geld, Gold, Juwelen und anderen Wertgegenständen bei den Rittern lagerten. Die Festung galt bis 1307 als uneinnehmbar. Wie der benediktinische Geschichtsschreiber Matthäus Paris (Parisiensis) aus Saint Albans in Hertfordshire nördlich von London zu berichten weiß, zog es der englische König Heinrich III. bei seinem Besuch Ludwigs IX. im Jahre 1254 vor, im Tempel untergebracht zu werden, denn dieser schien ihm am sichersten (und geräumigsten) in Paris zu sein.105 Und als König Philipp IV. in den letzten Dezembertagen des Jahres 1306 vor aufgebrachten Massen der Pariser Bevölke-

C8sar« in der Forschungsliteratur gekennzeichnet – zu stammen. Diese in vergangenen Jahrhunderten gängige Bezeichnung dürfte die Anciennität des Bauwerkes unterstreichen. Vgl. Paris / travers les .ges, 13e livraison (wie Anm. 93), S. 5f.; Meunier, Le Temple au Moyen ffge (wie Anm. 89), S. 56–59. 103 FranÅoise Besse/J8rime Godeau, Tableaux parisiens du Moyen ffge / nos jours, six siHcles de peinture en capitale, Paris 2005, S. 22f. (Miniatur auf Pergament, datiert gegen 1455–1460). Die Darstellung der Handschrift aus der französischen Nationalbibliothek zeigt in Anwesenheit von König Philipp II. die Verbrennung der Amalrikaner, wie die Anhänger des Amalrich von BHne (Bena) genannt wurden, am 15. November 1210 vor einer symbolisch konzipierten Pariser Stadtkulisse, darunter den Donjon der Templer. 104 Zur Genese der Burganlage und zu den Funktionen der königlichen Residenz: Jean Chapelot, Le ch.teau de Vincennes. Une r8sidence royale au Moyen ffge, Paris 1994; Vincennes aux origines de l’Ptat moderne (wie Anm. 25), zum Donjon besonders Jean Chapelot, Le Vincennes des quatre premiers Valois : continuit8s et ruptures dans un grand programme architectural, S. 53–114, hier S. 68–81, 86–90. Siehe in diesem Zusammenhang auch Jean Chapelot, Les r8sidences des ducs de Bourgogne cap8tiens et valois au XIVe siHcle au Bois de Vincennes : nature, localisation, fonctions, in: Werner Paravicini/Bertrand Schnerb (Hg.), Paris, capitale des ducs de Bourgogne (Beihefte der Francia, Bd. 64), Ostfildern 2007, S. 39–83. 105 Matthaei Parisiensis, monachi sancti Albani, Chronica Majora (wie Anm. 15), Bd. 5, S. 478 (… apud Vetus Templum … extra civitatem …). Im Tempel ließ der englische König auch ein großes Mahl mit Fleisch und Fisch, Brot und Wein für zahlreiche Arme ausrichten (ebd., S. 478f.).

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rung, die wegen der Verschlechterung der Münzen und der Lebensbedingungen revoltierten, weichen musste, suchte er im Tempel Zuflucht und fand sie dort.106 Wir wissen, wie die Geschichte weiterging und endete. Am 13. Oktober 1307 ließ Philipp IV. der Schöne – um den »Bedürfnissen des Staates und dem ständigen Geldmangel der Kronverwaltung« zu entsprechen107 – im Morgengrauen alle Templer in seinem Königreich verhaften, auch die sich im Pariser Tempel befindlichen, mit dem Großmeister Jacques de Molay an der Spitze, der sich seinerzeit in Frankreich aufhielt.108 In Paris loderte der Scheiterhaufen am 12. Mai 1310 nahe des östlichen Stadttores, der Porte Saint-Antoine: 54 Templer wurden dort auf dem rechten Seineufer infolge des Urteils des Provinzialkonzils von Sens, welchem der Erzbischof Philippe de Marigny vorsaß, als Häretiker verbrannt. Auf dem Konzil von Vienne wurde der Templerorden 1312 aufgehoben, Papst Clemens V. (1305–1314) hatte sich dem Druck der französischen Krone gebeugt. Auf Anordnung des kapetingischen Königs wurden dann der Großmeister Jacques de Molay und der Präzeptor der Normandie, Geoffroy de Charney, auf dem Scheiterhaufen vor den Mauern der Residenz der 6le de la Cit8 verbrannt: am 19. März 1314.109 Der Scheiterhaufen war indes auf der 6le des Juifs errichtet worden, die ein wenig vor der großen Flussinsel lag, später mit dieser zusammenwuchs und heute teilweise von der Place Dauphine eingenommen wird. Jacques de Molay soll sich gewünscht haben, mit dem Gesicht nach Osten gewandt zu sterben.110 So mag er vielleicht – das war freilich nicht seine Intention gewesen – die aufragende Sainte-Chapelle gesehen haben. Auch in den lodernden Flammen des 19. März 1314 endete der Ritterorden. Der König von Frankreich, rex christianissimus, als Totengräber des Templerordens. Was für eine menschliche und christliche Tragödie! 106 Plisabeth Lalou, Itin8raire de Philippe IV le Bel (1285–1314), Bde. 1–2, Paris 2007 (M8moires de l’Acad8mie des Inscriptions et Belles-Lettres 37), siehe Bd. 2, S. 280f. 107 Ehlers, Geschichte Frankreichs (wie Anm. 8), S. 200. 108 Alain Demurger, Die Verfolgung der Templer. Chronik einer Vernichtung 1307–1314, München 2017 (Erstveröffentlichung in französischer Sprache 2015). Siehe auch Alain Demurger, Der letzte Templer. Leben und Sterben des Großmeisters Jacques de Molay, München 2015. Der Vf. hat erstmals vor 15 Jahren eine Biographie von Jacques Molay in französischer Sprache vorgelegt: Alain Demurger, Jacques de Molay. Le cr8puscule des Templiers, Paris 2002. Siehe auch Helen J. Nicholson, What Became of the Templars after the Trial of 1307–14?, in: William Chester Jordan/Jenna Rebecca Phillips (Hg.), The Capetian Century 1214–1314 (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 22), Turnhout 2017, S. 323–347. 109 Chronique latine de Guillaume de Nangis de 1113 / 1300 avec les continuations de cette chronique de 1300 / 1368, nouvelle 8dition revue sur les manuscrits, annot8e et publi8e par Hercule Géraud, Bde. 1–2, Paris 1843, S. 402–404 (… circa vespertinam horam ipsius diei in parva quadam insula Secanae, inter hortum regalem et ecclesiam fratrum Heremitarum posita …). 110 Favier, Philippe le Bel (wie Anm. 24), S. 480.

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Im kulturellen Gedächtnis der Pariser ist die Niederlassung der Templer, le Temple, an diesem Ort fest verankert. Eine Metrostation und eine vorbeiführende Straße sind danach benannt worden, ebenfalls die metallenen, heute für kulturelle und sportliche Zwecke genutzten Markthallen (»Le Carreau du Temple«) aus dem 19. Jahrhundert, die sich auf dem ehemaligen Templergelände befinden.111 Während der französische Sprachgebrauch »aller au Temple« in vergangenen Jahrhunderten bedeuten konnte, Prostituierte aufzusuchen, ist bei Familien des dritten Arrondissements heute damit gemeint, mit den Kindern zum dortigen Park zu gehen. Am mardi gras, am Faschingsdienstag, kann man hier tatendurstige Jungen, vom Kindergartenalter an aufwärts, sehen, die als Ritter verkleidet sind und gegebenenfalls am roten Kreuz als unerschrockene Templer zu erkennen sind. Am östlichen Rande des Parkes erhebt sich das Rathaus des dritten Arrondissements, vor dessen Haupteingang der auf Anordnung Napoleons 1809/1810 vollständig abgetragene große Festungsturm der Templer gestanden hat.112 Der Bezirksbürgermeister mag eingedenk dessen von seinem Rathaus auf den Park hinunterschauen und über die Vergänglichkeit politischer und finanzieller Machtausübung sinnieren. Dass das Deutsche Historische Institut Paris 1994 im dritten Arrondissement, nicht weit von der Ordensniederlassung, eröffnet wurde, ist freilich nicht einer Reminiszenz an die Templer geschuldet.

7.

Schlussbemerkungen

Im Zuge der Französischen Revolution sollte die ehemalige Niederlassung der Templer noch einmal im Rampenlicht der Ereignisse stehen. Nachdem die Pariser Volksmassen den Tuilerienpalast am 10. August 1792 gestürmt hatten, wurde der französische König Ludwig XVI. mit seiner Familie im großen Burgturm festgesetzt.113 Dort ließ er sein Testament am Weihnachtstag aufsetzen, von dort wurde er am 21. Januar 1793 abgeführt, um auf der Place de la Concorde mit der Guillotine hingerichtet zu werden.114 Den mächtigen Donjon der Templer 111 Davray-Piekolek/Meunier/Charpy/Le Cflur/Simon, Le Carreau du Temple (wie Anm. 89), passim. 112 Louis Réau, Histoire du vandalisme. Les monuments d8truits de l’art franÅais. Pdition augment8e par Michel Fleury et Guy-Michel Leproux, Paris 1994, zum Abriß S. 574f.; Alfred Fierro, Dictionnaire du Paris disparu. Sites et monuments, Paris 1998, S. 296. 113 Eine Inschrift am Rathaus des dritten Arrondissements erinnert an den Donjon und die Inhaftierung des Königs und seiner Familie. Das epigraphische Memorialzeugnis ist abgebildet in: Philippe Krief, Paris rive droite. Petites histoires et grands secrets, Paris 2005, S. 91. 114 Zur Festsetzung König Ludwigs XVI. mit seiner Familie im Templerbezirk und zu den letzten Monaten im Leben des Monarchen: Peter Claus Hartmann, Ludwig XVI.

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konnten die Besucher der Weltausstellung im Jahre 1889 noch einmal sehen: Auf den Marsfeldern beim Eiffelturm entstanden vom Architekten Charles Garnier (1825–1898) 44 Nachbauten, um die »Histoire de l’habitation humaine« architektonisch darzustellen, darunter dieser Burgturm.115 Im kollektiven Gedächtnis der Pariser ist dieser Architekt freilich mit der Oper – sie trägt seinen Namen – verbunden, die er unter Kaiser Napoleon III. (1854–1870) im neunten Arrondissement errichtete. Sowohl die weitflächige Templeranlage als auch die Königsresidenz auf der 6le de la Cit8 gingen ins kollektive Gedächtnis Frankreichs ein und sind sogar zu Erinnerungsorten europäischer Geschichte, lieux de m8moire, geworden. Die Niederlassung der Templer auf dem rechten Seineufer war eng mit dem Aufstieg und Fall dieses Ritterordens verwoben und spielte eine beachtenswerte Rolle im Beziehungsnetz zwischen Frankreich und dem Heiligen Land, zwischen Okzident und Orient. Es ist reizvoll, die Marienburg des Deutschen Ordens in eine vergleichende Perspektive mit Fortifikationsanlagen und zentralen Bauanlagen anderer Ritterorden zu stellen und auch nach Vorbildern für architektonische Gesamt- und Einzelkompositionen zu fragen, die sakrale und liturgische Dimension eingeschlossen. Der Ordenssitz wurde bekanntlich im Jahre 1309 von Venedig nach Westpreußen, in die Marienburg, verlegt, als die Templer in Frankreich bereits verhaftet worden waren und dem Ende ihres Ordens entgegensehen mussten. Zum europäischen Kulturerbe zählen zahlreiche Residenzen säkularer und kirchlicher Provenienz, auch kanonikaler und monastischer Prägung, mögen sie noch bestehen oder verschwunden sein. Ihre Erforschung ist uns weiterhin aufgegeben – wie auch die adäquate museale Vermittlung in interdisziplinärem Zusammenwirken.

1774–1789/92, in: Peter Claus Hartmann (Hg.), Französische Könige und Kaiser der Neuzeit. Von Ludwig XII. bis Napoleon III. 1498–1870, München 2006 (Taschenbuchausgabe), S. 272–307, hier S. 304–306. Ludwig XVI. »wurde … als einziger König in der französischen Geschichte hingerichtet« (ebd., S. 306). 115 Abgebildet in Meunier, Le Temple au Moyen ffge (wie Anm. 89), S. 63, mit kurzen Bemerkungen dazu auf S. 62.

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Die Marienburg auf dem Weg zum Machtzentrum des Deutschen Ordens

Der Deutsche Orden wurde 1190 im Heiligen Land als Hospitalgemeinschaft begründet und wenige Jahre später in eine ritterliche Korporation umgewandelt. Er behielt den Hospitalansatz bei, wie die Johanniter. Im dritten Jahrzehnt seines Bestehens eximierte ihn die Kurie, löste ihn also in seinen inzwischen zahlreichen Niederlassungen aus der bischöflichen Aufsicht zugunsten der direkten Unterordnung unter den Papst. Sie machte ihn damit kirchenrechtlich zum Orden und stellte ihn den älteren Templern und Johannitern gleich, nicht unbedingt zu deren Freude. Denn nun schob sich ein dritter, stets größer werdender Orden als Konkurrenz in das Machtgefüge des Heiligen Landes, wo er selbstverständlich sein Zentrum sah.1 Unter seinem vierten Hochmeister, dem Thüringer Hermann von Salza (1209–1239), entwickelte sich ein besonderer Ansatz: das Streben nach einem eigenen, autonomen Territorium. Man wird Templern und Johannitern ein ähnliches Streben nach einer territorial größeren Basis, als sie einzelne Burgen boten, sicher nicht absprechen können, doch beim Deutschen Orden war dieser Ansatz besonders ausgeprägt. Der Hochmeister war in seiner Heimat Thüringen in die Lehre gegangen, wo sich eine ähnliche Konsolidierung und Ausbreitung der territorialen Machtbasis der Landgrafschaft seit dem 12. Jahrhundert kontinuierlich beobachten lässt.2 Dementsprechend sammelte der Orden Optionen zur Realisierung seines Territorialstrebens nach einem einheitlichen Muster : Er ließ sich im christlichen Grenzraum umkämpfte Gebiete zuweisen mit der 1 Zur Frühgeschichte vgl. Udo Arnold, Entstehung und Frühzeit des Deutschen Ordens. Zu Gründung und innerer Struktur des Deutschen Hospitals von Akkon und des Ritterordens in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, in: Die geistlichen Ritterorden Europas, hg. v. Josef Fleckenstein/Manfred Hellmann (Vorträge und Forschungen, Bd. 26), Sigmaringen 1980, S. 81–107; polnisch: Powstanie i najstarsze dzieje zakonu krzyz˙ackiego. O załoz˙eniu i strukturze wewne˛trznej szpitala niemieckiego w Akkonie oraz zakonu rycerskiego w pierwszej połowie XIII wieku, in: Udo Arnold, Zakon krzyz˙acki z Ziemi S´wie˛tej nad Bałtyk, Torun´ 1996, S. 13–49. 2 Vgl. Geschichte Thüringens, hg. v. Hans Patze/Walter Schlesinger, Bd. 2/1 (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 48/2/1), Köln 1974.

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Möglichkeit, nach deren Unterwerfung über die Grenze hinauszugreifen in nichtchristliches Gebiet und beides zu einem neuen, eigenen Territorium zusammenzuziehen. Das sehen wir im Heiligen Land nach dem Erwerb der Burg Montfort,3 aber zuvor bereits im Königreich Armenien,4 im ungarischen Burzenland,5 in Spanien im Zuge der Reconquista, später in Preußen und in Livland. All das geschah, mit unterschiedlichem Erfolg, noch unter Hermann von Salza.6 Welche dieser Optionen für die Zukunft tragfähig werden könnte, ob eine oder mehrere, blieb anfangs völlig offen – es war ein Wechsel auf die Zukunft. Das galt auch noch nach dem Tod Hermann von Salzas 1239, obwohl die Unterwerfung sowohl Preußens als auch Livlands bereits begonnen hatte. Allerdings erfolgte sie keineswegs ohne Rückschläge, erst im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts ergab sich eine Konsolidierung im Ostseeraum, so dass dort von einer gesicherten Zukunft für den Orden ausgegangen werden durfte. Das Machtzentrum des Ordens lag nach wie vor im Heiligen Land, in der Hafenstadt Akkon und vor allem auf der Burg Montfort mit ihrem Umland. Allerdings hatte das Machtgefüge dort erhebliche Risse bekommen. Die Karte (Abb. 1) zeigt die Situation vor dem großen Sturm.7 Doch schon 1244 wurde Jerusalem im Auftrag des ägyptischen Sultans erobert, und dessen Reich ging 1250 an die Mamelucken über. Ein noch größerer Feind nahte von Nordosten, die Mongolen, die 1258 Bagdad und 1260 Aleppo eroberten. Durch ein Bündnis mit der Goldenen Horde gelang es Sultan Baibars von Ägypten und Syrien (1260–1277), die Mongolen 1260 zurückzuschlagen und seine eigene Herrschaft 3 Vgl. Walther Hubatsch, Montfort und die Bildung des Deutschordensstaates im Heiligen Land, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-Historische Klasse, Jg. 1966, Göttingen 1966, S. 159–199 (=Nr. 5). 4 Vgl. Marie-Anna Chevalier, Les ordres religieux-militaire en Arm8nie cilicienne. Templiers, hospitaliers, teutoniques & Arm8niens / l’8poque des croisades, Paris 2009. 5 Vgl. Harald Zimmermann, Der Deutsche Orden in Siebenbürgen. Eine diplomatische Untersuchung (Studia Transsylvanica, Bd. 26), Köln 2011; Generalprobe Burzenland. Neue Forschungen zur Geschichte des Deutschen Ordens in Siebenbürgen und im Banat, hg. v. Konrad Gündisch (Siebenbürgisches Archiv, Bd. 42), Köln 2013. 6 Für den Mittelmeerraum nach wie vor grundlegend, wenngleich inzwischen an etlichen Punkten ergänzt und weitergeführt, Kurt Forstreuter, Der Deutsche Orden am Mittelmeer (QStGDO, Bd. 2), Bonn 1967. Als knapper Gesamtüberblick Klaus Militzer, Die Geschichte des Deutschen Ordens, Stuttgart 22012. Zu Hermann von Salza aus der Vielzahl der Titel vor allem Helmuth Kluger, Hochmeister Hermann von Salza und Kaiser Friedrich II. Ein Beitrag zur Frühgeschichte des Deutschen Ordens (QStGDO, Bd. 37), Marburg 1987; Udo Arnold, Hermann von Salza, in: Die Hochmeister des Deutschen Ordens 1190–2012, hg.v. dems. (QStGDO, Bd. 40 = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, Bd. 6), Weimar 22014, S. 12–16. 7 Zum Folgenden Peter Thorau, Sultan Baibars I. von Ägypten. Ein Beitrag zur Geschichte des Vorderen Orients im 13. Jahrhundert (Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients, Reihe B, Nr. 63), Wiesbaden 1987; ders., The Lion of Egypt. Sultan Baibars I and the Near East in the Thirteenth Century, London 1995.

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Abb. 1: Kreuzfahrerstaaten im Orient um 1229/um 1241 (Wikimedia.org).

auf Damaskus auszudehnen. Im folgenden Jahr ging das Lateinische Kaiserreich Konstantinopel durch die byzantinische Rückeroberung verloren8 – die christlichen Kreuzfahrerstaaten und das Königreich Kleinarmenien waren somit von einer erdrückenden Übermacht umgeben, deren Zugriff auf das Heilige Land nur eine Frage der Zeit war. Dementsprechend erfolgte 1266 die erste Belagerung der Ordenszentrale Montfort, fünf Jahre später ging die Burg endgültig an Sultan Baibars verloren. 1268 hatte Baibars das Fürstentum Antiochia erobern können, zwischenzeitlich auch den Süden des Königreichs Jerusalem bis kurz vor Akkon. Die 60er Jahre hatten deutlich gemacht, dass die christlichen Fürstentümer im Heiligen Land ihrem Untergang entgegensehen mussten. Wer konnte, setzte sich nach Europa ab, viele Barone verließen ihr Land. Die Ritterorden erwarben zum Teil solche Ländereien, und es kam sogar zu einem Verteidigungsbündnis der drei Orden, zu Gunsten dessen sie alte Streitigkeiten zwar nicht vergaßen, sie aber zwischenzeitlich zurückstellten.9 Eine Umkehr dieser letztlich hoffnungslosen Situation 8 Vgl. Robert Lee Wolff, The Latin Empire of Constantinople, 1204–1261, in: A History of the Crusades, hg. v. Kenneth M. Setton, Bd. 2: The Later Crusades, hg. v. Robert Lee Wolff/ Harry W. Hazard, Madison/Wisc. 21969, S. 187–234. 9 Akkon 1258 X 9; Druck: Tabulae Ordinis Theutonici, hg. v. Ernst Strehlke, Berlin 1875, neu

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Abb. 2: Die Burgruine von Montfort im Jahr 2008 (Eran Feldman Pikiwiki Israel, Wikimedia.org).

brachte auch der 7. Kreuzzug des französischen Königs Ludwig IX. des Heiligen (1226–1270) nicht mehr, er starb dabei 1270.10 Das Heilige Land hatte seinen Stellenwert als Machtzentrum für den Deutschen Orden verloren. Von den unter Hermann von Salza gesammelten Territorialoptionen war damit auch Kleinarmenien abzuschreiben. Aus dem Burzenland hatte der Orden bereits 1225 weichen müssen. Ein umfangreicherer Ausbau in Spanien gelang nicht, es ergaben sich nur einzelne Besitzungen, bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts.11 Geblieben war nur der Ostseeraum. Auch dort hatte die Ansiedlung des Ordens nicht auf geebneten Bahnen verlaufen können. In Livland erfuhren die verheißungsvollen Anfänge einen doppelten Dämpfer : 1238 musste der Orden sich aus Estland zu Gunsten Dänemarks zurückziehen,12 1242 erfolgte die hg. mit ausführlicher Einleitung v. Hans Eberhard Mayer, Toronto/Buffalo 1975, Nr. 116, S. 98–103. Für diese Zeit des Ordens im Hl. Land vgl. auch Shlomo Lotan, Empowering and Struggling in an Era of Uncertainty and Crisis – the Teutonic Military Order in the Latin East, 1250–1291, in: Die Ritterorden in Umbruchs- und Krisenzeiten (Ordines Militares. Colloquia Torunensia Historica, Bd. 16), Torun´ 2011, S. 19–28. 10 Vgl. Michel Mollat, Le passage de Saint Louis / Tunis. Sa place dans l’histoire des croisades, in: Revue d’histoire 8conomique et sociale 50 (1972), S. 289–303 ; Jaques Le Goff, Ludwig der Heilige, Stuttgart 2000 (Originalausgabe Paris 1996). 11 Vgl. Nicolas Jaspert, Der Deutsche Orden in Spanien, in: EspaÇa y el Sacro Imperio. Procesos de cambio, influencias y acciones rec&procas en la 8poca de la »europeizacijn« siglos XI–XIII, hg. v. Klaus Herbers/Karl Rudolf/Julio Valdeón Baruque, Valladolid 2002, S. 273–298; ders., L’Ordine Teutonico nella penisola iberica: limiti e possibilit/ di una provincia periferica, in: L’Ordine Teutonico nel Mediterraneo. Atti del Convegno internazionale di studio, Torre Alemanna (Cerignola) – Mesagne – Lecce, 16–18 ottobre 2003, hg. v. Hubert Houben (Acta Teutonica 1), Galatina 2004, S. 109–132. 12 Vgl. Friedrich Benninghoven, Der Orden der Schwertbrüder. Fratres milicie Christi de Livonia (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 9), Köln 1965, Register, mit Karte.

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Niederlage gegen Nowgorod auf dem Eis des Peipussees.13 Neben Dänemark konnten sich die Bistümer von Riga, Dorpat und Ösel-Wiek als Territorialherren etablieren, der Orden erlangte nur eine von fünf Territorialherrschaften mit eingeschränktem Umfang (Abb. 3). Die Entwicklung in Preußen sah dagegen anders aus.14

Abb. 3: Die prußischen Landschaften (aus: Erich Weise (Hg.): Ost- und Westpreußen (Handbuch der Historischen Stätten), Stuttgart 1966, S. 249).

Nach der 1230 erfolgten Schenkung des zu Masowien gehörenden Kulmerlandes durch Herzog Konrad (1199–1247)15 hatte der Orden dies unterworfen und kämpfte anschließend gegen die Prußen. Der Anfangserfolg drohte zu zerplatzen, als sich 1242 nach der Schlacht auf dem Peipussee die Prußen gegen den geschwächten Orden erhoben. Sie wurden unterstützt durch das benachbarte 13 Zuletzt zur Bewertung der Schlacht Anti Selart, Livonia, Rus’ and the Baltic Crusades in the Thirteenth Century (East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, Bd. 29), Leiden/Boston 2015. 14 Zur Entwicklung in Preußen vgl. die grundlegende Darstellung von Marian Biskup/Gerard Labuda, Dzieje Zakonu Krzyz˙ackiego w Prusach. Gospodarka – społeczenstwo – pan´stwo – ideologia, Gdan´sk 21986, deutsch: Die Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen. Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Ideologie (Klio in Polen, Bd. 6), Osnabrück 2000. Als kürzerer Nachfolger : Pan´stwo zakonu krzyz˙ackiego w Prusach. Władza i społeczen´stwo, hg. v. Marian Biskup/Roman Czaja, Warszawa 2008. ´ ski, Echt oder falsch? Die Kruschwitzer Urkunde vom Juni 1230; For15 Vgl. Tomasz Jasin schungen zur Kruschwitzer Urkunde nach 1991 – ein Nachtrag [bis 2007], in: ders., Kruschwitz, Rimini und die Grundlagen des preußischen Ordenslandes (QStGDO, Bd. 63 = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, Bd. 8), Marburg 2008, S. 21–70; die Diskussion um die Urkunde ist fortgesetzt worden, hat jedoch m. E. am Ergebnis von Jasin´ski nichts ändern können.

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Herzogtum Pommerellen, das eine erstarkende Ordensmacht als östlichen Nachbarn zu verhindern suchte. Erst nach sieben Jahren gelang ein Frieden, den Orden und Prußen auf Vermittlung eines kurialen Legaten als gleichberechtigte Partner schlossen. Von da an schien es erfolgreich weiterzugehen. Doch 1260 verlor der Orden bei Durben in Kurland, also erneut im livländischen Bereich, eine Schlacht gegen die Litauer, und wieder erhoben sich die Prußen. Dieser Aufstand wurde vom Orden niedergekämpft. Bis 1274 hatte er seine alte Machtposition zurückerlangt, einen Vertrag wie 1249 gab es nicht mehr. Die Landesherrschaft wurde von Seiten des Ordens zwar mühsam, aber letztlich doch erfolgreich verteidigt und dauerhaft gefestigt. Anschließend konnten auch die zuvor noch nicht unterworfenen Bereiche im Nordosten Preußens erobert werden. Zu 1283 schrieb dementsprechend der Chronist Peter von Dusburg den immer wieder zitierten Satz: Explicit bellum Prussiae, incipit bellum Lethowinorum.16 Doch es ging ja nicht nur um militärische Unterwerfung eines Landes. Gleichzeitig erfolgte der Aufbau eines Burgennetzes und damit einer Verwaltung, die ihren zentralen Sitz seit 1251 in Elbing hatte, unter Führung des Landmeisters.17 Neben den prußischen und teilweise polnischen dörflichen Siedlungen wurden deutsche Bauern und Handwerker zu eigenem, vom Orden entwickelten Recht angesiedelt, eine Vielzahl von Stadtgründungen trat hinzu. Parallel erfolgte die kirchliche Organisation mit Bistums- und Pfarrgründungen, unterstützt von den Bettelorden als Missionshelfern.18 Dabei gelang es dem Orden, drei der vier Bistümer zu inkorporieren, so dass – im Gegensatz zu Livland – Preußen immer mehr zu einer Art Flächenstaat des Ordens wurde, wie er es in keiner anderen Region seines Wirkens erreicht hatte bzw. erreichen konnte. Diesen positiven Zustand als Territorialherr in Preußen umreißt der Satz Peters von Dusburg knapp, aber treffend. Gleichzeitig macht er die ideologische Berechtigung deutlich, die der Orden von Preußen und Livland aus sah: die Aufgabe zur Fortsetzung des Kampfes gegen Nichtchristen, ganz im Sinne der Kreuzzugsideologie. Was die Kurie bereits im zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts propagiert hatte, die Gleichsetzung der Kreuzzüge ins Heilige Land mit 16 Petri de Dusburg Chronicon terrae Prussiae, hg. v. Max Töppen, in: Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit, hg. v. Theodor Hirsch/Max Töppen/Ernst Strehlke, Bd. I, Leipzig 1861, ND Frankfurt/Main 1965, S. 21–219, hier S. 146. 17 Vgl. The Teutonic Order in Prussia and Livonia. The Political and Ecclesiastical Structures. ´ ski, Torun´ 2016. 13th–16th c., hg. v. Roman Czaja/Andrzej Radzimin ´ ski, Die Kirche im Deutschordensstaat in Preußen (1243–1525). 18 Vgl. Andrzej Radzimin Organisation – Ausstattung – Rechtsprechung – Geistlichkeit – Gläubige (Prussia Sacra, Bd. 4), Torun´ 2014; Parafie w ´sredniowiecznych Prusach w czasach Zakonu Niemieckiego od ´ ski (Ecclesia clerusque temXIII do XVI w., hg. v. Radosław Biskup/ Andrzej Radzimin poribis medii aevi, Bd. 4), Torun´ 2015.

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den Unterwerfungs- und Christianisierungsvorgängen im Ostseeraum, war für den Orden weiterhin zukunftsweisend geworden.19 Denn im Heiligen Land befand er sich in der Endphase eines aussichtlosen Kampfes, der 1291 mit dem Verlust der letzten Bastionen Tyrus, Sidon, Beirut und vor allem Akkon sein Ende erreichte. Wichtiger Vertreter des Ordens in jener Zeit war Konrad von Feuchtwangen, der alle Ordensgebiete vom Heiligen Land bis Livland aus eigener Anschauung in Führungspositionen kannte: als Landkomtur von Österreich (1258–1259/61?, 1271–1279), als Tressler im Heiligen Land (1259/61–1271?), als Landmeister in Preußen (1279–1281) und Livland (1279–1280), als Landkomtur in Franken (1282–1284) und schließlich als Deutschmeister (1284–1291). Er sah die Aussichtlosigkeit der Ordenszukunft im Heiligen Land. Eine Alternative schien ihm nur in Preußen gegeben, womit er keineswegs allein stand. Es bildete sich in den 80er Jahren eine regelrechte »Preußenfraktion« innerhalb des Ordens, die dort das zukünftige Machtzentrum des Ordens sah. Die Errichtung der Territorialherrschaft hatte festen Boden erreicht, die ideologische Existenzbegründung gab es ebenso. Diese »preußische« Opposition führte so weit, dass Konrad von Feuchtwangen sich dem Hochmeister Burkhard von Schwanden (1283–1290), der zum Entsatz des Heiligen Landes nach Akkon reiste, versagte. Das Ergebnis war der Rücktritt Schwandens, kaum dass er Akkon erreicht hatte, und der Untergang des gesamten Deutschordenskontingentes bei der Verteidigung Akkons 1291.20 Zwar wurde Feuchtwangen anschließend zum Hochmeister gewählt, doch das 19 Vgl. die Urkunden von Honorius III. von 1217 März 3 und 1218 Mai 5 und 6, in: Preußisches Urkundenbuch, Bd. I/1, hg. v. R. Philippi/C. P. Woelky, Königsberg 1882, ND Aalen 1961, Nr. 15, 20 und 21. Dann erfolgte wegen des Fünften Kreuzzuges gegen Damiette eine Rücknahme 1220 Mai 8, im folgenden Jahr 1221 April 20 jedoch erneut die Gleichsetzung; ebd., Nr. 37, 40. Dabei blieb es anschließend. 20 Vgl. Udo Arnold, Konrad von Feuchtwangen, in: Preußenland 13 (1975), S. 2–34; polnisch: Konrad von Feuchtwangen, in: Udo Arnold, Zakon krzyz˙acki (wie Anm. 1), S. 60–101; ders., Deutschmeister Konrad von Feuchtwangen und die »preußische Partei« im Deutschen Orden am Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts, in: Aspekte der Geschichte. Festschrift für Peter Gerrit Thielen zum 65. Geburtstag am 12. Dezember 1989, hg. v. Udo Arnold/Josef Schröder/Günther Walzik, Göttingen 1990, S. 22–42; Wiederabdruck in: Udo Arnold, Deutscher Orden und Preußenland. Ausgewählte Aufsätze anläßlich des 65. Geburtstages, hg. v. Bernhart Jähnig/Georg Michels (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, Bd. 26), Marburg 2005, S. 187–206; polnisch: Mistrz niemiecki Konrad von Feuchtwangen i jego »stronnictwo pruskie« w zakonie krzyz˙ackim pod koniec XIII i na pocza˛tku XIV wieku, in: Udo Arnold, Zakon krzyz˙acki (wie Anm. 1), S. 102–129. Anderer Ansicht hinsichtlich des Ordensendes in Akkon ist Marie Luise Favreau-Lilie, The military orders and the escape of the Christian population from the Holy Land in 1291, in: Journal of Medieval History 19 (1993), S. 201–227, hier S. 207; sie geht ohne Kenntnis des zweiten vorgenannten Beitrags noch von einer Flucht der restlichen Ordensbrüder aus, was sich aber als literarische Fiktion der Österreichischen Reimchronik erwiesen hat.

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Abb. 4: Venedig, Luftaufnahme aus dem Jahr 2012 (»Horst-schlaemma«, Wikimedia.org).

Vorhaben der Verlegung der Ordenszentrale nach Preußen konnte er nicht realisieren – das Generalkapitel des Ordens setzte die Zwischenlösung Venedig durch und legte vielleicht schon seinen Nachfolger Gottfried von Hohenlohe (1297–1303) regelrecht an die Kette: Er musste die Erlaubnis des Kapitels einholen, wenn er über die Alpen nach Norden reisen wollte.21 Schon in der früheren Gefährdung des Heiligen Landes, mindestens zwei Jahre vor der ersten Belagerung Montforts, verbot das Generalkapitel des Ordens seinem Hochmeister, ohne Erlaubnis das Heilige Land zu verlassen.22 Die preußischen Amtsträger hatten sich bereits 1299 schriftlich sowie mündlich durch zwei Abgesandte beschwert wegen der antipreußischen Haltung der Ordenszentrale.23 Nun erfolgte eine Eskalation. Während Ende des Jahres 21 Vgl. Die Statuten des Deutschen Ordens, hg. v. Max Perlbach, Halle/Saale 1890, S. 145. Diese nur in den beiden niederländischen Handschriften überlieferte, zeitlich nicht eindeutig zuzuordnende Bestimmung ist mit Gewissheit nach dem Tod Feuchtwangens entstanden. Strittig ist, ob sie als Wahlkapitulation Gottfrieds von Hohenlohe (1297) anzusehen ist oder als solche Siegfrieds von Feuchtwangen (1303). Den Hohenlohe-Ansatz nehmen an Forstreuter (wie Anm. 6), S. 194f.; Arnold, Konrad von Feuchtwangen (wie Anm. 20), S. 29, Anm. 145 bzw. S. 99, Anm. 152; Klaus Militzer, Der Hochmeister Gottfried von Hohenlohe, in: 800 Jahre Deutscher Orden 1190–1990. Deutschordens-Museum e. V. Bad Mergentheim. Jahrbuch 1, 1990, S. 49–57, hier S. 49; ders., Von Akkon zur Marienburg. Verfassung, Verwaltung und Sozialstruktur des Deutschen Ordens 1190–1309 (QStGDO 56 = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens 9), Marburg 1999, S. 159f.; ders., Gottfried von Hohenlohe, in: Die Hochmeister (wie Anm. 6), S. 46–49, hier S. 46. Den Feuchtwangen-Ansatz nehmen an der Herausgeber der Statuten Perlbach sowie Ulrich Nieß, Hochmeister Karl von Trier (1311–1324). Stationen einer Karriere im Deutschen Orden (QStGDO 47), Marburg 1992, S. 23f.; ders., Siegfried von Feuchtwangen, in: Die Hochmeister (wie Anm. 6), S. 51–56, hier S. 52. 22 Statuten (wie Anm. 21), Capitelsbeschlüsse vor 1264, III Nr. 1, S. 135. 23 Preußisches Urkundenbuch, Bd. I/2, hg. v. August Seraphim, Königsberg 1909, ND Aalen 1961, Nr. 713. Der vom Herausgeber vermutete zeitliche Ansatz auf [1299] Juni 26 wird allgemein akzeptiert.

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Abb. 5: Venedig 1500. Holzschnitt von Jacopo de’ Barbari (Wikimedia.org / Google Arts Project).

1300 der Marschall Heinrich von Thierbach auf Zypern war,24 wohl zur Vorbereitung der Beteiligung an einem neuen Kreuzzug, hielt sich Hochmeister Gottfried von Hohenlohe in Preußen und Livland auf.25 Und 1303 fand ein Generalkapitel des Ordens in Elbing statt, auf dem Hochmeister Gottfried von Hohenlohe abgesetzt und Siegfried von Feuchtwangen (1303–1311) als Nachfolger gewählt wurde. Ein Generalkapitel in Preußen mit Hochmeister, Großkomtur, Tressler, Deutschmeister, den Landmeistern von Preußen und Livland sowie weiteren Amtsträgern war ein Novum. Ob es als Stärke der preußischen Partei zu werten ist oder als Versuch der Mittelmeerpartei, vor Ort die Pläne für eine Verlagerung der Ordenszentrale nach Preußen zu zerschlagen, muss offen bleiben. Jedenfalls hatte Gottfried von Hohenlohe, der ursprünglich zur preußischen Partei gehörte, keinen Ausgleich herbeiführen können. Andererseits zeigte sich die klare Frontstellung der preußischen Fraktion gegen die Mittel24 Vgl. Walther Hubatsch, Der Deutsche Orden und die Reichslehnschaft über Cypern, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-Historische Klasse, Jg. 1955 (Nr. 8), S. 245–306, Urkunde Nr. 8, S. 294f. Hans Eberhard Mayer, Eine fehlgedeutete Grabinschrift zur Geschichte des Deutschen Ordens auf Zypern, in: Archiv für Diplomatik 59 (2013), S. 25–34, hier S. 29 geht ebenfalls von der Anwesenheit des Marschalls auf Zypern im Frühjahr 1301 aus. Zur damaligen Situation genauer Udo Arnold, Konrad von Babenberg – vom Komtur zum Interimsmeister. Eine Deutschordens-Karriere in Zeiten des Umbruchs am Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts (im Satz); dort wird nachgewiesen, dass der Marschall 1301 nicht auf Zypern war, sondern nur seine Beauftragten. Später taucht er nicht mehr auf. Heinrich von Thierbach ist vorher nur 1292–1296 als Landkomtur von Sizilien nachweisbar ; Kristjan Toomaspoeg, Les Teutoniques en Sicile (1197–1492) (Collection de l’Pcole FranÅaise de Rome, Bd. 321), Roma 2003, S. 483 und Register. 25 Zum Folgenden vgl. Militzer, Der Hochmeister (wie Anm. 21), S. 53f.; Nieß, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 21), S. 19f. ; Militzer, Von Akkon zur Marienburg (wie Anm. 21), S. 162f.; ders., Gottfried von Hohenlohe (wie Anm. 21), S. 48.

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meerpolitik. Von der Ostseeküste aus gesehen musste die Wahl Venedigs als Zentrum ein Fehlgriff sein. Keine Stadt konnte so viele Freiheiten bieten, wie der Orden im eigenen, autonomen, nicht dem Reich angehörenden Territorium besaß und in Zukunft zu besitzen hoffte. Wir sehen also seit den 80er Jahren des 13. Jahrhunderts den Orden im Hinblick auf sein zukünftiges Machtzentrum zutiefst gespalten. Noch immer bildete das Heilige Land das entscheidende ideologische Zentrum der Bemühungen zur Rückgewinnung der christlichen Heilsstätten – ganz im Sinne des 200 Jahre zuvor ergangenen Kreuzzugsaufrufes Papst Urbans II. (1088–1098). Deshalb zogen sich Templer und Johanniter nur bis Zypern zurück, die Templer hielten sogar bis 1302 noch eine Insel unmittelbar vor Tortosa.26 Doch für den Deutschen Orden stellte sich das nicht als Möglichkeit. Seine Besitzungen auf Zypern waren nicht bedeutend genug, die alten Probleme mit den konkurrierenden Ritterorden drohten erneut aufzubrechen.27 Ähnliches galt für die Niederlassungen des Deutschen Ordens auf der Peloponnes.28 Eine starke Position dagegen besaß der Orden in Sizilien und Apulien.29 Doch diese unter den Staufern vereinigten Gebiete waren an die konkurrierenden Häuser Anjou und Aragon übergegangen. Die »Sizilianische Vesper« 1282 und deren Folgen teilten den Raum dauerhaft zwischen Sizilien für Aragon und Apulien mit Neapel für Anjou, doch dauerten die Unruhen an und konnten erst 1302 im Frieden von Caltabellotta beendet werden.30 Direkt dem Hochmeister unterstanden die Niederlassungen in den mittelitalienischen Papstresidenzen Rom, Viterbo, 26 Vgl. genauer Arnold, Konrad von Babenberg (wie Anm. 24). 27 Bezeichnend ist der Satz, mit dem Hans Eberhard Mayer, einer der besten Kenner der Kreuzzugsgeschichte, einen Beitrag beginnt: »Die Position des Deutschen Ritterordens auf Zypern war unbedeutend.« Mayer, Grabinschrift (wie Anm. 24), S. 25. 28 Vgl. Hubert Houben, Wie und wann kam der Deutsche Orden nach Griechenland?, in: N8a Rhjme 1 (2004), S. 243–253; Andreas Kiesewetter, L’Ordine Teutonico in Grecia e in Armenia, in: L’Ordine Teutonico (wie Anm. 11), S. 73–107. 29 Vgl. Kristjan Toomaspoeg, Les Teutoniques en Sicile (1197–1492) (Collection de l’Pcole FranÅaise de Rome, Bd. 321), Rom 2003; ders., L’Ordine Teutonico in Puglia e in Sicilia, in: L’Ordine Teutonico (wie Anm. 11), S. 133–160; I Cavalieri teutonici tra Sicilia e Mediterraneo, hg. v. Antonino Giuffrida/Hubert Houben/ Kristjan Toomaspoeg (Acta Theutonica 4), Galatina 2007. Besonders wichtige Quellenedition: La contabilit/ delle Case dell’Ordine Teutonico in Puglia e in Sicilia nel Quattrocento, bearb. v. Kristjan Toomaspoeg, hg. v. Hubert Houben (Acta Theutonica 2), Galatina 2005 (Nachdruck mit italienischer Übersetzung und ausführlicher Auswertung der Visitationsberichte Nr. 99, 136 und 163 von 1440, 1448 und 1451 aus: Visitationen im Deutschen Orden im Mittelalter. Teil I: 1236–1449, Teil II: 1450–1519, hg.v. Marian Biskup und Irena Janosz-Biskupowa, unter der Redaktion von Udo Arnold (QStGDO 50/I und II = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens 10/I und II), Marburg 2002, 2004). Zu Apulien eine große Zahl von Aufsätzen von Hubert Houben. 30 Vgl. Steven Runciman, Die sizilianische Vesper. Eine Geschichte der Mittelmeerwelt im Ausgang des 13. Jahrhunderts, München 21976.

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Montefiascone und Orvieto.31 Eine allzu große Nähe zur Kurie konnte aber auch nicht im Interesse des Ordens liegen, hatte er doch oft genug die gegen ihn gerichteten Stellungnahmen der Päpste erleben müssen. Kurt Forstreuter formulierte dementsprechend deutlich: »Man begibt sich nicht gerne in die Höhle des Löwen.«32 Außerdem hatte sich die Kurie mit Genua gegen Venedig verbündet, womit die in Akkon herrschenden Gegensätze der großen italienischen Städte perpetuiert wurden. Deshalb schien die Lösung Venedig geeigneter : Nach wie vor bot die Stadt einen wichtigen Hafen auf dem Weg in die Levante, außerdem besaß der Orden dort seit 1208 eine Niederlassung (Abb. 6).33 In den Auseinandersetzungen der italienischen Stadtrepubliken in Akkon hatte der Orden stets ein gutes Verhältnis zu Venedig gewahrt. Gegenüber den Anjou und Aragon verhielt sich die Stadtrepublik ähnlich zurückhaltend wie der Orden. Somit blieb der Orden in Venedig im Mittelmeerraum, wenngleich auch nicht »vor der Haustüre« zum Heiligen Land – eine eindeutige Kompromisslösung. Denn eine Stadt konnte nie ein Machtzentrum für den Orden werden, wie es Montfort mit dem Umland gewesen war. Das hatte die Situation ab 1271 in Akkon, nachdem Montfort für den Orden verloren war, eigentlich in aller Deutlichkeit gezeigt.34 Auch wenn es innerhalb Venedigs nicht diese Machtkämpfe zwischen den konkurrierenden italienischen Stadtrepubliken und weiteren Parteiungen gab wie in Akkon, so bot doch eine große Stadt, in der der Orden nicht selber Stadtherr war, für einen Ritterorden allenfalls eine Etappensituation. Dort konnte er ein Hospital betreiben, es gab möglicherweise eine Pfarre zu betreuen, vielleicht war eine Kommende einge-

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31 Vgl. Forstreuter (wie Anm. 6), S. 157–187; Jan-Erik Beuttel, Der Generalprokurator des Deutschen Ordens an der römischen Kurie. Amt, Funktionen, personelles Umfeld und Finanzierung (QStGDO, Bd. 55), Marburg 1999, S. 426–486; Thomas Frank, Der Deutsche Orden in Viterbo (13.–15. Jh.), in: Vita religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag, hg. v. Franz J. Felten/Nikolas Jaspert unter Mitarb. v. Stephanie Haarländer (Berliner Historische Studien, Bd. 31 = Ordensstudien, Bd. 13), Berlin 1999, S. 321–343; Barbara Bombi, L’Ordine Teutonico nell’Italia Centrale. La casa romana dell’ordine e l’ufficio del procuratore generale, in: L’Ordine Teutonico (wie Anm. 11), S. 197–216. 32 Forstreuter (wie Anm. 6), S. 193. 33 Vgl. Udo Arnold, Der Deutsche Orden und Venedig, in: Militia Sacra. Gli ordini militari tra Europa e Terrasanta, hg. v. Enzo Coli/Maria De Marco/Francesco Tommasi, Perugia 1994, S. 145–165; Wiederabdruck in: ders., Deutscher Orden und Preußenland (wie Anm. 20), S. 207–224; Marie-Luise Favreau-Lilie, Der Deutsche Orden in Venedig, in: Von Preußenland nach Italien. Beiträge zur kultur- und bildungsgeschichtlichen Vernetzung europäischer Regionen, hg. v. Mark Mersiowsky/Arno Mentzel-Reuters (Innsbrucker Historische Studien 30), Innsbruck 2015, S. 21–40. 34 Vgl. Marie-Luise Favreau, The Teutonic Knights in Acre after the Fall of Montfort (1271). Some Reflections, in: Outremer. Studies in the History of the Crusading Kingdom of Jerusalem, presented to Joshua Prawer, hg. v. Binyamin Ze ev Kedar/Hans Eberhard Mayer/ ˙ Raymond Charles Smail, Jerusalem 1982, S. 272–284.

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richtet. Damit erlangte er zwar finanzielle und personelle Ressourcen, doch ein eigenständiges Machtzentrum als Zentrale eines europaweit tätigen Ordens musste innerhalb eines völlig anders organisierten städtischen Gefüges ständig an vorhandene Begrenzungen stoßen.

Abb. 6: Venedig, Punta della Dogana. An der Stelle der Kirche Santa Maria della Salute lag die Ordensniederlassung (Wikimedia.org).

Zu diesem strukturellen Problem, das unabhängig war vom positiven Verhältnis des Ordens zu Venedig, traten weitere Faktoren hinzu, die dem Orden eine Verlagerung seiner Zentrale letztlich zur Notwendigkeit machten. Bereits kurz nach dem Verlust Montforts waren Stimmen laut geworden, die eine Vereinigung der Ritterorden forderten. Damit sollte die Schlagkraft der Christen gegen die muslimischen Angriffe im Heiligen Land erhöht werden.35 Nachdem die Herrschaft in Preußen gerade wieder gesichert war und weiter ausgedehnt werden konnte, lag dies keineswegs im Interesse des Ordenszweiges an der Ostsee. Mit dem Verlust des Heiligen Landes 1291 wurden die Stimmen zahlreicher und lauter, unter Anführung der Päpste Nikolaus IV. (1288–1292), Bonifaz VIII. (1294–1303) und Benedikt XI. (1303–1304).36 Hinzu kam der scharfe Gegensatz

35 Vgl. z. B. Fratris Fidentii de Padua, ordinis minorum, vicarii Terrae Sanctae Liber recuperationis Terrae Sanctae, hg. v. Girolamo Golubovich, Florenz 1912; dazu Paolo Evangelisti, Il Liber recuperationis Terrae Sanctae di Fidenzio da Padova. Un progetto egemonico francescano per il recupero ed il governo della Terrasanta, Perugia 1996; Alan Forey, The Military Orders in the crusading proposals of the late-thirteenth and early-fourteenth centuries, in: Traditio XXXVI (1980), Wiederabdruck in: ders., Military Orders and Crusades, Aldershot 1994, 22006, S. 317–345, hier S. 320f.; Sylvain Gouguenheim, Die Vorschläge zum Zusammenschluss der Ritterorden am Ende des 13. und Anfang des 14. Jhs.: Eine Konsequenz der Kritik oder eine Chance?, in: Die Ritterorden in Umbruchs- und Krisenzeiten (wie Anm. 9), Torun´ 2011, S. 29–45. 36 Vgl. Gerhard Diehl in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 6 (1993),

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zwischen der Kurie und dem französischen König, entbrannt am Problem der Besteuerung des französischen Klerus und zu einem Höhepunkt eskaliert durch die Bulle Unam Sanctam von Bonifaz VIII. vom 18. November 1302 und dem in ihr aufs Schärfste vertretenen Herrschaftsanspruch des Papstes (Abb. 7).37 Als 1305 mit Clemens V. (1305–1314) jedoch ein Franzose zum Papst gewählt wurde, der sich noch dazu in Lyon krönen ließ, zeigte sich die kirchliche Machtverschiebung zugunsten Frankreichs.38 Damit begannen auch die Repressionen gegen die Templer, den größten Gläubiger der französischen Krone, 1307 setzte die große Verhaftungswelle gegen den Orden ein.39

Abb. 7: Bonifaz VIII. Grabstatue von Arnolfo di Cambio (um 1298) im Museo del’Opera del Duomo, Florenz (Wikimedia.org).

Gleichzeitig eskalierte der Streit in den Städten Ferrara, Modena und Reggio Emilia um den Machterhalt der dort führenden Familie d’Este, die Venedig zur Hilfe rief.40 Die Niederlage der Venezianer vor Ferrara 1308 nutzte der Papst, um

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Sp. 869–871; Tilman Schmidt in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (1983), Sp. 414–416; Georg Schwaiger in: ebd., Bd. 1 (1980), Sp. 1860f. Vgl. Jürgen Miethke in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10 (31993), Sp. 375. Bereits am 13. Mai 1300 vertrat Bonifaz diesen Anspruch in einem Sendschreiben an die Kurfürsten, vgl. Jakob Schwalm (Hg.), Constitutiones et acta publica imperatorum et regum inde ab a. MCCXCVIII usque ad a. MCCCXIII (1298–1313) (Monumenta Germaniae Historica. Leges 4,1), Hannover 1906, Nr. 105, S. 80f. Vgl. Sophia Menache, Clement V. (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought Ser. 4, Bd. 36), Cambridge 1998. Vgl. Julien Théry, A Heresy of State: Philip the Fair, the Trial of the »Perfidious Templars,« and the Pontificalization of the French Monarchy, in: Journal of Medieval Religious Cultures 39/2 (2013), S. 117–148. Vgl. Trevor Dean, Gli Estensi e Venezia come poli di attrazione nella Marca fra Due e

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im April 1309 gegen Venedig einen Kreuzzug auszurufen und das Interdikt zu verhängen.41 Seit dem Jahre 1300 gab es in der Stadt selbst immer wieder aufflammende Unruhen um die Politik des Rates, der den Zugang zum Rat stets stärker eingrenzte auf wenige Geschlechter. Dies führte bis zur Erstürmung der Ratsversammlung und der anschließenden Hinrichtung von Aufrührern auf der Piazetta (»La Serrata«).42 Damit aber war nicht nur keine gute Grundlage für einen dauerhaften Verbleib der Ordenszentrale in Venedig geboten – innen- wie außenpolitische Verwicklungen der Lagunenstadt konnten den Orden auf Dauer nicht zum unbeteiligten Zuschauer machen –, spätestens seit dem päpstlichen Vorgehen gegen die Stadt wurde die Situation für den Orden unhaltbar. Die politische Gesamtlage in Italien und in Frankreich wie auch die Lage innerhalb Venedigs gestalteten sich für den seit dem Verlust des Heiligen Landes im Mittelmeerraum deutlich geschwächten Orden in höchstem Maße gefährlich. Das müssen die hohen Amtsträger des Ordens – soweit es sie in der Stadt überhaupt gab – erkannt und nunmehr der Verlagerung des Hochmeistersitzes nach Preußen zugestimmt haben. Dementsprechend habe ich an anderer Stelle formuliert: »Der Rückzug des Hochmeisters aus Venedig kam infolge der politischen Umstände einer Flucht gleich.«43 Zur selben Zeit wandelte sich die Situation Preußens durch die Eroberung Pommerellens seitens des Ordens grundlegend.44 Es geht hier nicht darum, die Entwicklung der Streitigkeiten im Herzogshaus von Pommerellen und die Kriege

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Trecento, in: Istituzioni, societ/ e potere nella Marca Trevigiana e Veronese (secoli XIII–XIV), sulle traccia di G. B. Verci. Atti del convegno Treviso 25–27 settembre 1986, hg. v. Gherardo Ortalli/Michael Knapton (Studi storici, Bd. 199/200), Roma 1988, S. 369–376, hier S. 374f.; danach Gian Maria Varanini, Venezia e l’entroterra (1300 circa-1420), in: Storia di Venezia dalle origini alla caduta della Serenissima, Bd. III: La formazione dello stato patrizio, hg. v. Girolamo Arnaldi/Giorgio Cracco/Alberto Tenenti, Roma [1997], S. 159–236, hier S. 173f. Vgl. Varanini (wie Anm. 40), S. 174. Zur Gesamtentwicklung in der Stadt vgl. Stanley Chojnacki, La formazione della nobilt/ dopo la Serrata, in: Storia di Venezia (wie Anm. 40), S. 641–725. Udo Arnold, Von Venedig nach Marienburg. Hochmeister und Deutscher Orden am Ende des 13./Beginn des 14. Jahrhunderts, in: Kirche und Gesellschaft im Wandel der Zeiten. Festschrift für Gabriel Adri#nyi zum 75. Geburtstag, hg. v. Hermann-Josef Scheidgen/Sabine Prorok/Helmut Rönz, Nordhausen 2012, S. 75–90, hier S. 86; zuvor bereits kürzer ders., Z Wenecji do Malborka. Wielcy mistrzowie zakonu krzyz˙ackiego pod koniec XIII i na psza˛tku XIV wieku, in: »Rzez gdanska« z 1308 roku w s´wie˛tle najnowszych badan´. Materiały z sesji naukowej 12–13 listopada 2008 roku, hg. v. Blazej S´liwin´ski, Gdan´sk 2009, S. 43–49. Die kritische außenpolitische Situation der Stadt sieht ebenso Klaus Militzer, Die Übersiedlung Siegfrieds von Feuchtwangen in die Marienburg, in: Die Ritterorden in Umbruchs- und Krisenzeiten (wie Anm. 9), S. 47–61, hier S. 56. Vgl. Pan´stwo zakonu krzyz˙ackiego (wie Anm. 14), S. 91f. aus polnischer Sicht; in der Zusammenschau der gesamtdeutschen Verflechtungen Udo Arnold, Der Erwerb Pommerellens durch den Deutschen Orden, in: Westpreußen-Jahrbuch 30 (1980), S. 27–37; dazu auch Nieß, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 21), S. 46–56.

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nach dessen Aussterben 1296 zu thematisieren. In Erinnerung zu rufen ist jedoch, dass der Orden bereits 1301 als Hilfstruppe Danzig verteidigt, anschließend sich aber wieder zurückgezogen hatte. Auf dem Generalkapitel 1303 in Elbing ist das gewiss zur Sprache gekommen, vielleicht sind sogar Überlegungen angestellt worden, ob und wenn ja, wie das benachbarte Fürstentum dem Ordensgebiet angegliedert werden könnte. Jedenfalls ergriff der seit 1307 amtierende Landmeister Heinrich von Plötzkau 1308 die Gelegenheit zur Unterwerfung Danzigs und ganz Pommerellens und erweiterte damit das Ordensland ganz beträchtlich über die Nogat und Weichsel hinaus nach Westen. Das war die Situation, als Siegfried von Feuchtwangen 1309 nach Preußen kam. Doch wann geschah das eigentlich? Die gern wiederholte Annahme sieht als Tag des Einzugs des Hochmeisters in die Marienburg den 14. September, das Fest der Kreuzerhebung. Es war dies ein Hochfest des Ordens, an dem das vorgeschriebene jährliche Großkapitel stattfinden sollte.45 Bereits Johannes Voigt öffnete jedoch ein Zeitfenster von knapp zwei Wochen für den Einzug des Hochmeisters in die Burg, zwischen dem 9. und 21. September.46 Korrigiert wurde dies durch Max Toeppen auf die Zeit zwischen dem 13. und dem 21. September.47 Kriterium dafür war die Nennung Heinrichs von Plötzkau als Landmeister bzw. anschließend als Großkomtur und die unausgesprochene Vorstellung, dass im Moment des hochmeisterlichen Erscheinens in Marienburg eine Ämterumbesetzung stattgefunden habe. Darin folgt auch noch Ulrich Nieß, wie seine Vorgänger gestützt auf die urkundliche Überlieferung.48 Doch bereits Voigt räumte ein: »Nun wäre freilich zwar denkbar, dass der Hochmeister auch wohl schon früher eingezogen seyn könnte und der Landmeister seinen Titel noch eine Zeitlang fortgeführt habe. Indessen würden doch in diesem Falle jene Urkunden nicht mehr vom Landmeister als oberster Landesbehörde ausgestellt worden seyn.«49 Die Urkunde vom 13. September 1309 wurde allerdings gar nicht von Plötzkau ausgestellt. Es handelt sich vielmehr um die Bestätigung Markgraf Waldemars von Brandenburg in Soldin, dass er gedegedinghet hebben mit broder Hinrike von Ploszik, die ein bieder is des landes und der brodere tu˚ Prucen, und dem Orden Pommerellen verkauft habe.50 Die Titulatur Plötzkaus in Waldemars Urkunde ist eher vage. Außerdem dürfte er auch bei Anwesenheit des 45 Vgl. Statuten (wie Anm. 21), Gewohnheiten 18, S. 102. Vgl. zum Zeitpunkt des Großkapitels jedoch unten bei Anm. 54. 46 Vgl. Johannes Voigt, Geschichte Marienburgs, Königsberg 1824, S. 69, Anm. 66. 47 Vgl. Max Töppen, Geschichte der Preussischen Historiographie von P. v. Dusburg bis auf K. Schütz, Berlin 1853, ND Walluf 1973, S. 289. 48 Vgl. Nieß, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 21), S. 32, Anm. 127. 49 Voigt (wie Anm. 66). 50 Pommerellisches Urkundenbuch, bearb. v. Max Perlbach, Danzig 1881–1916, ND Aalen 1969, Nr. 676; danach Paul Simson, Geschichte der Stadt Danzig bis 1626, Bd. IV: Urkunden, Danzig 1918, ND Aalen 1967 (als Bd. 3), Nr. 62, S. 27.

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Hochmeisters in Preußen zu diesem Zeitpunkt die von ihm bereits zuvor in Brandenburg begonnene Angelegenheit sinnvoller Weise selber zu Ende gebracht haben – es wäre kaum klug gewesen, im Lauf die Pferde zu wechseln. Damit sehe ich die Urkunde vom 13. September nicht als zwingenden Beleg dafür an, dass Siegfried von Feuchtwangen erst anschließend in die Marienburg eingezogen sei. Die letzte Eigennennung Plötzkaus als Landmeister erfolgte am 1. Mai 1309 in einer Urkunde für Herzog Przemysław von Kujawien über den Verkauf seiner Besitzungen im Werder zwischen Nogat und Haff an den Orden.51 Hier ist die Eigennennung eindeutig: magister terre Pruscie. Folgen wir also der Argumentation Voigts, dann öffnet sich das Zeitfenster für das Eintreffen Siegfrieds von Feuchtwangens auf der Marienburg deutlich. Das würde durchaus übereinstimmen mit dem letzten Auftreten des Hochmeisters in Wien in den Veyrtagen ze den Ostern (1309 März 30 – April 2).52 Dorthin war er bereits vor dem päpstlichen Interdikt gegen Venedig gezogen. Nach Ostern dürfte er von Wien aufgebrochen und zu einem unbekannten Zeitpunkt in Marienburg eingetroffen sein. Damit wäre auch noch Zeit verblieben, ein Kapitel vorzubereiten, das sehr wohl am 14. September, dem Fest Kreuzerhöhung, stattfinden konnte und eine durch die Ordensregel vorgeschriebene Rückgabe und Neubesetzung der Ämter in fast normaler Form ermöglichte. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass in den Gesetzen – hinsichtlich ihrer genauen Entstehungszeit umstritten, jedoch auf jeden Fall in Venedig erlassen53 – der Termin des Kreuztages (14. September) für das jährliche Kapitel im Haupthaus galt, während das Große Kapitel im Haupthaus, alle sechs Jahre abzuhalten, an Philippi und Jacobi (1. Mai) stattfinden sollte.54 Geht man von dieser erst recht jungen Norm aus, wäre das Marienburger Kapitel 1309 ein Kapitel des Haupthauses gewesen, auf dem die klassischen Leitungsämter, hervorgegangen aus den Hausämtern in Montfort, umbesetzt wurden – mehr noch nicht. Dieses Kapitel zog jedoch de facto auch einen Schlussstrich unter Venedig als Or51 Pommerellisches Urkundenbuch (wie Anm. 50), Nr. 672. 52 Original-Urkunde im Deutschordenszentralarchiv Wien; Die Urkunden des Deutschordenszentralarchivs in Wien. Regesten, nach dem Manuskript v. Marian Tumler hg. v. Udo Arnold, Teilband I: 1122–Januar 1313 (QStGDO, Bd. 60/I = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, Bd. 11/I), Marburg 2006, Nr. 1281. 53 Vgl. Statuten (wie Anm. 21), S. 145. Zur Datierungsproblematik vgl. Anm. 21. 54 Die Datendifferenzierung zwischen Kapitel im Haupthaus und Großem Kapitel im Haupthaus scheint bisher übersehen zu sein. Auf die Frist von sechs Jahren weist auch hin Johannes Götz, Verbunden mit der Marienburg. Livländischer und preußischer Deutschordenszweig bis zum Ausbruch des Zungenstreits 1438, in: Livland – eine Region am Ende der Welt? Forschungen zum Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie im späten Mittelalter, hg. v. Anti Selart/Matthias Thumser (Quellen und Studien zur Baltischen Geschichte, Bd. 27), Köln 2017, S. 371–414, hier S. 377.

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denszentrale. Es bedeutete letztlich die endgültige Verlegung des Hochmeistersitzes und ging einher mit personellen Veränderungen, unter anderem dem Wechsel Plötzkaus in das Amt des Großkomturs und Hochmeisterstellvertreters. Aber was erwartete den Hochmeister nach seiner Ankunft in Marienburg? Ein Machtzentrum gab es, doch das hieß seit 1251 Elbing und war die Residenz des Landmeisters Heinrich von Plötzkau – er war der starke Mann in Preußen. Das ist zumindest die bislang überlieferte Meinung, doch: Wo saß eigentlich der Landmeister? Seit 1246 sind – mit quellenbedingten Lücken – ständig Komture in Elbing nachgewiesen, während Plötzkaus Landmeisterzeit war es Heinrich Vogt von Gera,55 und ein Abgleich der Amtsdaten der früheren Landmeister lässt keine Zuordnung seiner Person zu einer Komturei erkennen. Auch die Überlegungen zum Bau der Elbinger Burg führen nicht weiter, denn einen Landmeisterpalast neben den eigentlichen Konventsgebäuden hat es in Elbing offenbar nicht gegeben.56 War er ein Reiseherrscher, der von Komturei zu Komturei zog und mit seinem Tross die jeweiligen Vorräte dezimierte?57 Ob Plötzkau die Ankunft des Hochmeisters gerne sah, darf bezweifelt werden. Auch war die Landesherrschaft des Ordens keineswegs so gesichert, dass sie einen ruhigen Aufbau für den Hochmeister erlaubte. Es bedurfte noch der politischen Absicherung des Eroberung von Pommerellen, was mit Polen selbst durch die Bemühungen von Feuchtwangens Nachfolger Karl von Trier (1311–1324) nicht gelang und erst im Frieden von Kalisch 1343 erfolgte. Die Zukunft dürfte sich für den Hochmeister in Preußen politisch zwar weniger dramatisch dargestellt haben als in Venedig, aber offensichtlich auch nicht rosig. Außerdem kam der Hochmeister de facto als Bettler.58 Mit dem Verlust Montforts 1271 und schließlich Akkons 1291 hatte er seine finanziellen Res55 Vgl. Bernhart Jähnig, The List of Dignitaries and Officials of the Teutonic Order in Prussia, in: The Teutonic Order in Prussia and Livonia. The political and ecclesiastical Structures. ´ ski, Torun´ 2015, S. 291–345, hier 13th–16th century, hg. v. Roman Czaja/Andrzej Radzimin S. 314f. 56 Vgl. Tomasz Torbus, Die Konventsburgen im Deutschordensland Preussen (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte, Bd. 11), München 1998, S. 261. 57 Die Frage bedürfte einer genaueren Untersuchung, im übrigen auch für den Livländischen Landmeister und den Deutschmeister, bevor sie jeweils eine eigene Residenz bezogen. Für die Zeit des ausgehenden 14. und die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts, als es längst eine feste Zentrale in Preußen gab, hat sich anhand der Itinerare dieser Frage zugewandt Klaus Neitmann, Der Hochmeister des Deutschen Ordens in Preußen – ein Reiseherrscher unterwegs. Untersuchungen zu den Hochmeisteritineraren im 14. und 15. Jahrhundert (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bd. 30), Köln 1990. 58 Die Jahrhunderte bis in die Gegenwart übergreifend vgl. Udo Arnold, Der Hochmeister und seine Residenz – Überlegungen zu Amt und Struktur der Ordensleitung, in: Echa przeszłos´ci. Czasopismo Uniwersytetu Warmin´sko-Mazurskiego w Olsztynie XIII (2012), S. 41–55 (Fassung ohne Druckkorrektur); korrigiert in: Analecta Theutonica. Studies for the History of the Teutonic Order 1 (Acta Teutonica, Bd. 10) (2014), S. 9–23.

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sourcen verloren. Über Zahlungen der deutschen und italienischen Balleien an den Hochmeister gibt es keine Quellen. Ob zu diesem Zeitpunkt ihm bereits Kammerballeien zugeordnet waren – Bozen, Österreich und Koblenz –, deren Einkünfte unmittelbar an ihn fließen konnten, ist umstritten. In Preußen musste also erst einmal ein auf den Hochmeister und damit eine neue Ordenszentrale zugeschnittenes Finanzsystem entwickelt werden. Desgleichen musste eine neue personale Verwaltung der Zentrale aufgebaut werden, sofern der Hochmeister nicht entsprechendes Personal aus Venedig mitbrachte. Vom Generalkapitel in Elbing 1303 wissen wir, dass neben dem Hochmeister auch der Großkomtur und der Tressler aus Venedig anwesend waren, doch wir haben keine Namen. Erst für 1306 kennen wir in Venedig wieder einen Großkomtur, Marquard von Mässing.59 Er ist der einzige Amtsträger aus Venedig, der in Preußen wieder auftaucht. Als enger Vertrauter der Hochmeister Konrad von Feuchtwangen, Gottfried von Hohenlohe und Siegfried von Feuchtwangen stellte er eine zentrale Figur der »preußischen Partei« im Orden dar. 1311 war er Trapier und Statthalter des Hochmeisters, dazu offenbar gemäß den Statuten vom Hochmeister vor seinem Tod ernannt. Er ist gleichzeitig ein Indikator für einen möglichen personalen Neuaufbau in Preußen, vielleicht im Rahmen des als möglich angesprochenen Kapitels am 14. September 1309.60 Heinrich von Plötzkau verlor im September 1309 das Landmeisteramt, das – von einem späteren Zwischenspiel abgesehen – damit endete. Er wurde Großkomtur, also Stellvertreter des Hochmeisters am Sitz des Hochmeisters. Damit verbunden dürfte der Wechsel Marquards von Mässing vom Amt des Großkomturs auf das des Trapiers gewesen sein, das Zugeständnis Siegfrieds von Feuchtwangen an Plötzkau. Graf Günther von Schwarzburg verlor das preußische Marschallamt und das Amt des Komturs des Kulmerlandes (beides 1299–1309), einem Landkomtur im Reich vergleichbar. Was aus Schwarzburg wurde, ist unklar. Das preußische Marschallamt blieb vorerst unbesetzt, es gab auch keinen Marschall innerhalb der Ordensleitung, bis das Amt 1313 (bis 1320) in Personalunion mit der Komturei Königsberg von Plötzkau übernommen wurde. Dies war eine Verschmelzung sowohl des aus dem Hausamt in Montfort hervorgegangenen Marschallamtes – zuletzt 1300 in Famagusta nachweisbar61 – mit dem preußischen Marschallamt als auch eine Verschmelzung mit dem Amt des Komturs von Königsberg, und damit eine deutliche Entfernung des Amts59 Zu seiner Karriere ab 1279 vgl. Arnold, Deutschmeister Konrad von Feuchtwangen (wie Anm. 20), S. 30–33 bzw. S. 199–203 bzw. S. 114–119. Militzer, Übersiedlung (wie Anm. 43), S. 58, lässt Mässing in Venedig bleiben, doch gerade die Überlieferung des von ihm als Beleg genutzten Briefes im preußischen Hochmeisterarchiv spricht für dessen Anwesenheit in Preußen. 60 Für die folgenden Amtsdaten vgl. Jähnig (wie Anm. 55). 61 S. oben bei und mit Anm. 24.

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trägers aus der Zentrale unter dem neuen Hochmeister Karl von Trier (1311–1324). Landkomtur des Kulmerlandes, ab 1310 nachweisbar, wurde Dietrich von Lichtenhain, ein Thüringer, der sich vorher in Preußen nicht nachweisen lässt. Er könnte neu nach Preußen gekommen sein. Ansonsten gibt es keinen Ämterwechsel in Preußen, ausgenommen den Komtur von Marienburg Johann von Alvensleben, der auf das zuvor offenbar freie Komtursamt nach Engelsburg versetzt wurde; das Marienburger Amt wurde nicht mehr besetzt, es gab in der Folgezeit dort nur noch Hauskomture. Es sieht also nicht danach aus, als sei der Hochmeister mit großem Gefolge gekommen, das hätte versorgt werden müssen, ganz davon abgesehen, dass wir einen großen Verwaltungsapparat aus Venedig auch nicht kennen, was wohl nicht nur der Quellenarmut geschuldet ist. In personaler Hinsicht scheint in Preußen jedenfalls trotz des vorsichtigen Aufbaus einer Zentrale ziemlich alles beim alten geblieben zu sein, entscheidende Eingriffe Siegfrieds von Feuchtwangen gab es offenbar nicht. Allerdings könnte das vermutete Kapitel vom September 1309 zu einigermaßen geordneten Ämterstrukturen der Ordensleitung gefunden haben: Neben Siegfried von Feuchtwangen als Hochmeister gab es Heinrich von Plötzkau als Großkomtur nebst einem Kompan, Graf Eberhard von Virneburg – Bruder des Kölner Erzbischofs Heinrich von Virneburg – als Spittler nebst Kompan, eventuell den wenngleich erst 1311 als solchen nachweisbaren Johann Schrape als Tressler und Marquard von Mässing als Trapier. Das Kapitel Venedig war auch damit abgeschlossen. Denn eine bedeutende Zentrale scheint nach 1291 dort nie entstanden zu sein, das überdauernde Element dürfte der Prokurator gewesen sein, von 1297 bis 1312 offenbar derselbe Bertold.62 Vom Hochmeister selber ist bis zu seinem Tod nichts mehr zu hören, als hätte es ihn in Preußen gar nicht gegeben. Sein bester Vertrauter, Marquard von Mässing, ging ein Jahr nach dem Tod Feuchtwangens ins Reich zurück, in seine Ursprungskommende Regensburg; Nachfolger als Trapier wurde im September 1312 Heinrich von Isenburg. In personaler Hinsicht spielte die Übersiedlung des Hochmeisters nach Preußen jedenfalls keine entscheidende Rolle, ein wirkliches Machtzentrum war trotz aller Ansätze noch nicht in Sicht. Erst unter Karl von Trier und vor allem dessen Nachfolger ab 1317 Werner von Orseln sollte sich das ändern. Daher stellte Klaus Militzer die Frage, ob die Übersiedlung Feuchtwangens nach Marienburg 1309 wirklich ein harter Schnitt hinsichtlich der Ordenszentrale sein sollte. »Es bleibt auch fraglich, ob Siegfried einen bewussten Bruch mit der Vergangenheit vollzogen hat, ob er also wirklich das Haupthaus von Venedig zur Marienburg hat verlegen wollen.« Er interpretiert den Vorgang, dass die Großgebietiger Feuchtwangen nach Preußen geschickt hätten, um ihn sozusagen aus der Schusslinie herauszunehmen, aber das Zentrum des Ordens nach wie vor 62 Vgl. Forstreuter (wie Anm. 6), S. 213.

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in Venedig geblieben sei, desgleichen »einige Großgebietiger, die eigentlich zu einem Haupthaus gehörten … Dort ist auch ein Statthalter des Hochmeisters genannt. Schließlich war damals noch die Vorstellung eines Ritterordens, der die heiligen Stätten zu verteidigen bzw. zu erobern habe, dominant. Preußen dagegen und der Orden als Schutz der Christenheit gegen die Heiden war noch eine Idee, die erst wachsen musste.« Dementsprechend sieht er die Zeit Feuchtwangens in Preußen als »Übergangszeit«.63 Seine Argumente sind nicht ganz von der Hand zu weisen, zumindest für das Jahr 1309. Zum einen hören wir vom Hochmeister selber gar nichts. Zum andern ist die Hoffnung auf Rückeroberung des Heiligen Landes nicht erloschen und vor allem als Aufgabe der Ritterorden gesehen worden. Doch die Großgebietiger gab es nicht mehr in Venedig, sie wurden in Preußen neu geordnet, in Venedig geblieben war nur noch der Prokurator Bertold, der im Mai 1312 einen Teil der Ordensniederlassung vermietete – seine letzte nachweisbare Amtshandlung.64 Daher teile ich die Meinung Militzers nicht, sondern halte die Übersiedlung Siegfrieds von Feuchtwangen sehr wohl für den geplanten Schritt in eine neue Zukunft der Ordenszentrale, wenngleich dies rechtlich nicht unbedingt auf dem (Haus-)Kapitel des Jahres 1309 erfolgt sein muss – es hätte der noch jungen Gesetzesbestimmung aus venezianischer Zeit über einen Beschluss zur Verlegung des Haupthauses widersprochen.65 Mit der Wahl Karls von Trier 1311 waren allerdings die Würfel endgültig gefallen. Das eindeutig als Großkapitel zu wertende Wahlkapitel hatte eine mögliche Übergangszeit auch aufgrund in Preußen geschaffener Fakten beendet, Venedig wurde zur normalen Kommende der Ballei Lamparten und zum entfernten Außenposten. Und der Zielort des Rittes von Venedig nach Preußen? Auch den galt es zu finden. Roman Czaja gibt zu bedenken, dass »die wachsenden Herrschaftsansprüche der Stadtbürger«, wie er sie am Beispiel Elbings aufzeigt, »eine der Ursachen für die Wahl Marienburgs« gewesen sein könnten, wobei er unausgesprochen von Elbing als bisherigem zentralen Sitz des Landmeisters ausgeht.66 Unter dem Aspekt einer zentralen Lage gewann nach der Eroberung Pommerellens die Marienburg jedenfalls ab 1309 eine besondere Bedeutung, schließlich lag sie in der Ost-West-Erstreckung des Ordensgebietes nunmehr ziemlich in der Mitte. Ob das angedacht war? Bernard Jesionowski geht in der Festschrift für Maciej Kilarski 2001 davon aus – wie seit dem 19. Jahrhundert üblich –, dass 63 64 65 66

Militzer, Übersiedlung (wie Anm. 43), S. 59–61. Regest der Urkunde bei Forstreuter (wie Anm. 6), S. 253f. Vgl. Statuten (wie Anm. 21), S. 145. Roman Czaja, Residenzstädte in ostmitteleuropäischen Ländern zwischen kommunalen Ansprüchen und herrschaftlicher Präsenz, in: Residenzstädte der Vormoderne. Umrisse eines europäischen Phänomens, hg. v. Gerhard Fouquet/Jan Hirschbiegel/Sven Rabeler (Residenzenforschung, NF Bd. 2), Ostfildern 2016, S. 187–205, hier S. 190.

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Abb. 8: Einzug Siegfrieds v. Feuchtwangen in die Marienburg 1309. Fresko in der Aula des Kgl. Wilhelms-Gymnasiums Königsberg (1888), im Zweiten Weltkrieg zerstört (Wikimedia.org).

Siegfried von Feuchtwangen mit einem größeren Gefolge in Preußen ankam.67 Doch so toll, wie das 19. Jahrhundert sich den Einzug des Hochmeisters in Marienburg auch bildlich vorstellte (Abb. 8),68 dürfte er sich wohl nicht abgespielt haben, wie wir bei Erörterung der Personalia sahen.69 Mit Sicherheit sind für den Hochmeister vor seiner Ankunft keine Neubauten errichtet worden. Das hätte zum einen eine längere Planung der Übersiedlung vorausgesetzt, doch eine 67 Vgl. Bernard Jesionowski, Uwagi na temat wynikjw ostatnich badan´ we wsch. cze˛s´ci głjwnej kondygnacji Pałacu Wielkich Mistrjw w Malborku, in: Praeterita Posteritati. Studia ´ ski, z historii sztuki i kultury ofiarowane Maciejowi Kilarskiemu, hg. v. Mariusz Mierzwin Malbork 2001, S. 179–197. 68 Vgl. den Einzug des Hochmeisters von Karl Wilhelm Kolbe d.J. 1825 aus dem Zyklus für die Fenster des Sommerremters der Marienburg, erhalten in Berlin, Schloss Charlottenburg; Abb. bei Hartmut Boockmann, Die Marienburg im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1992, Abb. 37 (schwarz/weiß); Die Geschichte des Deutschen Ordens von der Gründung bis zur Gegenwart. Dzieje Zakonu Niemieckiego od załoz˙enia do dzisiaj, Ellingen 2013, S. 32 (farbig). Noch pompöser die Darstellung des Direktors der Königsberger Kunstakademie Karl Steffek in der Aula des Königlichen Wilhelms-Gymnasiums Königsberg, im Zweiten Weltkrieg zerstört; Abb. 10. Die Geschichte des Deutschen Ordens, Umschlag. Vgl. zum Thema insgesamt Udo Arnold, Saksa ordu 19. sajandi maalikunstis, in: Kunstnik ja Kleio. Ajalugu ja kunst 19. sajandil. The Artist and Clio. History and Art in the 19th Century. Der Künstler und Klio. Geschichte und Kunst im 19. Jahrhundert (Eesti Kunstimuuseumi Toimetised. Proceedings of the Art Museum of Estonia. Schriften des Estnischen Kunstmuseums 5 [10], [Tallinn] 2015, S. 83–98 + 12 Abbildungen; deutsch: Das Bild des Deutschen Ordens in der Malerei des 19. Jahrhunderts, in: ebd., S. 99–115. 69 In der Historiographie kennen wir ebenfalls entsprechende Vorstellungen; vgl. Arnold, Von Venedig (wie Anm. 43), S. 84f.; mit anderen Belegen auch Militzer, Übersiedlung (wie Anm. 43), S. 48.

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solche Planung erfolgte keineswegs mit dem Generalkapitel in Elbing 1303, sondern eher unter Druck aufgrund der geschilderten späteren Probleme in Venedig. Außerdem hätte das auch die Eroberung Pommerellens bereits geplant sein lassen – das scheinen mir zu viele Hypothesen. Und schließlich, darauf hat Christofer Herrmann zu Recht hingewiesen, erlaubte die Ordensregel auch nur eine eingeschränkte Begleitung des Meisters, keineswegs einen fürstlichen Hofstaat. Wir sollten uns also den Einzug des Hochmeisters in Preußen recht bescheiden vorstellen, wie denn auch die geographische Lage Marienburgs keinen Grund zum Jubel bot.

Abb. 9: Das Weichsel-Nogat-Delta um 1300 (aus: Hugo Bertram/Otto Kloeppel/ Wolfgang La Baume, Das Weichsel-Nogat-Delta. Beiträge zur Geschichte seiner landwirtschaftlichen Entwicklung, vorgeschichtlichen Besiedelung und bäuerlichen Haus- und Hofanlage, Danzig 1924).

Die Burg war auf einer kleinen Sandzunge im Werder errichtet. Werder bedeutet Insel, Erhöhung im Wasser- oder Sumpfgebiet, im skandinavischen Raum als Holm bezeichnet. Und das traf hier deutlich zu. Im Urstromtal zwischen Danziger Höhe und Elbinger Höhe gelegen, beginnend bei der Montauer Spitze als Abzweig der Nogat von der Weichsel, bis zu 1,80 m unter dem Meeresspiegel, war es ein Wasser- und Sumpfgebiet, das nach und nach durch Eindeichung und Entwässerung urbar gemacht werden musste (Abb. 9). Das erfolgte in den kommenden Jahrzehnten, hatte der Orden das Gebiet doch erst 1309 gekauft70 – bis dahin lag die Burg absolut am Rand des preußischen Territoriums. 70 Vgl. Friedrich Mager, Der Wald in Altpreußen als Wirtschaftsraum, Bd. I (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 7/I), Köln 1960, Karte I; Walter Geisler, Die Weichsellandschaft von Thorn bis Danzig, Braunschweig 1922, Karte [3]: Die Böden des Weichseltales. Zum Kauf S. Anm. 51.

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Abb. 10: Marienburg, Konventsburg um 1309. Grundriss des Hauptgeschosses [Aus: Christofer Herrmann, Mittelalterliche Architektur im Preußenland (Studien zur Internationalen Architektur- und Kulturgeschichte 56), Olsztyn/Petersberg 2007, S. 583].

Baulich müssen wir ebenfalls von sehr bescheidenen Formen ausgehen, womit ich nochmals Jesionowski widersprechen muss. Anlässlich der Verleihung der Handfeste an die Stadt Marienburg 1276 ist von einem Komtur und einem Konvent die Rede, die nach der Chronik Peters von Dusburg 1280 von Zantir am Nogatabzweig hierher verlegt worden waren.71 Die Datierung in den chronikalischen Quellen schwankt, ist jedoch immer deutlich später niedergeschrieben. Ein wesentlich früherer Baubeginn ist aber unwahrscheinlich, die Ausführung wäre demnach auf die Zeit zwischen 1270 und 1290 anzunehmen. Das korrespondiert mit dem Ausbau bedeutenderer Burgen, etwa Elbing, Lochstedt oder Brandenburg, also nach dem zweiten Prußenaufstand in der allgemeinen Konsolidierungsphase. Die Planung für Marienburg sah einen dreiflügeligen Bau mit Abschlussmauer an der vierten Seite vor, doch wurden anfangs nur zwei Flügel ausgeführt (Abb. 10). Diese Form haben wir uns auch noch für 1309 vorzustellen, als Siegfried von Feuchtwangen ankam.72 Ohne in die Diskussion um die Bauausführung einzelner Teile der Burg einzutreten bleibt aber festzuhalten, dass von einer lange vor 1309 gefassten Überlegung, Marienburg zum Zentrum des preußischen Ordensterritoriums zu machen, mit Sicherheit nicht auszugehen 71 Preußisches Urkundenbuch, Bd. I/2, hg. v. August Seraphim, Königsberg 1909, ND Aalen 1961, Nr. 348; Dusburg (wie Anm. 16), S. 142. 72 Zu den Baudaten vgl. Christofer Herrmann, Mittelalterliche Architektur im Preußenland. Untersuchungen zur Frage der Kunstlandschaft und -geographie, Petersberg 2007, S. 400, 572; bei Brandenburg hält er sich aufgrund heute fehlender Bausubstanz zurück, während Tomasz Torbus, Die Konventsburgen im Deutschordensland Preußen (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte, Bd. 11), München 1998, S. 97 aufgrund älterer Literatur dieselbe Zeit annimmt.

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ist.73 Die Rückverlegung einer solchen Entscheidung in das 13. Jahrhundert widerspricht allen historisch-politischen Voraussetzungen der Zeit. Einzig die generelle Überlegung, den Hochmeistersitz nach Preußen zu transferieren, können wir für die 80er und 90er Jahre des 13. Jahrhunderts konstatieren, an Marienburg als damals noch völlig abgelegenen Ort dürfte zu der Zeit niemand gedacht haben. Was immer den Ausschlag für Marienburg als Ziel des hochmeisterlichen Rittes von Venedig nach Preußen gegeben haben mag, ein großzügiger Baukomplex war es jedenfalls nicht.74 Ich habe die Frage nach dem Sitz des Landmeisters gestellt; sie gilt genauso für den Landkomtur des Kulmerlandes. Ursprünglich dürfte der Hochmeister Oberster des zentralen Konvents gewesen sein, zuerst in Akkon, dann in Montfort. Die überlieferte Ordensregel, die nach 1244 und bis spätestens 1250 entstand,75 sieht die später sogenannten Großgebietiger als Hausämter in Montfort vor. Der Verlust des Heiligen Landes hatte dieser Konstruktion zwar die Grundlage genommen, sie aber wohl noch nicht endgültig zerstört. Der Hochmeister und die Großgebietiger wurden nach 1291 plötzlich Gäste in einer anders konstruierten Kommende, Venedig. Gleichzeitig war der Hochmeister im 13. Jahrhundert ein »Reiseherrscher« gewesen. In Marienburg scheint anfangs ein ähnliches Modell wie im Heiligen Land angedacht gewesen zu sein: Hochmeister und Großgebietiger im selben Haus. Doch dann erfolgte allmählich eine Trennung:76 Der Marschall wurde Komtur von Königsberg, der Spittler Komtur von Elbing, der Trapier Komtur von Christburg; in der Zentrale blieben der Großkomtur als Stellvertreter des Hochmeisters und der Tressler. Diese Strukturänderung erfolgte unter Karl von Trier, Klaus Conrad vermutet sie auf einem Kapitel im Sommer 1314.77 Der Komtur von Marienburg war bereits 1309 nach Engelsburg versetzt worden. Das sind die ersten Schritte auf dem Weg zu einer Residenz mit Daueranwesenheit des Hochmeisters, die aber auch die persönliche Position des Hochmeisters deutlich stärkten: Er gewann damit mehr Entschei73 So eine Grundthese von Bogna Jakubowska, Magiczna przesztrzen´ złotej bramy w Malborku. Progres badawczy czy regres?, Malbork 2016, S. 452. 74 Torbus (wie Anm. 56), S. 111 bzw. 260: »Die Wahl fiel auf eine Burg, deren Bau alles andere als abgeschlossen war.« Sie »wies keine Charakteristika auf, die auf eine von vornherein geplante Repräsentationsfunktion schließen lassen.« 75 Zum Zeitpunkt zuletzt Udo Arnold, Die Anfänge der Ordensgeschichtsschreibung, in: Neue Studien zur Literatur im Deutschen Orden (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Beiheft 19), hg. v. Bernhart Jähnig/Arno Mentzel-Reuters, Stuttgart 2014, S. 177–195, hier S. 182f. 76 Wie Anm. 60 sowie Nieß, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 21). 77 Vgl. Klaus Conrad, Die Opposition gegen den Hochmeister Karl von Trier im Ordensland Preußen, in: Das Preußenland als Forschungsaufgabe. Eine europäische Region in ihren geschichtlichen Bezügen. Festschrift für Udo Arnold zum 60. Geburtstag, hg. v. Bernhart Jähnig/Georg Michels (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, Bd. 20), Lüneburg 2000, S. 1–16, hier S. 5.

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dungsfreiheit, als wenn er die Großgebietiger als engeren Rat täglich um sich hatte. Gleichzeitig ergab sich eine intensivere Verbindung der Ordensleitung mit dem Land. Doch deutlich ist: Ein Machtzentrum haben wir zu Beginn des 14. Jahrhunderts im neuen Hochmeistersitz noch nicht vor uns. Das musste erst entwickelt werden. Den Ansatz dazu sehen wir erst unter Siegfried von Feuchtwangens Nachfolger Karl von Trier (1311–1324), wenngleich anders, als man es sich denkt. Es war ein Kampf um die Macht in den Ämtern der Großgebietiger.78 Großkomtur, Spittler, Landkomtur des Kulmerlandes wechselten häufiger die Positionen, es muss ein Hauen und Stechen geherrscht haben, das keineswegs mit einem regulären Ämterwechsel auf Beschluss des Kapitels vergleichbar war. Der Hochmeister konnte Erfolge im Ausbau Pommerellens und dessen außenpolitischer Absicherung aufweisen. Ebenso vermochte er bei der Untersuchung durch einen päpstlichen Legaten die Auseinandersetzungen mit dem Erzbischof von Riga zumindest zwischenzeitlich zu beruhigen. In personeller Hinsicht war er jedoch nicht in der Lage, die Ordensführung in ein ruhiges Fahrwasser zu geleiten. 1317 setzten ihn die preußischen Gebietiger sogar ab. Auch wenn ein Generalkapitel in Erfurt ihn im Folgejahr wieder einsetzte, kehrte er nicht mehr nach Preußen zurück. Als Machtzentrum lässt sich Marienburg jedenfalls nach wie vor nicht ansprechen. Auch bauliche Maßnahmen dürfte es in diesem ersten Jahrzehnt nach der Übersiedlung des Hochmeisters kaum in wesentlichem Maß gegeben haben. Unter Hochmeister Werner von Orseln (1324–1330) gewann die Entwicklung Marienburgs zum Machtzentrum des Ordens endlich an Fahrt.79 Wir lernen Orseln zuerst 1312 als Komtur von Ragnit kennen, einer typischen Grenzburg. Bereits 1315 sehen wir ihn als Großkomtur, also Stellvertreter des Hochmeisters, nachdem das Amt zuvor intensiv umstritten war. Karl von Trier »holte sich damit eine starke Persönlichkeit von hoher politischer Begabung an seine Seite.«80 In den Strudel um die Absetzung des Hochmeisters mitgerissen, wurde er jedoch im Folgejahr vom Generalkapitel wieder eingesetzt und übte bis zum Tod Karls von Trier 1324 das Amt unangefochten aus. Der in Preußen mühsam erfolgende personale Ausgleich hatte aber einen interessanten Nebeneffekt: Wohl 1319 78 Vgl. Maksymilian Grzegorz, Entstehung und Entwicklung der Ordensverwaltung in Pommerellen nach 1308, in: Beiträge zur Geschichte des Deutschen Ordens, Bd. 1, hg. v. Udo Arnold (QStGDO, Bd. 36), Marburg 1986, S. 19–46; Conrad, Opposition (wie Anm. 77). 79 Zum Folgenden vgl. Klaus Conrad, Werner von Orseln, in: Die Hochmeister (wie Anm. 6), S. 60–65; vor allem ders., Opposition (wie Anm. 77); Simon Helms, Luther von Braunschweig. Der Deutsche Orden in Preußen zwischen Krise und Stabilisierung und das Wirken eines Fürsten in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (QStGDO, Bd. 67), Marburg 2009, S. 25–56. 80 Conrad, Opposition (wie Anm. 77), S. 4.

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wurden Marienburg und die zugehörige Komturei aus dem preußischen Ordensland als eigenständiges Gebiet der Ordensführung unter Leitung des Großkomturs herausgelöst. Damit war dem Hochmeister – in diesem Fall wegen Abwesenheit des Hochmeisters seinem Stellvertreter – und den Großgebietigern als dessen Rat ein eigenes, kleines Gebiet zugeordnet worden, während das eigentliche Territorium Preußen seiner Zuständigkeit entzogen wurde. In Marienburg residierten nun außer dem Großkomtur Orseln und dem Tressler erneut Spittler und Trapier, deren Ämter wieder von den Komtureien Elbing und Christburg getrennt wurden, bzw. die dortigen Komture Heinrich von Isenberg und Luther von Braunschweig verloren ihre Funktion als Großgebietiger, während der Landkomtur des Kulmerlandes Friedrich von Wildenberg, der bedeutendste Gegenspieler des Hochmeisters, als Meister in Elbing urkundete. Orselns Aufmerksamkeit galt jetzt besonders der Urbarmachung und Besiedlung des Marienburger Werders, einer wichtigen Einnahmequelle des Hochmeisteramts. Als Orseln 1324 zum Hochmeister gewählt wurde, setzte er jedoch eine grundlegend neue Definition des Hochmeisteramtes durch: Das Amt des Landmeisters von Preußen wurde aufgehoben, Friedrich von Wildenberg wechselte auf die Position des Großkomturs. Das Landmeisteramt fiel nun mit dem Amt des Hochmeisters zusammen. Damit war der Hochmeister endgültig in Preußen angekommen, nicht nur als Ordensoberer, sondern ebenfalls als Territorialherr. Somit hatte Orseln die Vorstellung Hermanns von Salza vom autonomen Territorium des Ordens nunmehr auch in personaler Hinsicht realisiert: Das Nebeneinander von Hochmeister und Regent Preußens (Großkomtur oder Landmeister), welches seit der Übersiedlung des Hochmeisters in Preußen geherrscht und bis zur Herauslösung des Hochmeistersitzes Marienburg aus dem Territorium als eigene Einheit geführt hatte, war nunmehr beendet. Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis Werner von Orseln eine weitere Maßnahme von 1319 aufheben konnte, die Trennung der Ämter des Spittlers und des Trapiers von denen der Komture von Elbing und Christburg. Das dürfte im Zuge eines Kapitels geschehen sein, in dem die Führungsspitze des Ordens mit Ausnahme des Großkomturs ausgewechselt und auf diese Weise die Auseinandersetzungen in Preußen beendet wurden. Damit gewannen jene Ämter wieder mehr Bedeutung, doch gleichzeitig erhielt der Hochmeister im Haupthaus erneut größere Entscheidungsfreiheit als zuvor, lebten doch drei der fünf Großgebietiger – Marschall, Spittler und Trapier – nun dauerhaft nicht mehr in Marienburg. Den nächsten Schritt nach der Herrschaftskonsolidierung bildete die Konsolidierung der Finanzen. Ob es zutrifft, dass der eigene Hochmeistertressel, also eine eigene Kasse neben dem allgemeinen Ordenstressel, erst 1326 unter Orseln eingeführt wurde, ist umstritten. Das hängt mit der Entstehung der Kammer-

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balleien zusammen, die in dieselbe hochmeisterliche Kasse zahlten.81 Wesentlich ist aber, dass es entsprechende Einnahmen gab, die von Orseln systematisch vermehrt wurden durch eine Ämterneustrukturierung. Bisher ist stets davon ausgegangen worden, dass etliche Komtureien in Vogteien bzw. Pflegeämter umgewandelt wurden und deren Einnahmen direkt in den hochmeisterlichen Tressel flossen. Das wären in den 20er Jahren des 14. Jahrhunderts etwa 15 Niederlassungen gewesen, die keinen Komtur mehr hatten oder nie besessen hatten. Ob das wirklich in dieser Form und zu diesem Zeitpunkt erfolgte, wie von Artur Sielmann in einem Satz angenommen82 und dann stets tradiert wurde, oder ob der Ansatz vielleicht doch früher liegt und nur aufgrund der Wirren in der Ordensführung nicht intensiver zum Tragen kam, bliebe trotz aller bisherigen Diskussionen genauer nachzuprüfen. Die Anzeichen erlauben es jedoch, davon zu sprechen, dass unter Werner von Orseln die Einnahmen des Hochmeisters sich erhöht haben. Damit gewann er auch in finanzieller Hinsicht die notwendige Unabhängigkeit des Amtes, die beispielsweise die Übernahme der Gebiete von Stolp und Bütow 1329 von den Herzögen von Pommern als Pflegeämter ermöglichte.83 Diese Übernahme verdeutlicht jedenfalls, dass die finanziellen Maßnahmens Orselns Erfolg hatten, dass der Hochmeister nunmehr wieder ein finanzielles Fundament besaß. Das erlaubt unmittelbare Rückschlüsse auf die Marienburg. Es war eindeutig geworden, dass der Hochmeister als Territorialherr dauerhaft Residenz auf der Marienburg nehmen würde. Damit entstanden jedoch 81 Das Problem der Kammerballeien wird seit der Arbeit von Klaus Militzer, Die Entstehung der Deutschordensballeien im Deutschen Reich (QStGDO, Bd. 16), Marburg 21981, S. 106 und 138–159 immer wieder andiskutiert, z. B. bei Nieß, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 21), S. 163–169; sich an Nieß annähernd Udo Arnold, Mittelalter, in: Der Deutsche Orden in Tirol. Die Ballei an der Etsch und im Gebirge, hg. v. Heinz Noflatscher (QStGDO, Bd. 43), Bozen/Marburg 1991, 125–170, hier S. 154; Klaus Militzer, Bozen, Koblenz, Österreich und Elsaß – Die Entstehung der hochmeisterlichen Kammerballeien des Deutschen Ordens, in: Preußische Landesgeschichte. Festschrift für Bernhart Jähnig zum 60. Geburtstag, hg. v. Udo Arnold/Mario Glauert/Jürgen Sarnowsky (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, Bd. 22), Marburg 2001, S. 1–16; Wiederabdruck in: ders., Zentrale und Region. Gesammelte Beiträge zur Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen, Livland und im Deutschen Reich aus den Jahren 1968 bis 2008 (QStGDO, Bd. 75 = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, Bd. 13), Weimar 2015, S. 26–44; danach ders., Die Geschichte des Deutschen Ordens, Stuttgart 22012, S. 200f.; zuletzt dazu am Beispiel der Ballei Etsch Udo Arnold, Die Deutschordens-Kammerballei »An der Etsch und im Gebirge« im Mittelalter, in: Von Preußenland nach Italien (wie Anm. 32), S. 11–19. 82 Vgl. Artur Sielmann, Die Verwaltung des Haupthauses Marienburg in der Zeit um 1400, in: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins, Bd. 61 (1921), S. 1–101, hier S. 42. Ausgehend vom Wahldatum Orselns konstatiert er (ohne es belegen zu können): »Bald nach diesem Zeitpunkt muß die Treßlerkasse errichtet sein.« 83 Dazu vgl. Grzegorz, Entstehung (wie Anm. 78), bes. S. 32.

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andere Anforderungen an die Burg in räumlicher Hinsicht, allein wenn man an die Aufgaben der Kanzlei denkt, die deutlich über einen Komtureibedarf hinausgingen.84 Ein Ausbau wurde erforderlich. Der geplante Südflügel der Burg wurde errichtet, der ursprünglich nicht geplante Ostflügel ebenfalls. Wenn Herrmann dies auf 1310–1330 ansetzt,85 tendiere ich doch eher zu der Zeit nach 1319, als eine gewisse Beruhigung innerhalb des Ordens eingekehrt war und die Finanzierungsmöglichkeiten sich gebessert hatten.

Abb. 11: Hochmeister Luther von Braunschweig (1331–1335). Hölzerne Grabfigur im Dom zu Königsberg, im Zweiten Weltkrieg zerstört (Foto: Herder-Institut Marburg, Bildarchiv).

Der Hochmeisterwechsel nach der Ermordung Orselns 1330 setzte eine deutliche Zäsur in personaler Hinsicht. Die Stellung des Hochmeisters als Ordensoberer und preußischer Territorialherr durfte nunmehr als gesichert gelten, die Finanzen waren es offenbar ebenfalls. Der neue Hochmeister Luther von Braunschweig (1331–1335) (Abb. 11) stammte aus hochadeligem Hause und brachte andere Herrschaftsvorstellungen mit als seine Vorgänger aus bürgerlicher oder ministerialischer Herkunft. Auf ihn geht die Verfürstlichung des Hochmeisteramtes zurück, ein Prozess, den es hier nicht näher auszuführen gilt.86 Dazu gehörte nicht zuletzt ein Ausbau der Marienburg als Residenz, der unter ihm ab

84 Vgl. Maksymilian Grzegorz, Kancelaria wielkich mistrzjw – aspekty jej organizacji i działalnos´ci, in: Kancelarie krzyz˙ackie. Stan badan´ i perspektywy badawcze, hg. v. Janusz Trupinda, Malbork 2002, S. 119–131; Janusz Trupinda, O pomieszczeniach kancelarii i archiwum wielkiego mistrza w Malborku na podstawie z´rjdeł pisanych w XIV i XV wieku, in: ebd., S. 255–273. 85 Vgl. Herrmann (wie Anm. 72). 86 Vgl. Helms (wie Anm. 79). Den Begriff der »Verfürstlichung des Hochmeisteramtes« hat bereits Forstreuter (wie Anm. 6), S. 188 benutzt; ich habe ihn erstmals 1998 verwandt: Arnold, Luther von Braunschweig, in: Die Hochmeister (wie Anm. 6), 11998, 22012, S. 66; er hat sich seitdem eingebürgert.

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1331 in verstärktem Maße einsetzte, sowohl für die Bedürfnisse des Meisters selber als auch im Hinblick auf landesfürstliche Repräsentation. Das betraf zunächst den bisherigen Vorburgbereich mit der Errichtung eines eigenen Hochmeisterpalastes, der zugehörigen Kapelle und des Großen Remters. Nikolaus von Jeroschin preist diesen Kapellenbau und seinen Bauherrn: Er legte Þrst den vullemunt / zu Mergenburg, d. sint der stunt / di capelle wart 0f gesat, / d% n0 in schiner z%rde st.t / 0f der burc d. obe / in aller heiligen lobe.87 Mit dem Großen Remter wurde der zentrale Empfangs- und Repräsentationsraum errichtet, eines Landesherrn würdig, vor der eigentlichen (Kloster-)Burg des Ordens und damit allgemein zugänglich gelegen.88 Die Erweiterung der Kirche innerhalb der Konventsburg, nicht zuletzt der personalen Vergrößerung der Hochmeisterresidenz geschuldet, wurde jedoch wohl erst unter Luthers Nachfolger Dietrich von Altenburg (1335–1341) begonnen. Die Hochmeistergrablege in der unter der Marienkirche liegenden St. Annenkapelle als eine besondere Form der memoria erfüllte ebenfalls die Forderung eines fürstlichen Hofes, wenngleich eher ordensintern zu sehen, da sie innerhalb des Konventsbereiches lag. Altenburg war der erste dort beigesetzte Hochmeister89 – vielleicht sogar noch vor der endgültigen Fertigstellung der Kapelle. Nach bisher über eineinhalb Jahrhunderte lang stets wechselnden Begräbnisorten der Hochmeister war es die erste dauerhaft geplante Grablege der obersten Ordensgebietiger. Die Vollendung der Konventskirche ist für 1344 überliefert.90 Das in einer 87 Nikolaus von Jeroschin, Di Kronike von Pruzinlant, hg. v. Ernst Strehlke, in: Scriptores (wie Anm. 16), S. 303–624, hier S. 623. 88 Hiermit und im Folgenden übernehme ich die Ergebnisse von Christofer Herrmanns in Arbeit befindlichen Untersuchungen über den Hochmeisterpalast der Marienburg bis 1457, die mir im Wesentlichen nachvollziehbar erscheinen, auch wenn sie sicher weitere Diskussionen nach sich ziehen werden; vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band. Für die Erlaubnis zur Übernahme bin ich Christofer Herrmann zu besonderem Dank verpflichtet. 89 sepultus in capella sancte Anne; Die Chronik Wigands von Marburg, hg. v. Theodor Hirsch, in: Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit, hg. v. Theodor Hirsch/Max Töppen/Ernst Strehlke, Bd. II, Leipzig 1863, ND Frankfurt/Main 1965, S. 429–662, hier S. 499 (diese Stelle ist nur in der lateinischen Übersetzung erhalten). Sein Grabstein trägt die Inschrift: DO VNSERS HEREN XPI IAR / WAS M DRI C XLI GAR /DO STARB D. MEIST SINE RICH / VON ALDENBURC BRVDER DITERICH / HIE LEGIN DIE MEISTERE BEGRABEN / DER VON ALDENBURC HAT ANGEHABEN / AMEN; Bernhard Schmid, Die Inschriften des deutschen Ordenslandes Preußen bis zum Jahre 1466 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse 11,3, S. 65–156), Halle/Saale 1935, S. 119, Nr. 145. 90 Die Bauinschrift in Form eines Schriftfrieses über den Blendarkaden (VNSIRS HERIN IARE LOUF / TVSVNT DRIHUNDIRT WAS CZV HOVF / DARVF VIR VND VIRCZIK IAR / ICH GOTIS HUS VOLLBRACHT WARD GAR / ALSO DA DER ZWELFBOTIN TAG / FILIPPI VND IACOBI GELAG / ZV LOBE GOTS AN) datiert die Vollendung der Kirche auf den 1. Mai 1344; Schmid (wie Anm. 89) S. 77, Nr. 16. Ob somit 1341 anlässlich der Beisetzung Altenburgs die

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Bauinschrift genannte Datum des 1. Mai besitzt allerdings Symbolcharakter. Es war der Tag des seit der venezianischen Zeit des Hochmeistersitzes auf alle sechs Jahre festgelegten Großkapitels. Ein Großkapitel 1344 würde sich sogar in die bisher nachgewiesene Reihe der Generalkapitel eingliedern lassen.91 Die Weihe der erweiterten Konventskirche am 1. Mai, also dem Tag des Großkapitels des gesamten Ordens, wäre ein ganz besonderer Akt gewesen, unabhängig davon, ob ein solches 1344 wirklich stattgefunden hat oder nicht. Der Hochmeister als Oberster des Deutschen Ordens war damit endgültig auf der Marienburg angekommen, die Burg selber eindeutig zum Zentrum aller drei Zweige des Ordens geworden.

Abb. 12: Marienburg, Konventsburg mit Kapelle und wiederhergestellter Marienfigur im Jahr 2016 (Foto: Udo Arnold).

Annenkapelle auch in ihrer Ausstattung bereits vollendet war, bleibt eine offene Frage. Allerdings wäre das kein zwingender Hinderungsgrund für die Beisetzung des Hochmeisters gewesen, denn auch sein Vorgänger Luther von Braunschweig wurde im noch nicht vollendeten Königsberger Dom bestattet. Die Inschriften Anm. 87 und 88 schreibt Walther Ziesemer, Die Literatur des Deutschen Ordens in Preußen, Breslau 1928, S. 110f. Nikolaus von Jeroschin zu. Wiederholt bei Karl Helm/Walther Ziesemer, Die Literatur des Deutschen Ritterordens, Giessen 1951, S. 161. 91 Vgl. Götz (wie Anm. 54), S. 377–379.

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Adäquat der architektonischen Qualität der neuen Sakralräume waren die Portale der Marienkirche des Konvents wie der Annenkapelle in einer Art ausgeführt, die jeder Kathedrale Ehre machen würden.92 Die Portale der Grablege verbinden christologisches und mariologisches Programm: Das Südportal als Eingang ist Christus gewidmet mit einer Kreuzesallegorie, Himmelfahrt und Jüngstem Gericht, während das Nordportal als Ausgang zum Begräbnisplatz der Brüder in der Anbetung Christi durch die Könige das Bindeglied zwischen Christologie und Mariologie darstellt – als Übergang vom Süd- zum Nordportal – und Tod Mariens und ihre Krönung hinzufügt.93 Diese Verbindung von christologischer und mariologischer Gedankenwelt findet sich ganz parallel in der Wahl der Siegelbilder des Ordens, auch hier die Grundvorstellung aufgreifend, dass der Orden in der Christusnachfolge unter dem Patronat Mariens steht.94 Die Figur der Muttergottes mit Kind in der äußeren Chornische der oberen Kirche stellte eine weitere Besonderheit dar. Normalerweise ist in der Apsidenarchitektur an dieser Stelle – bei einer kleineren Kirche ohne Chorumgang damit über dem Hauptaltar – ein Fenster mit Lichteinfall von oben zu erwarten, ist die Apsis also vom Innenraum her gedacht. Doch genau diese Form der Öffnung wurde nicht realisiert, sondern die Stelle von innen gesehen vermauert, von außen gesehen eine Wandnische mit einer übergroßen Marienfigur geschmückt,95 somit vom Außeneindruck her gestaltet, mit anderen Anforderungen an die Ausstattung des Innenraumes, die es hier allerdings nicht zu disku92 In die laufende Diskussion um die Entstehungszeit der Goldenen Pforte als Zugang zur Marienkapelle der Burg sei hier nicht eingegriffen; vgl. dazu zuletzt Jakubowska (wie Anm. 73). 93 Vgl. Udo Arnold, Maria als Patronin des Deutschen Ordens im Mittelalter, in: Terra sanctae Mariae. Mittelalterliche Bildwerke der Marienverehrung im Deutschordenslande Preußen, hg. v. Gerhard Eimer/Ernst Gierlich/Matthias Müller/Kazimierz Pospieszny (Kunsthistorische Arbeiten der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bd. 7), Bonn 2009, S. 29–56, hier S. 44–46 (mit Abb.); dazu auch Albert Boesten-Stengel, Die Marienburger Schlosskirche als Jerusalem-Imagination. Zur Ikonographie der Annen-Kapelle und der Mosaikmadonna, in: ebd., S. 81–99, bes. S. 91–98. 94 Vgl. Udo Arnold, Siegel als Bild der Geschichte – Siegel des Deutschen Ordens, in: Editionswissenschaftliches Kolloquium 2015. Geschichte im Bild, hg. v. Helmut Flachenecker/ ´ ski/Janusz Tandecki (Publikationen des deutsch-polnischen GesprächsKrzysztof Kopin kreises für Quellenedition – Publikacje Niemiecko-Polskiej Grupy Dyskusyjnej do Spraw Edycji Z´rodeł, Bd. 8 ), Torun 2016, S. 67–84; generell zur Stellung Marias im Orden vgl. Arnold, Maria (wie Anm. 93) und Marcus Wüst, Studien zum Selbstverständnis des Deutschen Ordens im Mittelalter (QStGDO, Bd. 73), Weimar 2013, S. 14–21 sowie für Preußen weitere Beiträge in: Terra sanctae Mariae (wie Anm. 93). 95 Der Vermutung von Kazimierz Pospieszny, Marienburg. Castrum et civitas unter Mariens Schutzmantel, in: Terra sanctae Mariae (wie Anm. 93), S. 71–80, hier S. 72, die Madonna sei »schon zu Beginn der Bauarbeiten um 1280 den Mauern eingefügt« worden, vermag ich nicht zu folgen.

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tieren gilt. Damit wurde ein besonderer baulicher wie ideologischer Akzent gesetzt. Von weitem für den Besucher erkennbar ziemte die Figur sich zwar für einen geistlichen Orden, doch ging sie deutlich über eine normale Bauzier hinaus. Sie erfüllte den Zweck einer ins Land hinaus wirkenden Botschaft des Landesherrn Deutscher Orden. In ihr stellte er sich selber dar als geistliche Gemeinschaft mit unmittelbarem Auftrag in der Nachfolge Christi, verkörpert in der Muttergottes. Maria bedeutete somit weit mehr als ein »Markenzeichen« des Ordens. Sie war die Mittlerin zu Gott und die erste und wichtigste Patronin des Ordens. In ihrem Namen ging er seinem eschatologischen Auftrag nach, führte er den Kampf gegen Nichtchristen, seine Brüder waren Marien ritter, wie sie im Marienleben des Philipp von Seitz um 1300 genannt wurden, das »zu den am reichsten überlieferten und wirkungsmächtigsten deutschsprachigen Werken des Mittelalters« gehört.96 Das Leben der Ordensbrüder bot eine Vielzahl von Bezugspunkten zur Muttergottes, angefangen bereits bei der Aufnahme in den Orden und fortgeführt im täglichen Leben der Gemeinschaft. Für den von außen kommenden Besucher erfolgte der deutlich sichtbare Hinweis darauf durch die Marienfigur in der äußeren Apsisnische der Konventskirche wie auch durch das Fresko der Marienkrönung im inneren Tympanon des Großen Remters. Gleichzeitig schloss der Orden aber auch das Land in diese Heilsbotschaft ein. Vom päpstlich sanktionierten Kreuzzugsziel war es von der terra sancti Petri der päpstlichen Bulle des Jahres 1234 zur terra sanctae Mariae und damit zur terra Ordinis Teutonici geworden. Optisch, realpolitisch und ideologisch – innerhalb des Ordenszweiges in Preußen, des Gesamtordens wie auch im Außenverhältnis des Territoriums Preußen – war nach schwierigen Anfängen Marienburg nun doch relativ rasch zu einem unübersehbaren Machtzentrum geworden, das für gut ein Jahrhundert im Konzert der nordeuropäischen Mächte mithalten konnte.

96 Kurt Gärtner, Prologversionen zu Philipps ›Marienleben‹, in: Neue Studien (wie Anm. 75), S. 137–146, hier S. 139; vgl. auch Arno Mentzel-Reuters, Arma spiritualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden (Beiträge zum Buch- und Biblothekswesen, Bd. 47), Wiesbaden 2003, S. 64.

Sławomir Jjz´wiak / Janusz Trupinda

Die Lebensorganisation im Schloss Marienburg in der Ordenszeit

Allgemeine Bemerkungen Die Rekonstruierung der Lebensorganisation, Topografie bzw. Funktionsweise der größten Residenz im europäischen Spätmittelalter ist nicht nur eine anspruchsvolle, sondern auch eine faszinierende Aufgabe. An den zu analysierenden Forschungsproblemen sind sowohl die Forscher als auch all jene Personen interessiert, die einmal die Möglichkeit hatten, die Ordensburg in Marienburg zu besuchen. Es handelt sich dabei um ein sehr populäres Forschungsthema, nämlich die Rekonstruktion des Alltagslebens. Es ist jedoch bislang noch nicht mit der nötigen Gründlichkeit angegangen worden. Bisher wurde die Ordensburg vor allem von den Architekturhistorikern untersucht, die ihre ursprüngliche Gestalt und die aufeinander folgenden Bauphasen rekonstruieren wollten. Diese Aufgabe ist sehr kompliziert, denn die Ordensburg wurde vom 19. Jahrhundert an im Rahmen ihres Wiederaufbaus verschiedenen Rekonstruktions- und Konservierungsarbeiten unterzogen. Dieser Prozess dauert bis zum heutigen Tag und ist bereits mehrfach dargestellt worden. Die meisten Erhebungen entstanden für den Bedarf des sog. »wissenschaftsbezogenen« Aufbaus, der mit den Arbeiten Conrad Steinbrechts in den Jahren 1882–1923 assoziiert wird.1 In dieser Phase wurden eine Reihe von mittelalterlichen Normativ-, Narrativ- wie auch Rechnungs- und Inventarquellen bearbeitet und veröffentlicht.2 Ihre Editoren, und zwar vor allem diejenigen, die die zwei letzten Kategorien herausgegeben hatten, wie Erich Joachim und Walther Ziesemer, versuchten die darin enthaltenen Informationen über die Ordensburg zu interpretieren. Für den Bedarf des Wiederaufbaus befassten 1 Vgl. Conrad Steinbrecht, Die Baukunst des Deutschen Ritterordens in Preussen. Beitraege zur Baukunst des Deutschen Ritterordens, Bd. 1. Preussen zur Zeit der Landmeister, Berlin 1888; Bd. 4. Die Ordensburgen der Hochmeisterzeit in Preussen, Berlin 1920; sowie Conrad Steinbrecht, Das Bauwesen der Komturei Marienburg in den Jahren 1410–1420, in: AMH, S. XXIII–XXXIII. 2 Neben AMH, MKB, MÄB, MTB sind zu nennen Max Perlbach (Hg.), Die Statuten des Deutschen Ordens, Halle, 1890 und die SRP.

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sich damit auch C. Steinbrecht und sein Nachfolger Bernhard Schmid.3 Ihre Befunde, die für die Rekonstruktion der einzelnen Burgräume herangezogen wurden, müssen auch heute noch in der Wissenschaft herangezogen werden, obwohl insbesondere Steinbrecht zahlreiche Fehler begangen hat.4 Die Nachkriegsuntersuchungen wurden jedoch so fragmentarisch durchgeführt, dass die älteren Befunde unverzichtbar blieben.5 Die Autoren entschieden sich für eine komplexe Analyse der mittelalterlichen und neuzeitlichen schriftlichen Quellen, die sich auf Marienburg beziehen, einschließlich bislang unveröffentlichter Quellen. Es wurden auch die übrigen Ordensburgen, vor allem die Komtureien, in Preußen einbezogen.6 Nach der Publikation zweier Monografien zur Organisation des Alltagslebens im Schloss Marienburg zur Zeit der Hochmeister (2007, 2011, eine dritte Auflage ist in Vorbereitung) und zahlreicher Artikel zu diesem Thema7, stehen wir vor der 3 Bernhard Schmid, Führer durch das Schloß Marienburg in Preußen, Berlin 1942; idem, Gebietiger-Gemächer in den Ordenshäusern, in: Mitteilungen für die Geschichte von Ost- und Westpreußen 17 (1943), Nr. 3, S. 33–43; idem, Kanzlei und Archiv in der Marienburg, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Ost- und Westpreußen 18 (1943), Nr. 1, S. 1–6; idem, Die Marienburg, Ihre Baugeschichte, aus dem Nachlaß hg. von Karl Hauke, Würzburg 1955. 4 Vgl. Antoni R. Chodyn´ski, Conrad Steinbrecht i jego dzieło, in: Rocznik Gdan´ski 47 (1987), H. 2, S. 21–59; Kazimierz Pospieszny, Konrada Steinbrechta metoda restauracji Malborka. Zamek Wysoki (1882–1902), in: Michał Woz´niak (Hg.), »Architectura et historia«. Studia Mariano Arszyn´ski septuagenario dedicata, Torun´ 1999, S. 259–281. 5 Bernhart Jähnig, Organisation und Sachkultur der Deutschordensresidenz Marienburg, in: Peter Johanek (Hg.), Vorträge und Forschungen zur Residenzenfrage (Residenzenforschung 1), Sigmaringen 1990, S. 45–75; Hartmut Boockmann, Spielleute und Gaukler in den Rechnungen des Deutschordens-Hochmeisters, in: Detlef Altenburg (Hg.), Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposien des Mediävistenverbandes, Paderborn 1991, S. 217– 227; Hartmut Boockmann, Alltag am Hof des Deutschordens-Hochmeisters in Preußen, in: Werner Paravicini (Hg.), Alltag bei Hofe (Residenzenforschung 5), Sigmaringen 1995, S. 137–147; Wiesław Długoke˛ cki, Hausämter und Hausbeamten auf der Marienburg in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Thomas Biller (Hg.), Burgen kirchlicher Bauherren, München/Berlin 2001 (Forschungen zu Burgen und Schlössern 6), S. 61–69; Gerard . . Kucharski, Zycie codzienne i dworskie wielkich mistrzjw krzyzackich w s´wietle Marienburger Tresslerbuch z lat 1399–1409, in: Roczniki Dziejjw Społecznych i Gospodarczych 61 (2001), S. 171–207; Christofer Herrmann, Der Hochmeisterpalast auf der Marienburg. Rekonstruktionsversuch der Raumfunktionen, in: Gabriel Dette/Laura Heeg / Klaus T. Weber (Hg.), Magister operis. Beiträge zur mittelalterlichen Architektur Europas. Festgabe für Dethard von Winterfeld zum 70. Geburtstag, Regensburg 2008, S. 261–294; Christofer Herrmann, Kloster-Burg-Residenz: Der Hochmeisterpalast auf der Marienburg im Kontext der Burgenarchitektur des Deutschen Ordens in Preußen, in: Helmut Flachenecker (Hg.), Ritter, Verwalter und Repräsentanten – Priester und Seelsorger: Burgen, Residenzen und Kirchen des Deutschen Ordens (QStGDO 79), Weimar 2016, S. 31–57. 6 Sławomir Józ´wiak, Janusz Trupinda, Krzyz˙ackie zamki komturskie w Prusach. Topografia i układ przestrzenny na podstawie s´redniowiecznych z´rjdeł pisanych, Torun´ 2012. 7 Janusz Trupinda, O pomieszczeniach kancelarii i archiwum wielkiego mistrza w Malborku na podstawie z´rjdeł pisanych w XIV i XV wieku, in: Janusz Trupinda (Hg.), Kancelarie krzy-

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nicht ganz einfachen Aufgabe eines Überblicks über die Forschungsergebnisse seit 2005. Das ist aber insofern lohnenswert, weil die Analyse vor allem der mittelalterlichen Schriftquellen zahlreiche neue Befunde brachte, die den bisherigen Wissensstand berichtigen und ergänzen. Es tauchten zwar neue Zweifel und schwer zu lösende Probleme auf, aber wir können dennoch heute eine Reihe von neuen Erkenntnissen bezüglich der Topografie, der räumlichen Gestaltung und der Lebensorganisation in einem so komplizierten »Organismus« wie der Konventsburg und die Residenz der Hochmeister in Marienburg formulieren. Die Aufdeckung bislang unbekannter Fakten führte zu zahlreichen Korrekturen am Bild der traditionellen Untersuchungen führte. Ohne einen vollständigen Überblick über die Quellen stellten viele Forscherkollegen Vermutungen auf, die aus einer methodisch nicht haltbaren Auslegung normativer Texte, wie etwa den Ordensstatuten, basierten.8 Diese formulieren aber nur ein Idealbild und geben kein Abbild der Wirklichkeit. Außerdem findet man darin kaum Angaben zu einzelnen Burgräumen und zu ihrer Nutzung. Auf diese Weise entstanden zahlreiche Missverständnisse, von denen das Problem des sog. Kapitelsaals im Konventshaus die meisten Diskussionen auslöste.9 In den mittelalterlichen Schriftquellen findet man den Begriff »Kapitelsaal« nicht ein einziges Mal, weder in Bezug auf Marienburg als auch auf andere Schlösser. So wie C. Steinbrecht weisen aber viele Forscher hartnäckig auf einen Saal im Obergeschoss im Nordflügel des Hochschlosses hin, der unmittelbar neben der Kirche liegt. Doch auf welcher Grundlage wurde diese Raumbestimmung vorgenommen? Man ging davon aus, dass die Generalkapitel des Ordens in Marienburg stattfanden, insbesondere jene zur Wahl des Hochmeisters, nahm an, dass sie mit liturgischen Handlungen verbunden waren und suchte einen günstigen Innenraum in der z˙ackie. Stan badan´ i perspektywy badawcze. Materiały z Mie˛dzynarodowej Konferencji Naukowej, Malbork 18–19 X 2001, Malbork 2002, S. 255–273; Sławomir Józ´wiak, Janusz . Trupinda, Funkcjonowanie wielkiego refektarza w czasach krzyzackich (do 1457 r.), in: ´ Janusz Trupinda (Hg.), Wielki Refektarz na Zamku Srednim w Malborku, dzieje-wystrjjkonserwacja, Malbork 2010, S. 31–39; iidem, Organizacja z˙ycia na zamku w Malborku w czasach wielkich mistrzjw (1309–1454), Malbork 22011; iidem, Nazwy pomieszczen´ zamku malborskiego w instrumentach notarialnych z kon´ca XIV – pierwszej połowy XV wieku, ZH 72 (2007), H. 4, S. 41–56; iidem, Miejsca wystawiania instrumentjw notarialnych w przestrzeni zamku malborskiego w XIV i w pierwszej połowie XV wieku, ZH 77 (2012), H. 2, S. 7–34; iidem, O funkcjonowaniu kos´cioła zamkowego w Malborku na tle ´swia˛tyn´ w krzyz˙ackich zamkach konwentualnych. Kilka uwag na podstawie analizy z´rjdeł pisanych, in: Janusz Hochleitner (Hg.), Rewitalizacja zespołu kos´cioła Najs´wie˛tszej Marii Panny w Malborku, Malbork 2016, S. 67–81; iidem, Wiez˙a Klesza i jej mieszkan´cy w ´sredniowieczu, in: Janusz Hochleitner/Mariusz Mierzwin´ski (Hg.), Wiez˙a Klesza i Domek Dzwonnika na zamku wysokim w Malborku. Dzieje i konserwacja, Malbork 2016, S. 9–13. 8 Witold Szczuczko, Funkcje zamku krzyz˙ackiego w ´swietle statutjw zakonnych, in: Antoni Pawłowski (Hg.), S´redniowieczne zamki Polski Pjłnocnej, Malbork 1983, S. 49–57. 9 Eine umfangreiche Polemik über dieses Thema siehe: Józ´wiak/Trupinda, Krzyz˙ackie zamki (wie Anm. 6), S. 310–326.

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Nähe der Burgkapelle. Obwohl eine genaue Prüfung der schriftlichen Quellen ohne jeden Zweifel bestätigte, dass der besagte Raum mindestens seit dem Ende des 14. Jahrhunderts als Remter bezeichnet wurde und in den Quellen ebenso belegt ist, dass sich die Kapitel seit 1337 im Großremter in der ersten inneren Vorburg versammelten,10 nahmen einige Forscher diese Argumente nicht an. Selbstverständlich kann man vermuten, dass der Raum im Hochschloss zu einem bestimmten Zeitpunkt (etwa vom 13. bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts) die Funktion eines Kapitelsaales erfüllte, doch muss man Belege dafür benennen, was bislang nicht geschehen ist. Eine andere Frage ist die Bruchstückhaftigkeit der Überlieferung. Die meisten Quellen stammen aus dem Ende des 14. und der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Man sollte aber berücksichtigen, dass das Schloss in der Ordenszeit im ständigen Umbau war, und die Lebensorganisation im Inneren eines so ausgedehnten Gebäudekomplexes sich mit Sicherheit beständig änderte. Auch die Funktionen der einzelnen Räume konnten sich prinzipiell ändern, jedoch gibt es nur wenige Quellen, in denen solche Vorgänge festgehalten wurden. Hier ist ein vorsichtiges Vorgehen unverzichtbar. Wir haben nicht nur die Rechnungs- und Inventarbücher, sondern auch Urkunden und erzählende Quellen (wie Korrespondenz, Chroniken etc.) analysiert. Selbstverständlich wurde auch der reiche Bestand von unveröffentlichten Quellen herangezogen, die sich vor allem in den Beständen des ehemaligen Königsberger Staatsarchivs, der jetzigen XX. Hauptabteilung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem, befinden. Hier erwiesen sich die Notarinstrumente, die in den bisherigen Untersuchungen zu den Ordensburgen beinahe gar nicht benutzt wurden, als sehr behilflich.11 Wegen ihres rechtlichen Charakters und der präzisen Schilderung zu Ort und Umständen der Ausstellung und Niederschrift beinhalten sie zahlreiche Benennungen und Lokalisierungen der einzelnen Räume, was auch für die Rekonstruktion der Raumorganisation auf der Marienburg von wesentlicher Bedeutung ist. So konnten wir anhand der Notarinstrumente aus dem Ende des 14. und der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts feststellen, dass die meisten davon in verschiedenen Räumen des Hochmeisterpalasts sowie im Großremter ausgestellt wurden.12 Die übrigen Burgräume nutzte man zu diesem Zweck nur ausnahmsweise. Diese Beobachtung entspricht der in den schriftlichen Quellen belegten generellen Aufteilung der Burg in einen Konventsteil – Haus (haus, hus, 10 Vgl. Józ´wiak/Trupinda, Miejsca wystawiania (wie Anm. 7), S. 7–34, hier S. 24–26; iidem, Krzyz˙ackie zamki (wie Anm. 6), S. 310–326. 11 Józ´wiak/Trupinda, Nazwy pomieszczen´ (wie Anm. 7), S. 41–56; iidem, Miejsca wystawiania (wie Anm. 7), S. 7–34. 12 Siehe dazu ausführlich: Józ´wiak/Trupinda, Krzyz˙ackie zamki (wie Anm. 6), S. 70–77, 80–87; iidem, Nazwy pomieszczen´ (wie Anm. 7), S. 7–34.

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Abb. 1: Die bauliche Entwicklung der Marienburg im Mittelalter : 1250 und 1420, Federzeichnung von C. Steinbrecht (aus: Conrad Steinbrecht, Die Wiederherstellung des Marienburger Schlosses, Berlin 1896, S. 5).

huse, rechtes hus) – und einen administrativ-wirtschaftlichen Teil, der in den Quellen als (die erste bzw. die zweite) Vorburg bezeichnet wurde. Die bis heute in der Beschreibung der Räume des Marienburger Schlosskomplexes übliche Aufteilung in »Hochschloss«, »Mittelschloss« und »Vorburg« (bzw. »Nieder-

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schloss«) stammt aus neuzeitlichen Quellen. In der Lustration von 1565 stößt man auf ein »Hochschloss« und ein »zweites Schloss«.13 Für die Ordensritter war der Sitz des Konvents (das eigentliche Ordenshaus – das Hochschloss) am wichtigsten; der »weltliche« Teil (die Vorburg) diente dagegen außerreligiösen Zwecken, wie sie mit der Verwaltung des ausgedehnten Deutschordensstaats verbunden waren. Es ist bemerkenswert, dass dieselbe Aufteilung in allen Ordensburgen zu finden war, doch in kleinerem Umfang im Vergleich zu Marienburg. Auf den Vorburgen der kleineren Häuser befanden sich spezielle Gebäude (in den deutschsprachigen Quellen als gemach bezeichnet), in denen die Komturen und andere Ordensbeamte residierten und die Verwaltungsangelegenheiten erledigten. In der Marienburg war die Vorburg wegen des Ausmaßes und der Bedeutung der Hauptfestung ausgedehnt, weswegen sie in drei Teile gegliedert wurde: die erste innere Vorburg (nach der heutigen Benennung das »Mittelschloss«), die erste äußere Vorburg (westlich und östlich davon) und die zweite Vorburg (nördlich davon). Die Aufteilung war erstens durch die Topografie des ganzen Schlosskomplexes, zweitens durch die Funktionalität seiner einzelnen Teile bedingt.14

Hochschloss (Konventsburg) Für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts ist von einer Zahl von ca. 45–50 Ritterbrüder, Priester und Sarianten in der Marienburg auszugehen.15 Ihr Ordensleben spielte sich im Obergeschoss des Hochschlosses ab. Der wichtigste Raum dieses Teils war die Schlosskirche, die in den Jahren 1331–1344 aus einer kleinen Kapelle zur heutigen Größe ausgebaut wurde. Hier versammelten sich die Brüder, um das Stundengebet bzw. die Andachten zu verrichten. Die Kirche diente ausschließlich den Mitgliedern des Deutschen Ordens und war nicht öffentlich zugänglich. Den nach Marienburg kommenden Pilgern ermöglichte man zwar, die dort aufbewahrten Reliquien in Augenschein zur Erlangung der Ablässe zu nehmen: Man tat dies aber auf der äußeren Vorburg bzw. im Rahmen von Prozessionen außerhalb des Schlosses. Die Kirche besaß vier Altäre und fünf Sakristeien, in denen die besagten Reliquien wie auch liturgische Paramente und andere Ausstattungselemente aufbewahrt wurden. Den Bereich der Kirche und 13 Johannes K. Sembrzycki, Beschreibungen der Marienburg [1889–1890 – Handschrift in den Sammlungen des Schloßmuseums in Malbork, Sign. III 2636], Bl. 1, 16, 18. Ausführlich dazu Józ´wiak/Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 85–88. 14 Siehe ausführlich dazu: Józ´wiak/Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 71–88. 15 Ausführliche Aufzählungen bei Sławomir Józ´wiak, Liczebnos´c´ konwentjw zakonu krzyz˙ackiego w Prusach w pierwszej połowie XV wieku, in: ZH 72 (2007), H. 1, S. 7–22, hier S. 14–16, 19; Józ´wiak/Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 333–337.

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den daran anschließenden Turm sorgte der Glockmeister.16 Dieser Beamte überwachte auch alle andern Kapellen im Bereich des Schlosses, abgesehen von der Privatkapelle der Hochmeister im »Palast«, über die der Kaplan des Hochmeisters verfügte. Es gab sieben Kapellen im Bereich des ganzen Schlosses: die Marienkirche und die St. Annenkirche im Hochschloss, die St. Bartholomäuskirche, eine weitere in der Infirmerie im Bereich der ersten inneren Vorburg wo sich auch die Privatkapelle der Hochmeister (im »Palast«) befand. Auf der ersten äußeren Vorburg lag eine jetzt nicht mehr bestehende St. Nikolauskirche, und auf der zweiten die St. Laurentiuskirche. Hinsichtlich der terminologischen und funktionalen Unterschiede zwischen den Kapelle und der Kirche sollte man betonen, dass alle Marienburger Sakralräume mit Ausnahme der Privatkapelle der Hochmeister in den Ordensquellen als kirche gekennzeichnet wurden.17 Mit Ausnahmen der mit anderen Zuständigkeiten versehenen Schlosskirche und der Hochmeisterkapelle werden die Priester, die die Kapellen betreuten, in den Quellen als vicarius bzw. als pfarrer bezeichnet. Die Pfarrer zu St. Anna und St. Bartholomäus wohnten den Quellen zufolge seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts im Pfaffenturm.18 Die Ausstattung der Sakralräume, insbesondere der Hauptkirche des Schlosses, wurde in der Fachliteratur mehrfach analysiert, und zwar aufgrund der bruchstückhaft erhaltenen Inventarverzeichnisse. Im Vergleich zu anderen Quellen erlauben sie auch, die Zahl der Priesterbrüder, die in Marienburg residierten, zu bestimmen. Für das 14. Jahrhundert gibt es keine zuverlässigen Angaben. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts beliefen sie sich kontinuierlich auf 10–15 Kleriker. Die meisten von ihnen lebten wahrscheinlich im Pfaffenturm, einige von ihnen waren vermutlich auf der Konventsburg untergebracht. Die für diese Räume gebräuchliche Bezeichnung sloffgemach weist darauf hin, dass es sich dabei um einen abgesonderten Teil des Obergeschosses des Hochschlosses handelte, vielleicht innerhalb der Dormitorien. Neben dem Pfaffenturm hatte der Glockmeister seine Kammer sicherlich in der Nähe der Hauptkirche des Schlosses.19 Der Kaplan des Hochmeisters lebte höchstwahrscheinlich im Westteil des Erdgeschosses des »Palastes«, und seine Schüler und die Geistlichen, die in der Kanzlei der Ordensobrigkeiten arbeiteten, hatten ihre Kammern in einem getrennten heute nicht mehr vorhandenen Gebäude, das auf der nördlichen Seite des »Hochmeisterpalastes«

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Mehr zu diesem Beamten vgl. Józ´wiak/Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 416–430. Siehe ausführlich dazu: ibidem, S. 212–214, 493–503. Józ´wiak/Trupinda, Wiez˙a klesza (wie Anm. 7), S. 9–13. Józ´wiak/Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 229–241, 504–518; Wiesław Długoke˛ kki, Z dziejjw duchowien´stwa na zamku malborskim w kon´cu XIV – pierwszej połowie XV wieku, in: Hochleitner/ Mierzwin´ski, Wiez˙a Klesza (wie Anm. 7), S. 15–24.

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lag. In den Quellen aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts wurde es als gemach bey meisters gemach bezeichnet.20 Die Ritterbrüder und die Sarianten wohnten in den Dormitorien und Kammern in drei Flügeln des Hochschlosses, nämlich im Ost-, Süd- und Westflügel. Nach der Bestimmung der Ordensregel sollten es gemeinsame Räume sein, doch kann man aus den Quellen aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts schließen, dass die einfachen Brüder in Mehrpersonenkammern untergerbacht waren, während die Ordensbrüder, die Ämter bekleideten, sowie Priester oder besonders verdiente Brüder und Altherren alleine in ihren eigenen Kammern wohnten. Konkret wissen wir, dass der Tressler und der Hauskomtur bis 1398 eigene Räume hatten, höchstwahrscheinlich im Obergeschoss des Westflügels. Später verfügten sie sogar über ein getrenntes Gebäude, das östlich vom Nordzwinger des Hochschlosses lag. Die Forschung nahm an, dass im Obergeschoss des Westflügels auch der Küchenmeister des Konvents wohnte. In Wirklichkeit befand sich seine Kammer im Erdgeschoss des besagten Flügels des Hochschlosses an der Küche.21 Die Mitglieder des Konvents speisten in einem Remter, der sich im Obergeschoss des Nordflügels westlich an der Schlosskirche anliegend befand. Im Dachgeschoss darüber bewahrte man mindestens seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts Getreide auf.22 Aus den schriftlichen Quellen ergibt sich, dass dies der einzige Remter des Hochschlosses war, obwohl die Tradition (d. i. Steinbrecht) einen weiteren Remter im zweiten Obergeschoss des Südflügels identifizieren wollte. Der Zweck dieses Raums lässt sich jedoch nicht mehr ermitteln. Spuren von Putz auf der Nordwand erlauben die Feststellung, dass dies kein Lagerhaus war. Ähnliche unsicher ist die Nutzung des benachbarten Raums im zweiten Obergeschoss des Südflügels, der von der Forschung als »Herrenstube« bezeichnet wurde. Eine solche Bestimmung (doch als herren kamer) kommt in den Ordensquellen aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts vor, ist aber nur schwer mit diesem Raum in Verbindung zu bringen. Die übrigen Räume dieses Geschosses erfüllten mit Sicherheit wirtschaftliche Funktionen oder dienten als Lagerräume. Im Dachgeschoss bewahrte man überall Getreide auf.23 In ähnlicher Form dienten die Räume im Keller und im Erdgeschoss ökonomischen Zwecken. Ihre Topografie ist folgendermaßen zu beschreiben: Die Keller unter dem Nordflügel dienten der Versorgung des darüber gelegenen Remter des Konvents. Die Räume können folgenderweise identifiziert werden: conventskeller (verschiedene Geräte und Gefäße, darunter Becher), koppilkeller 20 AMH, S. 181, 306; Józ´wiak/Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 229–241. 21 Ausführlich dazu: Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm 7), S. 280–297, 337–361. 22 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, XX. HA OBA 740; Jähnig, Organisation (wie Anm. 5), Anhang, Nr. 2, S. 72–73. 23 Ausführlich dazu Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 337–344, 356–357.

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(u. a. Kelche), methekamer (Met), gerkamer (Biergärung), strokamer (Stroh). Über die Keller des Konvents wachte der kellermeister. Die Keller unter dem West- sowie dem Südflügel waren den darüber liegenden Räumen im Erdgeschoss dieser Schlossteile zugeordnet, d. h. der Küche, der Brauerei, der Mälzerei, der Backstube und dem Mehllager. Befand sich die Kammer des küchenmeisters an der Küche, so wäre es folgerichtig, nach einem ähnlichen Raum des Backmeisters im Südflügel zu suchen. Nichts Sicheres lässt sich über die Räume im Erdgeschoss und in den Kellern des Ostflügels sagen. Im Erdgeschoss des Nordflügels auf der westlichen Seite, also in der Nähe des Eingangstors, befanden sich wahrscheinlich die Räume der Wache bzw. des obersten Tormeisters (obirster thormeister). Es ist unbekannt, ob der Raum, der in den neuzeitlichen Lustrationen als Witold bezeichnet wurde, als Gefängnis diente. Vielleicht wurde sie auch vom kellermeister genutzt.24 Wir können auch nichts Sicheres über einen gewölbten Raum sagen, der direkt unterhalb des Westteils der Schlosskirche gelegen war. Einige Forscher sahen, ohne irgendwelche Belege anführen zu können, sahen darin das erste Dormitorium der Brüder, eine Wohnung der Ritterbrüder oder ihrer Knechte.25 Unklar ist auch die Bestimmung der umfangreichen Räume im Obergeschoss des Süd- und Ostflügels, die wir aus den neuzeitlichen Quellen kennen. Dort konnten sich Dormitorien befinden, was im Falle des Südflügels durch eine Quellenerwähnung bestätigt wird. Man verband darin die Backstube mit einem »Schlafhaus«.26 Für den Ostflügel gibt es keine mittelalterlichen Überlieferungen. Auch die Angaben der neuzeitlichen Lustrationen, die im Südflügel ein Lager fürs gesalzene Fleisch, und im Ostflügel aber eine Mühle lokalisieren, kann man nicht direkt auf das Mittelalter zurückführen.27 Leider berücksichtigen nicht alle Quellen die einzelnen Räume des Hochschlosses. Darin lebte der Ordenstrappier (trappier); daneben befand sich vermutlich die von ihm verwaltete trappenye. In diesem Schlossteil sind auch die Büchsenkammer (buchszenkamer), die Pulverkammer (pulverkamer), die Ölkammer (olkamer), die Schmierkammer (smerkamer) und die Lampenschmierkammer (lampensmeerkamer)28 zu lokalisieren. Ein schwer zu lösendes Problem stellt die Infirmerie dar, also die Räumlichkeiten, in denen die kranken und älteren Ordensbrüder gepflegt wurden. Umfangreiche Hinweise auf die Krankenpflege wurden sowohl in der Ordensregel als 24 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja, S. 337–361, 430–442. 25 So Tomasz Torbus, Die Konventsburgen im Deutschordensland Preussen (Schriften des Bundesinstituts für Ostdeutsche Kultur und Geschichte 11), München 1998, S. 495. 26 Item 9 sc. dem gleser deme bachmeister und in deme slufhuse gleser czu machen – AMH, S. 68; Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 344–348, 351–356. 27 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 344–348. 28 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja, S. 358, 443–446.

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auch in den späteren Gesetzen angeführt.29 Dort ist vorgesehen, dass die kranken Brüder nur ein paar Tage lang in ihren eigenen Betten bleiben durften, dann aber mussten sie in eine gemeinsame Krankenkammer gebracht werden. Diese Vorschrift galt nicht für den Hochmeister und den Großkomtur. Schon in der ersten Bauphase muss der Marienburger Konvent über eine Infirmarie verfügt haben, doch angesichts mangelnder Quellenüberlieferungen dazu kann man über ihre Lage nichts Sicheres sagen. Die Vermutungen von Kazimierz Pospieszny, der die Infirmerie in den Jahren 1280–1309 zwischen der Kapelle und dem Kapitelsaal lokalisierte, werden durch die Quellen nicht bestätigt, ähnlich wie seine These, dass es nach dem Umbau im 14. Jahrhundert keinen derartigen Raum mehr in der Konventsburg (Hochschloss) gab.30 Es ist aber anzunehmen, dass in diesem Schlossteil eine Infirmerie vorhanden war, denn von einem dort lebenden und arbeitenden Ordensbeamten, nämlich dem Glockmeister, wurde Geld für diesen Zweck erhoben. Die Analyse der mittelalterlichen und neuzeitlichen Quellen legt nahe, dass sie im Nordflügel des Hochschlosses zu lokalisieren ist, und die Badestube und das Sommerhaus (somerhus) in Form eines Holzhäuschen bzw. einer Terrasse mit Sitzplätzen – im Ostteil des Nordzwingers.31 Innerhalb der ersten inneren Vorburg im Westteil des Nordflügels befand sich eine ausgebaute Infirmerie mit Kirche, Badestube und einem Garten. Sie diente den Ritterbrüdern. Daneben hatte der Großkomtur eine eigene Infirmerie, höchstwahrscheinlich im Ostteil dieses Flügels. In der zweiten Vorburg bei St. Lorenz befand sich eine Infirmerie für Knechte und Diener, der knechte/dienere fyrmanyen. Mit der Überwachung der Hauptinfirmerie der Ritterbrüder beauftragte man den Firmarienmeister (firmarienmeister), über die Infirmerie der Knechte wachte der gartenmeister, und über die Infirmerie im Hochschloss – der Glockmeister.32

Die erste innere Vorburg Die erste innere Vorburg galt als administratives Zentrum des Deutschordensstaates. Ihre repräsentativen Bauten wurden n den 1330er Jahren errichtet. Der Flügel bestand aus des meisters gemach (domus habitacionis magistri generalis), in der Neuzeit als »Hochmeisterpalast« bezeichnet, und dem Großremter mit 29 Vgl. Perlbach, Statuten (wie Anm. 2), S. 48, 68–70. 30 Kazimierz Pospieszny, Program i forma architektoniczna krzyz˙ackich infirmerii zamkowych w Prusach, in: Maria Da˛ browska/Jerzy Kruppé (Hg.), Szpitalnictwo w dawnej Polsce, Warszawa 1998, S. 117f.f.; idem, »Domus Malbork«. Zamek krzyz˙acki w typie regularnym, Torun´ 2014, S. 73f.f. 31 Siehe ausführlicher dazu: Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 401–405; Anders dazu siehe: Długoke˛ cki, Z dziejjw (wie Anm. 19), S. 22–23. 32 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 390–401, 406–411.

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Küche, Kammer des Küchenmeisters und einer wirtschaftlichen Hinterkammer. Parallel wurden die Bauten des Nordflügels mit der Infirmerie der Ritterbrüder und dem Sitz des Großkomturs und der Ostflügels errichtet, der vor allem für die in Marienburg ankommenden Gäste und Angehörige anderer Ordenshäuser vorgesehen war. Dort befand sich auch die St. Bartholomäuskirche.33 In Anlehnung an die architektonischen Forschungsbefunde vermutete man, dass die Baumaßnahmen an diesem Schlossteil bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts durch abgeschlossen wurden.34 Anhand der analysierten schriftlichen Quellen gelang es, diese Befunde zu präzisieren. Es ist bekannt, dass der erste ›Hochmeisterpalast‹ 1333 fertiggestellt wurde.35 Das Gebäude und seine Innenräume werden von diesem Jahr an in den Notarinstrumenten erwähnt, die zuvor ausschließlich im »Hochschloss« ausgestellt wurden. Schon 1372 stößt man in den Quellen auf einen im »Palast« befindlichen Winterremter (aula autumpnalis, estuarium hyemale, aula siue refectorium magistrale, parvum refectorium siue sala, sala minor, winter remter).36 Es ist unklar, wie lange der Ausbau dieses Gebäudes dauerte, bis der heutige Zustand erreicht wurde, aber es ist sicher mit einem Abschluss im zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts zu rechnen. Der Großremter wurde seit 1337 genutzt. Seit dem 24. August dieses Jahres fanden hier alle auf der Marienburg abgehaltenen Zusammenkünfte statt, die einen kapitelähnlichen Charakter hatten.37 Wichtige Arbeiten, wie der Ausbau der ersten inneren Vorburg, dauerten bis in die 1340er Jahre, in denen die erste Schlossbauphase abgeschlossen wurde, infolge derer hier das Haupthaus des Ordens und Sitz des Landesherrn in Preußen entstanden. Das ergibt sich u. a. aus der Analyse des Amtes des »Bauleiters« (magister lapidum, magister laterum, steinmeister, czygelmeister, muwermeister). Die jüngsten Untersuchungen zu den Komturburgen in Preußen bestätigten, dass diese Beamten nur für eine gewisse Zeit und für den Bedarf der geplanten ausgedehnten Bauarbeiten berufen wurden.38 In Marienburg kommt der steinmeister in einer Urkunde vom 8 XI 1343 (frater Rudolfus) vor. Die nächstfolgende Erwähnung dieses Beamten 33 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja S. 57–63, 197–209. 34 Vgl. Torbus, Konventsburgen (wie Anm. 25), S. 272. 35 Die erste Erwähnung in einem am 21. März dieses Jahres auf Latein redigierten Notarinstrument: in domo habitacionis sue [des Hochmeisters – S. J., J. T.] apud domum principalem ordinis eiusdem in Marienburg – Max Hein/ Erich Maschke (Hg.), Preußisches Urkundenbuch 2. 1310–1335, Königsberg 1932–1939, Nr. 777; Józ´wiak/ Trupinda, Miejsca wystawiania (wie Anm. 7), S. 9–10. 36 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 76–79, 203–207; iidem, Miejsca wystawiania (wie Anm. 7), S. 10–17, 21–22. 37 Józ´wiak/ Trupinda, Miejsca wystawiania (wie Anm. 7), S. 23–26; iidem, Krzyz˙ackie zamki (wie Anm. 6), S. 319–323. 38 Mehr dazu siehe: Sławomir Józ´wiak / Janusz Trupinda, Das Amt des »Bauleiters« (magister lapidum; magister laterum; steinmeister; czygelmeyster ; muwermeister) im Deutschordensstaat im 14. Jh. und in der ersten Hälfte des 15. Jh., in: OM 20 (2015), S. 239–268.

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stammt aus dem Jahr 1379 (brudir Petir Vygan), die letzten aus den Jahren 1398–1403.39 Sie steuern allgemeine Hinweise zu den intensiveren Bauarbeiten in Marienburg bei und sollten daher bei der Datierung der wichtigsten Schlossteile berücksichtigt werden. Der Sitz der Hochmeister ist für die historische Forschung ein faszinierendes, aber auch ein sehr schwieriges Objekt. Genau hier lebten und arbeiteten die Personen aus der nächsten Umgebung der Ordensleitung: Ordensbeamte, weltliche Hofmitglieder und ihre weitere Entourage. Im Repräsentationsgeschoss, das in den deutschsprachigen Quellen mit dem gleichen Wort bezeichnet wird wie das ganze Gebäude, nämlich als des meisters gemach, befanden sich sowohl die repräsentativen Räume, d. i. das somerhuse (großer somerzale des genanten hern homeisters, aula minor estiualis, summergemach) und der Winterremter (aula autumpnalis, estuarium hyemale, aula siue refectorium magistrale, parvum refectorium siue sala, sala minor, winter remter), wie auch die Privatkammern des Hochmeisters (camera magistri generalis, camera secreta […] domini magistri generalis, commodum domini magistri, stubella domini magistri, meisters kamer, meisters stobechen, homeysters hinderkamer). Diese wurden im Nordostteil des »Palastes« lokalisiert und lagen dicht beim Großremter und der Kapelle.40 Oberhalb der Tür stößt man auf der Seite der niederen Diele auf ein heute übermaltes Gemälde mit dem Wappen der Adelsfamilie von Jungingen.41 Unklar ist die Bestimmung der Räume, die im Südostteil des repräsentativen Geschosses liegen.42 Die Quellen von der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert erlauben es, die reiche Ausstattung der Privatkapelle der Hochmeister zu rekonstruieren. Dort befanden sich u. a. ein Altar mit Bernsteinelementen, zwei Pulte, Leuchter, 39 Hans Koeppen (Hg.), Preußisches Urkundenbuch 3,2, Marburg 1958, Nr. 618; Codex Diplomaticus Preussicus. Johannes Voigt, Urkunden-Sammlung zur ältern Geschichte Preussens aus dem Königl. Geheimen Archiv zu Königsberg nebst Regesten Bd. 3, Königsberg 1848, Nr. 133; Józ´wiak/ Trupinda, Das Amt (wie Anm. 38), S. 246–249. 40 Siehe ausführlich dazu: Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 209–222, 225–227; iidem, Miejsca wystawiania (wie Anm. 7), S. 9–17, 20–22; Sławomir Józ´wiak, Zamki krzyz˙ackie w ´sredniowiecznych z´rjdłach pisanych, in: Waldemar Rozynkowski/ Małgorzata Strzelecka/Michał Targowski (Hg.), Zamki, pałace, dwory i ich mieszkan´cy w regionie kujawsko-pomorskim, Torun´ 2013, S. 13–31, hier S. 18–19. 41 Janusz Trupinda, Zespjł heraldyczny z herbem von Jungingen w systemie dekoracji malarskiej pie˛tra reprezentacyjnego pałacu wielkich mistrzjw w Malborku, in: Błaz˙ej S´liwin´ski (Hg.), Krzyz˙owcy, szpitalnicy, kondotierzy (Studia z Dziejjw S´redniowiecza, Nr. 12), Malbork 2006, S. 397–423. 42 Seit einiger Zeit versucht Christopher Herrmann, die Bestimmung der einzelnen mittelalterlichen Räume des »Palastes« zu rekonstruieren. Leider setzt er sich über die zahlreichen schriftlichen Quellen (besonders Notarinstrumente) hinweg, daher sind seine Vorschläge rein spekulativ – vgl. Herrmann, Der Hochmeisterpalast (wie Anm. 5), S. 261–294; idem, Kloster-Burg-Residenz (wie Anm. 5), S. 37–57.

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Kerzenständer, Lampen, eine große Weltkarte an der Wand, Reliquien (höchstwahrscheinlich der Hl. Elisabeth) und eine Orgel. Die Malerei führte der Maler Petrus in den Jahren 1402–1404 aus. Über alle Arbeiten und Anschaffungen entschied der Kaplan des Hochmeisters, der die spirituelle Aufsicht über diesen Sakralraum hatte.43 Das Erdgeschoss im Gebäude der Hochmeister ist das gebitteger gemach (die Bezeichnung stammt aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts). Die inneren Räume wurden also von den Würdenträgern des Ordens genutzt. Im Ostteil befanden sich die Räume für Kumpanen, Diener, und im Westteil das Archiv, der Ratssaal des Hochmeisters (stubella consilii, stubella dicta consilii, stuba consilii, camera sive stubella consilii, ratstobe, rotstobich, rothe stobichen)44 sowie die Kanzleiräume.45 Im Westteil lebten vermutlich die Kapläne der Hochmeister (die über den eigenen danzker verfügten46), da sie auch Vorsteher der Kanzlei waren und das Skriptorium überwachten. Die Kanzlei beschäftigte dauerhaft einige Schreiber und weitere Personen, die sich mit dem Abschreiben, Verzieren und Einbinden von Büchern befassten. Wahrscheinlich arbeiteten sie in vier Sälen auf der Westseite des Erdgeschosses des »Palastes«. Unbekannt ist ihr Wohnort.47 Die Schüler des Kaplans, Kellerknechte und der Torwächter des Hochmeisters hatten ihre Räume im gemach in der Nähe des »Palasts« an der Nordseite.48 Die Hochmeister besaßen einen eigenen Keller, die ein spezieller Beamter, genannt kellermeister, verwaltete. Sie befanden sich in den Untergeschossen des Gebäudes. Dort, wahrscheinlich auf der östlichen Seite, befand sich auch die Kammer des Kellermeisters. Ihm unterstanden die schon erwähnten Kellerknechte (des meisters kellerknechte). Mit dem Anfang des 15. Jahrhunderts stößt man in den Quellen auf verschiedene Keller in diesem Schlossteil: Bierkeller (byrkeller), Weinkeller (wynkeller) wie auch Metkeller (metekeller). Den letzt43 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 212–215, 229–241. 44 Die genaue Lokalisierung des Ratssaals des Hochmeisters im Erdgeschoss des »Palastes« erscheint im Bericht aus der Zeit des Dreizehnjährigen Krieges – vgl.: Am selben tage [9 IV 1456] wardt des meisters rempther und das rothe stobichen durch die drabanten und mit yn etlichen reysigen eyngenommen […] und der homeister muste wychen ins summergemach. Dorus ward er ouch getrungen den sonnentag dornoch [11 IV] und muste vorden wychen in syne kammer und dorin die tysch lossen zu machen, so er essen woltte – Geschichten von wegen eines Bundes von Landen und Steten [im Folgenden: Geschichten von wegen eines Bundes], hg. v. Max Töppen, in: SRP 4 (1870), S. 71–211, hier S. 156. 45 Siehe ausführlich dazu: Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 191–196, 227–267. 46 AMH, S. 90–91. 47 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 227–267. Zu dem Rekonstruktiuonsversuch bei Herrmann, Der Hochmeisterpalast (wie Anm. 5), S. 261–294 bzw. idem, Kloster-Burg-Residenz (wie Anm. 5), S. 37–57 vgl. Anm. 42. 48 Mehr dazu vgl. Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 210–211, 234–235, 242–243, 245–246.

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genannten kann man eindeutig lokalisieren.49 Nach einer Erwähnung von 1454 befand er sich unterhalb des Winterremters im Untergeschoss, seine Fenster waren nach Süden gerichtet.50 Die anderen kann man nicht mehr so genau bestimmen, vermutlich lagen sie aber im gleichen Untergeschoss. Aus den Quellen ergibt sich, dass man in den Kellern des »Palastes« ausschließlich Getränke aufbewahrte. Die Lebensmittelvorräte lagerte man höchstwahrscheinlich in den Kellern und im Dachgeschoss der Küche im Nordteil des Westflügels der ersten inneren Vorburg. Sie unterstanden dem Küchenmeister des Hochmeisters.51 Im Erdgeschoss des »Palastes« hatten auch die Wäscher (silberwascher) ihre Räume. Dort hielten sich auch die Mitglieder des weltlichen Personals der Hochmeister auf, d. h. des Hofgesindes (hovegesinde): Kämmerer (kemerer), Unterkämmerer (underkemerer), Jungknechte (jungen) und Witingen (witinge). Zu dieser Gruppe zählen auch die Hofnarren, Zwerge und Musikanten. Es gibt keine Beweise dafür, dass sie im gemach des Meisters lebten, es ist aber wahrscheinlich.52 Eine sehr interessante Gruppe aus der Umgebung der Hochmeister waren die sog. Diener. Es handelte sich um junge Leute aus Adelsfamilien, die in den diplomatischen und militärisch-ritterlichen Dienst des Ordens traten. Entgegen der Meinung Bernhart Jähnigs53 gehörten zu diesem Kreis keine Rechtsanwälte, Ärzte, Baumeister-Architekten, Maler oder weitere Personen, die im Auftrag des Hochmeisters gewisse Arbeiten leisteten. Die Diener rekrutierte man aus Deutschland, Böhmen, Mähren, Burgunden, Flandern und aus dem Deutschordensstaat. Sie blieben ein halbes bis zu zwei Jahren lang im Dienst. Ihre Zahl ist schwierig zu bestimmen, allerdings schätzt man ihre Anzahl in Marienburg am Anfang des 15. Jahrhunderts auf insgesamt 20. Sie wohnten vermutlich in Kammern im Erdgeschoss unterhalb der Speisekammer, die im Südteil der Ostbebauung der ersten inneren Vorburg lag.54 Der Hochmeister besaß seine eigene Küche, die auf der nördlichen Seite des Großremters lag. Sie bediente auch staatlich-repräsentative Fest- und sonstige Mahlzeiten, die für die Gäste ausgerichtet wurden, die zur Marienburg kamen. Dicht an der Küche lebte der Küchenmeister des Ordensvorstehers, der dort seine Kammer mit dem danzker hatte. Er überwachte die Köche, die in den 49 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja, S. 241–244. 50 Geschichten von wegen eines Bundes (wie Anm. 44), S. 119. Siehe ausführlich dazu: Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 241–244. 51 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 258–262. 52 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja, S. 246–253. 53 Bernhart Jähnig, Junge Edelleute am Hof des Hochmeisters in Marienburg um 1400, in: Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Hg.), Erziehung und Bildung bei Hofe (Residenzenforschung 13), Stuttgart 2002, S. 21–42, hier S. 22. 54 Vgl. Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 253–258.

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Quellen in höhere und niedrigere geteilt wurden (der oberste meistercoche, der underkoche). Es gab mindestens zwei von ihnen. Neben den genannten Beamten, dem Gesinde und dem Dienstpersonal der Hochmeister, die ihre Wohnkammern im »Palast« bzw. im Bereich der ersten inneren Vorburg besaßen, verfügte die Ordensleitung über stobenroucher, Feldscher-Bader und Boten, deren Wohnräume jedoch schwierig zu bestimmen sind. Andere Beamte wie der pferdemarschall, die Stallknechte (stalknechte, staljungen), Pferdeärzte (meisters pferdearzt) wohnten dort, wo sich die Ställe und Marställe befanden, d. i. im Bereich der zweiten Vorburg.55 Wie bereits erwähnt, hatte der Großkomtur sein gemach im Bereich der ersten inneren Vorburg. Die Anlage, zu der die Wohnkammern, das Zeughaus, die Infirmerie und die Wirtschaftsräume gehörten, befand sich im Ostteil des Nordflügels dieses Schlossteils. Vermutlich wurde dort auch die Briefjungenkammer (brieffiungen kamer) eingerichtet, denn zum Aufgabenbereich dieses Beamten gehörte eben die Überwachung der Briefkammer und der Boten. Ähnlich wie alle in Marienburg residierenden Würdenträger hatte der Großkomtur Ställe in der zweiten Vorburg, die von seinem Pferdemarschall verwaltet wurden. In der Umgebung des Großkomturs befanden sich auch der Kämmerer (kemerer), die Schreiber, die Mitglieder des Gesindes, Dienstleute und Knechte. Er hatte auch eigene Diener. Unbekannt ist die Lage der Wohnkammern dieser Personen. Aus dem Jahr 1439 kennen wir eine Erwähnung eines Kochs des Großkomturs, was darauf hinweist, dass es in seinem gemach auch eine Küche gab.56

Die erste äußere Vorburg In der ersten äußeren Vorburg wie auch in der zweiten Vorburg befanden sich neben den erwähnten Sakralräumen die Wirtschaftsanlagen und Werkstätten, bei denen die dafür jeweils zuständigen Beamten wohnten. Es waren häufig niedere Ämter, weswegen die sie bekleidenden Brüder in der Forschung manchmal zu der Gruppe der Sarianten gezählt wurden. Man sollte aber beachten, dass die meisten davon Ritterbrüder waren. Im Bereich der ersten äußeren Vorburg befanden sich neben der St. Nikolauskirche die alte Schnitzerei als Sitz des Schnitzmeisters auf der östlichen Seite sowie der Speicher, die Schuhmacherwerkstatt und die Sattelkammer auf der westlichen Seite. Der Schnitzmeister beaufsichtigte die Herstellung von Armbrüsten einschließlich der Sehnen und Schutzhüllen, aber auch von Pfeilen und Holzelementen der 55 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja, S. 258–262, 266–269. 56 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja, S. 270–279.

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Feuer- und Stangenwaffen. Neben den dafür tätigen Handwerkern verfügte er auch über eine Gruppe von Knechten.57 Unbekannt ist aber, ob dieser Beamte in einer (alten bzw. neuen) Schnitzerei oder gemäß einer Erwähnung von 141358 in einer der Infirmerien wohnte. Auf der Westseite dieser Vorburg befanden sich die Anlagen, die sich mit dem Ledergerben befassten. Sie wurden vom Schuhmeister (schuhmeister) verwaltet. Er beaufsichtigte die Herstellung nicht nur von Schuhen, sondern auch von anderen Ledergegenständen, wie Säcken, Gürteln und Riemen, und verwaltete den ganzen Herstellungsprozess, weswegen ihm auch die Rindenmühle (lomole) oder der Gerbehof (gerbehove) unterstand. An den Werkstätten in der Nähe des Schuhmachertores befanden sich die Sattelkammer sowie der Sitz des Schuhmeisters.59 In diesem Teil der ersten äußeren Vorburg an der Nogat wurde auch ein großer Speicher lokalisiert, in dem 1378 250 Last Getreide aufbewahrt wurden.60 Die weiteren »neuen« Speicher waren weiter nach Süden, auch an der Nogat, doch schon in der zweiten Vorburg gelegen.61

Die zweite Vorburg Das Getreide wurde auch im Dachgeschoss von St. Lorenz und in der Mälzerei im Westteil der zweiten Vorburg gelagert. Über Anschaffung und Aufbewahrung wachte der kornmeister. Die Quellen notieren auch eine Reihe anderer Aufgaben, die mit dem Amt des Hochmeisters verbunden waren, u. a. Anschaffungen für dessen Keller oder die Beaufsichtigung der Maurerarbeiten im »Palast«. Es ist unbekannt, ob dies ständige Aufgaben des Kornmeisters waren oder ob er damit nur zeitweilig beauftragt wurde. Der Beamte hatte eigene Knechte und einen eigenen Kämmerer. Er wohnte an den Speichern in der zweiten Vorburg.62 Anhand der neueren Forschungsbefunde kann man feststellen, dass die zweite Vorburg im Rahmen eines Hofsystems organisiert war und vier Anlagen bildete. Dies ergibt sich auch aus der archäologischen, doch immer noch bruchstückhaften Untersuchung. Sie erlaubt aber immerhin, die Angaben der schriftlichen Quellen zu verifizieren. Im Westen, an die Nogat angrenzend, befanden sich die Getreidespeicher. Es schlossen sich als zweite Linie die Lorenzkirche sowie die ihrer nördlichen Seite gelegene Infirmerie der Knechte/Diener 57 58 59 60 61 62

Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja, S. 466–472. AMH, S. 118. Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 463–466. MÄB, S. 115. Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 456–459, 479–482. Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja, S. 456–459.

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und die Brauerei an.63 Das dominierende Gebäude der dritten Linie war der steinhoff. Zu ihm gehörte die Gießerei (das gissehus im steynhoffe). Den Hof verwaltete der besagte steinmeister, der, wie es scheint, nur dann berufen wurde, wenn umfangreiche Bauarbeiten geplant waren. Gab es solche nicht, wurde dieser Beamte zu verschiedenen Zwecken eingesetzt, wie etwa bei der Reparatur von Schutzrüstung oder Anschaffung von frischem Fleisch. Zu seinem Personal gehörten die Kämmerer (steynkemerer), die Stellmacher (schirmechir), die Ziegler (czygilstrycher), der Schmied und andere Knechte.64 Höchstwahrscheinlich hatte in dieser Linie der Anlagen auch der Tempelmeister (tempelmeister) seinen Sitz, der für das Lebensmittellagerhaus zuständig war. Es ist ein interessantes Amt, dem in anderen Ordensschlössern in Preußen nichts entspricht. Ihm unterstanden die Lebensmittellagerräume, in denen in den Jahren 1394–1420 Salz, Heringe, Käse, gewürztes Fleisch, Schmalz, Erbse, Grütze, Säcke, Gefäße und Küchengeräte aufbewahrt wurden. Unter den ihm untergeordneten Beamten erwähnen die Quellen einen Koch. In dieser Anlage befand sich auch der Brunnen. Vielleicht bewahrte man in den von ihm verwalteten Lagerräumen Lebensmittelvorräte auf. Dieses Amt bestand vermutlich bis zu den 1430er Jahren. Ganz in der Nähe, im Mittelostteil der zweiten Vorburg, befand sich der Viehhof (vyhove). Darin residierte ein Beamter, genannt viehmeister, dem der Kämmerer, der scheffermeister, die Frauen, die in den Viehställen arbeiteten (vymeyden), ihre Aufseherin (vymuter) sowie das Dienstpersonal unterstanden. Vielleicht daneben befanden sich auch die Höfe: der Schafshof (schoffhoff) und der Schweinehof (sweynhofe).65 Die vierte Linie der Anlage verlief an der östlichen Mauer der zweiten Vorburg entlang. Dort befanden sich zwei große Gebäude: eine große Scheune und ein Wagenhaus (karwan). Der Karwansherr (karwansher), der den Karwan (und vielleicht auch die Scheune) verwaltete, ist einer der ältesten in den Quellen belegten Beamten im Marienburger Konvent (Erstnennung 1295). Zu seinem Aufgabenbereich gehörten die Überwachung von Herstellung, Aufbewahrung und Reparatur unterschiedlicher Reise- und Militärwagen (Lafetten, Kanonenschlitten) einschließlich der Herstellung von Ersatzteilen, insbesondere von Rädern. Dem Beamten unterstanden der Stellmacher, die Kämmerer, futerer, Seiler und ein Koch. Alle wohnten wahrscheinlich im karwan, und der Beamte selbst verfügte über ein daran gelegenes Gebäude. Die zweite wichtige Aufgabe des karwansheren war die Holzbesorgung für den Marienburger Konvent (es gab

63 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja, S. 80–85, 391–394, 496–499. 64 Józ´wiak/ Trupinda, Das Amt (wie Anm. 38), S. 248–250. 65 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 476–479.

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einen speziellen Holzhof – holczhof). Nördlich vom karwan befand sich eine große Scheune, es ist aber unklar, ob sie diesem Beamten zur Verfügung stand.66 Einer der wichtigsten Beamten, die in der zweiten Vorburg residierten, war der Mühlenmeister. Ihm wurden alle Getreide- und Malzmühlen im Schloss und in seiner Gegend (abgesehen von der oben erwähnten Rindenmühle) untergeordnet. Er residierte im Mühlhof (molehoffe), dessen Lage näher nicht bestimmt werden kann.67 Auf der Nord- und Nordostecke der zweiten Vorburg befanden sich Ställe. Sie lagen höchstwahrscheinlich an der Schutzmauer. Die Quellen aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts verwenden eine Reihe von Bezeichnungen, die damit in Verbindung gebracht werden können: der Briefstall (briefstal), die Gastställe (gaststelle), der Stall (stal), der Marstall (marstal), der Hochmeisterstall, der Ziegelstreicherstall (zigelstrichers stal), der Stall im Mühlhof (stal czu dem molehoffe), die Ställe im Steinhof (dy stelle im steynhofe), der Stall des Hauskomturs (des huskompthurs stal), der neue Gaststall (nuwen gaststal) im Marstall, der Stall (stal) und der Marstall (marstal) des Großkomturs, die Ställe am Schnitzturm (die stelle […] bey dem sniczthorme), der Marstall des Konvents (coventmarstalle), der Marstall des Pferdemarschalls am Turm in der Ecke (ortturm […] bym pferdemarschalk; turm bi deme marcstalle; torm bie dem marstalle den eckechten), der Stall des Tresslers (des treszelers stalle), der Stall der Gebietiger (der gebyteger stelle), der Stall des Schuhmeisters (des schumeisters stalle), der Stall der Briefpferde (bryffsweykenstalle), die Ställe am Zinshaus (stellen bey dem czinshusze) sowie der Stall des Pferdemarschalls (pferdemarschalks stalle).68 Das letzte Element, das hier in der kurzen Übersicht über die neuesten Untersuchungen dargestellt werden muss, ist die Aufnahme und Unterbringung der zahlreichen zur Marienburg kommenden Gäste. Das waren zum einen Mitglieder des Deutschen Ordens, die zum Hauptschloss wegen verschiedener Angelegenheiten kamen, beispielsweise zu den Generalkapiteln. Zum zweiten handelte es sich um zahlreiche Gäste von außen, darunter Könige und Fürsten, Magnaten, Staatsmänner, Diplomaten, Gesandten und Herolde, Musikanten, Sänger, Dichter, Hofnarren oder Pilger. Es ist nicht einfach festzustellen, wie man sich um ihre Unterbringung im Schloß gekümmert hat. Die schriftlichen Quellen setzen erst zum Ende des 14. Jahrhunderts ein. 1404 wurden die Ordensmitglieder in fünf Kammern im Nordteil des Ostflügels der ersten inneren Vorburg untergebracht. 1399 hatte man während des gewöhnlichen Kapitels in der fünften Kammer ausnahmsweise die von Namen unbekannten Litauer unter66 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja, S. 452–456. 67 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja, S. 479–482. 68 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja, S. 488–492.

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gebracht. Gewisse Gästekammern, die für Ordensbrüder vorgesehen waren, befanden sich in der Nähe der St. Annenkirche. Dies bedeutet aber nicht, dass die in Marienburg eintreffenden Ordensmitglieder ausschließlich in diesen Kammern untergebracht wurden. Falls die Zahl größer war, wurden sie über alle Vorburgen verteilt. Wir verfügen über besonders ausführliche Angaben aus der Zeit des Generalkapitels von 1404. Aufgrund der hier genannten Angaben ist erkennbar, dass die allgemeinen Generalkapitel oder jene, während deren man den Hochmeister wählte, Sonderfälle darstellten, während derer man den Gästen alle zugänglichen Räume zur Verfügung stellte. Doch unter normalen Umständen benutzte man andere Schlossanlagen oder auch Räume außerhalb der Burg. Beispielsweise wohnte der Pfarrer der dem Orden inkorporierten Pfarre von St. Johann in Thorn entweder in den Räumen der Infirmerie oder ein andermal im Wirtshaus in der Stadt.69 Die meisten Gäste, die nach Marienburg kamen, gehörten aber nicht dem Orden an. Abhängig von ihrer Stellung und Beziehung zu den Ordensrittern wurden sie entweder im Bereich der ersten äußeren Vorburg oder in der Stadt untergebracht. Die Frau des litauischen Fürsten Witold, Anna, die sich 1400 in Marienburg aufhielt, wohnte in dem sog. alten schnitzhuse (die erste äußere Vorburg). Die Mitglieder der polnischen Gesandtschaft übernachteten dagegen 1413 in der Stadt. Dies war höchstwahrscheinlich für die meisten weltlichen Gäste der Fall. Doch muss diese Frage noch weiter untersucht werden. Einige Gäste wurden immerhin im Schloss mit Mahlzeiten bewirtet.70 Infolge der in den letzten Jahren unternommenen Quellenrecherchen verfügen wir über eine Reihe von weiteren detaillierten Angaben, die in diesem Beitrag noch nicht berücksichtigt werden konnten. Wegen ihrer Einzigartigkeit, z. B. weil von anderen Forschungsergebnissen abweichen, wecken sie in vielen Fällen Zweifel und zwingen zu weiteren Untersuchungen. Das ist vor allem durch einer relativ kargen Basis an mittelalterlichen schriftlichen Quellen geschuldet. Die Marienburger Residenz der Hochmeister (als Hauptschloss) wurde beinahe 150 Jahre betrieben, weswegen der Prozess und ihre Organisationsformen, die Topografie sowie ihre räumliche Gestaltung einem Wandel unterworfen waren, der die Rekonstruktion noch komplizierter macht. Die Nutzung der Räume konnte sich ändern; infolge andauernder Baumaßnahmen und Umbauten tauchten immer wieder neue Anlagen auf. Die Aufgabenbereiche der einzelnen Beamten veränderten sich, ganz zu schweigen von der sozialpolitische Situation innerhalb des Deutschordensstaates in Preußen wie auch der äußeren Lage des 69 Jürgen Sarnowsky, Die Quellen für die angebliche Münzstätte des Deutschen Ordens auf der Marienburg in der Zeit um 1410 mit einem Nachtrag zur Edition des Treßlerbuchs, in: Zeitschrift für Ostforschung 38 (1989), H. 3, Anhang, Nr. 1, S. 337–363, hier S. 352–353, 355–356; Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 171–188, 310–321. 70 Józ´wiak/ Trupinda, Organizacja (wie Anm. 7), S. 310–321.

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Deutschen Ordens. Das alles beeinflusste offensichtlich die Lebensorganisation der größten Residenz des Spätmittelalters. Die weitere Untersuchung dazu, insbesondere im Bereich der Archäologie, wird uns ermöglichen, ein noch vollständigeres Bild zu gewinnen als wir es heute vorstellen können.

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Zur Sakraltopologie der Marienburg

Vorbemerkung Durch die restauratorischen Anstrengungen der jüngsten Zeit hat die Kirche der Marienburg wieder den Rang im Raumprogramm des Hochschlosses eingenommen, der ihr gebührt und für den sie errichtet wurde. Anders als bei den Rekonstruktionsversuchen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde nicht angestrebt, dem Besucher einen intakten mittelalterlichen Bauzustand vorzugaukeln und insofern die Geschichte des Gebäudes nach dem Auszug des Hochmeisters im Jahre 1456 unkenntlich zu machen. Vielmehr zeigt sich heute der Kirchenraum in einem Bauzustand, in dem die Liturgiereform des Concilium Tridentinum umgesetzt ist. Die für die Ordenszeit präzise belegte spätmittelalterliche Altarkonzeption und eine Reihe weiterer Elemente, die der spätmittelalterlichen Reliquienverehrung und der Eucharistieaussetzung dienten, sind zerstört oder bis zur Unkenntlichkeit verändert. Der Blick geht heute von einer Orgelbühne im Westen frei auf einen durch wenige Stufen erhöhten Volksaltar, der seinerseits in einer Linie mit dem frei einsehbaren Hochaltar steht. Ohne konkrete liturgische Funktion sind auf der Nordwand der Kirche, dem Haupteingang genau gegenüber, die Überreste des Triumphkreuzes als reines Andachtsobjekt montiert. Diese Situation ist frühbarock und mit der Liturgie des 14. und 15. Jahrhundert nicht in Deckung zu bringen, sie kann folglich nur durch nachtridentinische Eingriffe erklärt werden. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, wer sie wann vorgenommen hat. Diese Spannung zwischen Schriftquellen und archäologischem Befund soll im Folgenden thematisiert werden. Das tangiert aber nicht im Geringsten die Qualität der Baumaßnahmen der letzten Jahre. Die konservatorischen Maßnahmen erweisen sich gerade durch die Konfrontation mit den Quellen als angemessen. Der kritische, von jeder Harmonisierung ferne Vergleich von mittelalterlichen Inventaren und erhaltener Bausubstanz lässt die Unmöglichkeit, aber auch Unsinnigkeit, einer rekonstruktiven Aufhebung der Geschichte erkennen.

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Geometrische Strukturen Die Marienkirche, der der größte Teil dieser Untersuchung gewidmet ist, war der Höhepunkt eines sakralen Raumprogramms, das das gesamte von den Festungsmauern für Burg und Stadt definierte Areal einbezog. Allerdings bildete sich diese Struktur erst allmählich in einem Zeitraum von 70 Jahren heraus. Bei der Errichtung der Burg um 1280 verfügte sie zunächst nur über eine einzige Kapelle, die in architekturgeschichtlicher Wechselwirkung mit den Schwesterbauten in Elbing, Thorn, Rheden, Gollub oder Lochstedt stand. Diese Sakralräume unterschieden sich untereinander nur durch Details. So fiel in Rheden das Licht über zwei Fenster in den angeschrägten Chorwänden ein, während es in Lochstedt durch ein Mittelfenster hinter dem Altar kam, während in den Chorschrägen nur Scheinfenster saßen.1 Die Gewölbe der Kapelle auf der Marienburg waren niedriger als in der heutigen Kirche. Es gab vermutlich nur einen Altar und nur eine Sakristei, die in der Chorschräge verborgen war. Neben der Goldenen Pforte2 und den schmalen (heute teilweise vermauerten) Fenstern im westlichen Teil gehört vor allem die Westwand mit ihrer Galerie und ihren drei Nischen zu dieser Bauphase, der Vorbau mit den Wimpergen ist jedoch jünger. Wo wir das originale Mauerwerk sehen können, ist es von zahllosen Störungen, Nachbesserungen und irritierenden Unregelmäßigkeiten gezeichnet, die sich einer schlüssigen Rekonstruktion der Baumaßnahmen verweigern und zu hohem spekulativen Aufwand zwingen.3 Das zeigte sich etwa, als Szcze˛sny Skibin´ski darüber nachdachte, ob nicht im Westen der ersten Kapelle eine das ganze erste Joch füllende Empore errichtet war, die dem Vorbild der ›Capella speciosa‹ des Schlosses Klosterneuburg entsprach, und die bei der Umgestaltung abgerissen wurde.4 Skibin´ski postuliert ein unklares »höfisches« Konzept, das vor dem Einzug der Ordensadministration 1309 erklärungsbedürftig bleibt, da weder eine Aufteilung nach Geschlecht noch nach Stand für die damalige

1 Szcze˛sny Skibin´ski, Kaplica na Zamku Wysokim w Malborku (Seria historia ztuki, 14), Poznan´ 1982, S. 39–42 beschreibt eine künstlerische Fortentwicklung zwischen Lochstedt und Rheden. Vgl. zum Ganzen Tomasz Torbus, Konventsburgen im Deutschordensland Preußen, München 1998, S. 99–111, speziell zu den Kirchenfenstern die Abb. Nr. 345. 2 Bogna Jakubowska, Magiczna Przestrzen´ złotej Bramy w Malborku. Progres badawczy czy regres? Malbork 2016. 3 Johannes Matz, Untersuchungen im Hochschlosse der Marienburg, in: Zentralblatt der Bauverwaltung Bd. 2 (1882) S. 9–11, 19–22, postuliert für die erste Kapelle – anders als Steinbrecht oder Schmid – eine gerade Westwand ohne Vorbauten. Hierauf baut Skibin´ski auf, ist aber abhängig von der anzweifelbaren Auffasung Steinbrechts, nach der »West-Emporen« in Kapellen der Ordenshäuser häufig waren. 4 Skibin´ski, Kaplica (wie Anm. 1), S. 50–52 zieht als weitere Vorbilder das böhmische Zv&kov/ Klingenberg und S. 53–56 das schlesische Racibjrz/Ratibor heran.

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Burganlage erwartet werden kann.5 So reizvoll die Rekonstruktion der Burgkapelle in der Zeit der Landmeister auch sein mag, so sehr sind ihr enge Grenzen gesetzt. Das zeigt sich insbesondere in der Westwand, in der auf nicht bestimmbare Weise Elemente der beim Umbau aufgegebenen Firmarie enthalten sind.6 Mit dem Eintreffen der Ordensleitung auf Burg konnte die ursprüngliche Baukonzeption nicht mehr genügen. Es spricht viel dafür, dass dies zunächst zur Umgestaltung der bisherigen Vorburg zu einem veritablen Mittelschloss führte, in dem auch dem Hochmeister und seiner Entourage ein neuer Sakralraum zugewiesen wurde. Damit begann eine breite funktionale Ausdifferenzierung des Sakralbereichs, die einerseits neue und breiter gefächerte Bedürfnisse sowohl von Laien wie des Klerus befriedigen und andererseits die monastische Spiritualität des Ordens gegen eine lauter werdende Außenwelt abschirmen sollte.7 Hinsichtlich der Terminologie – insbesondere der Titulierung der Räume als ecclesia, capella oder oratorium – sind die Schriftzeugnisse übrigens sehr ungenau. Ohne gesicherte Kriterien wird das gleiche Gebäude bald als Kirche, bald als Kapelle bezeichnet, lediglich die Abstufung zum Oratorium wird vorsichtiger verwendet.8 In den päpstlichen Bullen zugunsten der Kirche im Hochschloss findet sich meist der Ausdruck capella, Johannes XXIII. setzt aber schließlich ecclesia sive Capella Castri Marienburg.9 Mit dem Kirchenrecht wie dem mystischen Sprachgebrauch haben solche Begriffe nur gemein, dass sie Identifika-

5 Emporen in höfischen Kapellen dienten entweder der Separierung der Familia des Herrschers oder (wie schon in der Hagia Sophia) einer Geschlechtertrennung. In Frauenkonventen besuchten die Nonnen die Kirche nicht in einem geosteten Mönchschor, sondern in Seitenschiffen oder eben einer Westempore, damit sie »durch die erhöhte Lage und durch einfache Schranken abgegrenzt und vor Blicken geschützt« wurden. Vgl. Monika Schmelzer, Der mittelalterliche Lettner im deutschsprachigen Raum. Typologie und Funktion (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 33), Petersberg 2004, S. 152. 6 Kasimierz Pospieszny, Domus Malbork. Zamek krzyz˙acki w typie regularnym (Monografie UMK), Torun´ 2014, S. 78–87 geht solchen Spuren nach, insbesondere einer später aufgegebenen Firmariekapelle, doch reichen die erhaltenen Spuren einfach nicht aus, um so weit tragende Überlegungen zu stützen. 7 Skibin´ski, Kaplica (wie Anm. 1), S. 211 scheint eher an eine Hierarchisierung der Sakrallandschaft zu denken, ihm folgt Cordelia Heß: Marienverehrung im spätmittelalterlichen Preußen, in: Stefan Samerski (Hg.), Die cura animarum im Ordensland Preußen, Köln 2013, S. 185–199, hier S. 190. 8 Die Prusen fielen ins Ordensgebiet ein, ecclesias, capellas et oratoria dei comburentes, sacramenta ecclesie irreverenter tractantes, vestes sacras et vasa ad illicitos usus pertrahentes, sacerdotes et ministros alios ecclesie miserabiliter trucidabant (Chronik des Peter von Dusburg, SRP 1,99f.) Ähnlich ein wenig später: in duabus hiis pugnis Pruthenorum magna facta fuit verecundia maginibus sanctorum ab iis, vestibus sacris et aliis ad cultum dei dicatis et ecclesie sacramentis (SRP 1,121) oder präziser : ecclesias parochiales xxx et capellas cum multis oratoriis, ad laudem dei dedicatas, rapina et incendio devastavit (SRP 1,191). 9 Vgl. Anm. 275.

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tionsorte10 des monastischen Lebens ansprechen wollen, wie die Ordensbrüder bei Peter von Dusburg einem Prusen erklären: Sambite post edificacionem castri de Balga curiosius exquirentes fratrum condicionem et statum volentes plenius experiri, miserunt unum de senioribus suis versus Balgam, quem fratres cognita causa itineris sui gratanter susceperunt, omnia facta sua in refectorio, dormitorio et ecclesia11 ei ostendentes. Qui cum haberet plenam de statu fratrum noticiam, reversus ad Sambitas ait : scitote, quod fratres sunt homines sicut et nos; habent laxos et molles ventres, sicut nos videtis habere; in armis, cibis, et aliis satis conveniunt nobiscum, sed in hoc differunt a nobis; habent enim unum opus in consuetudine, quod sine dubio destruet nos. Ipsi singulis noctibus surgunt de stratu suo, et conveniunt in oratorio, et in die pluries, et exhibent reverenciam deo suo, quod nos non facimus. (SRP 1,7012)

Insofern ist es modernem Empfinden zu schulden, wenn man den Umbau der Marienburg im 14. Jahrhundert mit einer kirchenrechtlich relevanten Verwandlung einer Burgkapelle in eine Kirche assoziiert. Statt eines zentralen und allgemeinen offenen Kirchengebäudes wie es eine Dom-, Kollegiats- oder Pfarrkirche darstellt, strebte man auf der Marienburg eher eine funktionale Aufgliederung an. Es entstanden nach und nach sieben in Funktion und Zielgruppen verschiedene Sakralräume. Sie verteilen sich makrokosmisch über das gesamte Burggelände: Zwei finden sich im Hochschloss, zwei im Mittelschloss und drei in der Vorburg. Mikrokosmisch wurde die Kapelle des Hochschlosses zu einem Komplex von mehreren Räumen mit annähernd gleicher Grundfläche ausgebaut: Annenkapelle, Chor- und Konventskirche. Vorgelagert war der als ›Kapitelsaal‹ bekannte Remter, der bei annähernd gleicher Länge die westliche Hälfte des Nordflügels des Hochschlosses einnimmt, und im Ostflügel, der neue 10 Nikolaus von Jeroschin spricht von capellin, rebbintÞre, … sl.fh0se (9849f.), übersetzt also Peters in ecclesia mit ›in der Kapelle‹, während V. 9866 Peters in oratorio wörtlich mit in ir beth0s wiedergegeben wird. Die mittelalterlichen Quellen richten sich nicht nach einer strengen Terminologie, im Allgemeinen gilt aber bereits die bei von Balthasar Fischer, Messe. Vii. Kirchenrechtlich, in: Josef Höfer und Karl Rahner (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 2Freiburg, Bd. 7, Sp. 329–331, hier Sp. 330 getroffene Unterscheidung: »Ordentliche Stätte der Messfeier ist eine konsekrierte oder benefizierte Kirche (…) sowie eine öffentliche oder halb-öffentliche Kapelle (…). In einem Oratorium darf im allgemeinen nur mit Indult des Hl. Stuhls zelebriert werden.« 11 Diese Nennung von Räumlichkeiten ist keineswegs zufällig, sondern entspricht einer monastischen Formel: Berthold von Regensburg beschreibt, wie eine Taube fluic mit in zer mett%n mit den brüedern unde vaste alle tage unde fliuc mit den anderen tiubel%nen ouch 0z und %n, die kiusche sint, zuo den siben gez%ten unde von dem kire in den reventer und 0z dem reventer in daz slafh0s. Vgl. Berthold von Regensburg, Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Einleitungen und Anmerkungen. 2 Bde., hg. von Franz Pfeiffer und Joseph Strobl, Wien 1862, hier 1, S. 137f. 12 Nikolaus von Jeroschin, in SRP 1 (1861), V. 9844–9873; er spricht von capellin, rebbintÞre, … sl.fh0se (9849f.), übersetzt also ecclesia mit ›Kapelle‹, während V. 9866 in oratorio mit in ir beth0s wiedergegeben wird.

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Glockenturm, über den die Schlafräume der Brüder erreichbar waren. Im Nordflügel wurden die nur schwer rekonstruierbaren Zwischenräume zum ›Kapitelsaal‹ weitgehend eliminiert. Es verblieben aber kleine Kammern wie die Büßerzellen und die Kammer hinter dem Ziborium sowie die Galerie darüber und der durch eine Steigleiter von dort wie über eine Treppe vom Speicher über dem ›Kapitelsaal‹ zugängliche Alkoven im Gewölbe, der zumindest in barocker Zeit mit einer Orgel gefüllt wurde.

Abb. 1: Verteilung der Raumkörper auf die Burganlage.

Die spirituellen Sammelpunkte der zur Hochmeisterresidenz erweiterten Marienburg sind keineswegs planlos über das Burgelände verteilt. Wir beobachten eine symmetrische Gesamtanlage mit dem Hausgraben vor der Marienkirche und dem ›Kapitelsaal‹ als Spiegelachse, die wohl nur insoweit theologisch zu verstehen ist als darin die allgemeine Verbindung von Geometrie und Schöpfung ihren Ausdruck findet, wie sie zur gleichen Zeit auch in der Konrad von Jungingen gewidmeten ›Geometria Culmensis‹13 gelehrt wird. Die Vorburg im Norden hat eine ähnliche Größenordnung wie die Stadt auf der anderen Seite der Burganlage.14 Gemeinsam bilden sie zwei Flügel zu den durch Wehranlagen verbundenen Komplex von Hoch- und Mittelschloss, der nicht nur die Mitte 13 Geometria Culmensis. Ein agronomischer Tractat aus der Zeit des Hochmeisters Conrad von Jungingen, hg. von H. Menthal (Publikationen des Vereins für Geschichte von Ost- und Westpreußen), Leipzig, 1886. Zum Text und seinen Quellen vgl. Menso Folkerts, Geometria Culmensis, in: Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters, 2München, Bd. 2 (1980), Sp. 1194f. und 11 (2004), Sp. 515. 14 So schon Skibin´ski, Kaplica (wie Anm. 1), S. 199, der eine heilsgeschichtliche Folie zugrunde legt.

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einnimmt, sondern auch viel höher und massiver gebaut ist. Die Pfarrkirche der Stadt – St. Johann – und die Kapelle der Vorburg – St. Lorenz – liegen fast spiegelsymmetrisch unmittelbar an den Außenmauern von Hoch- bzw. Mittelschloss. Unmittelbar an der Symmetrieachse haben wir auf der südlichen Kante die Marienkirche und ihr gegenüber auf der nördlichen St. Bartholomäus. Die kleinen Kapellen von St. Nikolaus und die Hochmeisterkapelle sind auf beiden Seiten der Achse nach Norden bzw. Süden versetzt. Und schließlich wurden der Hochmeisterpalast und der Chor der Marienkirche um den Mittelpunkt des Hausgrabens angeordnet, diesmal jedoch punktsymmetrisch. Wie die Fensterfront des Palastes den einzigen vorspringenden Gebäudeteil der Westseite bildet und das Abendlicht einfängt, so springt Chor der Marienkirche gegen Sonnenaufgang aus der Festungsmauer heraus. Das bewirkt, dass bei einer Annäherung von Westen, also der Nogatseite, sich das Ensemble auf den Hochmeisterpalast hin ordnet, von der Ostseite aber auf die Marienkirche. Wenn auch die Funktionen dieser Sakralräume grundsätzlich unterschiedlich waren, so gab es doch ein verbindendes soziales Element. Sämtliche auf der Burg wirkenden Kleriker, auch die den kleineren Kapellen zugeordneten Priester und Diakone, unterlagen dem Stundengebet und der Pflicht zur täglichen Lesung einer Messe. Beidem konnten sie zwar auch durch Privatmessen (misse solitarie)15 und Einzelgebet nachkommen, aber das gemeinsame Abhalten der Horen wurde von Seiten der Amtskirche bevorzugt. So konnten sie sich alle zu den Horen in die Hauptkirche begeben, wo sie den Kreis der dort angesiedelten Kleriker verstärkten. Dies war der funktionale Hauptzweck des Kapellenumbaus, der neben der Erhöhung der Gewölbe vor allem den Anbau einer veritablen Chorhalle bedeutete.

Sakralstätten für Ordensfremde Die Erhebung der Burg zur Residenz der Ordensleitung und damit des Landesherrn bedeutete nicht nur, dass sich fortan viel mehr Menschen in der Burg aufhielten, sondern auch eine qualitative Veränderung in der Zusammensetzung sowohl der ständigen Bewohner wie der Gäste. Von letzteren gehörte ein hoher Anteil (vielleicht sogar die Mehrheit) nicht dem Orden an. Auch die Zahl der Personen in den ökonomischen Betrieben stieg, von denen einige vielleicht Halbbrüder, die meisten aber wahrscheinlich keine Angehörigen des Ordens 15 Joseph Andreas Jungmann: Missarum sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. Bd. 1. Messe im Wandel der Jahrhunderte, Messe und kirchliche Gemeinschaft, Vormesse, Wien 1948, S. 269–294, zu kirchenrechtlichen Versuchen vor allem des 13. Jh., die Privatmessen einzudämmen ebd. S. 285–289.

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waren. Bei den Gästen erhöhte sich signifikant der soziale Status. Es kamen zum Beispiel fremde Priester oder Mönche, die – allgemeinem monastischen Usus entsprechend – am Chorgebet im Hochschloss teilnehmen wollten (MÄB 127,24f). Für Laien, die nicht dem Orden angehörten, aber Zugang zu Vorburg oder Mittelschloss hatten, wurde ein sozial gestaffeltes System geschaffen, das sie zum einen vom Sakralleben des Ordens abtrennte, zum anderen aber ihrem spirituellen Bedürfnissen und ihrem sozialen Status Rechnung trug. Es entsprach der Logik der gemeinsamen Verteidigungsanlage, dass hierin auch die Stadt Marienburg und ihre Bürger einbezogen wurden. Ihre im äußersten Norden gelegene Pfarre St. Johann gehört nicht zur Burganlage, steht ihr aber näher als alle anderen Gebäude der Stadt, in deren Zentrum nicht die Pfarrkirche, sondern das Rathaus und das Hl. Geist-Spital standen, während nach Süden hin das Fehertor oder ›äußere Marientor‹ mit einer angebauten Kapelle und einem als wundertätig verehrten Marienbild den Abschluss bildete.16 Obschon in der Ausstattung keineswegs ärmlich, drückte sich das St. Johann der Ordenszeit (der heutige Bau entstand erst nach dem Zweiten Thorner Frieden) mit einem niedrigen Turm vor den hier schmucklosen und besonders martialischen Mauern des Hochschlosses. Es zeigte sich darin das Misstrauen des Ordens – nichts durfte so hoch gebaut sein, dass man in die Burg hineinschießen konnte. Gleichwohl nutzte der Orden die Stadt für sakrale Inszenierungen, die sich an die Eliten seiner Herrschaftsgebiete richteten. So geschah es etwa, als man nach ihrer Taufe die beiden Söhne des Litauerfürsten Kynstute/ Keistutas17 in einer Art Triumphzug durch die Stadt Marienburg geleitete.18 Wenig später errichtete man in den Lauben oder am Markt – die Quellen sprechen nur von einem freien Platz in Marienburg – einen hölzernen Altar19 unter freiem Himmel und ließ tagtäglich einen Ordenspriester für den Sieg über die Litauer und für die Unterwerfung Samaitens beten. Ein weiteres Beispiel gibt die ›Ältere Hochmeisterchronik‹ nach der Schlacht bei Konitz (1454): Also lyesz man auff dem hawsze unnd inn der statt in der nacht mit allen glocken lewten unnd ›Te deum laudamus‹ syngenn und got dem herrenn danck sagen. (SSrPr 3,680)

16 Wiesław Długoke˛ cki: Elita władzy miasta Malborka w s´redniowiesczu, Malbork 2004, S. 78f. Zur Marienkapelle und dem zur Jesuitenzeit in der Burg aufgestellten Bildnis vgl. Johannes Voigt, Geschichte Marienburgs, der Stadt und des Haupthauses des deutschen Ritter-Ordens in Preußen, Königsberg 1824, S. 569–572 Nr. XXVII sowie die Beiträge von Stefan Samerski und Wojciech Zawadzki in diesem Band. 17 William Urban, The Samogitian crusade, Chicago 1989, S. 200–202; Manfred Hellmann, Das Großfürstentum Litauen bis 1569, in: Handbuch der Geschichte Russlands 1 (1981), S. 717–851, hier S. 739–741. 18 Die Taufstätte ist nicht überliefert. Doch ging der Zug zweifellos von St. Johann über den Markt und die hohen und niederen Lauben am Rathaus vorbei oder anders herum. 19 Dieser wird auch in den Inventaren erwähnt.

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Solche Inszenierungen sollten über die städtische Bürgerschaft ins Land wirken. Ganz anders war es um das topologisches Pendant der Stadtkirche bestellt, das um 1358 in der Vorburg errichtet wurde: Die die dem Gartenamt unterstellte St. Lorenzkapelle wurde als Spital- und Bruderschaftskirche20 betrieben. Sie war an ein selbstverwaltetes Spital gebunden.21 Am 2. März 1358 wurde in Avignon im Namen einer Reihe von Bischöfen ein Ablass über 40 Tage ausgestellt für alle, die die capella sancti Laurentii in castro Marienburg besuchen und den Kranken Almosen spenden und testamentarisch bedenken.22 Bemerkenswert ist dabei die sicher nicht zufällige Liste von Festen im Jahreskreis, an denen der Ablass gelten soll. Neben kirchlichen Hauptfesten und den Marienfesten sind das Kreuzauffindung und -erhöhung, St. Michael und Laurentius, Stephanus, Georg, die 10.000 Ritter, Clemens, Martin, Leonhard, Nicolaus, Augustinus, Franciscus, Dominicus und »andere heilige Märtyterer« sowie die Heiligen Jungfrauen Maria Magdalena, Katharina, Margarethe, Christina, Lucia, Barbara, Gertrud, die 11.000 Jungfrauen. Hier liegt also keineswegs das Kalendarium der Deutschordensnotula zugrunde. Um in den Genuss des Ablasses zu kommen, hat man causa devocionis et oracionis aut peregrinacionis (d. h. mit dem Ziel der Anbetung und des Pilgerns) seu missis, predicationibus matutinis, vesperis aut aliis quibuscunque divinis officiis ibidem zu besuchen – was bei aller Pauschalität Rückschlüsse auf das liturgische Leben in der Kirche ermöglicht. Dabei sei das Knie vor dem Namen des Herrn und seiner Mutter zu beugen, vel corpus cristi levatur (also die erhobene Eucharistie) oder aber vor dem in der Kapelle aufbewahrten Partikel vom Heiligen Kreuz (lignum sancte crucis in eadem capella existens). Darüber erfahren wir nur in dieser Ablassurkunde, die Inventare wissen nichts von einer Staurothek. Die Kirche wurde von einer »Bruderschaft der Diener der Hl. Jungfrau« getragen, die ihren Hauptbrief von Konrad von Jungingen erhielt, aber indirekt vom Deutschen Orden abhängig war.23 Für die Ausstattung des Friedhofs erhielt

20 Klaus Militzer, Die verzögerten Wirkungen der Bruderschaften im Osten im Mittelalter, in: Stefan Samerski (Hg.), Die cura animarum im Ordensland Preußen, Köln 2013, S. 217–226. 21 Der Kirche waren ein Pleban und ein Glöckner zugeordnet (MTB 358,24; AMH 289,32 und 309,30 u. ö.) sowie ein Vikar (MTB 16,13; 529,5), der in späterer Zeit zusammen mit dem Vikar von St. Anna im Haus des Dietrich von Logendorf am Marienburger Stadtgraben residierte, vgl. Voigt, Geschichte Marienburgs (wie Anm. 16), S. 545–548 Nr. XIII. Ein der Kapelle zugehöriger Schüler richtete Bucheinbände (MTB 96,33f.) Die Bruderschaft wird ausdrücklich als Eigentümerin von zwei Monstranzen in St. Lorenz benannt (MÄB 149,27). 22 Klaus Conrad (Hg.), Preußisches Urkundenbuch 5. 1352–1391, Marburg 1969–1975, S. 354f. Nr. 633. Der vollständige Text bei Voigt, Geschichte Marienburgs (wie Anm. (wie Anm. 16), S. 536f. Nr. VII. 23 Der Hauptbrief weist die Bruderschaft als Stiftung von Mitgliedern des Deutschen Ordens aus, so dass insbesondere die Priester und Vikare in den Kirchen der Bruderschaften Ordensmitglieder waren. Vgl. Johannes Voigt: Geschichte der Eidechsen-Gesellschaft in

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die Bruderschaft Geld vom Kompan des Hochmeisters (MTB 274,40). Der zugehörige St.-Lorenz Friedhof bestand bis ins 18. Jahrhundert. Die Bruderschaft stand den Knechten und Arbeitern in der Landwirtschaft, den Ställen und dem Handwerk offen und bot ihnen eine ganzheitliche Sozialfürsorge, machte aber auch jeden sozialen Ausbruch unmöglich. Dieser Personenkreis genoss keine Stadtfreiheit und war gänzlich vom Orden abhängig, ohne eine Teilkörperschaft zu sein. Anders als in der Hauptkirche waren hier bei den Andachten und liturgischen Handlungen ständig Männer und Frauen anwesend. Man darf annehmen, dass die Holzbühne an der Südwand und die vergitterten Empore längs der Westwand den Frauen zugewiesen wurde, auch wenn der heutige Zustand nicht zwingend der ordenszeitliche war, da ja die Kirche bis in die Barockzeit in Nutzung blieb. Als Hinweis auf die hier betreute condicio humana darf gelten, dass für Bestattungen ein lichtuch vorgehalten wurde (MÄB 148,12 = 149,24). Für die Zelebranten standen vier Ornate zur Auswahl, ein weiterer wurde 1416 zusammen mit einem Kelch an den Pfleger in Montau ausgeliehen (MÄB 148,9), der vermutlich infolge von Kriegswirren ohne Ausstattung war. 1430 ist von ihnen keine Rede mehr. Die Kapelle verfügte über eine Besonderheit: item 1 bochsze czu synte Lurencz, die henget an der sawle vor des meisters stule (MÄB 147,33f.). Es handelt sich um eine Bochze/buchse, d. h. eine Pyxis (lat. Capsa oder Viaticum), in der die geweihten Hostien aufbewahrt und verehrt wurden. Sie wurde »vermittelst einer Kette zum Aufziehen und Herablassen an einer Säule angebracht und gestaltete sich schon vor der Einführung des Fronleichnamsfestes24 zu einer Art Expositio, in welcher allerdings nur das h[eilige] Ciboriums-Gefäss, nicht die h[eilige] Hostie selber sichtbar war.«25 Bemerkenswert ist die Ortsangabe. Man könnte bei oberflächlichem Lesen meinen, es handle sich um eine einen für den Hochmeister reservierten Sitz, wo nicht Thron.26 Aber vor diesem stul steht die Sakramentssäule, die entweder den Blick Preußen aus neuaufgefundenen Quellen dargestellt (Beiträge zur Kunde Preußens 5), Königsberg 1823, S. 187–189. Er vermutet eine Verbindung zur Annen-Bruderschaft. 24 Diese geschah im Jahre 1264 durch Papst Urban IV. 25 Johann Kreuser, [Rezension von] Studien über die Geschichte des christlichen Altars von Fr. Laib und Fr. Joseph Schwarz (…) Stuttgart 1857, in: Mittheilungen der kaiserl. königl. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 3 (1858), S. 137–139, hier S. 138. In dem rezensierten Werk selbst wird S. 59 auf eine entsprechende Säule in der Kathedrale von Arras verwiesen. 26 Im barocken Zeremoniell des Johanniterordens finden wir tatsächlich einen thronartigen »Herren-Meister Stuhl«: »Wenn solches geschehen, gehen die Herren Commendatores, die jüngsten die ersten, zween und zween voran aus der Sacristey zur rechten Hand die Treppe herunter vom Altan, und gehen zu des Herrn-Meisters Stuhl (der in der Mitten des Altans gesetzet), bald zur rechten Hand wieder hinauff«, Johann Christian Lünig, Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum Oder Historisch- und Politischer Schau-Platz Aller Ceremonien welche so wohl an Europäischen Höfen, als auch sonsten bey vielen Illustren Fällen beobachtet worden, ander Theil, Leipzig 1720, S. 1098; ähnlich Johann Christoph Becman,

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des Hochmeisters auf den Altar oder die Sichtbarkeit des Hochmeisters für die Gemeinde einschränkte – also so oder so dem Zweck eines Hochstuhls zuwiderlief. In Übereinstimmung mit dem päpstlichen Ablass diente die Einrichtung wohl der Verehrung der in der bochsze ausgestellten Eucharistie, es handelte sich also um einen Betstuhl.27 Man betrat die Lorenz-Kirche wie auch heute noch von Osten her, d. h. der Altar ist nach Norden ausgerichtet. Das gilt ebenso für die dem Glockmeister unterstellte St. Barbara-Kapelle, die der der Lorenzkapelle als westliche Seitenkapelle beigegeben ist. Sie wurde wohl erst 1413 eingerichtet und diente zur Aufbewahrung des Kopfreliquiars der Hl. Barbara, das zuvor (ab 1242) in Althaus-Kulm gezeigt wurde28 und nunmehr vor den Wirren des Krieges in Sicherheit gebracht werden sollte.29 Die Kapelle verfügte im Gegensatz zu St. Lorenz über kostbare Priestergewänder und Stoffe für die Altarverkleidung; der Messkelch war aus vergoldetem Silber. Dennoch blieb es eine sehr schmale Ausstattung, von der nicht recht auf die Funktion und das Klientel der Kapelle geschlossen werden kann. 1442 richtete Ludwig von Erlichshausen dort eine neue Vikarie ein und beauftragte die Bruderschaft von St. Lorenz mit der Betreuung des Barbara-Altares.30 Einer sozial problematischen Klientel war die (heute nicht mehr vorhandene) St. Nikolaus-Kapelle an der Nogatbrücke oberhalb des Brückentores gewidmet. Hier hatte man wegen der Nähe zum Hafen31 eine Einrichtung in den Schutz der Burgmauern genommen, die anderswo städtisch war : Die Weichselfahrer. Diese Berufsgruppe wurde von den Städten mit Zustimmung des Hochmeisters kontrolliert und reguliert.32 Sie bildete eine von Älterleuten geleitete selbständige Körperschaft33, deren Dienste unerlässlich waren, deren Angehörige aber den-

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Beschreibung des ritterlichen Johanniter-Orden und dessen absonderlicher Beschaffenheit im Herrn-Meisterthum, in der Marck, Sachsen, Pommern und Wendland … vermehrt von Justus Christoph Dithmar, Franckfurth an der Oder 1726, S. 260. Ein einfacher Betstuhl wird MTB 15,25f. als veniebank mit den pulten in des meisters capellen beschrieben. Bei Peter von Dusburg: Post hec frater Theodericus, quibusdam fratribus et armigeris ad dicti castri custodiam ordinatis, cum paucis reversus, has sanctas reliquias versus Colmen duxit, ubi clerus et populus cum solenni processione occurrens eas ad ecclesiam portaverunt, et ad castrum antiquum posuerunt, ubi usque in presentem diem propter crebra miracula, que per eam dominus operatur, m veneracione assidua requiescunt (SRP 1,70). Długoke˛ cki, Elita władzy (wie Anm. 16), S. 95. Voigt, Geschichte Marienburgs (wie Anm. 16), S. 548f. Nr. XIV. Robert Domizal, Mittelalterliche Häfen, Schiffahrt und Schiffer von Marienburg (Malbork), in: Deutsches Schiffahrtsarchiv 26 (2006), S. 115–136. Franz Schultz, Geschichte der Stadt und des Kreises Kulm. 1. Bis zum Jahre 1479, Danzig 1876, S. 261–265; Carl August Lückerath, Friedrich Benninghoven (Hg.), Das Kulmer Gerichtsbuch 1330–1430. Liber memoriarum Colmensis civitatis (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 44), Köln-Weimar-Wien 1999, S. 155–156. Ernst Daenell, Die Blütezeit der deutschen Hanse. Bd. 1. Hansische Geschichte von der

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noch nicht unbedingt gerne gesehen waren. Länger als drei Tage durften sie sich nirgends aufhalten, verloren sie ihr Schiff oder ihre Ladung, drohten ihnen schwere Strafen. Sie versorgten auch die Residenz, etwa indem sie Auerochsen transportieren (MTB 541,31–40). Die Stadträte stellten andernorts – etwa in Elbing – eine Kapelle für die Weichselfahrer, die stets dem Hl. Nikolaus geweiht war.34 Damit hielt man sie aber auch von den Kulthandlungen der städtischen Bürger fern. In Marienburg wurden die rauen Gesellen durch die Lage der Kapelle in der Nähe des Nikolaustores zwischen Fluss und Befestigungsmauern vom Leben innerhalb der Burg abgeschirmt. Die Ausstattung, die der Glockmeister St. Nikolaus gewährte, ist extrem dürftig.35 Sie reichte für nicht mehr als eine tägliche Messe mit abschließendem Segen für die Schiffleute und ihre Boote. 1416/17 wurde die Kapelle auf Kosten des Hauskomturs an Mauerwerk und Dach erneuert (AMH 239,10; 275,6). Für die weltlichen Gäste des Schlosses – Fürsten, Gesandte oder Händler – wurde am Hausgraben gegenüber der Schlosskirche am südlichen Ende des Mittelschlosses die Bartholomäus-Kapelle errichtet. Bei ihrer Ersterwähnung im Marienburger Ämterbuch 1394 ist sie bereits voll ausgestattet. Ihre kostbarsten Schätze waren das 1437 erstmals erwähnte hölzerne Bildnis des Hl. Georg »mit Heiligtum«, also einer Reliquie (MÄB 130, 29), und die schon 1394 genannte Holztafel mit Heiligetume (MÄB 124,28 f, 130,29f.). 1403 erhielt der unermüdliche Marienburger Handwerker Peter Moler eine Mark vor den knof und fanen uf sent Bartholomen kirchen zu vorgolden (MTB 216,17 f). Die westliche Innenwand trägt ein monumentales Christophorus-Bild. Drei Monstranzen (MÄB 130,28) verstärken den Eindruck, dass die Kapelle vor allem der eucharistischen Anbetung diente und weniger der öffentlichen Messfeier. Unklar ist, wo die Vornehmen und Hofdamen, Juristen und Schreiber im Gefolge von adligen Besuchern der sonntäglichen Messe beiwohnten; St. Bartholomäus war zweiten Hälfte des vierzehnten bis zum letzten Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts, 3Berlin 2001 (Erstausg. 1905), S. 449f. Weitere Nachweise bei Cordelia Heß, Schuldbücher und Rechnungen der Grossschäffer und Lieger des Deutschen Ordens in Preußen. Bd 1. Großschäfferei Königsberg I (Ordensfoliant 141) (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 62,1), Köln [u. a.] 2008, S. 416 (Register). 34 Als Drei-Königs-Altar beschrieben bei G. Döring, Versuch einer Geschichte und Beschreibung der evangelischen Hauptkirche zu St. Marien in Elbing. Eine Festschrift, veranlaßt durch die 6. Sa¨ cularfeier der Kirche, nebst Festpredigt des ersten Predigers zu St. Marien (…) Herrn D.F. Rittersdorff, Elbing 1846, S. 42. Max Toeppen, Elbinger Antiquitäten: Ein Beitrag zur Geschichte des städtischen Lebens im Mittelalter, Band 2, Danzig 1872, S. 118 spricht von Seelgeräten in der Dominikanerkirche St. Marien ab 1390 und von einer »Mitbrüderschaft« der Elbinger Weichselfahrer im Predigerorden ab 1444. 35 Vgl. MÄB 130,34–39: Ein Kelch, ein kleines Kreuz, eine kleine Monstranz, ein Corporale, ein Missale und zwei Sexternionen mit dem Nikolaus-Offizium, je zwei Leuchter aus Eisen und Zinn, zwei Messgewänder, ein Kissen für das Kreuz, ein Aspergill und zwei Ampullen für die Krankensalbung.

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dafür doch wohl zu klein. Wurden sie in der Stadt untergebracht? Unter welchen Bedingungen war ein Besuch der Schlosskirche möglich? Hier ist weitere Quellenarbeit wünschenswert. Illustre Gäste lud der Hochmeister in seine Privatkapelle. Sie wurde im Anschluss an seine Gemächer im Westflügel des Mittelschlosses errichtet, liegt also St. Bartholomäus gegenüber. Bekannt sind Besuche der litauischen Großfürstin und Gemahlin Witolds am 18. 7. 1400, vor der auch die Sängerknaben auftraten (MTB 80,41), und der dänischen Königin vier Tage später, für die ein fedeler, der do fedelte undir der messe vor der konigynne in des meisters capellen, engagiert wurde (22. 7. 1400, MTB 81,15). Das Patrozinium der Kapelle ist nicht belegt, in der modernen Literatur wird aber mehrheitlich die Hl. Katharina genannt.36 Da die Kapelle funktional von der Anwesenheit des Hochmeisters auf der Burg abhängig ist, kann ein früher Baubeginn ausgeschlossen werden. Eine Neukonzeption ist für die Berichtsjahre des Tresslerbuches zu erkennen: 1399 wurde die Kapelle neu gestrichen (MTB 5,7) und überhaupt ausgebaut (MTB 8,19) und gänzlich neu ausgestattet.37 Bemerkenswert ist, wie man 1406 die gemolten heiligen besserte in unsers homeisters capelle, die die affen abegebrachen hatten (MTB 407,15 f). Der Dienst am Altar wurde vom Kaplan des Hochmeisters versehen, der aber auch im Hochschloss Messen las. Neben einer Orgel wurde eine veniebank mit den pulten in des meisters capellen (MTB 15,25f.) eingerichtet. Ein anonymer Besucher aus der Mitte des 19. Jahrhunderts beschreibt sie als »einen mächtig großen, zierlich geschnitzten Kirchstuhl an der Seitenwand, als des Meisters Stuhl.«38 Sie ging während des Rückbaus der Kapelle im späten 19. Jahrhundert verloren.

36 Vermutlich St. Katharina, spätere Quellen sprechen von St. Ursula, vgl. Heinrich Knapp, Das Schloss Marienburg in Preussen. Quellen und Materialien zur Baugeschichte nach 1456, Lüneburg 1990, S. 16 und 25. – Zur Baugeschichte dieser Kapelle vgl. den Beitrag von Christopher Herrmann in diesem Band. 37 Wir hören von Zahlungen an den Kaplan des Hochmeisters vor ander gerethe, das her Arnoldt vorbuwet hatte in des meisters capellen (MTB 15,32 f). 1400 gibt es ein neues Bernsteinbild mit Sakrament (MTB 73,31) und einen neuen Leuchter für den Altar (MTB 81,4), 1401 ein neues Brevier (MTB 97,7–12). 1402/03 ein Kreuz und neue Wandgemälde (MTB 158,40–159,2; 216,12). Ein weiteres Kreuz folgte 1404 (MTB 318,35), eine Orgel 1405 (MTB 342,31). Die Schüler des Konventes traten hier öfter auf (MTB 179,29; 180,5; 338,19; 383,19). 1409 wurden die Fenster hier und in der Marienkirche ausgebessert (MTB 579,29). 38 Von Dirschau nach Marienburg. Beschreibung der Weichsel- und Nogatbru¨cken und des Schlosses Marienburg, 2Danzig 1862, S. 51. Der Stuhl ist auf einer der 12 Lithographien von A. Rahnke nach 1831/32 entstandenen Zeichnungen von J. Hoorn zu sehen, publiziert in: A. Rahnke, Das Schloss Marienburg, Elbing 1833.

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Eine neue Elite Die Vielzahl von Kultstätten verteilte die auf der Marienburg anwesenden Personen insbesondere an Hochfesten in kalkulierte Ströme. Eine präzise Organisation musste dafür sorgen, dass sich Brüder und Verwaltungspersonal, Gäste, Knechte und Mägde nicht auf dem Weg zur Messe oder gar bei Prozessionen behinderten, dass das Glockengeläut je nach Bedarf durch eine Läuteordnung synchron oder sukzessive gehalten wurde. Es versteht sich, dass dabei der inneren Ordnung des Ordens unter Einbeziehung seiner verschiedenen Mitgliedsgruppen und seiner Leitung ein Vorrang eingeräumt wurde. Ganz offenkundig sollte eine Manifestation der spirituellen Leuchtkraft und des geistigen Führungsanspruchs des Ordens geschaffen werden. Dadurch ergab sich auch eine Aufwertung der Priesterbrüder auf der Marienburg, die nunmehr zur Leistungselite des Ordens zählten. Wie der Ausbau der alten Vorburg zum Mittelschloss dem laikalen Element des Ordens zu einer repräsentativen Residenz verhalf, so wurde bei Ausbau des Hochschlosses dem klerikalen Element Rechnung getragen. Davon zeugte das neugeschaffene und weithin sichtbare Ensemble von Glocken- und Pfaffenturm, zwischen denen die Marienfigur auf dem polygonalem Chorabschluss der Schlosskapelle aufragte. Dieser Chorabschluss ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil er vom in Preußen vorherrschenden Bautypus mit geradem Chor abweicht und damit an die Krakauer Marienkirche oder die Pariser Sainte-Chapelle anzuknüpfen scheint, sondern weil mit seiner Errichtung der bisherigen konventionellen Burgkapelle ein Presbyterium beigegeben wurde, eine Halle für das gemeinsame lateinische Chorgebet nach der Ordensnotula. Das gab es in Preußen, wo faktisch keine Kollegiatskirchen existierten, sonst nur in den Domkirchen von Kulmensee, Königsberg und Marienwerder. Der Grund liegt in einer massiv veränderten Zusammensetzung des Marienburger Konventes. Zu der einfachen Konventsstärke an Ritterbrüdern und Graumäntlern mit vielleicht einem Priesterbruder kam die gesamte Entourage des Hochmeisters und der Gebietiger hinzu. Folgenreich war der damit verbundene Anstieg der Zahl der Priesterbrüder. Die in der Forschung als Standard angenommene Situation, dass sich Priester- und Ritterbrüder in einem gemeinsamen Kirchenraum versammeln,39 gilt nur für Konvente mit einem oder 39 Michał Woz´niak, Wyzosaz˙enie kos´cioła konwentualnego na Zamku w Malborku, in: KNMP, S. 113–125, hier S. 116: »Przed ołtarzami, zatem w kierunku zachodnim ustawione były stalle braci kapłanjw, stalle dostojnikjw i dalej braci rycerzy, bez rozgraniczenia na dwa chjry – kapłanjw i braci.« Er entwickelt diese rigorose Position in Abwehr der schlecht fundierten Thesen von Kasimierz Pospieszny (vgl. Anm. 6). Beide kaprizieren sich auf die Situation, dass Priesterbrüder ohne liturgische Aufgaben an einer Konventsmesse teilnahmen – was wegen der Konzelebration beim Hochamt fast ausgeschlossen und angesichts der Ver-

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zwei Priesterbrüdern, in denen kein lateinisches Chorgebet in der Gruppe möglich war und daher ausschließlich die vereinfachte Form des Stundengebets abgehalten wurde, die die Statuten für die leigen bzw. die ungelÞrten brudere vorsehen: Die br0dere phaffen unde leigen sulen gemeinl%che kumen tages unde nahtes zu Gotes dieneste unde zu ir gez%ten, die phaffen durch daz s% singen unde lesen n.ch den brevieren unde b0chen, die n.ch dem orden geschr%ben sint, die leigen, s% s%n d. gegenwertich oder sw. s% s%n, si s0len sie vor die mettene dr0zehen pater noster sprechen unde vur iegelich der anderen gez%te siebn pater noster .ne die vespere, vur die s% n0ne sprechen sulen. Dieselben zal der pater noster sulen s% sprechen vur die gec%te unser vrwowen, unde wanne der leigen br0dere gen0ge gelÞret sint, swelcher von im selber oder mit urlobe des obersten mit den phaffen die tagec%t oder die gez%t von unser vrowen an den salmen und an anderen dingen, die zu dem ambehte gehirent der phaffen, sprechen wollent mit urloube, die sint erl.zen der zal der pater noster, die an die leigen sint gesetzet.40

Diese vereinfachte Gebetsform ist ein Zugeständnis. In der meist übersehene Sonderregel für das Marienoffizium verbirgt sich der Wunsch, dass der gesamte Konvent (wie in anderen Orden) gemeinsam betet, indem wenigstens die gelÞret Laien mit den Priesterbrüdern das Marienoffizium lesen sollen; ja es ist sogar vage eine Ausweitung auf das gesamte Chorgebet andeutet. Mit diesem Wunschdenken hängt die meist aus romantischen Motiven41 zitierten Lobrede Wigands von Marburg auf Luther von Braunschweig zusammen: Sepius in choro cantabat, quum notas novit dulciter modulare.42 In choro ist eine liturgische Ortsbestimmung und nicht etwa ein Hinweis auf einen Gesangsverein oder eine Liedertafel: Der Hochmeister nahm im Presbyterium am Chorgebet teil. Weniger befähigte Ritter- oder Serjeantbrüder sollten sich jedoch vor allem militärisch bewähren und waren daher nicht verpflichtet, sich nach Eintritt in den Orden die notwendigen Kenntnisse in Theologie, Sprache und Gesang anpflichtung jedes Priesters zur täglichen Lesung einer eigenen Messe auch sonst kaum vorgekommen sein dürfte. 40 Max Perlbach (Hg.), Die Statuten des Deutschen Ordens, Halle, 1890, S. 35 f-37 (Regel 8). Damit verbunden ist die Bestimmung von 1292, die das Singen der gec%te mit noten für alle Häuser vorsieht, in denen mindestens ein Priester und ein Schüler leben (Perlbach, Statuten S. 141 Nr. 10). Für die Laien bedeutet diese Erweiterung aber nur, beim Agnus Dei aufzustehen und bei der Fronleichnamsprozession den sanc von unsers hÞrren licham zu singene, die in singen wollent unde kunnent. Der Relativsatz ist entscheidend. 41 Conrad Steinbrecht, Untersuchungs- und Wiederherstellungs-Arbeiten am Hochschloss der Marienburg, Berlin 1885 (Sonderabdruck aus dem Centralblatt der Bauverwaltung 1885), S. 2 begründet damit die Deutung der zwischen Vorhängen herausschauenden Köpfe in der Wandmalerei rechts und links neben dem Ziborium als Sängerknaben und der ganzen Galerie als Sängerempore: »Sie diente den Zwecken des Chorgesangs, welcher mit Vorliebe von den Hochmeistern gepflegt wurde.« 42 Die Chronik Wigands von Marburg, in: SRP 2 (1863), S. 453–662, hier S. 487.

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zueignen.43 Sie konnten allen rituellen Handlungen in der Kirche beiwohnen, blieben aber vor den Stufen des Presbyteriums und waren ihrerseits zu einem minimalistischen Stundengebet verpflichtet, das im Wesentlichen aus Wiederholungen der Hauptgebete und den minuziös vorgeschriebenen Venien bestand.44 Das zeigen auch die Inventare im ›Marienburger Ämterbuch‹. Die Einrichtung für die Messfeier lassen zwei Gruppen erkennen: Für die einfache Messe werden Bänke verwendet »so wie die Ordensbrüder stehen«45, für die Hochämter aber werden »oben im Gestühl« (also in den rechteckigen Sedilien rechts und links vom Hochaltar) weitere Sitze (die so genannten Levitenstühle) geschmückt: uff die bengke als die herren steen sint phunffczehn banglaken46, soe sint seben stucke also bancklacken oben obir das gestulde czu totum duplex (MÄB 128,38 = 133,7). Letztere sind für die konzelebrierenden Kleriker bestimmt.47 Für alle Brüder war – bei Dispens für Kranke und Gäste – eine tägliche Frühmesse48 mit verkürztem Offizium und vereinfachter Glaubensunterweisung 43 Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 64 (Ordengesetz 1). 44 Diese Teilung ist dem mittelalterlichen Ritus weit weniger fremd, als es heute scheinen mag; vgl. die – konfessionell zugespitzte – Darstellung bei Reinhard Meßner, Römische Messe, in: Hans Dieter Betz [u. a.] (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 5. 4Tübingen 2002, Sp. 1131–1136, hier Sp. 1133, der von einer »Klerusliturgie«, spricht, »in der die Gemeinde nicht direkt tätig, sondern nur als beiwohnend-schauende beteiligt war«. Deshalb »entwickelte sich eine von der offiziellen Liturgie weitgehend losgelöste persönliche, auf Verinnerlichung und subjektive Aneignung bedachte Frömmigkeit, der die Messe in ihren überkommenen Gebeten, Gesängen und rituellen Vollzügen als Ort der Betrachtung des Lebens, v. a. der Passion Jesu, diente. Die Teilnahme an der allein vom Klerus getragenen Messe vollzog sich weitgehend individuell, in Gebeten und Andachten, als Passionsmeditation.« 45 Regel 8 der Statuten verlangt, dass bestimmte Andachten (z. B. das Marienoffizium) stehend verrichtet werden müssen, Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 35. 46 Vgl. Wilhelm Ludwig Haebler, Das Ordenshaus Marienburg, in: Neue Preussische Provinzial-Blätter 8 (1849), S. 241–257, hier S. 245 Anm. *** über den Sommerremter : »Dieser Banklaken wird öfters erwähnt. Sie werden von Zeit zu Zeit gewaschen. Sie waren wahrscheinlich auch in anderen Remtern auf die steinernen Bänke gelegt. Sie wurden mit Haken befestigt. Es heißt: Vor II schok und xi haken zu banklaken. In einem Verzeichnis des Glockamtes (…) kommen gleichfalls vor banklaken alumme und umme uf den bencken. In anderen Orten heißen sie Bankpole (Bankpfühle). Im Hause zu Elbing hatte man 200 weißer Bancvel.« 47 Conrad Steinbrecht, Vorbericht zum Kosten-Anschlag 1889, abgedruckt bei Pospieszny, Domus Malbork (wie Anm. 6), Aneks Nr. 2, S. 299–305, hier S. 302f. errechnet 64 Sitzplätze für das Kirchenschiff und 32 für den Chor. Bernhard Schmid, Die Marienburg, Ihre Baugeschichte, aus dem Nachlaß hg. von Karl Hauke, Würzburg 1955, S. 28 ergänzt, dass sich im Westteil 43 spätmittelalterliche Sitze erhalten hätten (die restlichen wurden ergänzt). 48 Literatur zu dieser Messform findet sich kaum. Sie ist zu unterscheiden von der als mette bezeichneten Matutin, vgl. Elfriede Adelberg, Zum Bedeutungswandel des Wortes ›Mette‹, in: Forschungen und Fortschritte 35 (1961), S. 273–277. Eine schöne Beschreibung der Frühmesse stammt aus der Praxis, vgl. den anonymen Traktat Vier Muster des Eigennutzes

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(Predigt) vorgesehen, die vor dem Chor am Frühmessaltar stattfand. Die Templerregel49 kennt sogar eine Verpflichtung zur Anwesenheit bei der Frühmesse. Das wurde zwar nicht in die Gesetze des Deutschen Ordens aufgenommen; jedoch hat Luther von Braunschweig der Frühmesse eine besondere Verbindlichkeit zugemessen. So beschreibt es jedenfalls Nikolaus von Jeroschin, und zwar in einem Atemzug mit dem Lobpreis einer in Marienburg errichteten capelle: Er legte erst den vullemunt zu Mergenburc, da sint der stunt d% capelle wart 0f gesat, d% n0 in schiner z%rde st.t 0f der burc d. obe in aller heiligen lobe. Ouch satzte er vil sÞlecl%ch, daz man solde tegel%ch gote zu lobis renten in des ordins coventen eine vr0messe halden % unde ouch ordenl%che d% singen mit den noten einen tac vor d% titen, den andern von Mar%en der edeln wandils vr%en. (V. 27.667–681)

Auf welche »Kapelle« der Marienburg man auch immer die ersten Verse beziehen mag50 – die zweite Hälfte des Zitats gibt die Verhältnisse auf dem Hochschloss wieder, wo in der Oberkirche mit dem Ausbau ab 1331 neben dem schon ereiniger Seelsorger in Bayern, in: Allgemeine deutsche Justiz- und Polizey-Fama Nr. 60, Mittwoch den 22. May 1805, Sp. 485–487, hier Sp. 485: »Die sogenannte Früh-Messe wird ursprünglich aus dem Grunde gehalten, damit das Land-Volk, bey Anhörung des GottesDienstes abwechseln, und diejenigen, welche der Früh-Messe beywohnten, dann das menschenleere Haus wegen der Sicherheits theils hüten, theils die Küche besorgen können. Daher gab es Gemeinden, welche beträchtliche Summen zusammenschossen, damit der Pfarrer seinen Koadjutor zur Früh-Messe eher aufstehen ließ. Auch dem Geschäfts-Manne auf dem Lande kömmt die Früh-Messe wohl zu statten.« 49 Vgl. Henri de Curzon (Hg.), La rHgle du Temple, Paris 1886, S. 170f. §281: Quant la campane de matines sone, chascun frHre se doit lever tantost et chaucer soi, et affubler son manteau, et aler au mostier et oyr le servise; quar nus ne doit demorer, se il nen est travailli8s, le jor, ou se il nen fust mesaisi8s, et par ces choses puet demorer en son lit. 50 Simon Helms, Luther von Braunschweig. Der Deutsche Orden in Preußen zwischen Krise und Stabilisierung und das Wirken eines Fürsten in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunerts, Marburg 2009 (QStGDO, 67), S. 157 bezieht die Passage auf den Nordflügel des Hochmeisterschlosses und erinnert insbesondere an den neuen Glockenturm. Christopher Herrmann (in diesem Band) denkt an die Hochmeisterkapelle im Mittelschloss.

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wähnten Heilig-Kreuz-Altar ein Frühmessaltar mit einem Marienbild51 errichtet52 und in der St. Anna geweihten Krypta das Totengedenken institutionalisiert wurde. Es spricht für die Historizität der Farbgebung, wenn die der aufgehenden Sonne zugewandte Marienfigur in Rot und Gold gekleidet ist, denn dies war die Farbe für die liturgischen Gewänder der Frühmesse (MÄB 128,6). Die Ordre Luthers entspricht einer frömmigkeitsgeschichtlichen Entwicklung. Auch die paraliturgischen Stundenbücher und frühen Gebetbücher bestehen im Kern aus den »großen Offizien« zur Hl. Jungfrau und zum Totengedenken, sowie den »kleinen Offizien« zum Hl. Geist, zum Hl. Kreuz und zum Altarsakrament. Sie verbreiten sich seit dem 14. Jahrhundert im Adel und in der bürgerlichen Elite auch in der Volkssprache.53 Hierzu sind auch die so genannten ›Tagzeiten des Deutschen Ordens‹ aus der verschollenen Handschrift Ms. 528 der Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg zu rechnen, die entsprechende Andachten, paraliturgische Gebetssammlungen und Meditationen enthielten.54 Demgegenüber galten die im Chor mit zahlreichen Konzelebranten abzuhaltenden Hochämter dem engeren Kreis der Kleriker (allenfalls einiger »gelehrter Brüder«, die daran mitwirken konnten). In einer Konventskapelle herkömmlichen Zuschnitts wie etwa in Rheden war dafür wenig Platz; es gab in solchen Räumen nur einen Altar, vor dem nach wenigen Metern die Chorstufen in das Kirchenschiff führten. Der Priesterbruder konnte hier vornehmlich die Frühmesse praktizieren. Konrad von Erlichshausen hat 1448 in einer Visitati51 Dass der Frühmessaltar nicht der Mittelaltar ist, ergibt sich aus der Aufzählung MÄB 128,22–29, wo nach dem Hochaltar die Ausstattung des Marienaltars genannt wird e (MÄB 128,24) und erst anschließend jene des mittelsten altar (MÄB 128,27). Der Schmuck des dritten kleinen Altar wurde nicht inventarisiert. 52 bild unsir liben frauwen uff dem frumessenaltar (MÄB 127,7f.). Es muss sich um eine Vollplastik gehandelt haben, da ein silbernes Zepter für Maria und silbernen Kronen für sie und das Jesuskind erwähnt werden. Der Altar verfügte ferner über zahlreiche Monstranzen mit Heiligtum (MÄB 127,8–13), war also Stätte der eucharistischen Ausstellung und Anbetung. 53 Peter Ochsenbein, Deutschsprachige Privatgebetbücher vor 1400, in: Volker Honemann / Nigel Palmer (Hg.), Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, Tübingen 1988, S. 379–398. Die Gesamtentwicklung beschreibt Traugott Koch, Johann Habermanns ›Betbu¨ chlein‹ im Zusammenhang seiner Theologie. Eine Studie zur Gebetsliteratur und zur Theologie des Luthertums im 16. Jahrhundert, Tübingen 2001 (Beiträge zur historischen Theologie, 117), S. 5–11. 54 Walther Ziesemer, Eine bisher unbekannte Deutschordenshandschrift, in: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 54 (1912), S. 223–241; Ralf G. Päsler, Katalog der mittelalterlichen deutschsprachigen Handschriften der StuUB Königsberg, München 2000, S. 65–71; Ralf G. Päsler, Deutschsprachige Sachliteratur im Preußenland bis 1500. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung, Köln [u. a.] 2003 (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas, 2), S. 167–169; Arno Mentzel-Reuters, Leseprogramme und individuelle Lektüre im Deutschen Orden, in: Bernhart Jähnig / Arno Mentzel-Reuters (Hg.), Neue Studien zur Literatur im Deutschen Orden (Zeitschrift für deutsches Altertum. Beiheft, 19), Stuttgart 2014, S. 9–58, hier S. 42–45, wo Verbindungen des pomesanischen Domkapitels zur Wiener Schule angesprochen werden.

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onsanordnung unter Aufwendung von viel laudatio temporis acti die mühseligen Realtität liturgischen Lebens in seinem Orden aufgezeichnet: Uff das irste, als von dem dinste Gots, das wir alle jar jerlichen zweer stundt uff die huwser umbesenden wellen, eynen pristerbruder und eynen ritterbrudern, das die sollen beseen, das der dinst Gots mit singen und lesen der metten, primen, frumessen, tercien, sexten, nonen, vesper und complet mit soveel capplan, schulern etc., als das furmals noch euwer und ander gebietiger rath ußgesatczt ist und gewonlich gehalden in den conventen. Sunder uff den huwsern, do eyn pristerbruder alleyne ist, das man alle obengeschreben geczeite in der kirchen lese, ußgenommen die festa semiduplex und totumduplex, in den sal man ouch alle geczeiten obengedacht singen und lesen, als man das vor alders hat gepflogen, mit dem gelewte nd andern geborungen, itczlich zcu rechter zceit nach loute unsers Ordens und Orden buch erbarlichen und zirlichen nach underscheit der zceit tag und nacht gehalden werde.55

Es sollen alle Brüder czu allen geczeiten czur kirchen gehen, heißt es im weiteren Text. Doch während der Hochmeister strengstens dazu ermahnt, auch die Kapläne und Schüler zur Mitwirkung am liturgischen Geschehen anzuhalten und keine Ausreden zu akzeptieren,56 ist von der Andacht der Laienbrüder keine Rede.57 Das ergab sich unmittelbar aus den soeben zitierten Ordensstatuten, die die ungelÞrten brudere (illiterati)58 von der lateinischen Liturgie und dem Chorgebet entbanden. Die Frühmesse schuf in den Ordenshäusern jedoch, wie auch sonst in Dom- und Pfarrkirchen, die Möglichkeit zu volkssprachlicher Andacht und Meditation im Rahmen einer Missa sine cantu, die der Priesterbruder des Konventes unter Mitwirkung eines Ministranten am Altar las. Man verfolgte das Messgeschehen nicht durch Anhören des rituellen lateinischen Textes, sondern durch die meditative Rezeption von Erbauungstexten nach dafür eigens geschaffenen Büchern. Das Interesse an volkssprachlicher geistlicher Literatur im Deutschen Orden, insbesondere an Bibelbearbeitungen, an Meditationstexten und schließlich sogar an der Mystik erklärt sich damit unmittelbar aus dem Dispens der Statuten von der in anderen Orden verpflichtenden lateinischen Katechetik und Liturgie.

55 Marian Biskup und Irena Janosz-Bikupowa (Hg.), Visitation im Deutschen Orden im Mittelalter. Teil 1: 1236–1449 Marburg 2002 (QStGDO, 50), S. 324f. 56 Es wird eine gestuftes Ermahnungsverfahren für die Kapläne und Schüler vorgeschrieben, bei dem aber schließlich die Zentralgewalt doch kapituliert: Mochten denne die capplan und schuler nicht dorane gewiset und gehalden werden, so sollen geleichwohl die priesterbruder ire geczeiten in der kirchen alleyne adir mit den hulffen, die sie gehaben mogen, zcu rechten geczeiten syngen und lesen. Biskup/Janosz-Bikupowa, Visitation (wie Anm. 55), S. 325. 57 Zur Andacht wird in Regel 8 der Statuten ermahnt: daz s% sprechent mit dem munde, wenne daz gebet vil cranc ist .ne des herczen mitdenken. Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 35. Das setzt indirekt voraus, dass die Brüder den Text verstehen, den sie beten. 58 Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 64f.

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Abb. 2: Marienfigur und Chor vor der Zerstörung, Dia um 1940 (Quelle: Mentzel-Reuters).

Die Priesterbrüder sahen das teilweise mit Unbehagen59 und vermissten in einem gewöhnlichen Ordenshaus die Möglichkeit, eine für Kleriker angemessene Spiritualität zu leben. Nur exzeptionelle Konvente wie der Marburger, die davon abhängigen Propsteien in Zschillen und Schiffenberg oder die preußischen Domkapitel boten Klerikern einen Tagesablaufes mit voller Ausübung der Ordensnotula, mit persönlichem Fachstudium und gemeinsamem Chorgebet. Der nur durch Zufall erhaltene Klagebrief eines Priesterschülers, der dem an der Annenkapelle wirkenden Priesterbruder60 Friedrich von Sultz61 zugewiesenen

59 Vgl. die bei Arno Mentzel-Reuters, Arma spiritualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, 47), Wiesbaden 2003, S. 76f. zitierte Eingabe der Nürnberger Klarissen von 1410. 60 St. Anna verfügte über einen eigenen Vikar (MTB 16,32; 476,17) und einen Glöckner (MTB 382, 25; 473,25). Eine Glocke stürzte 1409 herab (MTB 571,25 und 579,39). Ob und in

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worden war, lässt erkennen, wie sich dieser nach der anscheinend im Kollegium im Chor der Marienkirche begangenen Matutin in die Annenkapelle begibt, um dort eine von nur einem Ministranten begleitete missa sine cantu abhielt: Mane surgentes ante lucem horas conplere legendo de die et passione et de gloriosa virgine Maria. Quibus conpletis capellam beate Anne subintrando missam conplevit me iuvante. Qua completa sine mora ad cameram redeundo intro resedens, ubi statim conpulsus, ne exirem, ad asserem scribere, usque pulsus ad mensam nos vocaret. Opere vero mense conpleto ad pristinos labores sine intermissione coactus redii solus nec ab hiis recessi, nisi pulsus cene me vocaret. Qua facta ad sternendum ivi, quo postposito pro collacione sermones sibi legi, quod duravit quousque nos tenebre obumbrarent simul.62

In einer solchen Umgebung ist der Chorraum erforderlich, wo von den Klerikern entsprechend den Regelungen der Statuten und der Notula zusammen mit den »gelehrten Brüdern«63 Chorgebet und Hochämter gelesen und gesungen wurde – stellvertretend für den gesamten Konvent und vor allem für jene, die selbst dazu nicht in der Lage waren.64 Mit dem Ausbau der Kapelle auf der Marienburg wurde sie für solche Ansprüche nachgerüstet und näherte sich in Funktion und Bautypus damit einer Stiftskirche an.65 Obschon gerade das Haupthaus des Ordens ein Zentrum der feudalen Laienkultur des Orden war, muss man es auch als einen

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welcher Beziehung die 1402 erwähnte bruderschaft zu sandte Annen (MTB 179,30) zur Kapelle stand, ist unklar. Friedrich von Sultz scheint Vikar der Annenkapelle gewesen zu sein (vgl. Anm. 60), der im Erdgeschoß des Pfaffenturms wohnte und damit direkten Zugang zur Kapelle hatte. Ob er die Predigten (collaciones), auf die er sich zum Leidwesen seines Schreibers und Ministranten so gründlich vorbereitete, dort oder in der Hauptkirche hielt, muss offen bleiben. Text nach Mentzel-Reuters, Arma spiritualia (wie Anm. 59), S. 253. Vgl. auch Max Hein (Hg.), Preußisches Urkundenbuch 3,1, Königsberg 1944, S. 242f. Nr. 348. Die Statuten erwarten von den Priesterbrüdern entsprechende Kenntnisse in Liturgie, Homiletik und Katechese. Bei den Laien-Brüdern wird zwischen litterati und illiterati unterschieden, wobei der Erwerb solcher Kenntnisse nicht im Orden geschehen soll. Falls Laien aber als litterati in den Orden eintreten, nehmen sie am vollen Chorgebet teil. Vgl. Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 64,6–11; Mentzel-Reuters, Arma spiritualia (wie Anm. 59), S. 43–49. Das entspricht der allgemeinen Entwicklung, vgl. Jungmann, Missarum sollemnia 1 (wie Anm. 15), S. 321: »Zugleich erhält der Chorraum im romanischen Kirchenbau eine gewaltige Ausdehnung – an Klöstern und Stiften wird er zur förmlichen Kleruskirche, die allerdings vom Klerusgottesdienst gefordert wird, der sich nun immer reicher entfaltet.« Kirchenrechtlich handelte es sich während der Ordenszeit wohl nicht um eine Kirche, sondern um eine Kapelle, vgl. Corpus iuris canonici, can. 1214–1222 (Kirche), 1223–1229 (Kapellen und Privatkapellen), 608 (Niederlassungen von Ordensgemeinschaften müssen mindestens eine Kapelle umfassen), 934 (Aufbewahrung der Eucharistie): Eine Kirche muss demnach geweiht werden und allen Gläubigen öffentlich zugänglich sein; zu unterscheiden sind Parochial-, Kollegiats- und Kathedral-Kirchen. Kapellen dienen einem beschränkten Kreis, etwa den Angehörigen einer Ordensniederlassung, in ihnen dürfen Messen abgehalten und die Eucharistie aufbewahrt werden. In Oratorien ist beides nur im Ausnahmefall mit gesonderter bischöflichen Erlaubnis möglich.

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der größten Priesterkonvente des Ordens ansprechen, der in seiner zahlenmäßigen Stärke allenfalls von den Domkapiteln und vom Ordenshaus in Marburg66 übertroffen wurde. Die hohe Zahl an ordinierten Klerikern führte zum Anbau eines Chores an die Kapelle des Hochschlosses, und nicht etwa bloß das Streben nach Repräsentation. Denn eine vollumfängliche Umsetzung der auf der Dominikanerliturgie basierenden Notula dominorum Theutonicorum und des entsprechenden Missale des Deutschen Ordens67 mit ihren Antiphonen, Responsorien und Hymnen setzt im doppelten Sinn des Wortes einen Chor als Raum und als Klangkörper voraus. In Chorgebet und Hochamt sollte auf der Marienburg nicht nur das Niveau eines gewöhnlichen Ordenshauses überboten werden – auch mit den großen Pfarrkirchen in Danzig, Thorn und Kulm wollte man mithalten und womöglich an die Domkirchen heranreichen. Wie anders wollte man erklären, dass der Orden im Sommer 1400 der Kurie Bonifaz’ IX. für den Prior des Hauses das Privileg erkaufte, im Bischofsornat die Messe lesen zu dürfen?68 So konnte die Marienburg als Wirkungsort für eine Elite unter den Priesterbrüdern attraktiv sein und sich als Sprungbrett auf die hochdotierten Pfarrerstellen des Landes oder gar die Domherrensitze und Bischofsstühle empfehlen. Das greifen die ›Konventsstatuten‹ in einer Visitationsordnung aus dem Jahr 1441 auf. Sie betonen die Bedeutung des Chorgebetes, indem verfügt wird, das die priesterbrudere ire geczeit zcu tage unde zcu nachte halden sullen nach des ordens notell unde wertliche gewonheiten ussen laßen.69 Aus den Inventaren des ›Marienburger Ämterbuches‹ können wir ermitteln, dass der Marienkirche hinreichend Kleriker zur Verfügung standen: Neben dem Kaplan des Meisters (und spätestens im 15. Jahrhundert zusätzlich dem Gracialis70) zelebrierten vier 66 1280 befinden sich in Marburg zehn Priesterbrüder von insgesamt 27 Personen, 1388 zwölf, 1413–1444 neun bis zehn, 1470 wieder vierzehn; bis 1499 schwankt die Zahl zwischen neun und vierzehn, zumeist sind es jedoch dreizehn oder vierzehn. Vgl. Ursula BraaschSchwersmann, Das Deutschordenshaus Marburg. Wirtschaft und Verwaltung einer spätmittelalterlichen Grundherrschaft (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte 11), Marburg 1989, S. 196f. Zusammenfassend heißt es: »Demnach lebten im Haupthaus an der Lahn durchschnittlich 22 Brüder, von denen die Hälfte Priester war«, wobei die andere Hälfte neben Rittern auch Schüler und Pfründner umfasste. 67 Missale Dominorum Teutonicorum, Nürnberg : Stuchs ca. 1499 (=GW M24184); die Zitate wurden mit dem aus Wiener Neustadt stammenden Ordensmissale von 1330 (heute StB Olmütz M III 44) verglichen. 68 Vgl. Anm. 151. 69 Biskup/Janosz-Bikupowa, Visitation (wie Anm. 55), S. 83. 70 Gracialis ist ein »canonicus, capellanus, plebanus, presbyter kapłan posiadaja˛cy taka˛ prebende˛ ; qui eius modi praebendam possidet StCrac p. 5 (a. 1328)«, so das Słownik łaciny s´redniowiecznej w Polsce – Lexicon mediae et infimae latinitatis Polonorum 4 (1977), S. 81. Vgl. auch Michał Woz´niak, Przestren´ liturgiczna i wyposaz˙enie kos´cioła Najs´wie˛tszej Marii ´ ska (Hg.), Zamek Wysoki w Malborku. Panny na zamku w Malborku, in: Maria Poksin Interdyscyplinarne badania skrzydła pjłnocnego, Malbork/Torun´ 2006, S. 77–93, hier

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Abb. 3: Graduale des Deutschen Ordens, 14. Jahrhundert, 3. Viertel (GStA PK, XX. HA, Hs 85, Nr. 350, Foto: Anette Löffler).

Priesterherren und vier Kapläne in der Kirche.71 Hinzu kommt ein Subdiakon (MÄB 129,10 = 133,17). Wahrscheinlich ist, dass auch die Vikare, Kapläne und Diakone von St. Anna, St. Bartholomäus und St. Lorenz an diesen Gebeten teilnahmen, da gemeinsames Stundengebet nach zeitgenössischer Auffassung dem individuellen vorzuziehen war.72 Die Kirche war für eine maximale Stärke von 27 Klerikern ausgestattet, wie an der Zahl der vorhandenen Chorröcke abzulesen ist.73 Hinzurechnen sind fünf ganze Ornate für fremde Priester oder Mönche, die in der Sakristei des Glockmeisters aufbewahrt werden.74 Dieser Kreis fand sich im neuerrichteten Chor zum gemeinsamen Chorgebet

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S. 86–88. Er besitzt einen eigenen Kelch damete her messe heldt (127,18). Das Inventar von 1394 kennt noch keinen Gracial des Hochmeisters. czum ersten hat des meisters caplan czwene ornat, pallen und corporalia, soe hat iczlicher von den vier pristerherren czweene ornat und czweene haben eren egene pallen als her Johannes Graudencz und her Nicklos Sintin und die anderen czwene haben der kirchen pallen und corporalia. des meisters gracialis hot ouch eyn ornat, die vier caplan itczlicher hat eynen ornat, ein corporale und eyne palle (MÄB 129,1–4 für 1437). Nikolaus von Synthen wird in der Rubrik als der chorherre eingeführt. Das Inventar von 1394 zeigt noch eine spürbar einfachere Ausstattung (MÄB 123,23 f). Jungmann, Missarum sollemnia 1 (wie Anm. 15), S. 258, bes. Anm. 25. MÄB 129,11f.: seben und czwenczigk gemeyne churrockel, itczlich pristerherre hath eynes bey seyner formen. So das Inventar von 1437 (MÄB 127,24 f). 1398 gibt es nur einen Gastornat (MÄB 125,32).

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und zur Feier der Hochämter zusammen, während die Laienbrüder vor den Chorstufen als passive Zuhörer auf das Zeichen zum Niederknien warteten75 oder die vorgesehenen Hauptgebete wiederholten – wenn sie denn wirklich zu den Hochämtern erschienen und nicht die Frühmesse vorzogen.76 Auch die Ausstattung des Vestiarium (Sakristei, do sich die prister inne anczihen MÄB 125,34 = 133,9)77 mit einer eigenen Bibliothek mit 22 angeketteten – d. h. nicht transportierbaren – Büchern betont die für Predigtvorbereitung, ja Studienzwecke nutzbare Abgeschlossenheit des Chores. Wir haben in der Kirche insgesamt 52 lateinische Codices, vor allem Liturgica. Die deutschen Bücher hingen befanden sich in der großen Sakristei unter dem Turm.78 Die Trennung macht nur einen Sinn, wenn die Lesesituationen und wohl auch die Leser unterschiedlich waren.

Ein dreiteiliges Konzept Die von Conrad Steinbrecht wieder freigelegte ordenszeitliche Inschrift auf dem Solbankgesims der Marienkirche benennt das Jahr 1344 als Zeitpunkt der Fertigstellung und den 1.5. als Festtag der Apostel Philippus und Jakobus als Kirchweihtag.79 Damit ergäben sich eine maximale Planungs- und Bauzeit von 14 Jahren, denn als frühestmögliches Jahr ergibt sich für den Planungsbeginn 1331, wenn man Nikolaus von Jeroschin V. 27.667–27.669 so deutet, dass die Anfänge (was immer man darunter verstehen mag) in die Amtszeit Luthers von Braun75 Item die nottel unde das Ordenbuch sal den pristerbrudern gereith sein, sunderlich daz sie ire venien wol sullen wissen, wenne sich die ander gemeynlich nach en richten, Biskup/JanoszBikupowa, Visitation (wie Anm. 55), S. 83. 76 Pospieszny, Domus Malbork (wie Anm. 6), S. 227 u. ö. verwendet etwas unglücklich die Bezeichnungen »nawa rycerska« (»ritterliches Kirchenschiff«) und »chjr kapłan´ski« (Priesterchor) nennt. Diese aus einer falschen Interpretation der Verhältnisse in der Marburger Elisabethkirche abgeleiteten Begriffe verschleiern, dass es sich um eine in mittelalterlichen Kirchen selbstverständliche Teilung in Kleriker und Laien handelt, die vom Sakrament der Priesterweihe abzuleiten ist. 77 Zum Vorgang des Ankleidens Jungmann, Missarum sollemnia 1 (wie Anm. 15), S. 345–361. Die Kannen und Handtücher dienen der Händewaschung vor dem Altarakzess und dem Stufengebet, vgl. ebd. S. 346f., z. B. Missale OT (wie Anm. 67), fol. LXXXIIv am Ende der Karfreitagsliturgie: Sacerdos ablutis in piscinam digitis revertatur ad altare. In der Marienkirche ist in der Konche hinter dem Hochaltar ein Lavabo mit Abfluss eingemauert. 78 Vgl. Mentzel-Reuters, Arma spiritualia (wie Anm. 59), S. 248–250. Zu den deutschen Codices ausführlich Arno Mentzel-Reuters, Leseprogramme (wie Anm. 54), S. 39f. 79 Die Datierung findet sich auf der Nordwand der Kirche und ist in der Restaurierung des 19. Jahrhunderts erhalten. Vgl. Walter Ziesemer, Deutsche Inschriften in der Marienburg, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 47 (1904), S. 280–283, Textabdruck S. 283 (eine Verfasserschaft des Nikolaus von Jeroschin wird erwogen), Bernhard Schmid, Die Marienburg, Ihre Baugeschichte, aus dem Nachlaß hg. von Karl Hauke, Würzburg 1955, S. 27.

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schweig (HM 1331–1335) fielen.80 Über die Faktenhistorie hinter einer solchen emphatischen Aussage kann man nur spekulieren.81 Auch das neue Konzept des Nordflügels war nicht Luthers individuelle Initiative. Wir werden sehen, dass bereits vor dem Amtsantritt Luthers auf dem Marienburger Generalkapitel von 1329 entscheidende Weichen zum spirituellen Konzept der Kirche gelegt wurden. Es erhob die Verehrung der Vera Crux82 und der Hl. Anna in den Rang von Ordensgesetzen. Das Kapitel wurde mit gewollter Symbolkraft in der Marienburg und auf Exaltacio crucis (Kreuzerhöhung, 14.9.) angesetzt. Auch wenn wir seine Beschlüsse als ›Gesetze Werners von Orseln‹83 zitieren, ist ganz deutlich, dass sie von Priesterbrüdern formuliert, wenn nicht auf ihre Forderung hin beschlossen wurden. Das erste Gesetz erhebt den liturgischen Rang der beiden Kreuzfeste Invencio crucis (3.5.) und Exaltacio crucis von semiduplex84 auf totum duplex mit feierlichem Hochamt und das Fest der Hl. Anna (26.7.) von commemoratio auf semiduplex ohne feierliches Hochamt und setzt außerdem für diese Feste eine Armenspeisung an. Das erste Gesetz des Generalkapitels von 1329 wurde unter Luther von Braunschweig erneuert und um eine Hochstufung des Festes der Hl. Barbara auf semiduplex ergänzt.85 So entstand für die Marienkirche eine Festkalender mit einer eindrucksvollen Folge von Hochfesten in der ersten Maiwoche: 1.5. dedicatio ecclesie – später mit Heiltumsweisung, 2.5. translatio S. Elizabeth, 3.5. Invencio crucis, und wieder im September : Auf die nativitas Marie am 8.9. folgen 14.9. Exaltacio crucis, 15.9. octava nativitatis 80 So argumentiert Jakub Adamski, Pierwotne funkcje kaplicy ´swie˛tej Anny w Malborku a kontekst załoz˙en´ dwukondygnacyjnych w ´sredniowiecznej architekturze sakralnej, in: Ja´ ski (Hg.), Kaplica s´w. Anny na Zamku Wzsokim w nusz Hochleitner/Marius Mierzwin Malborku. Dyieje, wystrjy, konserwacja, Malbork 2016, S. 9–25, hier S. 9. Die Verse können aber auch so gedeutet werden, dass sie nicht den konkreten Baubeginn beschreiben, sondern Luther als Urheber der Raumkonzeption preisen. Vgl. hierzu Anm. 50. 81 Die Debatte rutscht ins Fiktionale, wenn ohne jegliche Quelle darüber räsonniert wird, warum Luther sich im Königsberger Dom und nicht schon in der Annenkapelle beisetzen ließ. Die Faktenlage zu den Hochmeistergräbern dokumentierten Sławomir Józ´wiak/Janusz Trupinda, Pogrzeby, pochjwki i sposoby upamie˛tnienia braci Zakonu Niemieckiego w s´redniowiecynzch Prusach. Kilka uwag w konteks´cie funkcjonowania kaplicy ´sw. Anny, in: Hochleitner/ Mierzwin´ski, Kaplica s´w. Anny (wie Anm. 80), S. 27–35, zum Grab Luthers von Braunschweig ebd. S. 33. 82 Gia Toussaint, Die Kreuzzüge und die Erfindung des Wahren Kreuzes, in: Michael Borgolte/Bernd Schneidmüller (Hg.), Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa. Vorträge und Workshops einer internationalen Frühlingsschule, Berlin 2010 (Europa im Mittelalter 16), S. 151–169; Gia Toussaint, Die Kreuzreliquie und die Konstruktion von Heiligkeit, in: Hartmut Bleumer [u. a.] (Hg.), Zwischen Wort und Bild. Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter , Köln [u. a.] 2010, S. 33–77. 83 Johannes Voigt, Geschichte Preussens, von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des Deutschen Ordens, 9 Bde., Königsberg 1827–1839, hier 4 (1830), S. 445–449 und 469f. Text bei Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 147. 84 Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 5 bzw. 9. 85 Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 148.

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Marie, 16.9. Anniversarium familiarium et benefactorum ordinis (gleichzeitig nativitas S. Eufemie).86 Die Errichtung der Marienburger Chorhalle darf überdies nicht isoliert betrachtet werden. Die Sainte-Chapelle in Paris entstand zwar lange zuvor (1239–1248),87 aber jene in Bourges erst 1392–1405;88 die in ihren Dimensionen ungleich anspruchsvollere Chorhalle des Aachener Doms wurde zwischen 1355 und 1414 errichtet.89 In der preußischen Region ging Chorraum der Pelpliner Zisterzienserabtei – jedenfalls nach traditioneller Darstellung90 – unmittelbar voraus (1286–1323), ebenso der Ausbau doppelgeschossigen Chors mit den Hochmeistergräbern in Marienwerder (1322–1330)91 und der Baubeginn des Königsberger Doms 1327.92 Frauenburg folgte ab 1342. Zwischen der Marienkirche und dem Presbyterium in Marienwerder könnte sogar ein Werkstattzusammenhang bestehen.93 Dieser Kontext ist überzeugender als das in der Forschung immer wieder 86 Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 9. Damit im Zusammenhang zu sehen ist das Kopfreliquiar dieser frühchristlichen Märtyrerin im Hochmeisterstuhl in der Marienkirche (MÄB 129,36). Es wird sich um einen Partikel aus dem Kopfreliquiar der Templerburg von Athlit handeln, das später in den Johanniterresidenzen von Rhodos und Malta aufbewahrt wurde, vgl. Helen J. Nicholson, The Head of St. Euphemia, in: Susan B. Edgington / Sarah Lambert (Hg.), Gendering the crusades, Cardiff 2001, S. 108–118. 87 Meredith Cohen, The Sainte-Chapelle and the construction of sacral monarchy. Royal architecture in thirteenth-century Paris, New York 2015, S. 66. 88 Auguste de Giradot, La Sainte-Chapelle de Bourges, sa fondation, sa destruction, in: M8moires de la Societ8 des Antiquaires de France 20 (1850), S. 1–33, hier S. 5. 89 Gisbert Knopp, Ulrike Heckner (Hg.), Die gotische Chorhalle des Aachener Doms und ihre Ausstattung. Baugeschichte, Bauforschung, Sanierung (Arbeitshefte der Rheinischen Denkmalpflege), Petersberg 2002; Matthias Untermann, Die Chorhalle des Aachener Münsters. Ein »gläserner Schrein« als Ort der Reliquienverehrung?, in: Andreas Gormans, Alexander Markschies: Venite et videte. Kunstgeschichtliche Dimensionen der Aachener Heiligtumsfahrt. Beiträge einer wissenschaftlichen Tagung des Instituts für Kunstgeschichte der RWTH Aachen (Aachener Beiträge zu Pastoral- und Bildungsfragen, 27), Aachen 2012, S. 123–159. 90 Piotr Skubiszewski, Architektura opactwa cysterciej w Pelplinie (Studia Pomorskie 1), Wrocław 1957, S. 34. Zur Diskussion, die Janusz Ciemnołon´ski, Ze studijw nad Bazylika˛ w Peplinie, in: Kwartalnik architektury i urbanistiyki 19 (1974), S. 27–66 mit einer Spätdatierung (14. Jh., 3. Drittel bis 1447) auslöste vgl. Paul Crossley, Lincoln and the Baltic. The fortunes of a theory, in: Eric C. Fernie, Paul Crossley (Hg.), Medieval architecture and its intellectual context : studies in honour of Peter Kidson, London 1990, S. 169–180, hier S. 170. 91 Bernhard Schmid, Domburg Marienwerder (Preussenführer), Elbing 1938, S. 6, der die Bestattung Werners von Orseln als terminus ante quem für den Abschluss der Bauarbeiten am Chor betrachtet. 92 Der Canonicus Sambiensis nennt das Jahr 1317 als Baudatum: Item in isto anno edificabatur ecclesia kathedralis in Kunigisberg (SRP 1,286). 93 Schmid, Domburg (wie Anm. 91), S. 24 f: »vielleicht waren es z. T. dieselben Leute, die hier und in Marienwerder bauten«, während »die Dome von Königsberg und Frauenburg« andere Gewölbeformen bevorzugen, »es besteht kein Zusammenhang zwischen diesen großen Bauplätzen.«

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bemühte Stereotyp vom ›Himmlischen Jerusalem‹. Szcze˛sny Skibin´ski etwa stellt den gesamten Umbau des Hochschlosses unter diese Chiffre und sprach von ihm als dem Tempelbereich und vom Mittelschloss als Abbild der Stadt Jerusalem (»Salomonowo-jerozolimskie odniesienia kompleksu malborskiego«).94 Doch gibt es für eine so hoch gesteckte Symbolik keine Belege. Zwar hat aber der Chorherr Jost Cropp im Jahr 1457 die dem Orden verlorengegangene Marienburg unter Psalmenzitaten mit dem beweinten Zion verglichen und von der erhofften Rückkehr ins »Haus des Herrn« gesprochen.95 Allerdings ist dies im Sinne der mittelalterlichen Lehre vom mehrfachen Schriftsinn zu verstehen und sagt nichts über die Baustruktur. Das gilt auch für das Interesse des Ordensmarschalls Siegfried von Dahenfeld (OM 1347–1359) am Buch Ezechiel und den daran angeschlossenen den Kommentar des Nikolaus von Lyra über den Tempel in Jerusalem, die er sich von einem Franziskanerkustos übersetzen96 und mit den traditionellen Skizzen illustrieren ließ. Er hat aber sicher darin keine Bauanleitung97, sondern eine anagogische Beschreibung des Priestertums gesehen. Wir können mit dieser Übersetzung jedoch belegen, dass den Eliten des Deutschen Ordens die innere Gliederung des Tempels – Vorhalle, Heiliges, Allerheiligstes – und seine allegorische Deutung bekannt waren.98 Auch wenn wir das Datum des Baubeginns nicht kennen, so ist unabweisbar, dass zuvor der Plan zu einem zweigeschossigen Bau mit polygonalen Chorabschluss gefasst wurde. Damit war weit mehr festgelegt war als die äußeren Umrisse, da das neue Fundament im Westen an die alte Außenmauer des ´ ski, Kaplica (wie Anm. 1), S. 187–200. 94 Skibin 95 Brief an den Hochmeister, Osterode 1457 X 13: (…) das mich vörstliche gnode heische von Babilonia, ubi sedimus et flevimus dum recordamur Syon id est Marienburg, of das ich fro˘lich mag sprechen mit dem propheta: Letatus sum in hiis que dicta sunt mihi, in domum domini ibimus. GStAPK Berlin, XX. HA, OBA 14944, hier nach: Mentzel-Reuters, Arma spiritualia (wie Anm. 59), S. 257. Zitiert werden Ps. 137,1 und 122,1, letzterer bekannt als Salutatio Jerusalem urbis sanctae. 96 Die Prophetenübersetzung des Claus Cranc, hg. von Walther Ziesemer (Schriften der Königsberger gelehrten Gesellschaft, 1), Halle 1930, S. 252–270. 97 Die Illustrationen zu Nikolaus von Lyra, aus denen neben Berlin, Geh. Staatsarchiv Preuß. Kulturbesitz, XX. HA Msc. A 28 191, S. 284 auch die Darstellung in der lateinischen Fassung der Schedelschen Weltchronik (1494), fol. LXVIr abgeleitet ist, zeigen ein eigentümliches Missverständnis der Säulen Jachin und Boas vor dem Tempel nach 1 Reg 7,13–22 als an der Tempelfassade angesetzte turm von wendelsteyn uberhangen und könnten für die Westfassade von Templerkirchen wie Quartschen in der Neumark und Elancourt in der 6le de France als Vorbild gedient haben. Im Deutschordensbereich gibt es nichts Vergleichbares. 98 Claus Cranc, Prophetenübersetzung (wie Anm. 96), S. 259: Darnach volgit die uzlegunge des tempils und merke sint dem male, daz das geystliche gebuyde der cristinheit nicht alleyne gelegin ist an tougenlichin syttin und an labunge der heyligin schrift und sacrament, sundir ouch an den artikiln des gelouben. und der tempil hatte dry teyl: das ist dy vorloube adir dy halle, daz heilige und daz heyligste, daz man etzlichir maze nennen mag als mit uns hallekirche, und durch dy halle ist eyn ingang.

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Abb. 4: Darstellung des Jerusalemer Tempels in der ›Prophetenübersetzung‹ der Hs. Ms. A 191,286r/v, Berlin GStAPK (aus: W. Ziesemer (Hg.): Die Prophetenübersetzung des Claus Cranc, Halle 1930).

Hochschlosses anschloss, auf der in der Höhe des Fußbodens der Ordenskapelle im Herrengeschoß der Durchbruch zu erfolgen hatte, um die bisherige Kapelle an das spätere Chorhaus anzuschließen. Die Gewölbe der Annenkapelle ragen über die Fußbodenhöhe der bisherigen Kapelle hinaus, so dass der Boden des Chors zwangsläufig höher liegt als im Kirchenschiff.99 Das wird optisch noch einmal betont durch den Arkadenfries, der unter den vier Jochen von der Apsis bis zu den Chorstufen unmittelbar an das Solbankgesims heranreicht,100 wäh99 Nach der 2013 erfolgten Vermessung der Kirche erhöht sich das Fußbodenniveau um 63 cm, der Arkadenfries sogar um 100 cm. Vgl. den Plan bei Artur Dobry / Bernard Jesionowski, Załoz˙enia do scenariusza wystawy. Rewiltalizacja zespołu kos´cioła NMP, kaplicy s´w. Anny i Wiez˙y Kleszej na Zamku Wysokim w Malborku, in: Janusz Hochleitner/Marius Mier´ ski (Hg.), Wiez˙a Klesza i Domek Dzwonnika na Zamku Wysokim w Malborku. Dzieje i zwin konserwacja, Malbork 2016, S. 103–148, hier S. 104f. 100 Darauf verweist Pospieszny, Domus Malbork (wie Anm. 6), S. 219. An dieser Stelle ist die mittelalterliche Bausubstanz durch die Aufstellung der barocken Seitenaltäre und eines vermauerten Zugangs zur Jesuitenresidenz schwer beeinträchtigt; vgl. die 1882–1885 datierte Photographie bei Dobry/Jesionowski, Załoz˙enia (wie Anm. 99), S. 112. Die Dienste über der vermauerten Pforte zur Jesuitenresidenz sind bis auf kurze Stummel unterhalb des Gesimses abgeschlagen, Schatten auf dem Putz lassen verschiedene Eingriffe in die Mauer

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rend er in den vier westlichen Jochen tiefer sitzt und an der Westwand noch einmal tiefer gesetzt ist. Damit unterschied sich die umgebaute Kirche signifikant von ihrem früheren Zustand und von den Kapellen auf Ordensburgen wie Lochstedt oder Rheden.101 Allenfalls die Kapelle im Königsberger Ordenshaus könnte ähnlich zweiteilig strukturiert gewesen sein. Für eine genauere Bestimmung wären die Rechnungsbücher des Pfundmeisters und der Rentkammer in Königsberg in den Ordensfolianten 192–200 zu analysieren. Das wäre insofern interessant, weil wir damit etwas über die Intentionalität einer viel weitreichenderen Parallele erfahren könnten. In gewisser Weise führte man nämlich im Marienburger Hochschloss Erweiterungen durch, die einhundert Jahre zuvor in ähnlicher Weise – aber in mehreren Schritten und über 60 Jahre hin – an der Kirche des New Temple in London vorgenommen wurden.102 Wie in London wurde eine einteilige Kapelle durch Anbau eines Chorraums und einer Krypta in ein dreiteiliges Sanktuarium umgestaltet. Bemerkenswert ist in London der Anbau einer doppelgeschossigen Marienkapelle mit einer der Hl. Anna geweihten Krypta, die sich an die Rotunde des Temple anlehnt. Dieser Baukomplex ist älter als die Sainte-Chapelle in Paris und steht damit quer zu Skibin´skis Vorstellung von deren Leitfunktion für die Marienburg.103 Eine Berücksichtigung der Templerarchitektur liegt für die Marienburg wegen erkennen. Im dritten Gewölbejoch ist die Kreuzigungsgruppe montiert. Das Gestühl an der Westwand läuft unter dem Ziborium durch und verdeckt die schmale Pforte. 101 Allerdings gab es durchaus mehrere Altäre in den Ordenskirchen. Graudenz verfügte über einen altar und einen hoen altar (GÄB 602,25f.), zusammen also 2 altare (GÄB 602,34), Schlochau scheint einen Frühmessaltar gehabt zu haben (GÄB 654,34) und dazu einen Katharinenaltar (GÄB 654,38). Ein frühes Beispiel bietet die Marienkapelle in Beuggen: Sie »erhielt 1298 zwei weitere Altäre. Eine war der heiligen Katharina und den 11.000 Jungfrauen, die andere der heiligen Elisabeth, Maria Magdalena und den 10.000 Märtyrern geweiht«, so Johannes Helm, Kirchen- und Kapellen im Markgräflerland. Die existierenden, verschwundenen und aufgegebenen Kirchen und Kapellen im Markgräflerland (…), Versuch einer bau- und kunstgeschichtlichen Bestandsaufnahme, Mühlheim 1986, S. 261. Beiden Nebenaltären erteilte Bischof Heinrich II. von Konstanz Ablassprivilegien, vgl. Andreas Lehmann, Die Entwicklung der Patronatsverhältnisse im Archidiakonat Breisgau, Teil V, in: Freiburger Diözesan-Archiv N. F. 17 (1916), S. 77–162, hier S. 123. 102 Die Rotunde stammt aus dem Jahr 1185. Ihr wurde 1195 eine Eingangshalle angebaut. 1220 wurde die Marien(?)-Kapelle mit einer der Heiligen Anna geweihte Krypta unmittelbar an den Rundbau angebaut (heute nicht mehr vorhanden), 1240 die Chancel (Chorhalle). Vgl. die Skizze bei Walter Hindes Godfrey, Recent Discoveries at the Temple, London, and Notes on the Topography of the Site, in: Archaeologia 95 (1953), S: 123–140, hier Plate LI nach S. 140. Die Annenkapelle diente möglicherweise als Schatzhaus, vgl. Godfrey a. a. O. S. 130; Virgina Jansen, Light and pure. The Templar’s new Choir, in: David Park/Robin Griffith-Jones (Hg.), The Temple Church in London, Woodbridge [u. a.] 2010, S. 45–66, hier S. 62 Anm. 53. 103 Vgl. Skibin´ski, Kaplica (wie Anm. 1), S. 101: »Program formalny francuskych kaplic pałacowych, tzn. rozplanowanie i system architektoniczny ich gjrnej kondygnacji, był nierozerwalnie zwia˛zany z rozwojem kathedralnych, osiowych kaplic mariakych.«

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der ähnlichen liturgischen Funktionsbindung näher als die zahlreichen anderen Beispiele von doppelgeschossigen Kirchen, die die Forschung bemüht hat.104 Und selbstverständlich ging es auch in London um weit mehr als um den Glanz für die Ordensresidenz oder erweiterten Raum für steigende Besucherzahlen.

Abb. 5: Grundriss des London Temple nach W. Godfrey (wie Anm. 102).

Spätestens nach der Einwölbung der Annenkapelle wurde es unvermeidlich, dass im Chor der Oberkirche das Bodenniveau gegenüber der bisherigen Kapelle ansteigen musste, d. h. es wurden bei der Festlegung der Gewölbehöhe der Annenkapelle auch schon die von der Ordensnotula abstrakt geforderten gradus presbiterii105 geplant – die Stufen zur liturgisch gewollten Erhöhung der Chorhalle gegenüber dem restlichen Kirchenraum, und ebenso die Anlage der Unterkapelle als Durchgang unterhalb des noch gar nicht errichteten Hochaltars mit seiner Heiltumslade. Die alte Außenmauer wurde bis zur Höhe der Gewölbe der Annenkapelle eingerissen. Ihr unterer Teil diente fortan als Westwand dieser Kapelle,106 während sie im Obergeschoß vom Fußboden verdeckt wurde. Sie konnte außerdem als Fundament für liturgischen Aufbauten dienen, also für die neuen Altäre und die Chorstufen und ggf. auch für eine Chorschranke dahinter. Da die Annenkapelle weder vom Kellergeschoß des Hochschlosses noch von der Oberkirche einen Zugang hat, konnte sie ohne Beeinträchtigung des Gottesdienstes in der Ober-Kapelle errichtet werden; diese selbst wird man bis zur Chorweihe mit einer provisorischen Holzwand hinter dem Altar verschlossen haben. Aus bautechnischen Gründen muss die Annenkapelle vor der Chorhalle 104 Zahlreiche Beispiele bei Adamski, Pierwotne funkcje (wie Anm. 80), S. 13–22. 105 Das Deutschordensmissale macht hier eine interessante Entwicklung. Die Handschrift StB Olmütz, Ms. M III 44 (von 1330) setzt fol. 92rb: Proinde dum tercia cantatur tempore [prior vel hebdomarius] et ministri de vestiario in presbiterium procedant sine aliquo processionis apparatu … Im Missale OT (wie Anm. 67) von 1499 heißt es fol. LIXr : … de vestiario ante presbiterium procedant. In der älteren Fassung spielt sich die Palmweihe also hinter den Chorstufen und damit ggf. dem Lettner ab, in der späteren davor im Angesicht der Gemeinde. 106 Das ist deutlich erkennbar an den Feldsteinen, die die Westwand der Kapelle bilden.

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fertiggestellt worden sein, offenbar schon vor dem Tod des Hochmeisters Dietrich von Altenburg am 10. 6. 1341. Er wurde hier als erster Hochmeister bestattet.107 Das dreiteilige Konzept steht in der Temple Church in London wie auf dem Hochschloss der Marienburg in Zusammenhang mit einem Marienpatrozinium und dem Bedürfnis nach einer intensiven Verehrung des Heiligen Kreuzes108, das beiden Orden als Erkennungszeichen diente.109 Doch während die Marienverehrung des Deutschen Ordens in der Forschung kontinuierlich Berücksichtigung findet, wird die Kreuzverehrung eher vernachlässigt. Dabei sind ihre Spuren unübersehbar, z. B. in einer Legende, die Peter von Dusburg aufgezeichnet hat: De isto fratre Henrico Stangone commendatore de Cristburgk refertur indubitanter, quod dum ipse in capella flexis genibus ante altare rogaret deum, ut ostenderet ei aliquo signo, si ejus graciam memisset, crucifixus ligneus, coram quo oravit, extendit brachium suum, et cruce signando ipsum benedixit, quo signo viso contentus recessit. Hoc vidit et publicavit frater Heindricus ejusdem castri sacerdos, qui tunc orando in quodam capelle angulo latitabat. (SSrPr 1,90110)

Die Erzählung illustriert die von den Laienbrüdern – hier dem Komtur von Christburg – geübte paraliturgische Andachtspraxis. Schon die Statuten beziehen sich fortwährend auf das Kreuz und Jesu Leiden daran.111 In der Darmstädter Statutenhandschrift folgen auf die Regeln und Gesetze die die Suffragien von Heiligen Kreuz, der Heiligen Jungfrauen und der Heiligen Elisabeth.112 Eine Verklärung des Leidens am Kreuze findet sich – darauf wies Bernhard Schmid hin – bei Tilo von Kulm.113 Dass solche gereimte Homiletik auch die Brüder 107 Cujus Corpus cum devotione et multorum gemitu deductum fuit in castrum S. Mariae in capella S. Annae in cripta, quam ipse sibi ordinaverat, fuit tumulatum (Chronik von Oliva, SRP 1,720). 108 Arno Mentzel-Reuters, Gab es eine Spiritualität der Templer? in: Karl Borchardt [u. a.] (Hg.), The Templars and Their Sources (Crusades. Subsidia, 10), London [u. a.] 2017, S. 212–234. 109 Nicht nur in der polnischen Bezeichnung »zakon krzyz˙acki«, sondern auch in der wohl aus dem Orden selbst stammenden Apotheose, mit deren Paraphrase Simon Grunau den Deutschen Orden in seine Chronik einführt, verdrängt die Vorstellung der Ordensbrüder als Kreuzritter den Aspekt der Marienverehrung. Diese ist ja praktisch allen monastischen Gemeinschaften eigen und z. B. bei Zisterziensern oder Karmeliten viel stärker als im Deutschen Orden ausgeprägt. 110 Entspricht den Versen 9825–9832 bei Nicolaus von Jeroschin. 111 Regel 1 fordert eine Imitatio Christi, u. a. weil daz armiite volgete im ouch sin leben mite, biz du er ouch nacket gehinc durch uns an dem cruce; ebenso Regel 28: wenne s% daz ceichen der mildekeit unde des ordenes an dem cr0ce 0zwendich w%sent, daz sie ouch den l0ten daz mit guten bilde der werke unde nutzen worten beweren, daz Got mit in unde in in s%. Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 29 bzw. S. 50. 112 Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. XIII. 113 Tilos von Kulm Gedicht Von siben Ingesigeln, aus der Königsberger Handschrift hg. von

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erreichte, beweist das einzigartige Brustreliquiar, das von 1412 bis 1820 im Gnesener Domschatz verwahrt wurde.114 Selbst wenn es nicht dem erschlagenen Ulrich von Jungingen abgenommen worden sein sollte, ist schon durch den Auftraggeber Tilo von Lorich († nach 1395), Elbinger Hauskomtur und Unterspitteler, die Zugehörigkeit zum Orden gesichert.115 Wir haben auf der Innenseite links eine klassische Kreuzigungsgruppe mit Maria und Johannes. Der Stiftungsort Elbing erinnert daran, dass sich im dortigen Ordenshaus das früheste Zentrum einer Heilig-Kreuz-Verehrung im Ordensland findet, nämlich ein Partikel des Wahren Kreuzes, auf das Peter von Dusburg hinweist: Unde factum est, quod postquam Veneti pro rebellione, quam contra imperium exercuerant, essent graviter correcti, magam partem sancte crucis Friderico imperatori secundo pro speciali munere obtulerunt, quam idem imperator dicto magistro dedit, qui eam versus Prussie partes misit ad castram Elbingense, ubi usque in presentem diem a cristifidelibus in magna revecencia habetur, propter crebra miracula (SSrPr 1,31)116

Zu nennen wäre auch das Kreuzigungsbild, das 1402 für die Hochmeisterkapelle gemalt wurde (MTB 158,40 f). Für die Kirche der Marienburg wird in dem sarke des Hochaltars daz heilige crucze, daz man des frytages kuschet (MÄB 124,2) aufbewahrt, sowie in des Glockmeisters Sakristei ein Seidentuch uff das kossen des freytages zum crucze (MÄB 127,28f.). Die Baumeister setzten die Ordnung des Generalkapitels von 1329 am Marienburger Hochschloss konsequent um. Ganz offenkundig wird das in der ikonographischen Ausgestaltung der Portale der Annenkapelle. Das Nordportal ist ganz traditionell den Marienfesten gewidmet: Seine Themen sind die Anbetung der Hl. Drei Könige und Mariae Himmelfahrt an den Seitenwänden, während die Marienkrönung mit Elementen des Jüngsten Gerichts (Pforte der Seligkeit und Höllenrachen) das Mittelfeld füllt.117 Auf dem Südportal jedoch wird das Motiv

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Karl Kochendörffer (Deutsche Texte des Mittelalters, 9 = Dichtungen des Deutschen Ordens, 2), Berlin 1907; Bernhard Schmid, Gotische Kruzifixe in Preußen, in: Mitteilungen des Coppernicus-Vereins für Wissenschaft und Kunst zu Thorn 27 (1919), S. 43–55, hier S. 46f. verweist auf die Verse 4604–4626, die tatsächlich eine spätgotische Leidensverklärung erkennen lassen, aber nicht unbedingt einer besonderen Kreuzverehrung zugehören. Johannes Schneider, Die silberne Reliquientafel der Marienburg vom Jahre 1388 – Ein Kunstwerk aus der Blütezeit des Deutsch-Ritterordens, in: Jahrbücher der königlichen Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt N. F. 34 (1908), S. 53–68; Michał Woz´niak, Das Reliquiendiptychon des Elbinger Hauskomturs Thilo von Lorich, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1992, S. 51–62. Zur Person Woz´niak, Reliquiendiptychon (wie Anm. 114), S. 52. Entspricht bei Nicolaus von Jeroschin den Versen 1119–1142. Es finden sich Entsprechungen zu der Darstellung der Marienkrönung in der Handschrift UB Torun rps. 44/IV, fol. 175v–176r die über bloße typologische Ähnlichkeit hinausgehen. Da die Marienkrönung in rps. 44/IV singulär ist, kann nicht mit Sicherheit entschieden werden, ob den Steinmetzen der Marienburg eine Handschrift der Apokalypse Heinrichs von Hesler als Vorlage diente oder ob (was ich für weniger wahrscheinlich halte) das

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des Jüngsten Gerichtes (ebenfalls mit den beiden apokalyptischen Pforten)118 durch die Kreuzholzlegende mit der narrativen Darstellung des Weges von der Auffindung zur Kreuzerhöhung aus dem Tympanon an die östliche Seitenwand verdrängt und steht nun der Himmelfahrt Christi gegenüber.119 Den neuen Mittelpunkt des Tympanons bildet nunmehr die Rückführung des Kreuzholzes nach Byzanz.120 Im Kontext einer Begräbniskapelle für die Hochmeister121 sind Marienkrönung und Jüngstes Gericht angemessene Szenen, die wir auch im Bildprogramm der Handschriften zur ›Apokalypse‹ Heinrichs von Hesler wiederfinden, das eindeutig für den Gebrauch im Deutschen Orden angepasst wurde.122 In diesem Bildprogramm spielen jedoch das Kruzifix und das Fest der Kreuzerhöhung keine Rolle. Nun ist aber die Kapelle als Durchgang angelegt, was eine Prozession an den Hochmeistergräbern vorbei auf den Friedhof der Brüder ermöglichte, die gleichzeitig unter dem Hochaltar der Kirche mit seinen Heiltümern hindurchführte. In gleicher Form ermöglichte der Heiltumsstuhl auf dem Wiener Stephansplatz den Gläubigen,123 in einer Prozession den im Obergeschoß aufbewahrten Reliquien nahe zu kommen; in ähnlicher Weise wurde 1356–1371 in Neustadt an der Weinstraße der Nordturm des Liebfrauenstifts124 mit einem offenen Durchgang gestaltet, der unter den Reliquien im Obergeschoß des Turms125 hindurchführte. Dieser Reliquienschatz war von vorne herein auf

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Marienburger Relief auf die Handschriftenillustration wirkte. Vgl. Arno Mentzel-Reuters, Heinrich von Hesler – von Thüringen nach Preußen. Facetten deutschsprachiger Bibeldichtung 1250–1350, in: Thomas T. Müller (Hg.), Der Deutsche Orden und Thüringen. Aspekte einer 800–jährigen Geschichte, Petersberg 2014, S. 43–74, hier S. 61 (Abb. 5). Zur Deutung solcher Darstellungen vgl. Notger Slenczka, Der endgültige Schrecken. Das Jüngste Gericht und die Angst in der Religion des Mittelalters, in: Das Mittelalter 12 (2007), S. 97–112. Die Skibin´ski, Kaplica (wie Anm. 1), S. 139f. genannten Anspielungen auf die apokalyptischen Völker Gog und Magog und den Heidenkampf vermag ich nicht zu erkennen. Peter von Dusburg notiert dieses Ereignis in seinen Inzidenzien: Nota, quod circa annum domini DC eo tempore, quo Machometus moriebatur, Heraclius imperator in bello procedens contra Cosdroem regem Persarum devicit, et partem ligni dominici, quam de templo domini tulerat, reportavit, ecclesias dei et terram sanctam, quam destruxerat, reparavit. (SRP I,206). Józ´wiak/Trupinda, Pogrzeby (wie Anm. 81), S. 27–36. Mentzel-Reuters, Von Thüringen nach Preußen (wie Anm. 117), S. 70 und Abb. 5 (S. 61). Vgl. Sabine Heiser, Andenken, Andachtspraxis und Medienstrategie, in: Andreas Tacke (Hg.), »Ich armer sundiger mensch«. Heiligen- und Reliquienkult am Übergang zum konfessionellen Zeitalter, Göttingen 2006, S. 208–238, zum Wiener Heiltumsstuhl S. 218f. Ein Patrozinium des Hl. Ägidius wurde um 1400 in ein Marienpatrozinium umgewandelt. Eine Auflistung bei Johann Georg Lehmann, Geschichtliche Gemälde aus der Pfalz. Das Neustadter Thal (Geschichtliche Gemälde aus dem Rheinkreise Bayerns, 3), Frankenthal 1841, S. 61f.

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Nachstiftungen angelegt, die ihn erheblich aufgewertet haben.126 Die mit 14 Kanonikern besetzte Stiftskirche wurde als Grablege der Wittelsbacher Pfalzgrafen errichtet und demonstriert eine »bislang zu wenig betonte enge Verbindung zwischen Reliquienstiftung und Grablege«.127 Gilt dies nicht auch für das Hochschloss der Marienburg? So werden auch in der Annenkapelle Reliquien128 aufbewahrt, darunter 1394 und 1398 1 crucze mit dem heiligen holcze (MÄB 124,20 = 126, 7).129 1374 kam das gros silbereyn crucze, doe das grosse heilge holtcz inne ist (MÄB 129,27f.) durch Schenkung des französischen Königs Charles V. (König 1364–1380) hinzu.130 Das Bewusstsein des Ordens als Kreuzorden kommt in den Exequien zum Ausdruck, in denen die Verstorbenen mit dem Ordenswappen bedeckt werden. Dafür wurden in der kleinen Sakristei doe die sich die prister inne anczihen drei Laken131 bereitgehalten: item eyn gros weys tuch mit dem gulden crucze und adler offs spolium wenn man die meister begeeth, czwee gemeyne weisze tucher uff die spolia mit swarczen cruczen wenn man dy herren begeeth (MÄB 129,24–27 = 133,29–31). Die Aufbewahrungsstelle erlaubt den Schluss, dass das Requiem in der Kirche abgehalten wurde;132 anschließend schreitet der Kondukt hinter dem Holzkreuz, damete man die herren zcu grabe treith und bringhet (MÄB 127,29), durch das Haupttor und den Hausgraben zur Annenkapelle, wo man die Hochmeister in die Gruft senkte, während die Brüder 126 Carola Fey, Beobachtungen zu Reliquienschätzen deutscher Fürsten im Spätmittelalter, in: Tacke, sundiger mensch (wie Anm. 123), S. 11–36, hier S. 15. 127 Fey, Reliquienschätze (wie Anm. 126), S. 15. Um 1406 folgte die Reliquienstiftung der Landgräfin Elisabeth von Öttingen, vgl. Carola Fey, Die Reliquienstiftung Kurfürst Ruprechts I. von der Pfalz als Spiegel fürstlicher Frömmigkeit und materieller Kultur im späten Mittelalter, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 58 (2006), S. 131–147, hier S. 144. 128 Waldemar Rozynkowski, S´redniowiecyne wyposaz˙enie liturgicyne kaplicy ´sw. Anny, in: Hochleitner/ Mierzwin´ski, Kaplica ´sw. Anny (wie Anm. 80), S. 79–84, zu den Reliquien S. 81. 129 In den Inventaren von 1437 und 1439 wird es nicht mehr genannt, dafür aber findet sich in dem singulären Inventar des Hochmeisterstuhls von 1437 eyn cleyn crucze gantcz goldyn, doe ouch vom heilgen holtcze inne ist (MÄB 129,28f.). 130 Es wurde 1456 nach Danzig verbracht, vgl. den Bericht der Jüngeren Hochmeisterchronik SRP. 5, S. 141, über dat groet schoen stuck van den heiligen cruys ons Heren, dat seer costeliken beslagen was bzw. die Chronik Heinrichs von Rheden: Anno 1374 sandte der konig auß Franckreich dem Hoemeyster her Wynrich Kniprode das gulden Creutz mith dem Heyligenn holtz, also gemacht wy es noch heutt yst yn der parkirchenn zu vnser Liebenn Frauwenn Mariam. (SBPK Berlin, Ms. boruss. fol. 176, 79v, mit Zeichnung). 131 Vgl. Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 71: In eime iegelichen h0s sal man haben ein w%z t0ch mit einme swarzen cr0ce zu der begrabunge unser br0dere, die da verscheiden (Gesetz 20). Nachweise für solche Grabtücher aus den einzelnen Ordenshäusern bei Józ´wiak/ Trupinda, Pogrzeby (wie Anm. 81), S. 32. 132 Józ´wiak/Trupinda, Pogrzeby (wie Anm. 81), S. 32 lokalisieren die Exequien ohne Quellenangabe in die Annenkapelle (»specjalna z˙ałobna msza ´sw. odprawiana w kos´ciele ´sw. Anny«).

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durch die Kapelle hindurch zum Parcham geleitet wurden. Für an den nachfolgenden Tagen angesetzten Seelenämter, die auch ohne Konvent abgehalten werden konnten, wird die Annenkapelle genutzt worden sein. Dort findet sich (nur im Inventar von 1437) zusätzlich eyn todentuch mit dem adler (MÄB 130,26). Das allgemeine Totengedenken, das Regel 10 der Ordensstatuten allen Brüdern vorschreibt,133 kann schon aus Platzgründen nur als Andacht in der Kirche abgehalten worden sein.

chorherre, Meisters Kaplan und Prior Das besondere Augenmerk, das nach dem Kirchenumbau der Chorhalle zukam, wird in einem Amt deutlich, über das wir leider wenig wissen, nämlich jenes des (es gab wohl immer nur einen) »Chorherren«. Man wird es als ›Herr des Chores‹ zu interpretieren haben, doch meint das nicht die Schola cantorum und die singenden Schüler. Diese wurden, wie das Ämterbuch unmissverständlich ausweist, von rectores angeleitet.134 ›Chor‹ meint hier den liturgischen Raum, also das groß angelegte Presbyterium mit Hochaltar und den Sakristeien, was die Gestaltung des Chorgebetes und der Hochämter einschloss. Diese Aufgaben konnte der Glockmeister nicht übernehmen, da er keineswegs immer ein Priesterbruder war.135 Der bekannteste Träger des Titels ›Chorherr‹ war Nikolaus von Synthen, dem wir die besten Inventare sowohl des Haupthauses wie der preußischen Ordenshäuser verdanken. Sein Lebenslauf vermittelt uns auch etwas über die Qualifikationen und Berufsziele der Priesterbrüder auf der Marienburg. 1406–1409 finden wir ihn in Marienwerder als Domvikar.136 1437/38 wirkte er an der Visitation mit, die im Großen Zinsbuch dokumentiert wurde. Bereits kurz zuvor erstellte er als der chorherre (MÄB 126,32) zusammen mit dem Hauskomtur ein Inventar des Glockamtes, das ins Marienburger Ämterbuch einging. 1439–1441 bekleidete er selbst das Amt des Glockmeisters, firmierte aber weiterhin als »der Chorherr« (MÄB 131,10), d. h. diese Ämter schlossen sich weder aus noch ist der Glockmeister dem Chorherren übergeordnet oder gar weisungsbefugt. 1442 nennt sich bruder Niclis Conitcz chorhere 133 Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 36–38. Diese Vorschrift gibt ein anschauliches Bild für eine Laienandacht, wie sie am Mittelaltar der Marienkirche abgehalten werden konnte, darf aber nicht mit einer Missa cantata nach der Ordensnotula verwechselt werden. 134 Unter den Chorbüchern in der kleinen Sakristei doe die sich die prister inne anczihen erscheint 1439 ein buch doe die rectores usz syngen ader regiren (MÄB 129,17 f). 135 1437 trat Hans von der Heyde das Amt des Glockmeisters als Nachfolger von Engelbart Noethafft an, das er 1439 Nikolaus von Synthen übergab. 1428 war Hans Karwansherr (MÄB 108,5), was nicht für eine Priesterweihe spricht. 136 Vgl. Mario Glauert, Das Domkapitel von Pomesanien (1284–1527) (Prussia sacra, 1), Torun´ 2003, S. 97.

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von Marienburg, visitirer czu den geczeyten in Livlande137, als Nikolaus von Synthen vermutlich bereits Stadtpfarrer von Althaus-Kulm war.138 1443 wird der Chorherr Johannes genannt (MÄB 160,8)139 ; wahrscheinlich handelt es sich um Johannes Graudentz140, der 1456 der letzte Glockmeister der Marienburg war. Dessen Stellung als Chorherr war vermögender als die des Glockmeisters, verfügte er doch über 10 gutte m[ark], wohingegen her Niclos der glagmeister nur 3 gutte m. (MÄB 160,10) Barschaft vorweisen konnte. Der letzte Chorherr der Marienburg – und gleichzeitig Kaplan des Hochmeisters – war Jost Cropp, der 1456, kurz vor der Übergabe der Burg, liturgische Bücher vor den Söldnern in Sicherheit brachte und in der Marienburger Neustadt bei einem Bäcker deponierte.141 Es mag irritieren, dass ein solches Amt nicht in den Statuten des Ordens verankert ist. Das ist jedoch kein Einzelfall. Etwa gleichzeitig mit der Verlegung des Hochmeistersitzes auf die Marienburg tritt uns das ebenfalls von Cropp bekleidete Amt des Kaplans des Hochmeisters und Leiters der hochmeisterlichen Kanzlei142 entgegen. Der erste Hochmeister-Kaplan, den wir namentlich

137 Friedrich Georg von Bunge / Hermann Hildebrand (Hg.), Liv-, est-, und kurländisches Urkundenbuch, 9. 1436–1443, Riga 1889, S. 578 Nr. 846. In den früheren Akten der Visitation (ebd. Nr. 804 und 834) firmiert Nikolaus Konitz nur als Priesterherr. Zur Visitation insgesamt vgl. Bernhart Jähnig, Verfassung und Verwaltung des Deutschen Ordens und seiner Herrschaft in Livland (Schriften der Baltischen Historischen Kommission, 16), Münster 2011, S. 211–213. 138 Nikolaus von Synthen ist dort spätestestens 1445 und mindestens bis 1449 nachweisbar. 1449 wurde er mit der Visitation des Kulmer Landes beauftragt. Danach verliert sich seine Spur. Vgl. Arno Mentzel-Reuters, Priesterbrüder und Intellektuelle im Deutschen Orden, in: Udo Arnold (Hg.), Priester im Deutschen Orden. Vorträge der Tagung der Internationalen historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens in Wien 2012 (QStGDO, 77), Weimar 2016, S. 113–130, hier S. 128. 139 War er der chorherre, dem 1445 I 13 die eine Hälfte des Kerbzettels mit dem Inventar des Marienaltars im Danziger Ordenshaus übergeben wurde? Zum Vorgang vgl. Bernhart Jähnig, Inventar und Zinsen des Marienaltars im Deutschordenshaus Danzig 1445, in: Zeitschrift für Ostforschung (1985), S. 379–384, hier S. 384. Jähnig deutet den Chorherren als »den für diesen Marienaltar zuständigen Geistlichen« (S. 380). Das würde bedeuten, dass das Institut des Chorherren auch im Ordenshaus Danzig bestanden hätte. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass der Marienburger Chorherr als Bevollmächtigter des Hochmeisters in dem hausinternen Konflikt vermittelte. 140 Zu ihm Mentzel-Reuters, Arma spiritualia (wie Anm. 59), S. 257 Anm. 1043. Er wird zusammen mit Nikolaus von Synthen genannt MÄB 129,3. 1456 bekleidete er das Glockmeisteramt, als Jost Cropp gleichzeitig Kaplan des Hochmeisters und Chorherr war. Auch hier ist die Hierarchie der Ämter unklar. Cropp scheute sich nicht vor Auseinandersetzungen mit dem Episkopat, wie aus der Beschwerde des pomesanischen Bischofs 1456 III 30 hervorgeht, in dem er nur als Chorherr angesprochen wird (OBA 14374). 141 Einzelheiten bei Mentzel-Reuters, Arma spiritualia (wie Anm. 59), S. 256f. 142 Klaus Militzer, Herren der Schriftlichkeit und Verwaltungsfachleute. Kanzler der Hochmeister, in: Udo Arnold (Hg.), Priester im Deutschen Orden. Vorträge der Tagung der

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kennen, ist Nikolaus von Jeroschin, der nach eigenen Angaben unter Luther von Braunschweig und Dietrich von Altenburg dieses Amt innehatte.143 Es führte manchen Inhaber später auf einen preußischen Bischofsstuhl. Die Auflistung der Zelebranten im Inventar des Glockamtes von 1437 legt nahe, dass der Kaplan des Hochmeisters als ranghöchster Kleriker vor Ort angesehen wurde. Wir finden, ohne dass dies jemals explizit mit einem Amt wie jenem des Kaplans verbunden wäre, in anderen Quellen zusätzlich den Titel eines Marienburger Priors. Als Prior oder Probst wurde im allgemeinen der Leiter eine Ordenshauses bezeichnet, das überwiegend mit Priesterbrüdern besetzt war und dementsprechend einen Kleriker zum Vorstand hatte.144 Die wenigen Schwesternhäuser des Ordens kannten offenbar auch das Amt einer Priorin.145 Das wichtigste Haus mit einem Prior an der Spitze war seit dem späten 13. Jahrhundert Marburg.146 Das Ordensmissale weist dem Prior neben allgemeinen Anweisungen wie si prior non affuerit hebdomarius cantet missam (fol. LIXr) eigene liturgische Aufgaben zu.147 Die Johanniterregel kennt das Amt eines General-Priors148 ; in den Deutschordensstatuten wird einmal im Zusammenhang mit den Bußübungen der Priesterbrüder auch von einem solchen gesprochen – aber die Zuständigkeit weicht in den einzelnen Fassungen erheblich ab.149 Gleichwohl ist es im 13. Jahrhundert urkundlich nachgewiesen.150 Für die Marienburg tritt 1333–1334 der Prior Siegfried auf.151 Ob er über das houbthusz

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Internationalen historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens in Wien 2012 (QStGDO, 77), Weimar 2016, S. 1–18. Über seine hohe intellektuelle Qualifikation vgl. Mentzel-Reuters, Priesterbrüder (wie Anm. 138), S. 114–121. Klaus Militzer, Von Akkon zur Marienburg. Verfassung, Verwaltung und Sozialstruktur des Deutschen Ordens. Bd. 1. 1190–1309 (QStGDO, 56 = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, 9), Marburg 1999, S. 292. Die Kapelle auf dem Tannenberger Schlachtfeld wurde von einem Probst geleitet, der zum Marienburger Konvent gehörte, vgl. Sven Ekdahl, Ein Inventar der Propstei auf dem Schlachtfeld von Tannenberg aus dem Jahre 1442, in: Preußenland 21 (1983), S. 1–9, hier S. 6. Der liturgische Terminus prior vel hebdomarius wird im Ordensbrevier Kungliga biblioteket Stockholm, Ms. Huseby 25, das wahrscheinlich aus Frankfurt am Main stammt, durch die oberste oder die wochenerin ersetzt, vgl. Anette Löffler, Swester und Oberste. Ein Brevier für einen Schwesternkonvent des Deutschen Ordens, in: Ordines militares 20 (2015), S. 205–237, hier S. 227. Braasch-Schwersmann, Deutschordenshaus Marburg (wie Anm. 66), S. 197. Nämlich die Fußwaschung am Gründonnerstag, vgl. Missale OT (wie Anm. 67), fol. LXXVv. Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. XLII. Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 87–89: Gesetze 40–44. Gesetz 43 nennt den Prior nur in der lateinischen Fassung: in arbitrio superioris et prioris et fratrum, in der deutschen heißt es: si stet ez an des obersten unde der br0dere bescheidenheit, Perlbach, Statuten (wie Anm. 40), S. 89. Militzer, Von Akkon zur Marienburg (wie Anm. 144), S. 67. Max Hein und Erich Maschke (Hg.), Preußisches Urkundenbuch 2. 1310–1335, Königs-

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hinaus Funktionen für den gesamten Orden übernahm, ist nicht zu erkennen. Die Bulle Bonifaz’ IX. vom 16. 6. 1400 verleiht dem Prior des Hauses Marienburg das Recht, den Bischofsornat zu tragen152 – der General-Prior der Johanniter erhält dieses Privileg erst 1433 durch Eugen IV.153 Am Ende des 15. Jahrhunderts sieht ein nicht umgesetzter Reformentwurf des Deutschen Ordens die Einführung eines über alle Priesterbrüder gesetzten General-Priors vor.154

Kirchenschiff, Altar und Chor Praktisch auf der aufgebrochenen Ostwand des Schlosses155 wurden 3 cleyn altare (MÄB 123,30) aufgestellt: Der Mittelaltar ist durch das grosz crucze, daz man czu totum duplex uf den mittelsten alter pfleget czu tragen (MÄB 124,4) als Heilig-Kreuz-Altar156 gekennzeichnet. Hinzu kamen ein Frühmessaltar (MÄB 127,8 = 131,22) für eine vereinfachte Messe, die nach den Vorgaben aus dem frumessebuch (MÄB 124,7 = 126,20) vor Beginn der Tagesarbeit stattfand, und ein Liebfrauenaltar für die eucharistische Anbetung (MÄB 128,24f.). Es ist durch die Angabe item vier czynnen schusselen bey den vier altaren (MÄB 129,12f.) ausgeschlossen, dass sich noch weitere, zufällig nicht inventarisierte, Altäre in der Kirche befanden. Die Position dieser Altäre wird in den Inventaren nicht

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berg 1932–1939, Nr. 794 S. 532 (bruder Ludolf des houpthuszes treszler, …, her Syfrid prior des vorgenanten huszes), Nr. 818, S. 548 (Siffrido priore domus in Marienburg), S. Nr. 854, S. 577 (frater Siffridus de Merginburg sacerdos). Schon 1398 wurde dieser Ornat im der großen Sakristei im Turm aufbewahrt: gantcz bischhoffgerethe mit der infylen und mit stabe (MÄB 125,7 = 130,11–12). Jürgen Sarnowsky, Macht und Herrschaft im Johanniterorden des 15. Jahrhunderts. Verfassung und Verwaltung der Johanniter auf Rhodos (1421–1522) (Vita regularis 14), Münster 2001, S. 269. Nie umgesetzter Reformentwurf des Ordenskanzlers Michael Sculteti († 1501) von 1494, gedruckt bei Arno Mentzel-Reuters, Reformschrifttum und Humanismus. Der Deutsche Orden am Vorabend der Reformation, in: Roman Czaja / Jürgen Sarnowsky (Hg.), Die Rolle der Schriftlichkeit in den geistlichen Ritterorden des Mittelalters (Ordines militares, 15), Torun´ 2009, S. 53–84, hier S. 81 Nr. 6: Item dass man yn vnßrem orden widder wmb macht eynen Prioren der alle geistlicheit zu straffen hette nemlich aber dy priesterbruder nach lawth unsers ordens buch privilegia und gemeyne rechte wen dass kann nicht geßeyn dass eyn Comthur eynem geweyten busße setze und dass man yn eyner itzlichen comthurej eynen Prioren machete. Steinbrecht behielt die Position der Nebenaltäre aus der Jesuitenzeit bei, wodurch sie hinter der Chorschranke standen. Der mittelalterliche Chorraum kennt aber keine Nebenaltäre. Vermutlich wurden die geosteten Seitenaltäre beim Abriß des Lettners um 908 gedreht und kamen nun an den Außenwänden zu stehen, während der Mittelaltar aufgegeben wurde. Archäologisch nachgewiesen werden konnte er ebenso wenig wie die Originalstandorte der Nebenaltäre nicht. Vgl. Woz´niak, Wyzosaz˙enie (wie Anm. 39), S. 115–117, der allerdings den Mittelaltar wortwörtlich in der Mitte des westlichen Kirchenraums platzieren möchte, vgl. Anm. 230.

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genau angegeben.157 Archäologischen Spuren haben sich nicht erhalten.158 Daher kann nur von allgemeinen Prinzipien des zeitgenössischen gotischen Kirchenbaus ausgegangen werden, nach denen ein Mittelaltar zwar an der gleichen erhöhten Stelle wie der moderne Volksaltar stand, aber nicht wie dieser im freien Raum, sondern so, dass darüber ein Triumphkreuz montiert und hinter dem Altar eine Chorschranke als Raumabschluss errichtet wurde.159 Während dies in Dom-, Stifts- und größeren Pfarrkirchen die Regel bildete, ist eine Anordnung wie in der heutigen Marienkirche –Triumphkreuz ohne Altar an der Nordwand und ein einzelner freistehender Volksaltar – völlig ungewöhnlich und in hohem Maße erklärungsbedürftig. Insofern spricht manches dafür, dass das Triumphkreuz mit seinen Begleitfiguren einmal im Gewölbe über den Chorstufen montiert war und dass sich unter ihm eine mehr oder minder rigide Wand befand, vor der die drei Altäre in einer Reihe standen und zwischen denen zwei Durchgänge in den Chor führten. Allzu massiv kann diese Chorschranke nicht gewesen sein, da sie im Maßwerk der Kirchenwände keine Spuren hinterlassen hat. Es ist also sehr fraglich, ob man den Lettner der Elisabethkirche in Marburg zum Vergleich heranziehen kann, der sehr massiv wirkt, obschon er aus einer dünnen Wand aus gotischem Maßwerk besteht, das mit den Gewölbepfeilern nur durch Putz verbunden ist. Außerdem sind in Marburg die Nebenaltäre in die nördliche und seitliche Konche verlegt. Ein schönes Beispiel eines Lettners mit drei Altären160 befindet sich noch heute in der Liebfrauenkirche zu Oberwesel.161 Einen eindrucksvollen 157 Michał Woz´niak, Art and Liturgy in Teutonic castle churches, in: Jarosław Wenta (Hg.), Sacred Space in the State of the Teutonic Order in Prussia (Sacra bella septentrionalia, 2), Torun´ 2013, S. 153–180, hier S. 165 geht in Übereinstimmung mit der Rekonstruktion von Conrad Steinbrecht davon aus, dass die Nebenaltäre nicht geostet waren, sondern wie zur Jesuitenzeit an der Nord- bzw. Südwand standen. Für den Mittelaltar schlägt er eine Aufstellung in der Mitte des Raums vor dem Chor oder unmittelbar unter der Kreuzigungsgruppe im dritten Gewölbejoch vor, vgl. Woz´niak, Wyzosaz˙enie (wie Anm. 39), S. 117. Er gibt letzterer Position wegen ihrer »tiefen Bedeutung« (»głe˛boki sens«) den Vorzug. 158 Einen ausführlichen Bericht gibt der Beitrag von Kasimierz Pospieszny in diesem Band. 159 Jacqueline E. Jung, The gothic screen. Space, sculpture, and community in the cathedrals of France and Germany, ca. 1200–1400, Cambridge [u. a.] 2013; Erika Doberer, Lettner, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2Freiburg 6 (1961), Sp. 987–988. 160 Vgl. Klaus Gamber, Die Funktionen des gotischen Lettners aufgezeigt am einstigen ›Lectorium‹ des Regensburger Doms, in: ders., Sancta Sanctorum. Studien zur liturgischen Ausstattung der Kirche, vor allem des Altarraums, Regensburg 1981, S. 109–119, hier S. 113: »Für die Seelsorge der Gläubigen war der zentral gelegene Kreuzaltar bestimmt, der verschiedentlich, wie im Regensburger Dom, fest mit dem Lettner verbunden war. In den Fällen, in denen der Eingang des Chores sich in der Mitte des Lettners befand, waren in der Regel zwei Altäre links und rechts davon zur Abhaltung der Seelsorgegottesdienste angebracht.« 161 Schmelzer, Lettner (wie Anm. 5), S. 65f., 186. Weitere Beispiele für Lettner mit drei Altären lassen sich mühelos im Bildmaterial dieser materialreichen Untersuchung finden.

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Lettner besaß auch das hessische Ordenshaus Zschillen (heute Wechselburg162). Er stammte allerdings noch aus der Zeit des Augustinerchorherrenstiftes, das 1278 dem Deutschen Orden angeschlossen wurde, aber die Aufgaben des Chorherrenstiftes übernahm.163 Zschillen war wie der benachbarte Marburger Konvent in Priesterhand. Sein Prior wirkte bei der Einsetzung des ersten Königsberger Domkapitels mit, und von hier kam am Ende des 15. Jahrhunderts Hiob von Dobeneck auf den pomesanischen Bischofsstuhl (Bf. 1501–1521). Dass in Zschillen der Raum hinter dem Lettner auch in der Ordenszeit nicht ungenutzt blieb, darf man voraussetzen, da die Kirche der Bevölkerung offenstand.164 Für die Marienburg sollte man solche Parallelen nur als Anregung betrachten und auf hoch spekulative Rekonstruktionen verzichten. Die Quellen sagen nichts darüber, wie die Teilung des Kircheninneren hinter den Altären und den Chorstufen gestaltet wurde. Dass sie aber vorhanden gewesen sein muss, ergibt sich aus der vor-tridentinische Liturgie. Der freie Blick in den Chorraum und der frei im Raum stehende Volksaltar sind mit der modernen, vom Tridentinum geschaffenen, missa versus populum165 verbunden, wo der Priester auf die Gemeinde blickt. Die mittelalterliche Liturgie sah den Priester an der Spitze der Gemeinde und als ihren Stellvertreter ante altare im Angesicht des Numinosum. Dieses wurde am Hochaltar durch die Abschlusswand der Kirche und, zumal im gotischen Raumkonzept, durch das dort hereinbrechende Licht markiert. Doch auch der Mittelaltar konnte nicht frei stehen. Hier war eine Bühne zwischen Kirchenschiff und Chor erforderlich, die durchaus gewollt die Sicht auf den Hochaltar einschränkte oder gar verhinderte. Zwar gab es Kirchen und Kapellen ohne Lettner – etwa die Saintes-Chapelles in Paris und Bourges – doch hatten sie keinen Mittelaltar, sondern allenfalls weitere Altäre in Nebenkapellen (wie z. B. St. Lorenz). Merkwürdigerweise hat die Forschung über die exzeptionelle Rolle der ›Westempore‹ in der Marienkirche viel gestritten, aber so gut wie nie über einen

162 Zum Stift und der Deutschordenspropstei vgl. Gabriel Heuser, Wechselburg, in: Die Mönchsklöster in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen (Germania Benedictina, 10,2), St. Otilien 2012, S. 1455–1460; Helmut Klezl, Die Übertragung von Augustiner-Chorherrenstiften an den Deutschen Orden zwischen 1220 und 1323. Ursachen, Verlauf, Entwicklungen (Deutsche Hochschuledition, 66), Neuried 1998. 163 Vgl. Klezl, Übertragung (wie Anm. 162), S. 123 zusammenfassend über die Konsequenzen der Übertragung: »Die Erfüllung der sonst üblichen Aufgaben einer Deutschordenskommende im Reich, das Erwirtschaften von Überschüssen zur Unterstützung der Ordensaufgaben im Heiligen Land und im Osten blieb so ausgeschlossen«, ähnlich bereits S. 121. 164 Elisabeth Hütter / Heinrich Magirius, Der Wechselburger Lettner. Forschungen und Denkmalpflege, Weimar 1983. 165 Jungmann, Missarum sollemnia 1 (wie Anm. 15), S. 319f.

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Abb. 6: Historische Innenansicht der Liebfrauenkirche zu Oberwesel (aus: Ludwig Lange, Der Rhein und die Rheinlande, dargestellt in malerischen Original-Ansichten, in Stahl gestochen von Johann Poppel, Darmstadt 1849, nach S. 92).

regulären Lettner in dieser Kirche nachgedacht.166 In der Deutschordensforschung gelten Lettner – ohne dass man sich über die nachtridentinische Abkunft dieser Argumentation Rechenschaft ablegte167 – »als raumstörende Elemente«.168 166 Marian Tumler, Der Deutsche Orden im Werden, Wachsen und Wirken bis 1400 mit einem Abriß der Geschichte des Ordens von 1400 bis zur neuesten Zeit, Wien 1955, S. 438 nahm als einziger einen Lettner in der Marienburg als gesetzt an. In auffälliger Weise vermischt Johannes Matz, Untersuchungen im Hochschlosse der Marienburg, in: Zentralblatt der Bauverwaltung Bd. 2 (1882), S. 9–11, 19–22 die Diskussion des Marienburger Ziboriums mit den Bestimmungen über den Lettner des Königsberger Doms. 167 Vgl. Schmelzer, Lettner (wie Anm. 5), S. 13: »Georg Dehio und Gustav von Bezold [Die kirchliche Baukunst des Abendlandes, Bd. 2, Stuttgart 1901, hier S. 29] vertraten 1901 eine Meinung, die bis heute vielfach den Umgang mit Lettnern bestimmt. Sie bezeichnen den Lettner von mehrschiffigen Chören als ›unorganisches Einschiebsel, als eine Störung der perspektivischen Entwicklung‹.«

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Dass für Templerkirchen – etwa für den London Temple169 – Lettner nachgewiesen wurden, erreichte die Deutschordensforschung nicht; der Bedarf für eine solche Raumtrennung wurde vielmehr kategorisch ausgeschlossen.170 Schon Steinbrecht schreibt: »Wir wisse[n], dass die Ordenskapellen den Charakter von einheitlichen Oratorien machten, also eine räumliche Trennung durch LettnerAnordnung nicht kannten wie auch in Marburg zwischen Ritterchor und Priesterchor keine Schranke ist.«171 Ungeachtet dessen spricht er an anderer Stelle vom vorderen Teil als »Laien-Theil der Kirche«172 und fügte in seiner Restaurierung hinter den Chorstufen eine vergitterte Chorschranke mit einem pompösen »Hochmeisterstuhl«173 ein, der sicher nicht geeignet war, »den Charakter von einheitlichen Oratorien« zu wahren. Daher ein Wort zum Zweck einer Chorschranke bzw. eines Lettners. Sie schließen nicht, wie meist zu lesen, die Gemeinde vom eigentlichen Messgeschehen aus (das ist die Aufgabe der Ikonostase in der Ostkirche), sondern weisen unterschiedliche Formen von Messfeier und Stundengebet (Hochamt/ Chorgebet und Frühmesse/Andachten) unterschiedlichen Räumen zu, die zusammen gleichwohl ein einheitliches Kirchengebäude ergeben.174 Die Einheit168 Doberer, Lettner (wie Anm. 159), Sp. 988. 169 Marion Bozsing, Templerkirche von London, Dipl.-Arbeit Univ. Wien 2012, S. 56f. . 170 Hans-Dieter Kahl, Die Spiritualität der Ritterorden als Problem. Ein methodologischer Essay, in: Zenon Hubert Nowak (Hg.), Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter (Ordines militares 8), Torun´ 1993, S. 271–295, hier S. 290: »dass also die Burgkapellen in den Ordenshäusern einräumig waren, frei von Lettnern, die die Bewegungsmöglichkeiten für Laienbrüder beschneiden konnten. Auch Ritter, auch dienende Brüder hatten also freien Zutritt zu aller ihre spezielle Kirche schmückenden Kunst«; Woz´niak, Art and liturgy (wie Anm. 157), S. 166 greift ebenfalls Steinbrechts Phrase vom einheitlichen Kirchenraum auf, wenn er sagt: »It seems that the Marienburg church did not have a rood screen and its entire uniform space was designed exclusively for the order’s members.« Ähnlich Woz´niak, Przestren´ liturgiczna (wie Anm. 70), S. 89–92. 171 Steinbrecht, Vorbericht (wie Anm. 47), S. 305. Die begriffliche Vermengung von Kapellen und Oratorien ist zurückzuweisen; außerdem kann schon aufgrund der Zusammensetzung des Konventes – vgl. Anm. 66 – von einem separaten »Ritterchor« in Marburg keine Rede sein. 172 Steinbrecht, Vorbericht (wie Anm. 47), S. 300. 173 Hierzu Steinbrecht, Vorbericht (wie Anm. 47), S. 304. Er ließ nicht, wie dort angekündigt, den »noch aus vorreformatorischer Zeit herstammende Hochmeisterstuhl im West=Theil des Chors« des Königsberger Doms nachbilden, sondern den weit massiveren des Havelberger Doms, der doch eher in den Ritus des Domkapitel gehört. Steinbrecht wischt eigene Bedenken mit einer spekulativen Hilfskonstruktion beiseite: »Derselbe ist für zwei Plätze eingerichtet, was mit dem Gebrauch zu erklären sein dürfte, dass der Hochmeister stets einen Begleiter um sich zu haben pflegte.« 174 Gamber, Funktionen (wie Anm. 160), S. 113: »Seine primäre Aufgabe war es, wie gesagt, den meist lang gezogenen Mönchs- bzw. Kanonikerchor, wo das Offizium und die Konventsmesse gesungen wurden, vom Kirchenschiff der Laien abzusondern. Der Chor wurde dadurch zu einem eigenen, ringsum geschlossenen, nur nach oben hin offenen Raum, wo

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Abb. 7: Der heute nicht mehr erhaltene Lettner im Dom zu Münster (aus: Friedrich Salomon Vögelin, Denkmaeler der Weltgeschichte. Eine Sammlung der hervorragendsten Monumente, grösstenteils nach Originalansichten (Basel 1870–1878).

lichkeit wird dabei vor allem durch das eindrucksvolle einheitliche Sterngewölbe zum Ausdruck gebracht. Zwar betrat die städtische oder ländliche Bevölkerung die Kapelle eines Ordenshauses nicht oder selten175, so dass unter dem Aspekt der Öffentlichkeit die bei den Minoriten übliche Trennung zwischen Laien- und Mönchskirche nicht erforderlich war. Doch kam unter dem Aspekt eines Kollegiums von Klerikern dieses Bedürfnis wieder auf. So zogen sich in den Pfarrund oder gar Domkirchen auch die Deutschordenspriester wie im Spätmittelalter allgemein üblich176 in die Chorhalle an den Hochaltar zurück, die daher mit die Kanoniker bzw. die Mönche die gottesdienstlichen Funktionen ungestört vollziehen konnten.« 175 Eine Klausur bestand in den Ordenshäusern nicht. Es bedarf einer Klärung, warum die Ablasstafeln des Deutschen Ordens Ablässe für jedermann verkünden, der an bestimmten Festtagen eine Kirche des Ordens besucht, vgl. Axel Ehlers, Die Ablasspraxis des Deutschen Ordens im Mittelalter (QStGDO, 64), Marburg 2007, S. 573 Nr. [4]. Wo in Stuhm fand 1409 der Hochmeister die armen frauwen, dy do stete in der capellen sitzet, und der er vier Scot geben lässt (MTB 533,29)? Die liturgische Mitwirkung von Halbbrüdern oder gar Halbschwestern in den Ordenskirchen – etwa in der Kapelle auf dem Christburger Annenberg – ist völlig ungeklärt. 176 Zur frühmittelalterlichen Entstehung der »Trennungslinie zwischen Altar und Volk, zwi-

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Abb. 8: Lettner im Dom zu Meissen (Postkarte Carl H. Odemar, Magdeburg 1906 Nr. 7498).

Chorschranken oder gar Lettnern abgetrennt war. Ähnliches geschah in der Elisabethkirche in Marburg, die wie eine Kollegiatskirche organisiert und daher durch einen Lettner in eine Volks- und eine Konventskirche geteilt ist. Denn seit dem 13. Jahrhundert (und vermehrt im 15. Jahrhundert) entstanden auch und gerade in Pfarrkirchen Lettner177 und zwar weil »die Vikare der Pfarrkirche zumindest Teile des Stundengebetes gemeinsam beteten und nach und nach schen Klerus und Laien, zwischen den Trägern des sakramentalen Vollzugs und der feiernden Gemeinde« vgl. Jungmann, Missarum sollemnia 1 (wie Anm. 15), S. 106f. und S. 321f. 177 Zur für heutige Betrachter ungewöhnlichen Verbreitung von Lettnern auch in kleineren Kirchen vgl. Matthias Untermann, Chorschranken und Lettner in südwestdeutschen Stadtkirchen. Beobachtungen zu einer Typologie mittelalterlicher Pfarrkirchen, in: Architektur-Geschichten. Festschrift für Günther Binding, Köln 1996, S. 73–90, hier S. 73.

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auch die Kapläne dazu verpflichtet wurden (…) Der Unterschied zur Stiftskirche ist bei diesen Pfarrkirchen mit gemeinsamen Chorgebet oft nicht mehr sehr groß«.178 Die Entscheidung für den Bau eines Lettners hing also nicht primär vom Typus der Kirche ab, sondern von der Zahl der Kleriker, die sich zum Chorgebet und bei den Hochämtern zusammenfanden. Die Teilnehmer des Chorgebetes und des Hochamtes werden zum einen visuell abgeschirmt, zum anderen aber wird der Gemeinde mit der aufwändigen Westseite des Lettners »zur feierlichen Verlesung von Epistel und Evangelium, zur Predigt (…), für liturgische Gesänge (Graduale, Tractus, Responsorien, Alleluja), öfter auch zur Aufstellung der Orgel« ein eigener Raum geschaffen, wobei auch eine »Verwendung der Lettnerbühne in der Osterliturgie, zu Weihezeremonien und zum Vorzeigen von Reliquien« möglich war, sogar »als pulptum publicum für Proklamationen (u. a. Bischofswahl), kirchliche Rechtshandlungen u. ä.«179 In jedem Fall war er »durch seine liturgische Funktion zugleich das bedeutendste Bindeglied zwischen Kleriker- und Laienbereich«.180 Im Vertrag über den Königsberger Dom vom 9. 9. 1333 besitzen wir eine zeitgenössische präzise Definition von Bauweise, Größe und Funktion eines Lettners. Der samländische Bischof Johannes I. von Clare hat sie mit den Unterhändlern des Hochmeisters Luther von Braunschweig ausgehandelt: … ad similitudinem cathedralis ecclesie, claustri et mansionis religiosarum personarum muris et testudinibus construemus, ita quod pavimenta chori, claustri et ecclesie nostre tante sint altitudinis prout nunc campestres lapides in muro chori per circumcuitum sunt locati, et paries inter chorum et ecclesiam unius virge mensuralis altitudinem181 a pavimento habeat, et quatuor laterum spissitudinem obtineat, in quo eciam pariete ad introitum chori duo locabuntur ostia, inter que altare construetur et desuper per columpnarum sustentacionem testudo erigetur cuius summitas pro lectura evangelii, organorum loccacione remaneat et ambone.182 178 Schmelzer, Lettner (wie Anm. 5), S. 154. 179 Doberer, Lettner (wie Anm. 159), Sp. 987f. Die für das LthK typischen Abkürzungen wurden stillschweigend aufgelöst. 180 Manuela Beer : Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert, mit einem Katalog der erhaltenen Denkmäler, Regensburg 2005, S. 287. 181 Eine Meßrute = 16 Werkschuh / 28 cm = 4,48 m, was der durchschnittlichen Höhe des Marienburger Solbankgesimses entspricht. Zu den Maßeinheiten vgl. Deutsches Rechtswörterbuch 9. Mahlgericht bis Notrust, bearb. von Heino Speer, Weimar 1996, Sp. 580f. Das als Höhengrenze anzusetzende Marienburger Solbankgesims bleibt mit 4,15 m bzw. maximal 4,34 m in diesem Rahmen. Die Höhenangaben hier nach Schmid, Marienburg (wie Anm. 47), S. 27. Infolge der Veränderungen am Fußboden liegt die heutige Höhe niedriger. 182 August Rudolph Gebser, Geschichte der Domkirche zu Königsberg und des Bisthums Samland, mit einer ausführlichen Darstellung der Reformation im Herzogthum Preußen, Königsberg 1835, Abt. I S. 108–110 (Anm.), hier S. 109 (Orthographie normalisiert). Kommentar, insbesondere zur Bauweise des 1834 nicht mehr erhaltenen Lettners, ebd. Abt. II, S. 73–76. Vgl. zur Urkunde auch Hein/Maschke (Hg.), Preußisches Urkundenbuch 2

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Es fällt auf, dass weder die lateinische Originalausfertigung der Urkunde noch ihre deutsche Übersetzung einen Fachbegriff für den Lettner verwenden, er wird plump als paries inter chorum et ecclesiam bzw. di want czwischen dem chore vnd der kirchin bezeichnet, die zwei Durchgänge zum Chor und einen Altar sowie Pfeiler und Gewölbe besitzen soll (es ist also an einen Hallenlettner gedacht). Diese Wand soll die Orgel tragen und für die Predigt und Lesungen während der Messe genutzt werden. Bemerkenswert ist die Aussage, dass die Kirche durch den Chorus die similitudo kathedralis ecclesie erreiche (den Typus einer Kathedrale). Für den Übersetzer der Urkunde ist das Adjektiv kathedralis (von Kathedra = Sitz, Sessel, nämlich des Bischofs) unklar oder bedeutungslos, er spricht vereinfachend von einer Houbt Kirchin. Die Urkunde orientiert sich interessanterweise nicht an den Bedürfnissen der Kleriker für Chorgebet, Hochamt und Hochaltar, sondern an der allgemeinen (»Volks«-)Messe und damit um das Geschehen auf und vor dem Lettner. Man muss das in Kontrast zur Domkirche von Marienwerder sehen, die nicht nur als Burg ausgebaut wurde, sondern auch über ein in ganz besonderer Weise abgetrenntes Presbyterium verfügt, das als Oberkirche über der dortigen Hochmeistergruft183 nur über eine seitliche Stiege zu erreichen war.184 Dass die Forschung den Gedanken an einer Lettner auf der Marienburg weit von sich schob, liegt auch daran, dass das Marienburger Ämterbuch einen missverständlichen Terminus benutzt – wie auch andere mittelalterliche Quellen zu Lettnern.185 In zwei textlich identischen Formeln verwenden die Inventare für (wie Anm. 151), S. 536 Nr. 801. In der zeitnahen deutschen Übersetzung lautet der Passus: eynen chor vnd eyne Houbtkirche schone vnd czemelichen noch vnser macht czu eynem glichnisse eyner Houbt Kirchin eynes Klostirs vnd wonunge geistlichir lute buwen mit muren vnd mit gewelbin also das die estriche des choris der Kirchin vnd vnsirs Klostirs in sotner hoge sint also nv dy veltsteyne gelegit sint in der mure des choris vmme vnd vmme vnd di want czwischen dem chore vnd der kirchin sal habin von dem estriche die hoge eyner messeruten vnd sal behalden dy dicke von vier czigelen vnd in der want sullen cwu toren werdin gemachit czu dem ingange des choris czwischin dem eyn altir sal werden gebuwet. Vnd mit der vfhaldunge der pfilir dar sal eyn gewelby gemachet werdin vnd dy hoge des gewelbis sal bildin das man dar secze den predicstul orgelin vnd dar vf das evangelium lese vnd das also geschicket so sulle wir nicht mit keiner andrin muren vormvren dyselbe want bis czur hoge des choris gewelbe. Text nach Gebser a. a. O. S. 110f. 183 Schmid, Domburg (wie Anm. 91), S. 22 betont wegen der Gruft die Parallelen zwischen Marienburg und Marienwerder, doch ist die räumliche Funktionalität in Marienwerder eher durch die Unterkapelle in der Pfarrkirche von Christburg vorgebildet, auf die Schmid ebenfalls hinweist. 184 Im späten 15. Jahrhundert wurde die Vermauerung eingerissen und die Unterkirche abgetragen, so dass »ein einheitlicher Raum in der vollen Höhe des Baus« als Chorraum entstand, der durch einen Lettner abgetrennt wurde, vgl. Schmid, Domburg (wie Anm. 91), S. 9f. 185 Vgl. Schmelzer, Lettner (wie Anm. 5), S. 11f. behandelt die mittelalterlichen Bezeichnungen. Die Bezeichnung als paries (Wand, vgl. Anm. 182) ist neben Königsberg auch in

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die Jahre 1437 und 1439 die heute missverständliche186 Ortsangabe uff dem poerkirche (MÄB 128,29 bzw. 132,40). Das bedeutet wörtlich »Hochkirche«, denn das althochdeutsche Substantiv por / bor bedeutet »Erhöhung, Spitze, Gipfel« (lat. fastigium), im übertragenen Sinn kann es auch »Verehrung« heißen187, in Komposita auch »Haupt-«, wie boranker – Hauptanker eines Schiffes. Porkirche wird gemeinhin in einer Art Volksetymologie als »Kirchenempore« gedeutet.188 Das ist aber ein Missverständnis. Das neuhochdeutsche Substantiv »Empore« hat eine ganz andere Wortgeschichte. Es ist sprachlich wesentlich älter, da es von dem lateinischen emporium abgeleitet ist (zentraler Handelsplatz, italienisch: »emporio« = Kaufhaus, Warenlager). Erst durch die veränderte Kirchenraumeinteilung der Neuzeit kam es für den Innenraum der Kirchen in Gebrauch, sei es für die Orgelemporen im Westbau oder die Gemeinde-Emporen über den Seitenschiffen evangelischer Kirchen.189 Vorreformatorische Quellen belegen die Verbindung der porkirche mit einem Lettner. Albrecht Dürer benennt in seinem Tagebuch der Reise in die Niederlande von 1520 den Lettner in der Prämonstratenserabtei Middelburg als ein köstlich porkirch von stain.190 In gleicher Weise äußerte er sich zuvor über den

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Magdeburg belegt. A. a. O. S. 168 kommt für Gandersheim noch die mure vor dem chore hinzu. Der poraltar im Formular zur Inventarisierung der Danziger Konventskirche (GÄB 693,29, 695,27 und 698,10) ist wohl als altar in cancellis, also auf einer Lettnerbühne, zu verstehen. Es ist sicher nicht der Hochaltar (hoge altar, GÄB 693,37, hoe altar, GÄB 695,36) und auch nicht, wie Woz´niak, Art and liturgy (wie Anm. 157), S. 165 annimmt, ein »altar at the gallery«, deren Zweck er nicht erklären kann (»no premises to interpret the function of the interior and the gallery«). Ähnlich ist wohl auch Skibin´skis Theorie von einem MichaelsAltar auf der Empore der ersten Kapelle der Marienburg zu sehen; sie speist sich aus Schmid, Marienburg (wie Anm. 47), S. 28, der sich nicht scheut, den Hinweis der königlichen Lustration von 1565 auf einen fünften kleinen Altar »auf dem Chor« (na kurze oltharz pia˛nthy niewielky, vgl. Pospieszny, Domus Malbork [wie Anm. 6], S. 295) quer durch das Kirchenschiff als fünften »Altar auf der Empore« umzudeuten, »dort wo jetzt der OrgelSpieltisch steht«. Ganz im Gegenteil deutet der Zusatz »auf dem Chor« darauf, dass die anderen drei Altäre zusammenstanden (unter dem Lettner?) und als Einheit, jedoch nicht als Teil des Chors verstanden wurden. Wolfram von Eschenbach, Willehalm 308,6: die erzeigeten got alsölhen bor. Pospieszny, Domus Malbork (wie Anm. 6), S. 84 Anm. 192 kommt der korrekten Deutung recht nahe, bezieht aber dann doch die Begriffe »Höhe, Oberer Raum« auf die westliche Galerie, auch wenn er an anderer Stelle (für die erste Kapelle!) einen Lettner postuliert. Auch alle Wörterbücher tun sich daher schwer, eine Erklärung zu geben, die mittelalterlichen Quellen gerecht wird. So mühen sich Ulrich Göbel und Oskar Reichmann (Hg.), Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 4, Berlin 2001, Sp. 792 um eine nutzlose Ableitung der borkirche von »Kirchenempore«, aus ihren Beispielen geht aber die tatsächliche Bedeutungsentwicklung hervor. Präziser sind Wilhelm und Jacob Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 2, Berlin 1860, Sp. 243: Das Wort stehe »f[ür] suggestus, ambo ecclesiae, der empor ragende stul der prediger oder zuhörer in der kirche oder auch der chor«. suggestus entspricht der im klassischen Latein gebräuchlicheren rostra (Redner-)Bühne. Albrecht Dürer, Schriftlicher Nachlaß (Band 1). Autobiographische Schriften, Brief-

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Lettner der Prämonstratenserabtei St. Michael in Antwerpen.191 Ebenso deutlich sind urkundlichen Belege aus Konstanz und Ingolstadt über die Stiftung von Kaplaneien am »Hl.-Kreuz-Altar auf der borkirche«192 bzw. von Messen in altari sito in superiori ecclesia in wlgari dicta parkirchen.193 An der letztgenannten Quelle ist die wörtliche Latinisierung parkirche = ecclesia superior (Hochkirche) bemerkenswert. Gemeint ist – analog zu suggestus194– die von den Altären und dem Lettner mit Ambo und Triumphkreuz gebildete Bühne. Aus dem sächsischen Geithain ist ein detaillierter Bauauftrag des Jahres 1495 überliefert, der die Gestalt der mwer by di porkirchen sowie die zugehörigen Treppen, Türen und den Einbau der Orgel regelt.195 Es dürfte auch kontextual schwerfallen, die Marienburger Angaben zum porkirche mit der Galerie im Westen der Kirche in Deckung zu bringen. Die porkirche wird bei der Auflistung der Antependien und weiteren Altarschmucks erwähnt. Das Inventar durchschreitet den Kirchenraum von Osten nach Westen: Es beginnt mit dem Hochaltar, es folgen der Liebfrauenaltar und der Mittelaltar. Für den Frühmessaltar wird keine gesonderte Verkleidung erwähnt, aber auf dem poerkirche befinden sich zwei Altarverkleidungen, und in der großen Sakristei »unter dem Turm« abermals zwei Verkleidungen (MÄB 128,30). Ich gebe die gesamte Passage wegen ihrer hohen Aussagekraft hinsichtlich der Festordnung in der Kirche und der liturgischen Bedeutung der drei kleinen Altäre vollständig nach der Originalüberlieferung wieder : [S. 193] (…) Item dem hoen altar cleydung und antependia. Soe yst doe duplex und duplex anne feyer Infra octauas unnd de beata virgine. Czu dem altaer unsir lieben

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wechsel, Dichtungen, Beischriften, Notizen und Gutachten, Zeugnisse zum persönlichen Leben, hg. von Hans Rupprich, Berlin, 1956, S. 163. Dürer beschreibt den Übergang von der Nieuwe Kerk in die Korkerk, die beide aus dem 14. Jh. stammen. Die Nieuwe Kerk wurde 1568 nach einem Brand fast vollständig erneuert, dabei wurde die Verbindung zur Korkerk nicht wieder hergestellt, sondern vermauert. Dürer, Nachlaß (wie Anm. 190), S. 152: Auch bin ich gewesen in der reichen abtei zu St. Michael; die haben von stein maßwerck die kostlichste porkirchen, alß jch nie gesehen habe, auch ein köstlich gestühl in ihrem chor. Der Innenraum der im 19. Jahrhundert zerstörte Kirche ist durch einen Stich in den Acta Sanctorum, Juni 1, Antwerpen 1695, S. 946 dokumentiert; dort sehen wir den Lettner allerdings bereits in frühbarocker Umgestaltung. Vgl. Helmut Maurer, Das Stift St. Stephan in Konstanz (Germania sacra. N. F., 15), Berlin 1981, S. 137. Der Altar wird in den Quellen meist als in cancellis bezeichnet (»an den Chorschranken«), was Maurer mit »Empore« wiedergibt, aber ausdrücklich mit dem 1436 errichteten Lettner identifiziert (S. 15, 208 u. ö.) Stadtarchiv Ingolstadt, Urkunde Urk B 838 vom 23. 1. 1498 für St. Moritz in Ingolstadt. Vgl. Siegfried Hoffmann, Geschichte der Stadt Ingolstadt, Ingolstadt 2000, S. 349 mit Anm. 731 auf S. 831. Vgl. Anm. 157. Zugänglich nur in einem extrem fehlerhaften unkritischen Abdruck bei Wolfgang Reuter, Urkundenbuch mit Regesten bedeutender Akten der Stadt Geithain und ihrer Umgebung 1097 bis 1539, Geithaim 2014, S. 203f. Nr. 206.

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frauwen doe yst ouch czu duplex antependia angularia decken pallen semiduplex vnnd de beata virgine vnnd eyn antependium Infra octavas. e

[S. 194] Item czu dem mittelsten altar duplex semiduplex und de beata virgine eyn antependium Infra octavas dar czu ist czu iczlichem altar tegliche cleydunge mit aller czu behorunge.196 Vff dem poerkirche synt czwene cleydunge Vnder dem thorme ouch czwe cleydunge Item e In der selben sacrasteyen197 synt ouch die tepte Czum ersten vor den hoen altar totum duplex vier tepte vnnd vor die ander [[altar]] drey altar vor Iczlichem eynen tept totum duplex duplex vor den hoen altar czwene vnnd vor dy andern drey altar vor Iczlichen eynen tept Tegliche tept vor den hoen altar czwene vnnd vor die andern drey Altar vor iczlichen eynen tept Eyn cleyn teptchen das man leget vor das Crucze noch ostern Vff die bengke als die herren steen sint phunffczehn banglaken Soe sint seben stucke also bancklacken oben vbir das gestulde czu totum duplex vnnd vier decken die man henget bey das hoge altar bey den sacrasteyen (GStAPK Berlin, XX. HA, OF 129, S. 194f.198)

Es wäre wenig praktisch, auf der schmalen und nur vom Kreuzgang her zugänglichen Galerie Antependien für die Altäre zu verstauen. Auf Stauraum in einem Lettner deutet auch der schaffe vor unsir liben frauwen altar in der mawre (MTB 127,9 f = 131,24), in dem sich acht große Kreuze befinden. Alternativ ist ein in die Mauer eingelassener Schrank denkbar, aber eine solche Stelle ist im Gemäuer nicht auszumachen.199 Die nüchterne Bezeichnung des Lettners als »Mauer« jedenfalls wäre nicht ungewöhnlich: in der Stiftungsurkunde des Königsberger Doms wird er z. B. als paries – Wand – bezeichnet.200 Auch hier wieder die Stelle im Kontext: Item soe hath das bilde unsir lieben frauwen vff dem frumessen Altar eyne silbereyn crone vnnd das kyndelyn ouch eyn silbereyn crone und eyn silbereyn czepter Item soe steen in dem schaffe vor vnsir lieben frauwen Altar In der mawre new8ne stucke an der summa mit grossen Crucze mit den monstrancien cleyn vnnd gros vnnd mit den armen doe ouch heilgethum inne ist (GStAPK Berlin, XX. HA, OF 129, S. 192201) 196 Zeilenumbruch nach der Handschrift (GStAPK Berlin, XX. HA OF 129, S. 194), in der Edition ist er unterdrückt. 197 Nämlich die Sakristei, doe der glogkmeister ingeet (MÄB 128,2f.) 198 Der Text entspricht MÄB 128,22–40 (1437), analog MÄB 132,34–133,9 (1439). 199 Woz´niak, Wyzosaz˙enie (wie Anm. 39), S. 118 denkt an einen vergitterten Schrank im Hohlraum der Kirchenwand. Dann wäre diese Stelle aber zu einem späteren Zeitpunkt vermauert worden ohne dass Spuren verblieben wären. 200 Vgl. Anm. 182. 201 In der Edition MÄB 127,7–13. Geringfügig abweichend die Parallelstelle von 1439: Item das bilde unser lieben frowen uffim frumessenaltare, item 1 silberne crone und das kindeleyn uffim arme unser lieben frowen hat ouch 1 silberne crone und 1 sulberne scepter. e item in dem schaffe vor unser lieben frowen altare in der mur acht stucke mit dem groszen crucze, mit den monstrancien cleyn und grosz und mit den armen, do ouch hilgethum inne ist (MÄB 131,21–26).

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Kasimierz Pospieszny wies darauf hin, dass in den Ausgaberegister des Königsberger Pfundmeisters Hans von Thüngen für die Jahre 1499–1500202 gleichfalls die Begriffe porkirche und kor verwendet werden und dementsprechend eine analoge Struktur beider Kirchen zu erwarten ist.203 Doch ist dies eben gerade kein Beweis für eine »Westempore« auch in Königsberg, sondern für einen Lettner, was daran ersichtlich wird, dass das Ausgaberegister von einem kor und von drei weiteren Altären spricht.204 Wenn Hans von Thüngen das Heiligthum auffer porkirche erwähnt, so haben wir damit den Ort der eucharistischen Ausstellung und Anbetung. Das ist aber nur an einem geosteten Altar zu erwarten (was mutatis mutandis auch für den Liebfrauenaltar auf der Marienburg gilt). So wirft auch eine Lokalisierung wie unser liben frauwen altare obene im huwse zcu Dantck mittene in der kirchen an dem pfeiler205 mehr Fragen auf als sie beantwortet. Steht hier, wie in der Stiftungsurkunde für den Königsberger Dom, Pfeiler als pars pro tot für einen Lettner oder wie kommt sonst ein Altar »mitten in die Kirche«? Für Schlochau 1437 macht das Große Ämterbuch bei der Auflistung der liturgischen Bücher eine irritierende Angabe, die ebenfalls auf eine Raumteilung hinweisen könnte. Dort wird ein asynarium uffin orgel (GÄB 667,34 = GZB 286) unterschieden von dem asynarium im kore (GÄB 667,35 = GZB 286) und damit offensichtlich eine erhöht stehende Orgel bezeichnet, die dann entweder eine in der einschiffigen Kirche ohne Triforium schwer zu realisierende ›Schwalbennestorgel‹ war – oder wie im Königsberger Dom auf einem Lettner stand.206 202 GStAPK Berlin, XX. HA, OF 192, pauschal ausgewertet bei Friedrich Lahrs, Das Königsberger Schloss, Stuttgart 1956, S. 31, weitere Forschungen fehlen. Lahrs gibt den Berichtzeitraum des OF 192 stets mit 1498–1500 an. Seine Rekonstruktion der Sakralräume ist voller Fehldeutungen. Aus der porkirche macht er eine eigenständige Kapelle. 203 Pospieszny, Domus Malbork (wie Anm. 6), S. 84f. unter Verwendung der Angaben von Lahrs, den er nicht kritisch hinterfragt. 204 Lahrs, Königsberger Schloss (wie Anm. 203), S. 31 zitiert einen altare crucis, den er in der Herren-Firmarie vermutet, und Sanct Kathrin altar. Der in den Quellen erwähnte AnnenAltar wird wegen des Patroziniums in der Firmarie zu suchen sein. Das Heiligthum auffer porkirche deutet auf einen Altar für die eucharistische Anbetung. Auf die »Hinderkirche« kann hier nicht eingegangen werden. 205 Inventar des Marienaltars im Danziger Ordenshaus, abgedruckt bei Jähnig, Inventar (wie Anm. 139), S. 382. 206 Der Abbruch des Schlosses erfolgte 1786–1811, vgl. Torbus, Konventsburgen (wie Anm. 1), S. 626. Eine mittelalterliche Burgbeschreibung existiert nicht. Conrad Steinbrecht, Die Baukunst des Deutschen Ritterordens in Preußen. 4. Die Ordensburgen der Hochmeisterzeit in Preußen. Berlin 1920, S. 34 informiert über spätere Quellen: Die polnische Lustration von 1564 kenne »drei Altäre mit altertümlichen Bildern, … Chorsitze längs den Wänden … Vor dem Hochaltar zwei großen zinnerne Leuchter ; … eine Komtursorgel, allein schon verdorben und keine einzige Pfeife darin«. Die Orgel ist also im Bereich der Chorsitze zu vermuten. Das Inventar von 1748 erwähnt sie nicht mehr, aber nun als Teile der barocken Neuaustattung eine Kanzel und einen »bemalten West-Chor«, der über eine Turmtreppe

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Für die drei Altäre der Marienburg und den sie einfassenden Lettner kam das Ende wohl im frühen 17. Jahrhundert, spätestens aber bei den Baumaßnahmen der Jesuiten im 18. Jahrhundert. Eine Umrüstung der Kirche auf die tridentinische Liturgie hat nicht nur die drei Altäre, sondern den gesamte Bereich der Chorstufen einschließlich des angrenzenden Fußbodens aufgebrochen und neu gestaltet.207 Das eventuell über den Chorstufen montierte Triumphkreuz – dazu gleich mehr – kann dabei zunächst vor Ort verblieben sein, wie z. B. im Dom zu Gnesen oder in der Krakauer Marienkirche. Da die baulichen Aktivitäten der Jesuitenzeit208 eher als dürftig beschrieben werden, kommen für die Öffnung des Marienburger Chorraums vor allem die schlecht belegten Maßnahmen in Frage, die 1623, wenige Jahre vor der Plünderung durch schwedische Truppen, von König Sigismund III. Wasa veranlasst wurden. Wir wissen nur, dass damals die Kirche »neu geschmückt« wurde, denn bei dieser Gelegenheit wurde die Weiheinschrift auf dem Solbankgesims erneuert.209 Über den Umfang der Maßnahmen kann man nur spekulieren, doch darf man die Inschrift nicht ohne weiteres als Prahlerei marginalisieren.210 Sie steht wohl im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Eindämmung des Kalvinismus der Jahre 1611–1627 und dem Anspruch der katholischen Kirche auf Kirchen- und Klostergründungen gerade

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erreichbar ist. Vor allem der Hinweis auf die Ausmalung lässt vermuten, dass es sich um einen barocken Zusatz handelt. Die vom Hochaltar aus aufgenommene Photographie Nr. 8 bei Dobry/Jesionowski, Załoz˙enia (wie Anm. 99), S. 112 aus den Jahren 1882–1885 zeigt einen alten Steinboden, über den Steinbrecht, Vorbericht (wie Anm. 47), S. 301 schreibt: »ein Fußbodenbelag von regelmäßigen, theils größeren, theils kleineren Kalksteinen (…) welche aus verschiedenen späteren Umbauten entstammten.« Auf der Photographien erkennt man an der rechten (d. h. nördlichen) Wand im Bereich des vermauerten Durchgangs zur Jesuitenresidenz eine hölzerne Rampe und größere Nachbesserungen, ebenso vor der nördlichen Sediliennische. Die letzten beiden Plattenreihen vor den Chorstufen wirken abgenutzt, zeigen aber keine Spuren von ehemaligen Aufbauten. Vgl. zur Photographie auch Anm. 100. Vgl. Stefan Samerski, Konfessionalisierung durch Deutschordensrezeption. Die Jesuiten auf der Marienburg, in: Mark Mersiowsky/Arno Mentzel-Reuters (Hg.), Von Preußenland nach Italien. Beiträge zur kultur- und bildungsgeschichtlichen Vernetzung europäische Regionen (Innsbrucker Historische Studien 30), Innsbruck 2015, S. 149–164, hier S. 159; Janusz Hochleitner, Remonty w Kos´ciele Zamkowym w okresie staropolskim (XVI–XVIII w.), in: KNMP, S. 127–131, hier S. 129. In der dort zitierten Lustration von 1675 werden vier kleine Altäre und der als krzyz˙acki charakterisierte Hochaltar erwähnt, später sind es nur mehr zwei und der Hochaltar. Schmid, Marienburg (wie Anm. 47), S. 27 unter Berufung auf Steinbrecht, der die Inschrift Sigismunds zur Freilegung der älteren von 1344 entfernen ließ. Hochleitner, Remonty (wie Anm. 208) erwähnt weder die Inschrift noch überhaupt die Maßnahmen. Wenn 1675 ausdrücklich auf die Herkunft des Hochaltar aus der Ordenszeit verwiesen wird: Ołtarzjw 4 małych, pia˛ty wielki krzyz˙acki (zitiert nach Hochleitner, Remonty S. 129) – was bedeutet das dann für die vier kleinen Altäre?

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in den preußischen Städten.211 Immerhin hat der als ›Jesuitenkönig‹ verschriene Sigismund in Polen die tridentinischen Reformen erst wirklich zur Geltung gebracht.212

Abb. 9: Die Kreuzigungsgruppe im Zustand der Steinbrecht’schen Restaurierung (aus: Schmid, Marienburg (wie Anm. 47), Taf. 24).

211 Janusz Tazbir, Historia kos´cioła katolickiego w Polsce (1466–1795) (Praca wykonana w Instytucie Historii Polskieji Akademii Nauk), Warzawa 1966, S. 74–77. 212 Michał Woz´niak, Liturgische Geräte im Königlich Preußen. Form, Stil, Konfession, in: Magdalena Bushart / Henrike Haug / Aleksandra Lipin´ska (Hg.), Gemeine Artefakte. Zur gemeinschaftsbildenden Funktion von Kunstwerken in den vormodernen Kulturräumen Ostmitteleuropas (kunsttexte.de/ostblick), Berlin 2014, , S. 2.

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O crux lignum triumphale213 Kulminationspunkt der Kreuzesverehrung auf der Marienburg ist das Triumphkreuz, dessen beklagenswerte Reste214 heute an der Nordwand der Marienkirche im dritten Stichbogen gegenüber der goldenen Pforte montiert sind. Es gehörte (nach dem Urteil des Königsberger Kunsthistorikers Karl Heinz Clasen) »in die Reihe der monumentalen, norddeutschen Kreuzigungen des 14. Jahrhunderts.«215 Wir sehen Maria und Johannes als Begleitfiguren unter dem Kruzifix, das selbst als Lignum vitae gestaltet ist und insofern (unabhängig von jedem Werkstattbezug) mit der Kreuzesholzlegende am Portal der Unterkirche verbunden ist. Dahinter verbirgt sich, ohne dass dies dem lokalen Betrachter bewusst gemacht wurde, die Bulle Quasi lignum vite Alexanders IV. von 1255 bzw. der darauf aufbauende Traktat Bonaventuras von 1259/69. Ikonographisch Vergleichbares finden wir bis ins 15. Jahrhundert nicht an Kirchenwänden, sondern als Triumphkreuze im Übergang zur Chorhalle. Das gilt für die regionale Kirchenausstattung216 ebenso wie für entferntere Bauwerke wie den Dom von Halberstadt (um 1294) oder die Lübecker Katharinenkirche (um 1450).217 213 Die Zeile stammt aus dem Adam von Saint Victor († 1146) zugeschriebene Hymnus Laudes crucis attolamus, vgl. L8on Gautier (Hg.), Œuvres po8tiques d’Adam de Saint-Victor. Texte critique, Paris 1881, S. 224. Er bildet im Deutschordensmissale das liturgische Herzstück des Hochamtes zu Exaltatio crucis, vgl. Missale OT (wie Anm. 67), fol. CCXv–CCXIr. 214 Eine Gegenüberstellung des erhaltenen Fragments und des bemalten Zustandes vor 1945 bei Rainer Kahsnitz: 800 Jahre Deutscher Orden, Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums 1990. Ergänzungen und Korrekturen, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1992, S. 7–35, hier S. 34f. Er bestätigt die Datierung des Kreuzes »in die Schlußzeit der Erweiterungsarbeiten (…) 1340–1344« (S. 34). 215 Karl Heinz Clasen, Marienburg und Marienwerder, Berlin 1931, S. 18. Bild und Vergleiche mit anderen Kreuzen bei Schmid, Gotische Kruzifixe (wie Anm. 113), S. 46f. Vgl. auch Gerhard Strauss, Freiplastik bis 1450 im Gebiet des heutigen Ostpreussen westlich der Passarge. Studie zur Geschichte mittelalterlicher Kunst im Ordensland Preussen, Königsberg 1937, S. 29–36; Michał Woz´niak in: Gerhard Bott/Udo Arnold (Hg.), 800 Jahre Deutscher Orden. Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg in Zusammenarbeit mit der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, Gütersloh 1990, S. 34, 57–60. 216 Schmid, Gotische Kruzifixe (wie Anm. 113), S. 46 diskutiert den Standort des Marienburger Kreuzes nicht, weist aber die Kreuze aus der Katharinenkirche in Danzig (S. 45 f) und der Pfarrkirche Deutsche-Eylau (S. 47) einem abgebauten Triumphbogen zu. Auch die Platzierung der Kreuzigungsgruppe der 11000 Jungfrauen-Kapelle der Danziger Marienkirche an der Kapellenwand lehnt er ab: »Dagegen ist es denkbar, dass diese Gruppe früher selbst auf dem Triumphbalken [von St. Marien, A. M.-R.] stand, und zwar schon in dem zweiten Kirchenbau, der 1402 begann (…) Das alte Kreuz, aus dem ersten 1343 begonnenen Bau, war 1402 beim Abbruch des Chores herabgenommen, und sein Nachfolger wurde dann wahrscheinlich nach gänzlicher Fertigstellung des neuen Chores, oder auch etwas früher, das uns hier beschäftigende Kruzifix; es wäre dann kurz vor dem Ausbruch des Städtekriegs entstanden« (S. 55) und 1517 durch das heutige Triumphkreuz ersetzt (S. 56). 217 Annett Alvers, Das doppelseitige Triumphkreuz der Lübecker Katharinenkirche. Ein

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Nach Michał Woz´niak stehen auch »die zwei Thorner Kruzifixe vom Lettnerbogen der Johanniskirche, jetzt am Hauptaltar, und der sogenannte Mystische Kruzifix aus der Dominikanerkirche, gegenwärtig in der Jakobi-Kirche, die auf das 4. Viertel und das Ende des 14. Jahrhunderts datiert sind«218, dem Marienburger Kreuz recht nahe. Der natürliche Platz des Triumphkreuzes war im gotischen Kirchenraum allgemein, wie z. B. in der Thorner Johanniskirche, ein Triumphbogen über den Chorstufen und damit über dem Lettner. Manuela Beer macht das in ihrer maßgeblichen Monographie deutlich: »Der Standort des Triumphkreuzes in medio ecclesiae gehört parallel zu einer besonderen Ikonographie zur Typologie dieses Ausstattungsgegenstandes, da sich aus dem Kontext des Kircheninnenraumes weitere wichtige Sinngehalte des Triumphkreuzes erschließen bzw. im Bildprogramm festgelegte Komponenten Betonung und Bedeutungssteigerung erfahren. Durch die Aufstellung auf der spannungsvollen Längsachse in medio ecclesiae, die sich seit der Etablierung der Lettner für das Triumphkreuz punktuell auf den vorderen Abschluss des Sanktuariums konkretisiert, korrespondiert das monumentale Bildwerk nicht nur formal mit anderen Ausstattungsgegenständen. Besonders der Kreuzaltar spielt als inhaltlicher Bezugspunkt bereits seit den frühesten Anfängen der Triumphkreuze eine bedeutende Rolle. Die Anordnung prominenter Grablegen vor dem Kreuzaltar sowie die Abtrennung des Klerikerbereiches, zunächst durch die Chorschranken und dann durch den Lettner, sind von eminenter Wichtigkeit für die Interpretation der Ikonographie und der liturgischen Funktion mittelalterlicher Triumphkreuze.«219

Der Blick des Gekreuzigten geht immer nach Westen. Einem solchen Triumphkreuz wird gelegentlich eine korrespondierende Mariendarstellung zugeordnet, die nach Osten blickt. Beide bilden zusammen die Leidensgeschichte des Gottesknechtes vom et incarnatus est bis zum crucifixus etiam pro nobis. In Doberan wurde um 1360 auf der Rückseite des Triumphkreuzes eine Holzfigur im Typus der schönen Madonna angebracht, in Dom von arhus erscheint sie den Besuchern des Chorumgangs als Tafelbild auf der Rückseite des Hochaltars. In der Marienburg erfährt diese Dialektik eine besondere Steigerung, wenn das Triumphkreuz über dem westlichen Zugang zum Chor und die Gottesmutter auf der Außenwand des Chorabschlusses erscheint. In manchen Fällen – hier ist an die Domkirchen von Marienwerder und Gnesen oder die Krakauer Marienkirche zu denken – verblieb das Triumphkreuz Beitrag zur franziskanischen Reform im 15. Jahrhundert, in: Tobias Kunz und Dirk Schumann (Hg.), Werk und Rezeption: Architektur und ihre Ausstattung; Festschrift Ernst Badstübner zum 80. Geburtstag (Studien zur Backsteinarchitektur, 10), Berlin 2011, S. 131–148. Alvers beurteilt die Form für Lübecker Verhältnisse als archaisierend; die Bemalung der Rückseite mit einer Madonna erfolgte erst nach 1489. 218 Woz´niak in: Bott/ Arnold, 800 Jahre (wie Anm. 215), S. 122. 219 Beer, Triumphkreuze (wie Anm. 180), S. 282.

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Abb. 10: Geostetes Marienbild im Chorumgang des Doms von Aarhus (Foto: Mentzel-Reuters).

selbst nach Entfernung des Lettners auf einem Triumphbalken oder -bogen über den Chorstufen. Das Triumphkreuz der 1405 errichteten Elbinger Nikolaikirche wurde erst 1800 beim Wiederaufbau der Kirche in die nördliche Seitenhalle versetzt.220 Ähnliches widerfuhr dem Triumphkreuz in der Elbinger HeiligLeichnamkirche, das 1646 bei der Neugestaltung von Altar und Kanzel an der Südwand der Kirche montiert wurde;221 in der Gelnhauser Marienkirche wurde das Triumphkreuz sogar erst 1877 an die Nordwand versetzt, aber 1934 wieder 220 Martin Jablonski, Die St. Nikolaikirche zu Elbing. Illustrierter Führer, Elbing 1930, S. 33. 221 Damit hing es gegenüber der aus der evangelischen Messe zu verstehenden hölzernen Empore längs der Nordwand, deren Sitzbänke parallel zu den Langhauswänden verlief.

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zurückverlegt. Sollte das mutatis mutandis nicht auch für die Kirche im Hochschloss der Marienburg gelten? Die Schicksale der Kreuzigungsgruppe in der Jesuitenzeit können hier nur gestreift werden. Es ist aber zu erwähnen, dass sie weder in den Beschreibungen des Kircheninneren, die Friedrich Rabe 1802 als Beigabe zu Fricks Tafelwerk gab, oder jenen von Büsching 1824222 und Witt 1854223 bzw. im Artikel der Leipziger Illustrirten Zeitung aus dem gleichen Jahr oder dem Schloßführer von Max Rosenhayn (1858)224 erwähnt wird und vor allem auf den detailgetreuen Aquarell-Tuschzeichnungen von Johann Carl Schulz aus dem Jahr 1846 fehlt.225 Dass es zur Jesuitenzeit gleichwohl eine besondere Exposition der Gruppe gab, beweist ein barockes Schriftband »amor meus crucifixus«, das nach einem um 1880 (?) entstandenen Photo gegenüber der Goldenen Pforte unter dem Kreuz angebracht ist226 und sich heute im Schlossmuseum befindet. Man könnte vermuteten, dass das Kreuz in der 1746 erbauten Jesuitenresidenz gehangen hat und bei deren Räumung in die Kirche versetzt wurde, ehe die Residenz 1892 für den Neubau des Pfaffenturms abgerissen wurde. Interessanter ist in unserem Zusammenhang, dass nach 1880 das mittelalterliche Kreuzesholz brüchig war und von Steinbrecht ersetzt wurde. Als Vorlage wählte er ganz selbstverständlich das Triumphkreuz aus dem Havelberger Dom, von dessen Position über dem Lettner227 er sich nicht beeindrucken ließ. Die 222 Friedrich Frick, Schloss Marienburg in Preussen nach seinen vorzüglichsten aeussern und innern Ansichten dargestellt, Berlin 1799. Historische (von K. Levezow) u. architectonische (von F. Rabe) Erläuterungen der Prospecte des Schl. Marienburg. Berlin 1802, S. 70–74. Johann Gottlieb Gustav Büsching, Das Schloss der deutschen Ritter zu Marienburg, Berlin 1823, S. 27–30. 223 August Witt, Marienburg, das Haupthaus des deutschen Ritter-Ordens in dem ehemaligen und in dem gegenwärtigen Zustande, Königsberg 1854. 224 Schloss Marienburg i. Pr. IX. Das Innere der Schlosskirche mit der Aussicht auf »Meisters Stuhl«, in: Illustirte Zeitung. Wöchentliche Nachrichten über alle Ereignisse, Zustände und Persönlichkeiten der Gegenwart 23 (1854), Nr. 593 vom 11. 11. 1854, S. 316–317. Max Rosenhayn, Die Marienburg, das Haupthaus der deutschen Ordens-Ritter, fu¨r Besucher derselben beschrieben, Leipzig 1858, zur Kirche S. 58–66. 225 Der leere dritte Stichbogen ist in beiden Bildern von Schulz zu erkennen, vgl. die Reproduktion bei Mariusz Mierzwin´ski, Ikonografia kos´cijła NMP i wiez˙y głownej na Zamku Wysokim, in: KNMP, S. 27–78, hier S. 68f. Abb. W.I.8–9, zu den Zeichnungen S. 65 (Nachdruck in diesem Band im Aufsatz von Kazimierz Pospieszny). 226 Janusz Hochleitner, Kosciol NMP w okresie nowozytnym, in: Janusz Hochleitner (Hg.), Rewitalizacja zespolu kosciola Najswietszej Marii Panny w Malborku, Malbork 2016, S. 83–104, hier S. 93 (freundlicher Hinweis von Kazimierz Pospieszny). Vgl. die Darstellung aus gleicher Perspektive bei Rosenhayn (wie Anm. 224), S. 55, wo die Wand schmucklos erscheint. 227 Das Havelberger Kreuz datiert um 1270/80, der darunter als Ersatz für einen früheren aufgebaute Lettner 1396–1411, vgl. Georg Piltz: Kunstführer durch die DDR, 4Leipzig [u. a.] 1973, S. 193–195. Der Lettner kann in seiner Formensprache als Weiterentwicklung des Marienburger Typs verstanden werden.

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Abb. 11: Blick durch die Goldene Pforte ins Kircheninnere (aus: Max Rosenhayn, Marienburg 1855 (wie Anm. 224).

nicht ungeschickt komplettierte Marienburger Kreuzigungsgruppe ließ er an der Nordwand der Kirche anbringen, weil er nach eigenen Angaben die Konsolen der Begleitfiguren im Mauerverbund gefunden hatte. Damit war für ihn bewiesen, dass hier die Kreuzigungsgruppe ihren historischen Platz gehabt hatte. Selbst wo in der Forschung später andere Gedanken auftraten, wurden sie weggewischt: Gerhard Strauß z. B. hat in seiner Dissertation von 1937 in der Kreuzigungsgruppe zwar den Typus des Triumphkreuzes erkannt, aber wieder verworfen, »da der Einraum des kleinen Gotteshauses einen eigentlichen Triumphbogen nicht besitzt und zudem die Konsolen unter den beiden Todeszeugen unserer Darstellung im festem Verband mit der Mauer stehen.«228 Skibin´ski erweiterte

228 Strauß, Freiplastik (wie Anm. 215), S. 30. Er stützt sich auf eine briefliche Auskunft von Bernhard Schmid vom Oktober 1932. Die These vom »Einraum« impliziert, ohne dass

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die Ausgestaltung der Geschichte um einen weiteren Akzent. Er vermutete, dass es sich um den Altarschmuck der ersten Kapelle gehandelt hat, der beim Umbau an die Nordwand der Kirche versetzt wurde.229 Woz´niak platziert hier auch den Mittelaltar230 und beschreibt damit einen modernen, dynamischen Kirchenraum, der bald für den Kreuzaltar genordet, bald für den (bei Woz´niak praktisch funktionslosen) Hochaltar wieder geostet wäre. Ist so etwas ist vor dem Vaticanum II überhaupt vorstellbar? Der immer wieder angeführte »feste Verband mit der Mauer« beruht jedoch auf Autosuggestion. Zwar steckt der Sockel der Marienfigur (links vom Kruzifix) in der Vermauerung eines Fensters der ersten Kapelle, so dass man annehmen könnte, er sei bei dessen Schließung eingesetzt worden sein. Optisch unterscheidet er sich nicht von seinem Pendant, das die Figur des Johannes trug. Dieses sitzt in der Füllung des Stichbogens vom Gewölbe der ersten Kapelle und musste, ganz gleich, wann die Kreuzigungsgruppe hier angebracht wurde, durch Aufschlagen der älteren Mauer angebracht werden – dieser Sockel steht also ganz nicht »im festen Verband mit der Mauer« (vgl. Abb. 17 im Beitrag von Mirosław Jonakoski). Wenn den Maurern aber hier das Kunststück einer fast spurlosen Applikation gelang, darf dies auch für den Sockel der Marienfigur unterstellt werden. Insofern zwingt nichts dazu, die Anbringung der Kreuzigungsgruppe als ursprünglich gelten zu lassen. Nur die Platzierung über den Chorstufen entspräche dem Standard einer gotischen Kirchenausstattung.

Synagoge und Ecclesia Falls das Triumphkreuz einen traditionellen Platz über dem Kreuzaltar eingenommen hat, stand es nicht in einem programmatischen Zusammenhang mit den steinernen Figuren von Synagoge und Ecclesia231, die in der heutigen SiStrauß sich darüber Rechenschaft gibt, die nachtridentinische, sogar eher barocke Sichtweise, die die neuzeitlichen Lettnerabbrüche zur Folge hatte. Vgl. Anm. 168–170. ´ ski, Kaplica (wie Anm. 1), S. 166–168. 229 Skibin 230 Woz´niak, Wyzosaz˙enie (wie Anm. 39), S. 117. Altar und Kreuzigungsgruppe seien das machtvolle Gegenstück zur Goldenen Pforte: »ta niezwykłej pote˛gi emocjonalnej i tres´ciowej grupa zamyka perspektywe˛ wejs´cia do kos´cioła.« Der Vergleich mit dem Kruzifix über dem Elisabethenaltar in der Nordkonche der Marburger Elisabethkirche zeigt das mittelalterliche Verständnis: Der Altar ist das Entscheidende, er wird durch das GolgathaBild mit plastischem Kreuz überhöht, aber er bildet mit dem Katharinenaltar zu seiner Linken, dem Hl. Kreuz-Altar vor dem Lettner und den beiden Altären der Südkonche (Johannes Baptist, Georg und Martin) eine durchgehende geostete Front. 231 Zur Thematik und Ikonographie vgl. Helga Sciurie, Ecclesia und Synagoge an den Domen zu Strassburg, Bamberg, Magdeburg und Erfurt, Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 46–47 (1993–1994), S. 679–687, 871–874; Monica Wolf: Ecclesia und Synagoge in fortwährendem Streit, in: Ursula Schulze (Hg.), Juden in der deutschen Literatur des Mit-

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tuation an den Diensten rechts und links von der Kreuzigungsgruppe ihre Aufstellung haben und sie gleichsam einrahmen. Damit wäre auch die von Bernhard Schmid, Szcze˛sny Skibin´ski und Michał Woz´niak232 vertretene These hinfällig, nach der es sich ungeachtet des unterschiedlichen Materials um einen genuinen »Teil einer Gruppe« mit der Kreuzigung handelte. Nun soll der Apostelzyklus an den Gewölbepfeilern einer Kirche233 seit seiner erstmaligen Aufstellung in der Sainte-Chapelle in Paris im Jahr 1244 Christus und die Apostel gemäß der typologischen Interpretation des Ezechiel-Kommentars234 als Säulen der Kirche vorstellen.235 Sind es mehr als zwölf Säulen, so können weitere stützende Heilige nach lokalem Ritus hinzugefügt werden, wie es für die Marienburg mit dem Täufer, Katharina und – wegen des Erhaltungszustandes nur mutmaßlich – Dorothea geschah. Auf weiteren Konsolen würde man in Übereinstimmung mit der Allerheiligenlitanei des Deutschen Ordens und zur Vervollständigung der vier Virgines capitales Barbara und Maria Magdalena erwarten.236 Die Aufnahme der Synagoge in diesen Kreis ist befremdlich, die der Ecclesia – als Stütze ihrer selbst! – abstrus. Daraus folgt, dass die Figuren entweder falsch interpretiert oder für einen anderen Aufstellungsort geschaffen wurden. Die Figur westlich von der Kreuzigungsgruppe (»Ecclesia«) trägt als einziges Attribut einen Kelch, es fehlen die für die Ecclesia typischen Attribute von Krone und Vexillum. Der Kelch ist auch nicht auf das Kreuz ausgerichtet,

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telalters. Religiöse Konzepte, Feindbilder, Rechtfertigungen, Tübingen 2002, S. 35–60, hier S. 40f.; Engelbert Kirschbaum (Hg.), Lexikon der christlichen Ikonographie 1 (1968), Sp. 314–316 (Bock), Sp. 570–578 (Ecclesia und Synagoge) sowie 4 (1972), Sp. 231 f (Synagoge). Woz´niak in: Bott/ Arnold, 800 Jahre (wie Anm. 215), S. 122. Wir haben nach Schmid, Marienburg (wie Anm. 47), S. 30 insgesamt 18 Figuren; an der Südseite: Christus ganz im Osten des Chores, dann Johannes Evangelista und sechs weitere Apostel, schließlich eine weibliche Heilige (Dorothea?); an der Nordseite: Johannes Baptista, Petrus, vier weitere Apostel, die Synagoge, die Kirche, abschließend die hl. Katharina. Die beiden Dienste an den Ecken zur Westwand haben keine Figuren. Mit den Worten von Claus Cranc, Prophetenübersetzung (wie Anm. 96), S. 120: By den philern vornymmit man dy czeichen, mit dem der geloube bestetigit ist, als Matheus beschribit: dy apostilin gingin und predigtin allinthalbin und der herre half mitte und bestetigete dy rede mit czeychen, di in mitte volgetin. Vgl. auch die in Anm. 80 zitierte Passage des ›Alten Passionals‹. Zur theologischen Bedeutung der Apostelfiguren vgl. Ruth Wessel, Die Sainte-Chapelle in Frankreich. Genese, Funktion und Wandel eines sakralen Raumtyps, Diss. Univ. Düsseldorf 2003, S. 37f. , Bruno Reudenbach, Säule und Apostel. Überlegungen zum Verhältnis von Architektur und architekturexegetischer Literatur im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 14 (1980), S. 310–351. Vgl. die Keramikplatten mit den Heiligen Jungfrauen Barbara, Dorothea, Katharina und Maria Magdalena am Kirchturm der Katharinenkirche in Sternberg (Gryzwna, südlich von Kulmsee), Abbildung bei Marian Arszyn´ski, Organizacja i technika ´sredniowiecznego budownictwa ceglanego w Prusach w konteks´cie europejskim, Malbork 2016, S. 80 Abb. 39.

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dient also nicht zum Auffangen des Blutes aus der Speerwunde. Die andere (östliche) Figur hält einen Ziegenkopf in der linken Hand, was ein starkes Indiz für eine Synagogendarstellung ist. Ansonsten fehlen signifikante Attribute: Die Figur ist weder blind noch trägt sie eine zerbrochene Fahne oder die Tora, sie stürzt nicht und hat auch keine Krone verloren. Sie wendet sich nicht verstockt vom Kreuz ab, sondern lächelt den Betrachter mit der Güte einer Heiligen an; in Steinbrechts Rekonstruktion erhielt sie sogar einen Heiligenschein.237 Eine Heilige mit Kelch würde man als Darstellung der Hl. Barbara interpretieren; erst durch das substituierte Ensemble mit der Synagoge wird überhaupt die Deutung als Ecclesia denkbar. Der Ziegenkopf in der Hand der gegenüberstehenden Figur gehört zwar in die Ikonographie der Synagoge, könnte aber auch auf die sieben Dämonen bezogen werden, die Jesus aus der Magdalena austrieb (Lk 8,1–3).238

Die Westwand der Kapelle und Meysters stul Die Westwand der Marienburger Schlosskirche ist bemerkenswert, da sie aufwändiger gestaltet ist als alle anderen uns bekannten Kapellen preußischer Ordenshäuser. Über dem Arkadenfries verläuft eine mit Wimpergen verdeckte Galerie, die an tiefen, von Spitzbögen überwölbte Nischen vorbeiführt.239 Das erinnert an die Westwand der Saintes-Chapelles in Paris oder Vincennes, nur dass dort die Galerie vor einer Fensterreihe oberhalb der Spitzbögen verläuft. Die Forschung ist sich uneins, ob der Arkadenfries zur ersten oder zweiten Bauphase

237 Ganz anders tritt das Paar im Westportal des Straßburger Münsters auf, wo sich beide – hier mit Verehrung, dort mit Verachtung – an das Kreuz anlehnen und die Synagoge an ihrer Augenbinde unzweideutig erkennbar ist. 238 Diese Verbindung ist allerdings erst im Barock belegt, während ein heute im Muzeum Diecezjalne von Pelplin aufbewahrtes Altarbild mit der Quinitas Dei aus der Thorner Franziskanerkirche von 1390 im unteren Bereich eine den Ziegenkopf haltende Synagoge ohne Augenbinde zeigt, die sich vom Lamm Gottes im Arbor vitae abwendet, vgl. 800 Jahre Franz von Assisi. Franziskanische Kunst und Kultur des Mittelalters, redigiert von Harry Kühnel, Hanna Egger, Gerhard Winkler (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums N. F. 122), Wien 1982, S. 599. Entgegen der Katalogbeschreibung hält jedoch die gekrönte Ecclesia auf der anderen Seite des Arbor keinen Kelch und fängt dementsprechend auch kein Kreuzigungsblut auf (vgl. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pelplin_po liptyk_torunski_Quinitas.jpg). Eine Heilige rechts neben der Synagoge, die spiegelsymmetrisch zu Johannes dem Täufer aufgestellt ist, hingegen ist durch einen Kelch mit schwebender Hostie als Hl. Barbara zu deuten, vgl. R. Pfleiderer : Die Attribute der Heiligen, Ulm 1898, S. 82. 239 Nach übereinstimmender Ansicht aller Restauratoren hatte die Westwand nie einen Durchgang (anders als die Kapelle Lochstedt), sondern war immer nur durch die Goldene Pforte vom Kreuzgang her erreichbar (wie Mewe und Rheden). Allerdings war dieser Bereich des Hochschlosses ständig im Umbau.

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der Kapelle gehört,240 die um ca. 70 cm vorspringende Galerie scheint jedoch bereits zur ersten Kapelle gehört zu haben. Hier sind mehrere Zellen eingebracht, von denen die eine unter dem Ziborium nur vom Kirchenraum aus betreten werden kann, während die Büßerzellen nur vom Kreuzgang aus erreichbar sind.241 Der Galerie vorgeblendet ist eine von Wimpergen gekrönte Balustrade über einem von zwei Säulen getragenen Ziborium. Es ist ein befremdlicher Vorbau ohne Parallele. Während er zum Kirchenraum hin gut eingepasst wurde, tritt auf der Galerie das Flickwerk242 offen zutage. Da das Ziborium schmäler als die mittlere Wandnische ist, die es verdecken soll, wird es durch zwei Stützmauern mit Spitzbögen als Durchgang von der Brüstung an die Westwand herangeführt. Die südliche Quermauer steht in einem Winkel von 588 zur Brüstung und die nördliche in einem Winkel von 958.243 Außerdem ist das Ziborium gegenüber der Mittelachse der Nische leicht nach Norden versetzt, womit ein Positionierungsfehler der Nische korrigiert wird, während das Ziborium exakt auf die Mittellinie der Kirche ausgerichtet ist.244 Bemerkenswert ist die kleine Pforte unterhalb des Ziboriums, hinter der sich eine schmale, lichtlose, überwölbte Zelle ohne jeden weiteren Zugang befindet. Sie hat zu allerlei Spekulationen Anlass gegeben.245 Möglicherweise handelt es sich um das Relikt von nie ausgeführten Raumplanungen.246 Doch hat der Raum selbst ohne das Ziborium eine gewichtige ikonographische Ausstattung. Über der Türe wurde eine Skulptur der Majestas Domini angebracht, wie sie als Fresko 240 Über das Ziborium haben wir extrem widersprüchliche Thesen: Matz und Skibin´ski rechnen ihn zur zweiten Bauphase, Steinbrecht nahm das nur für den Aufbau an und hielt das Untergeschoß mit dem Säulenbaldachin für älter, Bernhard Schmid hingegen erklärte den gesamten Baukörper für einen Teil der ersten Kapelle. Vgl. Schmid, Marienburg (wie Anm. 47), S. 26: »er gehört zur ersten Bauzeit, denn seine Seitenmauern schließen zwischen zwei Arkaden sich organisch an die Mauer an.«. 241 Diese können in anderen Häusern des Deutschen Ordens nachgewiesen werden und gehören schon zur Ausstattung von Templerkonventen. Im London Temple benötigen sie allerdings wegen der ungleich stärkeren Mauern keinen Vorbau. Charles Greenstreet Addison, The Temple Church, London 1853, S. 74f. 242 Besonders deutlich in den Abb. 190–191 bei Pospieczny, Domus Malbork (wie Anm. 6), S. 187. 243 Diese Werte ergeben sich aus der Vermessung von Steinbrecht, vgl. die Abbildung W.II.10 bei Mierzwin´ski, Ikonografia (wie Anm. 225), S. 72 wiedergibt. 244 Vgl. den Aufriss von Piotr Pałdyna et al. bei Dobry/Jesionowski, Załoz˙enia (wie Anm. 99), 124. 245 Die Problematik fasst zusammen Pospieszny, Domus Malbork (wie Anm. 6), S. 202f. 246 Steinbrecht, Untersuchungs- und Wiederherstellungs-Arbeiten (wie Anm. 41), S. 2 dokumentiert in Fig. 5, dass auch in der Marienburg hinter der Kirchenwand eine Treppe lag, deren Pedant in Barten er so beschreibt: »in der starken Trennungswand, zwischen Kirche und Kapitelsaal, liegt eine Treppe, die zum Kapitelsaalspeicher und weiter zum Wehrgang hinaufführt« (Steinbrecht, Ordensburgen der Hochmeisterzeit [wie Anm. 202], S. 20).

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über dem Westtor der Sainte-Chapelle zu finden ist. Die Zwickel rechts und links neben ihr zeigen Adam und Eva (erkennbar am Apfel): der Anfang des biblischen Bildzyklus, der in den Wandbildern an der Süd- und Nordwand der Kirche entlang läuft. Das ist die fraglos Ausstattung eines Westportals. Doch wer sollte hier von woher eintreten? Steinbrecht legte sich auf ein sepulchrum domini fest, das für die depositio hostiae am Gründonnerstag gedient habe, und zwar handle es sich »nach dem Urtheil von Sachkundigen« um ein »Sanktuarium« [richtig wäre: Secretarium] »bestimmt für die den kirchlichen Gebräuchen gemäße Beisetzung der geweihten Hostie – des corpus Christi – während der Charwoche«.247 Hierzu passende Schriftquellen aus dem deutschen Orden sind mir nicht bekannt; das Missale bestimmt eher nüchtern zum Gründonnerstag Hac die communio sacra in crastinum reservanda est in pixide in quo consuevit sancta communio reservari (fol. LXXVr) bzw. am Karfreitag Deinde afferat calicem cum corpore Christi hesterno die consecrato et cum vino non consecrato et aqua corporali et ponat super altare et incensat illud (fol. LXXXIIr/v).

Außerdem verquickte Steinbrecht die Verbringung der Hostien von Gründonnerstag auf Karfreitag mit dem symbolischen Grab in der Osternacht, das in einzelnen Kirchen – aber nicht im Deutschen Orden – als Vergegenwärtigung des so genannten Apostellaufs in einer Prozession mit Wechselgesang und verteilten Sprecherrollen vom Altar aus besucht wird. Bei diesem Osternachts-Sepulchrum handelt es sich auch nicht um ein Stück Architektur, sondern um Provisorium (z. B. ein Zelt). Der Havelberger Liber Ordinarius248, eine der wenigen Schriftquellen für das liturgische Osterspiel, spricht vage von einem monumentum.249 247 Steinbrecht, Untersuchungs- und Wiederherstellungs-Arbeiten (wie Anm. 41), S. 2. Liturgiegeschichtlich stellt sich dies alles jedoch weit komplizierter dar : In der Regel werden die Hostien in eine Sakristei oder auf einen Nebenaltar verbracht, ehe sie nach der Kreuzanbetung am Karfreitag ausgeteilt werden, vgl. Henning Brinkmann: Zum Ursprung des liturgischen Spieles, in: Xenia Bonnensia. Festschrift zum fünfundsiebzigjährigen Bestehen des Philologischen Vereins und Bonner Kreises, Bonn 1929, S. 1–48, besonders S. 20f.; Solange Corbin: La d8position liturgique du Christ au Vendredi Saint. Sa place dans l’histoire des rites et du the.tre religieux, Paris [u. a.] 1960 (Collection Portugaise, 12); als Teil der Kreuzverehrung im Templerorden Mentzel-Reuters, Templerspiritualität S. 226f. Im hier prägenden Ritus von F8champ befand sich das sepulchrum im Chorumgang, vgl. Walther Lipphardt (Hg.), Lateinische Osterfeiern und Osterspiele 7. Kommentar : Aus dem Nachlaß hg. von Hans-Gert Roloff, Berlin und New York 1990, S. 204. 248 Vgl. den Text der Havelberger Osterspielordnung nach der Handschrift HAB Wolfenbüttel, 84.2 Aug.fol bei Claudia Lichte, Die Inszenierung einer Wallfahrt. Der Lettner im Havelberger Dom und das Wilsnacker Wunderblut, Worms 1990, S. 131–133, zur liturgie- und literaturgeschichtlichen Einordnung ebd. S. 122–128. 249 Lichte, Inszenierung (wie Anm. 248), S. 16 Anm. 323. Vgl. auch Hansjürgen Linke, Havelberger Osterspiel, in: Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters 3 (1981), Sp. 558 f, der auf die Verwendung des (gerade im Deutschen Orden verbreiteten) Liedes Christ ist erstanden nach der Kreuzerhebung am Schluss des Spieles verweist. Zu diesem

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Doch ist für Osterspiele in Deutschordenskirchen aufgrund mangelnder Schriftquellen Skepsis angesagt: Man würde im Orden, wenn überhaupt, doch eher volkssprachliche Spiele erwarten. Diese sind vom liturgischen Geschehen abgelöst und fanden meist unter freiem Himmel statt, während bei fester Anbindung an die Kirche von einem lateinischen Spiel auszugehen ist, wie es z. B. im Havelberger Dom praktiziert wurde.250 Das widerspricht den starken Tendenzen zur Volkssprachlichkeit, die der Deutsche Orden in seiner Lesekultur erkennen lässt. Nun haben wir nach der Beobachtung von Steinbrecht im südwestlichen Bereich der Kapellen von Rheden und Schwetz ebenfalls Nischen, für die bislang keine plausibleren Erklärungen vorgelegt worden sind. Kasimierz Pospieszny schlug eine Deutung dieser Zellen als Reliquienschreine vor.251 Das schien, zumal das aufgebotene theologischen Beiwerk nicht wirklich überzeugen kann, kaum haltbar. Außerdem erwähnt das Marienburger Ämterbuch, so wie es in Ziesemers Edition vorliegt, mit keinem Wort einen anderen Reliquienbehälter als die sarke (MÄB 123,41 = 125,35) im Hochaltar, die später die unterste tumbe genannt wird (MÄB 127,34 = 131,18). Ein Abgleich dieser Edition mit dem Ordensfolianten 129 offenbart jedoch, dass Walther Ziesemer ein schweres Versehen unterlaufen ist: Er hat hinter wenn man dy herren begeeth (MÄB 129,27) eine ganze Zeile mit einer spektakulären Ortsangabe ausgelassen, und sie gibt Anlass, die Rolle des Ziboriums neu zu überdenken. Zwar hätte an sich auffallen müssen, dass das Inventar von 1437 einen zweiten Katalog mit weit bemerkenswerteren Pretiosen aufführt als es die Heiltümer im Hochaltar darstellen. Es wurde jedoch irgendwie zum Reliquienschatz der Kirche gerechnet und nie weiter diskutiert, dass diese Liste von der anderen getrennt war und außerdem nur in diesem einen Inventar auftritt. Hier der Text des Reliquienverzeichnisses nach der Originalüberlieferung in GStAPK Berlin, XX. HA, OF 129, S. 195252 in unveränderter Orthographie und ohne Interpunktion:

Osterleis vgl. Walther Lipphardt, Christ ist erstanden, in: Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters 1 (1978), Sp. 1197–1201 (hier ohne Deutschordensbezug). 250 Das leere Grab liegt im Westen, weil ihm gegenüber die eigentliche Handlung spielt, bei der die Frauen und die Apostel nacheinander auftreten, um das Umschlagen von Niedergeschlagenheit und Auferstehungshoffnung zu versinnbildlichen und den Weg zum Grab beginnen zu lassen. Der Platz für diese Szenen ist, daran lässt der Havelberger Liber Ordinarius nicht den geringsten Zweifel, ein Lettner. Er dient mit seinen Stufen und Pforten als Bühne; die Priester können aus dem Chorraum heraus vor den Konvent treten und wieder hinter den Lettner abgehen. Bei einer Kirche ohne Lettner fehlt dem Sepulchrum das Gegenüber und den Personen die Bühne, die ja weder durch Chorstufen noch einen freistehenden Altar gebildet werden kann. 251 Pospieszny, Domus Malbork (wie Anm. 6), S. 205–213. 252 Entspricht – bis auf die dort ausgelassene Rubrik – MÄB 129,27–38.

Zur Sakraltopologie der Marienburg

Abb. 12: GStAPK Berlin, XX. HA, OF Nr. 129, S. 195 (»Marienburger Ämterbuch«).

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