Cassiodors Psalmenkommentar: Exegese, Politik und die christliche Neuordnung der römischen Welt 3515135928, 9783515135924

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Cassiodors Psalmenkommentar: Exegese, Politik und die christliche Neuordnung der römischen Welt
 3515135928, 9783515135924

Table of contents :
Danksagung
Hinweise zur Zitierung und zu den verwendeten Übersetzungen
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil I: Cassiodor als Exeget
1. Kapitel Cassiodor und die Expositio Psalmorum
1.1.Zwei Leben? Der Politiker als Exeget
1.2.Die Expositio Psalmorum und ihre Kontexte zwischen Konstantinopel und Vivarium
1.3.Cassiodor und die Psalmen: Strategien der Interpretation in der Expositio Psalmorum
1.4.Rhetorik als interpretative Technik
1.5.Der Rhetor als Exeget und der Adressatenkreis der Expositio Psalmorum
2. Kapitel Cassiodor und das biblische Israel
2.1.Israel, Hebräer, Juden – Das biblische Israel aus christlicher Sicht
2.2.Israel als soziale Metapher
2.3.Das Gottesvolk in den Psalmen: Israel als Identifikationsmodell für christliche Gemeinschaften
2.4.Das Gottesvolk in der Krise
2.5.Cassiodor und die Juden
Teil II: Exegese und Ethnizität
3. Kapitel Ethnischer und christlicher Diskurs in der Spätantike: Methodische Ausgangspunkte
3.1.Politischer Wandel und ethnischer Diskurs
3.2.Cassiodor und die politische Rolle der gotischen gens: Die Variae
3.3.Ethnischer und exegetischer Diskurs: Methodische Ausgangspunkte
4. Kapitel Populus Dei – Das biblische Israel, der populus christianus und die gens als Gottesvolk
4.1.Der biblische und der christliche populus
4.2.Konvergenz: Das biblische Israel und das Gottesvolk als gens
4.3.Die Christen als gens?
5. Kapitel Cassiodor und die Integration der gentes in die christliche Welt
5.1.Die gentes als christliche Völker
5.2.Cassiodors Neudefinition der gentes im Vergleich mit der Psalmenexegese des 4.–5. Jahrhunderts
5.3.Exegetische Sprache und politischer Diskurs um 550
5.4.Fazit: Cassiodor und die gentes – eine Rhetorik der Kompatibilität
Teil III: Exegese und Orthodoxie Die Expositio Psalmorum im Feld der doktrinären Debatten des 6. Jahrhunderts
6. Kapitel Sed hoc intellegat dementissimus Arianus: Cassiodor und der „Arianismus“
6.1.„Arianer“, Homöer, Goten: Eine kurze Einführung
6.2.Homöer im ostgotischen Italien
6.3.Homöische Texte in Italien und im poströmischen Westen
6.4.Anti-„arianische“ Polemik und trinitarische Debatte in der Expositio Psalmorum
7. Kapitel Eutychis prauum dogma expellitur: Der Dreikapitelstreit und die christologische Position der Expositio psalmorum
7.1.Der christologische Streit und die „Drei Kapitel“ Eine kurze Einführung
7.2.Cassiodors christologische Position
7.3.Cassiodor und Theodor von Mopsuestia
7.4.Die Expositio Psalmorum als Verteidigung einer dyophysitischen Hermeneutik
7.5.Die Expositio Psalmorum als theologische „posture“ und die politische Bedeutung der Exegese
Zusammenfassung
Verzeichnisse
Abbildungen
Abkürzungen
Quellen
Literatur
Websites
Personen- und Ortsregister
Stellenregister zu den Psalmen

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ÆTERNA Altertumswissenschaften

RO M A

Franz Steiner Verlag

Gerda Heydemann

Cassiodors Psalmenkommentar Exegese, Politik und die christliche Neuordnung der römischen Welt

M AA ÆT EÆ R N AT E R N A ROR OM    Beiträge zu Spätantike und Frühmittelalter

   Herausgegeben von Volker Henning Drecoll,    Irmgard Männlein-Robert, Mischa Meier und Steffen Patzold    Band 15 www.steiner-verlag.de/brand/Roma-aeterna

Cassiodors Psalmenkommentar Exegese, Politik und die christliche Neuordnung der römischen Welt Gerda Heydemann

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Bronzestatue der Kapitolinischen Wölfin, Kapitolinische Museen, Rom © akg/De Agostini Picture Library Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2024 www.steiner-verlag.de Umschlaggestaltung: r2 Röger & Röttenbacher, Leonberg Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13592-4 (Print) ISBN 978-3-515-13596-2 (E-Book) https://doi.org/10.25162/9783515135962

Danksagung Im Laufe der Arbeit an diesem Buch habe ich vielfältige Unterstützung durch eine Reihe von Personen und Institutionen erfahren, denen ich meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. Mein Interesse am Zusammenhang zwischen Bibelexegese und ethnischem Diskurs in der Spätantike wurde durch die Mitarbeit an verschiedenen Projekten am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien geweckt und gefördert. Das FWF-Wittengenstein-Projekt „Ethnische Identitäten im frühmittelalterlichen Europa“, das von Walter Pohl geleitet wurde, und später der SFB „Visions of Community: Comparative Approaches to Ethnicity, Region and Empire in Christianity, Islam and Buddhism, 400–1600 CE“ boten einen idealen Rahmen, um meine Ideen zu formulieren und auf Projektklausuren, Workshops und in zahllosen Kaffeepausen mit Kolleg:innen und internationalen Gästen zu diskutieren und zu schärfen. Nach meinem Wechsel nach Berlin habe ich am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin ein ebenso ideales Arbeitsumfeld vorgefunden. Das von Stefan Esders geleitete Kolloquium zur Geschichte der Spätantike und des frühen Mittelalters bot ein außergewöhnlich offenes und inspirierendes Forum zum wissenschaftlichen Austausch. Walter Pohl hat meine Forschungen zu Cassiodor von Beginn an gefördert und die Entstehung des Buches in all ihren Phasen begleitet und unterstützt. Er hat auch die Dissertation betreut, auf die der Kern dieses Buches zurückgeht und die 2013 an der Universität Wien angenommen wurde. Helmut Reimitz danke ich nicht nur für seine unermüdliche Gesprächsbereitschaft und zahlreiche methodische und inhaltliche Anregungen, sondern auch für seine Gastfreundschaft während meines Aufenthaltes an der Princeton University im akademischen Jahr 2010–2011. Mayke de Jong hat vor vielen Jahren in Utrecht mein Interesse für das Zusammenspiel zwischen Bibelexegese und politischem Diskurs geweckt; seither hat sie mit ihrer fachlichen Expertise und ihrem freundschaftlichen Rat meine Forschungen und die Fertigstellung des Buches tatkräftig unterstützt. Beide haben das ganze Manuskript gelesen und vielfältige Anregungen zu seiner Verbesserung gegeben. Für die kritische Lektüre einzelner Kapitel und für wertvolle Hinweise danke ich Michael Eber, Stefan Esders, Cinzia Grifoni und Robin Whelan. Cinzia Grifoni und Klaus Heydemann haben meine Übersetzungen aus dem Lateinischen kritisch geprüft und mich vor zahlreichen Fehlern bewahrt.

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Danksagung

Stellvertretend für die vielen Kolleg:innen und Freunde, die in zahlreichen Gesprächen und Diskussionen in Wien, Berlin und anderswo großzügig ihr Wissen und teils unveröffentlichte Texte mit mir geteilt haben, seien an dieser Stelle erwähnt: Shane Bjornlie, Kate Cooper, Richard Corradini, Maximilian Diesenberger, Clemens Gantner, Uta Heil, Pia Lucas, Rosamond McKitterick, Rutger Kramer, Meg Leya, Molly Lester, Maya Maskarinec, Hildegund Müller, Richard Payne, Marianne Pollheimer-Mohaupt, Irene van Renswoude, Roland Steinacher, Graeme Ward, Herwig Wolfram, Ian Wood. Für die redaktionelle Hilfe bei der Einrichtung des Manuskriptes danke ich Nicola Edelmann; Friederike Michel und Pau-Bernat Poensgen für ihr scharfes Auge und ihren großen Einsatz beim Korrekturlesen und bei der Erstellung des Registers. Schließlich bin ich den Herausgeber:innen für die Aufnahme des Buches in die Reihe Roma Aeterna zu Dank verpflichtet, Katharina Stüdemann und dem Team des Franz Steiner Verlages für die umsichtige Begleitung der Drucklegung. Die Fertigstellung des Buches hat durch die Arbeit an anderen Projekten, zwei Elternzeiten und eine Pandemie länger gedauert als ursprünglich gedacht – umso dankbarer bin ich, dass es nun erscheinen kann. Es war ein großes Glück, mit Philipp in dieser Zeit einen Partner an der Seite zu haben, der mein Interesse für die Spätantike und das frühe Mittelalter teilt. Sein kritischer Rat und seine geduldige Unterstützung waren von unschätzbarem Wert. Das Buch ist meiner Familie gewidmet, allen voran meinen Eltern, die seine Entstehung mit großer Anteilnahme und viel Verständnis begleitet haben.

Hinweise zur Zitierung und zu den verwendeten Übersetzungen

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Hinweise zur Zitierung und zu den verwendeten Übersetzungen Der Text der Expositio Psalmorum (im Folgenden abgekürzt als EP) folgt der Edition von Adriaen. Die deutschen Übersetzungen sind, wo nicht anders angegeben, meine eigenen, wobei für die Texte aus der EP gegebenenfalls die englische Übersetzung von Walsh zu Rate gezogen wurde. Ebenfalls herangezogen wurden die englischen Übersetzungen von Barnish und Bjornlie zu Cassiodors Variae; wo andere Übersetzungen verwendet wurden, ist dies zu den einzelnen Stücken vermerkt. Für die übrigen Quellentexte werden die herangezogenen Übersetzungen jeweils in den Anmerkungen genannt. Bibelverse werden in der Form zitiert, in der sie im jeweiligen Kommentar zugrunde lagen, z. B. folgt der Text für die innerhalb der EP zitierten Psalmenverse dem Wortlaut der von Cassiodor verwendeten Vetus Latina-Fassung. Die deutsche Übersetzung wird nach der zweisprachigen Vulgata-Ausgabe von Behriger/Ehlers/Fieger zitiert; Abweichungen zwischen dem Vetus Latina-Text und der Vulgata werden nur vermerkt, sofern sie das Verständnis der Übersetzung beeinflussen. Die zu kommentierenden Lemmata bzw. die von Cassiodor im Rahmen des Kommentars zitierten Versteile werden, ebenso wie andere Bibelzitate, typographisch durch Normalschrift (im Unterschied zum kursiv gesetzten Zitat des Kommentars) hervorgehoben.

Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Teil I: Cassiodor als Exeget 1. Kapitel Cassiodor und die Expositio Psalmorum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1.1. Zwei Leben? Der Politiker als Exeget. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1.2.Die Expositio Psalmorum und ihre Kontexte zwischen Konstantinopel und Vivarium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1.3. Cassiodor und die Psalmen: Strategien der Interpretation in der Expositio Psalmorum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1.4. Rhetorik als interpretative Technik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1.5. Der Rhetor als Exeget und der Adressatenkreis der Expositio Psalmorum. . . . . 96 2. Kapitel Cassiodor und das biblische Israel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2.1. Israel, Hebräer, Juden – Das biblische Israel aus christlicher Sicht. . . . . . . . . . . . 104 2.2. Israel als soziale Metapher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2.3. Das Gottesvolk in den Psalmen: Israel als Identifikationsmodell für christliche Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2.4. Das Gottesvolk in der Krise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2.5. Cassiodor und die Juden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

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Inhaltsverzeichnis

Teil II: Exegese und Ethnizität 3. Kapitel Ethnischer und christlicher Diskurs in der Spätantike: Methodische Ausgangspunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 3.1. Politischer Wandel und ethnischer Diskurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 3.2. Cassiodor und die politische Rolle der gotischen gens: Die Variae . . . . . . . . . . . 215 3.3. Ethnischer und exegetischer Diskurs: Methodische Ausgangspunkte. . . . . . . . 221 4. Kapitel Populus Dei – Das biblische Israel, der populus christianus und die gens als Gottesvolk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 4.1. Der biblische und der christliche populus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 4.2. Konvergenz: Das biblische Israel und das Gottesvolk als gens. . . . . . . . . . . . . . . . 248 4.3. Die Christen als gens?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 5. Kapitel Cassiodor und die Integration der gentes in die christliche Welt . . . . . . . . . . . . . 271 5.1.Die gentes als christliche Völker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 5.2. Cassiodors Neudefinition der gentes im Vergleich mit der Psalmenexegese des 4.–5. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 5.3. Exegetische Sprache und politischer Diskurs um 550 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 5.4. Fazit: Cassiodor und die gentes – eine Rhetorik der Kompatibilität . . . . . . . . . . 325 Teil III: Exegese und Orthodoxie Die Expositio Psalmorum im Feld der doktrinären Debatten des 6. Jahrhunderts 6. Kapitel Sed hoc intellegat dementissimus Arianus: Cassiodor und der „Arianismus“. . . 333 6.1. „Arianer“, Homöer, Goten: Eine kurze Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 6.2. Homöer im ostgotischen Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 6.3. Homöische Texte in Italien und im poströmischen Westen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 6.4. Anti-„arianische“ Polemik und trinitarische Debatte in der Expositio Psalmorum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

Inhaltsverzeichnis

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7. Kapitel Eutychis prauum dogma expellitur: Der Dreikapitelstreit und die christologische Position der Expositio psalmorum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 7.1. Der christologische Streit und die „Drei Kapitel“ Eine kurze Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 7.2. Cassiodors christologische Position. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 7.3. Cassiodor und Theodor von Mopsuestia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 7.4.Die Expositio Psalmorum als Verteidigung einer dyophysitischen Hermeneutik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 7.5.Die Expositio Psalmorum als theologische „posture“ und die politische Bedeutung der Exegese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Verzeichnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Abbildungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Websites. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Personen- und Ortsregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Stellenregister zu den Psalmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505

Einleitung Dieses Buch untersucht, wie die Bibel, und besonders das Alte Testament, politische und soziale Vorstellungswelten in der Spätantike prägte. Es fragt nach den Wechselwirkungen zwischen politischem und christlichem Diskurs, nach der Wirkmacht der Geschichte des biblischen Israel als Modell für die Neuformierung politischer Ordnung in einer Umbruchszeit. Ausgehend vom spätrömischen Imperium entstand im Lauf der Spätantike eine politische Landschaft, die von neuen Formen der Legitimation politischer Autorität und kollektiver Identität geprägt war; gleichzeitig gewann das Christentum als gesellschaftliche Kraft immer größere Bedeutung. Die Bibel und ihre Erzählungen über Israel als auserwähltes Volk stellten eine wichtige Ressource zur Interpretation und Legitimation dieser Entwicklungen dar. Das alttestamentliche Gottesvolk bot ein Modell für politische Gemeinschaften, die gleichzeitig ethnisch und religiös definiert waren. In der Exegese – der Interpretation der Bibel in Form von Kommentaren, Homilien oder Traktaten – lässt sich die gedankliche Aneignung dieser Modelle nachvollziehen: Wie nutzten christliche Intellektuelle im 6. Jahrhundert die Bibel, um den politischen und gesellschaftlichen Wandel ihrer Zeit zu verstehen und mitzugestalten? Welche Konzepte von kollektiver Identität und sozialem Zusammenhalt entwickelten Exegeten ausgehend vom Bibeltext für die christlichen Gemeinschaften, denen sie sich zugehörig fühlten? Inwiefern ließen sich aus den biblischen Geschichten Deutungsmuster zur Interpretation von Entwicklungen und Ereignissen im Umfeld der Exegeten gewinnen, insbesondere in Situationen der Krise und des gesellschaftlichen Umbruchs? Im poströmischen Westen des 6. Jahrhunderts stellte sich außerdem zunehmend die Frage, inwiefern sich die mithilfe des israelitischen Gottesvolkes entwickelten Konzepte nicht nur auf ein christliches Imperium, sondern auch auf eine Vielfalt von christlichen gentes und regna übertragen ließen. Schließlich waren in einer Zeit, für die die Konkurrenz zwischen unterschiedlichen christlichen Gruppen charakteristisch war, die Muster zum Umgang mit religiöser Differenz, die sich aus dem Bibeltext ableiten ließen, von großer Relevanz. Diesen Fragen gehe ich im vorliegenden Buch anhand des Kommentars zu den Psalmen nach, den der römische Senator und ehemalige Amtsträger am Hof Theoderichs des Großen, Cassiodor, um die Mitte des 6. Jahrhunderts schrieb. Cassiodors politische und historiographische Schriften, die seine Tätigkeit im Dienst der ostgoti-

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Einleitung

schen Könige dokumentieren, sind in der Forschung intensiv diskutiert worden. Sie zeigen seine Bemühungen um die Integration der Goten in die römische Welt und lassen erkennen, wie in der Debatte um die Legitimität des ostgotischen regnum in Italien auch um neue Konzepte von politischer Ordnung und legitimer Herrschaft gerungen wurde. Cassiodors exegetische Schriften sind hingegen mit Blick auf diese Fragen bisher kaum untersucht worden. Dieses Buch nimmt daher den Psalmenkommentar zum Ausgangspunkt, um Cassiodors politisches Denken und seine religiöse Positionierung um die Mitte des 6. Jahrhunderts zu erschließen. Als Cassiodor mit der Arbeit an dem Kommentar begann, lag bereits eine lange politische Karriere hinter ihm.1 Im Dienst der ostgotischen Herrscher hatte er nicht nur hochrangige Verwaltungsämter bekleidet, darunter das des Prätorianerpräfekten, sondern auch intensiv an der politischen und kulturellen Vermittlung zwischen römischen und gotischen Eliten gearbeitet. Nach dem Zusammenbruch der gotischen Herrschaft 540 befand er sich nun im Exil in der kaiserlichen Hauptstadt Konstantinopel. In seinem Heimatland herrschte ein langwieriger Krieg zwischen gotischen und kaiserlichen Truppen, der die ökonomischen und kulturellen Ressourcen des Landes stark in Mitleidenschaft zog. In Konstantinopel war die politische Atmosphäre in den 540er Jahren nicht nur von den Feldzügen in Italien und Nordafrika, sondern auch von den Perserkriegen, beginnenden Slaweneinfällen und der Pestepidemie geprägt. Zudem gewannen die bereits seit Längerem andauernden Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen christologischen Strömungen neue Brisanz, die im sogenannten „Dreikapitelstreit“ und in den Kontroversen um das Konzil von Konstantinopel 553 einen Kristallisationspunkt fanden. Religiöse Differenz war auch mit Blick auf die homöischen Eliten im ostgotischen Italien von Bedeutung, mit denen Cassiodor zusammengearbeitet hatte. Von vielen nicänischen Zeitgenossen wurden sie polemisch als „Arianer“ bezeichnet und als Häretiker eingestuft. In dieser Situation, die von politischer Unsicherheit und doktrinären Auseinandersetzungen geprägt war, verfasste Cassiodor seinen Psalmenkommentar, dessen erste Fassung wohl ca. 553 abgeschlossen war. Eine überarbeitete Fassung entstand einige Jahre später, als Cassiodor nach dem Ende des Gotenkrieges nach Italien zurückgekehrt war und in Vivarium am Aufbau der von ihm gegründeten monastischen Gemeinschaft und ihrer Bibliothek arbeitete.2 Während die bisherige Forschung die Expositio psalmorum (EP) in erster Linie mit Blick auf das monastische Milieu in Vivarium untersucht hat, soll der Kommentar in diesem Buch im Kontext seiner ursprünglichen Entstehung in Konstantinopel gelesen werden. Ausgangspunkt für diese Lektüre ist die Frage, inwiefern Cassiodors politische Erfahrungen im ostgotischen Italien, aber 1 2

Zu Cassiodors Biographie mit ausführlicher Bibliographie unten Kap. 1.1. Um Dopplungen zu vermeiden, wurden die Literaturhinweise in der Einleitung auf das Notwendigste beschränkt und für eine ausführliche Behandlung des Forschungsstandes auf die jeweiligen Kapitel verwiesen. Zu den Rezensionen Stoppacci, Stadi redazionali; ausführlich dazu unten Kap. 1.2.

Einleitung

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auch die Umbrüche und Krisen der 540er und 550er Jahre seine exegetische Arbeit prägten und die Fragen und Anliegen beeinflussten, die er an den Bibeltext herantrug. Wie ich im Laufe des Buches zeigen möchte, besaß Cassiodors Exegese eine starke politische Dimension. Mit seiner Arbeit zielte er nicht nur auf die Bewahrung gelehrten Wissens für ein monastisches Publikum; vielmehr sollte der Psalmenkommentar an breitere gesellschaftliche Debatten anschließen. Cassiodor reflektierte darin über die Bedeutung des alttestamentlichen Israel als Modell für christliche Gemeinschaften; über die Frage, welche Rolle die gentes als christliche Völker in einer sich wandelnden politischen Ordnung spielen konnten; und wie sich aus dem Bibeltext Orientierung in den doktrinären Auseinandersetzungen der Zeit gewinnen ließ. Indem das Buch Cassiodors Umgang mit diesen Themen verfolgt, kann es nicht nur unser Verständnis für Cassiodors politisches Denken und seine theologischen Positionen schärfen, sondern auch für die Wechselwirkung zwischen religiösen und politischen Diskursen und Identitäten in der Spätantike. Cassiodors Welt: Ravenna, Konstantinopel und Vivarium Die EP ist nicht nur wegen der besonderen Situation, in der sie entstand, ein faszinierender Text, um solche Fragestellungen zu verfolgen; auch handelt es sich bei Cassiodor um einen Exegeten mit einer überaus facettenreichen Persönlichkeit, dessen politische Erfahrung ihm besondere Sensibilität für die Macht des (geschriebenen) Wortes vermittelte. Er schrieb als – hochgebildeter und theologisch versierter – Laie ohne kirchliches Amt oder Weihen, was ihn unter den spätantiken und frühmittelalterlichen Exegeten zu einer Ausnahmeerscheinung macht. Sein ganzes Leben lang bewegte er sich zwischen unterschiedlichen Welten: zwischen der senatorischen Aristokratie Italiens und den gotischen Herrschern in Ravenna; zwischen der Welt der poströmischen regna und dem Imperium, zwischen klassischen und christlichen Traditionen, griechischem Osten und lateinischem Westen.3 Die Texte, die Cassiodor in den verschiedenen Phasen seiner Karriere produzierte, reflektieren diese Arbeit der kulturellen Vermittlung und Übersetzung. Im Impetus der Sammlung, Auswahl und Aufbereitung überlieferten Wissens, der sein literarisches Œuvre kennzeichnet, wird Cassiodors Bemühen um Bewahrung von Traditionen in Zeiten politischer Instabilität und kulturellen Wandels deutlich.4 Gleichzeitig reflektiert dies aber auch sein Bewusstsein für eine gewisse Distanz zu einer idealisierten Vergangenheit, ebenso wie zu manchen kulturellen Entwicklungen im griechischen

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Grundlegend zur Biographie Cassiodors: O’Donnell, Cassiodorus; eine besonders feinsinnige Einführung bietet Vessey, Introduction. Vgl. ausführlich unten Kap. 1.1. Brown, Rise of Western Christendom 364–368.

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Osten.5 In der spannungsreichen Zusammenführung unterschiedlicher Wissensfelder und -traditionen, die ein zweites Charakteristikum seiner Texte bildet, zeigt sich die kulturelle Dynamik und Kreativität spätantiker Gesellschaften. In diesem Sinn kann Cassiodor wie wenige andere Persönlichkeiten für die Umbruchszeit der Spätantike stehen.6 Die folgende Skizze von Cassiodors Welt schließt an ein Verständnis der „langen Spätantike“ an, das die traditionellen Narrative vom Niedergang und Fall des römischen Reiches durch eine produktivere Sicht ersetzt hat, in der die Umgestaltung der römischen Welt als vielschichtiger, langfristiger und in den einzelnen Regionen des Imperiums je unterschiedlich verlaufender Prozess untersucht wird.7 Die Dekonstruktion der an das Ende des weströmischen Reiches geknüpften Epochenwende 476 hat auch dem Gegensatz zwischen „Römern“ und „Barbaren“, der diese Erzählung maßgeblich mitstrukturiert hat, viel von seiner scheinbaren Erklärungskraft genommen.8 Die war auch für die Erforschung der weiteren Entwicklung des postimperialen Westens und der „Völkerwanderungszeit“ wichtig. Die Etablierung der frühmittelalterlichen Reiche im Westen lässt sich nicht mehr einfach als Ablösung der römischen durch eine „germanische“ Kultur verstehen, wie das in der älteren Forschung der Fall war, sondern als Ergebnis der Adaptierung und Weiterentwicklung römischer Modelle und Ressourcen. Gleichzeitig ist klar geworden, dass nicht „Völker“ als festgefügte Einheiten wanderten und Reiche errichteten, die als Ursprünge der modernen Nationen gelten könnten; vielmehr müssen Prozesse der ethnischen Identitätsbildung und die sich wandelnde historische Bedeutung von Ethnizität untersucht werden.9 Zudem wird Religion als Faktor politischer Veränderung und sozialer Organisation ernster genommen, als das in früheren Forschergenerationen oft der Fall war. Dies gilt nicht nur

Cassiodor grenzte die eigene Zeit als modernus von einer (idealisierten) Vergangenheit ab: Vessey, Introduction 6; vgl. Giardina, Cassiodoro politico e il progetto 72–75; O’Donnell, Cassiodorus 235 mit Verweis auf Cassiod. var. 4.51.2 und inst. 1.8.17. 6 Siehe dazu die wertvollen Überlegungen bei Vessey, Introduction 3–6, 97–101. 7 Grundlegend: Brown, World of Late Antiquity; siehe die Bände der Reihe „The Transformation of the Roman World“ des gleichnamigen ESF-Projektes (14 Bde., 1997–2004); Garnsey/Cameron (ed.), The Cambridge Ancient History 13; Ward-Perkins/Cameron/Whitby (ed.), The Cambridge Ancient History 14. 8 Siehe jedoch die Kritik am Transformationsparadigma und eine Wiederaufnahme des Narrativs vom Fall Roms durch die Barbaren bei Heather, Fall; Ward-Perkins, Fall of Rome; vgl. dazu Pohl, Rome and the Barbarians. In den letzten Jahren wurde das Niedergangsparadigma auch unter dem Blickwinkel von Pandemien und Klimawandel neu belebt: Harper, Fate of Rome. Die Bezeichnung Barbaren/barbarisch wird im Folgenden verwendet, wenn es um den konzeptuellen Kontrast (aus römischer Perspektive) zwischen dem römischen Imperium und den gentes geht. Zur Komplexität römischer Identitäten und des Barbarennegriffes siehe unten Anm. 26–31. 9 Rezente Synthesen: Meier, Völkerwanderung (mit ausführlicher Bibliographie); Halsall, Barbarian Migrations; Kulikowski, Tragedy; Wickham, Inheritance; Smith, Europe after Rome; Rummel/Fehr, Völkerwanderung; Pohl, Völkerwanderung; ders., Strategies of Identification; ders., Von der Ethnogenese zur Identitätsforschung. 5

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für die Rolle des Christentums im Westen, sondern auch für die jeweils unterschiedliche Entwicklung in den byzantinischen und islamischen Nachfolgegesellschaften des römischen Reiches.10 Als Cassiodor aufwuchs, war Theoderich der Große gerade dabei, seine Herrschaft über Italien zu etablieren. Zuvor war es ihm gelungen, eine Reihe von gotischen Gruppen im Balkanraum unter seiner Führung zu bündeln und mit kaiserlichem Mandat das Regime Odoakers zu beenden, jenes Heerführers barbarischer Herkunft in römischen Diensten, der 476 den Westkaiser Romulus Augustulus abgesetzt hatte.11 Mit der gotischen Herrschaft in Italien etablierte sich im Kerngebiet des römischen Reiches ein sub-imperiales Königreich, dessen Legitimität Kaiser Anastasios nach zähen Verhandlungen 497/8 anerkannte. Cassiodors Variae, eine Sammlung von Urkunden, Briefen und administrativen Dokumenten, die er im Namen der gotischen Herrscher verfasste, bilden eine zentrale Quelle für das moderne Verständnis der politischen und kulturellen Entwicklungen im gotischen Italien.12 Das gotische Italien wiederum spielt für die Diskussion vieler Aspekte der Umwandlung der römischen Welt in der modernen Forschung eine paradigmatische Rolle.13 Das gilt etwa für die Frage, wie „römisch“ die regna des Westens waren, ebenso wie für die Mechanismen der Ansiedlung und Integration der gentilen Truppen; für die Bedeutung ethnischer Identitäten und die politische Rolle der gotischen gens; schließlich für die Frage, inwiefern die religiöse Distinktion zwischen Homöern und Nicänern handlungsleitend und identitätsbildend war. Zu allen diesen Fragen hat sich in den letzten Jahren eine sehr differenzierte Debatte entwickelt, die althergebrachte, vereinfachende Erklärungsmuster zunehmend hinter sich lässt.14 Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass sich Theoderichs Herrschaft stark auf römische und imperiale Traditionen berief, wofür die Voraussetzun10

Grundlegend dafür: Brown, Rise of Western Christendom; ders., Through the Eye; Cameron, Christianity; Markus, The End of Ancient Christianity; aus einer frühmediävistischen Perspektive: De Jong, Religion; dies., State of the Church; Meier, Völkerwanderung 39–50. Zum Zusammenhang zwischen Christentum und politischer Transformation siehe auch die Ansätze in Pohl/ Heydemann (ed.), Strategies of Identification; Heil (ed.), Christentum im frühen Europa; Whelan, Being Christian; Wood, Transformation; Tannous, Making of the Medieval Middle East; Payne, State of Mixture; Haar Romeny (ed.), Religious Origins. Für komparatistische Perspektiven siehe außerdem: Pohl/Gantner/Payne (ed.), Visions of Community; DiCosmo/ Maas (ed.), Empires and Exchanges; Pohl/Kramer (ed.), Empires and Communities. 11 Wiemer, Odovakar und Theoderich; ders., Theoderich 108–192. 12 Neuere Studien: Kakdridi, Cassiodors Variae; Giardina, Cassiodoro politico; Barnish, Introduction; Bjornlie, Politics and Tradition. 13 Grundlegend Wolfram, Goten; Heather, Goths. 14 Neuere Studien: Wiemer, Theoderich; Arnold, Theoderic; Wiemer (ed.), Theoderich und das gotische Königreich; Bjornlie/Sessa/Arnold (ed.), Ostrogothic Italy; Barnish/Marazzi (ed.), Ostrogothic Italy; Amory, People and Identity, ist zwar in vielen Punkten zurecht kritisiert worden, hat aber auch zahlreiche fruchtbare Debatten angestoßen. Einen Überblick über rezente Forschungen geben Costambeys, The Legacy und Wiemer, Theoderich und die Goten 431–439. Zur Frage der Ansiedlung: Porena, L’Insediamento; ders. (ed.), Expropriations et confiscations; Esders, Integration der Barbaren; Innes, Land; Barnish, Land.

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gen in Italien in besonderer Weise gegeben waren. Theoderichs Autorität beruhte auf dem Konsens zwischen römischen und gotischen Eliten in Italien, der bis in die 520er Jahre aufrecht blieb und eine Zeit weitgehender politischer Stabilität und kultureller Blüte ermöglichte, jedoch gegen Ende seiner Regierungszeit und unter seinen Nachfolger:innen schnell zerbrach. Viele Aspekte des sozialen und ökonomischen Wandels, der sich jenseits der am gotischen Hof gepflegten Rhetorik der Kontinuität auch in Italien im 6. Jahrhundert abzeichnet, lassen sich plausibel als Teil breiterer Entwicklungen innerhalb der spätrömischen Welt erklären. Das gilt zum Beispiel für die Stadtentwicklung, die Dezentralisierung staatlicher Aufgaben, die Verkleinerung des Verwaltungsapparates und die Neujustierung ziviler und militärischer Verantwortungsbereiche. Den eigentlichen Bruch mit der (politischen) Tradition des Imperiums lokalisieren die meisten Forscher:innen daher weniger in der Herrschaftsübernahme Theoderichs als in den verheerenden Gotenkriegen unter Kaiser Justinian I.15 Dennoch existieren auch in der jüngeren Forschung sehr unterschiedliche Positionen zu der Frage, worauf der von Theoderich etablierte Konsens beruhte. Umstritten ist insbesondere die Bedeutung ethnischer Identitäten und die politische Rolle der gotischen gens.16 Damit eng verknüpft ist auch die Diskussion über die politischen Konsequenzen der religiösen Unterscheidung zwischen (gotischen) Homöern und (römischen) Nicänern.17 Ein Ansatz, den man etwas salopp mit dem Schlagwort „hyper-continuity“ oder „hyper-Romanness“ versehen könnte und den jüngst Jonathan Arnold besonders prägnant vertreten hat, betont die imperialen Aspekte von Theoderichs Herrschaft und die Romanisierung der Goten so stark, dass letztere als politische Akteure kaum mehr eine Rolle spielen.18 Hans-Ulrich Wiemer argumentiert hingegen, dass Theoderichs Politik auf die Abgrenzung der gotischen Militärelite von der römischen Bevölkerung zielte. Mit der gesellschaftlichen Aufgabenteilung in militärische und zivile Funktionen war Wiemer zufolge auch eine lebensweltliche Trennung der beiden Gruppen verbunden, die durch die religiösen und sprachlichen Unterschiede verstärkt worden sei.19 Diese unterschiedlichen Einschätzungen erklären sich zumindest teilweise daraus, dass schon die Zeitgenossen ähnliche Debatten über den politischen und gesellschaftlichen Wandel und seine Bewertung führten. So zeichnen sich in den überlieferten

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Prägnant in diesem Sinn zuletzt Meier, Völkerwanderung 805–825; vgl. O’Donnell, Ruin; Wickham, Le trasformazioni 739; ders., Early Medieval Italy 25; Pohl, Social Cohesion 24. Dazu zuletzt Pohl, Gotische Identitäten; Swain, Goths and Gothic Identity; Meier, Völkerwanderung 527–532, gibt einen prägnanten Überblick über die moderne Forschungsdebatte zum Verhältnis zwischen „Goten“ und „Römern“ in Italien. Whelan, Ethnicity; Brennecke, Ipse haereticus; Brown, Role of Arianism; diese Autoren beziehen in jeweils unterschiedlicher Weise kritisch Stellung zu Amory, People and Identity 236– 276. Vgl. ausführlich unten Kap. 6. Arnold, Theoderic; ähnlich bereits O’Donnell, Ruin 107–174. Wiemer, Theoderich; prägnant zusammengefasst in ders., Integration durch Separation.

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Texten Auseinandersetzungen über die Legitimität der gotischen Herrschaft und die Kompatibilität der Goten mit der römischen Welt ab.20 Gleichzeitig stand die Definition und Wahrnehmung der Goten zur Disposition – waren sie barbarische Usurpatoren oder eine romanisierte Militärelite? Wie ließ sich der Zusammenhalt der gotischen gens in einer römischen Umgebung gewährleisten und inwiefern mussten Kriterien der Zugehörigkeit neu ausgehandelt werden? Welche Spielräume bestanden aus nicänischer Sicht zur Kooperation mit einer homöischen Elite? Cassiodor selbst war eine wichtige Stimme in diesen Debatten.21 Die Variae betonten die Kompatibilität zwischen gotischer Herrschaft und römisch-imperialen Strukturen. Sie transportierten ein Bild Theoderichs als Herrscher, der formal die kaiserlichen Vorrechte wahrte, jedoch de facto kaisergleich regierte, sowie von den Goten als kulturell ebenbürtige und strategisch notwendige Partner der Römer. Die religiösen Unterschiede wurden in den Variae hingegen kaum thematisiert. Cassiodors historiographische Projekte – die Chronik sowie die nicht erhaltene Gotengeschichte, soweit wir über sie informiert sind – lassen ähnliche Positionen erkennen. Während einige Zeitgenossen, wie Ennodius und später Jordanes, diese Auffassungen weitgehend geteilt haben dürften, war dies keineswegs die einzig mögliche Sichtweise. Vielmehr war der rhetorische Aufwand, mit dem Cassiodor und andere dieses Bild entwarfen, beachtlich und legt nahe, dass andere Zeitgenossen – sowohl unter den Römern als auch unter den Goten – erst von dieser Perspektive der Kompatibilität überzeugt werden mussten.22 Auch die Grenze zwischen Römern und Goten war in der Praxis wohl durchlässiger, als die Variae es suggerieren.23 Um das Prestige und die soziale Dominanz einer zahlenmäßig relativ geringen gotischen Elite zu erhalten, waren Strategien der Integration und der Konsensbildung zweifellos ebenso notwendig wie Strategien der Distinktion. Römer und Goten konkurrierten sowohl untereinander als auch miteinander um Zugang zum König sowie um Macht und Ämter, und ihre Homogenität als Interessensgruppen sollte nicht überschätzt werden.24 Die ideologische Botschaft der Variae war nicht nur an die unmittelbaren Adressaten der einzelnen Texte im ostgotischen Italien gerichtet. Sie gewann im Kontext des beginnenden gotischen Krieges neue Relevanz, als Cassiodor die Sammlung ver20 21 22 23

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Am Beispiel der Bewertung Theoderichs eindrucksvoll nachgezeichnet bei Goltz, König – Barbar – Tyrann; siehe auch Amory, People and Identity 109–148; Heydemann, Ostrogothic Italy 19–24; Meier, Völkerwanderung 518–519; Pazdernik, Reinventing Theoderic. Dazu mit ausführlicher Bibliographie unten Kap. 1.1. und 3.2. Giardina, Cassiodoro politico 25–46; Kakridi, Cassiodors Variae 160–191; 318–326; zusammenfassend Heydemann, Ostrogothic Italy 25–28. Amory, People and Identity. Siehe dazu die Kritik bei Kakridi, Cassiodors Variae 293–325 und 339–347; Arnold, Theoderic 172. Für Kritik an Amorys theoretischer Konzeption der Grenze zwischen „Römern“ und „Goten“ Pohl, Gotische Identitäten 321 f.; Halsall, Transformations of Romanness 51 f. Heather, Goths 237–244; Amory, People and Identity 149–194; Moorhead, Theoderic 144– 158.

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öffentlichte, berührte sie doch Fragen nach der Legitimität des gotischen Regimes oder seiner Charakterisierung als barbarische Fremdherrschaft ebenso wie nach der moralischen Integrität seiner (römischen) Unterstützer. Dabei war Cassiodor auch mit divergierenden Auffassungen konfrontiert, nicht nur unter den Mitgliedern der politischen Elite Italiens, sondern auch in der kaiserlichen Hauptstadt Konstantinopel.25 Seine Bemühungen um die Integration der Goten in die römische Welt gewannen vor dem Hintergrund einer imperialen Rhetorik neue Aktualität, die in den Jahrzehnten seit 500 den Gegensatz zwischen „Römern“ und „Barbaren“ zunehmend wiederbelebte und die beiden Begriffe anders und schärfer konturierte als im Westen, wie Mischa Meier jüngst unterstrichen hat.26 Politischer und konzeptueller Wandel in der Spätantike Im Westen hatte sich durch die Regionalisierung und Militarisierung der sozialen Eliten im Lauf des 5. und 6. Jahrhunderts auch die Bedeutung von römischer Identität verschoben. Der Aspekt der politischen Zugehörigkeit zu einem imperialen Zentrum trat im Vergleich zu regionalen und militärischen Elementen in den Hintergrund, sodass sich römische Identität vom spezifischen politischen Rahmen des Imperiums mehr und mehr ablöste. „Central Romanness“ verlor zugunsten von „local Romanness“ an Bedeutung,27 oder, wie Walter Pohl formuliert hat: die unterschiedlichen Ebenen römischer Identität – städtisch, politisch, rechtlich, militärisch, religiös, imperial, kulturell – begannen, auseinander zu driften und verloren ihre Konnektivität.28 Damit einher ging auch die Aufweichung und Verschiebung der binären Unterscheidung zwischen „Römern“ und „Barbaren“, die traditionell einen wichtigen Bestandteil imperialer Legitimation gebildet hatte.29 Cassiodors Variae selbst bilden ein eindrückliches Beispiel für diese Entwicklung, wie wir in Kapitel 3 sehen werden.

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Dies gilt unabhängig davon, ob man mit Bjornlie, Politics and Tradition, die Veröffentlichung erst in die 540er Jahre datieren will oder das traditionelle Datum ca. 537 annimmt; vgl. zum Einfluss östlicher Debatten auf die Variae auch Barnish, Roman Responses. Zur Spannung zwischen der Ebene der einzelnen Stücke und der Sammlung als Ganzes Wiemer, Rezension Bjornlie; vgl. auch unten Kap. 1.1. Meier, Völkerwanderung 118–120, 766–772. Der Begriff bei Heather, Fall 432–443. Siehe die Weiterentwicklung bei Brown, Through the Eye 392–394 und die exzellente Diskussion bei Halsall, Barbarian Migrations 470–482; vgl. auch Greatrex, Roman Identity. Pohl, Early Medieval Romanness 4 und 36–37. Für die weitere Entwicklung im poströmischen Westen siehe die Beiträge in Pohl/Grifoni/Gantner/Pollheimer (ed.), Transformations of Romanness sowie in McKitterick (ed.), Being Roman after Rome; vgl. außerdem Conant, Staying Roman. Die Bibliographie zum Thema ist sehr umfangreich. Exzellente Diskussionen von Themen und Forschungsproblemen Maas, Barbarians; Gillett, Mirror of Jordanes; Meier, Völkerwande-

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Auch die binäre Unterscheidung zwischen dem römischen populus einerseits und den gentes wie Goten, Franken, Vandalen andererseits löste sich schrittweise zugunsten einer relationalen Unterscheidung zwischen mehreren, gleichgeordneten Gruppen auf.30 Nach den justinianischen Kriegen sollte dies dazu führen, dass aus dieser sich neu etablierenden (westlichen) Perspektive „Römer“ als eine unter vielen gentes betrachtet werden konnten, deren politische Relevanz sich zunehmend auf die byzantinisch beherrschten Territorien im Westen beschränkte. In den westlichen regna hingegen büßte römische Identität ihr Potential als politische Alternative zu fränkischer oder gotischer Identität ein. Im Osten stellte gerade die Regierungszeit Justinians eine Phase der besonders intensiven Auseinandersetzung über die Bedeutung von romanitas in einem christlichen Imperium dar. Im Umfeld des Kaiserhofes wurde verstärkt auf traditionelle Formen und Darstellungsmodi von römischer Identität zurückgegriffen, wobei diese Bemühungen darauf abzielten, römische Identität stark auf das imperiale Zentrum im Osten und die Person des Kaisers zu beziehen.31 In dieser exklusiven Variante von „central Romanness“, in der die Grenzen zwischen dem „römischen“ Innen und dem „barbarischen“ Außen weitaus schärfer gezogen wurden als im Westen, stand die Legitimität und romanitas der gentes in den westlichen Provinzen des Reiches in Frage, die noch dazu häufig als heterodox galten. Justinians Kriegszüge in Afrika und Italien wurden als Rückeroberung von imperialen Territorien, die aus der barbarischen Fremdherrschaft befreit werden mussten, gerechtfertigt. Vandalen und Goten erschienen in dieser Perspektive als Barbaren und Häretiker, während das römische Reich einen gerechten Krieg im Namen Gottes und der römischen libertas gegen sie führte.32 Mit der Christianisierung des römischen Reiches wurde politische Autorität zudem mit Formen christlicher Legitimation verknüpft, ein Prozess, der unter der Herrschaft Justinians ebenfalls besondere Dynamik gewann.33 Christliche und römische Identität, imperiale Herrschaft und die Durchsetzung des richtigen Glaubens wurden in bisher

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rung 51–89; Heather, Barbarian. Für eine Perspektive, die die materielle Kultur einbezieht: von Rummel, Habitus Barbarus; ders., Fading Power. Zu dieser Frage Pohl, Early Medieval Romanness 7–8 und 26–33; Halsall, Transformations of Romanness 47 f., schlägt vor, das Verhältnis von römisch-imperialer Identität und „gentile identities“ als unterschiedliche „levels of identity“ (strukturell vs. taxonomisch) zu sehen, die in manchen Kontexten auch als miteinander kompatibel und kombinierbar gesehen worden wären. Cameron, Old and New Rome; Maas, John Lydus; ders., Roman History; Pazdernik, Justinianic Ideology; Meier, Völkerwanderung 766–771. Amory, People and Identity 135–147; Goffart, Rome, Constantinople and the Barbarians 296– 304; Meier, Völkerwanderung 47–50, 766–768; Pazdernik, Reinventing Theoderic. O’Donnell, Ruin 147 spricht in diesem Sinn etwas überspitzt davon, dass Justinian (und Chlodwig) „invented Christian empires“ (Hervorhebung GH); siehe Leppin, Justinian 284–288 und passim; ders., Kaisertum und Christentum; Cameron, Christianity 190–217; Meier, Das andere Zeitalter bes. 101–136, 608–638; Greatrex, Roman Identity 268 und 278; Rapp, Hellenic Identity 144 f.; Pohl, Early Medieval Romanness 27 f.

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kaum gekannter Intensität aneinandergebunden. Die (neu-)chalkedonische Orthodoxie, wie sie sich im Lauf der Regierungszeit Justinians und im Kontext des Konzils von Konstantinopel 553 immer mehr herauskristallisierte, wurde zu einem weiteren Ankerpunkt römischer Identität, der auch in nach-justinianischer Zeit wesentlich bleiben sollte.34 Besonders seit der Mitte des 6. Jahrhunderts lässt sich ein Prozess der „Liturgisierung“ der oströmischen Gesellschaft beobachten, wozu neben neuen Formen der Religiosität wie Marienverehrung und Bilderkult auch eine stärkere Sakralisierung der politischen Sphäre gehörte, eine Entwicklung, die als Reaktion auf die Krisen und Katastrophen der vorangehenden Jahrzehnte interpretiert worden ist.35 Die Kehrseite dieses Prozesses war eine schärfere Abgrenzung nach außen sowie eine zunehmend repressive Politik gegenüber Andersgläubigen und konkurrierenden christlichen Gruppen.36 Wie dieser kurze Überblick zeigt, ist es für unser Verständnis der politischen Transformationsprozesse entscheidend, auch die Transformation der Konzepte und Kategorien zu untersuchen, mit denen die Zeitgenossen ihre Welt zu begreifen suchten, ihre „categorial infrastructure“.37 Mit der Konsolidierung der poströmischen regna im Westen zeichnete sich immer deutlicher ab, dass romanitas und legitime Herrschaft, Imperium und Christianitas nicht länger deckungsgleich waren – dies forderte auch die traditionellen ideologischen Muster heraus, nach denen man die Welt in „Römer“ und „Barbaren“ einteilen und das politische Gemeinwesen der Römer von den vermeintlich unzivilisierten und heidnischen barbarischen gentes abgrenzen konnte.38 Was als „römisch“ gelten konnte und was als „barbarisch“; was legitime Herrschaft definierte und welche politische Rolle den nichtrömischen gentes innerhalb und außerhalb des Imperiums zukommen sollte, musste im Lauf der spätantiken Jahrhunderte immer wieder neu ausgehandelt werden. Gleichzeitig wurde Ethnizität in den neu entstehenden Reichen im Westen zu einem entscheidenden Faktor politischer Integration, ein Prozess, den Helmut Reimitz als „Politisierung von ethnischer Identität“ beschrieben hat.39 Politische Herrschaft wurde im Namen einer gens ausgeübt und legitimiert; Zugehörigkeit zu dieser gens 34 35 36 37 38 39

Stouraitis, Byzantine Romanness 127 f. Meier, Völkerwanderung 39–50, 795–797 und bes. 964–973; ders., Das andere Zeitalter 481–569, 608–614, der Ansätze von Cameron, Images of Authority, weiterentwickelt. Meier, Das andere Zeitalter 198–215; Leppin, Justinian 97–106, 299–303 spricht von einem „totalisierenden Ansatz“ in der Politik Justinians (105); vgl. Humfress, Orthodoxy and the Courts 217–242. Geary, Myths of Nations 41 f. Zum Begriff: Brubaker, Grounds of Difference 8; vgl. Reimitz, Observing Peoples 65. Maas, Ethnicity 275, spricht von einer „crisis of representation“; dazu auch Halsall, Barbarian Migrations 35–63, 470–498. Der Begriff bei Reimitz, History 326 mit Blick auf die Karolingerzeit; zu dem Prozess im post­ römischen Westen vgl. ders., Observing Peoples; Pohl, Regnum und gens; ders., Ethnische Wende. Vgl. zur Diskussion des Ethnizitäts-Begriffes unten bei Anm. 80–82.

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war für den Zugang zu politischer Mitbestimmung und ökonomischen Ressourcen maßgeblich. Die veränderte politische Bedeutung der gentes veränderte aber auch die Vorstellungen davon, was eine gens ausmachte und worin ihr Zusammenhalt begründet war. Besonders mit Blick auf die Ebene des konzeptuellen Wandels ist die Rolle des Christentums entscheidend: Biblische und christliche Texte boten für die Neubewertung traditioneller Kategorien und Wahrnehmungsmuster wichtige Anknüpfungspunkte. Diese christliche Perspektive etablierte sich in den spätantiken Gesellschaften des Westens zunehmend als bestimmender Diskurs.40 Biblische Modelle und politischer Diskurs in der Spätantike In der Tat lag, wie Averil Cameron zurecht betont hat, die Bedeutung des Christentums als Faktor historischen Wandels vor allem in der Wirksamkeit seiner diskursiven Ressourcen.41 Mit der Aneignung des alttestamentlichen Israel rückte ein Gemeinschaftsmodell ins Zentrum christlicher Überlegungen, in dem ethnische, religiöse und politische Elemente auf komplexe Weise verschränkt waren. Das Alte Testament erweiterte den „Erfahrungsraum“ der Christen und eröffnete neue Spielräume zur Definition von politischer und religiöser Autorität. Die biblische Vergangenheit stellte dabei eine Alternative zur klassischen Tradition dar – Vorstellungen von göttlichem Auftrag und religiöser Verantwortung veränderten den Deutungsrahmen und beeinflussten die Ausrichtung imperialer Politik.42 Zudem beinhaltete das Alte Testament eine alternative ethnographische Tradition. Die Völkertafel und die Turmbaugeschichte im Buch Genesis waren der Rahmen für christliche Denker, um über die religiöse Bedeutung von Völkern nachzudenken. Sie bildeten den Ausgangspunkt für Versuche, zeitgenössische Völker in die biblischen Genealogien zu integrieren und in einer biblischen Vergangenheit zu verankern.43 Michael Maas hat in diesem Zusammenhang auf die Entstehung einer christlichen Ethnographie verwiesen, in der die religiöse Perspektive

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Pohl, Christian and Barbarian Identities 17–26; ders., Strategies of Identification 32–38. Cameron, Christianity, 2 und 220–229 beschreibt die Entwicklung des Christentums zum dominierenden Faktor des gesellschaftlichen Diskurses als Entstehung eines „totalising discourse“; maßgeblich dazu auch Brown, Power and Persuasion. Leppin, Das Alte Testament; vgl. auch die übrigen Beiträge im selben Band: Pečar/Trampedach (ed.), Bibel als politisches Argument; Vessey/Betcher/Daum/Maier (ed.), Calling of the Nations. Geary, Myths of Nations 52–56; Pohl, Strategies of Identification 32–33. Grundlegend Borst, Turmbau, bes. Bd. 2,1: Ausbau (1958) 336–437, zur lateinischen Patristik und den Autoren der Völkerwanderungszeit; Inglebert, Interpretatio Christiana. Die Verankerung einzelner Völker in der biblischen Vergangenheit war bisweilen umstritten und konnte sowohl das Prestige von gentes erhöhen als auch ihre Position im Gegensatz zur christlichen Welt verdeutlichen. Zum Beispiel der Identifikation Goten/Skythen-Gog/Magog siehe Humphries, „Gog is the Goth“; am Beispiel der Sarazenen Tolan, Saracens and Ishmaelites.

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die Kriterien der Klassifizierung und Bewertung der Barbaren modifizierte. Christlicher Sprachgebrauch konnte nicht nur der anti-barbarischen Rhetorik den Aspekt der religiösen Abgrenzung hinzufügen; das Christentum konnte auch als Vehikel der kulturellen Transformation verstanden werden, was das Nachdenken über die Integration der gentes erleichterte.44 Ebenso waren die regna und gentes des Westens nicht nur „little Romes“, sondern definierten sich auch im Verhältnis zum alttestamentlichen Israel.45 Die Bedeutung des Alten Testaments als „fundierender Text“ im politischen Diskurs der Spätantike und des frühen Mittelalters ist daher zurecht betont worden. Das Alte Testament war eine Grundlage für christliche Gemeinschaftsvorstellungen: es stellte eine Sprache zur Verfügung, um Machtbeziehungen und Fragen von sozialer Kohärenz neu zu formulieren, und erlaubte neue Arten der Legitimation von Herrschaft, etwa durch die Konzeption von pastoraler Macht.46 Es diente der Reflexion über die Theorie des Königtums und wurde als Reservoir von Exempla und Rollenmodellen gebraucht. Das mosaische Gesetz beeinflusste Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit ebenso wie die spezifische Gesetzgebung in manchen Bereichen.47 Der biblische Hintergrund spielte für die Erzählung und Deutung der Vergangenheit in historiographischen und hagiographischen Texten der Zeit eine wichtige Rolle. Alttestamentliche Herrscher wie Moses oder David dienten der Stilisierung von Kaisern und Königen; biblische Ereignisse prägten die Darstellung der Geschichte in den christlichen Reichen mit.48 Die Vorstellung von Gottes auserwähltem Volk, die den Glauben an ein kollektives Schicksal und die providentielle Mission christlicher Reiche in Analogie zum alttestamentlichen Israel transportieren konnte, besaß großes Legitimationspotenzial. Deutung und Gebrauch der Vorstellung vom Gottesvolk gehörten zum ideologischen Repertoire des konstantinischen Imperiums ebenso wie des krisengeschüttelten West­ reiches. In einer postimperialen Landschaft stellte sich die Frage ihrer Übertragbarkeit auf eine Welt von gentes und regna.49 Doch war die Aneignung dieser Vorstellung situationsgebunden und vom spezifischen politischen Kontext beeinflusst. Zudem handel-

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Maas, Mores et moenia; ders., „Delivered from their Ancient Customs“. Brown, Rise of Western Christendom 139–141. Brown, Patriae amator; ders., Poverty and Leadership 79–97. Reydellet, Bible miroir; Ewig, Zum christlichen Königsgedanken; Hen, Uses of the Bible; Hen, Christianisation of Kingship; O’Brien, Kings and Kingship; Meens, Uses of the Old Testament; Nelson, Law and its Applications; Uhalde, Expectations of Justice; Ubl, Inzestverbot. Uytfanghe, Stylisation biblique; von der Nahmer, Bibelbenutzung; Scheil, Footsteps; Moorhead, Biblical Background; McKitterick, Perceptions of the Past 7–14; Kempshall, Rhetoric and the Writing of History 52–81; am Beispiel einzelner Autoren und Texte: Reimitz, History 258–281, 320–334; Wood, Who Are the Philistines?; Wood, Religiones and gentes; Ward, Freculf; Mégier, Scripture and History. Für das römische Reich im Osten siehe die Beiträge in Magdalino/Nelson (ed.), Old Testament in Byzantium. Scheil, Footsteps 101–142; Pohl, Disputed Identifications; Moorhead, Biblical Background; Heydemann, Social Metaphors.

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te es sich keineswegs immer um einen exklusiven Anspruch, der auf die Legitimation und Überhöhung der eigenen Gruppe im Gegensatz zu anderen zielte – eine solche exklusive Stilisierung einzelner gentes als „wahres Israel“ ist im Gegenteil eher selten zu beobachten.50 Bedeutsam ist vielmehr, dass Israel und seine Geschichte, wie sie in der Bibel als durch den Bund mit Gott und seine ordnende Hand bestimmt beschrieben wird, das soziale Imaginäre in der Spätantike und im Frühmittelalter auf vielfältige Weise strukturierte. Die biblischen Erzählungen halfen dabei, den Platz der eigenen Gemeinschaft in der – christlich interpretierten – Geschichte zu definieren und entsprechende historische Deutungsmuster zu entwickeln. Dies hatte weitreichende Implikationen für den inneren Zusammenhalt der Gemeinschaft: Göttliche Erwähltheit, die auf ein Volk bezogen war, konnte die Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit ansprechen. Gleichzeitig wurde dadurch die Bedeutung von ethnischer Identität religiös aufgeladen.51 Die partikulare Aneignung der Vorstellung vom Gottesvolk stand dabei immer in Spannung zum Ideal einer universalen Kirche.52 Ebenso wichtig war daher die Perspektive auf die Welt als Vielfalt (christlicher) gentes, die sich ebenfalls aus der Bibel ableiten ließ. Christliche und ethnische Identifikationen konnten einander wechselseitig verstärken, aber auch begrenzen, infrage stellen oder delegitimieren.53 Exegese als soziale Praxis Die Bibelexegese bietet einen einzigartigen Zugang zum zeitgenössischen Verständnis und zur gedanklichen Aneignung dieser biblischen Modelle. Exegetische Texte diskutierten die Implikationen der biblischen Konzepte und Erzählungen und verhandelten über ihre Anwendung in einem christlichen Deutungsrahmen. Sie erlauben es der modernen Forschung nachzuvollziehen, wie Israel als hermeneutisches Modell, als Interpretationsfolie, im Spannungsfeld zwischen spiritueller und politischer Aneignung funktionierte. Christliche Exegeten lasen die biblische Geschichte Israels als Vorausdeutung des Messias und im Licht der neutestamentlichen Schriften; so beanspruchten sie die Nachfolge des biblischen Israel, wobei sie gleichzeitig die Juden von diesem Erbe auszuschließen versuchten. Das christliche Gottesvolk, das in der Nachfolge Israels gedacht wurde, war in exegetischen Texten vor allem die ecclesia. Doch stand dies nicht im Gegensatz zur Reflexion über das christliche Gottesvolk als politi50

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Brown, Rise of Western Christendom 139–141; vgl. zur Problematik des „Neuen Israel“ Heydemann, People of God and the Law 92–93; O’Brien, Chosen Peoples; Pohl/Heydemann, Rhetoric of Election; de Jong, Ecclesia and the Early Medieval Polity 119 f., die Anregungen aus Garrison, Franks as New Israel, aufgreifen und modifizieren. Smith, Chosen Peoples; Pohl, Strategies of Identification 34, spricht vom „affective potential of sanctified ethnicity“; vgl. Heydemann, Biblical Israel. Brown, Rise of Western Christendom 15–17, 359. Pohl, Christian and Barbarian Identities 17–26; ders., Disputed Identifications.

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sche Gemeinschaft. Vermittelt über Israel wurde das Verhältnis zwischen der ecclesia und ihrem politischen Bezugsrahmen, dem Imperium mit seinem populus Romanus oder einem regnum mit einer gens, ausgelotet.54 Wenn in der exegetischen Arbeit die Kompatibilität der gentes mit einem biblischen (oder christlichen) Gottesvolk zur Diskussion stand, so bedeutete dies gleichzeitig, über die Kompatibilität der gentes mit einer christlichen politischen Ordnung und über ihre Rolle darin zu verhandeln. Mit der Aneignung des biblischen Modells eines Gottesvolkes (und des Gegensatzes zu den nichterwählten Völkern) ging auch die Aneignung der damit verbundenen Terminologie für politische und ethnische Gemeinschaften einher. Exegetische Texte enthalten deswegen bisweilen Definitionen von populus, gens, natio, ebenso wie Überlegungen zum Bedeutungsspektrum dieser Begriffe – derselben Begriffe, die in zeitgenössischen Chroniken, Hagiographie und Rechtstexten gebraucht wird. Sie ermöglichen so auch dem modernen Leser Einblicke in das zeitgenössische Verständnis dieser Konzepte, das aus anderen Textgattungen meist nur erschlossen werden kann. Exegeten trugen dabei einerseits ihr eigenes, alltägliches Sprachverständnis an den Bibeltext heran; mithilfe der Bibel unterwarfen sie andererseits das politische Vokabular und die politischen Konzepte ihrer Zeit neuen, christlichen Bewertungsmaßstäben und veränderten sie dadurch auch. Die Untersuchung exegetischer Texte kann daher einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Deutungsmuster und der politischen Konzepte bieten, mit denen die Zeitgenossen eine gewandelte Welt zu begreifen versuchten. Dieses Potential spätantiker und frühmittelalterlicher Exegese ist bisher nur unzureichend genutzt worden.55 In einem intellektuellen Milieu, in dem biblische Texte wichtige Instrumente in doktrinären Auseinandersetzungen waren, erlaubt die Exegese außerdem Einblicke in die Entwicklung von doktrinären Debatten und die damit zusammenhängende Formierung christlicher Identitäten.56 Ausgehend vom Bibeltext formulierten Exegeten ihre Definition des orthodoxen Glaubens und untermauerten diese mit biblischen Argumenten. Dies implizierte auch den Ausschluss anderer, konkurrierender Standpunkte, und stellte innerhalb der spätantiken Gesellschaft immer auch eine Positionierung im sozialen und politischen Sinn dar.

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De Jong, State of the Church 248–251; dies., Ecclesia and the Early Medieval Polity 118–122. Dies wird auch aus der Diskussion zu Isidor, Gregor dem Großen und Beda bei Tugène, L’idee de la nation deutlich, obwohl der Autor teilweise andere Schlussfolgerungen zieht. Wichtige Anregungen für eine solche Studie finden sich bei DuQuesnay Adams, The Populus of Augustine and Jerome; Haar Romeney et al., Formation of Communal Identity; Savigni, Israele, la Chiesa e le genti; Dassmann, Eine Kirche 164–194; Tugène, L’idee de la nation, dessen Schlussfolgerungen allerdings teilweise problematisch sind; sowie in den rezenten Forschungen zu ethnischer Argumentation in frühchristlichen Texten, die teilweise auch exegetische Literatur einbeziehen. Siehe dazu unten Anm. 104 und Kap. 3.3. Vgl. auch Heydemann, People(s) of God; dies., Biblical Israel. Graumann, Bible in Doctrinal Developments.

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Die folgende Untersuchung ist zwar auf einen Text – Cassiodors Psalmenkommentar – fokussiert, beschränkt sich aber nicht auf einen rein textgeschichtlichen Ansatz. Vielmehr soll die Exegese als Linse genutzt werden, um die oben skizzierten historischen Fragen aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Zwar sind exegetische Texte selbstverständlich in erster Linie auf den Bibeltext bezogen; doch besaß Exegese immer auch eine soziale Funktion. Zunächst wollten Exegeten ihr Publikum von der eigenen Interpretation des Bibeltextes überzeugen – dabei war es auch wichtig, die Relevanz dieser Interpretation für die Gegenwart sicher zu stellen und die Verbindungslinien zwischen dem Bibeltext und den Lebenswelten und Erfahrungen der Leser und Hörer deutlich zu machen. Dazu bereiteten Exegeten im (schriftlichen oder mündlichen) Kommentar die biblischen Erzählungen und Texte so auf, dass ihr Publikum das darin enthaltene Wissen über religiöse und soziale Normen, über Handlungs- und Interpretationsmuster, über Formen von politischer und religiöser Gemeinschaft, auf die eigene Gegenwart übertragen konnte. Wie moderne Historiker:innen ihre zeitbedingten Fragen an die Quellen richten, trugen auch spätantike Exegeten ihre eigenen Fragen, Vorannahmen und Anliegen an den Bibeltext heran. Einige von ihnen schrieben außerdem historiographische Texte oder waren als politische Berater und Bischöfe aktiv – neben Cassiodor gilt das etwas später zum Beispiel für Gregor den Großen, Isidor von Sevilla und Beda Venerabilis. Ihre Exegese reflektiert daher ein Stück weit den politischen und gesellschaftlichen Rahmen, in dem sie entstand, und die Debatten darüber. In mancher Hinsicht konnte Exegese solche Debatten auch vorantreiben.57 Mit der Untersuchung der gesellschaftlichen und politischen Dimension von Cassiodors Psalmenkommentar schließt die Studie an neuere Forschungsansätze zur spätantiken und frühmittelalterlichen Exegese an. Die Erforschung der patristischen Exegese stellt ein außergewöhnlich dynamisches Feld dar.58 Ihre Ergebnisse sind insbesondere mit Blick auf die exegetischen Methoden, die hermeneutischen Techniken und die Kontexte und Bedingungen des exegetischen Diskurses in der Spätantike zentral.59 Dies gilt auch für die spätantike Psalmenexegese, die nicht zuletzt aufgrund der Bedeutung des Psalters in der Liturgie und in der Christologie besondere Aufmerk-

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Ein Beispiel dafür ist die christliche Neubewertung des Reichtums und seiner sozialen Verträglichkeit: Brown, Through the Eye; Toneatto, Banquiers du Seigneur. Zur Orientierung über Forschungsstand und Debatten siehe: Clark, From Patristics; Young, Interpretation of Scripture; van Oort, Biblical Interpretation. Neuere Handbücher bieten einen wertvollen Überblick: Blowers/Martens (ed.), Early Christian Biblical Interpretation; Ditommaso/Turcescu (ed.), Reception and Interpretation; Hauser/Watson (ed.), A History of Biblical Interpretation 1 und 2; Kannengiesser (ed.), Handbook of Patristic Exegesis; O’Keefe/Reno, Sanctified Vision; Reventlow, Epochen der Bibelauslegung 1 und 2; speziell für das Alte Testament Sæbø (ed.), Hebrew Bible/Old Testament 1. Eine Anthologie mit Auszügen aus (spät-)antiker Kommentarliteratur geordnet nach biblischen Büchern bietet die Serie Ancient Commentary on Scripture. Dazu näher unten Kap. 1.3.

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samkeit gefunden hat.60 Als Exeget stand Cassiodor lange im Schatten des Augustinus: Die EP wurde in der älteren Forschung als bloßes Exzerpt der Enarrationes in Psalmos abgetan.61 Neuere Studien haben dieses Urteil zwar revidiert und Cassiodors innovativen Zugriff auf den Psalter vor allem in der spezifischen Verbindung von weltlichen artes und christlicher Exegese betont. Eine umfassende Studie der EP fehlt allerdings bisher.62 Dieses Schicksal teilt der Text mit zahlreichen Werken der nach-patristischen und karolingischen Exegese, die erst in den letzten Jahrzehnten verstärkt das Interesse der Forschung gefunden haben.63 Im Mainstream der (politischen) Geschichte des poströmischen Westens findet das Korpus der Exegese erst in jüngerer Zeit verstärkt Beachtung.64 Dabei wird schrittweise das Potential herausgearbeitet, das exegetische Texte für die Untersuchung von breiteren sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen besitzen. Eine Reihe von neueren Studien zu unterschiedlichen Themen – von Recht und Gerechtigkeit über die Wahrnehmung von Reichtum und materiellem Besitz bis zur Alltagsgeschichte und politischen Theorie – haben gezeigt, wie die Heranziehung von Exegese als Quelle die

60 Grundlegend Rondeau, Les commentaires patristiques; Maraval (ed.), Le Psautier chez les Pères; Attrige/Fassler (ed.), Psalms in Community; Vannier (ed.), Judaisme et Christianisme. Überblick über die lateinische Kommentartradition bei Daley, Finding the Right Key. Für Einzelstudien zu lateinischen Exegeten siehe insbesondere Auf der Mauer, Psalmenverständnis; Burns, Model of a Christian Life; Fiedrowicz, Psalmus vox totius Christi; Bouman, Augustinus und vgl. die unten Kap. 4.2 und 5.2 zu den herangezogenen Autoren zitierte Literatur. Eine Anthologie patristischer Kommentare in Blaising (ed.), Psalms (2 Bde.). Eine Rezeptionsgeschichte der Psalmen in verschiedenen Genres bietet Gillingham, Psalms through the Centuries. 61 Vgl. das abwertende Urteil über Cassiodors Exegese im Vergleich zu jener des Augustinus bei Smalley, Study of the Bible 31: „Cassiodorus’ expounding of the ‚letter‘ reminds one of a small child, importantly filling his bucket with water and pouring it out.“ Heil/Drecoll, Einleitung 9 machen die lange vorherrschende Dekadenzthese dafür verantwortlich, dass die eingehendere Untersuchung der theologischen Textproduktion nach Augustinus im Westen zwischen dem 5. und dem 7. Jahrhundert nach wie vor ein Forschungsdesiderat sei. 62 Siehe insbesondere Schlieben, Christliche Theologie; Agosto, Impiego e definizione; Olsen, Honey of Souls. Einen ausführlichen Forschungsüberblick zur EP gibt Kap. 1.2. 63 Für neuere Zugänge zur frühmittelalterlichen Exegese siehe Leonardi/Orlando (ed.), Biblical Studies; van ’t Spijker (ed.), Multiple Meaning of Scripture; Lobrichon, L’exégèse biblique; Liere, Bible 141–176; Stansbury, Early Medieval Biblical Commentaries sowie die in den folgenden Anm. zitierten Studien. 64 Exemplarisch sei in dieser Hinsicht auf die Forschung zu Beda Venerabilis verwiesen, die in den letzten Jahren zunehmend auch seine Exegese in den Blick genommen und dabei versucht hat, den Exegeten und den Historiker zusammen zu sehen und die Bibelkommentare im Dialog mit seinen übrigen Texten zu untersuchen. Siehe z. B. Scheil, Footsteps; O’Brien, Bede’s Temple; DeGregorio, Nostrorum socordiarum temporum; ders., Bede; ders., Bede and the Old Testament; Thacker, Bede, the Britons and Samuel; Wood, Who Are the Philistines; Savigni, Israele, la chiesa e le genti. Impulsgebend außerdem die Sammlung von Beiträgen in De Jong (ed.), The Power of the Word.

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Analyse dieser Probleme bereichern kann.65 Umgekehrt wird so auch die soziale und politische Dimension exegetischer Texte deutlich. Mit Blick auf die politische Kultur des frühen Mittelalters hat insbesondere Mayke de Jong die Bedeutung exegetischer Texte hervorgehoben und gefordert, die Wechselwirkungen zwischen exegetischen und politischen Diskussionen ernst zu nehmen.66 In den letzten Jahren haben weitere Studien zur karolingerzeitlichen Exegese die Frage nach den Überlappungen zwischen exegetischem und politischem Diskurs aufgenommen.67 Für den Psalmenkommentar Cassiodors, der am Übergang zwischen patristischer und frühmittelalterlicher Exegese steht, fehlen vergleichbare Studien bislang. Dieses Buch verfolgt also ein doppeltes Ziel: Erstens möchte es Cassiodors politische und theologische Positionen in der Übergangszeit nach dem Fall des Gotenreiches und vor der Etablierung Vivariums nachvollziehen und dabei die Verbindungslinien zwischen Cassiodor dem Politiker und Cassiodor dem Exegeten herausarbeiten. Indem sein Kommentar in den Kontext breiterer gesellschaftlicher Debatten eingebettet wird, hoffe ich, dadurch auch einen Beitrag zum Verständnis der politischen Entwicklungen und religiösen Kontroversen im 6. Jahrhundert zu leisten. Zweitens geht es darum, methodische Spielräume und mögliche Herangehensweisen bei der Untersuchung von exegetischen Texten aus historischer Perspektive auszuloten. Es soll also Cassiodors Exegese einerseits als Quelle für historische Fragestellungen genutzt werden. Andererseits soll dabei auch die Rolle von Exegese im politischen Diskurs und der „soziale Ort“ exegetischer Texte in der Spätantike thematisiert werden – oder, wie man in Anlehnung an Jamie Kreiners rezentes Buch über merowingische Hagiographie formulieren könnte, „the social life of exegesis“.68

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Dossey, Peasant and Empire; Dies., Exegesis and Dissent; Toneatto, Les Banquiers; Shanzer, Bible, Exegesis; Postel, Arbeit; Rijkers, Arbeit; Uhalde, Expectations of Justice; Lunn-Rockliffe, Ambrosiaster’s Political Theory; siehe bereits Affeldt, Weltliche Gewalt. Ebenso wird das reiche Material der frühmittelalterlichen Predigten zunehmend für historische Fragestellungen erschlossen: Bailey, Christianity’s Quiet Success; Diesenberger, Predigt und Politik; Diesenberger/Hen/Pollheimer (ed.), Sermo doctorum; für die Spätantike: Dupont/Partoens/Bodts/Leemans (ed.), Preaching in the Patristic Era. De Jong, Ecclesia 118–122. Die Forderung ist in ihren eigenen Arbeiten zur Karolingerzeit vorbildhaft umgesetzt: dies., Empire as Ecclesia; dies., Penitential State. Vgl. auch Contreni, Carolingian Biblical Culture; ders., „By Lions, Bishops are Meant“. Zu Exegese und ethnischem Diskurs siehe oben Anm. 55 und unten 104. Cantelli, Angelomus; Shimahara, Haymon; Chevalier, Rois; Matis, Song of Songs und die Beiträge in Chazelle/Van Name Edwards (ed.), Study of the Bible. Vgl. die wichtige Studie von Buc, Ambiguité du livre, die sich mit hochmittelalterlicher Exegese beschäftigt. Kreiner, The Social Life of Hagiography.

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Einige methodische Voraussetzungen Der Versuch, den Zusammenhang zwischen den Texten und dem sozialen Kontext, in dem sie entstanden sind, herzustellen, bedarf bei exegetischen Texten besonderer methodischer Umsicht. Schließlich handelt es sich bei der Exegese um eine sehr traditionsgebundene und stark geregelte Praxis, sowohl mit Blick auf die Form des Kommentars als auch auf seine Inhalte.69 Die nachpatristische Exegese galt in der Forschung lange Zeit auch deshalb als wenig innovativ, weil sie sich stark an der Autorität der großen Exegeten des 4. und 5. Jahrhunderts orientierte – in Cassiodors Fall waren das vor allem Hilarius von Poitiers und Augustinus.70 Zwar hat die neuere Forschung das Urteil über die Werke Cassiodors und mancher frühmittelalterlicher Nachfolger als derivativ und wenig anspruchsvoll mittlerweile revidiert. Dennoch muss diese Traditionsgebundenheit der Exegese bei der inhaltlichen Analyse des Textes ebenso sorgfältig berücksichtigt werden wie die spezifischen Regeln, denen die exegetische Praxis unterlag. Die Methoden der Textinterpretation, die in der Tradition der antiken Schulen wurzelten, wurden unter den spätantiken Exegeten in den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Anwendung auf die Bibel teils kontrovers diskutiert.71 Sie waren außerdem von den Erfordernissen aktueller doktrinärer Auseinandersetzungen mitbestimmt – etwa, wenn Passagen des Alten Testaments als Vorausdeutung auf Christus gelesen wurden und so mit Blick auf die christologischen Kontroversen Bedeutung erhielten.72 Bereits in den Generationen vor Cassiodor entstanden hermeneutische Handbücher, in denen die Techniken und Regeln schriftlich niedergelegt wurden – Augustinus’ De doctrina christiana ist das bekannteste Beispiel im lateinischen Westen.73 Doch waren die methodischen Debatten im 6. Jahrhundert auch keineswegs abgeschlossen, wie ein Blick in die Liste der von Cassiodor in den Institutiones divinarum litterarum zur Lektüre empfohlenen Texte zeigt. Mit den Instituta des Junillus Africanus war auch ein von einem Zeitgenossen verfasster Text darunter, und auch Cassiodors Institutiones selbst ließen sich als Beitrag zu dieser Diskussion verstehen.74 In der Praxis waren die Formen und Zielrichtungen der figuralen Exegese, der Allegorie und der Typologie überaus vielfältig, wie Frances Young eindrucksvoll herausgestellt hat.75 Diese dem modernen Leser oft fremden Herangehensweisen sollten nicht als „Hindernis“ missverstanden werden, wodurch die Interpretation auf eine rein 69 Siehe dazu ausführlich Kap. 1.3 mit weiterführender Bibliographie. 70 Zu Cassiodors Rezeption patristischer Autoritäten siehe unten Kap. 1.2. 71 Dazu unten Kap. 1.3 und 7.4. 72 Dazu unten Kap. 6 und 7. 73 AUG. doct. christ.; dazu Pollmann, Doctrina christiana, sowie die Beiträge in: Arnold/Bright (ed.), De Doctrina Christiana; Toom, Augustine’s Hermeneutics; Schultheiss, Augustinus. 74 Cassiod. inst. 1.10.1. Zu den Institutiones siehe unten Kap. 1.1. 75 Young, Biblical Exegesis.

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„spirituelle“ Ebene verschoben und somit für historische Fragestellungen unzugänglich würde. Vielmehr ist gerade die allegorische oder typologische Lektüre der alttestamentlichen Geschichte, wie sie in den christlichen Kommentaren vorgenommen wird, von großer Bedeutung, um den konzeptuellen Hintergrund von politischen und historiographischen Aneignungen des Alten Testaments differenzierter zu verstehen.76 Die Techniken der figuralen Lektüre lassen sich als Strategien der Aktualisierung des Bibeltextes verstehen, mit deren Hilfe die Exegeten den Bezug zwischen der Bibel und dem christlichen Interpretationshorizont des Exegeten herstellten. In ihrer kognitiven Funktion ist die figurale Lektüre der Metapher vergleichbar: beide dienen dazu, etwas – eine theologische Aussage oder eine moralische Regel, die für die eigene Gegenwart relevant waren – durch etwas anderes – ein biblisches Wort oder eine biblische Episode – zu begreifen.77 Um den Aktualitätsbezug des Psalmenkommentars zu bestimmen, ist es daher wichtig, die methodischen Entscheidungen und die thematischen Schwerpunkte, die Cassiodor bei der Interpretation der Psalmen setzte, im Vergleich mit der exegetischen Tradition herauszuarbeiten. Dabei zeigt gerade Cassiodors Kommentar auch, wie offen das Genre im 6. Jahrhundert noch war. Cassiodor rezipierte zwar die Texte des Augustinus und des Hilarius intensiv, doch bezog er auch andere Interpretationstraditionen mit ein, darunter solche, die von der sogenannten „antiochenischen“ Schule geprägt waren.78 Er experimentierte außerdem mit Form und Inhalt des Kommentars – so ist die Struktur seines Kommentars ebenso innovativ wie der intensive Einsatz der Rhetorik und der übrigen weltlichen Wissenschaften bei der Interpretation der Psalmen.79 Wenn Cassiodors Psalmenkommentar daher keinesfalls als bloßes Exzerpt aus Augustinus’ Enarrationes in Psalmos missverstanden werden sollte, wie das in der älteren Forschung manchmal geschehen ist, so ist der Vergleich mit Augustinus und anderen Quellen Cassiodors in allen Kapiteln des Buches dennoch zentral, um herauszuarbeiten, wo Cassiodor der exegetischen Tradition folgte, wo er sie weiterentwickelte oder ganz eigenständige Schwerpunkte setzte. Cassiodors Perspektive auf die christlichen gentes und ihre Integration in die ecclesia wird zudem in Kapitel 5 nicht nur mit jener in Augustinus’ Enarrationes in Psalmos, sondern auch mit den Kommentaren weiterer exegetischer Vorgänger wie Hilarius, Ambrosius, „Arnobius“ und Prosper verglichen, um das spezifische Profil dieser Perspektive schärfer herauszuarbeiten. Gleichzeitig gilt es, Querverbindungen zu zeitgenössischen Texten herzustellen und so herauszufiltern, welche der von Cassiodor diskutierten Themen auch in anderen, nichtexegetischen Quellen der Mitte des 6. Jahrhundert präsent sind. Im Bewusstsein der Grenzen einer kontextualisierenden Interpretation und der Problematik herme76 77 78 79

Wood, Who Are the Philistines?; De Jong, Empire as Ecclesia; Ward, Freculf. Blumenberg, Paradigmen 11 f. Vgl. Kap. 1.3 und 2.2. Darauf hat Olsen, Honey of Souls 121–146, zurecht hingewiesen. Schlieben, Christliche Theologie; siehe Kap. 1.3 und 2.4.

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neutischer Zirkelschlüsse, lässt sich so die Zeitgebundenheit des Psalmenkommentars relativ präzise einschätzen. Abschließend sind mit Blick auf die Untersuchung der ethnischen Terminologie in Teil II einige Bemerkungen zum hier zugrunde gelegten Konzept von Ethnizität notwendig, zumal Definition und Gebrauch des Begriffes in der Forschung zum spätantiken und frühmittelalterlichen Westen nach wie vor Gegenstand intensiver Debatten sind.80 Ethnizität nimmt diese Studie, soziologischen und kulturanthropologischen Ansätzen folgend, nicht als biologisch begründete Tatsache, sondern als kognitives und vor allem diskursives Phänomen in den Blick. Ethnizität ist keine Qualität, die ein Individuum oder eine Gruppe besitzt und die sich anhand einer Reihe von „objektiven“ Kriterien und Merkmalen bestimmen ließe. Vielmehr lässt sich Ethnizität als Modus der sozialen Organisation begreifen, als eine spezifische Weise, Menschen zu klassifizieren und zu kategorisieren, indem bestimmte Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen Individuen und Gruppen besonders hervorgehoben und mit Bedeutung belegt werden. Wie man mit den Worten des amerikanischen Soziologen Rogers Brubaker formulieren könnte: Ethnizität ist kein objektives Faktum in der Welt, sondern eine Perspektive auf die Welt. In dieser Perspektive ist die soziale Ordnung durch eine Reihe von distinkten und analogen Gruppen bestimmt, die jeweils durch die Idee einer quasi-natürlichen Zugehörigkeit konstituiert sind.81 Die Kriterien und Merkmale für ethnische Zuschreibungen sind kontextgebunden und historisch variabel, wobei Vorstellungen von gemeinsamer Abstammung oder gemeinsamen Ursprüngen meist eine zentrale Rolle spielen.82 Hilfreich ist zudem die Unterscheidung zwischen Ethnizität als so definiertem Modus der Einteilung der Welt in Völker einerseits und der Formierung spezifischer ethnischer Identitäten andererseits. „Ethnische Identität“ beschreibt die kollektive Selbstidentifikation und die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer bestimmten ethnischen Gruppe – beispielsweise zu „Goten“ oder „Römern“ – sowie die damit korrespondierenden Wahrnehmungen und Zuschreibungen durch Außenstehende.83 Ethnische

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Einen hilfreichen Überblick über die Entwicklung der Forschungsdiskussion bietet Meier, Völkerwanderung 99–111; aus der Sicht der „Wiener Schule“: Pohl, Von der Ethnogenese zur Identitätsforschung. Brubaker, Ethnicity without Groups 7–20 (Zitat ebda. 17: „Ethnicity, race and nationhood are not things in the world, but perspectives on the world“); vgl. Jenkins, Rethinking Ethnicity 13 f. Zur Adaptierung dieses Ansatzes mit Blick auf die Spätantike und das frühe Mittelalter siehe Pohl, Strategies of Identification 2: „Ethnicity is a relational mode of social organization among a number of distinctive groups, which are perceived as being constituted by an ingrained common nature.“ Eine prägnante Zusammenfassung in ders., Gotische Identitäten 322–324. Für eine ausführliche Anwendung und Weiterentwicklung anhand des fränkischen Fallbeispiels Reimitz, History; ders., Observing Peoples. Zur Wandelbarkeit der Kriterien von Zugehörigkeit und zur Situationsbedingtheit ethnischer Identifikation gerade für das Frühmittelalter siehe schon Geary, Ethnic Identity; Pohl, Telling the Difference. Pohl, Strategies of Identification 2; Reimitz, History 7; ders., Observing Peoples. Vgl. Jenkins, Rethinking Ethnicity 58–64; ders., Social Identity bes. 118–131.

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Identitäten lassen sich als Prozess untersuchen, in dessen Verlauf die Position von Individuen und Kollektiven im Verhältnis zu ihrer Umwelt ausgehandelt wird – sie sind das Ergebnis von seriellen Akten der Identifikation.84 Dabei ist es sowohl wichtig, die so entstehenden Kategorien und ethnischen Bezeichnungen nicht undifferenziert mit realen Gruppen gleichzusetzen, die klar voneinander abgrenzbar und homogen wären, als auch die soziale Wirkmacht dieses „labelling“ nicht zu unterschätzen.85 Zwischen den beiden so unterschiedenen Ebenen besteht eine Wechselbeziehung: Die ethnische Identität einer bestimmten Gruppe gewinnt Bedeutung vor dem Hintergrund von Ethnizität als Modus der gedanklichen Einteilung der Welt in Völker; gleichzeitig formen und verändern die Diskurse über bestimmte ethnische Gruppen auch die Vorstellungen einer Welt aus Völkern.86 Die Untersuchung von Cassiodors Terminologie und Konzepten zur Beschreibung einer christlichen Welt aus Völkern bewegt sich vorrangig auf der ersten der beiden Ebenen. Sie zielt weniger darauf, die (exegetische) Wahrnehmung und Konstruktion bestimmter ethnischer Identitäten – z. B. gotischer oder römischer Identität – nachzuvollziehen als darauf, einen Teil des Diskurses, der Ethnizität als Modus der sozialen Organisation anleitete und mit Bedeutung versah, zu rekonstruieren.87 Der so skizzierte strukturelle Ansatz erlaubt es erstens, Ethnizität im Verhältnis zu anderen Formen sozialer Identität zu analysieren, mit denen sie in Wechselwirkung steht und teilweise überlappt.88 In unserem Zusammenhang sind vor allem die Wechselwirkungen zwischen ethnischen und religiösen Identitäten und Diskursen entscheidend, die das konzeptuelle Instrumentarium am Übergang von der Spätantike zum Mittelalter entscheidend veränderten.89 Das exegetische Material bietet aber auch Anschlusspunkte für weitere Fragestellungen, die hier nur angedeutet werden können, 84

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Jenkins, Social Identity 16–18, 37–48; Gingrich, Conceptualising Identities; Pohl, Strategies of Identification 2–6. Für einen ausführlichen Überblick über Theorien der Identität und ihren Gebrauch in der Erforschung der Spätantike und des frühen Mittelalters Pohl, Strategies of Identification 3–6; ders., Identität und Widerspruch; ders., Von der Ethnogenese zur Identitätsforschung; Meier, Völkerwanderung 109–111. Pohl, Strategies of Identification 2. Brubaker, Ethnicity without Groups 8, kritisiert das Problem des „groupism“ als „tendency to take discrete, bounded groups as basic constituents of social life […] and fundamental units of analysis“. Er schlägt vor, stattdessen Prozesse des group-making, der Codierung und Kategorisierung und „degrees of groupness“ zu untersuchen. Wie er unterstreicht, bedeutet dies nicht, die Realität und die Machtwirkungen von Ethnizität und anderen Formen sozialer Identität zu unterschätzen: „Understanding the reality of race, for example, does not require us to posit the existence of races“ (ebda. 11). Siehe auch Jenkins, Rethinking Ethnicity 53–73. Reimitz, Observing Peoples 66 f. Pohl, Strategies of Identification 27–32; für die antike griechische Welt Hall, Ethnic Identity 34–66. Pohl, Strategies of Identification 25 f., 49–52. Pohl, Christian and Barbarian Identities; ders., Strategies of Identification; ders., Christliche Dimension; Whelan, Being Christian 165–194; Rebillard, Christians and their Many Identities; Heydemann, People(s) of God.

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etwa zum Verhältnis von ethnischen Diskursen und „race-thinking“.90 Die Konstruktion jüdischer Identität beispielsweise entzieht sich einfachen Kategorisierungen als entweder „ethnisch“ oder „religiös“. Zudem lassen sich in der exegetischen Polemik gegen die Juden in christlicher Zeit Elemente von „race-thinking“ und „racialising tendencies“ untersuchen.91 Zweitens ermöglicht es eine strukturelle Definition, Ethnizität sowohl zu de-essentialisieren, als auch zu historisieren. Dabei geht es einerseits um sich wandelnde Vorstellungen, was eine ethnische Gruppe ausmachte und wie sie sich in einen breiteren politischen Rahmen einfügte, andererseits um die Relevanz und Wirkmacht („salience“) von Ethnizität als Faktor für die Gestaltung sozialer Beziehungen, die ebenso historisch variabel war.92 Dafür ist es notwendig, Ethnizität analytisch von anderen Formen sozialer Identität – sei es Religion, gender oder „race“ – zu unterscheiden. Nur so kann ihr je spezifisches Verhältnis und ihre Wechselwirkung in einem bestimmten historischen Kontext untersucht und beschrieben werden.93 Die vorliegende Untersuchung will einen Beitrag dazu leisten, die Verschränkung zwischen ethnischen und religiösen Diskursen zu verstehen, die für die oben skizzierte Neubestimmung der Kategorien, mit denen spätantike Zeitgenossen ihre Welt ordneten, entscheidend war. Indem sie Cassiodors Exegese auf die graduelle Durchsetzung einer neuen Konzeption der christlichen Welt als eine Vielfalt von gentes untersucht, erprobt sie einen Ansatz, der für exegetische Texte bisher so noch nicht systematisch verfolgt wurde.94

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Auch für die historische Untersuchung von „race“ und Rassismus sind in letzter Zeit vergleichbare strukturelle Definitionen vorgeschlagen worden: siehe Whitaker, Black Metaphors; Heng, Invention of Racism; Betancourt, Intersectionality; Buell, Why this New Race. Die (spät)antike Debatte über „race“ wurde maßgeblich angestoßen von Isaac, Invention of Racism; ders. (ed.), Origins of Racism; kritisch zum heuristischen Wert des Konzepts „race“ für die Vormoderne mit unterschiedlichen Argumenten u. a. Jordan, Why Race?; Gruen, Ethnicity (der „race“ und „ethnicity“ synonym versteht). 91 Siehe zu Cassiodors anti-jüdischer Polemik unten Kap. 2.5. Gerade das Beispiel antijüdischer Diskurse zeigt, wie sich solche Elemente von „racial thinking“ und „race making“ im Lauf des Mittelalters und vor allem seit den Kreuzzügen verdichteten. Siehe Heng, Invention of Race 110–180; Akbari, Idols of the East. Ähnliches gilt für die Funktion von schwarzer Hautfarbe als Metapher für Sünde und Gottlosigkeit, ein Element, das für die weitere Entwicklung rassistischer Diskurse große Bedeutung erlangen sollte: Dazu Byron, Symbolic Blackness; Goldenberg, The Curse of Ham; Kaplan, Figuring Racism. 92 Jenkins, Rethinking Ethnicity 52 und 172. In einem ähnlichen Sinn erinnert Rogers Brubaker daran, dass der „sense of groupness“, das Gruppenbewusstsein und der Grad des Zusammenhaltes einer mit einem ethnischen Namen bezeichneten Gruppe sehr unterschiedlich sein kann: Brubaker, Ethnicity without Groups 12 f. 93 Dazu Pohl, Ethnicity, Race and Nationalism; Reimitz, Observing Peoples; Ubl, Rasse und Rassismus. Dies gilt umso mehr, als sich die Konnotationen des deutschen Begriffs „Rasse“, der untrennbar mit der modernen Rassentheorie und den darauf aufbauenden Gräueln der NS-Herrschaft verbunden ist, erheblich von jenen des englischen Begriffs „race“ unterscheiden. 94 Vgl. aber die oben Anm. 55 und 104 zitierte Literatur.

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Die politische Dimension der Exegese Cassiodors: Der Aufbau des Buches In den folgenden drei Teilen dieses Buches soll die politische Dimension und gesellschaftliche Relevanz von Cassiodors Exegese untersucht werden, indem drei Themenfelder in den Fokus gerückt werden: Israel als soziale Metapher; Exegese und Ethnizität; sowie die theologische Positionierung Cassiodors im Hinblick auf den sogenannten „Arianismus“ und den Dreikapitelstreit. In allen Teilen des Buches soll der Versuch unternommen werden, die EP stärker als bisher als Quelle für Cassiodors persönliche und politische Positionierung zu nutzen, für seine Interessen und Intentionen angesichts der Herausforderungen, die er in der Umbruchszeit nach dem Ende des gotischen Reiches in Italien zu meistern hatte. Doch wäre ein Ansatz, der sich auf die Rekonstruktion auktorialer Interessen und Intentionen beschränkt, methodisch unzureichend, sind doch die Spielräume eines Autors immer durch die Bedingungen des Diskurses (im Sinne Michel Foucaults) definiert und begrenzt.95 Dies betrifft nicht nur die Regeln des exegetischen Diskurses, die Bedingungen exegetischer Textproduktion und die Spielräume doktrinärer Auseinandersetzungen im 6. Jahrhundert. Ebenso lässt sich Cassiodors Arbeit mit den Kategorien zur Artikulation sozialer Identität nur dann angemessen verstehen, wenn sein Text in den ethnischen Diskurs der Spätantike eingeordnet wird. Erst dann eröffnet sich eine neue Perspektive nicht nur auf Cassiodors politische Positionierung, sondern auch auf eine längerfristige Entwicklung, in der christliche Deutungsmodelle den ethnischen Diskurs und die Spielräume zur diskursiven Integration der gentes in die römische Welt prägten. Teil I: Cassiodor als Exeget Zunächst widmet sich das erste Kapitel der Biographie Cassiodors und führt in den Forschungsstand zum Psalmenkommentar ein. In einem weiteren Abschnitt wird die hermeneutische Theorie und Praxis bei Cassiodor umrissen. Dabei richtet sich die kurze Einführung in die hermeneutischen Strategien Cassiodors in erster Linie an Leser:innen, die mit den Techniken der spätantiken Exegese nicht so gut vertraut sind. Wenn dabei Grundelemente der Bibelhermeneutik zur Sprache kommen, die Spezialist:innen der Patristik gut bekannt sind, so deshalb, weil das Verständnis der Bedingungen der exegetischen Textproduktion und von Cassiodors Strategien der Interpretation eine wichtige methodische Voraussetzung bildet, um die Durchlässigkeit zwischen exegetischem und politischem Diskurs angemessen zu untersuchen.

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Foucault, Die Ordnung des Diskurses; ders., Archäologie des Wissens.

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Darauf aufbauend nimmt das folgende Kapitel das erste der genannten Themenfelder auf. Es analysiert Cassiodors exegetischen Umgang mit Israel und fragt, wie Cassiodor das biblische Gottesvolk als Identifikationsmodell für die christliche(n) Gemeinschaft(en) seiner eigenen Gegenwart nutzte (Kapitel 2). Dafür bildet die intensive Lektüre einer Gruppe von Psalmen, die sich mit der Geschichte Israels, des auserwählten Volkes, beschäftigen, die Grundlage. Um den Prozess der Übertragung der biblischen Modelle auf die christliche Gegenwart zu verstehen, ist Jacob Neusners Idee der sozialen Metapher hilfreich. Das im Bibeltext beschriebene Israel versteht Neusner als soziale Metapher, die dazu diente, Israel als Gemeinschaft zu definieren.96 Dabei beschreibt die Metapher im Bibeltext nicht in erster Linie eine reale Gruppe, wie sie ist, sondern vermittelt eine Vorstellung davon, wie sie sein sollte, ein soziales Ideal. Die biblischen Erzählungen helfen dabei, das abstrakte, für die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft schwer greifbare Ideal vom Gottesvolk anhand konkreter historischer Episoden zu veranschaulichen und vorstellbar zu machen. Mit der christlichen Aneignung des Alten Testaments stellte sich die Frage nach der Identifikation mit dem biblischen Israel und nach der Übertragung der damit verbundenen Modelle auf christliche Gemeinschaften. Israel wurde so zur sozialen Metapher auch für ein christliches Gottesvolk. Verbindet man Neusners Konzept mit einer Theorie der Metapher, die deren semantische Dynamik und kognitive Funktionen in den Blick nimmt, so erschließt sich ein interessanter Zugriff auf die Identitätswirksamkeit des Bibeltextes und das mit Israel verbundene Legitimationspotential. In der Bibelauslegung wird der metaphorische Prozess teilweise umgekehrt, sodass die Voraussetzungen und Implikationen der Metapher „Israel“ explizit gemacht werden. Dabei werden die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Israel und einem christlichen Gottesvolk – definiert als ecclesia, populus oder gens – ausgelotet (2.2.). Das Kapitel untersucht daher, wie Cassiodor ausgehend vom biblischen Israel das Modell eines christlichen Gottesvolkes und seiner Beziehung zu Gott entwarf. Es fragt danach, welche Kriterien der Zugehörigkeit, moralischen Ansprüche – an die individuellen Mitglieder und an die Gemeinschaft als Ganzes – und historischen Deutungsmuster Cassiodor aus Israels kollektiver Geschichte ableitete, und auf welche Arten von christlichen Gemeinschaften sich diese übertragen ließen (2.3.). Wie wir sehen werden, erscheint Israel in den Psalmen jedoch keineswegs vorrangig als triumphalistisches Modell, das sich zur Legitimation politischer Ansprüche eignete, wie das moderne Zugangsweisen zum Topos des erwählten Volkes erwarten lassen würden. Vielmehr repräsentierte das biblische Israel häufig eine Gemeinschaft in der Krise, deren Status als Gottesvolk bedroht war. Daher liegt ein weiterer Schwerpunkt des Kapitels auf Cassiodors Bemühen, ausgehend von den biblischen Erzählungen über zeitgenössische Situationen der kollektiven Krise und ihre Bewältigung zu reflektieren (2.4). Dabei werden wir beobachten,

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Neusner, Judaism and its Social Metaphors.

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wie sorgfältig Cassiodor die Möglichkeiten und Grenzen einer präsentistischen Aneignung des Alten Testaments auslotete und kritisch bewertete. Durch den Vergleich mit zeitgenössischen Quellen soll schließlich herausgearbeitet werden, wie sich die EP in eine breitere Debatte um religiöse Deutungsmuster in Krisensituationen einfügte, die zur Zeit Justinians im zunehmend krisengeschüttelten östlichen Reich geführt wurde.97 Cassiodors Anliegen war es, Kritik an bestimmten Formen der Aneignung des biblischen Legitimationspotentials zu üben und alternative Modelle des Umgangs mit Krieg, Konflikten und politischen oder religiösen Gegnern vorzuschlagen. In Cassiodors Exegese verband sich die Aneignung des biblischen Israel als Identifikationsmodell auf besonders innovative Weise mit dem Einsatz der Rhetorik als Technik der Interpretation. Cassiodor besaß – wie Augustinus und andere Exegeten vor ihm – eine profunde rhetorische Ausbildung. Die Traditionen und Techniken der klassischen Rhetorik prägten seinen Zugang zum Bibeltext entscheidend. Wie Ann Astell herausgestellt hat, untersuchte Cassiodor den Psalter als eine Sammlung von Reden.98 Dabei wurden der Psalmensprecher und die Adressaten zu Identifikationsfiguren für den Exegeten und sein Publikum. Das Kapitel widmet daher dem Zusammenspiel von Exegese und Rhetorik besondere Aufmerksamkeit (2.4). Es zeigt, wie Cassiodor nicht nur sorgsam die rhetorischen Strategien im Psalmentext registrierte, sondern auch selbst in die Rolle der biblischen Sprecher schlüpfte. Auf diese Weise nutzte er die Autorität des Bibeltextes, um seine eigenen politischen Botschaften besonders wirkungsvoll zu formulieren. Die Rhetorik bildet insofern eine wichtige Verbindungslinie zwischen Cassiodor dem Politiker und Cassiodor dem Exegeten.99 Die christliche Aneignung des biblischen Israel besaß in der spätantiken Exegese immer auch eine Kehrseite, nämlich den Ausschluss der „modernen“ Juden vom Anspruch auf die Nachfolge des alttestamentlichen Gottesvolkes. Der exegetische Umgang mit den Juden in einer christlichen Mehrheitsgesellschaft ist eine Fragestellung mit einer langen Forschungstradition, die aber in den letzten Jahren neue, fruchtbare Impulse erhalten hat.100 Dabei wurde herausgearbeitet, dass die antijüdische Argumentation und Polemik, die die spätantike Exegese stark prägte, meist nicht in erster Linie – wenn überhaupt – auf einen tatsächlichen Dialog mit den Juden der eigenen Zeit zielte. Vielmehr lassen sich die nachchristlichen Juden in der christlichen Exegese – wie das biblische Israel selbst – als hermeneutisches Werkzeug verstehen.101 Dies lässt sich auch in der EP beobachten. Der letzte Abschnitt des zweiten Kapitels (2.5.) untersucht, wie Cassiodor – aufbauend auf der „Zeugentheorie“ des Augustinus – die

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Meier, Das andere Zeitalter bes. 45–94 und 307–341; ders., Völkerwanderung 953–973. Astell, Cassiodorus’ Commentary. Für eine frühere Version des Kap. 2.4. siehe Heydemann, The Orator as Exegete. Siehe z. B. Fredriksen, Augustine and the Jews; Massie, Peuple prophétique; Scheil, Footsteps of Israel; Nirenberg, Anti-Judaismus; Hen/Noble (ed.), Jews and Barbarians. 101 Cohen, Living Letters; Markus, Jews as a Hermeneutic Device.

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Juden als Modell für den Umgang mit heterodoxen Meinungen in einem christlichen Kontext heranzog.102 Cassiodors Position in dieser Frage näher zu bestimmen, ist sowohl mit Blick auf Theoderichs Religionspolitik und Cassiodors Anteil daran relevant als auch im Kontext des zunehmend repressiven Umgangs mit religiösen Minderheiten unter der Herrschaft Justinians. Teil II: Exegese und Ethnizität Die Aneignung der Vorstellung vom Gottesvolk und der damit verbundenen Terminologie für christliche Gemeinschaften bewirkte in der Exegese einen hohen Deutungsaufwand. Dies gilt für den Begriff des Gottesvolkes (populus Dei, seltener plebs) ebenso wie für die Bezeichnungen für die nichterwählten, gegnerischen Völker, die gentes (seltener nationes). Die biblischen Begriffe, mit ihren Implikationen von partikularer Erwähltheit und religiöser/ethnischer Alterität, standen in Spannung zu einem universal gedachten christlichen Gottesvolk, das sich aus allen Völkern der Erde zusammensetzte. Dies führte dazu, dass sie in den exegetischen Texten immer wieder erläutert, kommentiert und dabei mit dem zeitgenössischen Sprachverständnis abgeglichen wurden. Das Zusammenspiel von biblischen und römischen Gebrauchstraditionen, von religiösen und politischen Bedeutungsebenen, bewirkte zusätzliche semantische Dynamik. Cassiodors Exegese zeugt von einer ungewöhnlich großen Sensibilität für die Terminologie kollektiver Identität und ihre Bedeutungsvielfalt – so enthält der Psalmenkommentar an mehreren Stellen ausführliche Reflexionen über den Deutungsspielraum der Begriffe. Sein Umgang mit der politischen und ethnischen Terminologie des Bibeltextes erlaubt es, sein Verständnis davon zu untersuchen, was ein Volk – einen populus bzw. eine gens – ausmachte und welche Rolle sowohl biblische als auch römisch-ethnographische Traditionen in dieser Konzeption spielten. Sein Kommentar eignet sich außerdem gut, um die Frage zu untersuchen, wie die biblische Exegese neue Perspektiven auf die gentes und ihre Integration in einen – imperialen oder christlichen – populus ermöglichte.103 Kapitel 3 definiert zunächst einige Ausgangspunkte für die Untersuchung. Es nimmt einerseits die römisch-ethnographische Tradition mit ihrem Modell des populus und der ihm entgegengesetzten (barbarischen) gentes in den Blick und skizziert die Weiterentwicklung dieser Konzepte im Lauf der (christlichen) Spätantike, die oben bereits kurz angedeutet wurde (3.1). Eine kurze Analyse von Cassiodors Umgang mit der römisch-ethnographischen Tradition in den Variae dient dazu, seinen Standort im Verlauf dieser Entwicklung zu bestimmen (3.2). In einem weiteren Schritt wird die bibli102 Eine englischsprachige Zusammenfassung der in Kap. 2.5 präsentierten Ergebnisse findet sich in Hen/Heydemann, A Double-Edged Sword 102–118. 103 Siehe dazu eine erste Skizze in Heydemann, Biblical Israel.

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sche Terminologie mit ihrem Gegensatz zwischen dem Gottesvolk und den anderen Völkern in den Blick genommen, wobei der Fokus auf dem Psalmentext und seinen lateinischen Übersetzungen liegt, mit denen Cassiodor arbeitete (3.3). Zudem werden methodische Überlegungen zum Verhältnis von ethnischen und religiösen Diskursen und zur Untersuchung der Aneignung politischer und ethnischer Terminologie in christlichen Texten angestellt. Dabei bietet die Diskussion zu Ethnizität und „race“ in frühchristlichen Texten, die in den letzten Jahren intensiv geführt wurde, wertvolle methodische Anschlusspunkte. Hier folgt die Studie Ansätzen, die die Wechselwirkungen zwischen ethnischen und politischen Diskursen einerseits und christlichen Texten andererseits ernst nehmen und nach den argumentativen Kontexten und dem diskursiven Nutzen fragen, den die Verwendung ethnischer oder politischer Terminologie für christliche Gemeinschaften hatte.104 In Kapitel 4 steht zunächst Cassiodors Gebrauch des populus-Begriffes im Vordergrund, der die christliche Gemeinschaft als Nachfolger und typologischen Gegenpart des biblischen Israel kennzeichnet. In einem zweiten Schritt soll herausgearbeitet werden, inwiefern gens – analog zur Entwicklung im politischen Diskurs – von einem Terminus der Alterität zu einem Fokus für christliche Selbstidentifikation wurde. Konnte auch eine gens zum (Teil eines) Gottesvolkes werden? Im Anschluss daran lässt sich in Kapitel 5 die Frage stellen, wie Cassiodor durch geduldige exegetische Arbeit eine Perspektive auf die gentes entwarf, die ihre Integration in die christliche Welt in den Vordergrund stellte und nicht ihren Gegensatz zu einem christlichen (oder römischen) populus. Basis für diese Überlegungen ist eine systematische Untersuchung von Cassiodors Gebrauch dieser beiden Begriffe und ihres semantischen Umfeldes im Korpus des Psalmenkommentars, wobei besonderes Augenmerk auf der Analyse der verschiedenen so bezeichneten Gruppen und auf dem Spannungsfeld von religiösen, ethnischen und politischen Bedeutungsebenen liegt. Dabei geht die Analyse nicht davon aus, dass die Bedeutung eines Begriffes feststehe oder sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ein für alle Mal ausbilde, sondern dass sie sich vielmehr aus seinem Gebrauch ergibt. Bedeutungsverschiebungen entstehen aus der Einordnung eines Begriffes in neue Gebrauchssituationen, wobei immer auch die vorhergehenden Erfahrungen mit bereits bekannten Gebrauchssituationen mitschwingen.105

104 Siehe bes. Buell, Why This New Race; Johnson, Ethnicity and Argument und unten Kap. 3.3 mit ausführlichen Literaturhinweisen. Siehe dazu auch die Überlegungen bei Heydemann, Biblical Israel; dies., Peoples of God. 105 Hilfreiche Einführung in das Verständnis der methodischen Grundlagen: Busse, Historische Semantik. Für die Konzeptualisierung von Bedeutungsveränderungen durch neue Gebrauchszusammenhänge ist Wittgensteins Konzept der „Sprachspiele“ hilfreich, ebenso wie die Vorstellung der „Familienähnlichkeiten“, die zwischen verschiedenen Sprachspielen und Verwendungsformen von Sprache bestehen: Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 66–67. Vgl. auch ebda. § 43: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ Dazu Krämer, Sprache – Sprechakt – Kommunikation 109–134. Siehe auch Jussen, „Ordo“.

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Cassiodors Konzeption der gentes soll schließlich mit der vorangehenden exegetischen Tradition verglichen werden. Dabei werden außer den Enarrationes in Psalmos des Augustinus auch die Psalmenkommentare des Hilarius, Arnobius des Jüngeren und Prospers von Aquitanien herangezogen (Kap. 5.2). Durch den Bezug auf den jeweils gleichen Bibeltext lässt sich untersuchen, wo Cassiodor der exegetischen Tradition folgte und wo er eigene Akzente setzte. Auf diese Weise kann seine Position innerhalb eines längerfristigen Prozesses verortet werden, in dessen Verlauf christliche Intellektuelle die biblischen Modelle an eine veränderte politische Umwelt anpassten und die (barbarischen und heidnischen) gentes schrittweise als politische Akteure in einer spätrömischen und vor allem christlichen Welt neu konzeptualisierten – eine Verschiebung von großer Relevanz. Gleichzeitig lässt dieser Vergleich auch die Zeitgebundenheit von Cassiodors Ansatz deutlich werden. So kann in einem letzten Schritt gefragt werden, wie der politische Hintergrund der justinianischen Kriege im Westen und eines imperialen Diskurses, der die politische und religiöse Legitimität der (westlichen) gentes zunehmend in Frage stellte, Cassiodors Perspektive auf die gentes mitprägte (Kap. 5.3).106 Eine solche Untersuchung kann einen Beitrag nicht nur zum Verständnis von Cassiodors politischer Position nach dem Ende seiner Amtstätigkeit am ostgotischen Hof leisten, sondern auch zur modernen Debatte über die Rolle der gentes und die Bedeutung von Ethnizität im Prozess der Umwandlung der römischen Welt. Wenn im Lauf der Spätantike und des frühen Mittelalters im poströmischen Westen die politische Welt zunehmend selbstverständlich als eine Welt aus verschiedenen Völkern (gentes) gedacht wurde und Ethnizität als politische Ressource wichtiger wurde, wie Walter Pohl und Helmut Reimitz argumentiert haben, so soll diese Studie zeigen, dass biblische Modelle und christliche Diskurse in diesem Wandlungsprozess eine bedeutsame Rolle spielten.107 Teil III: Exegese und Orthodoxie: Die EP im Feld der doktrinären Debatten des 6. Jahrhunderts Der Aktualitätsgrad der Exegese zeigt sich besonders direkt in Bezug auf die theologischen Debatten, die zur Zeit der Entstehung des Psalmenkommentars für Cassiodor relevant waren: die Auseinandersetzung mit den „Arianern“ und die christologischen Kontroversen. Im christlichen Diskurs der Spätantike lassen sich Theologie (im Sinn von Dogmatik) und Exegese kaum in klar getrennte Felder scheiden: vielmehr stellte

106 Siehe künftig auch Heydemann, Re-Defining the gentes. 107 Siehe unten Kap. 3.1.

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die Bibel ein wichtiges Instrument der doktrinären Debatte dar.108 Theologische Argumente konnten aus der Bibel entwickelt oder jedenfalls durch biblische Textzeugnisse gestützt und legitimiert werden. Die Schriftgemäßheit bildete einen wesentlichen Maßstab für die Bewertung theologischer Argumentation. Biblische Florilegien, in denen relevante biblische Zeugnisse zu kontroversiellen Themen zusammengestellt wurden, dienten als Grundlage für die mündliche und schriftliche Debatte. Auch wenn selbstverständlich spezialisierte Traktate und polemische Texte entstanden, war auch die Exegese Medium (und teilweise auch Gegenstand) der Auseinandersetzungen. Der letzte Teil der Arbeit untersucht daher die trinitarische und christologische Argumentation Cassiodors. Dabei stütze ich mich stark auf die Ergebnisse der modernen theologischen und kirchengeschichtlichen Forschung, die in den letzten Jahren sowohl zu den „Arianern“ bzw. Homöern als auch zum Dreikapitelstreit neue Perspektiven aufgeworfen und den benachbarten Disziplinen den Zugang zum besseren Verständnis auch der inhaltlichen Aspekte dieser Kontroversen ermöglicht hat.109 Daran schließt die Studie an – dabei erhebt sie keinen Anspruch darauf, die theologische Diskussion in all ihrer Komplexität nachzuvollziehen, sondern versucht nur, den Psalmenkommentar so präzise wie möglich in den Horizont der zeitgenössischen Debatten einzuordnen. Dies ist auch essenziell, um den Aktualitätsbezug und das Zielpublikum des Psalmenkommentars zu verstehen, ging doch mit der theologischen Positionierung für Cassiodor auch eine politische Positionierung einher. Wie wir bereits gesehen haben, wird die Frage, welche Rolle das homöische Bekenntnis in Italien während der gotischen Herrschaft spielte und welche Konsequenzen es für die Beziehungen zwischen gotischer Elite und römischer Mehrheit hatte, in der Forschung kontrovers diskutiert. Im Kontext der justinianischen Kriege wurde der „Arianismus“ der Vandalen und Goten ein wichtiges Argument zur Legitimation der Rückeroberung Afrikas und Italiens. Vor diesem Hintergrund ist die Frage, wie Cassiodor in der EP mit dieser Problematik umging, besonders interessant (Kap. 6). Dabei lassen sich die von Cassiodor polemisch „Arianer“ genannten Gegner nicht notwendigerweise mit den realen Homöern identifizieren, mit denen er während seiner Zeit am ostgotischen Hof diskutieren hätte können. Sie müssen in erster Linie als eine häresiologische Kategorie verstanden werden – die allerdings potentiell auch eine juristische Kategorie darstellte, insofern die imperiale Häretikergesetzgebung die „Arianer“ in

108 Graumann, Bible in Doctrinal Developments; Ayres, Scripture in the Trinitarian Controversies; Hofer, Scripture in the Christological Controversies. Vgl. auch die Beiträge in van Oort/ Wickert (ed.), Biblische Exegese zwischen Nicäa und Chalkedon. 109 Besonders hilfreich im Zusammenhang dieser Untersuchung: Heil, Avitus; Brennecke, Homöer; ders., Ipse Haereticus; Whelan, Being Christian; Gheller, Arianesimo; Price (trans.), Council of Constantinople; Price/Gaddis (trans.), Council of Chalcedon, jeweils mit luzider Einleitung; Chazelle/Cubitt (ed.), Crisis of the Oikumene; grundlegend Grillmeier, Jesus der Christus; Hauschild/Drecoll, Alte Kirche. Ausführlich Kap. 6 und 7.

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ihren Rechten sehr stark beschnitt.110 Auch hier erlauben es jedoch Berührungspunkte mit anderen Texten – insbesondere mit dem im ostgotischen Italien überlieferten homöischen Material – den Aktualitätsbezug von Cassiodors Polemik wenigstens annäherungsweise einzuschätzen. Letzteres ist mit Blick auf den Dreikapitelstreit und die zugrundeliegenden christologischen Kontroversen aufgrund der Fülle der überlieferten Texte etwas leichter zu bewerkstelligen (Kap. 7). In der Auseinandersetzung um die Verurteilung Theodors von Mopsuestia, Theodorets von Cyrus und Ibas’ von Edessa ging es auch um die Spielräume der christologischen Interpretation biblischer Passagen und um die zugrundeliegenden hermeneutischen Methoden. Das Kapitel analysiert eine Serie von Psalmen, die Cassiodor explizit mit Blick auf die christologische Debatte interpretierte, umfassend und setzt seine Exegese in Bezug zu einigen Schlüsseltexten der Kontroverse, die für ein Latein lesendes Publikum verfügbar waren, allen voran Justinians Edikt De recta fide (545) und das 1. Constitutum des Papstes Vigilius (553). Dies erlaubt es, seine theologische Position präziser einzuschätzen, als das in der Forschung bisher geschehen ist. Ausgehend von Cassiodors politischem Hintergrund lässt sich auch die Frage stellen, inwiefern seine Perspektive nicht nur von den theologischen Traditionen des lateinischen Westens, sondern auch von den Auseinandersetzungen mit den Homöern geprägt war. Schließlich ermöglicht die Verortung des Psalmenkommentars in den zeitgenössischen Diskussionen es, neue Argumente für eine Datierung des Psalmenkommentars zu gewinnen und den Blick für die Kommunikationszirkel zu schärfen, an die sich Cassiodor mit seiner exegetischen Arbeit richtete.

110 Vgl. unten Kap. 6.1. Für eine Warnung vor „groupism“ in diesem Zusammenhang Rebillard, Christian Identities.

Teil I Cassiodor als Exeget

1. Kapitel Cassiodor und die Expositio Psalmorum 1.1 Zwei Leben? Der Politiker als Exeget Wer könnte in der Tat erklären, wie sehr die Kirche auf der ganzen Welt dank der Großzügigkeit königlicher Schenkungen unterstützt oder gar bereichert wurde? Dass Geld aus der Schatzkammer des Königs zur Erbauung des Tempels übergeben wird, könnte aber auch allegorisch verstanden werden, wenn aus dem Haushalt der weltlichen Fürsten einige, mit Unterstützung eben dieser Fürsten, zum Glauben an Christus zusammenkommen; diese sind deshalb der Schatzkammer des Königs vergleichbar, weil sie Mitwisser an den geheimen königlichen Angelegenheiten waren. [Das Geld] wird den Priestern, d. h. „Ältesten der Juden“ übergeben und in den Schatz zur Erbauung des Tempels übernommen, wenn sie jenen Lehrern anvertraut werden, die ihnen im Bekenntnis zu Christus vorausgegangen sind, damit sie sie unterweisen und mit den Mitgliedern der Kirche verbinden. So jemand war Cassiodor, einst Senator, dann plötzlich Kirchenlehrer. In seinem Psalmenkommentar, den er hervorragend ausarbeitete, rezipierte er aufmerksam die Lehren des Ambrosius, Hilarius, Augustinus, Cyrill und Johannes [Chrysostomus] und der übrigen Brüder, und erwies sich dadurch zweifellos als von den „Ältesten der Juden“, also den Bekennenden und Lobenden, erzogen.1

1 Bed. Esr. 2.lin. 273–289: Quis etenim explicare ualeat, quantum ecclesia liberalitate donorum regalium, uel adiuta sit, uel etiam locupletata per orbem? Quamuis etiam iuxta allegoriam possit accipi, quod de archa regis sumptus in opus templi tribuantur, cum etiam ex familia principum saecularium aliqui ad fidem Christi, fauentibus ipsis principibus, conueniunt; qui uelut in archa erant regis dum regalium essent archanorum conscii. Sed dantur presbiteris, hoc est senioribus Iudaeorum, in sumptus operis templi, dum his qui in Christi confessione praecesserunt magistris erudiendi atque ecclesiae membris adunandi committuntur. Qualis fuit Cassiodorus quondam senator, repente ecclesiae doctor, qui dum in expositione psalmorum quam egregiam fecit diligenter intuitus est quid Ambrosius, quid Hilarius, quid Augustinus, quid Cyrillus, quid Iohannes, quid ceteri fratres dixerint, edoctum se procul dubio a senioribus Iudaeorum, id est, confitentium et laudantium Deum, probauit. Vgl. die engl. Ausgabe (Übers. DeGregorio 89 f.). Zu Bedas Kenntnis von Cassiodors Psalmenkommentar siehe Bailey, Bede’s Text; vgl. auch Meyvaert, Bede; ders., „In the Footsteps“ sowie jetzt Chazelle, Amiatinus 34.

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Cassiodor und die Expositio Psalmorum

Mit diesen Worten beschrieb Beda Venerabilis zu Beginn des 8. Jahrhunderts den Platz der EP in Cassiodors erstaunlicher Karriere. Der Kontext für dieses Lob auf Cassio­ dor war eine Diskussion über den Beitrag, den Könige und Herrscherhäuser zum Aufbau einer christlichen Kirche leisten konnten, in Bedas Kommentar zum Buch Esra.2 Für Beda war Cassiodors Wandel vom Senator und Politiker zum hervorragenden Kirchenlehrer, doctor ecclesiae, offensichtlich bemerkenswert – er beschreibt ihn als „plötzlich“ (repente). Doch Beda erkannte auch eine bedeutungsvolle Verbindung zwischen den unterschiedlichen Stationen der Karriere Cassiodors, die ihn von hochrangigen Ämtern am ostgotischen Königshof in Italien über Jahre des Exils in Kon­ stantinopel bis zur Leitung der monastischen Gemeinschaft in Vivarium und zu einer bemerkenswert produktiven Tätigkeit als christlicher Schriftsteller führte. Für Beda symbolisierte Cassiodor eine politische und kulturelle Atmosphäre, in der Mitglieder der weltlichen Elite ihre Fähigkeiten und materiellen Ressourcen auf eine Weise in den Dienst von kirchlichen Institutionen und patristischer Tradition stellten, die Beda als vorbildhaft für die eigene Zeit empfand.3 Auch aus der Sicht der modernen Forschung ist Cassiodors bedeutende Rolle in unterschiedlichen Welten bemerkenswert. Die Figur eines römischen Senators, der nach dem Ende seiner politischen Karriere zum Klostergründer und christlichen Intellektuellen avanciert, steht wie kaum eine andere symbolhaft für den Übergang von der Antike zum Mittelalter. Für die Geistes- und Kulturgeschichte des Mittelalters galt Cassiodor entweder als letzter Intellektueller römischer Prägung, der das antike Erbe vor dem Untergang bewahrte, oder als Prototyp des christlichen Humanisten und (benediktinisch geprägten) monastischen Gelehrten.4 Die Arbeit der Sammlung, Redaktion und Kompilation von Texten wurde sowohl als letzte Bastion säkularer Literatur interpretiert als auch als Übergang zu einer neuen Form der textbasierten, christlichen Gelehrsamkeit. Für die politische Geschichte steht Cassiodor am Übergang vom spätrömischen Reich zu den Königreichen der poströmischen Welt; er gilt entweder als Mitglied einer konservativen Elite, die den Schein römischer Tradition gegen die Realität der barbarischen Regime im Westen zu wahren versuchte, oder als Wegbereiter einer neuen politischen und gedanklichen Ordnung Europas. Die Urteile über die Bedeutung und den Erfolg seiner politischen wie seiner intellektuellen Projekte divergieren dabei beträchtlich.5

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Diese Diskussion nahm ihren Ausgangspunkt von 1 Esr 6: dort wird über die Maßnahmen des Perserkönigs Darius zur Unterstützung des Wiederaufbaus des Tempels in Jerusalem berichtet. 3 Vgl. DeGregorio, Bede; ders., Nostrorum scordiarum temporum. 4 Für einen außerordentlich hilfreichen und kritischen Überblick über Cassiodors Rolle in der modernen Historiographie und die ideologischen Hintergründe für seine unterschiedliche Beurteilung siehe Vessey, Introduction, hier 3–13 und 79–101. Vessey betont zurecht, dass Cassiodor demgegenüber verstärkt im intellektuellen Kontext des 6. Jahrhunderts verankert werden muss. 5 Siehe die Bemerkungen bei Giardina, Cassiodoro politico 15–22.

Zwei Leben? Der Politiker als Exeget

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Cassiodor wurde zwischen 487 und 490 in eine senatorische Familie hineingeboren, die ursprünglich aus dem Osten stammte und seit der Mitte des 5. Jahrhunderts in Italien bezeugt ist, wo sie über mehrere Generationen hinweg im Dienst der römischen Verwaltung stand. Cassiodors Vater bekleidete zunächst unter Odoaker hohe Verwaltungsämter, unterstützte jedoch nach 489 die Machtübernahme Theoderichs, dem er auf diese Weise die Loyalität der lokalen Bevölkerung in Bruttium und Lukanien sicherte. Vor 507 bekleidete er die Prätorianerpräfektur; zudem erhielt er 507 den Ehrentitel eines patricius.6 Cassiodor selbst erhielt eine traditionelle klassische Ausbildung; zu seinen Studienkollegen gehörte Dionysius Exiguus, der durch seine kirchenrechtliche Sammlung, die Collectio Dionysiana, bekannt wurde, ebenso wie durch seine Osterfestberechnung.7 Cassiodors politische Karriere war wie die seines Vaters eng mit dem Hof Theoderichs verbunden, wobei er seine ersten Schritte als Berater (consiliarius) des Vaters machte. Theoderich verlieh ihm zunächst das Amt des Quästors (ca. 507–511), danach war er corrector in Bruttium und Lukanien und Konsul für das Jahr 514. Nach einer längeren Unterbrechung, in der Cassiodor in keiner offiziellen Funktion nachweisbar ist, folgte er 523 als magister officiorum auf Boethius, von dessen Fall er also profitierte. Nach Theoderichs Tod 526 wurde er unter dessen Nachfolger Athalarich und seiner Mutter Amalasuntha 527 abgelöst. Im Jahr 533 stieg er schließlich zum praefectus praetorio auf und übte diese höchste Verwaltungsfunktion in Italien auch unter Theodahad und Wittigis und damit in den Anfangsjahren des Gotenkrieges aus.8 Die Frage, ob Cassiodor den Posten als Prätorianerpräfekt Ende 537 niederlegte, wie die Forschung traditionell angenommen hat, oder erst 540, bleibt umstritten. Nach dem Ende seiner Amtszeit kompilierte er die Variae, eine Sammlung administrativer und diplomatischer Schriftstücke, die seine politische Tätigkeit am ostgotischen Hof dokumentierten.9 Für Cassiodors Aktivitäten in den Jahren nach 537 fehlen klare Belege, doch scheint die wahrscheinlichste Annahme, dass er nach dem Fall Ravennas und der Gefangennahme des Königs Wittigis durch Belisars Truppen 540 nach Konstantinopel kam, wo er allerdings erst 550 sicher bezeugt ist.10 Während seines Auf-

Art. Cassiodorus 3, in: Martindale (ed.), PLRE 2, 264–265; Cassiod. var. 1.3.3–4; 3.28. Vgl. O’Donnell, Cassiodorus 18–19. 7 Cassiod. inst. 1.23.2. Zu Cassiodors Biographie siehe Art. Cassiodorus 4, in: Martindale (ed.), PLRE 2, 265–269; O’Donnell, Cassiodorus; Krautschick, Cassiodor bes. 7–25; Van de Vyver, Cassiodore; Cappuyns, Cassiodore; Momigliano, Cassiodoro; eine rezente Zusammenfassung bei Heydemann, Cassiodorus. 8 Zur Ämterlaufbahn Cassiodors und den damit verbundenen Datierungsfragen Krautschick, Cassiodor 8–14, Giardina, Cassiodoro politico 22–25. 9 Zur Datierung des Rückzugs sowie – damit zusammenhängend – der letzten Stücke der Variae vgl. unten Anm. 35. 10 Cassiodor ist in einem päpstlichen Schreiben als Vermittler zwischen Vigilius und den Klerikern Rusticus und Sebastianus, die sich der päpstlichen Verurteilung der Drei Kapitel widersetzten, belegt: Vig. epist. ad Rust. Seb. 18. Vgl. Barnish, Work of Cassiodorus 164; O’Donnell, Cassiodorus 105–107, 132–133. 6

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enthaltes in der östlichen Hauptstadt entfaltete Cassiodor eine rege literarische Tätigkeit; in diese Zeit fällt auch die Entstehung des Großteils der EP. Cassiodor kehrte vermutlich nach dem Ende der Gotischen Kriege und der Pragmatischen Sanktion 554 nach Italien zurück. Die folgenden Jahrzehnte widmete er dem Aufbau und der Leitung der monastischen Gemeinschaft und Bibliothek in Vivarium, die er auf dem Familienbesitz bei Squillace in Kalabrien gegründet hatte.11 Cassiodors monastisches Projekt wird in engem Zusammenhang mit dem Vorhaben zur Gründung einer christlichen Schule gesehen, das er in den 530er Jahren gemeinsam mit dem Papst Agapet I. verfolgte, das aber aufgrund des Kriegsausbruches nicht zur Durchführung kam.12 Für das genaue Datum der Gründung fehlen Belege. Es ist möglich, dass Cassiodor Vivarium bereits in den 530er Jahren gründete, ohne dass er bereits plante, dort zu leben oder das Schulprojekt zu verwirklichen; doch ist auch eine Gründung nach 554 nicht auszuschließen.13 Jedenfalls entwickelte sich Vivarium unter seiner Leitung zu einem Zentrum christlicher Textproduktion und Gelehrsamkeit. Cassiodor starb als wohl beinahe 100-Jähriger nach 580. Die moderne Forschung hat Cassiodors „zwei Karrieren“, die politische und die religiöse, meist getrennt voneinander betrachtet, sodass, wie Mark Vessey zutreffend festgestellt hat, der Eindruck einer „zweigeteilten Biographie“ entsteht. Auch die Forschungsdebatten über die literarischen Produkte, die mit diesen Karrieren jeweils verknüpft sind, wiesen lange Zeit erstaunlich wenig Berührungspunkte auf.14 Selbst die einzige umfassende Biographie, James O’Donnells 1979 erschienene Studie, die alle Aspekte von Cassiodors Leben und Werk behandelt, zieht eine scharfe Grenze zwischen „Cassiodorus the statesman“ und „Cassiodorus the monk“.15 Diese Trennung ist teilweise einem anachronistischen Konzept von conversio geschuldet. Wie neuere Studien nahelegen, bedeutete conversio für Cassiodor wohl eher eine schrittweise Intensivierung seines christlichen Lebensstils und eine Umorientierung seiner intellektuellen Aktivitäten in Richtung religiöser Themen und Interessen als einen dramatischen Bruch mit seiner Vergangenheit oder einen völligen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben und der öffentlichen Debatte.16 Cassiodor legte keine monastischen Gelübde ab.

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O’Donnell, Cassiodorus 177–222; Vessey, Introduction; Viscido, Ricerche; Pagano, Rilettura; Courcelle, Le site du monastère; ders., Nouvelles recherches; ders., Les Lettres grecques 313–388; Troncarelli, Vivarium; Bürsgens, Einleitung 17–31; Pronay, Einleitung 4–6. 12 Vgl. Vessey, Introduction 24–27. 13 O’Donnell, Cassiodorus 189–193. 14 Vessey, Introduction 15–19. 15 O’Donnell, Cassiodorus 220. Vgl. aber ebda. 107–116 zu Cassiodors conversio als graduellem Prozess. Vgl. die pointierte Kritik bei Cameron, Cassiodorus Deflated; zur Kritik an der Idee des radikalen Bruches auch Krautschick, Cassiodor 4 f. 16 Barnish, Work of Cassiodorus; Amici, Cassiodoro a Constantinopoli.

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Die Vorstellung von Cassiodors conversio als Bruch in seinem Leben geht aber zumindest teilweise auf Cassiodors eigene literarische Selbstrepräsentation zurück.17 In der Praefatio zum Psalmenkommentar beschrieb er seinen Rückzug vom Hof in Ravenna, von den Pflichten und Sorgen der Amtstätigkeit und den damit verbundenen weltlichen Aufgaben.18 Die literarische Abfolge von Variae, dem Traktat De Anima und der Expositio Psalmorum, die jeweils Bezug aufeinander nehmen, kann aus dieser Perspektive die steigende Entfernung Cassiodors aus dem öffentlichen Leben markieren. Die beiden Kataloge seines literarischen Œuvres, der eine im sogenannten Anecdoton Holderi (Ordo generis Cassiodororum), der andere am Beginn seines Alterswerkes De Orthographia, teilen dieses Œuvre in eine säkulare, politische und eine christliche, monastische Phase. Im Ordo generis Cassiodororum, einem Auszug aus einem an den Senator Cethegus gerichteten Text, in dem Cassiodor Kurzbiographien des Symmachus und Boethius mit einer Beschreibung seiner eigenen literarischen Aktivität verband und der wohl nach dem Ende seiner Tätigkeit als Prätorianerpräfekt entstand, listete Cassiodor nur die politischen und historiographischen Schriften.19 Im Vorwort zu seinem letzten Werk De Orthographia, das er um 580 beendete, nannte Cassiodor hingegen nur seine späteren Werke, beginnend mit dem „zur Zeit meiner conversio“ entstandenen Psalmenkommentar, auf den unter anderem die Historia tripartita, die Institutiones und kleinere exegetische und grammatische Schriften folgten.20 Allerdings lassen Cassiodors Interessen und intellektuellen Aktivitäten klare Kontinuitäten über die verschiedenen Lebensphasen hinweg erkennen. Einige Werke, die Cassiodor in De Orthographia seiner zweiten Schaffensperiode zuschrieb, hatten eine lange Entstehungsgeschichte, die mehrere Jahrzehnte – in Cassiodors „erste Lebenshälfte“ – zurückreichte.21 Es ist also lohnend, die beiden Phasen zusammen zu sehen und nach dem Zusammenhang zwischen Cassiodors zwei Karrieren zu fragen. Cassiodors politische Schriften Cassiodors politische und historiographische Schriften entstanden im Umfeld des ostgotischen Hofes. Von den Panegyriken auf Theoderich und Wittigis sind lediglich Fragmente erhalten.22 Eine kurze Chronik, in der Cassiodor eine geglättete Ver17 Vessey, Introduction 16–17. 18 EP praef. 19 Cassiod. ordo, ed. Viscido 40. 20 Cassiod. orth. praef.: I. Post „Commenta Psalterii“, ubi praestante Domino conuersionis meae tempore studium primum laboris impendi. 21 Überblick über Cassiodors Werke und ihre Überlieferung: Stoppacci/Gatti, Cassiodorus. 22 Edition durch Ludwig Traube, Cassiod. orat. rel.; weitere Fragmente bespricht Callu, Fragments. Für inhaltlichen Kommentar siehe Rota, La panegiristica latina 309–316; Vitiello, Il principe 238–249.

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sion gotisch-römischer Beziehungen in der Tradition der Weltchronistik präsentierte, entstand aus Anlass der Erhebung Eutharichs, des Schwiegersohns und designierten Nachfolgers Theoderichs, zum Konsul für das Jahr 519.23 Die verlorene Gotengeschichte, deren Rezeption in den Getica des Jordanes in der Forschung überaus kontroversiell diskutiert wurde, verfasste Cassiodor nach eigener Aussage im Auftrag Theoderichs, wobei das Werk spätestens 533 fertiggestellt war.24 Die historiographische Debatte um diese Gotengeschichte dreht sich insbesondere um die Frage, inwiefern die Getica des Jordanes Rückschlüsse auf den von ihm benutzten Text Cassiodors zulassen und inwiefern beide Spuren gotischer Überlieferung bewahrten.25 Dabei hat sich in den letzten Jahren eine nuancierte Betrachtungsweise durchgesetzt, in der die eigenständige Perspektive des Jordanes betont und der Text in den Kontext der politischen Debatte in Konstantinopel in den Jahren zwischen 550 und 552 eingeordnet wird.26 In unserem Zusammenhang gilt es zunächst die politische Bedeutung hervorzuheben, die mit Cassiodors historiographischer Aktivität in den 520er Jahren verknüpft war, unabhängig von der Möglichkeit einer präzisen inhaltlichen Rekonstruktion.27 Cassiodor selbst beschrieb sein historiographisches Projekt in den Variae als Versuch, die Goten in die Tradition der römischen Geschichte zu integrieren und sie dabei trotz ihrer barbarischen Ursprünge als ebenbürtige und kultivierte Partner der Römer zu beschreiben.28 Gleichzeitig diente die Gotengeschichte der historischen Legitimation

23 Cassiod. chron. Siehe O’Donnell, Cassiodorus 36–43; Heather, Historical Culture 341 f.; Croke, Latin Historiography, hier 360 f.; Hen, Roman Barbarians 47 f. 24 Siehe Cassiod. var. 9.25.4–7. Die These Arnaldo Momiglianos, wonach Cassiodor seine Gotengeschichte noch gegen Ende der gotischen Kriege in Konstantinopel ajouriert haben soll, ist dabei in der Forschung überwiegend auf Skepsis gestoßen: Momigliano, Cassiodorus; dt. Übers.: ders., Cassiodor 51–55; dazu zuletzt van Nuffelen/van Hoof, Introduction 9–19. 25 Einen guten Überblick über die Diskussionen bieten: van Nuffelen/van Hoof, Introduction bes. 65–67 und 94–99; dies./ders., Fragmentary Latin Histories 194–225; Goltz, Barbar 267– 276; ausführlich, aber etwas zu schematisch Swain, Empire of Hope 10–36; Gillett, Mirror of Jordanes 402–406. Zur Diskussion um „vorethnographisches Material“ und gotische Traditionen siehe Wolfram, Goten 324–327, 357; ders., Gotische Studien 207–224 und 225–240; Goffart, Narrators 23–42; Heather, Historical Culture 342–352; Liebeschuetz, Making a Gothic Tradition; Ghosh, Writing the Barbarian Past 42–68 sowie zuletzt die methodischen Überlegungen bei Pohl, Debating Ethnicity. 26 Grundlegend für diesen Ansatz Croke, Cassiodorus and the Getica; ders., Jordanes and the Immediate Past; Goffart, Narrators 20–111, bes. 23–42, 58–62, 106–108; Amory, People and Identity 291–307. Zur Frage des Verhältnisses zwischen Cassiodor und Jordanes siehe zuletzt die wichtigen Hinweise bei Van Hoof/Van Nuffelen, Historiography of Crisis 283–290; ders./dies., Introduction 94–102, die den Schluss ziehen: „we can accept with confidence that Jordanes preserved the outline of the narrative of, and is strongly reliant on, Cassiodorus in Get 1–55 and 140–302“ (99). Vgl. außerdem Swain, Empire of Hope 53–75. Vitiello, Theoderic sowie ders., „Anthologizing their Successes“, und Kasperski, Propaganda unterstreichen die Parallelen zwischen den Getica und der Chronik bzw. den Variae, obwohl sie die selbständige Perspektive des Jordanes anerkennen. 27 Vgl. Giardina, Cassiodoro politico 28 mit Anm. 48. 28 Cassiod. var. 9.25.6; vgl. van Hoof/van Nuffelen, Fragmentary Histories 210–217.

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der amalischen Dynastie und der als Nachfolger Theoderichs vorgesehenen Eutharich und Athalarich.29 Helmut Reimitz hat die Funktion von poströmischen Historikern wie Cassiodor als „cultural brokers“ charakterisiert und zielt damit auf die politische Vermittlungsarbeit ab, die in der historiographischen Integration der neuen Eliten und Reiche in die Ordnung der römischen Welt bestand.30 Wäre sie erhalten, könnte die Gotengeschichte zweifellos unser Verständnis von Cassiodors Strategien, die Konvergenz und Kompatibilität zwischen gotischer und römischer Tradition zu demonstrieren, wie sie sich auch in der Chronik und den Variae abzeichnen, wesentlich erweitern. Seine politische Tätigkeit im Dienst der amalischen Herrscher Italiens dokumentierte Cassiodor in den Variae. Die in der Sammlung enthaltenen Urkunden und Briefe administrativer und diplomatischer Natur verfasste Cassiodor teils im Namen der Gotenkönige Theoderich, Athalarich, Theodahad und Wittigis, teils im eigenen Namen in seiner Funktion als Prätorianerpräfekt.31 Die Forschung hat diese Dokumente einerseits intensiv als Quelle für die Funktionsweise des ostgotischen Reiches und seine Herrschaftsideologie, aber auch für vielfältige Aspekte des sozialen und kulturellen Lebens im spätantiken Italien ausgewertet. Andererseits sind in den letzten Jahren verstärkt die Untersuchung der Sammlung als Ganzes und ihrer literarischen Gestaltung im Kontext der spätantiken Kanzleitradition und Epistolographie ins Blickfeld gerückt.32 Dabei zeigen diese neueren Studien, wie wichtig es ist, die Spannung zwischen den Einzelstücken und ihrer Funktion innerhalb der gesamten Sammlung zu untersuchen, um ihre politische Dimension zu verstehen.33 Andrea Giardina hat auf die Bedeutung der rhetorischen Gestaltung der Texte in den Variae hingewiesen und gezeigt, dass sich Cassiodors Interesse in den Variae auf die Bewahrung der memoria nicht vorrangig des ostgotischen Königshauses, sondern der italienischen Elite, die im Dienst der Ostgotenkönige Italien verwaltet hatte, richtete. Dabei ging es um die politische und moralische Integrität dieser Elite in 29

Heather, Cassiodorus bes. 108–110; Kasperski, Propaganda 28–36; Wolfram, Goten 41–43; Krautschick, Cassiodor 29 f.; O’Donnell, Cassiodorus 44–47; van Nuffelen/van Hoof, Introduction 61–64; vgl. Cassiod. var. 9.25.4–5; 11.1.9–10. 30 Reimitz, Historian as a Cultural Broker 43. 31 Zu den Variae: Barnish, Introduction; Kakridi, Cassiodors Variae; O’Donnell, Cassiodorus 55–102; Krautschick, Cassiodor; Jouanad, Pour qui Cassiodore; MacPherson, Rome in Involution; Radtki-Jansen, Ein Herrscher und seine Schreiben. Gatzka, Variae Buch 6 enthält eine Einleitung und kommentierte deutsche Übersetzung der Formeln des 6. Buches; siehe auch die Neuedition mit italienischer Übersetzung: Cassiod. var. (ed. Giardina/Cecconi/Tantillo), ebenfalls mit umfangreichem Sachkommentar. 32 Kakridi, Cassiodors Variae 22–142; O’Donnell, Cassiodorus 86; Giardina, Cassiodoro e il progetto politico; Bjornlie, Letter Collection; Mastrorosa, Illa uirtutum. Zur Einordnung der Variae in die spätantike Urkundentradition siehe außerdem Pferschy, Cassiodors Variae; Vidén, Roman Chancery Tradition; Gatzka, Variae 6, 11–24; Radtki-Jansen, Ein Herrscher und seine Schreiben 51–57. 33 Dagegen Gillett, Purpose, der die Sammlung als einen Akt literarischer Eitelkeit charakterisiert, dem keinerlei politische Relevanz zukam.

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der Vergangenheit, aber auch um ihre mögliche Rolle in der Administration Italiens nach dem Ende der gotischen Kriege.34 Diese Zielsetzung der Variae hat auch Shane Bjornlie unterstrichen, der dabei allerdings einen Schritt weiter geht. Ausgehend von der Annahme, dass Cassiodor die Variae möglicherweise erst nach 540 veröffentlichte, als die Herrschaft des Wittigis zusammengebrochen war und Cassiodor selbst sich im Exil in Konstantinopel in einer politisch prekären Position befand, analysiert Bjornlie die Sammlung vor dem Hintergrund des intellektuellen und politischen Milieus der Hauptstadt während der gotischen Kriege.35 Wie Giardina versteht Bjornlie die Variae als Versuch der Legitimation der (römischen) Führungsschicht in der Vergangenheit und als Formulierung ihres Anspruches auf Teilhabe an der Macht und der Verwaltung Italiens auch nach Kriegsende. Die Sammlung stellte nach Bjornlie die Machtausübung der bürokratischen Elite unter ostgotischer Herrschaft in die ehrwürdige Tradition klassischer Bildung und römischer Verwaltung, deren Ethos sie Cassiodor zufolge fortführte. In den Variae formulierte Cassiodor sein Argument für die kontinuierliche Integrität und Funktionstüchtigkeit des Verwaltungsapparats unter ostgotischer Herrschaft, auch unter Königen wie Theodahad und Wittigis, von denen er sich im Text subtil distanzierte. Gleichzeitig enthalten die Variae auch Elemente der Kaiserkritik, indem sie sich gegen bestimmte politische Entwicklungen unter Justinian richteten.36 Bjornlie zufolge ist das Zielpublikum am Hof Justinians und spezifisch in der Gruppe seiner (mittleren) Verwaltungsbeamten zu suchen. An diese richtete sich Cassiodors „model for a community of the bureaucratic elite“ und die „hermeneutic for understanding the moral erudition of that elite“, die er in De Anima entwickelte, das er in engem Zusammenhang mit den Variae konzipierte.37 Bjornlies Thesen sind teilweise auf Kritik gestoßen, insbesondere hinsichtlich des mit der Bürokratie Konstantinopels sehr eng gefassten Publikums; auch die Datierungsfrage und das Ausmaß redaktioneller Eingriffe in die Texte selbst (im Gegensatz 34

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Giardina, Cassiodoro politico 25–46; ders., Cassiodoro politico e il progetto; vgl. auch Jouanaud, Pour qui Cassiodore. Die memoria der administrativen Elite zu bewahren, bekräftigt auch Gillett, Purpose, als Ziel, sieht dies jedoch im Gegensatz zu einer politischen Funktion der Variae im Kontext der gotischen Kriege. Bjornlie, Politics and Tradition; ders., Letter Collection; ders., What Have Elephants to Do. Die Datierung der letzten Stücke der Variae (und damit des Endes von Cassiodors Amtszeit als Prätorianerpräfekt) schwankt zwischen 536/7 und 540, vgl. Bjornlie, Politics and Tradition 17–27; Krautschick, Cassiodor 100 f. datiert Cassiod. var. 12.26–28 Ende 537 und bringt sie mit der Hungersnot in Ligurien und Venetien im Herbst 538 in Verbindung; der Kommentar zur neuesten Edition von Marcone, Cassiodoro Var. 12.22, 289, datiert das Dossier Cassiod. var. 12.22–28 aufgrund der in 12.22 erwähnten Indiktion in das Jahr 536/7; für eine Spätdatierung dieser Stücke siehe zuletzt Pohl, Social Cohesion 25–29, der Cassiod. var. 12.28 nach dem Fall Mailands 539 ansetzt. Wiemer, Theoderich 55 f. setzt die Veröffentlichung der Sammlung vor 540, als Cassiodor noch auf einen Ausgleich zwischen Römern und Goten hoffen konnte. Bjornlie, Politics and Tradition 311–328. Bjornlie, What Have Elephants to Do 158; ders., Politics and Tradition 185–328; ders., Audience and Rhetorical Presentation.

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zur Auswahl und Anordnung der Stücke) bleibt umstritten.38 Doch unabhängig davon, ob man die Publikation der Sammlung auf die Jahre vor oder nach 540 datieren und wie man das Ausmaß der redaktionellen Eingriffe beurteilen will: dass Cassiodors Entscheidung zur Publikation der Variae ebenso wie die Auswahl und Anordnung der Stücke vor dem politischen Hintergrund der gotischen Kriege und im Verhältnis zur politischen Diskussion darüber nicht nur in Italien, sondern auch in Konstantinopel analysiert werden muss, steht außer Zweifel.39 Bei der Interpretation der Variae sollten also jeweils zwei interpretative Ebenen mitgedacht werden: die des ursprünglichen Entstehungszusammenhanges der einzelnen Stücke im ostgotischen Italien, und die Ebene der Sammlung als Ganzes im Kontext der gotischen Kriege.40 Die Annahme, dass Cassiodor mit diesem Text nicht nur die eigene Reputation stärken, sondern auch eine politische Botschaft vermitteln wollte, die im Zuge der gotischen Kriege und mit Blick auf die politische Neuordnung Italiens nach deren Ende relevant war und ihm und seinen Kollegen darin einen Platz sichern sollte, ist dabei sehr plausibel.41 Die Distanzierung von Theodahad und Wittigis verband Cassiodor mit einer eindrücklichen Darstellung seiner eigenen untadeligen Amtsführung unter diesen Herrschern. Zu den literarischen Strategien, die Cassiodor verwendete, gehörte auch der gezielte Einsatz von enzyklopädischen Exkursen, insbesondere zu naturhistorischen Themen.42 Der Traktat De Anima, traditionellerweise als Markierung für Cassiodors Übergang von politischen zu spirituellen Interessen angesehen, kann die Einordnung der Variae in einen zeitgenössischen, neuplatonisch inspirierten Diskurs über politische und moralische Ordnung unterstreichen.43 De Anima beschreibt die Seele als Instrument menschlicher Vernunft und als Sitz der politischen Tugenden (Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit und Besonnenheit), die für die Ausübung von (monarchischer) 38 39

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Siehe die Rezensionen von Heather, Rezension Bjornlie; Wiemer, Rezension Bjornlie; Krautschick, Rezension Bjornlie; Costambeys, Legacy of Theoderic 253 f. Ohne die traditionelle Datierung in Frage zu stellen hat auch Samuel Barnish auf die Bedeutung östlicher Diskurse und auf die Debatte um die künftige Machtverteilung in Italien als Hintergrund für das Verständnis der Variae hingewiesen: Barnish, Roman Responses; Gatzka, Variae 6, 19–23 erkennt die politische Zielsetzung der Formelsammlung in den Büchern 6 und 7 ebenfalls darin, ein Fortbestehen der römischen Verwaltung in Italien nach der Neuordnung Italiens zu legitimieren. Diese doppelte Betrachtungsweise betont Wiemer, Rezension Bjornlie. Vgl. auch Kakridi, Cassiodors Variae 140 f., die betont, dass die Variae nicht nur als rückwirkende Selbstrechtfertigung, sondern auch als Formulierung eines politischen Ideals für die Zukunft verstanden werden sollten. Anders als Bjornlie liest sie den Text als Ausdruck politischen Selbstbewusstseins und nicht einer prekären politischen Position. Gute Beispiele für die argumentative Funktion der Digressionen sind Cassiod. var. 10.30; 1.2. Siehe dazu Bjornlie, Politics and Tradition 268–273 und 311–320. Zur Kritik an Theodahad anhand seiner Baupolitik siehe auch die überzeugende Interpretation bei La Rocca, Cassiodoro; dies., Mores. Bjornlie, Politics and Tradition 283–305; zu De Anima siehe weiters O’Donnell, Cassiodorus 103–130, der jedoch vor der Annahme eines zu scharfen Bruches zwischen politischen und religiösen Schriften warnt (113 f.); Kakridi, Cassiodors Variae 143–156.

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Herrschaft unerlässlich sind, und liefert so auch eine Anleitung zur Interpretation der voranstehenden Variae. Wie Mark Vessey betont hat, konnte die Orientierung an Cicero und Augustinus nicht nur Parallelen zu philosophischem otium und conversio nahelegen, sondern auch das Profil des römischen Staatsmannes komplettieren, das Cassiodor für sich in Anspruch nahm.44 Zwei oft zitierte Passagen aus De Anima, in denen Cassiodor auf die gotischen Kriege anzuspielen scheint und die Überlegenheit der vita contemplativa gegenüber dem politischen Leben betont, sollten nicht einseitig im Sinn einer tiefgreifenden Distanzierung Cassiodors von seiner politischen Vergangenheit verstanden werden.45 Der restliche Text spricht vielmehr gegen einen scharfen Kontrast zwischen dem rechtschaffenen Leben eines gewissenhaften Staatsmannes und christlichen Idealen von Tugend, Bibelkenntnis und Kontemplation.46 Cassiodor in Konstantinopel Was auch immer conversio in Cassiodors Perspektive (oder Retrospektive) beinhaltet haben mag – wenig spricht dafür, dass sie einen abrupten Rückzug aus dem öffentlichen Leben darstellte. Wie Samuel Barnish und andere betont haben, war Cassiodors Zeit in Konstantinopel vielmehr eine Phase der regen politischen und intellektuellen Aktivität.47 In Konstantinopel existierte in diesen Jahren ein Zirkel von lateinischsprachigen Intellektuellen, von denen viele untereinander vernetzt waren.48 Mit einigen von ihnen, wie dem Quästor Junillus, dem Historiographen Jordanes und dem Senator Cethegus stand Cassiodor in Kontakt, ebenso wie mit Papst Vigilius und dem Kreis der Kleriker um ihn. Auch mit den nordafrikanischen Theologen Primasius von Hadrumetum, Liberatus von Karthago und Facundus von Hermiane bestand literarischer Austausch.49 Innerhalb der komplexen und dynamischen politischen Landschaft der

44 Vessey, Introduction 19–22. 45 Cassiod. an. 18.10–12 und 31–33; O’Donnell, Cassiodorus 127–129. 46 Kakridi, Cassiodors Variae 149 und 156 zum christlichen Tugend- und Gerechtigkeitsverständnis in den Variae, das komplementär zum Entwurf in De Anima fungiert. 47 Barnish, Work of Cassiodorus; Amici, Cassiodoro a Constantinopoli; Stoppacci, Tra Constantinopoli e Vivarium 123–125; O’Donnell, Cassiodorus 107–116. 48 Cameron, Old and New Rome; Bjornlie, Politics and Tradition 124–134; Rapp, Literary Culture 390 f.; Croke, Count Marcellinus 82–93. Cameron, Cassiodorus Deflated 183, spricht von einer „vigorous Latin subculture“; van Hoof/van Nuffelen, Historiography of Crisis 290–292. 49 Zu Cassiodors Kontakten in Konstantinopel O’Donnell, Cassiodorus 131–135; Barnish, Work of Cassiodorus 159 f.; Cameron, Cassiodorus Deflated 184 f. Zu den Mitgliedern des italienischen und nordafrikanischen Klerus, die im Kontext des Dreikapitelstreites in Konstantinopel waren Sotinel, Three Chapters 88–90; dies., Emperors and Popes 277–284. Die Assoziation mit Vigilius sollte nicht gleichbedeutend mit „Anhängerschaft“ verstanden werden, wie das in der Literatur häufig geschieht; vielmehr unterschied sich Cassiodors Position im Dreikapitelstreit signifikant von der des Vigilius. Vgl. dazu ausführlich unten Kap. 7.

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Hauptstadt mit ihren diversen Interessensgruppen musste Cassiodor sich als letzter Prätorianerpräfekt des ostgotischen Regimes mit einiger Umsicht bewegen. Der bereits erwähnte Ordo generis Cassiodororum ist in einem wohl nach 538 an Cethegus adressierten Schreiben überliefert und stellt in seiner heute erhaltenen Fassung einen Auszug aus einem längeren Werk dar.50 In diesem vieldiskutierten Text skizzierte Cassiodor das intellektuelle Profil der bedeutenden senatorischen Familie der Anicier und versuchte sich zumindest literarisch in deren Genealogie einzuordnen. Figuren wie Symmachus, Boethius und Cethegus fungieren im Text als intellektuelle Vorbilder für eine Elite, die ein Interesse an den klassischen artes mit neuplatonischer Philosophie und christlicher Theologie verband.51 Angesichts der Tatsache, dass die Tötung der beiden Senatoren durch Theoderich in der anti-gotischen Propaganda zur Zeit der Gotenkriege eine wesentliche Rolle spielte, lässt sich der Ordo generis zudem als Versuch Cassiodors verstehen, sich durch die positive Darstellung seiner intellektuellen Verbindung zu den beiden hingerichteten Senatoren im Verhältnis zu den Aniciern neu zu positionieren. Immerhin hatte Cassiodor als Nachfolger des Boethius zumindest indirekt von dessen Fall profitiert.52 Abgesehen von der militärischen Situation in Italien und an den weiteren Kriegsschauplätzen war die politische Atmosphäre in Konstantinopel in den Jahren um 550 vor allem durch die Debatte um das Konzil von Chalkedon und die Verurteilung der „Drei Kapitel“, Theodor von Mopsuestia, Theodoret von Cyrus und Ibas von Edessa, geprägt.53 Diese Auseinandersetzung bildete den Hintergrund für Cassiodors Projekt einer lateinischen Kirchengeschichte. Für die sogenannte Historia tripartita, eine Kompilation und lateinische Übersetzung der drei griechischen Kirchengeschichten des Sokrates, Sozomen und Theodorets, arbeitete Cassiodor mit Epiphanius Scholasticus zusammen. O’Donnell ging davon aus, dass die Arbeiten an der Historia tripartita in Vivarium ausgeführt wurden, wo Epiphanius und weitere Mitarbeiter Cassiodors auch andere Texte aus dem Griechischen übersetzten, darunter Flavius Josephus und die Homilien des Johannes Chrysostomus.54 Dagegen haben sich unter anderem

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Für einen Überblick über die zahlreichen Editionen Stoppacci/Gatti, Cassiodorus 101 f. Vgl. zu Text und Datierung Krautschick, Cassiodor 78–84; Troncarelli, L’ordo generis 130 (mit der Datierung nach 538); Kakridi, Cassiodors Variae 266–268; Bjornlie, Politics and Tradition 159–162, der die Entstehung in Konstantinopel verortet. Eine englische Übersetzung mit Kommentar bei O’Donnell, Cassiodorus 259–266, der den ursprünglichen Text auf 527–533 datiert. Troncarelli, L’ordo generis 130, 133. Der Text ist in manchen Handschriften gemeinsam mit der Einführung in die artes überliefert und kann damit die These Troncarellis unterstreichen, wonach diese Einführung zunächst separat veröffentlicht und erst später als zweites Buch mit der Einführung in die christlichen Wissenschaften verbunden wurde. Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Institutiones unten Anm. 76 f. van Hoof/van Nuffelen, Historiography of Crisis 293; Bjornlie, Politics and Tradition 159–162. Dazu ausführlich unten Kap. 7. O’Donnell, Cassiodorus 215–217.

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Averil Cameron und Mario Mazza mit überzeugenden Argumenten für eine Datierung während des Aufenthaltes in Konstantinopel ausgesprochen.55 Während bisher die Benutzung der Historia tripartita durch Liberatus von Karthago 565 und ihre Erwähnung im spätestens 562 fertiggestellten ersten Buch der Institutiones lediglich einen terminus ante quem lieferten, konnten Peter van Nuffelen und Lieve van Hoof kürzlich wahrscheinlich machen, dass auch Jordanes den Text kannte und in der Romana benutzte. Dadurch wird die Datierung in Cassiodors Zeit in Konstantinopel erhärtet.56 Zwar endet die Historia tripartita – wie ihre Vorlagen – vor den Ereignissen um das Konzil von Chalkedon. Das Interesse an den Auseinandersetzungen um die orthodoxe Doktrin im 4. und 5. Jahrhundert, und nicht zuletzt an der Rolle des Kaisers in diesen Auseinandersetzungen, ist allerdings vor dem zeitgenössischen Hintergrund des Dreikapitelstreites mehr als naheliegend. Samuel Barnish hat die Erzählungen der Historia tripartita als „veiled typologies“ bezeichnet, die zur Interpretation der eigenen Gegenwart dienen konnten: einem lateinischsprachigen Publikum vermittelte sie Hintergrundwissen über den Umgang mit Häresien und Beispiele für das Verhältnis von imperialer und bischöflicher Autorität.57 Politisch brisant war in diesem Zusammenhang nicht nur die Verwendung der Kirchengeschichte des Theodoret von Cyrus, eines der im Dreikapiteledikt Justinians verurteilten Autoren. Die in Konstantinopel entstandenen Texte zeigen Cassiodors Versuche, seine Position innerhalb des Milieus von Senatoren, Kirchenmännern und der höfischen Elite Justinians zu definieren und sich im Hinblick auf seine gotische Vergangenheit neu zu positionieren.58 Welche konkreten Erwartungen er mit Blick auf den Ausgang der gotischen Kriege hegte, muss zu einem gewissen Grad spekulativ bleiben. Um 550 mag er auf ein baldiges Ende der brutalen Auseinandersetzungen gehofft haben, in deren Verlauf die materiellen Grundlagen und der soziale Zusammenhalt in Italien zunehmend in Frage gestellt wurden.59 Seine vielfältigen Aktivitäten legen es jedenfalls nahe, dass er nach einem wahrscheinlichen Sieg der imperialen Truppen auf eine politische Ordnung Italiens hoffte, in der die italienischen Eliten nach wie vor eine Rolle spielten und die dem Westen eine gewisse Autonomie zugestand. Seine implizite Kritik an einigen 55 56 57 58

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Cameron, Cassiodorus Deflated 185; Mazza, Historia tripartita. van Hoof/van Nuffelen, Historiography of Crisis 285–288. Barnish, Work of Cassiodorus 158–164. Vgl. auch Amici, Cassiodoro a Constantinopoli 229–231; van Hoof/van Nuffelen, Historiography of Crisis 287 f.; Delacenserie, Beyond the Compilation 433–437. Bjornlie, Politics and Tradition 26–34. Dabei sollte man wohl nicht davon ausgehen, dass die emigrierten italienischen Eliten eine geschlossene Gruppe mit homogenen politischen Interessen darstellten. Vgl. Van Hoof/van Nuffelen, Historiography of Crisis 296; Amici, Cassiodoro a Constantinopoli 224–226; Bjornlie, Politics and Tradition 127–138. Van Hoof/Nuffelen, Historiography of Crisis 292 f. gehen davon aus, dass Cassiodor wie Cethegus und Vigilius auf einen imperialen Sieg und eine baldige Rückkehr nach Italien, verbunden mit einer Fortsetzung seiner politischen Karriere, hoffte. Vgl. die bei Prok. BG 7.35.9–11 erwähnte Petition der beiden letztgenannten bei Justinian.

Die Expositio Psalmorum und ihre Kontexte zwischen Konstantinopel und Vivarium

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Aspekten von Justinians Herrschaftsausübung und Religionspolitik zeigt, wie unzureichend traditionelle Etikettierungen als „pro-gotisch“ oder „pro-imperial“ in diesem komplexen politischen Kontext sind. Cassiodors Arbeit an der EP ordnet sich in denselben Kontext der Jahre in Konstantinopel ein. Wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, kann ihre Untersuchung auch dabei helfen, unser Verständnis für seine Positionen und Sichtweisen in den bisher skizzierten Debatten zu schärfen. 1.2 Die Expositio Psalmorum und ihre Kontexte zwischen Konstantinopel und Vivarium Entstehung und Datierung der EP Die Entstehungsgeschichte der EP ist – wie bei vielen anderen Werken Cassiodors – komplex. Einerseits lassen sich für die EP mehrere Redaktionsstufen ausmachen, andererseits fehlen eindeutige Anhaltspunkte für eine absolute Datierung; Querbezüge zu anderen Werken, insbesondere den Institutiones, erlauben nur eine relative Datierung. So ergibt sich aus der Erwähnung der EP im um 562 fertiggestellten ersten Buch der Institutiones ein terminus ante quem.60 In der Praefatio zum Psalmenkommentar selbst beschrieb Cassiodor, wie er einst (aliquando) nach dem Rückzug von den Anforderungen öffentlicher Ämter und weltlicher Geschäfte am Hof in Ravenna die wohltuende Wirkung des Psalters auf die Seele erfahren hatte, sodass er sich eingehender in das Studium des Psalters vertiefte, „um nach überaus bitteren Tätigkeiten die süßen Worte des Heiles aufzunehmen“.61 Während diese Worte häufig als Beleg für eine endgültige Abkehr Cassiodors von seinen politischen Ambitionen und für seine Hinwendung zum religiösen Leben herangezogen wurden, ist eine solche Lesart bei genauerer Betrachtung wenig plausibel. Zum einen beschreibt Cassiodor keine vollständige conversio vom aktiven zum kontemplativen Leben, sondern präziser das Ende seiner Amtstätigkeit am Hof in Ravenna – den Übergang von negotium zu otium. Dieser Übergang war für ihn mit unangenehmen Erfahrungen verbunden (er spricht von amarissimae actiones). In dieser Situation bot ihm die Beschäftigung mit den Psalmen spirituellen Halt. Wieviel Zeit zwischen dieser ersten, persönlichen Begegnung mit dem Psalmentext und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit seiner Exegese verging, wie Cassiodor sie im Folgenden beschreibt, wird in dem Text nicht deutlich. Es ist also keineswegs gesichert, dass Cassiodor unmittelbar nach dem Ende seiner Amtstätigkeit mit der Arbeit am Psalmenkommentar begann. Zum anderen hat James 60 Cassiod. inst. 1.4.2; Vessey, Introduction 35 f.; O’Donnell, Cassiodorus 134–136; Van de Vyver, Cassiodore 271–275. 61 EP praef.: [Repulsis aliquando in Rauennati urbe sollicitudinibus dignitatum et curis saecularibus …] auidus me perscrutator immersi, ut dicta salutaria suauiter imbiberem post amarissimas actiones.

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Cassiodor und die Expositio Psalmorum

Halporn gezeigt, dass die Praefatio erst nach der Fertigstellung des Haupttextes der EP entstanden sein kann, da Cassiodor darin nicht nur dieselben Väterzitate präziser wiedergab, sondern auch auf einen anderen Bibeltext zurückgriff als im Hauptteil des Werkes. Dass es sich bei dem in der Praefatio verwendeten Text um die Vulgata handelt, die Cassiodor sicher in Vivarium zur Verfügung stand, während im Haupttext der EP ein Vetus-Latina Text zugrunde liegt, macht es wahrscheinlich, dass die Vorrede erst dort entstand.62 Die Praefatio enthält auch einen Hinweis auf den Widmungsträger der EP, einen nicht namentlich bezeichneten pater apostolicus, auf dessen Anregung Cassiodor die Arbeit unternommen habe. Wie Mark Vessey treffend beobachtet hat, erzeugte Cassiodor in der Praefatio bewusst eine „air of timelessness or homeostasis [which] is a characteristic of the textual culture of Vivarium“; dazu trug auch der Verzicht auf die namentliche Nennung des Widmungsträgers bei.63 Die Identifikation dieses pater apostolicus ist ebenfalls nicht ganz eindeutig: während ein Großteil der Forschung davon ausgeht, dass es sich dabei um Papst Vigilius (537–555) handelte, hat Patrizia Stoppacci gegen diesen Konsens jüngst wieder für Vigilius’ Nachfolger Papst Pelagius plädiert.64 Aus dem Text der EP selbst lassen sich lediglich Hinweise auf einen terminus post quem für die Fertigstellung gewinnen. Dazu gehört vor allem der Verweis auf Facundus von Hermianes Verteidigung der Drei-Kapitel-Autoren in seinem Traktat Pro defensione trium capitulorum, den Cassiodor als nuper („kürzlich“) geschrieben bezeichnete und der wohl in das Jahr 547/48 datiert.65 Die erste Stellungnahme des Papstes Vigilius im Dreikapitelstreit, das sogenannte Iudicatum von 548, mit dem dieser sich der Position Justinians anschloss und die drei fraglichen Autoren verurteilte, kann hingegen kaum zur Datierung der EP dienen, ebenso wenig die Erwähnung Cassiodors in einem Brief des Vigilius, in dem er ihn um Vermittlung im Streit mit zwei römischen Klerikern bat, die diese Verurteilung vehement ablehnten.66 Die zugrundeliegende Annahme ist, dass sich Cassiodor nach 548 kaum positiv über die Verteidiger

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Halporn, Cassiodorus’ Citations. Stoppacci, Introduzione 9 nimmt an, dass nur der zweite und dritte Teil der Praefatio (die 17 Kapitel zur Methode und die Prolegomena) später datieren, wofür sie sich auf Halporn beruft; doch sind Vulgata-Zitate der Cantica auch in dem ersten Teil der Praefatio enthalten. Vessey, Introduction 36. Stoppacci, Le dediche 21–27 und 35–37, die einen Vorschlag von Halporn aufgreift (Halporn, Cassiodorus’ Citations 172–174); siehe aber dies., Tra Constantinopoli e Vivarium 110, wo sie Vigilius als Widmungsträger annimmt. Vigilius: Cappuyns, Cassiodore 1370; O’Donnell, Cassiodorus 134; Barnish, Work of Cassiodorus 178–179. EP 138.concl. (Der Hinweis auf die in Vivarium vorhandene Abschrift ist nach Adriaen ein späterer Zusatz). Siehe dazu die überzeugenden Argumente von O’Donnell, Cassiodorus 168–172; vgl. Halporn, Cassiodorus’ Citations 174–178. Anders Agosto, Impiego e definizione 20 n. 36 und Stoppacci, Introduzione 9 f., die davon ausgehen, dass Cassiodor nach Bekanntwerden des Iudicatum das Lob auf Facundus nicht in der Form beibehalten hätte. Vgl. dazu ausführlich unten Kap. 7.

Die Expositio Psalmorum und ihre Kontexte zwischen Konstantinopel und Vivarium

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der Drei-Kapitel-Autoren geäußert hätte und dass seine Nennung in Vigilius’ Brief ihn als dessen „Parteigänger“ identifiziert. Wie wir in Kapitel 7 ausführlich sehen werden, nahm Cassiodor im Text der EP ausführlich zum Dreikapitelstreit – beziehungsweise zur zugrundeliegenden Diskussion um die chalkedonische Christologie – Stellung und formulierte dabei eine differenzierte und durchaus eigenständige Position, die er auch klar artikulierte. O’Donnell ist also zuzustimmen, wenn er in der EP einen Versuch sieht, Vigilius’ Meinung in einer Phase der schwankenden Politik zwischen 548 und dem Konzil von Konstantinopel 553 zu beeinflussen.67 Als Cassiodor einige Jahre später rückblickend die Praefatio schrieb, mag es sinnvoll gewesen sein, die Erinnerung an den streitbaren Papst, der sich letztlich nicht der in der EP vertretenen Position angeschlossen hatte und dessen Reputation in Italien stark gelitten hatte, zu verwischen.68 Die genaue Untersuchung der christologischen Position der EP, die in Teil III dieser Arbeit vorgenommen werden soll, kann zudem weitere Hinweise auf eine Datierung dieser ursprünglichen Rezension der EP in die Jahre unmittelbar vor dem Konzil und auf Vigilius als wesentlichen Adressaten des Textes liefern.69 Während die Fertigstellung der ersten Rezension der EP also in die Jahre zwischen 548 und 553 und damit von Cassiodors Aufenthalt in Konstantinopel zu datieren ist, entstand eine überarbeitete Fassung in Vivarium.70 Neben der neu entstandenen Praefatio ergänzte Cassiodor den Text um eine Reihe bibliographischer Verweise auf Texte, die er in der Bibliothek von Vivarium verfügbar gemacht hatte. Auch das System von Randnotizen zur Orientierung des Lesers, die vor allem auf in der Exegese behandelte Themen aus den Bereichen der artes liberales und der christlichen Doktrin hinweisen, sind dieser Überarbeitungsphase zuzurechnen.71 Ausgehend von der bipartiten handschriftlichen Tradition der EP hat Patrizia Stoppacci vorgeschlagen, mindestens zwei Überarbeitungsstufen in Vivarium anzunehmen. Diese Überarbeitungsphasen lassen sich dabei im Vergleich mit den verschiedenen Redaktionsstufen der Institutiones bestimmen, die zeigen, wie Cassiodor schrittweise neu verfügbares Material einarbeitete; die letzte Fassung verortet Stoppacci daher etwa zeitgleich mit der letzten Fassung der Institutiones um das Jahr 580. Wahrscheinlich ist, dass ein Arbeitsexemplar der EP in Vivarium aufbewahrt wurde, das Cassiodor bis zu seinem Lebensende immer wieder durch Korrekturen und Notizen ergänzte.72 Die EP war also ein langfristiges Projekt, das Cassiodor im Lauf der Zeit mit Blick auf unterschiedliche Adressaten und Kontexte adaptierte. Durch die Überarbeitungsschritte in Vivarium wurde der Kommentar in 67 O’Donnell, Cassiodorus 169–172. 68 Siehe Sotinel, Mémoire perdue; dies., Autorité pontificale 439 f. 69 Siehe unten Kap. 7.5. 70 Stoppacci, Stadi redazionali; dies, Cassiodorus Senator 143. Halporn, Composition; ders., Editing of Patristic Texts; Van de Vyver, Cassiodore 271–273; Cappuyns, Cassiodore 1369 f. 71 Halporn, Methods of Reference; Stoppacci, Introduzione 10–13. 72 Stoppacci, Stadi redazionali; dies., Introduzione 183–207. Zu den Redaktionsstufen der Institutiones unten Anm. 76 f.

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Cassiodor und die Expositio Psalmorum

Cassiodors umfassenderes Programm einer christlichen Pädagogik eingebunden, die in neuartiger Weise vor allem auf dem geschriebenen Wort basierte. Den Kern dieser Pädagogik bildete der Bibeltext und sein Verständnis.73 Biblische Kultur und exegetische Arbeit in Vivarium Für das Verständnis der intellektuellen Aktivitäten in Vivarium bildet das neben den Variae wohl bekanntestes Werk Cassiodors, die Institutiones divinarum et saecularium litterarum (Einführung in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften) den wichtigsten Ausgangspunkt. Auch dieser Text hat eine komplizierte Entstehungsgeschichte; sie reicht in die 530er Jahre zurück, als Cassiodor gemeinsam mit Papst Agapet Pläne zur Gründung einer christlichen Schule verfolgte, die aufgrund der gotischen Kriege nie zur Umsetzung gekommen waren.74 Wie die Forschungen von Pierre Courcelle und Louis Holtz zur Textgeschichte der Institutiones zeigen konnten, zirkulierte außerdem Buch II der Institutiones zunächst als eigenständiger Traktat über die Grundlagen weltlicher Bildung.75 Dieser Text bot eine Einführung in die sieben artes liberales, die neben Grammatik, Rhetorik und Dialektik auch die mathematischen Disziplinen Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie umfasste. Während Courcelle davon ausging, dass es sich dabei um eine Konzeptfassung handelte, hat Fabio Troncarelli überzeugend dafür argumentiert, dass Buch II zunächst als eigenes Buch veröffentlicht wurde. Die Publikation bildete Troncarelli zufolge einen Teil der Bemühungen Cassiodors, der lateinischsprachigen Elite Italiens intellektuelle Orientierung in einer Zeit der politischen und kulturellen Umbrüche zu bieten. Als Instrument zur Ausbildung einer zukünftigen Führungsschicht hatte der Traktat eine teilweise ähnliche didaktische Zielsetzung wie die Variae.76 Zu einem späteren Zeitpunkt, der sich nicht mehr genau bestimmen lässt, stellte Cassiodor diesem Text als erstes Buch eine Einführung in die geistlichen Wissenschaften voran, die er wohl um 562 in einer ersten Fassung fertigstellte. Durch dieses Buch 73

Vessey, Introduction 35. Vgl. auch Stansbury, Early Medieval Biblical Commentaries 62–68; Halporn, After the Schools 58–62; Irvine, Making of Textual Culture 195–209. 74 Vgl. zusammenfassend Vessey, Introduction 37–42; Gatti/Stoppacci, Cassiodorus 114–129. 75 Siehe nun Morresi (ed.), Institutiones. Die endgültige Fassung des Textes in zwei Büchern entstand 562 und wurde auch danach kontinuierlich überarbeitet. 76 Siehe die übersichtliche Zusammenfassung der komplizierten Redaktionsgeschichte bei Vessey, Introduction 37–42 sowie Courcelle, Histoire d’un brouillon; Holtz, Quelques aspects; Troncarelli, Vivarium 9–34; vgl. auch ders., L’ordo generis. Mit anderer Interpretation: Barnish, Work of Cassiodorus 177. Agosto, Impiego e definizione 16–21, sieht die ursrpüngliche Konzeption der EP in einem ähnlichen kulturellen und politischen Zusammenhang wie Troncarelli jene der Institutiones, wobei seine Überbetonung einer eigenständigen kulturellen und christlichen Identität Italiens in Abgrenzung zu Byzanz als Ziel Cassiodors wie bei Troncarelli mit teils problematischen Vorannahmen einhergeht.

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eröffnete Cassiodor seinen Lesern den Zugang zum Bibeltext und seiner Exegese, indem er die zum Verständnis notwendigen Grundlagen zusammenstellte: exegetische Handbücher, christliche Historiographie, Kosmographie und schließlich das Handbuch zu den artes. Beide Teile wurden von Cassiodor (und eventuell auch anderen Gelehrten in Vivarium) immer wieder ergänzt, sobald neues Material verfügbar wurde.77 Die Institutiones ermöglichen damit Einblick in die Bibliothek und die intellektuellen Aktivitäten in Vivarium, deren Schwerpunkt das Bibelstudium bildete.78 Zu den Ergebnissen der Textproduktion in Vivarium gehören in erster Linie die Bibelausgaben von variierendem Format und mit jeweils unterschiedlicher Textgrundlage, unter denen der Codex Grandior, eine Vollbibel in einem Band, die im 8. Jahrhundert in Wearmouth-Jarrow als Modell für den Codex Amiatinus diente, am bekanntesten ist.79 Daneben sind exegetische Texte zu nennen, etwa eine revidierte Fassung von Pelagius’ Römerbriefkommentar, den Cassiodor vom „Gift des pelagianischen Irrtums“ reinigte, die Kompilation von exegetischen Kompendien zu einzelnen biblischen Büchern, sowie eine rege Übersetzungstätigkeit von griechischen Texten ins Lateinische. So geht die lateinische Übersetzung von Flavius Josephus’ Antiquitates und Contra Apionem auf Arbeiten in Vivarium zurück, wo man auch ein Exemplar des von Ps. Rufinus übersetzten Bellum Iudaicum besaß.80 Die EP in der modernen Forschung und der Ansatz dieser Studie Die Integration der klassischen artes liberales mit der christlichen Wissenschaft verbindet die EP mit den Institutiones und Vivarium. Dies ist auch der Blickwinkel, unter dem die EP bislang vor allem untersucht wurde, trotz des Forschungskonsenses, wonach die EP ein Produkt von Cassiodors Zeit in Konstantinopel war. Die EP wird meist als Gegenstück zu den Institutiones gelesen, als praktische Umsetzung des dort 77

Troncarelli, Vivarium 11–27 unterscheidet für Buch II zwei Überarbeitungsstufen, die er auf 551–558 und 562 datiert; die endgültige Redaktion der Fassung in zwei Büchern datiert an Cassiodors Lebensende um 580. 78 Ausführlich Vessey, Introduction 42–69: die Institutiones beschreiben „a core library of biblical text and commentary that can be expanded indefinitely“ (ebda. 68); Fögen, Cassiodorus. 79 Zum Verhältnis zwischen Codex Grandior und Amiatinus mit Zusammenfassung der Diskussion darüber nun Chazelle, Amiatinus bes. 30 f., 312–364. 80 Zur exegetischen Textproduktion: Leanza, Cassiodor esegeta; Cappuyns, Cassiodore 1377– 1382; Stoppacci/Gatti, Cassiodorus 82 f., 129 f.; Courcelle, Les lettres grecques 336–339. Zum Römerbriefkommentar Cassiod. inst. 1.7.1. Der überarbeitete Kommentar ist in einer einzigen Handschrift erhalten, doch lässt sich seine Benutzung durch eine Reihe frühmittelalterlicher Exegeten nachweisen. Souter identifizierte den Kommentar mit dem in PL 68: 413–506 unter dem Namen Primasius’ von Hadrumetum gedruckten Text. Souter, Pelagius’s Expositions 318–326. Siehe Johnson, Purging the Poison 79–169. Zur Flavius Josephus-Übersetzung: Levenson/ Martin, Ancient Latin Translations; Schreckenberg, Flavius-Josephus-Tradition 58–61; Pollard, Reading Josephus ; Fögen, Cassiodorus 98.

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theoretisch formulierten Programmes. Dadurch wird der Text stillschweigend aus seinem (ursprünglichen) Entstehungszusammenhang herausgelöst und der monastische Kontext von Vivarium privilegiert. Die Arbeiten von James O’Donnell und Samuel Barnish enthalten entscheidende Impulse für eine Untersuchung der EP im Kontext des Dreikapitelstreites und der christologischen Kontroversen, die das religionspolitische Feld um die Jahrhundertmitte prägten. Beide haben dabei auch auf den Aktualitätsbezug und die politische Brisanz des Textes hingewiesen.81 Dennoch wurden diese Erkenntnisse bislang kaum konsequent auf die Analyse des gesamten Kommentars übertragen. So betonte O’Donnell im zweiten Teil seiner Analyse die monastische Perspektive der EP, die sich seiner Ansicht nach bereits aus der Wahl des Psalters als Studienobjekt ergab.82 Barnish zog zwar die EP als Quelle für Cassiodors Position im Dreikapitelstreit heran, diskutierte aber den Psalmenkommentar als solchen, den er als komplementär zu den Institutiones verstand, im Zusammenhang mit dem monastischen Bildungsprogramm in Vivarium.83 Auch die bisher einzige umfassende Studie der EP in deutscher Sprache, Reinhard Schliebens 1974 erschienene Monographie, nähert sich dem Kommentar als einem monastischen Lehrbuch.84 Schlieben datierte die Abfassung der EP zwar ebenfalls in die Jahre 540–548, ging aber aus wenig plausiblen Gründen von nur einer einzigen Redaktion der EP aus, die von Anfang an auf ein monastisches Publikum in Vivarium zugeschnitten gewesen sei.85 Schlieben bot einen überaus scharfsinnigen Überblick über die exegetischen Methoden Cassiodors, wobei er sowohl die Bedeutung der verschiedenen Schriftsinne behandelte als auch die Techniken der rhetorischen Analyse des Psalters, die im folgenden Abschnitt eingehend diskutiert werden sollen. Einen weiteren Schwerpunkt von Schliebens Arbeit bildete die Untersuchung der EP als „Zeugnis der klösterlichen Wissenschaft“ und als „Schulbuch“, das ein monastisches Publikum gleichzeitig in die Lektüre der Psalmen und das Studium der artes einführen sollte.86 Zudem beschrieb Schlieben knapp, wie Cassiodor die Exegese zur Belehrung über theologische Fragen, insbesondere Trinitätslehre, Christologie und Gnadenlehre,

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O’Donnell, Cassiodorus 166–172; Barnish, Work of Cassiodorus 161 f. (164: „The Expositio, though revised at Vivarium, was mainly a product of Cassiodorus’ life at Constantinople“). O’Donnell, Cassiodorus 172–174; vgl. 157 f. zum Charakter der EP als Schulbuch. Ein rezentes Beispiel für die Lektüre der EP in einem dezidiert monastischen Rahmen ist Olsen, Honey of Souls. Barnish, Work of Cassiodorus 177 f., obwohl er 164 den Text als Produkt der Zeit in Konstantinopel einordnet. Auch Barnish sieht einen Kontrast zwischen „secular and religious politics“ und der pädagogischen Zielsetzung der EP (174). Schlieben, Christliche Theologie; eine erweiterte Fassung erschien unter dem Titel Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese. Die längere Fassung der Arbeit datiert den Text ebenfalls in die 540er Jahre: Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese 4–10. Zur Kritik daran siehe Vessey, Introduction 35 mit Anm. 110. Schlieben, Christliche Theologie 59–107.

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nutzte.87 Für eine solche Vermittlung von exegetisch-theologischem Grundwissen und klassischen Bildungsinhalten eigneten sich die Psalmen, weil sie häufig den Beginn der Beschäftigung mit der Bibel darstellten und zudem in der monastischen Liturgie fest verankert waren. Der Psalmentext war daher in den Köpfen der Mönche präsent und ließ sich gut mit weiteren Informationen verbinden.88 Schliebens Studie steckt die verschiedenen Themenfelder ab, auf die sich seither weitere Untersuchungen der EP konzentriert haben. Mauro Agosto hat eine detailreiche Analyse der in der EP enthaltenen Figurenlehre im Vergleich mit ihren (spät-) antiken Quellen vorgelegt.89 Ann Astell hat die Bedeutung der Rhetorik als exegetisches Instrument in der EP unterstrichen und mit dem Entwurf einer alternativen, christlichen Textwissenschaft verbunden, der sich auch in den Institutiones abzeichnet.90 Weitere Beiträge widmen sich der Rolle der übrigen weltlichen Wissenschaften sowie dem enzyklopädischen Aspekt der EP oder untersuchen – meist ausgehend von Cassiodors Bemerkungen in der Praefatio – Fragen der exegetischen Methode und Hermeneutik.91 Cassiodors Christologie bildet das Thema einer Studie von De Simone, deren Ergebnisse allerdings kaum über die Arbeiten von O’Donnell und Schlieben hinausführen.92 Wie wir oben gesehen haben, hat James Halporn den Bibeltext, den Cassiodor in der EP zugrunde legte, untersucht und sich in mehreren Studien mit der Entstehungsgeschichte des Textes beschäftigt;93 diese Studien wurden in jüngster Zeit durch Patrizia Stoppaccis Vorarbeiten zur Neuedition der EP ergänzt.94 Derek Olsens kürzlich erschienenes Buch zum Psalmenkommentar fasst diese Themenstränge anschaulich zusammen. Der Fokus liegt auch hier auf Cassiodors hermeneutischen Zugängen und Lektürestrategien, die von einer ausführlichen Analyse der Praefatio ausgehen und vor allem Cassiodors Umgang mit den Schriftsinnen und seine Integration der klassischen artes in das Bibelstudium hervorheben.95 Die Umsetzung der exegetischen Methode in der Praxis illustriert Olsen in zwei vergleichsweise knapp

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Schlieben, Christliche Theologie 68–74. Darauf weist O’Donnell, Cassiodorus 157 f., 172 f. hin. Agosto, Impiego e definizione; Grondeux, À l’école de Cassiodore. Vgl. Quacquarelli, Riflessioni und die Beiträge in ders., Saggi patristici; Courtès, Figures et tropes. Astell, Cassiodorus’s Commentary; vgl. auch Copeland, Cassiodorus’ Hermeneutics; Aricò, Cassiodoro. Simonetti, L’Espositio psalmorum; Ceresa-Gastaldo, Contenuto e metodo; Agosto, Su Cassiodoro; Curti, L’Expositio psalmorum; Hahner, Cassiodors Psalmenkommenar, hat die exegetische Terminologie im Psalmenkommentar aus philologischer Perspektive umfassend analysiert; Weissengruber, L’educazione profana; Holtz, Arti liberali; Halporn, Methods of Reference. De Simone, Cassiodoro e l’Expositio. Siehe außer den bereits zitierten Studien Halporn, Manuscripts; ders., Cassiodorus’ Commentary. Stoppacci, Stadi redazionali; dies., Le dediche; dies., Introduzione. Olsen, Honey of Souls. Leider verortet Olsen seine anschauliche und nützliche Charakteristik von Cassiodors exegetischer Methode allerdings kaum in der existierenden Forschungsliteratur.

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gehaltenen Kapiteln, die Kommentare zu sechs ausgewählten Psalmen behandeln.96 Ein zweiter Schwerpunkt liegt in der Verankerung von Cassiodors Text im Verhältnis zur exegetischen Tradition. Dabei hat Olsen nicht nur zu Recht hervorgehoben, dass Cassiodor unterschiedliche exegetische Traditionen, darunter auch die antiochenische, einbezog und miteinander verknüpfte.97 Im Vergleich mit Hilarius von Poitiers, dessen Instructio psalmorum Cassiodors methodische Praefatio stark beeinflusste, und Augustinus’ Enarrationes in Psalmos arbeitet Olsen heraus, wie Cassiodor die methodischen Ansätze dieser beiden Autoren weiterentwickelte. Trotz der engen textuellen Beziehungen zwischen der EP und den Enarrationes stellt er vor allem die Unterschiede heraus, die sich nicht zuletzt aus dem unterschiedlichen Entstehungskontext der Texte ergeben: im Kontrast zu den großteils aus Predigten hervorgegangenen Enarrationes war die EP ein Text, der mit Blick auf die schriftliche Form strukturiert und für die Lektüre, nicht für den mündlichen Vortrag, gedacht war. Zurecht betont Olsen daher, dass Cassiodor „on his own terms“ gelesen und interpretiert werden sollte.98 Eine umfassende Studie der Quellen Cassiodors, die auch seine Rezeption von Augustinus’ Enarrationes in Psalmos in den Blick nehmen würde, fehlt allerdings trotz dieser wichtigen Anregungen nach wie vor.99 Olsens Buch bietet auch erneut ein eindrückliches Beispiel für die Einordnung der EP in einen dezidiert monastischen Interpretationsrahmen, in dem die EP ausgehend von monastischen Traditionen der Gelehrsamkeit und Spiritualität behandelt wird.100 Obwohl auch Olsen davon ausgeht, dass Cassiodor den Text in Konstantinopel schrieb, setzt er die Mönche von Vivarium von Anfang an als intendiertes Publikum voraus und differenziert nicht zwischen den

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Olsen, Honey of Souls 220–231 behandelt den Kommentar zu Ps 86 (87); ebda. 232–273 diskutiert er die Psalmen 1, 6, 21 (22), 65 (66), 130 (131) als Beispiel für nach Themen geordnete Psalmengruppen (Christologie, Bußpsalmen, Passionspsalmen, Liturgie und Stufenpsalmen). 97 Olsen, Honey of Souls 121–146. 98 Olsen, Honey of Souls 203. Zu Augustinus Enarrationes siehe Fiedrowicz, Psalmus vox totius Christi; ders., General Introduction; ders./Müller, Enarrationes in psalmos; Cameron, Christ Meets Me Everywhere 165–212; Babcock, Christology; Bochet, Augustin et les Psaumes d’Asaph; Rondeau, Les commentaires patristiques 2, 365–388; vgl. auch Bouman, Augustin. 99 Olsen, Honey of Souls 159–175 für den Vergleich mit Hilarius; ebda. 181–203 zum Verhältnis zu Augustinus. Wertvolle Hinweise dazu auch bei O’Donnell, Cassiodorus 139–143; Stoppacci, Tra Costantinopoli e Vivarium; Garyza, Cassiodoro e la grecità. 100 Dies wird schon daran deutlich, dass Olsen als einleitendes Kapitel einen kurzen Abriss der Entwicklung des zönobitischen Mönchtums voranstellt (Honey of Souls 1–26). Wie O’Donnell betont er die starke Verankerung des Psalters in der monastischen Liturgie (ebda. 47–60). Dabei übersieht er allerdings, dass der Hinweis auf das monastische Stundengebet in der Praefatio der EP nach Halporn Teil einer späteren Redaktionsstufe ist. Olsen wiederholt auch die in der jüngeren Forschung stark in Frage gestellte Idee von zwei kontrastierenden Lebenshälften zunächst in der Politik und dann im religiösen Leben, wobei er eine sich seit den 530er Jahren andeutende „logical progression from statesman to monk“ erkennt (62 und 79–84).

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verschiedenen Redaktionsstufen des Textes.101 Das Ziel von Cassiodors Exegese bestand seiner Ansicht nach in der Anregung von Meditation und Gebet.102 Eine solche monastische Lektüre der EP ist vor allem in der starken Verankerung des Psalters in der monastischen Liturgie und Spiritualität begründet und hat daher durchaus ihre Berechtigung; doch sollte sie nicht eindimensional in den Vordergrund gerückt werden. Konkrete Hinweise auf ein monastisches Zielpublikum sind in der EP äußerst spärlich und stammen teilweise aus der Phase der späteren Überarbeitung.103 Ansonsten findet sich im Kommentar zu Ps 118 ausgehend von der im Vers genannten Zahl 7 eine kurze Beschreibung des monastischen Stundengebets, mithilfe dessen „die fromme Ergebenheit der Mönche sich tröstet“.104 Das Bild der Spatzen, die in den Zedern nisten, in Ps 103 interpretierte Cassiodor als Metapher für Klostergründungen auf den Gütern und mit der Patronage wohlhabender Aristokraten (potentes), eine Deutung, die er bereits in Augustinus’ Enarrationes in Psalmos vorfand, jedoch um eine idealisierte Beschreibung des kontemplativen Lebens erweiterte.105 Diese beiden Beispiele zeigen, dass Cassiodor mit der monastischen Liturgie vertraut war und über die Praxis aristokratischer Stiftungen reflektierte. Zusammen mit der positiven Beschreibung des monastischen Lebensstils ist die Interpretation durchaus naheliegend, dass Cassiodor auch sich selbst in der Rolle als aristokratischer Stifter sah, sei es, dass er an eine bereits bestehende Gründung dachte, sei es, dass er sie für die Zukunft plante.106 Diese Stellen sind aber wohl kaum ausreichend, um daraus auf das intendierte Zielpublikum des gesamten Werkes zu schließen oder den monastischen Kontext einseitig als Interpretationsrahmen zu privilegieren. Wie O’Donnell in seiner Diskussion über das Gründungsdatum von Vivarium zu Recht feststellt, setzte die Etablierung eines Klosters auf dem eigenen Besitz keineswegs die Anwesenheit oder eine intensive Involviertheit des Gründers in das Klosterleben voraus. Zudem müssen die Gründung von Vivarium und das intellektuelle Projekt von Bibliothek und Schule nicht von Be-

101 Zur Entstehung in Konstantinopel: Olsen, Honey of Souls 78; intendiertes Publikum: 115 (Cassiodor schreibt für Mönche im frühmittelalterlichen Italien), 159 f. Dabei scheint er eine Gründung Vivariums vor dem Krieg vorauszusetzen (81); zudem nimmt er an, dass Cassiodor in Konstantinopel ebenfalls Teil einer (semi-)monastischen Gemeinschaft war, wofür allerdings Belege fehlen (220). 102 Olsen, Honey of Souls 212–214. 103 Das gilt auch für die Erläuterung des monastischen Stundengebets und für den Verweis auf die Bände des Psalters in Vivarium in EP praef. 104 EP 118.164: […] septem illas significat vices quibus se monachorum pia deuotio consolatur […]. 105 Vgl. EP 103.17 mit Aug. En.Ps. 103.3.15–16. 106 Ein von Adriaen in der Edition zu EP 103.17 als späterer Zusatz ausgewiesener Satz hebt zudem am Ende des Lobes auf den monastischen Lebensstil die besonderen Verdienste des (Laien-) Stifters hervor. Leider ist unklar, ob Adriaens Einschätzung auf bestehenden Annahmen über das Gründungsdatum von Vivarium basiert oder auf textkritischen Kriterien. Die Bemerkung könnte aber auch auf Augustinus’ Warnungen vor monastischer Hochmut gegenüber den aristokratischen Stiftern, die dem weltlichen Leben nicht komplett entsagt hatten, zurückgehen.

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ginn an miteinander verknüpft gewesen sein.107 Erst in den späteren Redaktionsstufen der EP wird ihre Einordnung in das pädagogische Programm von Vivarium verstärkt. Anders als in der bisherigen Forschung möchte ich daher den Schwerpunkt in diesem Buch nicht auf die Funktion der EP als exegetisches Lehrbuch für die religiöse Gemeinschaft in Vivarium legen, sondern auf ihre Untersuchung im Kontext von Cassiodors Aktivitäten in Konstantinopel, mit dem Ziel, die politische Dimension von Cassiodors Exegese auszuloten. Damit ist zwar keineswegs beabsichtigt, die spirituelle und pädagogische Zielsetzung der Expositio und ihr (späteres) monastisches Publikum zu leugnen – vielmehr geht es mir darum, die Vielschichtigkeit der Zielgruppen und Funktionen, die in der Literatur immer wieder betont worden ist, ernst zu nehmen.108 Bedas eingangs zitierten Gedankengang und die wichtigen Impulse aus den Arbeiten von O’Donnell und Barnish aufnehmend, möchte ich nach der Verbindung zwischen Cassiodor dem Politiker und Cassiodor dem Exegeten fragen. 1.3 Cassiodor und die Psalmen: Strategien der Interpretation in der Expositio Psalmorum Hermeneutische Techniken und Strategien der Christianisierung in der spätantiken Exegese Die zeitliche und kulturelle Distanz zwischen dem Text der Bibel und der christlichen Gegenwart zu überbrücken, ist eine der wesentlichen Funktionen des Kommentars.109 Exegetische Literatur gleich welcher Art – von der Bibeldichtung über die Homilie bis zum Kommentar einzelner biblischer Bücher Vers für Vers – vermittelt zwischen dem Bibeltext und dem kulturellen Kontext des Exegeten und seines Publikums. Dem modernen Leser spätantiker Exegese erlaubt die Untersuchung dieser Texte Einblicke in die Wahrnehmung und die Mechanismen der Aneignung des Bibeltextes, in die Fragestellungen und kulturellen Deutungsmuster, die christliche Intellektuelle jeweils an den Bibeltext herantrugen. Um Exegese als historische Quelle nutzen zu können, ist es notwendig, die Regeln, denen die exegetische Textproduktion unterworfen war, mitzudenken und die hermeneutische Praxis der Exegese zu verstehen.110 Dafür bilden die Forschungen zur 107 O’Donnell, Cassiodorus 189–192. 108 Für ein über die Mönchsgemeinschaft von Vivarium hinausgehendes (oder multiples) Zielpublikum argumentieren u. a. Troncarelli, Vivarium 9–12; Barnish, Work of Cassiodorus 178 f.; vgl. Vessey, Introduction 36. 109 Pollmann, Exegesis 259. 110 Die folgende kurze Einführung in die hermeneutischen Strategien Cassiodors richtet sich in erster Linie an Leser:innen, die mit den Techniken der spätantiken Exegese nicht so gut vertraut sind. Wenn dabei Grundelemente der Bibelhermeneutik zur Sprache kommen, die Spezialist:innen der

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Patristik und zum christlichen Diskurs der Spätantike, die ein außergewöhnlich dynamisches Forschungsfeld darstellen, einen hervorragenden Ausgangspunkt.111 Sowohl für die patristische Zeit als auch für die frühmittelalterliche Exegese liegen eine Reihe neuerer Arbeiten vor, die den kulturellen Kontext der Textproduktion, die hermeneutischen Techniken und Methoden der Exegese und ihre historische Entwicklung in den Blick nehmen.112 Cassiodor arbeitete in der Mitte des 6. Jahrhunderts bereits im Bewusstsein einer lange zurückreichenden exegetischen Tradition; seine eigene Arbeit wiederum sollte großen Einfluss auf den frühmittelalterlichen Umgang mit dem Bibeltext und seiner Interpretation ausüben.113 Ausgangspunkt für die christliche Lektüre und Aneignung des Alten Testaments war die Annahme, dass das Kommen des Messias Jesus Christus, von dem die neutestamentlichen Schriften berichten, im Alten Testament prophetisch vorausgesagt war. Es existierte daher eine Verweisbeziehung zwischen dem Text des Alten und jenem des Neuen Testaments, ein Verhältnis von Vorausdeutung und Erfüllung. Im Alten Testament, sofern es „richtig“ gelesen und interpretiert wurde, ließ sich die christliche Botschaft entdecken. Die Aufgabe des Exegeten bestand darin, diese christliche Botschaft zu entschlüsseln, zu erläutern und im Hinblick auf die Bedürfnisse seiner eigenen Zeit weiterzugeben. Diese christliche Aneignung der hebräischen Bibel hatte einschneidende Konsequenzen für die christliche Sicht auf die Juden, deren Schriften einer konkurrierenden Interpretation unterworfen wurden und deren Interpretationstradition als unzureichend gebrandmarkt wurde. Dabei basierte die christliche Aneignung und Interpretation der Bibel sowohl auf jüdischen als auch auf klassisch-hellenistischen Traditionen der Textinterpretation.114 Für den christlichen Zugriff auf das Alte Patristik gut bekannt sind, so deshalb, weil das Verständnis für die Bedingungen der exegetischen Textproduktion und für Cassiodors Strategien der Interpretation eine wichtige methodische Voraussetzung bildet, um die Durchlässigkeit zwischen exegetischem und politischem Diskurs angemessen zu untersuchen. 111 Für Hinweise zum Forschungsstand und einführende Literatur vgl. oben Einleitung Anm. 58. 112 In Auswahl: Young, Biblical Exegesis; Simonetti, Biblical Interpretation; Kannengiesser, Patristic Hermeneutics; Toom (ed.), Patristic Theories; Wischmeyer (ed.), Handbuch der Bibelhermeneutiken; Stroumsa, Scriptural Universe. Für die nachaugustinische Zeit und die (früh)mittelalterliche Exegese siehe auch Stansbury, Early Medieval Biblical Commentaries; Lobrichon, Making Sense; ders., L’Exégèse biblique; Liere, Bible; Blowers, Interpreting Scripture; Contreni, Patristic Legacy; Irvine, Making of Textual Culture 162–271. 113 Die karolingische Überlieferung der EP ist mit 33 erhaltenen Textzeugen sehr reich; dazu kommen sechs weitere Codices aus dem 8. Jahrhundert: Stoppacci, Introduzione 281–307. 114 Young, Biblical Exegesis 49–96; dies., Rhetorical Schools; Procopé, Greek Philosophy; Schäublin, Zur paganen Prägung; ders., Untersuchungen 25–42, 84–123; Eden, Hermeneutics 41–65; Whitman, Allegory 14–57, 61 f.; Procopé, Greek Philosophy 467–477; Most, Hellenistic Allegory; Struck, Allegory and Ascent; Rollinson, Classical Theories of Allegory; zu Philo von Alexandria Dawson, Allegorical Readers 73–126; Hanson, Allegory and Event 37–64; Kamesar, Biblical Interpretation. Zur Diskussion des Verhältnisses zwischen jüdischen und christlichen interpretativen Techniken siehe Boyarin, Border Lines; Dawson, Christian Figural Reading mit Vessey, Rezension Dawson; Stemberger, Exegetical Contacts; Siquans (ed.), „Written for

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Testament waren neben der apologetischen Auseinandersetzung mit dem Judentum auch innerchristliche Kontroversen prägend.115 Die christliche Exegese basierte auf der Annahme, dass es sich bei der Bibel um einen grundsätzlich polysemen Text handelte, der daher der Interpretation auf verschiedenen Ebenen zugänglich war.116 Eine wesentliche Unterscheidung verlief zwischen dem Literalsinn, der „wörtlichen“ Bedeutung des Textes, und verschiedenen Formen von spiritueller oder figuraler Interpretation. Die Etablierung des Literalsinnes, das Untersuchen der literarischen Oberfläche des Textes und seiner primären Bedeutung, war die Grundlage jeder kommentierenden Auslegung. Sie basierte auf den Methoden der klassischen Grammatik und (interpretativen) Rhetorik, wie sie in den antiken Schulen mit Blick auf nichtchristliche Texte praktiziert wurde.117 Der „Literalsinn“ der spätantiken Exegeten deckt sich nicht notwendigerweise mit entsprechenden modernen Annahmen, und die Übergänge zur figuralen Lektüre können bisweilen fließend sein; auch lässt er sich keineswegs so nahtlos mit dem historischen Sinn gleichsetzen wie das in der Forschungsliteratur manchmal geschieht.118 Dennoch bleibt für den Zugang der spätantiken Interpreten zum Bibeltext maßgeblich, was Martin Irvine als Gegensatz zwischen „unmarkiertem“ Text, der wörtlich auszulegen ist, und „markiertem Text“ beschrieben hat, dessen verborgene, zusätzliche oder eigentliche Bedeutung gefunden werden müsse.119 Die Kriterien für diese Unterscheidung formulierten die einzelnen Autoren unterschiedlich. Bei Origenes war es die Unvollkommenheit oder Sinnlosigkeit des Literalsinnes, die eine figurale Interpretation nötig machte, während im positiven Sinn Analogie oder Symbolismus, Querverbindungen zu anderen Bibel-

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Our Use and Discipline“. Zum Zusammenhang zwischen Bibelinterpretation und Antijudaismus siehe auch die unten Kap. 2.5 zitierte Literatur. Young, Biblical Exegesis bes. 9–28, 47–75; Simonetti, Biblical Interpretation 12–27; Lieu, Christian Identity 27–97; Lobrichon, L’exégèse biblique 56 f.; Trigg, Apostolic Fathers; am Beispiel des Augustinus: Fredriksen, Augustine and the Jews; Massie, Peuple prophetique. Grundlegend, wenn auch in vieler Hinsicht überholt und vor allem mit Blick auf spätere Jahrhunderte: Lubac, Exégèse médiévale; vgl. für neuere Zugänge die in den vorigen Anm. zitierte Literatur. Young, Biblical Exegesis 76–96, 169–176; dies., Rhetorical Schools; Schäublin, Contribution of Rhetoric; Pollmann, Doctrina christiana 215 f.; Agosto, Impiego e definizione 30–38. So kann die Identifikation von rhetorischen Figuren, die Interpretation einer Metapher oder eines Tropus als Teil des literalen Levels aufgefasst werden. Auch wenn dies erst die hochmittelalterlichen Exegeten explizit theoretisieren, lässt sich auch in der spätantiken Praxis beobachten, dass die Etablierung und Diskussion des Literalsinnes mitunter figurale Interpretation erfordert oder miteinschließt. Vgl. Meyer, Allegoriedefinitionen; Whitman, Allegory 129; Kannengiesser, Patristic Hermeneutics 167–205. Frances Young hat eindringlich davor gewarnt, den historischen Sinn unreflektiert mit einem modernen Verständnis von historisch-kritischer Exegese gleichzusetzen: Young, Biblical Exegesis 168 f., 179–182. Siehe ebda. 119–122 zum graduellen Übergang zwischen literalem und figurativem Verständnis. Ähnlich Blowers, Interpreting Scripture bes. 626 f. zur Technik der „amplifizierenden Paraphrase“ und 630–633 zum christlich-theologischen Gehalt des „Literalsinns“; Böhm, History and Allegory. Irvine, Making of Textual Culture 262 f.

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stellen oder die Etymologie zum Ausgangspunkt dafür genommen werden konnte. Für Augustinus machte der Widerspruch einer wörtlich genommenen Passage gegenüber der christlichen Grundbotschaft der doppelten Nächstenliebe figurale Interpretation notwendig.120 Will man die Schriftsinne nach inhaltlichen Kriterien gruppieren, so kann man christologisch-ekklesiologische, moralisch-tropologische und eschatologisch-anagogische Auslegung als Typen des spirituellen Sinnes unterscheiden, zu denen dann als vierte Kategorie noch der historische Sinn als Ergebnis der (überwiegend) literalen Interpretation kam. Eine solche vierfache Einteilung der Sinnstufen nahm beispielsweise Cassian vor, der dies am Beispiel der Stadt Jerusalem verdeutlichte: „Jerusalem“ bezeichne die historische Stadt, die christliche Kirche, die menschliche Seele oder das himmlische Paradies.121 Eine andere Möglichkeit der Einteilung folgt nicht inhaltlichen Kategorien, sondern unterscheidet nach hermeneutischer Vorgehensweise oder operativen „Codes“: neben die literale Interpretation treten dann der allegorische und der typologische Modus.122 Allegorie und Typologie waren besonders für die Exegese des Alten Testaments relevant: Sie ermöglichten es, einen Zusammenhang zwischen dem Text des Alten Testaments und der christlichen Lehre und Geschichte herzustellen und bildeten Strategien des Umgangs mit problematischen oder obskuren Passagen des Bibeltextes. Sie stellten daher die beiden wesentlichen Modi für die Produktion von zusätzlicher, über den Wortsinn hinausgehender, Bedeutung dar. Über ihre präzise Definition und wechselseitige Abgrenzung ist in der modernen Forschung viel diskutiert worden.123 Dabei wurde die Frage der Unterscheidung zwischen den beiden Techniken oft anhand des Gegensatzes zwischen zwei wichtigen exegetischen Schulen oder Traditio-

120 Irvine, Making of Textual Culture 252–257, 265–271; Carleton Paget, Christian Exegesis 511– 514 und 521–533; zu Augustinus siehe Pollmann, Doctrina christiana 121–147; Teske, Criteria for Figurative Interpretation; Cameron, Augustine and Scripture 206–208; Toom, Augustine’s Hermeneutics 99–107. 121 Joh. Cass. Coll. 14.8. 122 Irvine, Making of Textual Culture 262–265; vgl. mit Bezug auf Beda Meyer, Allegoriedefinitionen 183 f. 123 Die Literatur ist sehr umfangreich. Siehe exemplarisch Whitman, Allegory; Hanson, Allegory and Event; Dawson, Allegorical Readers; ders., Christian Figural Reading; vgl. die Beiträge in: Copeland/Struck (ed.), Cambridge Companion to Allegory; Whitman (ed.), Interpretation and Allegory; Haug (ed.), Formen und Funktionen. Grundlegend zur Abgrenzung und Definition der Typologie Daniélou, Sacramentum futuri; ders., Qu’est-ce que la typologie 199–205; Lubac, Typologie; Lampe/Woollcombe (ed.), Essays on Typology. Auerbach, Figura 450–474, grenzt die typologische Methode – ausgehend von der zeitgenössischen Bezeichnung figura – als „figurale Interpretation“ von der Allegorie ab. David Dawson formuliert die Unterscheidung in seinen neueren Arbeiten entlang des Begriffs figura und differenziert zwischen „figural reading“ (das, wie die Typologie, die Kohärenz des Literalsinnes zum Ausgangspunkt nimmt) und „figurative reading“: Dawson, Christian Figural Reading 15 f. Vgl. zur neueren Diskussion außerdem Young, Typology; dies., Biblical Exegesis 152–157, 192–201; Guinot, La typologie; Martens, Revisiting.

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nen diskutiert, jener von Alexandria (mit Origenes, Didymus dem Blinden und Cyrill von Alexandria als bedeutende Vertreter) und jener von Antiochia (Diodor, Johannes Chrysostomus, Theodor von Mopsuestia). Die Ausbildung und Durchsetzung der allegorischen Bibelexegese wurde in der Forschung eng mit der alexandrinischen Tradition verbunden, während die Schule von Antiochia für Skepsis gegenüber der Allegorie und Bevorzugung des historischen Sinnes sowie der Typologie stand. Diese Gleichsetzung ist zurecht kritisiert worden, doch geht die moderne Diskussion um das Verhältnis zwischen allegorischer und typologischer Auslegung und ihre (theologische) Legitimität zumindest teilweise auf hermeneutische Debatten der Spätantike zurück.124 Eine klare Abgrenzung von Allegorie und Typologie ist – auch angesichts des Sprachgebrauchs spätantiker und frühmittelalterlicher Exegeten, die begrifflich nicht klar zwischen den beiden Interpretationsmodi differenzierten – schwierig; wie unter anderem Frances Young betont hat, ist die Unterscheidung vielmehr graduell.125 Sowohl Allegorie als auch Typologie lassen sich als Strategien beschreiben, um Korrespondenzen zwischen textuellen Ereignissen zu etablieren. Der wesentliche Unterschied liegt Young zufolge in der Form der Korrespondenz, in der Art und Weise, in der diese Beziehung der Ähnlichkeit etabliert wird. Während die Allegorie diese Korrespondenzen auf der semantischen Ebene findet und eine Beziehung der symbolischen Repräsentation zwischen den beiden Polen annimmt, geht die Typologie von einer mimetischen Ähnlichkeit auf der narrativen Ebene aus. Die Typologie ist ein Prozess, „whereby texts are shaped or read so that they are invested with meaning by correspondence with other texts of a ‚mimetic‘ or representational kind.“126 Martin Irvine formuliert dies als eine Unterscheidung zwischen einer vertikalen Achse der Signifikation, die Korrespondenzen zwischen abstrakten Konzepten definiert (Allegorie) und einer horizontalen Achse der Referenz, die Kontiguität oder Nachbarschaft zwischen Handelnden und Ereignissen der Heilsgeschichte postuliert (Typologie).127 Entscheidend ist also – und das gilt auch innerhalb der spätantiken Polemik über die Legitimität der allegorischen Interpretation – die Frage nach den Kriterien für diese Korrespondenz oder Ähnlichkeit. Auch wenn einem bestimmten Wortlaut multiple Sinnebenen zugeschrieben werden konnten, so waren nicht alle Anwendungen oder Übertragungen auf beliebige Referenten und Deutungskontexte gleich plausibel.128 124 Simonetti, Biblical Interpretation 34–85; Lobrichon, Making Sense 539 f.; kritisch Guinot, La typologie 8–13; Martens, Revisiting 310–313; Young, Biblical Exegesis 161–185; vgl. Clark, From Patristics 23 f.; O’Keefe/Reno, Sanctified Vision 69–113. 125 Young, Biblical Exegesis 148–201 und dies., Typology. Vgl. für eine Zusammenfassung auch Martens, Revisiting 285–296, der allerdings die Tendenz von Youngs Arbeit anders versteht (ebda. 290–292). 126 Young, Biblical Exegesis 193; vgl. die Bemerkungen bei Guinot, La typologie 13–23. 127 Irvine, Making of Textual Culture 264 f. 128 Young, Biblical Exegesis 188.

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Cassiodors hermeneutische Zugangsweisen Die Diskussion um die Legitimität der verschiedenen Auslegungstechniken und -traditionen erhielt gerade in der Mitte des 6. Jahrhunderts im Kontext der christologischen Kontroversen neue Relevanz, wie wir in Kapitel 7 sehen werden. Cassiodor rezipierte Elemente der antiochenischen Methode insbesondere über die exegetischen Handbücher des Junillus Africanus und Hadrians.129 Doch war für Cassiodor und die lateinische Tradition, in der er arbeitete, ohne Zweifel das Œuvre von Autoren wie Ambrosius, Hieronymus und Augustinus von entscheidender Bedeutung.130 Insbesondere Augustinus’ Traktat De doctrina christiana, mit seiner Diskussion der Regeln des Tyconius für die christologische Interpretation des Alten Testaments, wurde für die exegetische Theorie im lateinischen Westen prägend.131 In der Praefatio zum Psalmenkommentar beschrieb Cassiodor seine Vorgehensweise bei der Gestaltung der Auslegungen zu den einzelnen Psalmen.132 Dieser Beschreibung zufolge zielte der Hauptteil jedes Kommentars darauf, die verborgene, höhere Bedeutung des Psalms, das arcanum psalmi, zu entschlüsseln. Die Interpretationsebenen, die dafür durchlaufen werden konnten, waren „nach dem geistlichen Verständnis, nach der historischen Lektüre, nach dem mystischen Sinn“.133 Zudem hob Cassiodor die conclusio, die kurze Zusammenfassung am Ende jedes Kommentars, als für die Interpretation bedeutsam hervor, denn sie war der prägnanten Charakterisierung der virtus des jeweiligen Psalms gewidmet. Mit virtus bezeichnete Cassiodor nicht nur die Quintessenz und Interpretationshypothese des Psalms, sondern auch seine besondere moralische und rhetorische Kraft.134 Das Verhältnis zwischen dem spirituellen und dem mystischen Sinn definierte Cassiodor in der Praefatio nicht näher, und im Verlauf des Kommentars scheinen die Begriffe weitgehend synonym. Wie Ursula Hahners detailreiche Untersuchung der exegetischen Terminologie in der EP ergeben hat, war auch für Cassiodors Exegese die

129 Cassiod. inst. 1.10.1. 130 Contreni, Patristic Legacy 506–512; Young, Interpretation of Scripture 855 f.; Simonetti, Biblical Interpretation 99–109. Zu Cassiodors Verknüpfung unterschiedlicher exegetischer Traditionen Olsen, Honey of Souls 121–146. 131 Dazu Pollmann, Doctrina christiana, sowie die Beiträge in: Arnold/Bright (ed.), De Doctrina Christiana; vgl. auch den Band: Nauroy/Vannier (ed.), Saint Augustin; Bright (ed. und trans.), Augustine; Pollmann, Augustine’s Hermeneutics. Zu Tyconius siehe Bright, Book of Rules; Tilley, Bible 112–128; Vercruysse, Tyconius’ Hermeneutics. 132 EP praef.14. Vgl. Schlieben, Christliche Theologie 34–58; Simonetti, L’Expositio psalmorum 131–139; Ceresa-Gastaldo, Contenuto e metodo; Curti, L’Expositio psalmorum; Agosto, Su Cassiodoro; Olsen, Honey of Souls 147–180, der Cassiodors Weiterentwicklung von Ideen aus Hilarius’ Instructio psalmorum hervorhebt. 133 EP praef.14: secundum spiritalem intellegentiam, secundum historicam lectionem, secundum mysticum sensum. Vgl. die Übersetzung bei Sieben, Schlüssel zum Psalter 247 f. 134 EP praef.14.

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Zweiteilung in wörtlichen und figuralen (spirituellen) Sinn grundlegend.135 Ersterer war die Grundlage und der Ausgangspunkt der figuralen Deutung, die verschiedene Formen annehmen konnte und mit unterschiedlichen, teils überlappenden Begriffen bezeichnet wurde. Allegorie und Typologie waren bei Cassiodor wie bei vielen anderen Exegeten nicht klar begrifflich voneinander geschieden, und die Übergänge zwischen den beiden figuralen Modi auch in der Praxis fließend. Die Allegorie definierte Cassiodor als „Umkehrung, die das eine sagt, das andere bedeutet“.136 Der Bedeutungsspielraum von allegoria schwankt zwischen dem Begriff für eine spezifische rhetorische Figur (bzw. einem übergeordneten Begriff für eine Gruppe von Figuren) einerseits und einem breiteren Sinn andererseits, in dem allegoria für das spirituelle Verständnis im allgemeinen steht. Als spezifische Figur weist die Allegorie oftmals einen christologischen Bezug auf und kommt somit gerade dem modernen Verständnis des typologischen Verfahrens nahe.137 Ausdrücke wie per allegoriam accipere/dicere/ appellare oder allegorice dicere/intellegere weisen darauf hin, dass Cassiodor einen Modus der figuralen Lektüre beschrieb, der verschiedene Formen des spirituellen Sinnes produzierte.138 In einem sehr ähnlichen Sinn fasste auch Beda später die Allegorie als interpretatives Verfahren, das alle drei „figuralen“ Schriftsinne – typicus, tropologicus und anagogicus – hervorbringen kann.139 Die Ebene der Typologie spielte innerhalb der christologischen Auslegung der Psalmen eine wichtige Rolle, besaß aber in der EP keine fixierte oder eindeutige Terminologie. Unter Berufung auf Paulus sprach Cassiodor von figura, daneben sind typus, imago, (prae-)figuratio oder auch significatio und futura mysteria geläufige Termini, die auf die prophetische, vorausdeutende Qualität des Psalmentextes zielten, der daher spiritaliter verstanden werden musste.140 Auch für den moralischen Sinn als Variante der spirituellen Auslegung verfügte Cassiodor nicht

135 Hahner, Cassiodors Psalmenkommentar 29–39; vgl. auch Olsen, Honey of Souls 203–215. 136 EP 7.tit.: [… allegoria, id est] inuersio, aliud dicens, aliud significans; vgl. EP 52.1; Agosto, Impiego e definizione 223, mit dem Verweis auf den Traktat Schemata dianoeas als Quelle Cassiodors; Copeland, Cassiodorus’ Hermeneutics 177–179. Vgl. auch Quint. inst. 8.6.44; Don. mai. 3.6; Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik § 895–901; Meyer, Allegoriedefinitionen. 137 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für letztere Verwendung ist EP 104.concl. Siehe auch EP 7.tit. Vgl. Ceresa-Gastaldo, Contenuto e metodo 66; Hahner, Cassiodors Psalmenkommentar 47, sowie die Diskussion zum Bedeutungsspielraum von allegoria bei Agosto, Impiego e definizione 223–232, zu allegoria als Oberbegriff für weitere Figuren wie aenigma, ironia und sarcasmos siehe ebda. 232–242. 138 Z. B. EP 6.3; 8.8; 54.21; 64.7 und 8; 73.15; 99.2; 117.19. 139 Meyer, Allegoriedefinitionen 188–191; Franklin, Bede’s Liber de schematibus et tropis 72–77 sowie ebda. 81–83 zu Bedas Benutzung der EP. 140 Hahner, Cassiodors Psalmenkommentar 40–46. Paulus verwendete den Begriff allegoria für seine „typologische“ Interpretation der israelitischen Geschichte; typos im technischen Sinn des Wortes findet sich nur in Rm 5.14. Vgl. Guinot, La typologie 4–6. Augustinus unterschied zwischen der allegoria in uerbis und der allegoria in factis, wobei letztere die figurale Bedeutung der durch die biblischen Worte bezeichneten Ereignisse einschloss: Aug. trin. 15.9.15; Whitman, Allegory 79–82; Irvine, Making of Textual Culture 263 f.

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über ein eigenes Vokabular. Zwar taucht der Terminus tropologia in der EP auf, aber mit einer anderen, vom ursprünglichen Begriff tropus abgeleiteten Bedeutung, nämlich zur Bezeichnung anthropomorpher Ausdrücke für Gott.141 Wichtig für das Verständnis des figuralen Interpretationsmodus in der EP und des darauf basierenden Erkenntnisprozesses ist zudem Cassiodors Konzeption der similitudo. Wie allegoria verwendete Cassiodor auch similitudo in der EP in einem mehrfachen Sinn.142 Einerseits erscheint similitudo als Überbegriff für eine Gruppe von schemata, die auf dem Vergleich basierten, wie homoeosis, parabola/comparatio oder icon.143 Andererseits sprach Cassiodor nicht nur von allegoricae similitudines, sondern auch davon, dass Allegorie, Vergleich oder allgemein das spirituelle Verständis per similitudinem zustandekamen.144 Wie allegoria bezeichnet also auch similitudo die figurale Qualität des Bibeltextes im Allgemeinen. Als Ergebnis dieser Beobachtungen lässt sich festhalten, dass die präzise begriffliche und konzeptionelle Abgrenzung von „Allegorie“ und „Typologie“ auch in Cassiodors Exegese auf Grenzen stößt. Für die Zielsetzung dieser Arbeit wichtiger als eine klare Systematisierung von Cassiodors exegetischem Vokabular nach modernen Kriterien ist allerdings das Verständnis der Funktionsweisen dieser figuralen Lektüren und ihrer Effekte. Aus dieser Perspektive ist es sinnvoll, Allegorie und Typologie in ihren verschiedenen Ausprägungen vorrangig als „Techniken der Christianisierung“ zu begreifen, als Strategien der Aktualisierung und Öffnung des Bibeltextes für neue Kontexte.145 Die Divergenz zwischen uerba und sensus, zwischen Wort und Sinn, ist das wesentliche Kennzeichen sowohl der Allegorie als auch der Typologie.146 Beide Formen der figuralen Interpretation gehen davon aus, dass die Worte des Bibeltextes auf etwas anderes verweisen als die unmittelbare, buchstäbliche Bedeutung, die sie auch transportieren mögen. Allegorie und Typologie sind insofern Formen der Dekontextualisierung; sie lösen die Aussagen des Alten Testaments aus ihrem ursprünglichen Deutungszusammenhang und ermöglichen die Übertragung und Anwendung auf neue Kontexte. Auf diese Weise stellten sie die Relevanz des Alten Testaments in der christlichen Gegenwart her, während sie gleichzeitig eine Enteignung der Juden bedeuteten, deren An-

141 Z. B. EP 31.4; 85.1. Dieser Sprachgebrauch ist vom rhetorischen Begriff tropus abgeleitet, und erklärt sich aus der Annahme, dass anthropomorphe Sprache in Bezug auf Gott nur im uneigentlichen, übertragenen Sinn verstanden werden kann. 142 Hahner, Cassiodors Psalmenkommentar 54–56; Agosto, Impiego e definizione 216–223. 143 EP 77.2; 87.5 (parabola); 122.2 (homoeosis); 16.8 (eikon/imaginatio). 144 Z. B. EP 1.concl., 18.6; 50.13; 57.9; 141.tit. In 113.2 wird die alttestamentliche Geschichte durch uerba et similitudines erläutert, wodurch die historischen Ereignisse einem spirituellen Verständnis zugänglich werden, siehe auch 113.concl; vgl. dazu Agosto, Impiego e definizione 216–218. Zur Schwierigkeit der Unterscheidung von Simile und verwandten Figuren siehe Eco, Semiotik 171– 175. 145 Fredriksen, Allegory 143. 146 Whitman, Allegory 2 und 7; Young, Biblical Exegesis 189 f.

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sprüche auf ihre heiligen Texte die Christen zurückwiesen.147 Die allegorische Exegese zielte auf die Gewinnung universaler theologischer oder moralischer Wahrheiten aus dem Bibeltext, die jeden christlichen Leser betrafen.148 Die Typologie bot einen Rahmen der Sinngebung für konkrete Situationen und geschichtliche Abläufe, indem sie die Einordnung eines Ereignisses in die Heilsgeschichte erlaubte. Michael Fishbane beschreibt ihren Effekt als Überlappung zwischen partikularer Geschichte und universalem Mythos.149 Die Typologie eröffnete also die Möglichkeit, Gottes providentielles Wirken in der menschlichen Geschichte zu verstehen. Dieser typologische Denkmodus war für die spätantike und frühmittelalterliche Sicht auf Geschichte und ihren Sinn von entscheidender Bedeutung.150 Die Überlappung der Zeitebenen, die durch die Typologie zustande kam, produzierte einen Effekt der „Jederzeitlichkeit“, der die Aneigenbarkeit der biblischen Erzählungen begünstigte.151 Die mimetische Qualität der Typologie, ihre paradigmatische Funktion, betraf auch die nachbiblische Gegenwart. Die Exegese suchte nicht nur Ähnlichkeiten und Korrespondenzen zwischen dem Alten Testament und dem Neuen Testament, sondern auch zwischen dem Alten Testament und den gegenwärtigen Erfahrungen eines christlichen Publikums. Diese Form der paränetischen Exegese, durch die Leser und Hörer in den Text „hineingezogen“ wurden, hat Frances Young als „quasi-typology“ bezeichnet und ihre identitätsbildende Wirkung unterstrichen.152 Diesen Überlegungen entsprechend ist der Ansatz dieser Arbeit, die exegetischen Techniken und hermeneutischen Strategien nicht als Selbstzweck zu untersuchen, sondern sie als Quelle zu nutzen – als Zugang zu einem sprachlichen Instrumentarium zur Erfassung der Welt, das in der Spätantike zunehmend biblisch geprägt war. In der Anwendung dieses Instrumentariums lässt sich die intellektuelle Aneignung und die Wirkmacht des Bibeltextes auf das konzeptuelle Denken und die Vorstellungswelt des Exegeten nachvollziehen. Die verschiedenen Formen figuraler Interpretation zielten darauf ab, die Spannung zwischen Wort und Bedeutung aufzulösen, indem sie eine Beziehung der Ähnlichkeit herstellten. Sie maßen den Grad von Ähnlichkeit und Dif-

147 Dazu unten Kap. 2.5. 148 Boyarin, Origen; Young, Biblical Exegesis 189–192, für eine Auflistung verschiedener Formen von exegetischer Allegorie. 149 Fishbane, Biblical Interpretation 350–379; vgl. Young, Biblical Exegesis 198–201. 150 Auerbach, Figura 467–474; Ohly, Typologie als Denkform 22–63; Frye, The Great Code 85; Markus, Saeculum; Goetz, Gegenwart der Vergangenheit. 151 Corradini, Zeit und Text 104–112 und siehe ebda. 113–127 zur figuralen Exegese; vgl. Auerbach, Figura 474; Böhm, History and Allegory 224–226. 152 Young, Biblical Exegesis 235: „The exemplary mimesis is integrated with a paraenesis in which the text is taken to refer directly to the reader, whose life is supposed to fulfil the proverbs and patterns of scripture. The ‚typological‘ mimesis overlaps with the oracular in understanding the text in some way to represent in advance the reality which is to be fulfilled. In these ways the identity of Christians was formed.“ Vgl. ebda. 253.

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ferenz zwischen dem Bibeltext und dem christlichen Erfahrungsraum des Interpreten aus und produzierten dabei neue Bedeutung.153 Cassiodor selbst reflektierte über das Erkenntnispotential, das sich aus der figuralen Qualität des Bibeltextes ergab. Bei den meisten Formen figuraler Interpretation stellte die Beziehung der Ähnlichkeit das Funktionieren der figuralen Deutung sicher. Die Spannung zwischen Wort und (eigentlicher oder zusätzlicher) Bedeutung wurde aufgelöst, indem eine Verbindung nach dem Kriterium der Ähnlichkeit hergestellt wurde. In dieser Beziehung der Ähnlichkeit zwischen Bibeltext und zu begreifender (christlicher) Wahrheit lag Cassiodor zufolge die Erkenntnismöglichkeit der figuralen Interpretation begründet: „Durch similitudines wird uns die Vorstellung (imaginatio) der Wahrheit zugänglich gemacht“, schrieb Cassiodor beispielsweise über trinitarische Metaphern.154 Die Ähnlichkeit mit einer bekannten Sache ermöglichte das Begreifen neuer, vergleichbarer Sachverhalte.155 Der Exeget folgte der Spur, die von den Wörtern und den durch sie bezeichneten Dingen zur wahren Bedeutung führte, von der irdischen Realität zur göttlichen Wahrheit: Wir haben oft gesagt, dass die Eigenart der weltlichen Dinge uns die Merkmale himmlischer Kräfte zeigt – denn wir hätten keine Möglichkeit, auch nur irgendetwas von [Gottes] Majestät zu verstehen, wenn uns über sie nicht etwas durch weltliche Ähnlichkeiten offenbart würde.156

Damit ist der kognitive Effekt der figuralen Exegese umschrieben.157 In den durch sie hergestellten Beziehungen zwischen dem Bibeltext und christlichen Inhalten, zwischen alttestamentlichen Akteuren oder Ereignissen und den Erfahrungen zeitgenössischer, christlicher Leser liegt das kognitive Potential der figuralen Exegese begründet, aber auch ihre affektive Kraft und ihre Identitätswirksamkeit.158 Im exegetischen Kommentar lässt sich das Aufeinandertreffen von Bibeltext und spätantiker Vorstellungswelt als Prozess der Übertragung von Deutungskategorien und Interpretationsmustern untersuchen. Im Spannungsfeld zwischen alttestamentlicher Vergangenheit und christlicher Gegenwart, biblischer und zeitgenössischer Sprache, buchstäblicher und figürlicher Bedeutung liegt das Potential der Exegese für historische Fragestellungen. Dieses Verständnis der figuralen Modi der Exege-

153 Whitman, Allegory 3 f.; Young, Biblical Exegesis 190 f. 154 EP 50.14: Sic per has similitudines tantae rei aliqua nobis imaginatio ueritatis aperitur. 155 EP 122.2: Sed hic uersus et sequens per figuram homoeosis depromuntur, per quam minus notae rei, ex similitudine eius quae magis nota est, demonstratio declaratur. 156 EP 44.9: Saepe diximus species terrenarum rerum indicia nobis caelestium demonstrare uirtutum, quia non poteramus quidquam de illa maiestate cognoscere, nisi nobis de ipsa aliquid per mundanas similitudines appareret. 157 Vgl. dazu auch die Überlegungen zu sozialen Metaphern in der Exegese in Kap. 2.2. 158 Siehe zur metaphorischen Qualität der Kommunikation zwischen Gott und dem Menschen in den Psalmen auch EP praef.15; vgl. Agosto, Impiego e definizione 216 f.; ders., Su Cassiodoro.

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se ist grundlegend für den Zugang dieses Buches, wenn in den folgenden Kapiteln analysiert wird, wie Cassiodor das biblische Israel als soziale Metapher für christliche Gemeinschaften verwendete. Dabei lassen sich die hier angestellten Überlegungen zu den Techniken der figuralen Interpretation und ihren Effekten gewinnbringend mit modernen Theorien zur Funktionsweise von Metaphern verknüpfen, da die figurale Exegese in vieler Hinsicht einem metaphorischen Modus der Bedeutungsproduktion entspricht (Kap. 2). Ein solcher Zugang rückt außerdem die Permeabilität zwischen Bibeltext und zeitgenössischen Diskursen in den Blick und erlaubt es, die semantischen und ideologischen Effekte, die sich aus der Übertragung des biblischen Vokabulars in einen christlichen Deutungshorizont ergeben, zu analysieren. In den exegetischen Verhandlungen über die Anwendbarkeit der biblischen Konzepte und die Grenzen der Vergleichbarkeit zwischen Bibeltext und christlicher Gegenwart lässt sich die Arbeit mit der biblischen Terminologie nachvollziehen. Dies ist für die Untersuchung von Cassiodors Bemühungen, mithilfe der Bibel neue Konzepte für die politische und ethnische Ordnung der Welt zu entwerfen, von großer Bedeutung (Kap. 3–5). Für das Verständnis von Cassiodors Herangehensweise an den Bibeltext ist es jedoch nicht nur notwendig, die Techniken der figuralen Interpretation zu verstehen, wie sie in der exegetischen Tradition entwickelt worden waren und wie wir sie gerade kurz umrissen haben. Cassiodor machte sich außerdem seine Kenntnis der weltlichen Rhetorik zunutze, um seinem Publikum Wege zu öffnen, den Bibeltext in Beziehung zur eigenen Situation und Lebenswelt zu setzen. 1.4 Rhetorik als interpretative Technik Artes liberales, Rhetorik und Exegese in der EP Die Integration der artes liberales gilt in der Forschung als besonderes Charakteristikum von Cassiodors Psalmenkommentar.159 Wie die Institutiones stellt auch die EP einen Versuch der Synthese zwischen antiker Bildung und biblischer Exegese dar. Cassiodor ging davon aus, dass die artes ihren Ursprung in der Bibel hatten und man sie daher auch aus dem Bibeltext lernen konnte.160 Er verband deshalb die Auslegung der Psalmenverse regelmäßig mit Erläuterungen zu Logik und Dialektik, Musik oder Geometrie. Der Psalter wurde in Cassiodors Händen zum Vehikel für die Vermittlung 159 Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese 189–236; O’Donnell, Cassiodorus 157–162; Astell, Cassiodorus’s Commentary; Weissengruber, L’educazione profana; Halporn, After the Schools; Leonardi, L’esegesi 152–154; Riché, Education et culture 209 f.; Simonetti, L’Expositio psalmorum 128–130; Agosto, Impiego e definizione 41–45; Stoppacci, Tra Constantinopoli e Vivarium 112. 160 EP praef.15; vgl. EP 23.9–10 und 31.11; vgl. Weissengruber, Educazione profana 66–68; Agosto, Impiego e definizione 46 f.; Copeland, Cassiodorus’ Hermeneutics 163–165.

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von Grundwissen in den verschiedenen artes und ganz besonders in den textwissenschaftlichen Feldern des trivium. Das enzyklopädische Interesse, das die EP mit den Institutiones – und auch, wie Shane Bjornlie gezeigt hat, mit den gelehrten Exkursen der Variae – verbindet, wurde in der zweiten Rezension des Kommentars durch ein System von Randzeichen verstärkt, mit dem Cassiodor seine Leser auf die Diskussion artistischer Themen hinwies.161 Die Kenntnis der artes, wie sie im zweiten Buch der Institutiones programmatisch vermittelt wurde, war jedoch für Cassiodor kein Selbstzweck, sondern auf ein besseres Verständnis des Bibeltextes hin ausgerichtet. Insofern lässt sich die EP als komplementär zu den Institutiones lesen, wie das in der Forschung auch meist geschehen ist.162 Die bedeutende Rolle der artes, und besonders der Rhetorik, kann die EP aber nicht nur mit den Institutiones und dem intellektuellen Umfeld in Cassiodors monastischer Gründung in Vivarium in Verbindung bringen, sondern auch mit seiner „ersten“ Karriere am Hof Theoderichs und mit dem politischen Projekt der Variae. Cassiodor las die Psalmen als klassisch gebildeter Redner: Ann Astell hat in einem aufschlussreichen Aufsatz seinen exegetischen Zugang zurecht als „profoundly rhetorical“ bezeichnet.163 Die biblische elocutio analysierte Cassiodor mit dem textkritischen Instrumentarium des antiken Rhetors und Grammatikers, mit dem er vertraut war.164 Für jeden Psalm klärte er in einem eigenen Abschnitt, der divisio, vor dem Beginn des eigentlichen Kommentars die rhetorische Situation des Psalms: er identifizierte den Sprecher und die Adressaten der Rede und fasste die wichtigsten Inhalte kurz zusammen.165 Den gesamten Kommentar hindurch schenkte er den grammatischen Besonderheiten, den Redefiguren und anderen rhetorischen Techniken im Bibeltext

161 Halporn, Methods of Reference; O’Donnell, Cassiodorus 160 f.; Olsen, Honey of Souls 147– 159. Zum enzyklopädischen Charakter der EP: Holtz, Arti liberali 213–220; Polara, L’enciclopedismo di Cassiodoro; Della Corte, La posizione di Cassiodoro. Zur argumentativen Funktion der enzyklopädischen Exkurse in den Variae siehe Bjornlie, Politics and Tradition 199–202. 162 Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese bes. 218–236; Vessey, Introduction 27–35; Astell, Cassiodorus’s Commentary 39–41; Olsen, Honey of Souls 142–146; zum diesbezüglichen Zusammenhang zwischen Institutiones und EP Pollmann, Re-Appropriation 290–304; Stoppacci, Tra Constantinopoli e Vivarium 116–118; Simonetti, L’expositio psalmorum 130. 163 Astell, Cassiodorus’s Commentary 68; Copeland, Cassiodorus’ Hermeneutics 167. Aus der Fülle an Literatur zur antiken rhetorischen Tradition sei nur auf einführende Werke verwiesen: Kennedy, Art of Rhetoric; ders., New History; Pernot, Rhetoric; Fuhrmann, Antike Rhetorik; Dominik/Hall (ed.), Companion to Roman Rhetoric; Porter (ed.), Handbook of Classical Rhetoric. Für Spätantike und Mittelalter siehe Murphy, Rhetoric in the Middle Ages; van Renswoude, Rhetoric of Free Speech. 164 Siehe dazu auch Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese bes. 40–64 und 189–211; Ceresa-Gastaldo, Contenuto e metodo 64–65; Hahner, Cassiodors Psalmenkommentar 65–71; Irvine, Making of Textual Culture 200 f.; Olsen, Honey of Souls 148–159 und 239–244. Zur Rezeption rhetorischer und grammatischer Schriften in der EP siehe Agosto, Impiego e definizione; Grondeux, À l’école; Stoppacci, Tra Constantinopoli e Vivarium. 165 Zur divisio und ihren Vorbildern siehe Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese 20–38.

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besondere Aufmerksamkeit und erläuterte rhetorische Fachbegriffe für seine Leser.166 Viele der Randzeichen, die er in der zweiten Rezension zur Orientierung des Lesers konzipierte, betrafen Themen wie die Definition von Tropen und Denkfiguren, die Etymologie oder die sprachlichen Besonderheiten der Heiligen Schrift. Mithilfe dieses Randzeichensystems exzerpierten karolingische Leser später das rhetorische Material aus dem Kommentar und stellten es zu einer ars rhetorica zusammen.167 Mit dieser Integration der Rhetorik in die exegetische Praxis schloss Cassiodor an eine breitere Tradition der Bibelauslegung an, die von der rhetorischen Schule und der Grammatikerexegese geprägt war.168 Besonders die theoretische Formulierung dieses Zugangs durch Augustinus, der in De doctrina christiana die Funktion der artes als hermeneutisches Instrumentarium für das Schriftstudium beschrieben hatte, war dafür wesentlich.169 Das System der Randzeichen illustriert eindrucksvoll, wie sehr eine solche Vorgehensweise den Handbuchcharakter der EP verstärken konnte. Trotzdem hat man es dabei keineswegs mit einem rein scholastischen Interesse zu tun. Cassiodor setzte die Rhetorik gezielt zur Interpretation und exegetischen Argumentation ein.170 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist die Rolle der Rhetorik in Cassiodors Kommentar daher auch für das Verständnis der politischen und sozialen Dimensionen seines exegetischen Projektes von großer Bedeutung. Sie kann zugleich Aufschluss über die unterschiedlichen Adressatenkreise der EP geben. „Schon die der Verbreitung nach bedeutendste Rhetorik unserer Geschichte, die des Gebets, mußte sich entgegen den theologischen Positionen des rationalistischen oder voluntaristischen Gottesbegriffes an einen Gott halten, der sich überreden ließ“, schrieb Hans Blumenberg in seiner Anthropologischen Annäherung an die Rhetorik.171 In einem ganz ähnlichen Sinn gebrauchte Cassiodor in der EP die Doppelbedeutung des Begriffes oratio als Gebet und Rede. Ausgehend vom Titulus des Psalms 89, oratio Moysi hominis Dei, beschrieb er den Text als oratio, „durch die der Zorn Gottes aufgehalten wird, Gnade erlangt, die Strafe vermieden und großzügiger Lohn

166 Agosto, Impiego e definizione; Courtès, Figures et tropes; Quacquarelli, Riflessioni. 167 Jeudy, Un relevé carolingien; Copeland, Cassidorus’ Hermeneutics 174, 181. Vgl. auch den oben Anm. 139 zitierten Traktat De schematibus et tropis. 168 Young, Rhetorical Schools; dies., Biblical Exegesis 76–96; Daley, Finding the Right Key 198; Schäublin, Contribution of Rhetorics; ders., Untersuchungen 25–42, 84–123; Procopé, Greek Philosophy; Eden, Hermeneutics 41–65. 169 Aus der umfangreichen Literatur siehe Pollmann, Doctrina christiana bes. 215–244; dies., Augustine’s Hermeneutics; Prestel, Rezeption; Murphy, Rhetoric in the Middle Ages 47–64; zu Cassiodors Rezeption von Augustinus siehe Copeland, Cassiodorus’ Hermeneutics 165 f., 172 f.; Vessey, Introduction 31–35; Olsen, Honey of Souls 152–159. 170 Dies arbeitet vor allem Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese bes. 220–223 heraus; vgl. auch Quacquarelli, Riflessioni und Courtès, Figures et tropes; Copeland, Cassiodorus’ Hermeneutics 172 f. 171 Blumenberg, Anthropologische Annäherung 125. Zur antiken Rhetorik bei Blumenberg Möller, Das distanzierte Leben.

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erworben wird, indem er [Moses] zum Herrn spricht und sich mit dem Richter unterhält.“172 Moses sprach nicht nur als betende Einzelperson, sondern auch als Vermittler zwischen dem sündigen Israel und Gott, den er um Gnade für sein Volk anflehte. Wie im Buch Exodus, wo mehrfach darüber berichtet wird, wie Moses den Zorn der Gottheit gegen Israel abwendete, bemühte er sich auch in diesem Psalm, Gott davon zu überzeugen, „die Gerechtigkeit durch ein wenig Nachsicht zu mäßigen.“173 Cassiodor beschrieb Moses als sehr herausragenden Mann, der nicht nur über besondere Verdienste als Gesetzgeber und spiritueller Anführer seines Volkes verfügte, sondern auch über eine besondere Nähe zum göttlichen Herrscher. Moses hatte Zugang zum secretum Domini und zu den penetralia iudicis, und seine intimen Gespräche mit Gott waren Zeichen der besonderen Ehre und der Freundschaft, die ihn mit der Gottheit verband.174 Den darauffolgenden Psalmentext analysierte Cassiodor als Mischung zwischen Gerichtsrede und Bittgebet und griff dabei gleichermaßen auf das Vokabular der forensischen Rhetorik zurück wie auf die Sprache von Buße und religiöser Devotion. In Cassiodors Exegese zu Ps 89 zeichnet sich eine bemerkenswerte Vermischung zwischen weltlicher und biblischer Rhetorik ab, die für die EP charakteristisch ist. Cassiodors Verständnis des Psalters als einer Sammlung von Reden verband sich auf besondere Weise mit seinem Gebrauch einer speziellen exegetischen Technik, der sogenannten „prosopologischen Exegese“.175 Dieser exegetischen Methode folgend, die besonders in Bezug auf den Psalter bereits gut etabliert war, nahm Cassiodor an, dass die Erzählerstimme, das „Ich“ der einzelnen Psalmen, mit verschiedenen Sprechern identifiziert werden konnte.176 Der Psalmenautor – David – habe manchmal in seinem eigenen Namen gesprochen und sich manchmal in die Person von Christus oder der ecclesia versetzt, oder auch in die verschiedener alttestamentlicher Gestalten, wie eben Moses, Hiob oder Asaph. In der christlichen Psalmenexegese diente diese Methode vor allem dazu, eine christologische Lektüre der Psalmen zu erleichtern, indem die Psalmengebete als Christusworte interpretiert wurden.177 Verschiedene Exegeten vertraten unterschiedliche Auffassungen zur Frage, in welchem Ausmaß die Psalmen christologisch aufzufassen seien, und besonders in der antiochenischen Exegese war die Identifikation anderer Redner oder historischer Sprechersituationen mit Bezug auf 172 EP 89.tit.: oratio […] per quam ira Domini suspenditur, venia procuratur, poena refugitur et praemiorum largitas impetratur, cum Domino loquitur, cum Iudice fabulatur […]. Vgl. dazu Astell, Cassiodorus’s Commentary 62 f.; Heydemann, The Orator as Exegete. 173 EP 89.13: […] ut iustitiam suam aliqua lenitate retemperet. 174 EP 89.tit.; vgl. auch EP 89.7. Siehe zum biblischen Hintergrund z. B. die Fürbitte des Moses in Ex 32.7–14; Num 14.13–19; Dt 9. 20–29. Dazu Schnocks, Moses im Psalter 81–83. 175 Astell, Cassiodorus’s Commentary 68. 176 Rondeau, Les commentaires patristiques; Procopé, Greek Philosophy 473 f.; zu Cassiodor siehe Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese 40–94. Zum antiken Hintergrund dieser Technik Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik § 820–825. 177 Vgl. den Überblick über den Gebrauch der Prosopologie für die trinitarische und christologische Interpretation bei Rondeau, Les commentaires patristiques 2.

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das Alte Testament häufig.178 Cassiodor konnte für diese Frage auch auf die Überlegungen des Augustinus zurückgreifen, dessen Konzeption des totus Christus es ermöglichte, nicht nur Jesus Christus selbst, sondern auch seine membra, die Heiligen oder die gesamte Kirche (sei es im irdischen oder im transzendentalen Sinn) im Psalter zu Wort kommen zu lassen.179 Im Verhältnis zur exegetischen Tradition erscheint Cassiodors Gebrauch der Prosopologie einerseits durch die Systematik bemerkenswert, mit der er sie auch unabhängig von einem christologischen Interesse auf alle Psalmen anwandte. Vor allem aber ist die Verbindung zwischen Prosopologie und rhetorischer Analyse interessant, die Cassiodor mit großer Konsequenz bis in die Details der Textinterpretation verfolgte.180 Das betrifft nicht nur die schon erwähnte Praxis, die Angaben zu Sprecher, Publikum und Themen des Psalms in der divisio am Beginn der Auslegung zusammenzufassen. Ob der Psalmenautor nun in seinem eigenen Namen oder ex persona aliena sprach – sehr häufig verhielt er sich dabei wie ein Redner.181 Dementsprechend analysierte Cassiodor bisweilen die Gliederung ganzer Psalmen nach dem Muster der klassischen Rede. Ps 6 etwa, einen Bußpsalm, teilte Cassiodor in exordium, narratio, correctio (anstelle der traditionellen probatio) und conclusio.182 Von den drei Typen von Reden, wie sie die rhetorischen Handbücher definierten – epideiktische Rede (genus demonstrativum), politische Rede (genus deliberativum), und Gerichtsrede (genus iudiciale) – war im Psalter das genus demonstrativum naturgemäß am häufigsten und zielte zumeist auf das Gotteslob.183 Die Bußpsalmen, aber auch manche Klagepsalmen, las Cassiodor als forensische Reden und verglich sie mit der Rhetorik des Gerichtssaales. Selten, aber doch, fand er auch Beispiele für die klassische Beratungsrede, das genus deliberativum.184 Welche Konsequenzen hat es für das Verständnis der Psalmen, wenn der Psalmist sich wie ein Redner verhält? Zweifellos verändert dieser Ansatz der Interpretation die Wahrnehmung der Psalmen und ihrer Wirkung auf Hörer oder Leser, wie Ann Astell betont hat. Er verstärkt die soziale und politische Botschaft und die performative Di-

178 Rondeau, Les commentaires patristiques 2, 275–321. 179 Fiedrowicz, Psalmus bes. 234–378; vgl. Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese 64–73 zu Cassiodors Rezeption von Augustinus. 180 Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese 90–93 und siehe ebda. 74–88 zu den theologischen Implikationen. 181 Astell, Cassiodorus’s Commentary. 182 EP 6.div.; weitere Beispiele: EP 31.div.; 37.div.; 101.div.; vgl. Astell, Cassiodorus’s Commentary 57 f.; Copeland, Cassiodorus’ Hermeneutics 169. 183 Zu den Beispielen für diese Redegattung gehören Cassiodor zufolge u. a. Ps 28, 32, 35, 51, 86, 88, 92, 95, 113, 134. Vgl. zu den drei genera und ihrer Behandlung durch Cassiodor Astell, Cassiodorus’s Commentary 43–62; Copeland, Cassiodorus’ Hermeneutics 169 f.; Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese 205–211; zur klassischen Tradition Kennedy, Art of Rhetoric 7–23. 184 Psalmen als forensische Reden: EP 6; 31; 37; 50; 101; 102; 129; 142; Beratungsreden: EP 2; 72; 76.

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mension der Psalmen.185 Cassiodor näherte sich den Psalmen vor dem Hintergrund seiner jahrelangen Erfahrung als Rhetor im Dienst der Politik, der über ein feines Gespür im Umgang mit der Sprache und ihren Effekten verfügte. Um ein genaueres Bild davon zu bekommen, wie Cassiodors rhetorische Praxis seinen exegetischen Zugang prägte, ist ein Blick auf die Rolle der Rhetorik in Cassiodors politischem Denken nützlich, wie sie sich in den Variae abzeichnet. Rhetorik und Politik in den Variae Andrea Giardina hat zu Recht darauf hingewiesen, wie bedeutsam die rhetorische Dimension für das Verständnis der Variae und ihrer Intentionen ist.186 Die ältere Forschung hat dieses Thema meist recht einseitig diskutiert. Die rhetorische Stilisierung der Variae wurde dazu genutzt, die Sammlung entweder als wirklichkeitsferne Propaganda zu verwerfen oder aber den intellektuellen Anteil Cassiodors am politischen Programm im Ostgotenreich auf die bloße Verschriftlichung und rhetorische Stilisierung von königlichen Entscheidungen zu reduzieren.187 Dagegen betont Giardina, dass die rhetorische Ausgestaltung der Dokumente in den Variae selbst eine politische Funktion erfüllte. Ein wesentlicher Teil der Texte wurde von Cassiodor in Ausübung seiner Funktion als Quästor abgefasst – seine Konzeption dieses Amtes, wie sie in verschiedenen Briefen der Variae zutage tritt, ist daher in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich.188 Der Quästor war am ostgotischen Hof in imperialer Tradition als rechtskundiger Berater des Königs tätig und für den offiziellen juristischen und administrativen Schriftverkehr zuständig; er fungierte als Sprachrohr des Königs.189 Im Namen der ostgotischen Herrscher übermittelte Cassiodor Entscheidungen in juristischen oder administrati185 Astell, Cassiodorus’s Commentary 68. 186 Giardina, Cassiodoro politico 31–39; Gioanni, La langue de „pourpre“. 187 Rezente Argumentation gegen eine politische Absicht der Variae: Gillett, Purpose. O’Donnell, Cassiodorus 68 f. spricht (im Zusammenhang mit der Diskussion des apologetischen Charakters der Variae) von „literary vanity“ und beurteilt sowohl die politische Bedeutung als auch die literarische Qualität des Textes verächtlich: „it is certain that in the end the weakness of the kingdom did in fact come to reflect the weakness of the language in which it was extolled“ (ebda. 100). Zur älteren, auch durch die jeweilige nationale Agenda geprägten Diskussion um die Bedeutung der Variae siehe die Bemerkungen bei Giardina, Cassiodoro politico 7–12, 15–22. 188 Dies betrifft die Bücher 1–4. Siehe Krautschick, Cassiodor 48, 107–117; Gatzka, Variae 6, 7 f. 189 Cassiod. var. 6.5.1. Zur Bedeutung dieses Textes für die Interpretation des Gesamtwerkes siehe Giardina, Cassiodoro politico 32; Petrini, Cassiodoro: Varie 6.5, 128–132; siehe den Kommentar zur deutschen Übersetzung bei Gatzka, Cassiodor Variae 6, 109–119. Vgl. auch Cassiod. var. 5.3–4, 8.13–14, 8.18–19 und 10.6–7, die an Quästoren gerichtet sind. Zum Quästorenamt siehe Barnwell, Emperor 145–147; Maier, Amtsträger 139 f.; Petrini, Cassiodoro: Var. 6.5, 132 mit weiterführender Literatur; für das östliche Reich Honoré, Tribonian; zur spätantiken Tradition Harries, Law and Empire 42–47.

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ven Fragen an königliche Beamte oder verfasste die Korrespondenz mit dem römischen Senat, dem Kaiser oder anderen benachbarten Herrschern. Cassiodor charakterisierte den Quästor vor allem als orator; seine Aufgabe definierte er vorrangig als eine rhetorische. Der antiken Theorie folgend bestand sie im graviter et ornate dicere zum Zweck der Überzeugung (persuasio). Von den klassischen drei officia der Rhetorik (probare, delectare, movere) hob Cassiodor vor allem das letztere, animos commovere, hervor. Der Quästor warb um Zustimmung und Akzeptanz für die Beschlüsse und die Politik des Königs bei der Bevölkerung des Reiches; seine Bemühungen zielten darauf ab, staatliche Zwangsgewalt durch freiwilligen Konsens zu ersetzen.190 Wenn Cassiodor – sei es als Quästor oder in anderen offiziellen Funktionen am ostgotischen Hof – also die herrscherlichen Entscheidungen in eine angemessene rechtliche und sprachliche Form brachte, erfüllte er eine wichtige politische Aufgabe. Er trug zu ihrer Akzeptanz und Durchsetzung, und damit zur Regierungsfähigkeit des Königs bei. In Ausübung seines Amtes war der Quästor Cassiodor zufolge derjenige, „der die öffentlichen Belange durch gewählte Umsetzung zu einer günstigen Meinung führte“ – so schrieb er über Felix, der dieses Amt ausübte, als Cassiodor selbst die Prätorianerpräfektur bekleidete.191 Dieses Verständnis der politischen Funktionen von Rhetorik erinnert stark an die Konzeption der Rhetorik als Staatskunst bei Cicero, auf den sich Cassiodor in den Variae auch ausdrücklich berief.192 In seinen Texten formulierte Cassiodor einen Anspruch auf Kontinuität mit der römischen rhetorischen Kultur in ihrer spätantiken Weiterentwicklung, die gleichzeitig auch eine spezifisch politische Kultur war.193 In dem kurzen Abschnitt zur Rhetorik als Teil der artes liberales in den Institutiones konzentrierte sich Cassiodor zwar auf die technischen Aspekte der Redekunst und hier vor allem auf die Theorie der forensischen Argumentation.194 Seine Definition der Rhetorik als „Kenntnis, in staatsbürgerlichen Angelegenheiten gut zu sprechen“ (bene dicendi scientia in civilis quaestionibus) hob jedoch im Anschluss an Quintilian und Fortunatian auch auf die rechtlichen und politischen Aspekte der rhetorischen Praxis ab.195 „Was gibt es Besseres, als dass die Bevölkerung unter dem Gebot der Gerechtigkeit zu leben bestrebt 190 Cassiod. var. 6.5.3. Gatzka, Cassiodor Variae 6, 113 mit Anm. 19 verweist auf ein Zitat aus Cic. orat. 1.30. 191 Cassiod. var. praef. zu Buch 11.5: […] qui necessitates publicas eleganter implendo ad favorabilem opinionem […] perduxit; Giardina, Cassiodoro politico 43 spricht vom Königsamt als „potere incompiuto“, das der Komplettierung durch den Quästor bedarf. 192 Cassiod. var. praef. zu Buch 11.8: Cicero als fons eloquentiae; vgl. auch 6.5.3 (Cic. de orat. zitierend). 193 In den Institutiones verankerte sich Cassiodor in einer lateinischen rhetorischen Tradition, die vor allem von Cicero und Quintilian geprägt war: Cassiod. inst., praef. zu Buch 2.4. Vgl. auch 2.2.10 (Cicero als Latinae eloquentiae lumen eximium). 194 Siehe dazu Vessey, Introduction 27–30 und 71 f.; Holtz, Échos de l’enseignement; Halporn, After the Schools 54 f.; Murphy, Rhetoric in the Middle Ages 64–67. 195 Cassiod. inst. 2.2.1. Vgl. Quint. inst. 2.15.33–38. Die Definition der civiles quaestiones übernahm Cassiodor von Fortunatian. Wie Holtz, Échos de l’enseignement 307 f. beobachtet, modifizierte er sie

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ist, sodass die Zusammenkunft vieler eine Verbindung von belehrbaren Willen sei?“, fragte Cassiodor in den Variae, in einem Schreiben an den saio Duda, unter Anspielung auf die ciceronische Definition der res publica.196 Die rechtliche und politische Ordnung der res publica war für Cassiodor wie für Cicero nicht zuletzt rhetorisch begründet; der gesellschaftliche Nutzen der Rhetorik bestand in der Herstellung von Konsens über diese Ordnung.197 Die Rhetorik war unmittelbar mit der Aufrechterhaltung nicht nur von rechtlichen, sondern auch von ethischen Standards verbunden und bildete damit einen wesentlichen Faktor für die legitime Ausübung von Herrschaft. Der Quästor sollte Cassiodor zufolge seine Überzeugungskraft dazu nutzen, um der Bevölkerung und den königlichen Beamten, an die er sich wendete, moralische Orientierung zu geben und sie zur Veränderung von schlechten Verhaltensweisen zu bewegen. Er arbeitete also nicht nur für die Durchsetzung königlicher Machtansprüche, sondern gleichzeitig auch für eine gerechte gesellschaftliche Ordnung: Der Quästor sei „jener, der als Mund des Herrschers bekanntlich die Leute ermahnt, sodass sie das Richtige lieben, das Verkehrte verurteilen, die Guten ohne Unterlass loben, die Schlechten energisch anklagen“.198 Mit der Figur dieses ciceronischen Rhetor-Staatsmanns waren daher hohe moralische Anforderungen verbunden.199 Diese Ansprüche – und ihre vorbildhafte Erfüllung – skizzierte Cassiodor in den Variae vor allem anhand seiner eigenen Person. So legte er dem König Athalarich angesichts seiner Bestellung zum Prätorianerpräfekten hohes Lob auf seine eigene Beredsamkeit und Rechtskenntnis in den Mund.200 Athalarich unterstrich die Integrität von Cassiodors Amtsführung und lobte seine politischen Tugenden wie moderatio, benevolentia, iustitia und prudentia. Dass Cassiodor tatsächlich über die Kombination aus rhetorischen Fähigkeiten und einem tugendhaften Charakter verfügte, sollten die Leser der Variae aber, indem er sie mit der Frage nach der Gerechtigkeit und dem Guten verband und so moralisierte. 196 Cassiod. var. 4.33.1: Quid enim melius quam plebem sub praecepto degere velle iustitiae, ut conventus multorum disciplinabilium sit adunatio voluntatum? Vgl. Ciceros Definition des populus innerhalb der res publica in Cic. rep. 1.25 (39) als coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus. Siehe Reydellet, La royauté 186 f., 205; Krakridi, Cassiodors Variae 327 f.; vgl. auch unten Kap. 4.1. 197 Siehe Ciceros Argumente für die Notwendigkeit der Rhetorik zur Herstellung von sozialem Konsens: Cic. inv. 1.1–3. Siehe dazu Pernot, Rhetoric 111 f.; Möller, Ciceros Rhetorik 71–73; May, Cicero as Rhetorician; Alexander, Oratory 99–108. Ausführlich zur ciceronischen Konzeption der Rhetorik als Staatskunst siehe Fantham, Roman World bes. 209–236; Connolly, State of Speech; Steel, Cicero. 198 Cassiod. var. 6.5.3: qui ore principis populos noscitur ammonere, ut recta diligant, perversa contemnant, bonos sine fine laudent, pessimos vehementer accusent. Vgl. auch var. praef.10: mores pravos regis auctoritate recorrigis […] timorem legibus reddis. Zum Quästor als custos legum und promissor conservandae iustitiae: var. 8.14.2. 199 Für Cicero siehe Narducci, Orator; Fantham, Roman World 305–326; Steel, Cicero 162–225; Pernot, Rhetoric 115–117. Zu Quintilians Ideal des Redners als vir bonus dicendi peritus siehe ebda. 159–163; Walzer, Quintilian’s vir bonus; Winterbottom, Quintilian. 200 Cassiod. var. 9.24 und 9.25. Vgl. auch 11.praef. 5 und 8.4 zu den Quästoren Felix und Ambrosius.

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auch unmittelbar anhand der von ihm in Ausübung seiner Amtstätigkeit verfassten Texte nachvollziehen. Schließlich galt in Cassiodors Verständnis, dass die Rede ein Spiegel der Seele war: „Es kann kaum eine Rede gefunden werden, die von den Sitten abweicht“.201 In den Variae bildet die Rhetorik Teil des traditionellen Selbstverständnisses der spätantiken politischen Elite, an das Cassiodor anzuschließen bemüht war. Im Rahmen dieser politischen Kultur in römisch-imperialer Tradition war die legitime Herrschaft an den Verhaltenscode einer gebildeten Oberschicht und an das Ethos des Amtsträgers gebunden.202 Peter Brown hat den Verhaltenscode und die Regeln für politische Kommunikation, die mit dieser rhetorischen Kultur einhergingen, eindrucksvoll beschrieben. Ihre ungebrochene Bedeutung in der spätantiken Welt bestand in ihrer Funktion, der autokratischen Macht im römischen Imperium ein gewisses Maß an Kontrolle und Vorhersehbarkeit entgegenzusetzen und so dafür zu sorgen, dass sich die Ausübung von Regierungsgewalt nicht außerhalb bestimmter akzeptierter Normen bewegen würde.203 Genau diese Botschaft versuchte Cassiodor seinen Lesern in den Variae durch die Demonstration der gelungenen Verbindung von Rhetorik und politischem Ethos zu vermitteln.204 In seinem Verständnis von Rhetorik war die Fähigkeit zu überzeugen in einem positiven Sinn moralisch begründet und eng an den Inhalt der Rede und die Integrität des Sprechers gebunden. Politische und soziale Tugenden, Recht und Gerechtigkeit, waren ganz wesentlich rhetorisch vermittelt, sowohl durch die rhetorische Ausbildung als auch durch die rhetorische Praxis. Dazu kommt noch ein weiterer Aspekt: diese rhetorische Praxis war zunehmend auch eine christliche Praxis.205 Der Moralcode des Amtsträgers, den Cassiodor in den Variae vorschlug, folgte daher nicht zufällig auch biblischen Modellen.206 Die Grundlage für Cassiodors eigene moralische Bildung war nach eigenem Bekunden die lectio divina, die Lektüre der Heiligen Schrift.207 Samuel Barnish hat mit Blick auf die in den Variae entwickelte christliche

201 Cassiod. var. praef.10: oratio dispar moribus vix potest inveniri. 202 Zum Tugendideal der aristokratischen Beamtenschaft, wie es von Cassiodor in den Variae propagiert, aber auch bei zeitgenössischen Autoren wie Ennodius greifbar wird, siehe Kakridi, Cassiodors Variae 360–373; Troncarelli, L’ordo generis 131–134; Vitiello, „Nourished at the Breast of Rome“. 203 Brown, Power and Persuasion 41–61. 204 Reydellet, La royauté 207: „la rhétorique […] transforme la politique en une éthique“. Vgl. Giardina, Cassiodoro politico bes. 39–43; Bjornlie, Politics and Tradition bes. 185–253 sieht diese Botschaft vor allem an Justinian bzw. seinen bürokratischen Stab gerichtet, wobei Cassiodor an ein gemeinsames Amtsethos appelliert habe. Siehe ebda. 283–305 für eine Analyse von De Anima als „hermeneutic of good governance“. Vgl. oben Anm. 43. 205 Brown, Power and Persuasion 118–158; Cameron, Christianity bes. 82–88, 120–141, 190–208. 206 Barnish, Roman Responses 14 f.; Reydellet, La royauté 230 f.; Troncarelli, L’ordo generis 132. 207 Cassiod. var. 9.25.11: hos igitur mores lectio divina solidavit. Siehe auch var. 10.16.2.

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Ethik von deren „homiletischer Qualität“ gesprochen und die einzelnen Texte mit christlichen Predigten verglichen.208 Mit dieser Zugangsweise konnte Cassiodor auch an eine Tradition der christlichen Aneignung von Rhetorik als politischer und kultureller Technik anknüpfen, die durch Denker wie Ambrosius oder Augustinus geprägt war. Augustinus’ Rezeption von Cicero in De civitate Dei war ebenfalls von der Anerkennung der grundlegenden Bedeutung der Rhetorik für die Etablierung von gesellschaftlichem Konsens geprägt. Seine Ausarbeitung einer christlichen Alternative zu römischen Modellen von Gemeinwesen und politischer Tugend und die christliche Umarbeitung der Rhetorik bedingten einander gegenseitig.209 Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die Rhetorik bei Cassiodor als Symbol für civilitas und als Maßstab für die Qualität von Herrschaft erscheint: für einen guten princeps, behauptete Cassiodor, besaß öffentliches Lob größere Bedeutung als die Einhebung von Steuern.210 Im Fall der gotischen Herrscher konnte die Kontinuität mit dieser kulturellen Tradition auch die romanitas des Regimes in Abgrenzung zu barbarischer Herrschaft signalisieren. In diesem Sinn schrieb Cassiodor im Namen Athalarichs an den römischen Senat über die Bedeutung von Grammatik und Rhetorik: Die Barbarenkönige haben keine Verwendung für sie: man weiß, dass sie nur bei rechtmäßigen Herren besteht. Waffen und das Übrige haben auch die gentes; allein die Beredsamkeit wird gefunden, die den römischen Herrschern zu Eigen ist.211

Während die politische Arbeit des Redners bei Cicero auf den Konsens zwischen Senat und populus und auf die Eintracht aller Stände innerhalb der römischen Gesellschaft zielte, sollte sie bei Cassiodor in besonderer Weise einen Ausgleich zwischen gotischen Eliten und römischer Aristokratie vermitteln. So wollte Cassiodor auch seine eigene politische Tätigkeit verstanden wissen. Dies zeigen die beiden schon erwähnten Briefe Athalarichs, in denen er Cassiodors Erhebung zum Prätorianerpräfekten ankündigte und seine vergangenen Verdienste beschrieb.212 Hier erscheint Cassiodor als enger Berater des Königs, als internus procerus und iudex familiaris, der sich durch 208 Barnish, Sacred Texts 360; vgl. Humphries with Gwynn, Sacred and the Secular 501 f. 209 Dodaro, Christ and the Just Society; Tornau, Zwischen Rhetorik und Philosophie bes. 204– 340. Corradini, Ankunft der Zukunft. Erinnert sei auch an Ambrosius’ Traktat De officiis, das Ciceros politisches Ideal auf christliche Amtsträger übertrug: Davidson, Ambrose’s De Officiis. 210 Cassiod. var. 9.25.3. 211 Cassiod. var. 9.21.4: hac [grammatica, GH] non utuntur barbari reges: apud legales dominos manere cognoscitur singularis. Arma enim et reliqua gentes habent: sola reperitur eloquentia, quae Romanorum dominis obsecundat; var. 11.1.30–32, wo Amalasuntha attische Beredsamkeit zugeschrieben wird. Vgl. Dazu Polara, Cassiodoro Var. 9.21; Kaster, Guardians of Language 89; Irvine, Making of Textual Culture 197 f. 212 Zu Cassiodors „posture“ in diesem Schreiben und den politischen Implikationen Vitiello, Cassiodorus Anti-Boethius 461–479; Troncarelli, L’ordo generis 131 f.; Bjornlie, Politics and Tradition 306–311; Giardina, Cassiodoro, Var. 9.24–25.

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Klugheit und Treue (fides) auszeichnete ebenso wie durch ein sicheres Urteil und eine untadelige Amtsführung.213 Im Brief an den Senat war es die kulturelle Vermittlung durch die Rhetorik, die eine wechselseitige Annäherung und Verständigung zwischen gotischen Herrschern und senatorischer Elite ermöglichte: „indem er seinem Hörer purpurumhüllte Lobreden lieh, machte er unsere Herrschaft für Euch wohlgefällig“.214 Cassiodor steigerte die Wertschätzung und das Vertrauen des Königs gegenüber der senatorischen Elite, während er umgekehrt die gotische Herrschaft in deren Augen akzeptabel erscheinen ließ: „jener, der durch seine gefällige Rede die königliche Hoheit milde stimmt, empfiehlt sein Volk (gens), weil man glaubt, dass es noch eine weitere solche Person unter Euch gibt, von der Ähnliches erbeten werden kann.“215 In diesem Sinn war auch seine historiographische Integration der Goten in die römische Geschichte eine rhetorische Leistung, die für die Senatoren ebenso großen Nutzen hatte wie für die Gotenkönige selbst.216 Biblische und profane Rhetorik: Die Psalmen als Reden In den Variae zeichnet sich also ein profundes Verständnis von der Wirkmacht der Sprache und der Bedeutung der Rhetorik für die Verhandlung von Identitätsentwürfen und Konzepten gesellschaftlicher Ordnung ab. Im Vergleich mit den Variae lässt sich das Zusammentreffen zwischen der menschlichen Überzeugungskraft und der biblischen Sprache in der EP in seinen Effekten beschreiben. Dieses Zusammentreffen ist über weite Strecken durch den Versuch Cassiodors bestimmt, das Verhältnis zwischen biblischer und profaner Rhetorik zu bestimmen und Ähnlichkeiten und Unterschiede auszuloten.217 Wenn Cassiodor einzelne Psalmen als formale Reden analysierte, so orientierte er sich für diese Analyse an den klassischen Modellen und den damit verbundenen Normen und Begrifflichkeiten der weltlichen Rhetorik. So war für die Bußpsalmen der Standard und die Begrifflichkeit der Gerichtsrede der Ausgangspunkt für die Interpretation.218 Cassiodor beobachtete beispielsweise, wie der Psalmist im exordium versuch-

213 Cassiod. var. 9.24.8. 214 Cassiod. var. 9.25.2: […] dum purpuratas auditori suo fenerat laudes, gratiosum vobis nostrum fecit imperium. 215 Cassiod. var. 9.25.2: commendat enim suam gentem, qui oratione placabili permulcet regiam summitatem, quando ex vobis et alter talis creditur, a quo similia postulentur. 216 Cassiod. var. 9.25.6. Vgl. Reimitz, Historian as a Cultural Broker; Giardina, Cassiodoro politico 37 f.; ders., Cassiodoro, Var. 9.24–25, S. 393 f.; van Hoof/van Nuffelen, Fragmentary Histories 210–217. 217 Vgl. Astell, Cassiodorus’s Commentary 40. 218 Zu den „forensischen“ Psalmen bei Cassiodor siehe Astell, Cassiodorus’s Commentary 52–62; Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese 206–210 und unten Kap. 2.4.

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te, das Wohlwollen des göttlichen Richters zu erlangen oder seinem Plädoyer durch den Einsatz von rhetorischen Figuren besonderes Pathos und größere Effektivität zu verleihen.219 In Ps 101 bediente sich der Sprecher der exaggeratio, um sein Publikum für sich zu gewinnen, und seine Darstellung der Sachlage beschrieb Cassiodor als tränenreiche Erzählung, die sich schließlich zum clamor steigerte; in Ps 31 war die conclusio des Sprechers eine effektvolle Mischung aus angstvollem Straucheln und Hoffnung auf das Gute.220 Cassiodor registrierte den argumentativen Gebrauch von rhetorischen Figuren wie der Metapher oder der Steigerung sowie die Argumente, die ein mildes Urteil oder Vergebung bewirken sollten.221 In den Bibelversen entdeckte er Argumentationsmuster, wie sie unter Advokaten verwendet wurden, die er mit dem Vokabular der Handbücher beschrieb: So erläuterte er zum Beispiel das argumentum a tempore (EP 101.14), a uictu (6.9), a consequentibus (11.2), a necessitate (31.4), a laude rei laesae (73.2) oder a laude iudicis (89.16). Analog zur weltlichen Rhetorik richtete sich auch die Argumentation in den Psalmen nach dem Charakter desjenigen, an den die Bitte adressiert war (101.2). Wenn Cassiodor sich darum bemühte, die Kontaktpunkte zwischen weltlicher und biblischer Rhetorik herauszuarbeiten, so auch mit dem Ziel, die größere Effektivität der letzteren zu illustrieren. Im Vorwort zum Psalmenkommentar reflektierte Cassiodor über die eloquentia der Bibel als „würdige Rede, die einer jeden Sache angemessen“ sei und sich durch besondere Wahrhaftigkeit und Nützlichkeit auszeichne. Ihren Zweck definierte er mithilfe eines Zitats aus dem Timotheus-Brief als eminent rhetorischen: „zum Lehren, zum Widerlegen, zum Berichtigen, zum Erziehen in der Disziplin, die der Gerechtigkeit eigen ist, damit der Mensch Gottes vollkommen sei, unterwiesen für jedes gute Werk (2 Tim 3.16 f.).222 In den Institutiones beschrieb Cassiodor ebenfalls die besondere Kraft der Heiligen Schrift, die sich nicht nur durch größere Wahrhaftigkeit von ihrem weltlichen Gegenpart unterscheide. Vor aller menschlichen Überredungskunst zeichnete sie sich nach Cassiodor dadurch aus, dass ihre Wirkung auf die Zuhörer unmittelbar und absolut verlässlich eintrat:

219 Vgl. z. B. EP 6.7; 101.4–5; 31.2. 220 EP 101.div. (flebilis nimis et dolenda narratio); 101.1 (clamor); 101.4 (exaggeratio); 31.7. 221 Metapher: EP 31.6; Steigerung: 73.4 (epembasis); 73.7 (auxesis); vgl. dazu Quacquarelli, L’epèmbasi und die ausführliche Diskussion der verschiedenen Redefiguren bei Agosto, Impiego e definizione. 222 EP praef.15: Eloquentia siquidem est ad unamquamque rem competens et decora locutio […]. Daran schloss Cassiodor ein Zitat von 2 Tim 3.16: Omnis scriptura diuinitus inspirata utilis est ad docendum, ad arguendum, ad erudiendum, ad corrigendum in disciplina quae est iustitiae, ut perfectus sit homo Dei ad omne opus bonum instructus. Vgl. Übers. Vulg., von deren Text Cassiodor hier leicht abweicht. Zur Rolle der Rhetorik bei Paulus Kennedy, New Testament Interpretation; ders., New History 257–260; Lampe/Sampley (ed.), Paul and Rhetoric; Porter/Dyer (ed.), Paul and Ancient Rhetoric; Schmeller, Dissimulatio artis?.

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Der ganze Text ist gewaltig; kein Wort darin gehaltlos. Die verheißene Wirkung gewährt er ungesäumt und spendet den Gehorsamen das ewige Heil, den Hoffärtigen die ewige Verdammnis. Wir sind daher aufgefordert, den Text nicht nur zu hören, sondern auch durch Taten zu erfüllen.223

Das suchte Cassiodor auch durch die praktische Analyse einzelner Psalmen zu bestätigen. In den Gerichtsreden des Psalters wurde die Anklage aus Hochmut gegen ein demütiges Bekenntnis getauscht; ihre Sprache war von größerer Abgewogenheit, Einfachheit und Reinheit geprägt. Hier sprachen die Tatsachen für sich und bedurften nicht der Zurechtbiegung durch rhetorischen Schmuck – plus clamat causa quam lingua.224 Das bloße Versprechen des Redners, sein Wort, genügte daher ganz ohne Beweise, um den gewünschten Effekt beim Zuhörer zu bewirken, nämlich Gottes Vergebung.225 Im Titulus und im Schlusswort zu Ps 101 näherte Cassiodor das Gebet vor Gott an einen Panegyricus vor einem Herrscher an, wodurch dem Herren ein Geschenk der Seele dargebracht werde, kostbarer als alles Gold und jeder Edelstein.226 Im Vergleich mit der Rede des machtlosen pauper in den Psalmen, die nicht auf diesseitigen Nutzen ausgerichtet war, schien die von bedeutenden Männern, Juristen und Höflingen gehaltene leer und sinnlos: Man mag sie Königreiche nennen, doch sie sind unbedeutend; man mag den Purpur loben, aber dieser verunreinigt häufig jene, die ihn tragen. Siehe, die Welt wird in Windeln besiegt, der Teufel durch Klagen überwunden, und jener, für den keine noch so starke Truppenmacht zum Besiegen genügt, wird durch das Gebet eines einzelnen pauper gebeugt.227

Cassiodor wog hier die beiden Felder, mit denen er gleichermaßen vertraut war, gegeneinander ab, möglicherweise nicht ohne einen nachdenklichen Blick zurück. Zwischen den beiden Rhetoriken bestand eine qualitative Differenz, derer sich Cassiodor sehr bewusst war. Wenn er trotzdem ihre Kontaktpunkte und Ähnlichkeiten hervorhob, dann vielleicht in der Hoffnung, die beiden schrittweise einander anzunähern, und durch die biblisch-christliche Rhetorik eine kritische Perspektive auf die welt-

223 Cassiod. inst. 1.16.2: Lectio cuncta virtutum est, verbum non inaniter cadens, nec tardat effectus quod promittit affatus, oboedientibus conferens aeternam salutem, superbis restituens perenne supplicium. Atque ideo eam non solum audire sed implere sanctis operibus commonemur (Übers. Bürsgens). 224 EP 31.5. 225 EP 31.5. 226 EP 101.tit. und concl. 227 EP 101.concl.: Regna dicantur, exigua sunt; purpurae laudentur, frequenter utentibus sorduerunt. Ecce in pannis uincitur mundus, diabolus plorando superatur; et cui nullae cohortes ad repugnandum sufficiunt, oratione unius pauperis inclinatur.

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liche zu entwickeln.228 Die Bibel fungierte für Cassiodor zumindest als theoretische Ressource für eine alternative Rhetorik, oder anders gewendet, eine christliche Weiterentwicklung der klassischen Rhetorik – ein Projekt, das vor ihm Augustinus in De doctrina christiana entworfen hatte. Augustinus konzipierte eine Rhetorik, die auf die christlichen Ziele der Schriftinterpretation und der Vermittlung durch die Predigt ausgerichtet war.229 Wie bei Augustinus bildete auch bei Cassiodor die biblische eloquentia den Fluchtpunkt, da hier in der Kommunikation Gottes mit dem Menschen die größtmögliche Übereinstimmung zwischen Worten und Wahrheit erreicht werde. Auch für die christliche Aneignung der forensischen Rhetorik konnte Cassiodor bei Augustinus Vorbilder finden. In Sermo 52 verhandelte Augustinus Fragen der Trinitätslehre vor einem imaginären Gericht, wobei er geschickt mit der Terminologie und dem Aufbau der Gerichtsrede spielte.230 In der Enarratio zu Ps 136 findet sich Kritik an der weltlichen Ausrichtung und dem Machtstreben der Advokaten, die der von Cassiodor in der EP formulierten nicht ganz unähnlich ist.231 Wie Cassiodor entwarf Augustinus im Gegenzug das Ideal eines christlichen Redners, dessen Zugang zur Rhetorik von Wahrheitsstreben und humilitas geprägt sein sollte.232 Rhetorik und Identität: Das Identifikationspotential der Psalmen In Cassiodors Exegese wurden die biblischen Redner selbst zu Identifikationsfiguren stilisiert; dies werden wir in Kapitel 2.4 anhand des Psalmensprechers Asaph genauer untersuchen. Auch dabei lässt sich eine wesentliche Verschiebung im Verhältnis zur weltlichen Rhetorik ausmachen, wie der oben angesprochene Vergleich der Rede des pauper mit einem Panegyricus zeigt.233 Der pauper fungierte nicht nur als Gegenbild zu den purpurtragenden Mächtigen dieser Welt, die über andere herrschen und ihre Feinde mit Waffengewalt besiegen. Er bildete auch einen Gegenentwurf zum traditionellen Bild des Redners, denn er verfügte weder über eine gehobene soziale Stellung noch über eine elitäre Bildung: jedoch war er ein Experte für das göttliche Recht. Seine Redekunst war nicht auf das Diesseits gerichtet – er trug Auseinandersetzungen 228 Vgl. dazu auch die Kritik am Einsatz der Rhetorik vor weltlichen Gerichten in EP 31.7; dazu auch unten Kap. 2.4. 229 Siehe Pollmann, Doctrina christiana 225–241; Gemeinhardt, Das lateinische Christentum 320–349 (337–349 zu Augustinus); Prestel, Rezeption bes. 223–278; Young, Biblical Exegesis 270–277; Murphy, Rhetoric in the Middle Ages 57–64. 230 Aug. s. 52. Vgl. dazu Humfress, Orthodoxy and the Courts 189–193; Tornau, Zwischen Rhetorik und Philosophie 341–409, der zeigt, wie stark auch De civitate Dei in Argumentationsweise und Aufbau den Techniken der forensischen Rhetorik entspricht und ciceronischen Vorbildern folgt. 231 Aug. En.Ps. 136.3. 232 Siehe z. B. Aug. s. Dolbeau 26 (Mainz 62) 60 (= s. 197.2). Vgl. Gemeinhardt, Das lateinische Christentum 335. 233 Vgl. oben Anm. 227 zu EP 101.

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nicht mit anderen Streitparteien, sondern mit dem eigenen Selbst aus, er rang nicht um eine materielle Erbschaft, sondern um eine spirituelle, verteidigte sich auf paradoxe Weise ohne Verteidigung, machtlos, aber mächtiger als alle regna der Welt.234 Ob Cassiodor damit das Potential des Christentums zur sozialen Öffnung der Rhetorik im Auge hatte oder mit einer mittlerweile vertrauten „rhetoric of paradox“ spielte, mag dahingestellt bleiben.235 Überlegungen zur christlichen Umgestaltung rhetorischer Traditionen waren aber im 6. Jahrhundert auch keine rein theoretische Übung; die Frage nach Kontaktpunkten und Konkurrenz zwischen christlicher und profaner Rhetorik blieb angesichts von Entwicklungen wie der zunehmenden Einbindung der Bischöfe in die Rechtssprechung und der steigenden Bedeutung christlicher Maßstäbe in der Rechtspraxis aktuell.236 Jedenfalls bildete auch die Stilisierung von Figuren wie Moses zum idealen Rhetor eine Umkehrung herkömmlicher Annahmen und entbehrte nicht einer gewissen Ironie, wenn man bedenkt, dass Moses im Buch Exodus die Berufung durch Gott mit dem Hinweis abzulehnen versucht, er sei ein schlechter Redner (Ex 3.10). Doch Moses war in Cassiodors Beschreibung ein mächtiger Mann und eine charismatische Führungspersönlichkeit, die für die Geschicke des israelitischen Volkes verantwortlich war. Der Erfolg seiner Tätigkeit beruhte nicht nur auf seinen rhetorischen Fähigkeiten, sondern auch auf seiner sicheren Urteilskraft, und das auch unter widrigen Umständen oder in bedrohlichen Situationen.237 Vor allem aber verfügte er über große Erfahrung im Umgang mit einer verärgerten Gottheit und erfüllte daher seine wichtigste Aufgabe hervorragend: die des Vermittlers zwischen Gott und Israel. In dieser Vermittlungsund Kommunikationsfunktion wurde er zur besonderen Identifikationsfigur für den Exegeten, der dieselbe Funktion für seine christliche Gemeinschaft übernahm.238 Die Verbindung aus prosopologischer und rhetorischer Exegese eröffnete für Cassiodor einen Spielraum der Reflexion über die rhetorische Praxis und ihre sozialen Auswirkungen; darin liegt ein wichtiger Aspekt der Kontinuität zwischen der EP und den Variae. Das Identifikationspotential der Psalmen betraf aber keineswegs nur die Figur

234 EP 101.concl. 235 „Rhetoric of paradox“: Cameron, Christianity and the Rhetoric 155. Mit Bezug auf den pauper hat Brown, Poverty and Leadership 79–97, betont, dass die alttestamentliche Vorstellung von den pauperes nicht nur als ökonomisch Benachteiligte, sondern vor allem als Rechtlose und Unterdrückte, die den potentes in einer stark hierarchischen Gesellschaft gegenüberstanden, für die neuen Modelle von sozialem Zusammenhalt und bischöflicher Macht, die im 5. und 6. Jahrhundert formuliert wurden, von großer Bedeutung war. 236 Humfress, Law and Legal Practice; dies., Orthodoxy and the Courts 153–215; Leppin, Justinian 167–181; Maas, Roman History and Christian Ideology; Harries, Law and Empire 191–211; Rapp, Holy Bishops 243–252. 237 EP 89.1: Moses erinnert sich (und den Herren) an überstandene Gefahren; EP 89.7 evoziert eine Situation aus Ex 32.9 f., wo Moses den Zorn Gottes über das sündige Israel abwendet. Siehe auch EP 89.tit. 238 Siehe dazu auch unten Kap 2.4.

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des christlichen Rhetors, sondern bezog sich auch auf dessen Publikum. Wie bei anderen Exegeten vor ihm war auch Cassiodors Bestimmung der Psalmensprecher häufig mit trinitarischen oder christologischen Anliegen verbunden (siehe Kap. 6 und 7). Doch zeichnet sich außerdem deutlich eine Vorliebe für eine Lektüre der Psalmen ab, die Perspektiven auf christliche Gemeinschaften in einem allgemeineren Sinn eröffnet. Das große Interesse an den durch die Prosopologie begründeten Möglichkeiten, kollektive Identitätsangebote aus den Psalmen zu gewinnen, ist eine weitere Besonderheit von Cassiodors Gebrauch dieser Methode. Für fast die Hälfte der Psalmen war das von Cassiodor gewählte „rhetorische Setting“ auf ein Kollektiv bezogen: Gruppen wie eine plebs sancta, ein populus fidelis oder der populus Israel des Alten Testaments fungierten als Sprecher oder als Adressaten der Reden.239 Beispielsweise berichtete das „bekennende Volk der Hebräer“ (confitens populus Hebraeorum) in Ps 105 von der Exodusgeschichte und in Ps 136 von der leidvollen Erfahrung während des babylonischen Exils.240 In Ps 46 forderte der Prophet die gentes zum Gotteslob auf, für den darauffolgenden Psalm entwarf Cassiodor eine Szene der Belehrung der populi christiani durch die Priester, die sie über den Glauben und die kirchliche Ordnung unterrichteten.241 Auch die christliche Kirche wandte sich als Sprecherin von Psalmen an den populus christianus oder fidelis, an die gentes oder ermahnte Sünder oder Ungläubige.242 Die verschiedenen Gruppen, die in den Psalmen Gebete sprachen oder gemeinsam eine aufrechte Lebenshaltung und den rechten Glauben bekannten, konnten starke Modelle von Einheit und Konsens transportieren. Einige wenige Beispiele können die Suggestivkraft dieser kollektiven Sprechersituationen und ihr affektives Potential illustrieren. In Ps 36 sprach Cassiodor zufolge die Kirche, um das Volk (populus) zu korrigieren.243 Die ecclesia, deren Mahnrede die positive Anleitung zur richtigen Lebenshaltung mit der abschreckenden Wirkung von Strafen kombinierte, wurde dabei als Personifikation recht plastisch präsentiert. Wie ein Mensch konnte sie auf eine Jugend (die Zeit der Verfolgung in der frühen Kirche) zurückblicken und eine Zeit des Alters erwarten.244 Ihre Worte, den textus des Psalms, verglich Cassiodor spielerisch mit dem Gewand für diese Person. Wie ein kostbares Gewand, das aus Worten gewebt ist, um-

239 Die Beispiele sind zu zahlreich, um sie an dieser Stelle alle aufzuführen. Siehe aber z. B. für den populus (fidelis, christianus, Hebraeorum etc.) als Sprecher: EP 60.div.; 64.div.; 110.div. (populus beatorum diuersis mundi partibus aggregatus […]); 105.div.; 110.div.; 117.div.; 136.div.; 137.div. (populus catholicus). Adressaten: EP 3.div.; 46.div. (gentes); 97.div (populus christianus); 106.div.; 130.div.; 133. div. Vgl. Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese 47 und 72 f. 240 EP 105.tit.; EP 136.tit. 241 EP 46.div.; EP 47.tit. und div. 242 Z. B. EP 4.div.; EP 13.div.: die ecclesia mahnt die Iudaei et impii; EP 39.concl.; EP 55.div.; EP 65.tit und div.: die ecclesia fordert die gentes zum Glauben auf; EP 91.div.; 139.div. 243 EP 36.tit. und div. 244 EP 36.25.

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hüllten die Psalmenverse aus dem Mund der ecclesia ihren Körper (als corpus Christi) und seine einzelnen Glieder, die Gläubigen. Sie verliehen diesem Körper Einheit und Schutz gegen Häretiker. Die ecclesia erscheint hier – in einer wörtlich genommenen Metapher – als diskursive Gemeinschaft.245 In EP 137 repräsentierte der Psalmensprecher den gesamten populus catholicus, der Christus lobte und auch die weltlichen Herrscher zum christlichen Bekenntnis aufforderte.246 Dabei war die Schwierigkeit, dass der Psalm in der ersten Person Singular abgefasst war und nur gelegentlich in den Plural wechselte, für Cassiodor gerade ein Hinweis auf die Einmütigkeit dieses populus: „denn so wie die Stimme aller Heiligen eine einzige ist, so besteht auch [die Stimme] des gläubigen populus aus den Worten von vielen.“ Der Psalmentext bot der christlichen Gemeinschaft in ihrer Vielfalt (populus de uniuersis mundis partibus collectus) eine einheitliche Stimme.247 Das Gebet des populus erfüllte auch eine Vorbildfunktion für Cassiodors eigenes Publikum, vor allem mit der darin geäußerten Bitte um die Bekehrung und die Versöhnung mit Feinden und Gegnern.248 Auch anderswo interpretierte Cassiodor ausgerechnet Psalmen, die in der ersten Person Singular abgefasst waren, als kollektive Äußerungen und machte daraus ein Argument für die Einmütigkeit der christlichen Gemeinschaft. In den Stufenpsalmen, erklärte er im Titulus zu Ps 123, bezeugt der Prophet, dass eine Person in vielen und viele Personen in einer diese Stufen hinaufsteigen, wenn deutlich wird, dass er in diesen Psalmen sowohl in der Mehrzahl als auch in der Einzahl gesprochen hat. Und dies zurecht, denn schließlich ist auch der populus Dei ein Körper Christi, und die gläubige plebs erweist sich als durch jeden einzelnen Gläubigen hervorgebracht. Deswegen: ob einer oder viele sprechen – es singt immer eine einzige Kirche.249

Wie diese Beispiele zeigen, nutzte Cassiodor das Potential der prosopologischen Exegese auf sehr gezielte Weise. Die prosopologische Exegese teilt mit anderen metaphorischen und figuralen Lektüretechniken die Funktion, den Bibeltext auf christliche Kontexte hin zu öffnen, wie dies im vorigen Abschnitt beschrieben wurde. Die Definition der Sprecherposition eines Psalms bedeutete gleichzeitig eine metaphorische Lektüre dieses Psalms und steckte den Rahmen für diese Lektüre ab. In der Tat ist 245 EP 36.concl. 246 EP 137.div. 247 EP 137.2: quia sicut omnium sanctorum uox una est, ita et fidelis populi sunt uerba multorum. Vgl. ähnlich EP 133.div. 248 EP 137.concl. Zum Thema unten Kap. 2.4. 249 EP 123.tit.: Gradus istos et in multis unum et in uno multos ascendere propheta testatur, quando plurali et singulari numero in his psalmis locutus fuisse declaratur. Non iniuria, quia et populus Dei unum corpus est Christi et plebs iterum deuota per unumquemque fidelium probatur effusa. Quapropter, siue hoc unus, siue plures loquantur, una tamen decantat Ecclesia.

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die Prosopologie eine Sonderform der Metapher, die unserem modernen Verständnis der Allegorie als personifizierte Rede nahekommt.250 Wie herkömmliche Metaphern diente die Prosopologie der Veranschaulichung und der Konkretisierung: die personifizierte Rede konnte eine Situation und die möglichen Reaktionen darauf in einer Person konkretisieren und entfaltete dadurch modellhafte Wirkung.251 Diese modellhafte Wirkung nicht nur auf eine Einzelperson, sondern auf eine Gruppe zu beziehen, stellte eine bewusste interpretative Entscheidung dar, in der sich Cassiodors spezifisches Interesse an Lesarten abzeichnet, die eine Reflexion über christliche Gemeinschaftsvorstellungen erlauben.252 Cassiodor war sich der Metaphorizität dieser kollektiven Sprecher sehr bewusst. Im Kommentar zu Ps 4 argumentierte er vehement zugunsten der ecclesia als Sprecherin des Psalms, einem besonders passenden Fall von mythopoeia, personifizierter Rede. Dies traf auf die ecclesia in viel stärkerem Maß zu als auf andere Gemeinschaftsformen, wie die patria oder die civitas, die Cassiodor als „in unseren Herzen durch Vorstellungskraft“ geformt bezeichnete. Die ecclesia besaß für ihn ein größeres Maß an Realität, weil sie faktisch aus der Summe ihrer Gläubigen bestand, aus einer Menge konkreter Personen, die „eines Herzens und eines Sinns“ (anima et cor unum) waren. Sie konnte daher ebenfalls als persona gedacht werden.253 Cassiodors etwas eigenwillige Wahl des seltenen Ausdrucks mythopoeia sollte vermutlich eben diese Wirklichkeitsnähe der personifizierten Rede unterstreichen. Die mythopoeia definierte er als jene Redefigur, die mit personae certissimae verbunden werde, und hob sie damit von anderen Formen der prosopopoeia ab, die er als fiktive Reden von personifizierten, nicht-menschlichen Sprechern verstand.254 Daher verwundert es nicht, wenn die oratio der ecclesia – als 250 Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik 407–413; zur Verwendung der Prosopopoeia und verwandter Figuren bei Cassiodor siehe Agosto, Impiego e definizione 284–293; Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese 40–64. 251 Paul de Man beschreibt ihre Funktion im Anschluss an Kant folgendermaßen: „ihrer eingeschränktesten Bedeutung nach macht die Prosopopoeia den Sinnen, in diesem Fall dem Ohr, eine Stimme zugänglich, die außer Hörweite, nicht mehr lebendig ist. Nach ihrer ausgedehntesten und auch etymologischen Bedeutung bezeichnet sie den Prozess der Figuration selbst als einen, in dem mit einem Gesicht (aber eigentlich genaugenommen mit einer Stimme) ausgestattet wird, was keines besitzt.“ (de Man, Epistemologie der Metapher 431). 252 Dies zeigt z. B. der Vergleich zwischen EP 106 und Aug. En.Ps. 106. Während Augustinus den Psalm als Metapher für den spirituellen Aufstieg christlicher Individuen interpretiert hatte, las Cassiodor ihn mit Blick auf die Bekehrung der gentes als Kollektive. Vgl. unten Kap. 5.1. 253 EP 4.div.: [Ecclesia], quae non in cordibus nostris phantastica imaginatione formatur, sicut patria uel ciuitas […]. 254 Vgl. dazu Schlieben, Cassiodors Psalmenexegese 41–51; Agosto, Impiego e definizione 287– 289. Zur (sehr ähnlichen) Differenzierung zwischen Prosopopoeia und Ethopoeia siehe ebda. 285. Mit der letzteren Unterscheidung zwischen Personen, quae naturam uiuendi non habent (Prosopopoeia) und den certae personae der Ethopoeia folgte Cassiodor den Schemata dianoeas, einem Traktat zur Figurenlehre. In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, dass persona certa/ certissima nicht nur ein rhetorischer, sondern auch ein juristischer Fachbegriff für eine Rechtsperson war. Diese Qualität der ecclesia als persona certa, die daher sowohl im präzisen Sinn einer

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Rede, die zugleich ein Gebet war – andere Reden an rhetorischer Wirksamkeit übertraf, denn ihre Bitten wurden unverzüglich erhört.255 Am Ende des Kommentars fasste Cassiodor die virtus dieses Psalms zusammen. Wenn man die Rede sorgfältig ihren einzelnen Abschnitten folgend analysiere, erkenne man darin eine Einführung in die christliche Bildung, die totius Christianae disciplinae institutio. Die christliche Lektüre des Psalms vermochte in dem von Cassiodor entworfenen Modell also in einem sehr umfassenden Sinn an die Stelle der klassischen institutio zu treten: „damit die Menschen klar erkennen, was sie tun sollen und was sie hoffen hätten müssen“.256 Hier ist ein wesentlicher Aspekt von Cassiodors Psalmenverständnis formuliert: Das Potential des Psalters, das Handeln der Menschen zu orientieren, ist ein rhetorisches Potential, das die Psalmen mit politischen Reden ebenso wie mit den Texten der Variae oder mit christlichen Predigten verbindet. Wenn die ecclesia die Sprecherrolle einnahm, löste sie andere althergebrachte Identifikationsangebote wie civitas oder patria und die damit verbundenen Wissensformationen ab.257 Wohl nicht ganz zufällig waren die vier Tugenden, an die sich Cassiodor durch die Vier, die Nummer des Psalms, erinnert fühlte, die vier politischen Tugenden der klassischen Theorie, die schon Cicero in De officiis besprochen hatte: prudentia, iustitia, fortitudo, temperantia.258 Zu diesem Aufeinandertreffen von römischer und christlicher Tradition passt auch, dass Cassiodor an anderer Stelle im Kommentar das Kreuzzeichen, das die Zugehörigkeit des einzelnen Christen zur ecclesia markiert, mit dem Bild des Herrschers auf kaiserlichen Münzen verglich.259 Die Bedeutung der prosopologischen Exegese bei Cassiodor liegt in ihrem besonderen Effekt, zwischen der Ebene des Psalmen-Ichs und einer umfassenden Gemeinschaft zu vermitteln. Gleichgültig, ob der Psalmist ex persona sua sprach, in die Rolle eines gewieften Redners wie Moses schlüpfte oder eine christliche Gemeinschaft wie

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spezifischen Kirche als auch im allgemeinen Sinn als Institution erbfähig war und mit testamentarischen Schenkungen bedacht werden konnte, war in der Mitte des 6. Jahrhunderts Gegenstand von juristischen Debatten, wie in der justinianischen Gesetzgebung deutlich wird. Siehe dazu MacCormack, Sin, Citizenship 663 f.; Brown, Through the Eye 486 f. EP 4.2. Für den Fall, dass trotzdem das Versprechen auf zukünftige Auferstehung allein nicht zur Überzeugung ausreichte, bot die ecclesia ihren Zuhörern als konkretes Zeichen der Hoffnung und der Zugehörigkeit das Kreuzzeichen an: EP 4.7–8. EP 4.concl.: ut et quid agerent homines, et quid sperare debuissent, euidenter agnoscerent. Athan. epist. ad Marc. 14 spricht von den Psalmen als institutio vitae animarum. Die Parallele zwischen dem Ausdruck institutio christiana und der literarischen Gattung der institutiones als Einführungen zu verschiedenen Wissensbereichen – von der Rhetorik über das Recht bis zu Cassiodors eigener Einführung in die Bibelwissenschaft – liegt auf der Hand. Vgl. Stansbury, Early Medieval Biblical Commentaries 67 f.; Bürsgens, Einleitung 48 f. EP 4.concl. Vgl. Becker, Kardinaltugenden; Long, Cicero’s Politics. Für eine Analyse von Augustinus’ christlicher Umschreibung des ciceronischen Tugendideals Dodaro, Christ and the Just Society 6–26 und 182–214; Tornau, Zwischen Rhetorik und Philosophie 251–340. EP 4.7. Vgl. Aug. En. Ps. 63.11, 138.14.

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den populus Christianus oder die ecclesia repräsentierte: immer bot er dem christlichen Leser eine Sprache an, mit der er über die eigene Position reflektieren konnte. In viel stärkerem Maß als andere Texte haben die Psalmen daher das Potential, das Selbstverständnis des Lesers zu formen oder zu verändern, sowohl als Teil einer größeren Gemeinschaft als auch in ihrem Verhältnis zu Gott.260 Dieses besondere Identifikationspotential betonte Cassiodor in der Praefatio zu seinem Kommentar, wo er die dementsprechenden Überlegungen des Athanasius von Alexandria in der Epistula ad Marcellinum zitierte: Wer auch immer die Worte des Psalms rezitiert, trägt gleichsam seine eigenen Worte vor. Eine Person singt, als ob es von ihr selbst Geschriebenes wäre, nimmt [die Worte] auf und liest sie, als spräche nicht jemand anders oder [äußerte sich] über einen anderen. Vielmehr bringt jener die Worte auf dieselbe Weise hervor, wie er selbst über sich sprechen würde, und welche Dinge auch gesagt werden, solche scheint er wie selbst handelnd, aus sich heraus sprechend, Gott seine Rede darzubringen.261

In der Sicht des Athanasius, die Cassiodor hier aufgriff, waren die Psalmen vor allem ein Reservoir zur Beschreibung und Interpretation individueller Erfahrungen.262 In Cassiodors Kommentaren zu den einzelnen Psalmen waren seine Leser wieder und wieder aufgefordert, sich mit den Sprechern oder Adressaten der Psalmen zu identifizieren. Sie sollten dieselbe moralische Haltung einnehmen, wie sie in Bibeltext und Kommentar entwickelt wurde, oder sich die dort formulierte Perspektive auf historische Ereignisse oder theologische Argumente aneignen. Indem die Psalmen eine gemeinsame Sprache anboten, ermöglichten sie die Einordnung der Erfahrungen des Einzelnen in einen von vielen geteilten Interpretationsrahmen.263 Das kollektive Vokabular der Psalmen und ihrer Exegese konnte so den Ausgangspunkt für Konsens und gemeinsames Handeln bieten. Damit erfüllte der Psalmentext eine Funktion, die Hans Blumenberg als den wesentlichen sozialen Nutzen der Rhetorik bezeichnet hat, und

260 Astell, Cassiodorus’s Commentary 68. 261 EP praef.16: Quicumque psalmi uerba recitat, quasi propria uerba decantat et tamquam a semetipso conscripta unus psallit et non tamquam alio dicente, aut de alio significante sumit et legit; sed tamquam ipse de semetipso loquens, sic huiusmodi uerba profert et qualia sunt quae dicuntur, talia uelut ipse agens, ex semetipso loquens, Deo uidetur offere sermones. Siehe die deutsche Übersetzung durch Sieben, Schlüssel zum Psalter 253. Vgl. ders., Athanasius über den Psalter; Rondeau, Les commentaires patristiques 1, 79 f.; Bd. 2, 218–222. Zu Cassiodors Kenntnis des Textes von Athanasius siehe Courcelle, Les lettres grecques 337; Olsen, Honey of Souls 175–179. 262 Siehe Kolbet, Athanasius. Zum psychagogischen Potential des Psalters, das der antiken Tradition der Seelenleitung vergleichbar ist, und dem rhetorischen Zugriff darauf bei Augustinus siehe ders., Augustine and the Cure of Souls. 263 In einem ähnlichen Sinn lässt sich die Funktion der Psalmzitate in Augustinus’ Confessiones verstehen, wo sie die Textur des Innenlebens eines christlichen Individuums darstellen. Vgl. dazu McCarthy, Augustine’s Mixed Feelings.

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die wohl auch der Wirkung nicht unähnlich ist, die Cassiodor sich für die in den Variae zusammengestellten Texte erhoffte.264 Cassiodor näherte sich den Psalmen mit einer bemerkenswerten Sensibilität für die pädagogischen Möglichkeiten von Texten und ihre pragmatische Funktion. Mithilfe des Psalters konnte der Mensch die eigene Welt und seinen Ort darin besser begreifen. Wie wir in Kapitel 2 sehen werden, konnten viele der von den biblischen Sprechern behandelten Themen für ein Publikum im 6. Jahrhundert wertvolle Orientierung bieten. Personen wie Moses oder König David formulierten Anleitung in Zeiten politischer Krise oder militärischer Bedrohung, Beispiele für den Umgang mit leidvollen Erfahrungen und Unterdrückung, persönlicher Schuld und die Möglichkeit zur Besänftigung eines zornigen Gottes. Andere Psalmen zeigten die Notwendigkeit sozialen Zusammenhaltes und der Auswahl rechtschaffener Führungspersonen; die ecclesia belehrte ihre Mitglieder über die Bedeutung von Solidarität und Zusammenhalt, das relative Gewicht von materiellem Wohlstand und spirituellem Wohlergehen oder die Notwendigkeit, die Einheit im rechten Glauben zu bewahren. Die Aufgabe des Exegeten bestand darin, die in den Psalmen enthaltenen Lehren und Beispiele für richtiges Verhalten herauszuarbeiten und verständlich zu erklären. So wie der Psalmensprecher als Redner agierte und damit dem politischen Rhetor als Vorbild und Modell dienen konnte, überlappten Position und Funktion des (biblischen) Rhetors und des Exegeten. 1.5 Der Rhetor als Exeget und der Adressatenkreis der Expositio Psalmorum Durch das Wechselspiel zwischen Bibeltext und rhetorischer Kultur, zwischen Rhetor und Exeget, wurde die EP zum Kreuzungspunkt für verschiedene literarische Traditionen und soziale Vokabulare. Daraus ergab sich eine bemerkenswerte Synthese zwischen biblischen Modellen und politischer Sprache. Mithilfe dieser Beobachtungen zum rhetorischen Charakter von Cassiodors Exegese lassen sich die oben angestellten Überlegungen zum möglichen Zielpublikum, das Cassiodor mit seinem Psalmenkommentar zu erreichen suchte, weiter präzisieren.265 Eine Lektüre der EP, die davon ausgeht, dass Cassiodor nach seinem Rückzug aus dem politischen Leben seine Erfahrung im Umgang mit Texten auf den Psalter anwandte und zur persönlichen Reflexion nutzte, deren Ergebnisse später auch der monastischen Gemeinschaft in Vivarium zugute kamen, hat zweifellos ihre Berechtigung. Ebenso kann das rhetorische Material, das im Kommentar enthalten ist, den Charakter des Textes als Lehrbuch verstärken

264 Blumenberg, Anthropologische Annäherung 125. 265 Vgl. oben Kap. 1.2.

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und dessen Rolle als Meilenstein in einer andauernden kulturellen Debatte um die christliche Aneignung antiker Tradition unterstreichen. Doch andererseits setzt Cassiodors rhetorische Exegese der Psalmen ein Publikum voraus, das sowohl mit den artes als auch mit dem Bibeltext bereits so weit vertraut war, dass es die Implikationen der Zusammenführung zwischen weltlicher Rhetorik und biblischer Sprache erfassen konnte. Potenziellen Lesern, die wie Cassiodor sowohl über rhetorische Bildung wie über juristische Erfahrung verfügten, erschloss sich nicht nur die politische Dimension der EP – sie waren vermutlich auch für die dort angesprochenen religiösen Themen empfänglich (und wussten um deren politische Konsequenzen). In dieser Hinsicht interessant ist die Tatsache, dass Cassiodor sein intendiertes Publikum in manchen der Psalmenreden als uiri egregii und uiri prudentissimi ansprach und die biblischen Redner mit weltlichen Gelehrten (diserti) verglich.266 Eine Gruppe von diserti war freilich auch im Vorwort zu den Variae und zu De Anima als jene Gruppe angesprochen, die Cassiodor zur Veröffentlichung dieser Texte angespornt hatte und die daher auch das primäre Publikum für sie darstellte.267 Das Profil dieser gelehrten Gruppe hat Jouanaud als das einer höfischen Elite beschrieben, zu der Advokaten oder Beamte zählten und die sich nicht zuletzt durch profunde rhetorische Kenntnisse auszeichnete. Zu den in den Variae so bezeichneten Personen gehörten neben Cassiodor selbst unter anderem Arator, der Quästor Ambrosius, Patricius und der vir disertissimus Petrus, der wohl mit dem bei Prokop erwähnten Gesandten Justinians zu identifizieren ist.268 Mit einem ähnlich zusammengesetzten Publikum konnte Cassiodor um die Mitte des 6. Jahrhunderts in den Zirkeln lateinischsprachiger Intellektueller sowohl in Italien als auch in Konstantinopel zweifellos rechnen. Wie oben bereits erwähnt, ist eine mögliche Adressatengruppe im Umkreis des Papstes zu suchen, der als Widmungsträger der EP fungierte.269 Falls es sich dabei um Vigilius handelt, so richtete sich die EP wohl gleichzeitig an den Stab von Klerikern, die den Papst nach Konstantinopel begleiteten und ihn in seiner Politik gegenüber Kaiser

266 Darauf hat bereits Van de Vyver, Cassiodore 262 Anm. 2 hingewiesen. Siehe EP 73.concl. (auditores egregii); 79.concl. (uiri prudentissimi); EP 101.concl. vergleicht weltliche Rhetoriker mit dem biblischen Sprecher (Isti sapientes, isti diserti, isti reuera gloriosi dicendi sunt oratores […]); vgl. außerdem EP 31.7; 76.2; 85.tit. und 106.38. 267 Cassiod. var. praef. 1. 268 Jouanaud, Pour-qui Cassiodore mit einer prosopographischen Zusammenstellung. Siehe Cassiod. var. 9.25 (Cassiodor); 8.12 (Arator); 11.4–5 und 12.25 (Ambrosius); 10.6 (Patricius); 10.22.1 (Petrus, vgl. auch 10.19.4, 10.23.2 und 10.24.2, wo er als eloquentissimus bzw. sapientissimus bezeichnet ist). Zur Identifikation mit dem bei Prok. BG 1.3.33, 1.4.17, und 1.6.1 genannten Petrus ebda. 735 f.; Krautschick, Cassiodor 94 f. Anzumerken ist, dass auch in den Institutiones genannte christliche Schriftsteller als diserti bezeichnet werden, ebenso wie der (ebenfalls rechtsgelehrte) Übersetzer Epiphanius Scholasticus (Cassiod. inst. 1.5.2). 269 Vgl. oben 1.2. sowie die Überlegungen in Heydemann, Orator as Exegete 41 f.; Stoppacci, Tra Constantinopoli e Vivarium 106 f.

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Justinian berieten.270 Einige davon, wie etwa der Apokrisiar Stephan, der primicerius notariorum Vicentius oder die päpstlichen defensores, besaßen zweifellos eine gute Ausbildung, zu der auch juristische Kenntnisse gehörten.271 Unter ihnen ist vor allem der Diakon und spätere Papst Pelagius hervorzuheben, der sich von einem vehementen Gegner der Verurteilung der Drei Kapitel zu einem Unterstützer der kaiserlichen Linie wandelte.272 Auch andere italienische Bischöfe reisten teils in diplomatischer Mission, teils aufgrund der Kriegsereignisse zwischen Italien und Konstantinopel hinund her. Sie waren nicht nur im Dreikapitelstreit aktiv, sondern auch in die Debatte um die politische Neuordnung des westlichen Mittelmeerraumes involviert.273 In diesem Zusammenhang kann daran erinnert werden, dass die Pragmatische Sanktion, mit der Justinian nach dem Ende des Krieges die imperiale Nachkriegsordnung festschrieb, an Papst Vigilius adressiert war.274 Vigilius verfügte auch über gute Kontakte zu den senatorischen Familien Italiens. Eine Reihe dieser hochrangigen Aristokraten hielten sich ebenfalls im Exil in Konstantinopel auf – zu nennen sind beispielsweise Cethegus, Liberius und Anicius Faustus Albinus Basilius Iunior, Konsul 541. Vigilius war also auch ein Bindeglied für mehrere einflussreiche Gruppen in der Hauptstadt, deren Meinung Cassiodor mit seinen Texten zu beeinflussen suchte.275 Die „Veröffentlichung“ der EP lässt sich dabei wohl am besten als gezielte Weitergabe an einzelne Leser verstehen, in der Hoffnung, dass diese für weitere Zirkulation in ihrem jeweiligen Netzwerk sorgen würden.276 Auf die Gruppe auf Latein schreibender Intellektueller im Konstantinopel der 540er und 550er Jahre wurde oben bereits kurz hingewiesen. Mit den Mitgliedern der nordafrikanischen kirchlichen Elite, die sich ebenfalls im Kontext des Dreikapitelstreites in großer Zahl in Konstantinopel befanden, stand Cassiodor im literarischen Austausch, so etwa – wie oben erwähnt – mit Liberatus von Karthago, Facundus von Hermiane und Primasius von Hadrumetum. Letzterer beschäftigte sich ebenso wie sein Kollege Verecundus von Iunca auch mit Exegese. Das gilt selbstverständlich

270 Zu Vigilius’ Karriere, seinen Kontakten und seiner Zeit in Konstantinopel siehe Sotinel, Autorité pontificale. 271 Zur Permeabilität zwischen Ausbildung und Karrierewegen von klerikalen und laikalen Eliten in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts siehe mit zahlreichen Beispielen Piétri, Aristocratie. Zum Verwaltungsstab spätantiker Bischöfe Sotinel, Le personnel épiscopal. 272 Sotinel, Three Chapters 93–109; Salzman, Falls of Rome 293–295, die allerdings dessen In defensione trium capitulorum fälschlich als gegen die Drei-Kapitel-Autoren gerichtet zitiert; Neil, De profundis 212 f. 273 Sotinel, Three Chapters 88–90; dies., Emperors and Popes 279–284. 274 Nov. Iust. App. 7.1; Salzman, Falls of Rome 269–271. 275 Sotinel, Autorité pontificale 452–455; Bjornlie, Politics and Tradition 159–162; Vitiello, Cassiodorus Anti-Boethius; van Hoof/van Nuffelen, Historiography of Crisis 291; O’Donnell, Cassiodorus 131–134. 276 Diesen Modus der Veröffentlichung beschreibt am Beispiel der Epistolographie des Sidonius Apollinaris Mratschek, Sidonius 312 f. mit weiterer Literatur.

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auch für Junillus Africanus, dessen Instituta regularia divinae legis ebenfalls bereits erwähnt wurden.277 Nicht nur in Konstantinopel, sondern auch in Italien war das Interesse an exegetischen Texten keineswegs ausschließlich auf den Kreis eines geistlichen Publikums beschränkt, wie das Beispiel Arators, eines Kollegen Cassiodors, eindrucksvoll vor Augen führen kann. Arator, der aus senatorischer Familie kam und bis zum Kriegsausbruch wie Cassiodor hohe Ämter in der ostgotischen Verwaltung bekleidet hatte, trat 536 als Subdiakon in den Dienst des Papstes Vigilius. Er verfasste eine metrische Nachdichtung der Apostelgeschichte, die er (ebenfalls) Vigilius widmete. Die öffentliche Lesung dieses Textes in San Pietro in Vincoli im Jahr 544, kurz bevor die gotischen Armeen zum wiederholten Male Rom belagerten, war ein großer Publikumserfolg. Die Praefatio des Surgentius, die dem Text vorangeht und seine Aufnahme in das päpstliche Archiv bezeugt, berichtet außerdem davon, die Lesung habe vier Tage gedauert, weil die enthusiastische Menge von Klerikern und Laien so oft die Wiederholung ganzer Passagen verlangt habe.278 Das Gedicht unterstrich die Autorität des Papstes und die Bedeutung Roms als christliches Zentrum, das unter dem Schutz des Apostels Petrus stand – eine Botschaft, die ebenso wie die anti-„arianische“ Rhetorik auch politische Untertöne hatte.279 Anders als für Junillus sind direkte Kontakte zwischen Arator und Cassiodor in den Jahren nach dem Fall des Ostgotenreiches nicht bezeugt. Doch wie Junillus ist Arator ein gutes Beispiel für das intellektuelle Profil von Cassiodors Diskussionspartnern. Arator war wie andere vornehme junge Männer seiner Generation ein Schüler des Grammatikers Deuterius und gehörte zu den Korrespondenten des Ennodius von Pavia.280 Die Briefe und vor allem die pädagogischen Schriften des Ennodius können ebenfalls daran erinnern, dass der intellektuelle Horizont der italienischen Elite der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts von einer ähnlichen Fusion zwischen traditionellen artes und christlicher Bildung geprägt war, wie sie sich in Cassiodors Psalmenkommentar abzeichnet.281 Die Paraenesis, eine Schrift, in der Ennodius ein Bildungsprogramm für junge Aristokraten entwarf, legt ebenfalls das Gewicht auf Rhetorik und Grammatik in Verbindung mit einer christlich fundierten Moral.282 Wie Charles Piétri betont hat, war in Ennodius’ Vorstellung der ideale Bischof vor allem auch ein idealer Redner ganz im Sinne Cassiodors.283 277 Zu den Nordafrikanern in Konstantinopel siehe Modéran, L’Afrique reconquise 50 f. 278 Arat. act., praef. Surgentii. Vgl. Sotinel, Arator. 279 Zum Text siehe Green, Latin Epics 251–350; Hillier, Arator; Schwind, Arator-Studien; Deproost, L’Apôtre. 280 Sotinel, Arator 808 f. mit Verweis auf Ennod. ep. 8.4 (Opusc. 378); 8.11 (Opusc. 387) und 9.1. (Opusc. 422); siehe auch Ennod. Dictio 9 (Opusc. 85). 281 Piétri, Aristocratie 236–241; Schröder, Bildung und Briefe. 282 Vitiello, „Nourished at the Breast of Rome“ 404–412; Moretti, L’Epistula didascalica. 283 Piétri, Aristocratie 238.

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Auch ein Interesse für theologische und exegetische Fragen unter den gebildeten Laien ist unter römischen Aristokraten in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts belegt. Faustus Niger befragte seinen Bekannten Trifolius zur theologischen Position der skythischen Mönche; der vir illustris Symeonius ließ sich von Pelagius über die aktuellen theologischen Kontroversen unterrichten; und die Senatoren Renatus und Petronius verteidigten in einer Debatte in Konstantinopel die chalkedonische Lehre gegen die Miaphysiten.284 Ein besonders bekanntes Beispiel ist Boethius, der eine Reihe von theologischen Traktaten verfasste, von denen er einen – De trinitate – seinem Schwiegervater Symmachus widmete.285 Aus dem Skriptorium des Viliaric ist eine Handschrift von Hieronymus’ Psalmenkommentar mit Annotationen und einem Korrekturvermerk überliefert, dessen Urheber Radicotti mit Anicius Albinus Basilius identifiziert hat.286 Während Cassiodors Kontakte zu einigen Intellektuellen in Konstantinopel um 550 belegt sind, gibt es keine expliziten Hinweise auf die Rezeption der EP in den zuletzt genannten Kreisen. Immerhin kann diese grobe Skizze das kulturelle Umfeld verdeutlichen, in dem der Psalmenkommentar verstanden worden wäre, ein Umfeld, das vermutlich teilweise mit dem Zielpublikum von anderen Werken wie den Variae oder der Historia tripartita überlappt. Diese potenziellen Leser teilten mit Cassiodor eine klassische Ausbildung und ein Interesse für den Bibeltext und seine soziale Relevanz. Wie Cassiodor gehörten sie zu jener Führungsschicht, die in den 540er und 550er Jahren um Einfluss im Prozess der politischen und religiösen Neuordnung des Mittelmeerraums konkurrierte. Für diese Personengruppe waren ähnliche Themen relevant, die auch Cassiodor zur selben Zeit beschäftigten, als er die EP schrieb. Sie debattierten die Kriege in Nordafrika und Italien; das Verhältnis zwischen den Eliten der westlichen Reiche und einem imperialen Rahmen; die Rolle der gentes in einer neuen politischen Ordnung, die sich gerade erst abzuzeichnen begann; den Dreikapitelstreit und die Verteidigung der chalkedonischen Orthodoxie. Der Bibeltext konnte in dieser Situation in vielfältiger Weise als Orientierungs- und Deutungsmuster herangezogen werden. Die rhetorische Qualität von Cassiodors Exegese ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass Cassiodor die EP als Beitrag zu solchen Diskussionen verstanden wissen wollte. Die vielfältigen Weisen, in denen Cassiodor in der EP die Psalmen dazu nutzte, um Position in diesen Debatten zu beziehen, sollen Gegenstand der folgenden Kapitel sein. Sie zeigen die enge Verbindung zwischen Cassiodor dem Politiker und Cassiodor dem Exegeten.

284 Vgl. zu diesen Beispielen Piétri, Aristocratie 239–241. 285 Bradshaw, Opuscula sacra 108. 286 Radicotti, Un codice ravennate.

2. Kapitel Cassiodor und das biblische Israel Als Salvian in der Krise des 5. Jahrhunderts den Traktat De gubernatione Dei schrieb, nutzte er das biblische Israel und seine wechselhafte Geschichte im Bund mit Gott, um das Schicksal des römischen Reiches zu erklären. Der Vergleich mit Israel zeigte nicht nur, wie Gottes Urteil sich in der menschlichen Geschichte manifestierte und dass es gerecht war, sondern auch, dass die Römer ihre Rolle als christliches Gottesvolk nur unzureichend erfüllt hatten. Die Exoduserzählung verdeutlichte Israels Erwählung, Gottes Schutz und fürsorgliche Hilfe für sein Volk, aber auch die kollektiven Strafen, die Israels Widerstand gegen Gottes Pläne und den von ihm eingesetzten Anführer Moses nach sich zogen und die darin kulminierten, dass keiner der ursprünglich aus Ägypten ausgewanderten Israeliten das Gelobte Land erreichen sollte. Israels Beispiel diente als Warnung für die Römer, die ihrer Rolle als christliches Gottesvolk ebenfalls nicht gerecht geworden waren und wie die Israeliten in der Wüste nicht bereit waren, ihr Verhalten zu ändern.1 Sie wurden daher zu Recht von den tugendhafteren Barbaren besiegt, und das, obwohl diese den christlichen Glauben nur in häretischer Form kannten. Wie Susanna Elm herausgestellt hat, suggerierte Salvian mit seiner Analyse, dass die Vandalen im Begriff waren, die historische Rolle der Römer zu übernehmen: Karthago war das neue Rom.2 Salvians Traktat dekonstruierte die traditionelle Grenze zwischen „Römern“ und „Barbaren“ ebenso wie die beruhigende Gewissheit, dass ein christliches Imperium im Kampf gegen häretische gentes auf Gottes Unterstützung zählen konnte.3 Fast zwei Jahrhunderte später konnte Isidor von Sevilla nach der Kon-

1 Salv. gub dei 1.40–60, mit an die Römer adressierten Warnungen vor einem ähnlichen Schicksal in 1.57 und 1.59; dazu Lambert, Uses of Decay 127 f. Die Prophetenworte, die der israelitischen gens wegen ihrer Sünden den militärischen Untergang androhten, ließen sich nach Salvian auf die Römer des 5. Jahrhunderts übertragen (7.28); die erfolgreiche Eroberung Afrikas durch die Vandalen interpretierte Salvian als gottgewollte Strafe in Analogie zur captivitas Israels unter Nebukadnezor (7.54). 2 Elm, Salvian of Marseilles. Zum Text siehe außerdem Badewien, Geschichtstheologie; Lambert, Uses of Decay; ders., The Barbarians; Brown, Through the Eye 442–445; Scheil, Footsteps 128–131. 3 Maas, Orthodoxy and Community.

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version der westgotischen Elite zum nicänischen Glauben die biblische Geschichte in ganz anderer Weise nutzen, um der gotischen gens und ihrem regnum historische Legitimität zu verleihen. Wie Jamie Wood herausgearbeitet hat, legte er in seiner Chronik, die dem König Sisebut gewidmet war, nahe, dass die Goten nicht nur das weltliche Imperium der Römer, sondern auch das biblische Gottesvolk abgelöst hatten.4 Die beiden Beispiele aus den Generationen vor bzw. nach Cassiodor zeigen eindrücklich die Bedeutung des Alten Testaments im politischen Diskurs des spätrömischen Imperiums und seiner Nachfolgereiche, auf die bereits in der Einleitung hingewiesen wurde.5 Das biblische Gottesvolk und seine Geschichte im Bund mit Gott bot ein Reservoir an fundierenden Erzählungen und historischen Deutungsmustern, die sowohl herangezogen werden konnten, um politische Gemeinschaften zu legitimieren, als auch, um über ihren moralischen Status und ihren Platz in der Geschichte zu reflektieren.6 Der Anspruch auf Nachfolge des biblischen Israels in den „micro-christendoms“ der poströmischen Welt war allerdings, wie Peter Brown hervorgehoben hat, nicht unbedingt Ausdruck eines ethnischen Partikularismus im Gegensatz zu einem römisch-christlichen Universalismus, sondern vielmehr Teil von intellektuellen Anstrengungen, sich trotz der fortschreitenden politischen Regionalisierung als Teil einer universalen Christenheit zu positionieren.7 Zudem funktionierte das biblische Israel schon im politischen Diskurs des christlichen Imperiums keineswegs nur als affirmatives Modell, das die eigene Position als auserwählte Gemeinschaft charakterisieren sollte, wie das Beispiel Salvians eindrücklich vor Augen führt; vielmehr diente es als Instrument der Krisendiagnostik und Selbstkritik, als Mittel zur Reflexion über und Neubewertung von überkommenen Deutungsmustern und Kategorien sozialer Ordnung.8 Dies trifft auch auf Cassiodors Umgang mit Israel in der EP zu, die in einer nicht weniger krisenhaften Situation entstand als der Traktat Salvians. Als Cassiodor an seinem Psalmenkommentar arbeitete, war das gotische regnum (ebenso wie das vandalische, dessen Aufstieg Salvian kommentiert hatte) zerbrochen. In Italien herrschte ein erbitterter Krieg zwischen gotischen Truppen und den imperialen Armeen Justinians. Anders als Salvian, aber ähnlich wie später Isidor, hatte Cassiodor als hoher Beamter 4 5 6 7 8

Wood, Religiones and gentes. Siehe bes. Pohl, Disputed Identifications; De Jong, Ecclesia and the Early Medieval Polity; Scheil, Footsteps 147–191. Vgl. oben Einleitung mit der in Anm. 45–48 zitierten Literatur. Kempshall, Rhetoric and the Writing of History 52–107; van Nuffelen, Orosius 3–15, 197– 206. Brown, Rise of Western Christendom 15–17, 139–141, 359; vgl. O’Brien, Chosen peoples. Zur Problematik des „neuen Israel“ siehe auch oben Einleitung Anm. 50. Scheil, Footsteps 125 spricht von „the lachrymose textures of the populus Israel mythos“. Ähnlich wie Salvian positionierte sich Gildas in De excidio als Prophet eines vom Untergang bedrohten Gottesvolkes, das wie das biblische Israel dabei war, seinen Status zu verspielen: siehe Scheil, Footsteps 143–147; O’Loughlin, Gildas and the Scriptures bes. 111–124; Perkins, Biblical Allusions; Garcia, Gildas and the Grievous Divorce; Higham, English Conquest 7–34, 67–89.

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im ostgotischen Reich dessen ideologische Legitimation maßgeblich mitgestaltet und dabei die konzeptuelle Grenze zwischen Römern und Barbaren auf noch nachhaltigere Weise in Frage gestellt.9 Ziel dieses Kapitels ist es zu untersuchen, wie Cassiodor das biblische Israel in der EP als Identifikationsmodell für christliche Gemeinschaften seiner eigenen Zeit, als soziale Metapher, nutzte. Es behandelt seine Exegese einer Reihe von Psalmen, die sich mit Israel als auserwähltem Volk und seiner Geschichte beschäftigen. Worin bestanden für Cassiodor die zentralen Merkmale des alttestamentlichen Gottesvolkes, und wie bewertete er Israels Geschichte im Bund mit Gott? Welche Lehren ließen sich aus dem biblischen Vorbild für ein christliches Gottesvolk und die mit diesem Status verbundenen Anforderungen ziehen, und wo lagen die Grenzen der Übertragbarkeit des alttestamentlichen Gottesvolk-Konzeptes auf christliche Gemeinschaften? Um die Identitätswirksamkeit Israels zu untersuchen, greift die folgende Untersuchung auf Jacob Neusners Konzept der „sozialen Metapher“ zurück: die soziale Metapher „Israel“ beschreibt weniger eine reale Gruppe als ein soziales Ideal, das nie ganz erfüllt werden kann. Es verdeutlicht einer (christlichen) Gemeinschaft die Voraussetzungen und Konsequenzen, die mit dem Status als erwähltes Volk und dem Bund mit Gott verknüpft sind (siehe dazu 2.2.).10 Cassiodor vermied zwar in der Regel direkte und explizite Identifikationen einer konkreten politischen Gemeinschaft mit dem biblischen Israel – dies ist im Medium der Bibelexegese auch kaum zu erwarten.11 Doch entwarf er anhand von Israel und seiner Geschichte das Konzept eines christlichen Gottesvolkes und definierte Kriterien für die Mitgliedschaft darin. Wie wir sehen werden, waren einige Elemente dieses Modells nicht nur für eine christliche ecclesia, sondern auch für politische Gemeinschaften und ihre Führungsschicht relevant (2.2–3). Wie bei Salvian diente Israel auch bei Cassiodor als Modell für ein Gottesvolk in der Krise: Er reflektierte über das Scheitern des israelitischen regnum und die Gründe dafür und versuchte aus der biblischen Erzählung Deutungsmuster und Handlungsanleitungen in Situationen der Krise und des Kriegs zu gewinnen. Dabei lotete er anhand der Psalmen auch die Grenzen der Übertragbarkeit des alttestamentlichen Modells auf die christliche Gegenwart aus, ein Problem, das angesichts des Potenzials mancher Psalmen, mit ihrem scharfen Gegensatz zwischen dem Gottesvolk und den gentes Gewalt und militärische Auseinandersetzungen mit religiöser Legitimation zu versehen, gerade in Kriegszeiten politische Relevanz besaß (2.4). Das historische Israel der Psalmen teilte die Funktion als hermeneutisches Werkzeug mit den Juden im christlichen Zeitalter, die Cassiodor in seiner Exegese vom Anspruch auf Nachfolge des biblischen Israel auszuschließen versuchte. Wie das alttestamentliche Israel dienten bei Cassiodor aber auch die Juden als Vehikel, um das orthodoxe christliche Gottesvolk von den 9 10 11

Dazu ausführlicher unten Kap. 3.2. Neusner, Judaism and its Social Metaphors. De Jong, Ecclesia and the Early Medieval Polity 120.

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Häretikern abzugrenzen. Seine exegetische Auseinandersetzung mit ihnen bildet den Gegenstand des letzten Abschnittes (2.5). Bevor wir diese Untersuchung beginnen können, sind einige methodische Bemerkungen notwendig. 2.1 Israel, Hebräer, Juden Das biblische Israel aus christlicher Sicht Die christliche Sicht auf Israel und die hebräische Bibel (das „Alte Testament“) ist von einer grundlegenden Ambivalenz gekennzeichnet, die sich bereits in den frühchristlichen Texten abzeichnet.12 Einerseits beanspruchten die Christen den Status als neues Gottesvolk und damit die Position Israels. Sie sahen die messianische Erwartung der jüdischen Schriften in Christus erfüllt und sich selbst als Träger eines erneuerten Bundes mit Gott; dementsprechend bezeichneten sie sich als (wahres) Israel, als Söhne Abrahams nach der Verheißung.13 Dieser Anspruch implizierte die Aneignung der biblischen Geschichte als christliche Vergangenheit, ein Ansatz, der Kontinuität zwischen Israel und dem christlichen Gottesvolk postulierte und daher mit einer tendenziell positiven Bewertung Israels vor der Inkarnation einherging. Gleichzeitig bedeutete die Aneignung der biblischen Geschichte aber auch den Ausschluss jener Juden aus dem „wahren Israel“, die Christus nicht als den Messias anerkannten und daher nicht zum Christentum übergetreten waren. Die Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von diesem „ungläubigen“ Teil Israels ging mit einer negativen Charakterisierung der Juden einher, die auch in die biblische Vergangenheit zurückprojiziert werden konnte.14 Im positiven wie im negativen Sinn spielten „Israel“ und die „Juden“ daher eine zentrale Rolle für die Artikulation und Definition christlicher Identität.15 Die Grundlinien der exegetischen Auseinandersetzung mit Israel finden sich bereits bei Paulus.16 12 13

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Für einen konzisen Überblick mit Bibliographie siehe Fredriksen/Irshai, Christian Anti-Judaism; Lieu, History and Theology. Vgl. die klassischen Studien von Simon, Verus Israel; Blumenkranz, Juifs et chrétiens. Zum Beispiel 1 Clement 29.2–3; Iust. Mart. dial. 123.5 und 9; 135.3; Aug. civ. 17.16; 18.47; Orig. hom. in Iesu Nave 15.1; vgl. Lieu, Image and Reality 136–140; Skarsaune, Ethnic Discourse 258; Harvey, True Israel 225–256; Dassmann, Kirche in vielen Bildern 195–220; Simon, Verus Israel 65–97. Zur damit verbundenen Frage ethnischer Terminologie siehe unten Kap. 4 und 5. Siehe die unten Kap. 2.5 Anm. 413 zitierte Literatur. Lieu, Christian Identity bes. 62–97 und 286–297; Young, Biblical Exegesis bes. 221–235; Norris, Articulating Identity bes. 71–79. Zur damit verknüpften Debatte über den Prozess der Auseinanderentwicklung von Judentum und Christentum vgl. den Überblick bei Carleton Paget, Jews, Christians 3–23; Dunn, Parting of the Ways; ders. (ed.), Jews and Christians; Becker/Yoshiko-Reed (ed.), Ways that Never Parted; Boyarin, Border Lines; Lieu, Neither Jew nor Greek 2–3 und 31–49; Leppin, Die frühen Christen 54–66. Fredriksen, Allegory 127–135; Nirenberg, Anti-Judaismus 64–76, der allerdings im Kontrast zur „New Perspective“ Paulus’ Antijudaismus stärker hervorhebt als seine jüdische Identität; vgl. Hübner, New Testament Interpretation 340–347.

Israel, Hebräer, Juden – Das biblische Israel aus christlicher Sicht

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Im Korintherbrief rekapitulierte er die Exodus-Ereignisse mit Blick auf die Botschaft, die sie für die Christusgläubigen seiner eigenen Zeit beinhalteten: all dies sei in figura geschehen, als Vorausdeutung, um die Christen davor zu warnen, wie Israel Idolatrie und Unzucht zu begehen und gegen Christus zu murren (1 Cor 10). Die Verheißung an Abraham und seine Nachkommen interpretierte Paulus nicht mit Blick auf den partikularen Bundesschluss mit den Israeliten, sondern als Verheißung an Christus, in dem alle Völker gesegnet sein würden (Gal 3). Im Römerbrief definierte er die wahren Israeliten als „Kinder der Verheißung“, nicht als Israeliten im Sinn der biologischen Abstammung, und illustrierte diesen Unterschied anhand biblischer Figuren wie Jakob und Esau (Rm 9.6–13). Die Prophezeiung aus Os 2.24 (et dicam non populo meo populus meus tu; Übers. Vulg.: „Und ich werde zu Nichtmeinvolk sagen: ‚Du bist mein Volk‘“) bezog Paulus auf die nicht-israelitischen Völker, aus denen sich das neue Gottesvolk zusammensetzen würde (Rm 9.24–26). Dabei setzte er, der sich selbst als innerhalb der jüdischen Tradition stehend verstand, Kontinuität mit dem biblischen Israel und den Geboten und Verheißungen des Alten Testaments voraus, die für jüdische Christen nach wie vor Gültigkeit besaßen, während sie mit Blick auf Christen nichtjüdischer Herkunft nicht zwingend eingehalten werden mussten. Die Spannung zwischen der wörtlichen Bedeutung des biblischen Gesetzes als einer Sammlung verpflichtender Verhaltensvorschriften und seiner figuralen Interpretation, die Christen unter anderem auf die Ritualgesetze und Speisevorschriften anwandten, wurde für die spätantike Exegese grundlegend. Mit der christologischen Lektüre der hebräischen Bibel und der Betonung des „spirituellen“ Schriftsinnes ging auch der Anspruch auf Interpretationshoheit gegenüber den Juden einher, die aus christlicher Sicht einem „fleischlichen“ Verständnis der Heiligen Schrift verhaftet blieben, deren wahre Bedeutung sie daher nicht erkannten.17 Die christliche Sicht auf Israel und die Juden war aber nicht nur durch den Prozess der Aneignung von und Abgrenzung gegenüber jüdischen Traditionen geprägt. Auch zwei weitere polemische Kontexte, nämlich die Auseinandersetzung mit der heidnischen Umwelt einerseits und das Spannungsfeld innerchristlicher Kontroversen andererseits, trugen entscheidend zur Weiterentwicklung dieser Perspektive bei.18 Die Identifikation mit dem biblischen Israel ermöglichte es Christen, als Reaktion auf heidnische Vorwürfe Anciennität für die eigene Gemeinschaft zu beanspruchen. Sie warf aber gleichzeitig die Frage auf, weshalb Christen die jüdischen Traditionen nur selektiv bewahrten und vor allem Teile des jüdischen Gesetzes nicht mehr befolgten. Gleichzeitig bestand die Notwendigkeit der Abgrenzung von den Juden, waren doch

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Fredriksen/Irshai, Christian Anti-Judaism 978–984; Nirenberg, Anti-Judaismus Kap 4, bes. 106–116, 126–130, betont die allegorische Lektüre als Grundlage antijüdischer Argumente bei Origenes und seinen Nachfolgern. Fredriksen/Irshai, Christian Anti-Judaism 977–984; Fredriksen, Augustine and the Jews 41–78; Young, Biblical Exegesis 49–75; Schott, Christianity.

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auch Christen mit antijüdischen Vorwürfen und Argumenten konfrontiert.19 Die Kritik am Alten Testament wiederum, wie sie beispielsweise Markion im 2. Jahrhundert oder später Augustinus’ manichäischer Gegenspieler Faustus artikulierten, bewirkte eine intensive Reflexion über den Status der hebräischen Bibel innerhalb der christlichen Gemeinschaft und über die Legitimität ihrer figuralen Interpretation.20 Dabei überlappten die christlichen Argumente gegen die innerchristlichen Gegner teilweise mit jenen gegen die Juden – Juden konnten so zu rhetorischen Figuren für „Häretiker“ werden.21 Die Entwicklung der exegetischen Zugänge zum Alten Testament war wesentlich durch dieses doppelte Spannungsfeld – die Auseinandersetzung mit dem Judentum und die Reaktion auf konkurrierende christliche Positionen – geprägt. Gleichzeitig waren die exegetischen Methoden selbst Gegenstand der Debatten.22 Ein gutes Beispiel für diese Dynamik bieten die Schriften des Augustinus, dessen Ansätze für den Blick nachfolgender lateinischer Exegeten auf Israel und die Juden bis weit ins Mittelalter hinein prägend bleiben sollten. Wie zuletzt Paula Fredriksen eindrücklich herausgestellt hat, entwickelte Augustinus seine Positionen in intensiver Auseinandersetzung mit Argumenten der Manichäer sowie des Pelagius und seiner Anhänger.23 Für diese Auseinandersetzung war eine intensive Beschäftigung mit der Interpretation der paulinischen Schriften und der darin enthaltenen Gnadenlehre von großer Bedeutung. Im Vergleich zu vielen seiner Vorgänger war Augustinus’ Bewertung Israels Fredriksen zufolge weitaus stärker von Vorstellungen der Kontinuität geprägt als vom Versuch der Abgrenzung gegenüber den Juden. In Reaktion auf die manichäischen Einwände gegen das Alte Testament lenkte Augustinus die Kritik nicht auf die biblischen Juden selbst, deren Hartherzigkeit und Ungehorsam für die unange19

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Die Spannung zwischen diesen beiden Argumentationslinien kennzeichnet die apologetischen Texte christlicher Autoren wie Justin Märtyrer, Tertullian, Origenes und Eusebius. Vgl. für einen konzisen Überblick Drews, Juden und Judentum 24–53; Lieu, History and Theology; dies., Image and Reality. Zu einzelnen Autoren siehe die Beiträge in: Ewards/Goodman/Price (ed.), Apologetics; zu Justin Leppin, Christlicher Intellektualismus; zu Eusebius Johnson, Ethnicity and Argument; ders., Eusebius 85–112; Schott, Christianity 136–165; Jacobs, Remains of the Jews 26–36; Ulrich, Euseb. Skarsaune, Development of Scriptural Interpretation 421–434; Nirenberg, Anti-Judaismus 109–114; Young, Biblical Exegesis 57–69; zu Markion siehe Löhr, Markion; Lieu, Art. Marcion; zu Augustinus und den Manichäern Fredriksen, Augustine and the Jews 65–78, 105–154, 213–234; Massie, Peuple prophétique. Efroymsen, Patristic Connection, aufgegriffen und weiter zugespitzt bei Nirenberg, Anti-Judaismus 107–143; vgl. Dunn, Tertullian’s Adversus Iudaeos 123–126; Cameron, Jews as Heretics 352 f. Young, Biblical Exegesis bes. 49–57 und 119–139; Lieu, Christian Identity bes. 28–48 und 62–86; dies., Neither Jew nor Greek 131–182; Dies., Self-Definition 218–223; Skarsaune, Development of Scriptural Interpretation. Mit Blick auf die Psalmen siehe die Beiträge in Vannier (ed.), Judaïsme et Christianisme. Fredriksen, Augustine and the Jews; siehe außerdem: Cohen, Living Letters 19–71, Nirenberg, Anti-Judaismus 133–143; Lee, Israel; Massie, Augustin théorecien; Massie, Peuple prophétique; grundlegend Blumenkranz, Judenpredigt Augustins.

Israel, Hebräer, Juden – Das biblische Israel aus christlicher Sicht

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nehmen Aspekte des Gesetzes verantwortlich seien, sondern verteidigte das biblische Gesetz als Ausdruck des göttlichen Willens. Die jüdische Observanz des Gesetzes erachtete er daher als legitim.24 Auch wenn Augustinus in seinen früheren exegetischen Schriften stark von der allegorischen Lektüre des Alten Testaments geprägt war, die er in den Predigten des Ambrosius in Mailand kennengelernt hatte, verschob sich in seinen späteren Werken – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Hermeneutik des Tyconius – das Gewicht auf die typologische Interpretation, die der Historizität und Integrität des Alten Testaments mehr Gewicht verlieh.25 Die Gabe des Gesetzes war für ihn ein Zeichen der Erwählung Israels, nicht eine göttliche Strafe für Ungehorsam. Die prophetische Qualität des Alten Testaments lag nicht nur in den Worten des Gesetzes, sondern auch in der historischen Erfüllung durch das biblische Israel, das Augustinus als gens prophetica verstand.26 Der historische Sinn der Schrift stand insofern nicht im Gegensatz zum spirituellen, vielmehr bildete ersterer die notwendige Voraussetzung für letzteren. Christus hob nicht die Gültigkeit des Gesetzes auf, doch veränderte das Gesetz im Zeitalter der Gnade seine Bedeutung.27 In De civitate Dei erscheint das biblische Israel als Vorausdeutung der himmlischen civitas, ohne jedoch mit ihr identisch zu sein. Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Erwählten ist von Gottes Gnade abhängig, nicht von der Zugehörigkeit zum historischen Israel oder von der Mitgliedschaft in der christlichen Kirche.28 Tempelzerstörung und Diaspora waren für Augustinus nicht schlicht ein Zeichen der göttlichen Strafe und Beleg für die Zurückweisung der Juden, sondern Teil des göttlichen Heilsplanes, in dem die Juden – auch in der Situation der Unterdrückung und gerade durch ihre Zerstreuung – als Zeugen für die christliche Wahrheit fungierten. Die biblische Geschichte Kains nahm Augustinus zum Ausgangspunkt für das Argument, dass die Juden das biblische Gesetz und ihre jüdische Identität bewahren mussten, bis nach der Verbreitung der Kirche unter allen Völkern ein Teil – der „Rest“ – Israels am Ende der Zeiten zum Glauben kommen würde. Das „wahre Israel“ werde am Ende aus zwei Völkern bestehen, aus Juden und gentes.29 Augustinus verstand zwar die im Alten Testament erzählte Geschichte als providentielle Geschichte, als von den Propheten kunstvoll erzählte „sacred history“. Doch er trennte diese „sacred history“ von der Geschichte im christlichen Zeitalter, auf die sich solche providentiellen Muster nicht einfach übertragen ließen und in der keine

24 Fredriksen, Augustine and the Jews 235–259. 25 Fredriksen, Secundum Carnem; dies., Allegory 139–149. 26 Aug. civ. 10.32; vgl. auch 7.32; anhand von Contra Faustum: Massie, Peuple prophétique bes. 393– 411, 437–476. 27 Fredriksen, Augustine and the Jews 260–276; Massie, Peuple prophétique 456–485, 505–519. 28 Fredriksen, Secundum Carnem; Cohen, Living Letters 53–55; Corradini, Ankunft der Zukunft 74–80. 29 Zu Augustinus’ Sicht auf den Status der Juden in tempora christiana und zur „Zeugentheorie“ Fredriksen, Augustine and the Jews 260–352; Cohen, Living Letters 23–71; Massie, Peuple prophétique 338–360, 485–534; vgl. unten Kap. 2.5.

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Cassiodor und das biblische Israel

politische Gemeinschaft als exklusiver Träger des göttlichen Heilsversprechens dienen konnte, auch nicht das Römische Reich.30 Damit unterschied Augustinus sich von manchen anderen christlichen Autoren, die das biblische Israel und seine Geschichte wesentlich direkter als Identifikationsmodell für ihre eigene Gegenwart heranzogen. Cassiodor und die Vielschichtigkeit Israels Cassiodor schloss in der EP an die eben skizzierten Traditionen des Umgangs mit Israel an, und so finden sich auch in der EP verschiedene Ebenen der Wahrnehmung Israels. Wie wir sehen werden, schenkte Cassiodor den historischen Aspekten des biblischen Textes große Aufmerksamkeit. Ausgehend von den Psalmen, die wichtige Episoden der biblischen Geschichte erzählen und dazu dienen sollen, die Israeliten zu mahnen oder in Krisenzeiten zu bestärken, analysierte er sorgfältig Israels historische Rolle als Gottes auserwähltes Volk. Zudem betonte er anhand dieser Psalmen stärker die Kontinuität zwischen dem historischen Gottesvolk und der christlichen Gemeinschaft als die Differenzen zwischen den beiden: Israel präsentierte er als Vorläufer der Kirche und des populus christianus bzw. der christlichen gentes. An manchen Stellen sprach Cassiodor daher auch von der synagoga fidelis, dem christusgläubigen Teil der Juden, der „sowohl glaubte, dass Christus kommen werde, als auch seine Ankunft mit ruhmvoller Erwartung aufnahm“. Die synagoga fidelis war daher in Cassiodors eigener Gegenwart im christlichen Gottesvolk aufgegangen.31 Andererseits enthält die EP auch zahlreiche Passagen, in denen Cassiodor scharf gegen die Juden polemisierte und alle Register der contra Iudaeos-Tradition zog.32 Aufgrund der besonderen erzählerischen Struktur der Psalmen kommt für die EP außerdem noch eine weitere Ebene hinzu, begegnet Israel hier doch sowohl als Akteur im Narrativ (als „erzähltes Israel“) als auch auf der Ebene des rhetorischen Rahmens der Psalmen, als (kollektiver) Sprecher oder als Gruppe, an die der Psalmentext gerichtet ist. Diese unterschiedlichen textuellen Ebenen führen im Kommentartext manchmal zu einer Überlagerung verschiedener Zeitebenen und zum Nebeneinander von „historischen“ und „theologischen“ Perspektiven. Cassiodor unterschied auch sprachlich zwischen den verschiedenen „Israels“. In der EP stehen Israel und Hebraeus (und die daraus abgeleiteten Formen) in der Regel für das biblische Israel des Alten Bundes. Hebraeus erscheint dabei als eher neutraler Terminus, der häufig die historischen Akteure oder – adjektivisch – die hebräische Spra-

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Markus, Saeculum 13–23. EP 49.tit.: [fidelis synagoga quae] et uenturum Christum credidit, et aduentum eius gloriosa exspectatione suscepit; 49.div. Siehe dazu unten 2.5.

Israel, Hebräer, Juden – Das biblische Israel aus christlicher Sicht

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che bezeichnet.33 Israel hingegen ist weitaus stärker mit Vorstellungen von göttlicher Erwählung verbunden und bezeichnet das Gottesvolk des Alten Testaments, den Vorläufer des christlichen Gottesvolkes. Dies legt schon die in der christlichen Exegese traditionelle Deutung „Israels“ als „Gott sehend“ nahe, die Cassiodor mehrfach zitierte.34 Iudaeus wiederum verwendete Cassiodor meist, um die Juden als „Andere“ zu beschreiben, sowohl im Kontext des Alten Testaments als ungehorsames und störrisches Gottesvolk, als auch im christlichen Kontext als jene, die Christus abgelehnt hatten oder dies noch stets taten.35 Allerdings wies auch Cassiodor immer wieder darauf hin, dass zahlreiche Juden in der apostolischen Zeit der Kirche beigetreten waren oder dies am Ende der Zeit tun würden. Insofern bildete der populus Iudaeus gemeinsam mit den gentes eine der beiden Gruppen, aus denen sich das christliche Gottesvolk und die Kirche zusammensetzte.36 Schließlich übertrug Cassiodor an einigen Stellen den Titel Israel (seltener auch Iudaea/Iudaei) auf die Christen, die „wahrhaft Gott sehen“, und drängte dadurch die Juden aus ihrer biblischen Rolle als auserwähltes Volk.37 Freilich ist die begriffliche Unterscheidung zwischen Israel, Hebraeus, Iudaeus nicht im gesamten Psalmenkommentar konsequent durchgehalten – dennoch bildet sie ein gutes Raster zur Orientierung, über welches der verschiedenen „Israels“ Cassiodor jeweils spricht.38 33 Beispiele: EP 26.10; 43.3; 64.tit.; 73.2; 77.div.; lingua hebraica: 2.tit.; 53.tit.; 66.tit.; 147.tit. Zum antiken Hintergrund der Terminologie siehe Harvey, True Israel 270–271; auch Eusebius unterscheidet zwischen „Hebräern“, die bei ihm für die vormosaischen Patriarchen stehen und als christliche Vorfahren vereinnahmt werden, und „Juden“, siehe Jacobs, Remains of the Jews 29–36; Hollerich, Eusebius’s Moses 127 f. 34 EP 49.7; 52.7; 67.35; 75.2.; 79.2; 88.tit.; 113.2; 120.4; 134.4; 134.12; 145.5; 149.2. Vgl. zur Tradition dieses Gebrauchs Harvey, True Israel 148–266 und 271–273; Hayward, Interpretations of the Name Israel 18–37 (Altes Testament); 330–351 (Patristik). 35 Iudaei im negativen Sinn aus einer Fülle von Beispielen: EP 2.div.; 2.5; 7.8; 13.3; 17.40; 17.41; 17.43; 17.44–45; 21.7–9, 11; 21.13; 21.concl.; im AT-Kontext: 7.5; 77.div.; 77.7–8; 77.31; 77.37; 77.57; 79.7. Zur – nicht unumstrittenen – semantischen Entwicklung von Iudaeus siehe Harvey, True Israel 11–147; Cohen, Beginnings of Jewishness 69–106; Lieu, Christian Identity 286–292. Die Diskussion dreht sich nicht zuletzt um die Frage, ob und wann Iudaeus in der Spätantike seine ethnographischen Konnotationen verliert und sich zu einem religiösen Begriff wandelt, vgl. dazu auch unten Kap. 3.3. 36 Juden als Mitglieder der apostolischen Urgemeinde: EP 39.4; 58.15; 75.div.; 96.tit.; Konversion am Ende der Zeiten: EP 58 passim; 73.10; 74.9; 88.47; 103.11; 129.8; Iudaei und gentes als Teile der Kirche 13.7; 19.2; 45.11; 47.3; 49.12; 74.9; 94.4; 107.4; 135.22; positive Iudaei im AT-Kontext: 79.2 und 13; 77.4; 105.48. 37 Siehe z. B. 145.5: Israel als „Bezeichnung, die man passenderweise auf alle Erwählten bezieht (Quod uocabulum ad omnes electos competenter aptatur)“; 149.2. Ex negativo in 75.2: „wie können jene diesen Namen vernünftigerweise für sich beanspruchen, die Gott nicht erkennen? ([…] quomodo sibi istud nomen rationabiliter uindicare possunt, qui Deum non agnoscentes […]).“ In Analogie dazu definierte Cassiodor in EP 75.2 und 75.concl. Iudaea/Iudaei als „jene, die bekennen“ und verknüpfte dies mit der Anerkennung Christi; vgl. auch EP 47.12; 96.78 und 113.2. 38 Abweichungen betreffen insbesondere den Gebrauch von Iudaeus als theologische Kategorie, die vor allem das Zeitalter nach der Inkarnation betrifft. Im Gegensatz dazu erscheinen die Iudaei bzw. der populus Iudaeus im Kommentar zu einigen Psalmen auch als auserwähltes Volk des Alten Bun-

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Cassiodors Umgang mit den Juden im Zeitalter nach der Inkarnation und seine antijüdische Polemik sollen Gegenstand des Abschnittes 2.5 sein. Zunächst soll aber die Frage nach dem Identifikationspotential des biblischen Israel und seine Funktion als Modell für ein christliches Gottesvolk im Fokus stehen. 2.2 Israel als soziale Metapher Um die identitätsstiftende Funktion des biblischen Israel in exegetischen Texten zu analysieren, ist das Konzept der „sozialen Metapher“ hilfreich, wie es Jacob Neusner für die Analyse der Identitätsentwürfe in den Texten der Mishnah und des Talmud vorgeschlagen hat. Soziale Metaphern dienen nach Neusner dazu, einer Gruppe ihre Identität als Gemeinschaft vorstellbar zu machen.39 Sie erleichtern es dem Einzelnen, sich als Teil der Gemeinschaft zu begreifen und über den Platz dieser Gemeinschaft in der Welt und im Verhältnis zu Gott zu reflektieren. Der Rekurs auf das biblische Israel beschreibt in den von Neusner untersuchten jüdischen Schriften keine soziale Realität, sondern ein soziales Ideal. Wie Neusner betont, repräsentiert schon das „Israel“ des Pentateuch eine spezifische Perspektive, in der die Identität Israels als Gottesvolk kontingent ist und von seiner Beziehung zu Gott und der Aufrechterhaltung des Bundes abhängt. Es ist eine Gemeinschaft, deren Existenz im Lauf der Geschichte immer wieder in Frage steht und neu affirmiert werden muss.40 Der Rekurs auf Israel trägt dazu bei, Kriterien der Zugehörigkeit zu jener Gemeinschaft zu definieren, die sich in Analogie zum biblischen Modell als „Israel“ begreifen soll, und veranschaulicht die damit einhergehenden Verpflichtungen wie die Einhaltung des Gesetzes.41 Die konkrete Ausgestaltung der Israel-Metapher ist variabel und kontextabhängig – so kann Israel je nach Kontext und Argumentationszusammenhang als Volk, als (erweiterte) Familie, als politische Einheit beschrieben bzw. metaphorisiert werden.42 In den Psalmen begegnen wie in den übrigen Büchern des Alten Testaments verschiedene weitere Metaphern für das Gottesvolk, die jeweils unterschiedliche Aspekte

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des und daher synonym mit Israel: z. B. EP 67.div.; 77.4; 80.4,7 und 11; 104.4 und concl.; 131.6; 135. div. und 13. In EP 74.div. und 74.2 identifizierte Cassiodor den populus Iudaeus und die fideles Iudaei mit den (zukünftigen) Christen. Neusner, Judaism and its Social Metaphors 2, definiert soziale Metaphern als „„instances of metaphors invoked to explain the character and standing of a social entity. Social metaphors refer to the things with which a group of people compare themselves in accounting for their society together“. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft 25, beschreibt in einem ähnlichen Sinn „Metaphern der Gesellschaft“ als „sozialisierte und sozialisierende Bilder, in denen Gesellschaften sich ihre Seinsart interpretierend vergegenwärtigen.“ Neusner, Judaism and its Social Metaphors 8–18. Neusner, Judaism and its Social Metaphors 87 f. Neusner, Judaism and its Social Metaphors 207–235 und die vorangehenden Fallstudien.

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der Erwählung Israels und seiner Beziehung zu Gott betonen.43 Die Metapher von der Herde und ihrem Hirten beispielsweise zielt auf den Schutz und die wachsame Führung des Volkes durch Gott und hebt gleichzeitig den Gehorsam und die Homogenität der auf Gott ausgerichteten Gemeinschaft hervor.44 Metaphern von Verwandtschaft und biologischer Abstammung können die umfassende und letztlich abstrakte politische Gemeinschaft nachvollziehbar machen, indem sie diese als natürliche Erweiterung der Familie darstellen, die der Einzelne als Teil seiner unmittelbaren sozialen Erfahrung kennt.45 Das Bild vom Gottesvolk als Organismus verbindet die Vorstellung von natürlicher Verbundenheit, gegenseitiger Abhängigkeit und sozialer Hierarchie mit der Rhetorik von Krankheit und Gesundheit.46 In einem ähnlichen Sinn lässt sich auch die Beziehung zwischen Israel und der christlichen Gemeinschaft, die in exegetischen Texten implizit oder explizit entwickelt wird, als Konstruktion einer sozialen Metapher analysieren. Die Identifikation mit Israel kann als Instrument der Selbstdefinition, aber auch der Kritik und der Hermeneutik der Krise dienen.47 Ein solcher Zugriff auf die Aneignung und Umdeutung Israels in der christlichen Exegese ermöglicht es zudem, die durch die figurale Exegese konstruierten Beziehungen zwischen dem biblischen Gottesvolk und der Erfahrungswelt des Exegeten als metaphorische Beziehungen zu analysieren. Der Ansatz Neusners lässt sich so mit den Ergebnissen moderner Theorien der Metapher verbinden.48 Dabei sind für die hier verfolgte Fragestellung insbesondere jene Zugänge sinnvoll, 43 Siehe Brown, Seeing the Psalms. 44 Zu den Implikationen der Herdenmetapher für Vorstellungen von Macht und ihrer Ausübung im christlichen Kontext vgl. insbesondere die Analysen Foucault, Omnes et singulatim; ders., Security, Territory, Population 123–190; vgl. Veyne, Foucault 207–226. Zum biblischen Hintergrund Hunziker-Rodewald, Hirt und Herde; zur Rezeption in der christlichen Spätantike und im frühen Mittelalter Suchan, Mahnen und Regieren; Pollheimer, Of Shepherds and Sheep, jeweils mit weiterführender Literatur. 45 Neusner, Judaism and its Social Metaphors 112–163; Lassen, Family as Metaphor; Schwartz, Curse of Cain 77–106; Perlitt, Ein einziges Volk von Brüdern. Zur christlichen Fortschreibung: Lieu, Christian Identity 164–169; Scott, Adoption as Sons of God; Johnson Hodge, If Sons, then Heirs bes. 19–26; Aasgaard, Christian Siblingship in Paul bes. 107–116 und 310–312; Buell, Making Christians. 46 Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft 79–100. Im christlichen Diskurs erhält die Körpermetapher durch die Vorstellung vom corpus Christi bzw. corpus mysticum eine spezifische Richtung: siehe die klassische Studie von Kantorowicz, The King’s Two Bodies; aus der Fülle an politik- und kulturwissenschaftlicher Literatur vgl. den konzisen Überblick bei Koschorke/Lüdemann/ Frank/Matala de Mazza, Der fiktive Staat. 47 Neusner, Judaism and its Social Metaphors 187–192 und 215–220 (zur christlichen Aneignung der Israel-Metapher). 48 Mit Blick auf die Vielfalt an theoretischen Angeboten aus Philosophie, Rhetorik und Literaturwissenschaft versteht es sich von selbst, dass die Auswahl aus diesem theoretischen Angebot nach dem Prinzip der „Werkzeugkiste“ pragmatisch erfolgen muss. Siehe für einen Überblick Haverkamp (ed.), Theorie der Metapher; ders. (ed.), Die paradoxe Metapher; Sellin, Metapher im Reich der Tropen; Rolf, Metapherntheorien, Skoskice, Metaphor and Religious Language 24–53; Eggs, Metapher. Zu antiken Konzeptionen siehe Haverkamp, Metapher 25–41; Lau, Me-

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die wie die Metapherntheorie Umberto Ecos die Metapher nicht in erster Linie als ästhetisches, sondern als semantisches Problem betrachten und ihre spezifischen kognitiven Funktionen in den Blick nehmen. Weil die Metapher als Interaktion oder „Verdichtung“ zwischen semantischen Feldern einen Prozess der Bedeutungsproduktion in Gang bringt, erlaubt sie es Eco zufolge, neue und ungewohnte Zusammenhänge zwischen Dingen wahrzunehmen. Sie organisiert so die Wahrnehmung und Hierarchisierung von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Die Analyse der Metapher als Analyse von semantischen Komponenten und ihrer Beziehung untereinander erlaubt dabei Rückschlüsse auf die semantische Codierung der verwendeten Ausdrücke, auf die „kulturelle Enzyklopädie“, deren Kenntnis für das Verständnis der Metapher notwendig ist.49 Auch Hans Blumenbergs Metaphorologie stellt die Funktion von Metaphern als Erkenntnisinstrument (im Gegensatz zu ihrer Funktionsweise) ins Zentrum. Im Gegensatz zum Begriff erlaubt es die Metapher, imaginativ über den Horizont dessen hinauszugehen, was sich objektivieren und begrifflich fassen lässt. Sie ermöglicht die sprachliche Annäherung an abstrakte Sachverhalte oder Bereiche, die der menschlichen Erfahrung nur in mittelbarer oder theoretischer Form zugänglich sind.50 Ihre „epistemologische Rolle“ besteht darin, solche „Wissenslücken“ zu füllen – mit Cicero gesprochen, antwortet sie auf die egestas verborum.51 Die Metapher ist in diesem Sinn vor allem ein Erkenntnisinstrument, oder besser, ein Modus des Erkennens, den Blumenberg im Anschluss an Kant als „Verfahren, etwas durch etwas anderes zu begreifen“ beschrieben hat.52 Aus dieser Perspektive konzentriert sich die Analyse der Metapher nicht nur auf die (semantischen) Ähnlichkeiten zwischen Worten bzw. den durch sie bezeichneten Gegenständen, sondern auf die gemeinsamen „Regeln für die Reflexion“ über diese Gegenstände. Wie Blumenberg im Anschluss an ein schon von Kant verwendetes Beispiel aus der Staatsmetaphorik erläutert, ist „zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber

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tapherntheorien; Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik § 558–564; Eggs, Metapher 1099–1115. Eco, Semiotik 133–192 (hier 145 f.); ders., Grenzen der Interpretation 191–216; vgl. auch die Arbeiten Harald Weinrichs zur Semantik der Metapher in: Weinrich, Sprache in Texten. Blumenberg, Paradigmen; ders., Beobachtungen; ders., Wirklichkeiten; ders., Theorie der Unbegrifflichkeit; ders., Schriften. Siehe zu Blumenbergs Metaphorologie Zill, Substrukturen; Stoellger, Metapher und Lebenswelt; Haefliger, Imaginationssysteme. Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit 88 f. Blumenberg spricht vom „Mut der Metapher als Mut zur Vermutung über die Natur der Wirklichkeit“ (89). Auf die Erkenntnismöglichkeiten für die Sprach- und Kulturgeschichte, die sich aus einer Analyse eines Spektrums an „Dingbedeutungen“ in mittelalterlichen exegetischen Texten und allegorischen Wörterbüchern ergibt, hat bereits Ohly, Vom geistigen Sinn, hingewiesen. Blumenberg, Paradigmen 11 f.; ders., Anthropologische Annäherung 116. Augustinus beschrieb in De trinitate den Effekt der Allegorie in sehr ähnlicher Weise als das Begreifen einer Sache durch eine andere: quid est allegoria nisi tropus ubi ex alio aliud intellegitur? (Aug. trin. 15.9.15; vgl. Irvine, Making of Textual Culture 258 f.)

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zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren.“ Die Metapher ist demnach „Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann.“53 Der so als Analysegegenstand definierten Metapher entsprechen in etwa die „conceptual metaphors“, die Johnson und Lakoff in ihrer Metapherntheorie ins Zentrum stellen und die sie als „interpretative Strukturierung eines Konzepts durch ein anderes Konzept“ beschreiben.54 In dieser Form erschließt die Metapherntheorie einen (weiteren) Zugang zur Auswertung exegetischer Texte. Im Zuge der figuralen Interpretation wird der metaphorische Prozess in der Exegese sozusagen umgekehrt und in seinen Grundlagen erläutert. Unabhängig von der Auflösung von primären, im Bibeltext vorhandenen Tropen basierte die figurale Exegese auf einem „metaphorischen“ Modus der Interpretation. Folgerichtig besteht die figurale Interpretation zu wesentlichen Teilen in der Produktion von exegetischen Metaphern.55 Der Bibeltext wird zum Ausgangspunkt für eine sekundäre, durch den Exegeten gesetzte Metapher, die gegebenenfalls in einem weiteren Schritt erläutert und in konzeptuelle Sprache (rück-)übersetzt wird. Im Verständnis der spätantiken Exegeten machte ein solches Verfahren freilich lediglich die im Bibeltext verborgene Bedeutung explizit.56 Dabei werden die impliziten Voraussetzungen, auf denen die Metaphern beruhen, ausformuliert und die Beziehungen der Ähnlichkeit erläutert. Die figurale Deutung lässt sich so als Verhandlung über die metaphorischen Beziehungen analysieren, die zwischen dem Bibeltext und der eigenen (sprachlichen)

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Blumenberg, Paradigmen 12 (Kant zitierend). Lakoff/Johnson, Metaphors. Diese Beschreibung des Verfahrens folgt der hilfreichen Analyse bei Hahner, Cassiodors Psalmenkommentar 228–236. Dabei ist zu beachten, dass Cassiodor die Metapher, Quintilian folgend, als Übertragung eines Wortes oder Ausdrucks von seiner eigentlichen Bedeutung in einen anderen Kontext definierte (EP 31.6; vgl. Quint. inst. 8.6.5; Agosto, Impiegeo e definizione 135 f.), wobei er sie als paradigmatisch für andere Tropen verstand (siehe die fast gleichlautende Definition von tropus in EP 3.8). Die hier ausgehend von modernen Theorien angestellten Überlegungen zur Funktion von Metaphern lassen sich am ehesten mit Cassiodors Konzeption der Allegorie bzw. der similitudo im Sinn des allegorischen Modus der Interpretation vergleichen. Anders als Cicero, der die Allegorie als metaphora continua definierte (Cic. orat. 27.94; Quint. inst. 9.2.46; dazu Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik 895; Whitman, Allegory 264 f.; Haverkamp, Metaphora dis/continua 31–36), zog Cassiodor keine explizite Verbindung zwischen Metapher und Allegorie. Während seine Metaphern-Definition den Prozess der Übertrag eines Ausdruckes von einem Kontext auf einen anderen betonte, lag der Akzent bei der Allegorie auf der Divergenz zwischen Wortbedeutung und Sinn. Wie Agosto, Impiego e definizione 223 bemerkt, verwendet Cassiodor den Begriff Allegorie allerdings sowohl in einem sehr weiten Sinn für die figurative Sprache des Psalters als auch in einem engeren Sinn für eine spezifische rhetorische Figur. Vgl. dazu oben Kap. 1.3. Zum Zusammenhang zwischen Metapher und Allegorie in der Exegese siehe Irvine, Textual Culture 244; Eggs, Metapher 1115 f.; Sellin, Allegorese 12–15. Vgl. dazu die Unterscheidung zwischen kompositorischer (also vom Autor des Textes intendierter) und interpretativer (vom Exegeten angewendeter) Allegorie bei Whitman, Allegory 3–9 und passim.

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Wirklichkeit bestehen. Hier liegt das heuristische Potential einer solchen Analyse: sie kann zeigen, wie der Bibeltext herangezogen wurde, um die eigene Welt zu begreifen und ihr Sinn zu verleihen. Ein Beispiel kann dieses analytische Potenzial illustrieren: die Metapher vom Weinberg, die in verschiedenen Texten des Alten und Neuen Testaments wiederkehrt, um Israel und seine Geschichte als Gottes auserwähltes Volk zu beschreiben.57 Ps 79 erzählt anhand der Metapher vom Weinstock, der in einem neuen Land gepflanzt wird, dort gedeiht und schließlich verwüstet wird, im Zeitraffer die Geschichte Israels vom Exodus aus Ägypten über die Landnahme bis zum Untergang des Reiches zu einem unbestimmten Zeitpunkt:58 Einen Weinberg hast Du aus Ägypten versetzt; du hast Völker vertrieben und ihn gepflanzt./ Führer auf dem Weg bist Du gewesen in seinem Anblick und hast seine Wurzeln gepflanzt, und er hat das Land erfüllt./ Bedeckt hat die Berge sein Schatten und sein Geäst die Zedern Gottes./ Ausgestreckt hat er seine Zweige bis zum Meer und bis zum Fluss seine Ranken./ Wozu hast du seine Mauer niedergerissen und halten alle Weinlese an ihm, die des Weges vorübergehen? Vernichtet hat ihn ein Eber aus dem Wald, und ein einzelnes wildes Tier hat ihn abgefressen.59

Wie jede organische Metapher bringt der Weinstock Implikationen für die Wahrnehmung einer menschlichen Gemeinschaft und ihres Zusammenhaltes mit sich. Der Bibeltext schöpft das Potential der Metapher voll aus: er konstruiert eine Beziehung der Ähnlichkeit zwischen dem Weinstock und dem auserwählten Volk. Der Weinstock verdankt seine Existenz der Tätigkeit des Bauern, der ihn pflanzt, pflegt und behütet. Unter günstigen Bedingungen wächst und gedeiht er an einem festen Ort; er benötigt Schutz vor äußeren Gefahren, etwa in Form von Mauern, wofür der Bauer verantwortlich ist. Wie ein Weinstock ist Israel in seinem Territorium, dem Gelobten Land, verwurzelt; Israels politische Konsolidierung und die Ausweitung seines Herrschaftsge-

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Is 5.1–7; Ier 2.21; 12.7–13; Os 10.1. Die Metapher wird auch im Neuen Testament aufgenommen und weiterentwickelt (Mt 20.1–8 und Mt 20.33–41). Vgl. Akpunonu, Vine; zu Baum-Metaphern in den Psalmen Brown, Seeing the Psalms 55–79; zum Gebrauch von agrikulturellen und botanischen Metaphern im frühen Christentum Johnson Hodge, Olive Trees. Prinsloo, Shepherd; Akpunonu, Vine 44–86; Bassoon, Divine Metaphors 227–242. Ps 79.9–14 (Übers. Vulg.). Der lateinische Text des Psalms in der in EP 79 zugrundeliegenden Version lautet: Vineam ex Aegypto transtulisti; eiecisti gentes et plantasti eam./ Viam fecisti in conspectu eius et plantasti radices eius et repleta est terra./ Operuit montes umbra eius et arbusta eius cedros Dei/ Extendisti palmites eius usque ad mare et usque ad flumen propagines eius./ Vtquid deposuisti maceriam eius et uindemiant eam omnes qui transeunt viam?/ Exterminauit eam aper de silua et singularis ferus depastus est eam.

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bietes wird als natürliches Wachstum beschrieben. Im Gegenzug wird die Vertreibung der Völker (gentes) mit dem Entfernen von Unkraut vor der Bepflanzung verglichen. Wie ein Weinberg bedarf auch Israel einer Grenzmauer, deren Wegfall bedrohlich für die Gemeinschaft ist und sie letztlich der gewaltsamen Zerstörung durch ihre „natürlichen“ Feinde ausliefert. Wie der Weinstock von der Fürsorge und dem Wohlwollen des Bauern abhängig ist, liegt auch Israels Schicksal und Fortbestand in Gottes Hand, der ihm Zuwendung und Wohlwollen schenkt oder es die Macht seiner Strafe spüren lässt. Die Metapher lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf jene Merkmale, die Vergleichbarkeit zwischen einem Weinstock und einem Gottesvolk suggerieren und überträgt die Wahrnehmung des einen auf die Wahrnehmung des anderen Objektes. Sofern der Leser die Metapher akzeptiert und dekodiert, erfasst er auch die Implikationen für die Wahrnehmung seiner Gemeinschaft. In diesem Fall besteht der Effekt der Metapher in der „Naturalisierung“ von Israels Existenz und seiner historischen Entwicklung: seine Verbindung mit dem Gelobten Land ist ebenso natürlich gegeben wie sein Antagonismus zu einfallenden Feinden. Die Metapher entwickelt außerdem eine spezifische Interpretation der Beziehung zwischen Israel und seinem Gott. Die „Regeln der Reflexion“,60 die aus der Metapher des Weinstocks gewonnen werden, dienen gleichzeitig der Legitimation Israels und der Erklärung für den Verlust eines verlorenen Idealzustandes. In seinem Kommentar zu Ps 79 folgte Cassiodor der metaphorischen Richtung, die der Psalmentext vorgibt. Er machte die Identifikation zwischen dem Weinstock und Israel explizit, wie sie auch in der christlichen Exegese seit dem Neuen Testament angenommen wurde, und übersetzte die Geschichte vom Weinstock Schritt für Schritt zurück in eine historische Erzählung. Er dekodierte sorgfältig die Anspielungen des Psalmentextes auf unterschiedliche Ereignisse aus der Geschichte des israelitischen Volkes, der gens Hebraeorum.61 Die Pflanzung des Weinstocks, so erläuterte er, bezeichne die Migration und Ansiedlung der Israeliten im Gelobten Land, begleitet von göttlichen Wundertaten während des Exodus und gefestigt durch die göttliche Unterstützung bei der Vertreibung der nichtisraelitischen Völker, der Amoriter, Hetither und Jebusiter. Die Plünderung des Weinberges durch die Vorbeiziehenden und seine Zerstörung durch wilde Tiere verstand Cassiodor als Hinweis auf Israels Auseinandersetzungen mit ungläubigen Völkern (gentes). In einem weiteren Schritt bezog er den Text konkret auf die Zerstörung Jerusalems durch die römische Armee unter Vespasian und Titus im Jahr 70 n. Chr., als „[Titus] die jüdische gens über die Grenzen der patria hinaus zerstreute“ und „er die gens und die civitas in schreckenerregender Abweidung wie Futterkräuter verschlang.“62 60 61 62

Blumenberg, Paradigmen 4. EP 79.9. EP 79.13–14: […] ut gentem et ciuitatem quasi herbarum pabula terribili depastione consumeret.

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In der Exegese kehrte Cassiodor also den metaphorischen Prozess um, indem er die „geteilten Regeln der Reflexion“ (Blumenberg), die die biblische Metapher impliziert, ausformulierte und festschrieb. Während dieses Vorgehen den Spielraum zum Verständnis der Metapher bei Cassiodors Publikum einschränkte, indem die Interpretation gleich mit vorgegeben wurde, eröffnet es modernen Lesern Einblick in Cassiodors Annahmen und kulturelle Deutungsmuster.63 Durch die spezifische Art und Weise, in der Cassiodor die biblische Metapher interpretierte und aneignete, verstärkte er ihre Funktion innerhalb des Psalms und kanalisierte ihre Rezeption durch seine Leser. So verwies er beispielsweise auf die Bedeutung der Grenzmauern als Sinnbild des göttlichen Schutzes für die Gemeinschaft, deren Fortbestand (oder militärischer Untergang) daher von ihrem religiösen Verhalten abhängig war. Indem er Israel, die metaphorisierte Gemeinschaft, als populus und als gens beschrieb, die einer patria und einer civitas zugeordnet, kriegerischen Bedrohungen ausgesetzt und auf das machtvolle Handeln ihres Gottes angewiesen war, wird klar, dass er den Weinstock als Metapher nicht für eine auserwählte Gemeinschaft beliebiger Art verstand, sondern spezifisch für ein Gottesvolk, eine politisch verfasste Gemeinschaft. Cassiodor benutzte die Weinstockmetapher, um die Vorstellung von Israel als Gottesvolk, von seinem Platz innerhalb der Geschichte und ihrer providentiellen Ordnung zu schärfen. Dabei knüpfte er die politische Identität dieser Gemeinschaft eng an religiöse Zugehörigkeit und die damit einhergehenden moralischen Verpflichtungen. Gleichzeitig schlug Cassiodor, ebenfalls der exegetischen Tradition folgend, eine zweite Lesart des Textes vor. Er konstruierte eine weitere metaphorische Beziehung, diesmal zwischen dem Weinstock und einer christlichen Gemeinschaft: im Kommentartext diente die Geschichte vom Weinstock nun nicht mehr nur als moralisierende Deutung von Israels Geschichte, sondern trug auch dazu bei, die christliche ecclesia zu definieren, ihre historische Entwicklung und ihre Institutionen in Analogie zu jenen Israels zu beschreiben. Wie der Weinstock (und Israel) besaß die Kirche Wurzeln (die Propheten und die Tradition des Alten Testaments), von denen ausgehend sie sich über die gesamte Erde verbreitete. Die Apostel wurden mit den Zweigen des Weinstockes verglichen, die individuellen Christen mit seinen Setzlingen.64 Wie der Weinstock (und das Volk Israel) bildete die ecclesia, mit ihren unterschiedlichen Teilen und Mitgliedern von verschiedenem Rang und Status, dennoch eine organisch verbundene Einheit. Manche Aspekte der Metapher bedurften allerdings der Qualifizierung: anders als der Weinstock (und das Volk Israel) ließ sich die ecclesia nicht als auf ein bestimmtes Territorium oder eine geographische Region begrenzt denken, sondern umfasste den gesamten Erdkreis.65 Aber wie der Weinstock war die ecclesia eine Schöpfung

63 64 65

Eco, Semiotik 145 f., bezeichnet die Metapher als Zugang zur „kulturellen Enzyklopädie“. EP 79.10 und 12. EP 79.9; 79.12.

Israel als soziale Metapher

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Gottes und unterstand seiner Fürsorge. Christus hatte durch seine Heilstat bewirkt, dass die ecclesia nicht länger prinzipiell in dem Zustand der Sünde verweilte, der zur Zerstörung des Weinstocks geführt hatte. Dennoch musste man in dieser Welt damit rechnen, dass die ecclesia sowohl welkende Blätter als auch süße Früchte hervorbrachte, Sünder und Heilige.66 Schließlich war sie wie der Weinstock (und Israel) zeitweise Bedrohungen und Prüfungen ausgesetzt, die aber im Fall der ecclesia letztlich nicht zu ihrem Untergang, sondern zu ihrer Reinigung und zur Vermehrung der Märtyrer in ihren Reihen führten.67 In der Exegese fungierte der Weinstock somit als Metapher für zwei verschiedene Gemeinschaften: einerseits für Israel, das nicht nur als religiöse, sondern auch als politische und ethnische Gemeinschaft beschrieben wird, andererseits für eine universale christliche Kirche. Die christliche Interpretation setzte die ecclesia, das spirituelle Israel, an die Position der metaphorisierten Gemeinschaft und entwarf damit ein Identifikationsangebot für ein christliches Publikum. Dadurch wurde auch eine Beziehung der Ähnlichkeit zwischen Israel und der christlichen Gemeinschaft konstruiert: beide wurden aufgefordert, die Metapher auf sich zu beziehen, und teilten den durch sie implizierten Status als Gottesvolk. Der Weinberg legt den Rezipienten des Psalms also eine bestimmte Vorstellung von der sozialen Gemeinschaft nahe, als deren Mitglieder sie sich identifizieren sollten. Die Akzeptanz der Metapher impliziert auch eine spezifische Vorstellung von den Beziehungen der Mitglieder der Gemeinschaft untereinander – sie sind Teil einer „natürlichen“, organischen Einheit – ebenso wie von der religiösen Fundierung dieser Gemeinschaft. Gleichzeitig präsentiert die Metapher den Besitz des Gelobten Landes (oder analog dazu den universalen Anspruch der Kirche) als Resultat einer natürlichen Entwicklung. Die Mitglieder der Gemeinschaft sind aufgefordert, sich die durch die Metapher vorgegebene Perspektive auf ihre Gemeinschaft zu eigen zu machen. Dabei werden die ideologischen Effekte und das Legitimationspotential deutlich, die sich aus der Wahl bestimmter Metaphern für religiöse und politische Gemeinschaften ergeben.68 Wie Ps 79 thematisieren auch andere Psalmen Israels Identität als Gottesvolk und die Gestaltung seiner Beziehung zu Gott – sowohl durch den Gebrauch von Metaphern und Gleichnissen als auch durch die Nacherzählung und Interpretation von Israels Geschichte. Das erzählte Israel des Psalmentextes wird so selbst zur „sozialen 66 67 68

EP 79.16–19; zum Vergleich zwischen folia caduca bzw. fructus mit Sündern und Heiligen 79.9. EP 79.9. Vgl. zur sozialen und ideologischen Funktion von Metaphern am Beispiel des Vergleiches zwischen Organismus- und Vertragsmetapher in der Staatsmetaphorik der modernen Gesellschaftstheorie: Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, bes. 79–87. Eine hervorragende Diskussion von Gemeinschaftsmetaphern und den damit verbundenen Strategien der Machtausübung in christlichen Predigten: Bailey, Christianity’s Quiet Success 39–59. Siehe auch die oben Anm. 48–54 zitierte Literatur zur Metapherntheorie.

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Metapher“ im Sinn Jacob Neusners. Die Geschichten und Exempla, aber auch die Monologe, Gebete und Klagen des Psalmensprechers machen der angesprochenen Gruppe von Menschen ihre Identität als Gemeinschaft begreifbar. Sie bieten den einzelnen Mitgliedern ein Muster an, um sich als Teil der Gemeinschaft zu denken; gleichzeitig organisiert die Gottesvolkmetapher die Vorstellung von der Beziehung des einzelnen und der Gemeinschaft zu Gott. In einer parallelen Bewegung benutzen christliche Exegeten wie Cassiodor die Psalmen und ihre Erzählungen über Israel, um ihrem jeweiligen Publikum das Konzept eines christlichen „Gottesvolkes“ zu veranschaulichen, es zur Teilnahme daran zu motivieren und ihm entsprechende Handlungsanweisungen anzubieten. Das so skizzierte Verständnis von Exegese als metaphorischem Modus ist grundlegend für die folgende Analyse der Art und Weise, wie Cassiodor das biblische Israel als „soziale Metapher“ für christliche Gemeinschaften aufbereitete und versuchte, aus der biblischen Geschichte Anleitung für die Deutung der eigenen Gegenwart zu gewinnen. Welchen Zusammenhang stellt die Exegese zwischen dem Bibeltext und christlichen Inhalten her, zwischen alttestamentlicher Geschichte und christlicher Gegenwart, zwischen dem biblischen Israel und christlichen Gruppen, und zwischen der Art und Weise, über beide zu reflektieren? Ein solcher Zugang rückt außerdem die Permeabilität zwischen Bibeltext und zeitgenössischen Diskursen in den Blick und erlaubt es, die semantischen und ideologischen Effekte, die sich aus der Übertragung des biblischen Vokabulars in einen christlichen Deutungshorizont ergeben, zu analysieren. In den exegetischen Verhandlungen über die Anwendbarkeit der biblischen Konzepte und die Grenzen der Vergleichbarkeit zwischen Bibeltext und christlicher Gegenwart lässt sich die Arbeit mit der biblischen Sprache nachvollziehen. Dies ist auch für die Untersuchung von Cassiodors Bemühungen, mithilfe der Bibel neue Konzepte für die politische und ethnische Ordnung der Welt zu entwerfen, von großer Bedeutung, die in Teil II dieses Buches vorgenommen werden soll. Um die Fragen nach der Funktion Israels als „sozialer Metapher“ in der EP zu beantworten, bildet im Folgenden eine Gruppe von Psalmen, die Israels Geschichte zum Thema haben, einen guten Ansatzpunkt. Dabei handelt es sich einerseits um mehrere Psalmen, als deren Sprecher im Bibeltext Asaph genannt ist und in denen verschiedene Episoden der biblischen Geschichte, allen voran der Exodus und die Erfahrung des Exils, thematisiert werden (Ps 49 und 72–82).69 Dazu kommt mit den Psalmen 104–106 eine kleinere Gruppe, die Israels Geschichte vom Exodus bis zur Königszeit zum Thema hat und damit thematisch an den Asaph-Psalm 77 anschließt.70 Die Asaph-Psalmen 73 und 78 fasste Cassiodor gemeinsam mit Ps 136 zu einer weiteren Mi69 70

Zu dieser Gruppe vgl. unten 2.4. EP 77.concl.; EP 104.concl. und 105.concl.; EP 106.tit. und div. zeigen, dass er auch Ps 106 als Fortsetzung der beiden vorigen Psalmen verstand. Vgl. Athan. epist ad. Marc. 3, wo Ps 77, 104–105 und 113 zu einer Serie über den Exodus zusammengefasst sind.

Das Gottesvolk in den Psalmen

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ni-Serie zusammen, als deren Thema er das Exil Israels bzw. die Zerstörung Jerusalems identifizierte.71 Schließlich boten auch weitere Psalmen, die Cassiodor nicht explizit einer solchen Serie zuordnete, Anlass zur Reflexion über das biblische Gottesvolk und seine Geschichte, darunter Ps 50 und 89, deren Auslegung mit David und Moses zentrale Gestalten der biblischen Geschichte ins Zentrum rückte.72 2.3 Das Gottesvolk in den Psalmen: Israel als Identifikationsmodell für christliche Gemeinschaften In den Geschichtspsalmen wird die Identität Israels als Gottesvolk verhandelt, indem fundierende Ereignisse der israelitischen Geschichte – allen voran der Exodus aus Ägypten, der Durchzug durch die Wüste und die Landnahme – rekapituliert und als Zeichen der göttlichen Erwählung Israels und seiner besonderen Beziehung zu Gott beschrieben werden.73 Aus der Erinnerung an die vergangenen Taten Gottes für sein Volk wird in den Texten mal eine Affirmation der Identität Israels und die Aufforderung zum Gotteslob (Ps 104.1–5), mal die Mahnung zur Treue gegenüber Gottes Gesetz (Ps 77.5–7, 80.12–15) oder die Warnung vor dem Bruch dieser Treue abgeleitet (Ps 105). In anderen Psalmen dient sie dazu, das Vertrauen auf Gottes Beistand in Situationen der Krise zu mobilisieren oder eine erneute Rettung zu erbitten (Ps 79, 82). Auch in den Klagepsalmen 73 und 78, in denen die Zerstörung des Tempels beschrieben wird, erinnert der Psalmentext an Israels Status als Gottesvolk, um Gott zum Eingreifen gegen die Feinde zu bewegen (Ps 73.2 und 20; Ps 78.9 und 13). Die Geschichtserzählung dieser Psalmen hat dabei eine identitätsstiftende und paradigmatische Funktion, wie unter anderem Judith Gärtner betont hat. Die Geschichtspsalmen definieren – in jeweils unterschiedlicher Akzentuierung – Paradigmen der Beziehung zwischen Gott und seinem auserwählten Volk.74 In Abgrenzung zu den übrigen gentes ist Israels Identität dabei durch den Kult Jahwes definiert; seinem Schutz und seinem Wohlwollen verdankt es die Rettung aus Ägypten und die Gabe des Gelobten Landes; im Gegenzug wird es zur Treue gegenüber Gott und zum Gehorsam gegenüber seinem Gesetz aufgefordert. Einige Psalmen (Ps 77, 105, 106) thematisieren das wiederkehrende Muster von Abfall, Vergeltung und Vergebung besonders intensiv. Die Geschichtserzählung entwirft beispielhaft die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk und die 71 72 73 74

EP 78.concl.; 136.concl. Auch in der modernen Forschung zur Exegese des Alten Testaments werden als „Geschichtspsalmen“ Ps 77 (78), 104–105 (105–106) sowie außerdem die Ps 113 (114) und 134–136 (135–136) diskutiert: siehe Gärtner, Geschichtspsalmen; Klein, Geschichte und Gebet. Exodus und Landnahme: Ps 77.12–55, 79.9–12, 80.6–8; 104.23–45; 105.7–33. Gärtner, Geschichtspsalmen 9–29, betont im Anschluss an Voegelin den Charakter der Geschichtserzählungen als „paradigmatische“ Geschichte und betont deren identitätsbildende Funktion.

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Konsequenzen, die sich daraus für das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft und für den sozialen Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft ergeben. In den Kommentaren zu den historischen Psalmen entwarf Cassiodor für seine Leser ein Bild von Israel als Gottesvolk, indem er bestimmte Aspekte des biblischen Modells aufgriff und verstärkte, andere überging oder aus der Perspektive des christlichen Exegeten umdeutete. Israels Erwählung und sein besonderer Status als Gottesvolk werden in einigen der historischen Psalmen sehr deutlich markiert, beispielsweise, wenn der Bund mit Gott evoziert wird oder wenn von der Erwählung Israels und dem Bund mit den Nachkommen Abrahams oder Davids die Rede ist.75 Diesen Anspruch auf Erwähltheit bezog Cassiodor in der Exegese wenig überraschend (auch) auf die Christen als Nachfolger des biblischen Israel.76 Dabei musste er gegen die Vorstellung eines partikularen Bundes mit den Mitgliedern eines einzigen Volkes die universale Reichweite des christlichen Bundes betonen, der alle Völker einschloss. So deutete er die Ethnonyme „Israel“, „Jakob“, „Juda“ mithilfe der Etymologie um, sodass sie als „Gott Sehend“, „Ersetzer“ (supplantator) oder „Bekenner“ eben nicht auf die Zugehörigkeit zu Israel als einer ethnischen Gruppe, sondern auf den christlichen Glauben als Kriterium der Erwählung zielten.77 Ein gutes Beispiel dafür ist sein Kommentar zu Ps 113.2, der Judäa als Gottes Heiligtum preist und Israel als Volk, an dem Gott seine Allmacht und seine Wunder demonstriert. Die spezielle Erwählung der Bewohner von Judäa entkräftete Cassiodor durch den Verweis auf Christi Abstammung aus dem Stamm Juda, der daher ebenso wenig auf die Israeliten im historischen Sinn beschränkt war wie Israel selbst, das vielmehr alle „Gott Sehenden“ einschloss, die sich nicht durch die körperliche Beschneidung, sondern durch eine „Beschneidung des Herzens“ auszeichneten.78 Auch die Hinweise auf die Verheißung des Bundes an Abraham und seine Nachkommen deutete Cassiodor unter Rückgriff auf Paulus so um, dass die Nachkommenschaft Abrahams im übertragenen Sinn all jene einschloss, die Christus als den Messias anerkannten.79 75

76 77 78 79

Bund: Ps 49.4 f. und 7; 49.16; 73.20; 77.4–5; 80.9–11; 104.6–10 und 42–45; 105.45; Bundesbruch: 77.10, 37 und 57; Erwählung: 77.68; 78.13; 134.4. Vgl. Hossfeld, Bundestheologie im Psalter, zur Rezeption unterschiedlicher Bundestheologien im Psalter. Auf die Komplexität alttestamentlicher Bundesvorstellungen kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Grundlegend für die neuere Forschung Perlitt, Bundestheologie; siehe außerdem die Beiträge in Zenger/Dohmen (ed.), Der neue Bund im Alten; Dohmen/Frevel (ed.), Studien zur Bundestheologie; Nicholson, God and His People; Wells, God’s Holy People; Hollander/Kaminski (ed.), A Covenant to the People. Einen hilfreichen Überblick über die verschiedenen Konzepte des Bundes in den unterschiedlichen Teilen des Alten Testaments bietet Neef, Aspekte. Z. B. EP 49.7; 73.20; 80.9–10; 88.4.; 104.7; 105.45. EP 80.5; 134.4; 67.35; 104.6; 77.21 und 71. EP 113.2. Siehe ausführlich EP 104.6–10 zur spirituellen Deutung des semen Abrahams unter Rückgriff auf Joh 8.39; vgl. 68.37; 110.6; 138.16. Eine wichtige Grundlage für die christliche Aneignung des Abraham-Bundes bilden die Paulusbriefe, besonders Gal 3.29 und Röm 9.7–8. Wirkmächtig ist hier vor allem Paulus’ Interpretation, wonach sich der semen Abrahams spezifisch auf Jesus Christus

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Cassiodor löste also die Vorstellung vom „Gottesvolk“ oder „auserwählten Volk“ teilweise von Israel als historischem Akteur und übertrug sie auf die Kirche oder das christliche Bundesvolk. Dennoch zeigen seine Kommentare zu manchen der historischen Psalmen, dass er wie Augustinus die Bedeutung des Alten Bundes und Israels geschichtliche Rolle als auserwähltes Volk anerkannte. So betonte er die Kontinuität zwischen dem Alten und dem Neuen Bund und verstand Israel (oder zumindest die rechtschaffenen Israeliten) als Teil eines übergreifenden Gottesvolkes.80 Der Alte Bund zwischen Gott und Israel war daher in vieler Hinsicht paradigmatisch auch für die Beziehung zwischen Gott und den Christen.81 Einen Einblick in Cassiodors Verständnis des Bundes zwischen Gott und seinem populus gibt eine Passage aus dem Kommentar zu Ps 118. Den Bund (pactus) zwischen Gott und Israel deutete er im Sinne eines rechtlichen Vertrages, der eine friedliche Beziehung zwischen Gott und den Menschen ermögliche. Ein Zitat von Ex 19.8 (responditque universus populus simul: cuncta quae locutus est Dominus faciemus; Übers. Vulg.: „und das gesamte Volk antwortete zugleich: ‚alles, was der Herr gesagt hat, werden wir tun‘“) verdeutlichte, dass sich durch den Bundesschluss der populus als Ganzes dazu verpflichtet hatte, Gottes Gebote einzuhalten.82 Die Geschichte Israels sollte auch christlichen Lesern zeigen, dass Gott sein Bundesversprechen und die Verheißungen der Propheten mit absoluter Verlässlichkeit erfüllte.83 Obwohl Cassiodor also gegen die Implikationen der ethnischen Erwählung und des partikularen Bundes arbeitete, blieb Israel ein Modell dafür, wie sich der Status als auserwähltes Volk in der Geschichte auswirkte. Vor allen anderen Völkern war Israel durch die Kenntnis des göttlichen Gesetzes (lex) und die Offenbarung der Gottesworte durch die Propheten ausgezeichnet.84 Gesetz und Gebote umfassten sowohl Verhaltensmaßnahmen als auch kultische Vorschriften; sie hatten also eine begründende Funktion für die politische Gemeinschaft Israels, die an bestimmte rechtliche und moralische Normen gebunden war, und gleichzeitig für die religiöse Gemeinschaft, die durch einen gemeinsamen Kult geeint war.85 Zentrales Zeichen für Israels Identität

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bezieht, zu dem wiederum alle Christen in einer Beziehung der spirituellen Verwandtschaft durch die fides stehen. Siehe auch Röm 4.12–25; 2 Kor 11.22; Heb 11.17–40; Gal 3.19–29. Vgl. dazu Hays, Echoes of Scripture 105–121; Eisenbaum, Jesus, Gentiles and Genealogy; dies., Paul as the New Abraham; Buell, Why This New Race 76 f., 99–109; Townsend, Another Race 32–37; Siker, Disinheriting the Jews. Z. B. EP 65.tit; 77.1.; 78.13; 104.9–10; 105.4; 105.45; 135.22. Dies formulierte Cassiodor in EP 80.11 explizit: Sed cum hoc Iudaeis ad historiam dicitur, Christianorum generalitas commonetur; vgl. auch 80.15. EP 118.158. EP 88.34–35. EP 65.tit.; 67.9 und 18; 77.1 und 5; 80.5; 80.14; 105.4; 134.7, 12 und 14 (Propheten und Offenbarung). EP 104.44–45. 104.45 nennt als Inhalt der lex kultische Vorschriften wie das Sabbatgebot, das Pessach-Fest und die Priestergewänder, Elemente, die aus christlicher Perspektive „spirituell“ interpretiert werden müssten; zum Tempelopfer siehe EP 65.15 (dort ohne historische Einordnung alle-

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waren die rituellen und kultischen Vorschriften des Alten Testaments, das Sabbatgebot, das Pessachfest und der Tempelkult. Folgerichtig erscheint in EP 88.40 der Untergang des Tempels und des damit verbundenen Kultes als symbolische Markierung für den Übergang der göttlichen Gnade von der gens Iudaeorum auf die Christen.86 In den Psalmen wird die religiöse Identität des Gottesvolkes auch durch einen liturgischen Aspekt ergänzt: Zugehörigkeit zu Israel wird durch die Teilnahme am Gebet und am Lobpreis Gottes (mit-)definiert, ein Motiv, das Cassiodor ebenfalls aufnahm und auch auf die christliche Gemeinschaft anwendete.87 Die Beschneidung als Initiationsritus und Merkmal der Zughörigkeit thematisierte er hingegen vergleichsweise selten: Anhand von Ps 113.2, wo die „wahren Juden“, also die Christen, sich durch die Beschneidung des Herzens auszeichnen, ist die körperliche Beschneidung als Distinktionsmerkmal des israelitischen Gottesvolkes vorausgesetzt.88 Unter den Verpflichtungen, die sich für Israel aus dem Bund mit Gott ergaben, hob Cassiodor vor allem das Vertrauen auf Gottes Verheißungen, Monotheismus und die Einhaltung der Gebote hervor, wobei er meist im selben Atemzug betonte, dass Israel diese Anforderung häufig nicht erfüllt hätte.89 In EP 77.1 definierte er den Begriff „Gottesvolk“ als jene Gruppe, die sich gegenüber Gottes Geboten als gehorsam erwiesen hatte, was in diesem Fall auch rechtschaffene Israeliten des Alten Bundes, etwa die Propheten, einschloss.90 Auch in EP 80.14 konnte Israel Cassiodor zufolge wegen der Gabe des Gesetzes als Gottes auserwähltes Volk gelten. Als Lohn für den Gehorsam gegenüber den Geboten stellte der Psalmentext Gottes Führung und seinen Schutz im Kampf gegen äußere Feinde in Aussicht.91 Im historischen Rückblick zeigte sich Israels Status daran, dass es Gottes Beistand und Schutz erhielt, etwa in Form der zehn Plagen, die er über Ägypten sandte, oder in Form der Wunder, die sich während des Durchzugs durch die Wüste zugetragen hatten. So erläuterte Cassiodor beispielsweise zu Ps 65, dass die Wunder des Alten Testaments, die dem hebräischen populus zu Teil geworden waren, sich von den übrigen Werken Gottes, die „alle gleichermaßen sehen“, unterschieden, wobei aus christlicher Perspektive der Unterschied nicht nur in der übernatürlichen Qualität der Ereignisse,

86 87 88 89 90 91

gorisch definiert); 75.11. In Ps 49.8–14 ist im Psalmentext bereits eine Kritik an materiellen Opfern enthalten und es wird gefordert, anstelle der Tieropfer das „Opfer des Lobpreises“ darzubringen und die Gelübde einzuhalten, vgl. dazu EP 49.8–15. EP 88.40. Zu diesem in der contra Iudaeos-Tradition häufigen Thema siehe unten 2.5. Zur Bundeslade als Zeichen der Präsenz Gottes und ihrem Verlust EP 77.60–61; die Abkehr vom richtigen Kult und die Idolatrie markieren hingegen den Bundesbruch: EP 77.9–10; 77.30. EP 80.3 und 80.16; 136.3–5; 104.1–2. EP 113.2; 126.div. stellt den populus circumcisionis dem populus praeputii gegenüber; 144.7 spricht von der generatio Hebraeorum, quae per signum circumcisionis electa est; 118.4 und 44 verweisen auf die typologische Bedeutung der Beschneidung. EP 49.7 und 10; 77.1; 78.13; 80.14; 105.4; 134.14; vgl. auch 32.2; 71.3; 88.31 f., 148.13. EP 77.1. EP 80.14.

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sondern vor allem in der Notwendigkeit zur figuralen Deutung der Exoduswunder bestand.92 Auch anhand von Ps 104 unterstrich Cassiodor, wie Gott mit „übernatürlichen Gaben“ die Israeliten unterstützt und geschützt habe, und resümierte, diese Wunder seien als Zeichen für die Gültigkeit des Bundes mit Abraham geschehen.93 Die Gabe des Gelobten Landes, die auch die kriegerische Vertreibung der dort ansässigen Völker mit Gottes Hilfe voraussetzte, war für Cassiodor eng mit dem Ziel verknüpft, den Israeliten einen politischen Raum zu geben, in dem die Einhaltung der göttlichen Gebote und ein gottgefälliges Leben möglich war. Die dauerhafte Herrschaft über das Land war daher seiner Interpretation zufolge an die Umsetzung dieser Gebote gebunden.94 Auch die monarchische Ordnung Israels sah Cassiodor als Teil des Bundes mit Gott, hatte Gott doch mit David eine königliche Linie erwählt und begründet, die durch die Salbung legitimiert und mit dem Auftrag versehen war, das Gottesvolk zur Einhaltung des Bundes zu bewegen.95 Mit dem Scheitern der Dynastie, dem Ende der politischen Stabilität Judäas und der Zerstörung des Tempels war für Cassiodor daher auch das Ende von Israels Stellung als Gottesvolk verknüpft. Wie er im Kommentar zu Ps 88 erläuterte, stellten das Ende des jüdischen regnum und die Zerstörung des Tempels ein untrügliches Zeichen dafür dar, dass Gottes Gnade auf die gentes übergegangen sei und Israel nicht mehr länger auf den besonderen Status als Bundesvolk zählen konnte.96 Der Untergang des Reiches und das Verschwinden der politischen Selbstorganisation der gens bedeutete auch das Ende des Gottesvolkes und der Hoffnung auf die Einlösung der Verheißungen an Abraham.97 In Cassiodors geraffter Darstellung verschwimmt dabei die zeitliche Distanz zwischen der Kreuzigung Christi, der Tempelzerstörung 70 n. Chr. und der Vertreibung der Juden aus Jerusalem nach dem Bar-Kochba-Aufstand 136 n. Chr. Doch scheint es, dass Cassiodor nicht die Ablehnung Christi, sondern die Unterwerfung und Vertreibung durch die Römer, also den Fall des Reiches, als ausschlaggebend für die Auflösung des jüdischen Gottesvolkes betrachtete – auch wenn dieser Fall letztlich als Konsequenz der religiösen Verfehlung gedeutet wurde.98

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EP 65.5–6; 67.9–10; 80.6–17; die Exoduswunder sind auch angesprochen in EP 135.10; 113.1; 134.7– 11; 104.23–45 und 105.7–33. EP 104.42–43; 104.15; vgl. auch 105.20–21. EP 67.11; 134.10–12; 104.44–45. EP 75.2 und concl.; 77.68 und 77.70 (verbunden mit einer christologischen Deutung); 80.39–40; vgl. 88.4–5, wo die Verheißungen an David und seine Nachkommen auf Christus bezogen werden. EP 88.40–41. EP 88.45–46. Dagegen ist in EP 84.div. die Rede davon, dass aus der natio iudaica ein Christus-gläubiger populus hervorgehen werde. Dort gibt also das Kriterium der religiösen Zugehörigkeit den Ausschlag für die Einordnung als Gottesvolk. In EP 102.9 und 88.47 ist die Hoffnung auf die Bekehrung des populus Iudaeorum am Ende der Zeiten ausgedrückt, was dessen Fortbestand während der Diaspora voraussetzt.

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Cassiodor und das biblische Israel

Die Gottesvolk-Metapher in Cassiodors Exegese In der Exegese nutzte Cassiodor die Erzählungen der Psalmen, um die Vorstellung vom auserwählten Volk im Bund mit Gott auf die christliche Gemeinschaft zu übertragen. Anhand der historischen Psalmen „übersetzte“ er die Symbole der Erwählung, die Wunder und Zeichen von Gottes Handeln für sein Volk, und die mit dem Bund verbundenen religiösen und moralischen Anforderungen in einen christlichen Deutungsrahmen. Dadurch veränderten sich die Kriterien der Zugehörigkeit und die Definition des Gottesvolkes ebenso wie die mit dem Bund verbundenen Anforderungen. Die ältere Forschung hat häufig betont, dass die christliche Sichtweise eine Universalisierung und Individualisierung der Bundesvorstellung mit sich gebracht habe – der Neue Bund richte sich nicht mehr an Israel allein, sondern an einzelne Menschen aus allen Völkern der Erde. Doch ist das Verhältnis zwischen Universalismus und Partikularismus, zwischen individueller und kollektiver Berufung weitaus komplexer, als dieser einfache Gegensatz es nahelegen würde.99 Auch der christliche Bund besitzt eine kollektive Dimension und beinhaltet die Konzeption eines christlichen Gottesvolkes, die sich zwar in manchen Aspekten von der alttestamentlichen Variante unterscheidet, die aber auch erstaunlich starke Kontinuitäten damit aufweist.100 Wie wir in Teil II sehen werden, betrifft das auch die politische und ethnische Sprache, die christliche Autoren aus dem Alten Testament übernahmen, um die eigene Gemeinschaft zu charakterisieren und zu legitimieren. Um die christliche Aneignung der Gottesvolk-Metapher bei Cassiodor zu untersuchen, bietet Ps 80 einen guten Ausgangspunkt, zumal er eine Variante der Bundesformel enthält: Israel soll dann als Gottes Volk gelten, wenn es seinen Anweisungen folgt, und wird im Gegenzug auf seine Unterstützung zählen können (Ps 80.9–10: Audi, populus meus, et loquar Israel et testificabor tibi: Israel si me audieris, non erit in te Deus recens, neque adorabis deum alienum; Übers. Vulg.: „Höre mein Volk, und ich werde dir bezeugen: Israel, wenn du mich hörst,/ wird kein neuer Gott bei dir sein, und du wirst nicht einen fremden Gott anbeten“). Als wichtigste Voraussetzung dafür formuliert der Psalm die alleinige Verehrung Jahwes und die Zurückweisung fremder Götter. Umgelegt auf die christliche Gemeinschaft, definierte Cassiodor das Gottesvolk im engeren Sinn als jene Mitglieder der ecclesia, die sich durch ihre Lebensweise von den schlechten Menschen unterschieden und in Beständigkeit an Christi Gnade festhielten. Wer zu diesem wahren Gottesvolk gehörte, würde sich freilich erst beim Jüngsten 99

Levenson, Universal Horizon; Buell, Race and Universalism. Schon im Alten Testament komplizieren Vorstellungen von Mission und Universalität die Vorstellung vom ethnischen Partikularismus des Alten Bundes. 100 Zur Bundesvolk-Vorstellung im Neuen Testament siehe Kraus, Volk Gottes; Barth, People of God; Kok, True Covenant People; Dassmann, Kirche in vielen Bildern 164–190. Ausführlicher zur Vorstellung der Christen als ein „Volk“ und zum Gebrauch ethnischer Sprache für christliche Selbstdefinition vgl. unten Kap. 3.3 und 4.

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Gericht herauskristallisieren, wenn die guten Christen den verdienten Lohn für ihre Taten erhalten würden. Die Warnung vor Idolatrie und fremden Göttern übersetzte Cassiodor in eine ausführliche Erläuterung des rechten Glaubens, die sich vor allem gegen die „arianische Häresie“ und ihre Subordinationslehre richtete, aber auch die christologische Frage nach den zwei Naturen berücksichtigte. Das Gottesvolk war also auf die Anhänger der nicänisch-chalkedonischen Tradition beschränkt.101 Fides – verstanden im doppelten Sinn als Glaube und Loyalität zu Christus – erscheint auch an anderen Stellen als zentrales Kriterium der Zugehörigkeit zum christlichen Gottesvolk, wobei Cassiodor den richtigen Glauben jeweils entlang der Konzilien von Nicäa und Chalkedon definierte. Anhand von Ps 88.16 (Beatus populus qui intellegit iubilationem; Übers. Vulg.: „Selig das Volk, das das Jubeln kennt“) betonte er, dass das wahre Volk nicht nur Gott anerkenne und lobe, sondern die Glaubensregeln auch verstehe: Verstehen bedeutet, die Heilige Schrift nach den katholischen Regeln zu untersuchen; wenn jemand die Aussagen der Väter der heilbringenden Lehre folgend versteht und alles [eher] zur Frömmigkeit des rechten Glaubens zusammenbringt als den Niedrigkeiten der Häretiker zustimmt.102

Im Anschluss spezifizierte Cassiodor den richtigen Glauben als Glauben an die Trinität. Auch anderswo führte er die Rechtgläubigkeit als wichtige Voraussetzung für den Status als Gottesvolk an.103 Die Orthodoxie wurde so zum Maßstab, um das rechtmäßige Gottesvolk von „Häretikern“ abzugrenzen – das zeigt sich auch außerhalb der Gruppe der historischen Psalmen, beispielsweise in EP 19.5. Dort ließ Cassiodor den als Psalmensprecher gedachten populus fidelis eine Formel bekräftigen, durch die der Anteil der göttlichen Natur Christi an der Passion unterstrichen wurde und die im Kontext der christologischen Kontroversen höchst umstritten war.104 Cassiodors Definition des christlichen Gottesvolkes war also von den doktrinären Kontroversen seiner Gegenwart geprägt – sie grenzte das christliche Gottesvolk von all jenen ab, die nicht der nicänisch-chalkedonischen Orthodoxie folgten. Wie für das alttestamentliche Gottesvolk galt auch für das christliche, dass es an Gottes Gesetz und seine Gebote gebunden war und Gottes Wohlwollen von deren Einhaltung abhing.105 Dem entsprechend ließen sich auch die moralischen Anforde101 EP 80.9–10. 102 EP 88.16: Intellegere autem est, si scripturas sanctas catholicis regulis perscrutetur; si dicta patrum salutari dogmate quis comprehendat totumque ad pietatem rectae fidei trahat, quam haereticorum prauitatibus acquiescat. Vgl. auch EP 134.13; 118.7. 103 EP 65.35; 105.4; 74.2; 49.7 und 10. 104 EP 19.5: Der Psalmist fordert den populus fidelis u. a. zur Bekräftigung der Glaubenslehre auf: […] ut eum credas unum ex Trinitate passum […]. Dazu unten Kap. 7.1 und 2. 105 EP 88.31–32 warnt die Israeliten vor der Überschreitung des Gesetzes, was Cassiodor in der Exegese auf den populus christianus überträgt; 77.1; 77.7 (setzt der lex die Gnade gegenüber, betont aber

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Cassiodor und das biblische Israel

rungen und Verhaltensregeln, die in den Psalmen als Anleitung für ein Gottesvolk formuliert wurden, mit einigen Anpassungen auf die Christen übertragen. Dies beinhaltete die rechtlichen und moralischen Normen des biblischen Gesetzes, allen voran die Zehn Gebote. Anhand von Ps 32 übersetzte Cassiodor die Aufforderung zum Psalmensingen in eine Aufforderung, Werke der Barmherzigkeit umzusetzen, gefolgt von einer Erläuterung der Zehn Gebote, die selbstverständlich für Christen ihre Gültigkeit bewahrten.106 Wie er anhand von Ps 104.45 am Beispiel der Gabe des Gelobten Landes erläuterte, waren auch die Christen zur Einhaltung von iustificationes verpflichtet. Dazu zählten die Gottes- und Nächstenliebe, die Ehrerbietung gegenüber den Eltern und weitere Werke der Gerechtigkeit. Die kultischen Elemente der lex hingegen seien figural zu interpretieren.107 Dem entsprechend deutete Cassiodor die Vorschriften zu den Opfern im Tempel, wie sie in Ps 49 formuliert waren, in Aufforderungen zur Leistung von Werken des christlichen Glaubens um, worunter er beispielsweise das Almosengeben verstand; auch Sabbat und Beschneidung interpretierte Cassiodor figural.108 Die sichtbaren Wunder, die Gott im Lauf der Geschichte Israels für sein Volk verrichtete, deutete die christliche Exegese seit Paulus häufig typologisch und bezog sie auf die Taten Christi für seine Gläubigen. Auf diese Weise wurde der Exodus aus Ägypten zum Sinnbild für die Befreiung der Seelen aus der Sünde; der Durchzug durch das Meer und die Überschreitung des Jordan zum Typus für die Taufe, das Manna, das in der Wüste vom Himmel fiel, zur Vorausdeutung der Eucharistie.109 Die Verheißung des Gelobten Landes wiederum stand für die Hoffnung auf eine himmlische Heimat (patria) am Ende der Zeit.110 Die Vernichtung des pharaonischen Heeres und die kriegerische Vertreibung der Völker des Gelobten Landes unterwarf Cassiodor ebenfalls einer spirituellen Deutung, sodass Gott nicht bei der Bekämpfung von Völkern und Königen, sondern von Lastern und Dämonen half.111 Eine solche figurale Lektüre verband die Exodusereignisse mit den Stationen der Heilserfahrung eines individuellen Christen. Doch zielte Cassiodors Interesse auch darauf, seinem Publikum anhand dieser Psalmen Israel als historischen Akteur begreifbar zu machen. Er untersuchte die Gründe für den Fortgang der Geschichte, die Motive für Israels Reaktion auf die Ereignisse, die Mechanismen und die Wirkmacht göttlichen Eingreifens. Cassiodor

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dennoch die Gebundenheit der Christen an die Gebote); 78.13; 88.31–32; 105.4; 135.22; 134.12; vgl. auch 71.3: Ipse est enim Domini populus qui ei credit et spiritali se conuersatione tractauit und 32.2 zur Bedeutung des Dekalogs. EP 32.2. EP 104.45. EP 49.10 und 49.13; 65.13 und 15 (die Opfer als contritio cordis, purissima fides, opera fidei, Gebete). EP 77.14 (Wolkensäule für Christus); 77.15–16 (Wasser aus dem Felsen für die Taufe); 77.23 (Manna für die Eucharistie); 104.40 (Manna); 104.41 (Wasser – Taufe); 105.10 (Befreiung aus Ägypten als Befreiung von Dämonen). Vgl. zu Paulus Fredriksen, Allegory 130 f.; Daniélou, Sacramentum futuri 131–175. EP 77.5; 77.52–54. EP 77.55 (gentes des gelobten Landes).

Das Gottesvolk in den Psalmen

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nutzte die Psalmen also einerseits, um ein allgemeines, auch für Christen gültiges Konzept des Gottesvolkes zu beschreiben; wie wir im Folgenden sehen werden, diente Israel andererseits als historisches Modell für ein solches Gottesvolk, das der abstrakten Vorstellung konkrete Konturen verlieh. Auf diese Weise prägte das biblische Israel die Vorstellung auch der christlichen Gemeinschaft, die seinen Platz einnehmen sollte: es wurde zur „sozialen Metapher“. Das Gottesvolk in der Geschichte Ein gutes Beispiel für diese Dynamik ist Ps 77, ein Text, der eine stark verdichtete Erzählung israelitischer Geschichte vom Auszug aus Ägypten bis zur Zeit Davids enthält. In diesem Psalm wird die Darstellung der Geschichte mit einem prägnanten Deutungsmuster verbunden: in einer immer wiederkehrenden Logik besteht die menschliche Antwort auf göttliche Erwählung und Gnadengaben in Undankbarkeit und Sünde, gefolgt von göttlicher Strafe und letztlich Vergebung. Die Erzählung darüber soll künftigen Generationen als Warnung dienen.112 In seinem Kommentar nahm Cassiodor eine typologische Interpretation vor, die einzelne Elemente der im Psalmentext erzählten biblischen Geschichte als Vorausdeutung auf Christus und die Kirche verstand. Diese Deutung rechtfertigte er mit einem Verweis auf Paulus und den Korintherbrief.113 Wie bei Paulus implizierte die typologische Verbindung die Kontinuität zwischen den gerechten Israeliten des Alten Testaments und den Christen. Die typologische Beziehung war in Cassiodors Verständnis auch durch die Anordnung der historischen facta zu einer Erzählung begründet, die mimetische Qualität besaß.114 Dabei ließ Cassiodor die Integrität der historia intakt; die typologische Bedeutung löschte die historische Wahrheit der biblischen Geschichte nicht aus, sondern ergänzte diese: der Psalm enthielt sowohl eine Geschichtserzählung, die es zu interpretieren galt, als auch eine durch figurale Exegese zu erhellende spirituelle Botschaft.115 Die Geschichte der Israeliten war an sich bedeutsam, und zwar insofern, als sich aus dem Beispiel Israels Lehren ziehen ließen, die auch für ein christliches Gottesvolk relevant waren.116

112 Zu Ps 77 (78) aus bibelwissenschaftlicher Perspektive Witte, History; Westermann, Lob und Klage 165–194; Gärtner, Geschichtspsalmen 36–134; Klein, Geschichte und Gebet 80–138. 113 An mehreren Stellen berief sich Cassiodor auf den Korintherbrief, einen Schlüsseltext für die christliche Rechtfertigung der typologischen Lektüre des Exodusgeschehens, in dem Paulus ebenfalls Ps 77 aufgegriffen hatte. Siehe EP 77.1, 77.14 und 77.16 mit Zitaten aus 1 Cor 10. Vgl. dazu Fredriksen, Allegory 130 f.; und Hays, Echoes of Scripture 91–102. Siehe weiters die klassische Studie von Daniélou, Sacramentum futuri 140, 153 f.; Guinot, La typologie 4–6. 114 EP 77.14. 115 EP 77.concl. Vgl. auch 77.14; 77.23. 116 In diesem Sinn betont Frances Young die moralisierenden Effekte der Typologie: Young, Biblical Exegesis 192–204 und 248–264.

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Cassiodor und das biblische Israel

Cassiodors Einleitung zu EP 77 zeigt, dass er den Inhalt des Psalms auch in einer christlichen Perspektive vor allem als Geschichte des Volkes Israels verstand: „So enthält der Psalm die Beschreibung der Ereignisse vom Beginn der Erwählung der hebräischen gens bis zum Kommen des Herren [David fungiert als Typus für Christus].“117 Im darauffolgenden Kommentar legte Cassiodor großen Wert darauf, seinem Publikum Israel als historischen Akteur verständlich zu machen, indem er minutiös das wechselnde Schicksal der Israeliten im Psalmentext mitverfolgte. Immer wieder fügte er Hinweise auf die jeweiligen Episoden aus den Büchern Exodus und Numeri ein, auf die der Psalmentext seiner Ansicht nach anspielte, und fasste den Hergang der dort berichteten Ereignisse kurz zusammen. Auf diese Weise illustrierte er die moralische Botschaft des Psalms durch konkrete historische Beispiele. Wie wir bereits gesehen haben, ist die Gabe des Gesetzes und ihre Einhaltung durch Israel ein wichtiges Thema in Ps 77. Gottes Wohlwollen gegenüber Israel und sein Status als Gottesvolk sind an die Einhaltung des Bundes und die Gesetzestreue gebunden. Auch Cassiodor hob dies mehrmals hervor, ebenso wie die Tatsache, dass die Israeliten diesen Auftrag regelmäßig nicht erfüllt hätten.118 Den Psalmentext aufgreifend und weiterführend, beschrieb Cassiodor sorgfältig die verschiedenen Weisen, in denen Israel von der Treue zu Gott abgewichen war. Dabei identifizierte er die murmuratio des populus, das unzufriedene Murren, als grundlegendes Problem. Murmuratio zeugte von mangelndem Vertrauen auf Gottes Schutz und führte zur Auflehnung gegen Gott und die von ihm bestellten Anführer, Moses und Aaron.119 Dass Manna und Wachteln mitten ins Lager der Israeliten fielen, war Cassiodor zufolge notwendig, um die Murrenden von Gottes Allmacht zu überzeugen. Dabei lenkte er den Fokus auf Israel als exercitus, indem er ausgehend von der etymologischen Deutung des Wortes castrum die sexuelle Disziplin unter den Soldaten hervorhob. Das Heerlager ließ sich gleichzeitig mit dem umgrenzten Bereich der ecclesia vergleichen, in der auch Christen darauf hoffen konnten, wie die Israeliten Gaben von Gott zu erhalten, sofern sie auf richtige Weise darum baten.120 In der Tat hatte Gott Cassiodor zufolge die Strafe für den Bundesbruch am Horeb aufgeschoben, um keine Zweifel an seiner Fähigkeit, solche Wunder zu wirken, aufkommen zu lassen. Die göttliche Strafe, von der in den folgenden Versen die Rede ist, erklärte er als Reaktion auf die Anbetung des Goldenen Kalbes. Damit folgte er Augustinus; doch verwies er seine Leser zusätzlich auf die Erzählung im Buch Exodus, die er im Kommentartext auch kurz

117 EP 77.div.: Sic per hunc psalmum ab initio electionis gentis hebraicae usque ad aduentum Domini Saluatoris facta descriptio est. 118 Zur Bedeutung der lex Ps 77.1, 5–7, 10 f., 56–58 mit EP 77.1., 5, 7; zum Bundesbruch z. B. Ps 77.10 f., 17–19, 36 f., 56–58 mit EP 10–11, 17–19, 36–37, 56–58. 119 Zu murmuratio im Alten Testament siehe Booker, Iusta murmuratio 241. 120 EP 77.28.

Das Gottesvolk in den Psalmen

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rekapitulierte.121 Wieder stellte Cassiodors Deutung die murmuratio des Volkes, das sich in Moses’ Abwesenheit gegen Aaron auflehnte und ihn dazu brachte, die Anbetung des Goldenen Kalbes zu erlauben, heraus. Die Konsequenzen dieser Überschreitung schilderte er drastisch, wobei die Zahl von 23.000 durch Moses getöteten Israeliten, die er dem Korintherbrief entnahm, die im Buch Exodus genannten 3.000 Toten weit übertraf.122 Wie Cassiodor betonte, machte sich nicht nur Aaron durch die Herstellung des Goldenen Kalbes mitschuldig; auch Moses selbst wurde durch die murmuratio der Israeliten dazu verführt, sich gegen Gott aufzulehnen. Dafür verwies Cassiodor auf die zweifelnden Äußerungen des Moses bei Kadesch, als die Israeliten durch Gottes Befehl Wasser aus einem Felsen zu Trinken erhielten.123 In Augustinus’ Enarrationes in psalmos fehlt dieser historische Exkurs: er interpretierte die Episode unter weitgehender Aussparung der historischen Ebene typologisch und nutzte sie, um den Kontrast zwischen den sancti, die Gottes Gaben gläubig empfingen, und den peccatores, die seine Strafe verdienten, zu illustrieren.124 Wenn der Psalmentext wenig später (Ps 77.34) beklagte, dass sich die Israeliten erst besannen und zu Gott bekehrten, als sie sahen, dass viele unter ihnen getötet worden waren, kritisierte Cassiodor – hier wieder Augustinus folgend – den Glauben, der aus Furcht vor äußeren Gefahren entspringt, als unzureichend. Wieder ergänzte er diese moralische Botschaft durch ein konkretes Beispiel, nämlich die in Num 17 beschriebene Auflehnung der Israeliten gegen Moses und Aaron nach dem niedergeschlagenen Aufstand Korachs, Datans und Abirams, bei der wiederum Tausende zu Tode kamen, bevor Moses und Aaron Gottes Zorn durch Fürbitten und Sühneopfer besänftigten.125 Nach der Landnahme zeigte die im Psalm angesprochene Niederlage der Israeliten gegen die Philister Cassiodor zufolge, wie der Bruch des Bundes mit Gott – symbolisiert durch den Verlust der Bundeslade – unweigerlich dazu führte, dass Gott seinen Schutz entzog und die Israeliten den Philistern unterlagen.126 Cassiodor erweiterte die Beschreibung der Konsequenzen des Krieges, die der Psalmentext andeutete; zudem machte er sich Gedanken über die Qualität der

121 EP 77.30–31 mit Verweis auf Ex 32.1–34. 122 1 Cor 10.8. Auch bei Paulus dient die Erinnerung an die Episode zur Warnung vor murmuratio (1 Cor 10.10). 123 EP 77.30–31 mit dem Ziat von Num 20.10. 124 Aug. En. Ps. 77.17–18. Die Episode mit dem Goldenen Kalb thematisierte Augustinus anhand von Ps 77.38. Den Vers bezog er auf die Fürbitte des Moses, die den Untergang des gesamten Volkes verhinderte. Dies nahm er zum Ausgangspunkt, um eine weitere heilsgeschichtliche Perspektive einzunehmen, indem er Gottes Schonung Israels auch in der Diaspora hervorhob, in der es wie durch das Kainsmal vor Auslöschung geschützt blieb: Aug. En.Ps. 77.22. Cassiodor, der wie Augustinus Ex 32.31 f. zitierte, konzentrierte sich an dieser Stelle hingegen wieder auf die historische Ebene der Exoduserzählung, vgl. EP 77.38. 125 EP 77.34–35 mit einem Hinweis auf Num 16.49 (17.14). Vgl. Aug. En.Ps. 77.20. 126 EP 77.60–64. Auch Aug. En. Ps. 77.35–38 interpretierte diese Verse als historischen Verweis auf die Auseinandersetzung mit den Philistern, doch fällt seine Auslegung wesentlich knapper aus.

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verheerenden Niederlage als kollektive Strafe und über das Schicksal jener, die den Glauben bewahrt hatten und daher unschuldig waren, ein Thema, das ihn offenbar auch persönlich beschäftigte, wie wir noch sehen werden.127 Israels Geschichte während des Exodus war für Cassiodor vor allem deshalb relevant, weil an ihr die Mechanismen der Bundeslogik und die Gründe für Gottes Intervention in die Geschichte ablesbar waren. Das Beispiel der Israeliten zeigte, dass mangelndes Verständnis dieser Mechanismen und ein fehlendes Bewusstsein für Gottes vergangene Wohltaten negative Konsequenzen für das weitere Schicksal der Gemeinschaft hatten. Intellectus und memoria während und nach der Exodusgeschichte sind daher auch das Grundthema, das Cassiodor im Kommentar zu Ps 105 verhandelte.128 Die Erfahrung der Wunder und der Unterstützung Gottes zielten darauf, das Vertrauen und den Glauben in seine Allmacht zu stärken, wie Cassiodor zu Beginn der Auslegung erläuterte. Cassiodor verdeutlichte dies am Beispiel der zehn Plagen. Die Plagen trafen Ägypten, damit die gens der Hebräer fortan nicht mehr der Herrschaft der Ägypter, sondern den Geboten Gottes, dem Dekalog, unterworfen wäre; mit der Befreiung aus der Herrschaft des Pharao durch Gottes Hand sollte die eigene Befreiung der Seele aus der Herrschaft des Teufels korrespondieren.129 Doch die Israeliten in Ps 105 boten ein Beispiel für mangelnden intellectus und fehlgeleitete memoria: sie nahmen nur den irdischen, materiellen Aspekt der Gottesgaben wahr, die daher ihre spirituelle Wirkung verfehlten. Aus der Erinnerung an vergangene Wunder und Wohltaten gewannen sie nicht die Glaubensstärke und Dankbarkeit für Gottes Handeln, sondern reagierten immer wieder von neuem mit Widerstand und Skepsis. Dies erläuterte Cassiodor im Folgenden an weiteren Beispielen aus der Exodusgeschichte, auf die der Psalmentext anspielte. Dazu zählte wie in der Auslegung von Ps 77 die murmuratio der Israeliten in der Wüste, die nicht darauf vertrauten, dass Gott ihnen auch weiterhin Hilfe zuteilwerden lassen und sie mit Nahrung und Wasser versorgen werde. Wie er nachdrücklich betonte, war dies angesichts der rezenten Erfahrung des Wunders beim Durchzug durch das Rote Meer eine unverständliche Reaktion.130 Wie Augustinus interpretierte Cassiodor die erfolgreiche Fürbitte des Moses bei Gott, durch die er die völlige Auslöschung des Volkes nach dem Bundesbruch am Horeb verhinderte, als Zeichen für die Wirksamkeit der Interzession von Heiligen, auf die

127 EP 77.59; dass die Niederlage Israel als Kollektiv betraf, betont Cassiodor außerdem in EP 77.62, 63 und 64. Zu Cassiodors Umgang mit dieser Problematik siehe ausführlicher unten Kap. 2.4. 128 Zum Psalmenpaar 104–105 (105–106) siehe ausführlich Gärtner, Geschichtspsalmen 135–290; Klein, Geschichte und Gebet 187–269; Hossfeld/Zenger, Psalmen III, 595–618. 129 EP 105.7; dieselbe Deutung der Undankbarkeit für die Wunder in Ägypten als infidelitas findet sich bei Augustinus (Aug. En.Ps. 105.7), der jedoch nicht den Zweck der Plagen erläutert. 130 EP 105.13–14. Augustinus beschränkte sich zu dieser Stelle auf die allgemeine Erklärung, dass sich die Israeliten auf das profane Glück konzentrierten statt auf das ewige. Auch in EP 105.21–22 analysierte Cassiodor die Reaktion der Israeliten auf die Wunder, die sie erfahren hatten, wesentlich ausführlicher als Augustinus. Vgl. Aug. En.Ps.105.13–14 und 20.

Das Gottesvolk in den Psalmen

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also auch Christen hoffen konnten. Stärker als Augustinus machte er sich aber Gedanken über die kollektive Dimension der drohenden Gottesstrafe: er wies seine Leser darauf hin, dass Moses zwar durchaus dazu bereit gewesen war, in Gottes Auftrag die schuldigen Israeliten gewaltsam zu bestrafen. Den Untergang der gesamten gens versuchte er jedoch mit aller Macht abzuwenden.131 Die Tatsache, dass die Israeliten nach dem Einzug ins Gelobte Land die Gebote Gottes missachteten und entgegen seiner Anweisungen die dort ansässigen Völker nicht auslöschten, nutzte Cassiodor zur Warnung an sein christliches Publikum, die göttlichen Gaben auf richtige Weise zu nutzen, damit nicht eine Gnadengabe Gottes durch falschen Umgang wie bei den Israeliten zum Untergang führe. Er legte auch Wert darauf, den Grund für das Verbot der Vermischung mit den gentes zu erläutern: die Israeliten sollten dadurch davon abgehalten werden, sich auch deren falschen Göttern zuzuwenden.132 Wenn die Israeliten durch ihre Undankbarkeit immer neue Gottesstrafen auf sich zogen, so bot dies Cassiodor die Gelegenheit, seinem Publikum die Mechanismen göttlicher Strafen zu verdeutlichen. Die Strafe für Datan und Abiram, die sich gegen Moses und Aaron aufgelehnt hatten, zeigte, dass Gott seine Heiligen räche.133 Die Vergeltung für die Abkehr vom richtigen Glauben und Kult nach dem Einzug ins Gelobte Land bestand darin, dass Gott die Israeliten der Herrschaft ihrer Feinde auslieferte. Diese Feinde charakterisierte Cassiodor als heidnisch und grausam und zog den Schluss, dass dies ein gerechtes Urteil über jene darstellte, die sich geweigert hatten, sich einem liebevollen Herrscher zu unterwerfen.134 Cassiodor betonte dabei die unmittelbare Wirkung des göttlichen Strafgerichts in dieser Welt wesentlich stärker als Augustinus.135 Im Kontrast dazu entwarf Cassiodor in EP 104 ein Modell für den verantwortungsbewussten und sinnvollen Umgang mit der Exodusgeschichte. Hier erscheinen die Israeliten als positives Modell, denen die Ägypter unter dem Pharao als mahnendes Beispiel entgegengesetzt sind. Wieder legte Cassiodor in seiner Auslegung großen Wert auf die präzise Beobachtung der Mechanismen von Belohnung und Bestrafung,

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EP 105.23; vgl. Aug. En.Ps. 105.21. Eine ähnliche Interpretation der Stelle findet sich in den Moralia Gregors des Großen, der daraus das Zusammenspiel aus disciplina und misericordia ableitete, das einen guten rector auszeichnen sollte: siehe Prozorov, Discipline and Mercy 256 f. mit Verweis auf Greg. Magn. Moral. 20.5.14. EP 105.34–36; vgl. den knappen Kommentar zur Bewertung der Vermischung mit den gentes als scandalum in Aug. En. Ps. 105.29. EP 105.16. EP 105.40–42. Wieder ist der Kommentar in Aug. En.Ps. 105.32 f. deutlich knapper. Augustinus betonte hier vor allem, dass es sich um eine temporäre Züchtigung des populus handelte, keine dauerhafte Verwerfung. Siehe auch EP 105.43–44, wo Cassiodor für seine christlichen Leser die Lehre aus der biblischen Geschichte formulierte, dass Gott Wohltaten und Strafen je nach dem Verhalten seines Volkes verteile, eine Ansicht, die bei Aug. En.Ps. 105.34 f. fehlt. Vgl. oben Anm. 1–2 zu Salvians Umgang mit dem Thema und siehe Lambert, Uses of Decay 116–121.

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Cassiodor und das biblische Israel

um die Botschaften zu entschlüsseln, die in Gottes Handeln in der Welt verborgen waren und die auch für den populus christianus von Bedeutung waren.136 Mit dieser Zielsetzung untersuchte Cassiodor in EP 104 die Plagen gegen Ägypten. Wie die widerspenstigen Israeliten in Ps 105 waren auch die Ägypter ein Beispiel dafür, dass „auf grausame Weise stückweise zugrunde geht, wer glaubte, sich den Geboten Gottes widersetzen zu müssen.“137 Die Detailgenauigkeit, mit der Cassiodor die materielle Zerstörung beschrieb, die Hagel und Insekteneinfälle in der Landwirtschaft bewirkten, mag dazu gedient haben, zeitgenössischen Lesern die Drastik der Gottesstrafe besonders eindringlich vor Augen zu führen.138 Er stellte auch die prophetische Qualität solcher Ereignisse zur Diskussion. Die „harmlosen“ Plagen, die den Beginn von Gottes Zorn markierten, galt es als Anzeichen für den negativen Verlauf zu verstehen, den die Geschichte nehmen würde: Blutregen und Frösche waren eine Vorausdeutung auf den kommenden Untergang des pharaonischen Heeres im Roten Meer.139 Cassiodor legte auch Wert auf die Feststellung, dass Frösche, Fliegen und Stechmücken bis in die königlichen Paläste vordrangen und sich auch die Elite und der Herrscher selbst den Auswirkungen des Gotteszornes nicht entziehen konnten, wie das Buch Exodus berichtet. Die Plagen betrafen das gesamte Land. Gottes Befehlsgewalt (imperium) manifestiere sich unwiderruflich und unverzüglich; weder Reichtum noch einflussreiche Stellung könnten dem etwas entgegensetzen. Letztere führten lediglich, wie im Fall des Pharao, zu Hochmut.140 Im positiven Sinn ließ sich aus der Exodusgeschichte, wie sie in Ps 104 erzählt wurde, der Schluss ziehen, dass „niemand Gott umsonst dient“, nullum Domini inani deuotione seruisse, wie Cassiodor die Botschaft des Psalms an das „demütige Volk“ (plebs deuota) paraphrasierte.141 Obwohl es für Gott in seiner Allmacht ein Leichtes gewesen wäre, den Pharao zur Freilassung der Israeliten zu bewegen, habe er den Umweg über die Route menschlicher Kommunikation gewählt und Moses entsandt, um mit dem Pharao zu verhandeln. Dadurch, erläuterte Cassiodor, gab er den Menschen ein Beispiel für die Mäßigung (moderatio), die sie in ihren eigenen Angelegenheiten an den Tag legen sollten, für die Zügelung des eigenen Willens und der eigenen Kräfte durch

136 EP 104.27. 137 EP 104.36: Sic grauiter per partes perit, qui diuinis iussionibus reluctandum se esse putauerit. 138 Siehe EP 104.32–35. Im Gegensatz zu Cassiodors ausführlichen Erläuterungen zu Form und Auswirkungen der einzelnen Plagen beschränkte sich Augustinus in En.Ps. 104.21–26 auf eine punktuelle Analyse der literarischen Ausdrucksweise des Psalmentextes. 139 EP 104.29–30. Dabei ist bemerkenswert, dass der Referenzrahmen dieser quasi-typologischen, mimetischen Beziehung innerhalb der historischen Ebene des Exodus bleibt. Das hermeneutische Interesse Cassiodors unterscheidet sich hier also deutlich von anderen Stellen, an denen er die Plagen allegorisch als verschiedene Formen von göttlicher Strafe für spirituellen Niedergang und sündhaftes Verhalten deutete, siehe z. B. EP 77.43–51. 140 EP 104.30–31. 141 EP 104.5.

Das Gottesvolk in den Psalmen

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Milde und Großzügigkeit.142 Die Gabe des Gelobten Landes an die Israeliten sollte ihnen nicht nur eine Lebensgrundlage bieten, sondern es ihnen auch ermöglichen, eine am göttlichen Gesetz ausgerichtete soziale Ordnung zu etablieren. Dies legte bereits der Text des Psalms nahe, wo es heißt: et dedit eis regiones gentium; et labores populorum possederunt / Vt custodiant iustificationes eius et legem eius requirant (Ps 104.44 f.; Übers. Vulg.: „Und er gab ihnen die Landstriche der Heidenvölker, und die Arbeiten der Völker nahmen sie in Besitz / damit sie seine Rechtssprüche bewahren und nach seinem Gesetz suchen“). Cassiodor übertrug diese Anforderung auf die Christen und hob dabei das Gebot der Liebe zu Gott und den Nächsten, den Respekt vor den Eltern, die Sorge für die eigenen Kinder unter den Vorschriften zur Wahrung der Gerechtigkeit als wichtigste soziale Normen hervor. Diese Gebote waren auch im christlichen Kontext unbedingt einzuhalten. Die kultischen Vorschriften der lex mussten dagegen nicht tatsächlich umgesetzt, sondern figural gedeutet werden.143 In der conclusio zu Ps 104 kontrastierte Cassiodor die himmlischen Gaben für Israel mit der göttlichen Rache, die die Ägypter ereilte, und stellte fest: „Jeder von uns muss nun erwarten, dass uns dieselbe Vergeltung zu Teil wird wie denen, deren Beispiel wir folgen“.144 Die abschließende Aufforderung des Psalms, die Satzungen und das Gesetz Gottes zu achten, sollten sich Cassiodors christliche Leser ebenso zu Herzen nehmen wie die historischen Israeliten: „damit wir die gesamte Aufmerksamkeit unseres Verstandes auf die Satzungen des Herren und auf sein Gesetz richten“.145 Auch wenn Christen nach dem Modell der Israeliten möglicherweise materielle Güter als Gaben von Gott erhielten, sollten sie sich dennoch auf jene Dinge konzentrieren, die zum himmlischen Königreich führten.146 Unter dieser Voraussetzung konnten Christen zurecht von sich sagen, dass sie der Aufforderung des Psalms zum Gottesbekenntnis nachkamen, eine Aufforderung, deren Erfüllung Cassiodor zufolge nicht nur im Singen des Gotteslobs bestand, sondern auch darin, seine Gebote in die Tat umzusetzen.147

142 EP 104.26. 143 EP 104.44–45. Während auch Augustinus zu dieser Stelle die Wahrung der Gerechtigkeit als spirituelles Ziel der materiellen Gaben an den populus Dei betont, fehlt die Konkretisierung mit Blick auf die christliche Lebensführung: Aug. En.Ps. 104.34. 144 EP 104.concl.: Nunc unusquisque nostrum exspectet eorum retributionem, quorum imitatur exemplum. Augustinus hingegen relativierte in En.Ps. 104.34 den kollektiven Aspekt der Erwählung Israels, indem er hervorhob, dass der biblische populus Dei sowohl aus Gerechten als auch aus Sündern bestanden habe; die Zugehörigkeit zur Nachkommenschaft Abrahams hing vom wahren Glauben ab. Diese Bemerkungen griff Cassiodor nicht auf. 145 EP 104.concl.: […] ut ad iustificationes Domini et in lege eius tota mentis intentione dirigamur. 146 EP 104.concl. Das Thema des richtigen Gebrauchs irdischer Güter durch die Gläubigen hebt auch Augustinus als wichtigste Lehre aus der im Psalm erzählten Geschichte hervor: auch wenn das biblische Gottesvolk zeitliche Gaben erhalten habe, sei Gott dennoch um seiner selbst willen zu verehren: Aug. En.Ps. 104.37–40. 147 EP 104.1.

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Cassiodor und das biblische Israel

Die Regeln der Reflexion, die Cassiodor anhand des Psalmentextes entwickelte, betrafen nicht nur die christliche Gemeinschaft als Ganzes, sondern auch deren soziale und politische Führungsschicht. Von den beiden Persönlichkeiten, die in den Geschichtspsalmen als potenzielle Vorbilder im Vordergrund standen, Moses und Joseph, ist letzterer die etwas ungewöhnlichere Wahl.148 In EP 104 gestaltete Cassiodor die Psalmenverse, die auf die Lebensgeschichte des Joseph und seine Rolle am Hof des Pharao anspielten, zu einer detaillierten historischen Erzählung aus. In einem langen Exkurs ergänzte er die Vorgeschichte zu Josephs Aufenthalt in Ägypten. Er erzählte davon, wie ihn seine Brüder in die Sklaverei verkauft hatten und wie Gott die schlechte Intention der Brüder zu einem günstigen Ergebnis führte; er berichtete ausführlich über Josephs Gefangenschaft und seine Fähigkeit zur Traumdeutung, die seine Freilassung und seinen Wiederaufstieg am Hof des Pharao begründete.149 Die bedeutende Machtposition und die besondere Stellung im Verhältnis zum Pharao, die Joseph durch seine prophetische Gabe erlangte, erregte Cassiodors besondere Aufmerksamkeit. Unter Berufung auf das Buch Genesis suchte er sie äußerst sorgfältig zu definieren und schlug dabei eine sehr präzise Parallele vor: Er verglich Josephs Amtsgewalt (potestas) mit der eines praefectus in „heutiger Zeit“ (hodie), mit der ranghöchsten Person im Reich nach dem König. Zu Josephs Aufgaben gehörten neben der im Bibeltext vorausgesetzten Verwaltung des königlichen Haushalts und Besitzes Cassiodor zufolge auch die Rechtsprechung und die Verwaltung der Provinzen. Daneben fungierte Joseph als Berater und als Erzieher der Söhne des Pharao und der höfischen Elite.150 Dieser letzte Aspekt bewegte Cassiodor zu einer differenzierten Diskussion der Rolle von heiligen Männern bei der Vermittlung von kultureller und religiöser Bildung an weltliche Machthaber.151 Es braucht kaum daran erinnert zu werden, dass Cassiodor selbst ebenfalls das Amt des Präfekten im Ostgotenreich ausgeübt hatte und damit ein „Nachfolger“ des Joseph war. In den Variae konstruierte er dieselbe Verbindung wie in der EP. Er stilisierte Jo-

148 Zur Bedeutung von alttestamentlichen Gestalten als exempla für christliche Herrscher in der Spätantike siehe Heim, Figures du prince; Hadot, Art. Fürstenspiegel 564–568, 612–623. Reydellet, Bible, konstatiert eine Abnahme des Bezuges auf biblische Exempla in den westlichen regna des 6. Jahrhunderts, die erst in den Schriften Gregors des Großen und in Spanien nach 589 wieder häufiger bemüht werden. Für die weitere Entwicklung siehe Ewig, Zum christlichen Königsgedanken; Hen, Christianization of Kingship; für Byzanz Rapp, Old Testament Models. 149 EP 104.17–20. Vgl. Gen. 39 und 40. 150 EP 104.22. Vgl. Gen 39.4–6; 41.40 f. 151 Augustinus (En.Ps. 104.14) dagegen kommentierte die Erzieherfunktion des Joseph, die der Psalm nahelegte, wesentlich zurückhaltender, da sie im Buch Genesis nicht vorkommt. Sein vorsichtiger Schluss war, dass es zumindest nicht ausgeschlossen sei, dass Joseph nicht nur materielle, sondern auch spirituelle Angelegenheiten anvertraut worden seien. Wichtiger aber als die Faktizität der Erzählung war ihre typologische Bedeutung, die auch die Abweichungen zwischen den verschiedenen biblischen Büchern rechtfertigte. Joseph wird in der patristischen Literatur ansonsten vorrangig als typus Christi interpretiert, siehe Dulaey, Joseph le patriarche.

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seph in der formula praefecturae zum Modell für diese Funktion.152 Zwischen der „Stellenbeschreibung“ in den Variae und dem Psalmenkommentar bestehen enge Übereinstimmungen.153 In den Variae unterstrich Cassiodor die moralische Verantwortung des Präfekten, dessen Amt beinahe einem sacerdotium nahekam. Er erinnerte seine Leser daran, dass Joseph sich sowohl durch irdische Klugheit als auch durch Gottgefälligkeit ausgezeichnet hatte, was ihn in die Lage versetzte, seinem notleidenden Volk zu Hilfe zukommen und ihm „durch Weisheit zu Teil werden zu lassen, was die Macht des Herrschers nicht aufzubringen vermochte.“154 In dem Brief, der Cassiodors eigene Bestellung zum Präfekten dokumentierte, wurde er selbst mit ganz ähnlichen Begriffen umschrieben wie Joseph in der EP: Cassiodor erscheint hier nicht nur als familiaris iudex, sondern auch als vertrauter Berater des Königs, der in freien Stunden zur Bildung des Königs beitrug, indem er ihm durch Erzählungen die Aussagen der Weisen vermittelte, sodass der König „sich mit seinen Taten denen der Alten gleichstellen“ möge.155 Hier erfüllte Cassiodor nicht nur dieselbe Rolle bei Hof, die er dem Joseph in der EP zuschrieb; er machte auch die normative Funktion von historischen Exempla explizit.156 Wie ein anderes Schreiben nahelegt, verwendete Cassiodor Josephs Beispiel auch, um seine konkreten Amtshandlungen zu begründen und zu erläutern: Wie Joseph die Israeliten vor der Hungersnot gerettet hatte, kämpfte auch sein Nachfolger Cassiodor viele Jahrhunderte später gegen Nahrungsmittelknappheit, die durch die Kriegshandlungen in Italien verursacht war. In dem Schreiben in den Variae, das diese Anstrengungen dokumentierte, zog Cassiodor ausdrücklich den Vergleich mit dem biblischen Präzedenzfall und begründete auch, warum er sich für eine andere Strategie entschieden hatte als sein Vorgänger.157 152 Cassiod. var. 6.3.1 f. Vgl. dazu die Analyse bei Barnish, Roman Responses 14–16; Humphries, Sacred and the Secular 501; Kakridi, Cassiodors Variae 278; Vitiello, Il principe 191–196; Petrini, Cassiodoro, Varie 6.3. 153 Für wörtliche Anklänge vgl. z. B. Cassiod. var. 6.3.4: vice sacra ubique iudicat und vox praeconis mit EP 104.22: […] praeconis uoce celeberrima nuntiari […] uice sacra iudicant […]. Zum Amt des Prätorianerpräfekten siehe PETRINI, Cassiodoro Var. 6.3 mit Literatur. Johannes Lydus, der ebenfalls unter Justinians Herrschaft einen Traktat über die kaiserliche Verwaltung schrieb, legitimierte das Amt des Prätorianerpräfekten ebenfalls mit seiner ehrwürdigen Tradition, griff dabei aber nicht auf die biblische, sondern auf die römische Geschichte zurück: Maas, John Lydus 82. 154 Cassiod. var. 6.3.2.: ut per sapientiam conferret populis quod praestare non potuerat potentia dominantis. 155 Cassiod. var. 9.24.8: […] ut factis propriis se aequaret antiquis. 156 Zur Bedeutung von exempla und typoi in christlicher Historiographie, die die Tradition der profanen Geschichtsschreibung mit der christlichen Exegese verband, siehe Rapp, Old Testament Models 177–180. Vgl. auch var. 8.20.3, wo Athalarich den Avienus anlässlich von dessen Bestellung zum Prätorianerpräfekten auffordert, dem Beispiel des Joseph nachzueifern, wobei er vor allem dessen Unbestechlichkeit in Fragen der Gerichtsbarkeit hervorhebt. 157 Cassiod. var. 12.28.7–10. Joseph diente dabei vor allem als Erklärungsmodell für die Schwierigkeiten, denen der Präfekt in einer solchen Situation ausgeliefert war, musste er doch zwischen der Habgier des princeps und der notleidenden Bevölkerung vermitteln. Dabei war Cassiodor zufolge Steuernachlass die zielführendere Maßnahme als die Festsetzung eines (zu hohen) Getreideprei-

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Die Reflexionen in der EP über Josephs Rolle als Vermittler von religiösem Wissen am Hof des andersgläubigen Pharao waren ebenfalls geeignet, die Situation im ostgotischen Königshaus in Erinnerung zu rufen. Das Beispiel des Pharao und seiner Gefolgsleute, die hofften, sich Josephs prophetische Fähigkeiten aneignen zu können, ohne gleichzeitig zum rechten Glauben zu konvertieren, vermittelte in Cassiodors Verständnis auch eine politische Botschaft über den richtigen Umgang mit religiösem Wissen: Wir müssen dies [dass Joseph die principes wie ihn selber unterrichten solle] dem heidnischen Verständnis des Pharao gemäß interpretieren. Er dachte, dass die Anführer seines Volkes zu solcher Weisheit kommen konnten, dass sie selbst ihre Träume zu deuten verdienten, und ihr Wissen zu so großer Lehre geführt werden konnte, dass sie sicheren Rat aussprechen konnten, wenn sie in zweifelhaften Fragen zu Rate gezogen wurden. Wenn er sie auch dem heiligen Mann zur Schulung des Glaubens übergeben hätte – weshalb, wie deutlich ist, jener dem Herrn gefiel – so wäre die Einrichtung der Synagoge bei den Ägyptern neu eingerichtet worden. Aber nachdem man nichts dergleichen liest, muss man glauben, dass [der Pharao] am wenigsten Josephs Glauben wünschte, sondern nur den Ruhm der Prophetie anstrebte nach der Art der Heiden.158

Es ist verlockend, die Kritik am Umgang des Pharao mit den Glaubensinhalten, die ihm sein Berater vermitteln konnte, mit Cassiodors eigener Situation am Hof eines heterodoxen Herrschers zu verbinden. Diese Interpretation ist umso naheliegender, wenn man eine weitere Stelle in der EP in Betracht zieht, die Joseph noch enger an den Exegeten heranrückt. In der Praefatio zum Psalmenkommentar taucht Joseph ausgerechnet im Kapitel über die biblische eloquentia auf, um zu demonstrieren, dass die Sprache der Bibel trotz der Anwesenheit von aus der weltlichen Rhetorik bekannten Stilfiguren stets einfach und ohne List (simplex und sine dolo) war. Josephs Rede bei der Ankunft seiner Familie, in der er sich so verhielt, als ob er sie nicht erkannt hätte, war Cassiodor zufolge kein Beispiel für eine hinterlistige Täuschung, sondern wurde von ihm mit Blick auf die allgemeine utilitas so formuliert.159 Dies war ein Anspruch, den Cassiodor in ähnlicher Weise für seine eigene Tätigkeit als Sprachrohr des Ostgo-

ses, die Joseph vorgenommen hatte. Im Gegensatz zu den Ägyptern, deren Armut sie dazu zwang, ihre libertas aufzugeben, konnten sich Cassiodors Adressaten ihm zufolge allerdings glücklich schätzen, da ihnen kein vergleichbares Schicksal drohe und ihre Herrscher nicht nur den eigenen Verwandten, sondern der gesamten Bevölkerung Getreide zu einem vernünftigen Preis zur Verfügung stellten. Vgl. dazu EP 104.23. Joseph wird außerdem erwähnt in Cassiod. var. 10.27. 158 EP 104.22: Hoc secundum gentilem intellectum pharaonis debemus accipere, qui credebat primarios populi sui in hanc sapientiam peruenire potuisse, ut et ipsi somniorum interpretes esse mererentur et ad tantam doctrinam scientia eorum potuisset adduci, ut consulti de re dubia certa loquerentur. Nam si eos sancto uiro in discipulatum fidei tradidisset (unde illum Dominum placuisse manifestum est), fuisset utique illis Synagogae ordo nouiter institutus. Sed cum talia non legantur, minime religionem desiderasse, sed tantum diuinationis eius gloriam quaesisse credendus est more gentilium […]. 159 EP praef.15.

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tenkönigs erhob.160 Auch wenn Josephs Bemühungen um die Konversion des pharaonischen Königshofes von geringem Erfolg gekrönt waren, fungierte er nicht nur als kultureller, sondern auch als religiöser Vermittler, und Cassiodors Deutung von Josephs Karriere kam damit zweifellos der Art und Weise sehr nahe, wie er seine eigene politische Rolle verstanden wissen wollte.161 Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man eine weitere Facette der Joseph-Exegese in Betracht zieht: Cassiodor stilisierte Joseph – im technischen Sinn der Typologie – zu einer Integrationsfigur für die gentes. Wie er in EP 76.16 erläuterte, eignete Joseph sich als figura für die gentes, die zum Teil der christlichen Kirche wurden, weil er zwar von Geburt an ein Israelit gewesen sei, dann aber einen Großteil seines Lebens in einem fremden Land im Dienst des Pharao verbracht habe. Aufbauend darauf entwarf Cassiodor das Bild der Verschmelzung der gentes mit der jüdischen plebs zu einem neuen populus Dei.162 Joseph war aber nicht die einzige Persönlichkeit, der Cassiodor in den Geschichtspsalmen besondere Aufmerksamkeit widmete. Dies ist – wie bereits erwähnt – auch für Moses der Fall, und auch hier scheint Cassiodors Interesse durch die konkreten Anknüpfungspunkte geweckt worden zu sein, die seine Rolle als Vermittler zwischen verschiedenen kulturellen Sphären eröffnete.163 Moses war in der spätantiken Literatur eine schillernde Gestalt und bekanntes Herrschermodell. Der besondere Reiz dieser Figur bestand in der Fusion zwischen weltlicher und spiritueller Autorität, die Moses verkörperte – er war Heerführer, Gesetzgeber und Vermittler zwischen Gott und seinem Volk. Es verwundert daher nicht, dass er einerseits zum Vorbild für einen idealen Bischof stilisiert wurde, andererseits aber auch ein Modell für weltliche Herrschaft abgeben konnte.164 In Bezug auf letzteren Bereich ist besonders an Euse­bius’ Verwendung der Moses-Typologie für Kaiser Konstantin in dessen Vita zu erinnern.165 Bei Eusebius zielte der Vergleich zwischen Moses und Kaiser Konstantin besonders auf die Verbindung von politischer und religiöser Autorität in der Person des Kaisers, ebenso wie auf die besonders privilegierte Verbindung beider zu Gott bzw. Christus. Sie implizierte auch die Gleichsetzung der Anhänger Konstantins mit dem rechtgläubigen israelitischen Volk.166 Mit Blick auf das 6. Jahrhundert hat Wilkinson kürzlich auf narrative Parallelen zwischen der Darstellung Theoderichs und der Moses-Geschichte 160 Vgl. oben Kap. 1.4. 161 Reimitz, Historian as a Cultural Broker 43–44. 162 EP 76.16. Vgl. ähnlich auch EP 118.141, wo Joseph ebenfalls als Symbolfigur für die Berufung der gentes steht. Hier erläutert Cassiodor, dass Joseph zwar von den Seinen geringgeschätzt wurde, aber dann am Hof des Pharao eine bedeutende Karriere machte. 163 Siehe zum biblischen Hintergrund Daniélou, Moses; zur typologischen Interpretation: ders., Sacramentum futuri 131–200; zu den Psalmen Schnocks, Mose im Psalter. 164 Rapp, Comparison; Isele, Moses oder Pharao; Cracco-Ruggini, Moses bes. 11–16; Müller, Between Individual and Prototype; Prozorov, Discipline and Mercy. 165 Eus. vita Const. 1.38. 166 Rapp, Comparison 292–295; dies., Imperial Ideology; vgl. auch Inowlocki, Eusebius’ Appropriation of Moses; Hollerich, Eusebius’s Moses 130–133.

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in den Getica hingewiesen und diese Parallelen auf Cassiodors ursprünglichen Text zurückgeführt.167 In der EP fehlen imperiale oder monarchische Bezüge allerdings fast vollständig. Vielmehr lag der Schwerpunkt seines Interesses auf der Funktion des Moses als Vermittler zwischen Gott und seinem Volk. Dabei arbeitete er einerseits heraus, wie essentiell die Anleitung durch Moses für die spirituelle Entwicklung des populus war – ihr Fehlen führe zu Idolatrie und zum Abfall des Volkes, und es sei jeweils allein Moses’ Interzession vor Gott zu verdanken gewesen, dass die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk wiederhergestellt wurde.168 Moses’ enge Verbindung zu Gott, seine Erfahrung im Umgang mit Krisensituationen, seine moralische Urteilskraft und seine Fähigkeit, die Auswirkungen von und Gründe für Gottes Rache richtig einzuschätzen und ihn zur Milde zu bewegen, waren die herausragenden Eigenschaften, die Cassiodor in seinem Lob auf Moses besonders hervorhob.169 An mehreren Stellen in der EP lobte er Moses’ Einsatz für die sündige gens der Israeliten, wie wir oben anhand von EP 105 gesehen haben.170 Zudem fungierte Moses als ein Modell für einen christlichen Redner.171 Schließlich erinnerte die Person Moses’ daran, dass auch heilige Männer in verantwortungsbewussten Positionen nicht vollkommen fehlerlos sein konnten: Moses hatte sich aufgrund seines Zweifels bei den Wassern von Meriba schuldig gemacht und durfte daher das Gelobte Land nicht betreten (Num 20.1–13).172 Moses war außerdem – wie Joseph – eine Schnittstelle zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. In der patristischen Tradition galt er als Typus Christi. Bei Cassiodor wird allerdings die typologische Verbindung zwischen Moses und Christus kaum ausgearbeitet; wichtiger ist jene zwischen Moses und der christlichen ecclesia.173 Diese kollektive Interpretation baute unter anderem auf der Vorstellung einer mimetischen Beziehung zwischen

167 Wilkinson, Theoderic 270–278. Er bezieht sich dabei auf Theoderichs Aufenthalt am Kaiserhof, seine Verhandlungen mit Zeno und seinen Aufbruch nach Konstantinopel sowie den Zug der Goten in ein neues Land. Wilkinson identifiziert wörtliche Anklänge zwischen Jord. Get. 290 und Hebr 11.24–26a in einer Fassung der Vetus Latina. Allerdings sind diese Anklänge, so sie von Cassiodor intendiert waren, sehr subtil, sodass ihre korrekte Dekodierung durch zeitgenössische Leser nicht selbstverständlich erscheint. van Nuffelen/Van Hoof, Introduction 69, weisen darauf hin, dass die Berechnung der Dauer des gotischen regnum in Jord. Get. 313 einen chronologischen Parallelismus zwischen der Migration der Goten aus Scandza und dem Exodus suggeriert. 168 EP 105.19 und 23; EP 77.30–31. Zu Moses Rolle als paradigmatischer Fürsprecher siehe Schnocks, Moses im Psalter. 169 EP 89.tit.; 89.1, 89.7 und 89.13. 170 EP 105.23: se potius precatur exstingui, ne pateretur gentem generaliter interire. Vgl. auch EP 77.38. Zur drakonischen Bestrafung der götzenverehrenden Israeliten siehe EP 77.31. Diese Fähigkeit, harte Entscheidungen zu treffen und unerbittlich gegen Idolatrie und Abfall vom rechten Glauben vorzugehen, teilte Moses mit Phineas (EP 77.30–31) und Mathatias, dessen diesbezügliche Handlungen Cassiodor ebenfalls positiv hervorhebt: EP 78.5. 171 Siehe oben Kap. 1.4. 172 EP 105.32–33. 173 EP 89.2.

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Moses’ Biographie und der Geschichte des alten populus Dei auf. Moses, dessen Name assumptus bedeutete, wurde von der Tochter des Pharao aus den Fluten des Nil gerettet, genauso wie die Israeliten aus den Fluten des Roten Meeres, was wiederum die Heilserfahrung des populus christianus in der Taufe präfigurierte.174 Die religiöse Perspektive auf politische Autorität, die sich anhand dieser beiden biblischen Gestalten abzeichnet, stand auch außerhalb der Exoduspsalmen im Vordergrund, wenn Cassiodor sich für Könige als vorbildliche Herrscher interessierte. Im Kontrast zu Persönlichkeiten wie Moses oder Joseph erhielten die israelitischen Könige allerdings vergleichsweise wenig Profil in der EP. Eine Ausnahme bildet König David, den Cassiodor gemäß der patristischen Tradition für den Autor der Psalmen hielt.175 David zählte wie Moses zu den im Frühmittelalter beliebten typoi für weltliche Herrscher, eine Tradition, die sich besonders seit der Karolingerzeit belegen lässt.176 Wie Ueli Zahnd betont hat, sind allerdings die Belege dafür, dass König David innerhalb der Herrschaftsrepräsentation der östlichen Kaiser eine besondere Rolle gespielt hätte, wie das in der älteren Literatur oft angenommen wird, vor Herakleios im 7. Jahrhundert spärlich; wenn überhaupt, so sei der David-Vergleich von kirchlichen Autoren an die Kaiser herangetragen worden.177 Im Westen erscheint David seit Kaiser Theodosius I., der sich auf Rat des Bischofs Ambrosius im Jahr 390 einer öffentlichen Buße unterzogen hatte, um die brutale Niederschlagung von Unruhen in Thessaloniki zu sühnen, insbesondere als Beispiel für einen sündigen Herrscher, als rex paenitens, der demütig um Vergebung bei Gott fleht und sich dessen Geboten unterwirft.178 Ps 50, der traditionell als Bußgebet Davids nach dem Ehebruch mit Batsheba und dem Mord an ihrem Ehemann interpretiert wurde, spielte dabei eine wichtige Rolle. Ambrosius’ Traktate über Ps 50 und die Buße Davids datieren zwar in die Zeit vor Theodosius’ Buße und wurden wohl unabhängig vom konkreten politischen Anlass verfasst.179 Wie Hartmut Leppin unterstrichen hat, liegt aber ihre Bedeutung darin, dass sie mit dem Bild des büßenden Königs, dessen hervorragende Eigenschaft in der humilitas bestand, ein christliches Vokabular für die Situation eines fehlbaren Kaisers zur Verfügung stellten, eine Situation, für die es in der klassisch-römischen Tradition keine vergleichbare Sprache gab. Damit erweiterte das Alte Testament den Spielraum des Nachdenkens über Kaisertum und Herrschaft. Für Theodosius und Ambrosius boten David und die Psalmen eine einzigartige Möglichkeit, spirituelles Kapital aus der Angelegenheit zu 174 EP 89.tit. 175 EP praef. 2. 176 Rapp, Old Testament Models; King, Barbarian Kingdoms 135 f., 143; Hen, Uses of the Bible 282– 285. Allgemein: Daniélou, Art. David; Heim, Figures du prince 297–300; Herkommer, Typus Christi – Typus regis 409–412; Hourihane (ed.), King David. 177 Zahnd, Novus David; Ludwig, David – Christus – Basileus. 178 Siehe dazu Leppin, Das Alte Testament; McLynn, Ambrose of Milan 315–330; van Renswoude, Licence to Speak 87–108. 179 So Leppin, Das Alte Testament 125 f. und Appendix.

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gewinnen.180 Cassiodor rezipierte die Geschichte des Mailänder Bußaktes in der Historia tripartita, in die er den Bericht Theodorets aufnahm.181 In der EP folgte Cassiodor diesem Interpretationsansatz und charakterisierte David als rex paenitens. Seine Deutung von Ps 50 verrät dabei auch ein spezifisches Interesse an einzelnen Aspekten der Geschichte: Cassiodor nutzte die Figur des David nicht nur, um über das Verhältnis zwischen einem Herrscher und einem allmächtigen Gott zu verhandeln, sondern auch über die Konsequenzen, die sich daraus für das Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten ergaben. Wie Ambrosius betonte Cassiodor die Spannung, die in der Vorstellung eines purpuratus paenitens lag: Ein König, siegreich über viele Völker und weder Vorgesetzten noch menschlichen Richtern unterworfen, unterstellte sich freiwillig der Buße – darin lag die Vorbildhaftigkeit Davids begründet, der sich damit sich selbst gegenüber als ein wesentlich härterer Richter erwies als gegenüber seinen Untertanen.182 Vorbildhaft war auch Davids Verständnis davon, welcher seiner herrscherlichen Pflichten die höchste Priorität zukam. Wie Cassiodor bemerkte, hielt David die spirituelle Reinheit und die Kontemplation für wesentlich bedeutsamer als Kriegführung oder Rechtsprechung.183 Möglich, dass Cassiodor dabei auch die Prioritätensetzung zeitgenössischer Herrscher im Auge hatte, die für Rechtgläubigkeit und religiöse Ordnung innerhalb ihres Machtbereiches verantwortlich waren. Zahnd hat auf ein Mosaik in der Theotokoskapelle im Katharinenkloster am Sinai hingewiesen, das König David mit einer Krone unterhalb des Christusbildes zeigt und in seinen Gesichtszügen auffällig an die Justinian-Darstellung in Ravenna erinnert; ihm zufolge lässt es sich als Erinnerung daran interpretieren, dass Justinian als neuer David die korrekte christologische Lehre durchzusetzen versuchte.184 Cassiodor allerdings verband seine Bemerkungen zum historischen David nicht mit einer christo-

180 Leppin, Das Alte Testament 127–129. Ambrosius nutzt das Vorbild Davids in Ambros. ep. extra coll. 11 (Maur. 51), c. 7 sowie in ep. 74 (Maur. 40), c. 22 und ep. extra coll. 1 (Maur. 41), c. 25, die im Zusammenhang mit der Callinicum-Affäre entstanden. 181 Cassiod. Hist. trip. 9.30, basierend auf Theod. Hist. eccl. 5.17–18. Die David-Bezüge fehlen in der kirchenhistoriographischen Diskussion weitgehend, doch beschreiben Theodoret und ihm folgend Cassiodor, wie Theodosius sich in der Kirche zu Boden geworfen und dabei die Worte Davids rezitiert habe, wobei er allerdings nicht Ps 50, sondern Ps 118.25 zitierte. Zur Rezeption der Geschichte in der Historia tripartita de Jong, Penitential State 129 f. 182 EP 50.3. Vgl. auch 50.tit. und concl. Zum Thema der Verantwortlichkeit des Königs vor Gott allein siehe EP 50.6: im Gegensatz zu den Mitgliedern des populus, die sich für ihre Sünde sowohl vor Gott als auch vor dem König verantworten müssen, ist der König Gott allein Rechenschaft schuldig. Vgl. Ambros. Apol. Dav. 4.15 und 10.51; in der letztgenannten Stelle ist das Thema des Herrschers, der nicht durch menschliche Gesetze gebunden ist, sondern nur durch das Gesetz Gottes, betont. Dazu und zum Kontrast zwischen Davids Milde gegenüber seinen Untertanen und der Tötung des Urias auch 16.77; vgl. Leppin, Das Alte Testament 121–123. Zu David als Richter bei Augustinus: Aug. En.Ps. 50.8; auch bei Augustinus ist David beispielgebend für christliche Büßer, sein königlicher Status spielt hier aber eine untergeordnete Rolle: En.Ps. 50.3–5. 183 EP 50.14. 184 Zahnd, Novus David 79 mit weiterer Literatur.

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logischen Erläuterung, sondern mit einem Exkurs über den Status des Hl. Geistes.185 Das religiöse Verhalten des Herrschers war in Cassiodors Augen untrennbar mit dem Wohlergehen des populus als Ganzes verknüpft. Er registrierte, dass die Klage und Zerknirschung des David und der Anblick eines Königs, der anstelle des Diadems Asche auf dem Haupt trug, auch bei seinen Untertanen Trauer und Bußwilligkeit auslöste und so zur moralischen Verbesserung aller beitrug. „Der Schmerz eines einzigen Herzens war eine gewaltige Besserung der ganzen Bürgerschaft“, kommentierte Cassiodor, und er fügte an, dass sich jenes Staatswesen glücklich schätzen könne, in dem auch ein weltlicher Herrscher vor Gott Buße tat und die Ehre des gekreuzigten Königs anerkannte.186 Es ist charakteristisch für Cassiodors Exegese, dass politische Implikationen sich meist auf mehr als ein mögliches Zielpublikum richteten: so lässt sich die eben zitierte Bemerkung als Kritik an der homöischen Position der Gotenherrscher lesen, während die Beschreibung Davids als Kriegsherr und Gesetzgeber, der sich gleichzeitig um den rechten Glauben sorgte, Assoziationen mit Justinian wecken kann. Cassiodor ging aber in seinen Überlegungen zum rex humilis noch einen Schritt weiter, wenn er argumentierte, dass die öffentliche Buße des Königs die Trennlinie zwischen Herrscher und Untertanen ein Stück weit verwischte. Buße und Zerknirschung des Herzens machten aus der Rede des Königs eine uox priuata. Ein mächtiger König (rex potentissimus) bekannte sich schuldig, dessen Gerichtsurteile normalerweise bei der Bevölkerung gefürchtet waren.187 Daher eignete sich David auch nicht nur als Modell der humilitas für sündige Herrscher; sein Beispiel sollte vielmehr alle Christen, gleich welchen Ranges, zu den heilbringenden Mitteln von Bekenntnis und Buße anleiten.188 Eine gewisse „Demokratisierung“ der biblischen Könige als Modell für alle Christen lässt sich vielleicht als einer der Grundzüge von Cassiodors Umgang mit diesem Thema charakterisieren, was im Vergleich mit seiner Behandlung der nicht-königlichen Führungsgestalten Joseph und Moses bemerkenswert ist. So fungierte David auch in anderen Psalmen explizit als Vorbild für jeden christlichen uir iustus, während spezifische Reflexionen über ideales Königtum wenig akzentuiert bleiben.189 Selbstredend verstand Cassiodor sowohl David als auch Salomon als typoi für Christus. Mit dieser christologischen Lektüre waren Ideale wie pax und iustitia, humilitas, die Sorge um die pauperes in der Gesellschaft und die Liebe zu den Feinden verknüpft, Ideale, die durchaus einen Kontrapunkt zur bestehenden weltlichen Hierarchie und Rechtsordnung bilden konn-

185 EP 50.14, vgl. Kap. 6. Siehe zum selben Thema auch EP 50.13. 186 EP 50.concl.: Dolor unius cordis fuit nimium correctio ciuitatis, quando insaniae crimen incurrit, qui tunc laetus esse praesumpsit. Felix profecto ter quaterque ciuitas ubi et saeculi Dominus Deo paenitere meruit et gloriam crucifixionis Rex caelestis accepit. 187 EP 50.tit. 188 EP 50.concl. Dies ist auch formuliert in Ambros. Apol. Dav. 2.5–2.7 und 3.10. 189 EP 17.4–5; vgl. auch 17.21–25.

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ten.190 Doch konzentrierte Cassiodor seine christologische Lektüre meist auf Fragen der richtigen Lehrmeinung zur Inkarnation und zur Trinität, die in Teil III gesondert diskutiert werden sollen, und weniger auf die Beschreibung eines Herrscherideals im engeren Sinn.191 Die Tendenz zur „Demokratisierung“ und Verallgemeinerung der an den König gestellten moralischen Anforderungen zeigt sich auch an Cassiodors Definition der Könige als jenen, die Selbstbeherrschung und Disziplin über ihren eigenen Körper auszuüben wissen und sich den Geboten Gottes unterwerfen: „Denn jener, der seinen Lastern zu dienen scheint, wird nicht wahrhaftig König genannt“.192 Wie die bisher diskutierten Beispiele zeigen, eröffnete die Arbeit des Exegeten am Psalmentext ein Verständnis der Psalmen als historia im umfassenden, moralischen Sinn des Wortes, als eine das Verständnis der Gegenwart anleitende Sicht auf die Vergangenheit. Die exegetische Auseinandersetzung mit Israel zielte zugleich auf die „Christianisierung“ der Gottesvolk-Metapher. Dies beinhaltete eine ständige Neuverhandlung und Neuformulierung der Normen und theoretischen Ideale, die für Israels Status im Bibeltext relevant waren. Die Interpretation von Israels Geschichte und Verhalten und dem seiner politischen Anführer bot konkrete Beispiele für das Erfüllen dieser Anforderungen oder das Scheitern daran. Geteilte „Regeln der Reflexion“ für das biblische Israel und das neue, christliche Gottesvolk erlaubten es, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Israel und christlichen Gemeinschaften wahrzunehmen, zu schärfen und zu gewichten. Wenn Cassiodor das Israel der Psalmen also als soziale Metapher einsetzte, die seinem christlichen Publikum Anleitung und Orientierung geben sollte, so stellt sich die

190 Siehe für die Typologie David-Christus z. B. EP 17.2 und 17.51; vgl. EP 53.7–8 für Feindesliebe und misericordia anhand von David/Christus. EP 71.2 betont ausgehend von Salomon das Bild Christi als Friedensbringer und Inbegriff der iustitia. Zu diesem Thema siehe Kershaw, Peaceful Kings 91–101, mit Bemerkungen zu Theoderich als friedvollem König und zur Rolle Salomons im politischen Diskurs (inklusive der Variae) im ostgotischen Italien. Salomon spielt beispielsweise als Hintergrundmodell zur Charakterisierung Theoderichs im Text des Anonymus Valesianus eine Rolle (ebda. 97 f. mit Verweis auf u. a. Anon. Vales. 12.62). 191 Eine gewisse Ausnahme stellt EP 44 dar, die eine etwas ausführlichere Beschreibung von Christus als rex enthält. Hier hob Cassiodor die Gerechtigkeit als besonderes Charakteristikum von Christi Herrschaft hervor, deren Grundlage er auch von jener der weltlichen Herrscher abgrenzte. Während die uirga, das königliche Szepter und Symbol der potestas regis, normalerweise mit der Rute und daher mit der Ausübung von Zwangsgewalt in Verbindung gebracht wird, ist für Christus diese Etymologie außer Kraft gesetzt: Christi uirga leitet sich von der uirtus Dei her: siehe EP 44.7; vgl. auch 44.5 und EP 21.7 und 21.27. Zur Bedeutung der auf Christus bezogenen Typologie als Filter für die Interpretation alttestamentlicher Herrschergestalten, die zur Entwicklung eines christo-mimetischen Herrschaftsmodells in der christlichen Exegese führt, siehe Miller, Political Significance; Reydellet, La royauté 36–46 und 562–568 (zu Isidor von Sevilla). 192 EP 137.4: Nam ille rex uere non dicitur, qui uitiis seruire monstratur; 67.15: rex ergo a regendo uocatus est. Vgl. Aug. En.Ps. 44.17, aufgenommen in der vielzitierten moralischen Definition des rex durch Isidor von Sevilla: Reges a recte agendo vocati sunt, ideoque recte faciendo regis nomen tenetur, peccando amittitur (Isid. Sev. sent. 3.48.7); Reydellet, La royauté 575–578 sowie zu Cassiodor 230 f., 250 f.; Wood, Politics of Identity 141 f. Vgl. auch EP 137.5; 75.13 und 67.30 sowie Cassiod. var. 10.3.3 (Theodahad als rector sui).

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Frage, an welche christliche Gemeinschaft die Aufforderung, sich mit dem biblischen Israel zu identifizieren oder aus dessen Geschichte zu lernen, adressiert war. Wie wir bereits anhand von Ps 79 gesehen haben, ist die metaphorische Verbindung zwischen dem biblischen Gottesvolk und der christlichen ecclesia oder dem populus christianus, die bereits fest in der exegetischen Tradition verankert war, am naheliegendsten.193 Doch die Gestalt und die raum-zeitliche Situierung dieser christlichen Gemeinschaft ist meist nicht so leicht zu bestimmen. Cassiodor legte die präzise Form der christlichen Gemeinschaft, die Israels Platz einnehmen sollte, selten eindeutig fest. Vielmehr beschrieb er sie in generischen Begriffen als ecclesia, populus fidelis oder populus christianus, oder wählte schlicht den Weg der direkten, aber verallgemeinerten Identifikation mithilfe eines christlichen „wir“. Begriffe wie ecclesia und populus christianus sind Begriffe mit variabler Reichweite.194 Sie können eine universale, Raum und Zeit übergreifende Gemeinschaft bezeichnen oder auch auf einer eschatologischen Ebene angesiedelt sein; am anderen Ende der Skala können ecclesia und populus aber auch auf eine sehr konkrete, lokale Gemeinschaft- bezogen werden, die sich in einem Kirchengebäude versammelt, um eine Predigt zu hören oder Psalmen zu singen.195 Trotz dieser Offenheit und Mehrdeutigkeit der Anschlusspunkte lässt die spezifische exegetische Ausgestaltung Israels in vielen Fällen Rückschlüsse auf den „metaphorischen Gegenpol“, die Form der metaphorisierten Gemeinschaft, zu. Je nach Schwerpunkt, den der Exeget bei der Auswahl seiner interpretativen Strategien setzt, wird Israel als soziale Metapher auf verschiedene Arten von christlichen Gemeinschaften anwendbar. Anhand der Geschichtspsalmen, die in diesem Abschnitt untersucht wurden, entwarf Cassiodor theoretische Leitlinien für eine ideale christliche Gemeinschaft. Gleichzeitig jedoch nahm er Israel als historische Verkörperung des Gottesvolkes in den Blick, als Gemeinschaft, die zwar religiös definiert war, aber gleichzeitig als populus, gens oder regnum in der Geschichte handelte. Zwar definierte Cassiodor nirgends ein spezifisches zeitgenössisches Kollektiv – etwa Römer oder Goten – explizit als Adressat der biblischen Botschaft oder als Nachfolger des auserwählten Volkes. Wie im folgenden Abschnitt noch genauer diskutiert werden soll, argumentierte er vielmehr häufig bewusst gegen eine zu nahtlose Identifikation zwischen zeitgenössischen und biblischen Akteuren. Doch die Lehren und Orientierungsmuster, die sich aus Cassiodors Interpretation von Israels Geschichte ergaben, machten in vielen Fällen nicht nur für eine abstrakte Kirche, sondern auch für eine konkrete christliche Gemeinschaft im saeculum Sinn, für einen populus oder eine gens mit ihrer politischen Führungsschicht, die Israel in mancherlei Hinsicht vergleichbar war und vor ähnlichen Herausforderungen und Entscheidungen stand. In 193 Siehe zu EP 79 oben Kap. 2.2. Zum Begriff des populus christianus siehe unten Kap. 4.1. 194 Dies betont De Jong, Ecclesia and the Early Medieval Polity 115–122 mit Blick auf den Begriff der ecclesia und seine politische Bedeutung. 195 Siehe dazu unten Kap. 4.1 mit Anm. 57 f.

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manchen Fällen, wie bei der Joseph-Geschichte, sind die zeitgenössischen Anknüpfungspunkte, die Cassiodors Exegese anleiteten, in der Tat sehr deutlich. Cassiodors Selbstidentifikation mit Joseph implizierte an dieser Stelle auch jene zwischen dem Pharao und Theoderich bzw. seinen Nachfolgern.196 Wenn Cassiodor aber anderswo die Abweichung vom wahren Glauben an Christus als Grund für den Untergang von gens und regnum der Israeliten herausstrich und dies mit einer Kritik an der (homöischen) Subordinationslehre verband, so liegt es nahe, die Goten in der Rolle des (gescheiterten) Israel zu sehen. Seine Warnung, dass eine Vermischung zwischen Israel und den gentes des Gelobten Landes die Gefahr des Abfalls vom rechten Glauben mit sich bringe, passt hingegen nicht auf die historische Situation in Italien. Wenn Cassiodor also in der EP zeitgenössische Parallelen zum biblischen Narrativ insinuierte, so folgte dies keinem kohärenten Schema oder einer ein für alle Mal festgelegten Rollenverteilung; wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, blieb seine Deutung an manchen Stellen auch bewusst ambivalent. Cassiodor ging es vielmehr darum, anhand von einzelnen Episoden moralische Lehren zu entwickeln oder (implizite) Kritik zu üben. Wenn sich jedoch anhand der bisher diskutierten Psalmen eine übergreifende politische Botschaft aus Cassiodors Gebrauch Israels als sozialer Metapher herauslesen lässt, so jene, dass das Gottesvolk durch die Bewahrung des wahren Glaubens charakterisiert sein musste, den Cassiodor immer wieder deutlich sowohl mit der nicänischen als auch chalkedonischen Orthodoxie verknüpfte. In diesem Sinn stellte der „Arianismus“ der Goten das wesentliche Hindernis für sie dar, diese Rolle angemessen zu erfüllen.197 Wenn das christliche Gottesvolk auch nicht mit einem konkreten populus oder einer spezifischen gens mit ihrem regnum identisch war, so musste es sich doch innerhalb von profanen politischen Strukturen bewegen. In diesem Zusammenhang kann auch darauf hingewiesen werden, dass manche der Normen und Gemeinschaftsideale, die Cassiodor in seiner Exegese für Israel oder das christliche Gottesvolk formulierte, mit einigen jener Ideale von sozialer Kohärenz übereinstimmten, die er auch in den Variae für die politische Gemeinschaft des regnum Italiae entworfen hatte. Nicht umsonst hat Samuel Barnish hat auf die christliche Dimension von Cassiodors politischem Denken hingewiesen und den predigtähnlichen Charakter mancher Stücke in den Variae betont.198 Dies trifft etwa für die caritas zu, die Cassiodor nicht nur in den Kommentaren zu Ps 78 und 104, sondern auch an anderen Stellen immer wieder als wesentliches Merkmal des biblischen wie des christlichen Gottesvolkes hervorhob.199 Caritas 196 EP 104.17–22. 197 Das Thema des gotischen „Arianismus“ soll in Kap. 6. eingehender behandelt werden. 198 Barnish, Sacred Texts; ders., Roman Responses 369 f.; vgl. auch Humphries/Gwynn, The Sacred and the Secular 501. 199 EP 104.44–45; 78.concl. Die caritas bewirkte dabei eine Haltung der wechselseitigen Solidarität der Mitglieder dieser Gemeinschaft sowohl im positiven Sinn als auch in der Erfahrung von Rückschlägen. Ähnlich definierte Cassiodor caritas und unitas in EP 123.1 als zentrale Eigenschaften

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erscheint auch in den Variae als wichtiger Faktor für die Gestaltung sozialer Beziehungen, sei es zwischen dem König und seinen Untergebenen, Goten und Römern oder im Kontext diplomatischer Verbindungen zu auswärtigen Herrschern.200 Auch die Betonung der lex und der Einhaltung der göttlichen Gebote findet in den Variae ihre Entsprechung in der nachdrücklichen Betonung der Notwendigkeit, rechtsstaatliche Normen einzuhalten, wobei das Ideal der civilitas und iustitia auch dort eine christliche Dimension besaß.201 Ebenso wie in der EP formulierte Cassiodor auch in den Variae den Anspruch, dass sich menschliche iustitia und säkulare Rechtsnormen letztlich an der göttlichen Gerechtigkeit und Ordnung orientieren mussten.202 Durch die exegetische Arbeit an Israel als historischem Modell erhielt Cassiodors Kommentar eine politische Dimension. Dies wird sich noch intensiver im folgenden Abschnitt zeigen, in dem eine weitere Gruppe von Psalmen analysiert werden soll, die von Israel in der Krise handeln. Dabei soll auch eine weitere Dimension des Identifikationspotentials herausgearbeitet werden, das die Psalmen enthielten: die Ebene der Identifikation zwischen dem biblischen Sprecher und dem christlichen Exegeten. 2.4 Das Gottesvolk in der Krise Im nun folgenden Abschnitt soll eine Gruppe von Psalmen im Zentrum stehen, die sich auf historische Situationen bezogen, in denen sich Israel in der Krise befand und sein Status als Gottesvolk bedroht war. Diese Psalmen interpretierte Cassiodor als Re-

einer Gemeinschaft, die den Anspruch auf die Bezeichnung „Israel“ erheben konnte. In EP 67.2 verknüpfte Cassiodor daher folgerichtig den Untergang der israelitischen gens mit dem Verlust der caritas, während er gleichzeitig suggerierte, dass die ecclesia den gentes, aus denen das neue Gottesvolk bestand, die Tugenden der caritas, unanimitas und ratio vermittelte (EP 67.11 und 18). Zur Übertragung dieser Ideale auf die gentes siehe unten Kap. 5.3. Vgl. außerdem EP 17.22, 32.2, 99.3, 133.1, 137.concl. 200 Cassiod. var. 2.16.5; 7.3.3 (caritas zwischen Goten und Römern); 1.44.1, 8.3.5; 8.23.4, 11.1.4 (caritas als Merkmal richtig ausgeübter Herrschaft); 1.1.6; 2.41.3; 10.10; 10.21.1 (caritas in diplomatischen Beziehungen); 3.49.2, 9.5.3, 11.11.1 (Caritas civica im Kontext lokaler Gemeinschaften). Zum Diskurs über caritas als Prinzip der sozialen Ordnung bei Cassiodors Zeitgenossen Eugippius und Caesarius von Arles siehe Diesenberger, Topographie und Gemeinschaft; Blennemann, Martyre et prédication. 201 Kakridi, Cassiodors Variae 329–339. Verbindlichkeit von Normen und iustitia als Verhaltensnorm für Herrscher und Beamte: Cassiod. var. 1.9.1., 1.18.1, 4.32.1, 4.33.1, 4.35.3, 6.4.2, 6.23.2, 11.8.2–3. In der EP fungiert die iustitia vor allem als theoretisches Ideal (EP 104.45, 88.32, 118.12, 98.4), wird aber auch gelegentlich auf die menschliche Gerichtspraxis bezogen, siehe EP 71.4; 118.142 und vgl. unten 2.4 zu Asaph als Gerichtsredner. Wie die weltlichen Richter mäßigt auch der göttliche Richter seine richterliche Gewalt mit Milde und Nachsicht gegenüber reuigen Untertanen: EP 5.9; 50.16; 142.1. 202 Cassiod. var. 7.46.1 nennt den Dekalog als Grundlage einer nach christlichen Prinzipien ausgerichteten Rechtsordnung, vgl. dazu EP 32.2. Vgl. auch var. 10.3.5, 11.18.4, 2.8.1; Kakridi, Cassiodors Variae 337–339.

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den, die er dem in den tituli genannten Asaph zuschrieb. Asaph wurde in der christlichen Exegese als Verkörperung und Fürsprecher der Synagoge (oder des jüdischen populus) verstanden und fungierte auf der Ebene der figuralen Deutung als typus der christlichen Kirche.203 Die Serie der Asaph-Psalmen umfasst die Psalmen 49 sowie 72–80 und überlappt daher mit den Geschichtspsalmen, die teilweise bereits in den vorigen Abschnitten diskutiert wurden.204 Hier sollen nun jene Psalmen im Zentrum stehen, in denen Asaph kollektive Krisen und militärische Bedrohungen beschrieb und dabei auch über Israels Identität reflektierte. Anhand dieser Psalmen lässt sich eine weitere exegetische Strategie untersuchen, die das Identifikationspotential des Bibeltextes in besonderer Weise mobilisierte: die Analyse der Psalmen als rhetorische Artefakte. Wie wir bereits in Kapitel 1 gesehen haben, griff Cassiodor die Regeln der klassischen Rhetorik auf, um sie auf die Interpretation des Bibeltextes anzuwenden.205 Auf diese Weise nutzte er die Rhetorik als interpretative Technik.206 Gleichzeitig schuf er ausgehend vom Psalmentext eine neue Ebene der Identifikation für sich und seine Leser. Neben Israel, dessen Geschichte zum Gegenstand von forensischen und deliberativen Reden wurde, traten die Sprecher der Psalmen als potenzielle Identifikationsmodelle.207 Diese alternative Identifikation mit den Psalmensprechern ermöglichte es, kritische Distanz zu Israel als historischer und politischer Gemeinschaft aufzubauen. Cassiodors Exegese der Asaph-Psalmen kann daher zeigen, dass die Funktion Israels als soziale Metapher keineswegs einen simplen Mechanismus der Identifikation der eigenen Gemeinschaft mit dem biblischen Gottesvolk implizierte. Israel fungierte in den „rhetorischen“ Kommentaren Cassiodors vielmehr als „tool to think with“, als Instrument der Reflexion über Deutungs- und Reaktionsmuster in Krisenzeiten; diese zielten letztlich auf seine eigene Gegenwart. Doch nutzte Cassiodor die Autorität des biblischen Sprechers Asaph, um nicht nur über die Anwendbarkeit biblischer Modelle und Sprache auf die Krisen der eigenen Gegenwart zu verhandeln, sondern auch über die Grenzen dieser Übertragbarkeit. Damit leistete er einen Beitrag zu den politischen Debatten, die diese Krisen um 550 begleiteten.208

203 EP 49. tit.; 73.tit.; 78.tit. Vgl. Bochet, Psaumes d’Asaph 99–102 zu Augustinus. Zu den biblischen Belegen für Asaph bzw. die Asaphiten siehe Goulder, Psalms of Asaph 312–327. 204 Zu dieser Serie siehe Weber, Asaph-Psalter; Goulder, Psalms of Asaph; Bochet, Psaumes d’Asaph 96–97. 205 Vgl. zur Rhetorik als exegetischer Technik in der EP mit ausführlichen Literaturhinweisen Kap. 1.4. 206 Copeland, Cassiodorus’ Hermeneutic 172 f. Diese Verschiebung von der inventio hin zur Textinterpretation betont mit Blick auf Augustinus Pollmann, De doctrina 215–224; Copeland, The Ciceronian Rhetorical Tradition 239–241. 207 Zum Identifikationspotential der rhetorischen Psalteranalyse siehe Astell, Cassiodorus’ Commentary 68 f. 208 Für eine frühere Fassung dieses Teilkapitels siehe Heydemann, The Orator as Exegete.

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Jerusalem/Rom: Forensische Rhetorik und der Fall der civitas Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist Ps 73, ein Klagepsalm über die Zerstörung der Stadt Jerusalems und des Tempels, den Cassiodor als prophetische Vorausdeutung der Eroberung Jerusalems durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. verstand.209 Mit dieser Auslegung folgte er seinem exegetischen Vorbild Augustinus, der in den Enarrationes in Psalmos denselben Interpretationsrahmen gewählt hatte. Doch verband Cassiodor diese historische Einordnung mit einem besonders eindrucksvollen rhetorischen Szenario, das bei Augustinus fehlt: Cassiodor stilisierte den Psalm zu einer Gerichtsrede und Asaph, den Sprecher des Psalms, zu einem klassisch gebildeten Redner. Asaph hielt ein Verteidigungsplädoyer für Israel, durch das er vor dem göttlichen Richter Gnade für das vom Untergang bedrohte Volk Israel erwirken und Gott zur Rache an Israels Feinden bewegen wollte.210 Eine Verteidigungsrede für Israel mag als Deutung des Psalms überraschen – schloss sich Cassiodor doch andererseits der traditionellen christliche Sichtweise an, wonach der Fall Jerusalems als Gottesstrafe für die Kreuzigung des Messias zu deuten sei.211 Diese Deutung findet sich nicht nur in der christlichen Geschichtsschreibung, allen voran in Eusebius’ Kirchengeschichte; sie bildete auch die Grundlage für Augustinus’ Auslegung des Psalms.212 Doch Cassiodor widmete der Diskussion um die heilsgeschichtliche Bedeutung der Tempelzerstörung, die von christlichen Apologeten als handgreifliches Zeichen für das Ende des Alten Bundes und des damit verbundenen Opferkultes interpretiert wurde, überraschend wenig Raum. Stattdessen konzentrierte er sich auf Asaphs Strategien zur Verteidigung Israels, die im Wesentlichen darin bestanden, Gottes Zorn gegen Israels Feinde zu beschwören. Asaphs Bitte um göttliche Rache an den Römern nahm Cassiodor zum Anlass, um ausführlich über die historische Rolle Roms und die Konsequenzen der Eroberung Jerusalems für die Römer zu reflektieren: 209 Zum Psalmentext, dessen Datierung und historischer Bezugspunkt umstritten ist, siehe Hossfeld/Zenger, Psalmen II 423–426; Emmendörffer, Der ferne Gott 77–102; Cordes/Hansberger/Zenger, Verwüstung des Tempels; Gärtner, Geschichtspsalmen 116–120; Klein, Geschichte und Gebet 141–146; für eine ursprünglich vorexilische Datierung Weber, Datierung; Goulder, Psalms of Asaph 61–68. 210 EP 73.1 und 2. Augustinus konnte dennoch ein Modell für die christliche Adaptierung der forensischen Rhetorik bieten, die etwa in De civitate Dei einen wesentlichen Hintergrund zur Strukturierung und Gestaltung des Stoffes bot: Tornau, Zwischen Rhetorik und Philosophie; ebenso wandte Augustinus forensische Rhetorik an, um theologische Streitfragen zu klären, siehe Humfress, Orthodoxy and the Courts 189–193; vgl. ebda. 106–115 und 140–195 für einen breiteren Überblick über die Rolle forensischer Rhetorik in christlichen Kontexten. 211 EP 73.tit; vgl. auch 73.8 und 73.9. 212 Eus. Hist. eccl. 3.5.5; auch Aug. En.Ps. 73.4; Schreckenberg, Christliche Wirkungsgeschichte 1116–1121; vgl. zur Tempelzerstörung in der christlichen Apologetik außerdem Wagner-Lux/ Brakmann, Jerusalem I, 676 f.; Döpp, Deutung der Zerstörung 52–70 und 300–302 (Tötung Christi) und 248–275 (Ende des Alten Bundes).

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„Erheb deine Hand gegen ihren Hochmut zum Ende: wieviel Unrecht hat der Feind deinen Heiligen angetan!“ Dies sind Worte nicht eines Erzürnten, sondern jemandes, der ein Heilmittel der Verbesserung wünscht. In der Tat war das Ansuchen des Israeliten wirksam. Wo nämlich erblühte der Kult der christlichen Religion mehr als in der Stadt Rom, die sich mehr als alle anderen Länder die abergläubischen Gebräuche der vormaligen gentes zu eigen machte? Gegen jene erhob sich also die Macht des Herren, als er ihren Hochmut in die Gnade der Demut verwandelte, indem er sie zum Ende führte, das heißt, zum Herren Retter. Wie viele sehr gottlose Bildnisse gibt es dort [in Rom] in den Tempeln! Wie viele Gaben der himmlischen Kirchen und seliger Märtyrer glänzen! Unter beiden Blickwinkeln möge man tatsächlich die Macht Christi des Herren begreifen, der aus einem so abergläubischen Volk (plebs) eine höchst heilige Bürgerschaft (civitas) gemacht hat! Es folgt: „wie boshaft hat der Feind im Heiligtum gehandelt!“ Feind meint den populus der Römer, der zu jener Zeit, wie gesagt, als besonderer Verehrer von Götzenbildern galt. Dieser handelte boshaft an seinen heiligen Orten, als die Priester und die gesamte Dienerschaft des Tempels es erduldeten, zur Beute freigegeben zu werden, und die gesamte hebräische gens entweder unter dem Schwert fiel oder, der Gefangenschaft unterworfen, Sklavendienst leistete.213

Die Römer waren als Feinde und Götzenverehrer gekommen, um Jerusalem und den Tempel dem Erdboden gleichzumachen, die ganze hebräische gens zu töten oder zu versklaven. Doch in dieser Situation war Asaphs Bitte – jedenfalls in Cassiodors Interpretation – keine Bitte um Rache an den Römern, sondern eine Fürbitte, die auf die Bekehrung der Feinde zielte. Göttliche Intervention sollte nicht in Form eines militärischen Gegenschlags über die Römer kommen, sondern ihre Bekehrung bewirken. Dass ein christliches Rom tatsächlich den Platz Jerusalems als Zentrum des wahren Glaubens einnehmen würde, konnten sich Cassiodor und seine Leser fast fünf Jahrhunderte später nur zu gut vorstellen. So wie die christlichen Kirchen und Märtyrerkulte das alte heidnische Stadtbild Roms überlagert hatten und eine civitas sanctissima die plebs superstitiosa abgelöst, entstand in Cassiodors Exegese das Bild des christlichen Rom neben Asaphs Beschreibung des gefallenen Jerusalem. Aus Asaphs 213 EP 73.3: Eleua manum tuam in superbia eorum in finem: quanta malignatus est inimicus in sanctis tuis! Haec uerba non sunt irati, sed remedium magis correctionis optantis. Praeualuit reuera Israelitae petitio. Vbi enim amplius religionis christianae cultus effloruit quam in Romana urbe, quae prae ceteris terris superstitiones sibi ante gentium uindicauit? Eleuata est ergo in ipsis potentia Domini, quando superbiam eorum humilitatis gratia commutauit, perducens eos in finem, id est ad Dominum Salvatorem. Quanta enim nefandissima illic sunt signa templorum? Quot Ecclesiarum caelestium et beatorum martyrum dona micuerunt! Vt utrisque conspectis, reuera potentia intellegatur Domini Christi, qui ex tam superstitiosa plebe reddidit sanctissimam ciuitatem. Sequitur, quanta malignatus est inimicus in sanctis tuis! Inimicus significat populum Romanorum, qui illo tempore (sicut dictum est) insignis idolorum cultor habebatur. Qui malignatus est in locis sanctis eius, quando sacerdotes totaque ministeria templi in praedam missa patuerunt, cunctaque gens Hebraeorum aut gladio subiacuit, aut captiuitati subiugata seruiuit.

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Plädoyer für Israel versuchte Cassiodor sein Urteil über die Römer herauszulesen. Dieses Urteil war alles andere als geradlinig positiv, sondern diente dazu, das große ideologische Potential einer christlich-römischen Erfolgsgeschichte zu relativieren, in der die Römer als Werkzeuge der göttlichen Vorsehung ihre militärischen und spirituellen Pflichten erfüllten. Augustinus hatte Ps 73 in einer Predigt behandelt, die er kurz nach der Plünderung Roms durch die Goten Alarichs im Jahr 410 hielt.214 In dieser Predigt war er darum bemüht, die Verbindung zwischen christlichem Triumphalismus und römischem Providentialismus, die der Psalm nahelegen konnte, zu konterkarieren. Dieses Anliegen fügt sich gut zu den Strategien zur gedanklichen Bewältigung der Katastrophe von 410, die Augustinus in anderen Texten entwickelte.215 In der Enarratio zu Ps 73 diskutierte er die Einnahme Jerusalems ausführlich in ihrer Bedeutung als heilsgeschichtliches, nicht als historisches Ereignis, als symbolische Markierung für den Übergang der Gnade von den Juden auf die gentes.216 Bemerkenswerterweise zog er es vor, die römischen Angreifer allgemein als reges gentium zu beschreiben und sie nicht beim Namen zu nennen, vermutlich mit dem Ziel, ihre heilsgeschichtliche Funktion als heidnische Gegner des israelitischen Gottesvolkes zu betonen und im Gegenzug ihren Status als historische Akteure und imperiale Macht in den Hintergrund zu rücken.217 Die Römer erscheinen in Augustinus’ Predigt als ein kleines Rädchen im Werk des göttlichen Heilsplanes, als Instrument der göttlichen Strafe für die Juden: ihren Erfolg verdankten sie lediglich der Tatsache, dass Tempel und Kult der Juden ihre Legitimation und ihre Funktion in Zeiten des Neuen Bundes eingebüßt hatten.218 Wenn er die partikulare, historische Dimension des Ereignisses auch nicht ganz unterdrückte, so versuchte Augustinus jedenfalls deutlich zu machen, dass die Römer daraus keine Sonderstellung ableiten

214 Aug. En.Ps. 73. Für die Datierung des sermo auf 411 oder 412 (in Hippo oder Karthago gehalten) siehe Fiedrowicz/Müller, Art. Enarrationes 819. 215 Zu Augustinus’ Reaktion auf den Fall Roms 410 siehe Corradini, Ankunft der Zukunft 91–110; Salzman, Memory and Meaning 297–301; dies., Christian Sermons 352–357; Fuhrer, Rom als Diskursort; Meier/Patzold, Kampf um Rom 40–57. 216 Dies wird bereits in der langen Einleitung deutlich, die den Übergang des Bundes von den Juden auf die Christen thematisiert, siehe Aug. En.Ps. 73.1–3; siehe außerdem 73.6. Im Gegenzug überging Augustinus die Verse 6–7, in denen die Zerstörung beschrieben wurde, siehe En.Ps. 73.9–10. Zur Unterscheidung zwischen „sacred history“ und „secular history“ bei Augustinus: Markus, Saeculum 1–21. 217 Die Römer als reges gentium: Aug. En.Ps. 73.6; nur in 73.8 sind signa romana genannt. In En.Ps. 73.3 wird die Abfolge von Christusmord – Eroberung Jerusalems erläutert, wobei die Römer ausschließlich indirekt in einem Zitat von Io. 11.48 eine Rolle spielen. Zu Augustinus’ Dekonstruktion einer providentiellen Rolle des römischen Reiches siehe Markus, Saeculum 30–44; Ingelebert, Les romains chrétiens 395–494; Pollmann, Unending Sway 186–191; Kempshall, Rhetoric and the Writing of History 91–107; Corradini, Die Ankunft der Zukunft. 218 Aug. En.Ps. 73.6 und 8. Zu Augustinus’ Theologie des Judentums im christlichen Zeitalter siehe Cohen, Living Letters 19–71; Fredriksen, Augustine and the Jews; dies., Allegory, und siehe unten 2.5.

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konnten – unter anderen Umständen hätten andere reges gentium die Aufgabe als Instrumente der göttlichen Vorsehung wohl ebenso erfüllt. Wenn Cassiodor ebenfalls Grund genug hatte, das Identifikationspotential des Psalms zu unterminieren, so verfolgte er dabei allerdings eine andere Strategie: Er rückte die Römer ins Zentrum der Aufmerksamkeit und stellte die Frage, wie sie ihre Rolle als Instrumente göttlicher Rache ausgeführt hatten. Die Antwort war wenig schmeichelhaft, wie Asaphs Rede gegen die Feinde – von Cassiodor auf die Römer bezogen – zeigte. Asaph hatte leichtes Spiel dabei, Gottes Zorn gegen die Eroberer zu erregen, indem er in allen Einzelheiten die Gräueltaten beschrieb, die sie während der Belagerung Jerusalems verübt hatten, wobei Cassiodor Asaphs Klage über die Verwüstung und Entweihung des Tempels erläuterte und erweiterte.219 Augustinus hingegen hatte die fraglichen Verse mit der Bemerkung übergangen, dass ihre Bedeutung klar und es unpassend sei, sich ausführlich mit der Bestrafung der (jüdischen) Gegner zu beschäftigen.220 Wie Cassiodor betonte, ließen die Römer Respekt gegenüber den Kultorten der Stadt vermissen, stets ein Zeichen dafür, dass die Bewohner Schlimmes zu befürchten hatten: „Denn was“, fragte Cassiodor, „konnte mit den privaten Häusern geschehen, wo die feindliche Raserei nicht einmal das Heiligtum des Herren schonte?“221 Durch ihr Verhalten zeigten die Römer, dass sie den Sinn ihres militärischen Erfolges vollkommen missverstanden hatten. Anstatt sich zu bekehren, wie der Kontakt mit dem Kult des wahren Gottes es nahelegen würde, verunreinigten sie den Tempel, indem sie dort die Kultstatuen ihrer eigenen Götter aufstellten – das christliche Rom lag noch in der Zukunft.222 Zudem fielen sie in den Fehler des Hochmuts (superbia), jenes schlimmsten (und zugleich für die Römer so charakteristischen) Lasters. Sie stellten Feldzeichen und Fahnen auf und errichteten Siegesstatuen über den Stadttoren und an gut sichtbaren Punkten entlang der Straßen.223 Cassiodor zufolge waren dies sichtbare Zeichen dafür, dass die Römer ihren Sieg den eigenen Verdiensten zugeschrieben und nicht erkannt hatten, dass der Erfolg ausschließlich auf göttlichem Willen beruhte.224 Asaph tat also gut daran, die römische superbia ans Ende seiner Rede zu stellen, „um den allmächtigen Richter nachdrücklich gegen die Feinde Jerusalems aufzubringen.“225 Cassiodor erläuterte weiter: 219 EP 73.4–7 beschreibt die Profanierung und Zerstörung des Tempelgebäudes mit weit über den Bibeltext hinausgehendem Detail, 73.5–6 bringt dabei auch das Schicksal auch der restlichen Stadt ins Spiel. 220 Vgl. Aug. En.Ps. 73.9–10. 221 EP 73.7: Sed quid, rogo, de priuatis domibus fieri potuit, ubi furor hostilis sanctuario Domini non perpecit? Vgl. EP 73.1 mit ähnlichem Gedankengang. 222 EP 73.4. 223 EP 73.4. 224 EP 73.4. Dieser Gedankengang auch bei Aug. En.Ps. 73.8, der ausgehend davon die Rolle der Römer (wieder als gentes bezeichnet) als Instrument der göttlichen Strafe betont. 225 EP 73.23: [Hoc congrue dictum de Romanis aduertimus …] ut contra hostes Ierusalem omnipotentem Iudicem uehementissime commoueret.

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Denn es ist die superbia, die der Herr besonders verabscheut, durch die auch der Engel fiel und die Seligkeit des ersten Menschen verlorenging. Beachte, wie klug das sehr schlimme Laster ans Ende gesetzt ist, damit er nach allem Gesagten dies in der Erinnerung verankere.226

Durch die aufmerksame Analyse von Asaphs Versuchen, die Römer vor dem göttlichen Gericht zu diskreditieren, verdeutlichte Cassiodor, dass sie ein denkbar ungeeignetes Vorbild zur Orientierung für christliche Leser darstellten. Ihre unrühmliche Rolle bei der Zerstörung Jerusalems konnte nicht als positiver Identifikationspunkt dienen. Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass Cassiodors Leser nicht aufgefordert waren, Parallelen zwischen dem biblischen Text und der eigenen Situation zu ziehen. Indem Cassiodor den Fall Jerusalems zu einem Thema für das Plädoyer eines römischen Redners im Gerichtssaal machte, traf er auch eine Aussage über die Interpretation ähnlicher Ereignisse in anderen, zeitgenössischen Städten – allerdings auf weniger direkte Weise, als es moderne Leser vielleicht erwarten würden. Während der gotischen Kriege, als Cassiodor den Kommentar verfasste, waren das Verhalten und die Disziplin von Armeen bei der Belagerung und Eroberung von Städten hochaktuelle Themen: Neapel, Mailand und Rom wurden im Verlauf des Krieges teils mehrfach belagert.227 Prokop berichtete an verschiedenen Stellen in seinen Gotenkriegen von der Missachtung von Kirchen und heiligen Orten, von Plünderungen und Gewalt gegen Frauen und Kinder, die bei der Einnahme von Städten sowohl durch die kaiserlichen als auch durch die gotischen Truppen verübt wurden. Dabei thematisierte er die (mangelnde) Disziplin der Soldaten, aber auch die Verantwortung der kommandierenden Generäle.228 In seiner Darstellung der brutalen Einnahme Neapels durch Belisars Truppen im Jahr 536 strich er nicht nur den hohen Blutzoll

226 EP 73.23: Superbia est enim quam Dominus specialiter exsecratur, per quam et angelus corruit, et primi hominis beatitudo discessit. Et considera quam prudenter acerrimum uitium in fine positum est, ut post omnia diceret quod memoriae finibus conderetur. Dass Cassiodor dem Thema einige Bedeutung zumaß, zeigt auch die divisio, die diesen Aspekt des Psalms in der Inhaltsangabe hervorhebt. EP 73. div.: Tertia sectione […] ad ipsum ascendat superbia Romanorum qui se immaniter extulerunt. Vgl. 73.19; und 73.14 für die superbia der Juden. 227 Zu den Belagerungen Roms im Verlauf der gotischen Kriege Salzman, Falls of Rome 259–264; zum Kriegsverlauf siehe zuletzt Heather, Restoration 164–179 und 251–268; Wiemer, Theoderich 591–617; Halsall, Ostrogothic Military 191–195. Zur Bedeutung von Städtebelagerungen in der spätantiken Kriegführung siehe Whitby, Siege Warfare. 228 Siehe z. B. Prok. BG 4.33.2 (langobardische Truppenteile vergewaltigen Frauen sogar in Kirchenräumen bei der Einnahme Roms); 4.34.3–8 beschreibt die Brutalität der gotischen Truppen beim Abzug aus Rom ebenso wie die der kaiserlichen Soldaten, die in die Stadt eindrangen; vgl. auch 2.22.38–39 zur Einnahme Mailands durch die Goten. Kritik an der Disziplinlosigkeit und Beutegier beider Heere auch 3.9.1–4. Vgl. Pohl, Perceptions 16–18. Zu Prokop siehe aus der rezenten Literatur die Beiträge in Meier/Montinaro (ed.), A Companion to Procopius; Lillington-Martin/Turquois (ed.), Procopius of Caesarea; Greatrex/Janniard (ed.), Le monde de Procope; Börm, Prokop und die Perser; grundlegend Cameron, Procopius.

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hervor, sondern notierte auch, dass insbesondere die barbarischen Truppenkontingente im römischen Heer weder Frauen und Kinder noch Kirchen schonten.229 Belisar musste die Soldaten daher mit eindringlichen Worten zur Disziplin mahnen, wobei er sie darauf hinwies, dass zwischen militärischem Erfolg und verantwortungsvoller Kriegsführung ein Zusammenhang bestand: durch unangebrachte Grausamkeit ihren Feinden gegenüber liefen die Römer Gefahr, den göttlichen Beistand, dem sie letztlich den Sieg verdankten, zu verspielen.230 Die Rede Belisars lässt sich vielleicht als Spur zeitgenössischer Diskussionen über das Verhalten der Armee in den eroberten Gebieten lesen.231 Im Gegenzug hob Prokop an einigen Stellen die Disziplin der Belagerer bei der Einnahme von Städten besonders hervor – die Fähigkeit eines Heerführers, die Zivilbevölkerung vor der Gewaltbereitschaft seiner Soldaten zu schützen, diente auch als Maßstab für die Beurteilung einzelner Generäle.232 Mangelnde Disziplin sowie Übergriffe auf Hab und Gut der Bevölkerung waren allerdings auch im gotischen Italien kein unbekanntes Thema: so sind in den Variae mehrere Schreiben überliefert, in denen die Soldaten und ihre Vorgesetzten eindringlich dazu ermahnt werden, sich im Umgang mit der Zivilbevölkerung den rechtlichen Normen gemäß zu verhalten. Entschädigungsleistungen oder Steuernachlässe sollten Übergriffe auf Hab und Gut der Bevölkerung durch durchziehende Truppen – sowohl feindliche als auch gotische – ausgleichen.233 In einem Schreiben im Namen Athalarichs machte Cassiodor den Zusammenhang zwischen gerechter Lebensführung und göttlicher Gunst, die militärische Siege erst ermöglicht, explizit und warnte die Goten vor Übergriffen auf römischen Besitz.234 Nachdem zu Beginn des Gotenkrieges ein durchziehendes Heer Bruttium und Lukanien verwüstet hatte, regelte Cassiodor in seiner Funktion als Prätorianerpräfekt die Versorgung des Heeres durch Zwangskäufe zu staatlich festgesetzten Preisen, um solche Plünderungen in Zukunft zu verhindern.235 Es verwundert daher nicht, dass Cassiodor und sein biblischer Redner Asaph im Kommentar zu Ps 73 die Gewalt und Brutalität der Eroberer Jerusalems hervorhoben. 229 Prok. BG 1.10.29. Auch die Vita Silverii des Liber pontificalis, deren Datierung allerdings umstritten ist, enthält dramatische Beschreibungen der Belagerungen von Neapel und Rom: Lib. Pontif., Vita Silverii 3 und 5. Zur Belagerung Roms 536/37 siehe Whately, Procopius on the Siege of Rome. 230 Prok. BG 1.10.30–34. 231 So Pohl, Perceptions 17. 232 Prok. BV 1.21.8–16 (Einnahme Karthagos durch Belisar); Prok. BG 2.29.32.39 (Ravenna); BG 3.20.22–25 hebt Totilas Bemühungen hervor, seine Truppen zu disziplinieren. Vgl. dazu Pohl, Perceptions 16–18. Allgemein zur Wahrnehmung der oströmischen Armee Parnell, Justinian’s Men 181–196. 233 Siehe Meyer-Flügel, Das Bild der ostgotischen Gesellschaft 112–117 mit den dort angeführten Belegen. Mahnungen zur Disziplin und Versorgung der Armee: Cassiod. var. 4.13.2; 5.10 (gepidische Kontingente), 5.26.2; 7.4.3, Entschädigungen für Plünderungen: var. 2.8; 4.36.2; feindliche Truppen: 1.16; 2.38; 3.40; 12.7. 234 Cassiod. var. 8.26.3. 235 Cassiod. var. 12.5.3 f.

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Das Thema spielt auch in der Exegese zu Ps 78 eine Rolle, für den Cassiodor die Makkabäerzeit als historischen Hintergrund annahm. Dort legte er den Schwerpunkt auf eine ausführliche Auslegung des historischen Sinnes und nutzte dabei wiederholt die Gelegenheit, auf die Grausamkeit der erobernden Feinde hinzuweisen. Diese hatten nicht nur den Tempel profaniert, sondern auch die Stadt verwüstet und dabei ein verheerendes Gemetzel unter den Bewohnern Jerusalems angerichtet, deren Leichen sie den Tieren überließen; das Blutvergießen war so groß, wie Cassiodor an späterer Stelle anmerkte, dass niemand mehr die Körper der Toten bestatten konnte.236 Auch die bedrängten und besiegten Juden, für die Asaph in Ps 73 betete, boten dem Exegeten die Möglichkeit zur kritischen Reflexion über Reaktionsmuster und Deutungsstrategien. Zwar machte auch Cassiodor, wie oben erwähnt, deutlich, dass die Eroberung Jerusalems eine verdiente Strafe für die Schuld der Juden am Tod Christi sei und folgte damit Augustinus. Dieser hatte Asaphs Klage über die Lage seines Volkes aufgegriffen, um sie polemisch gegen den Sprecher und die von ihm repräsentierten Juden zu wenden.237 Doch während Augustinus den Vorwurf der Blindheit gegenüber dem wahren Glauben und die Weigerung, Christus anzuerkennen, im Lauf der Predigt mehr und mehr von dem historischen Kontext der Eroberung Jerusalems ablöste und in eine allgemeine Diskussion des Überganges der Gnade von den Juden auf die gentes überführte, beließ Cassiodor den Fokus auf der Zeitebene der Eroberung selbst. Seine Kritik an den Juden zielte vor allem auf einen spezifischen Aspekt, nämlich auf deren falsche Reaktion auf die Katastrophe von 70 n. Chr. Anstatt die Zerstörung als göttliche Strafe zu akzeptieren, seien sie ganz vom Glauben abgefallen und hätten das Gesetz Gottes zurückgewiesen.238 Sie betrauerten den Verlust ihres weltlichen Reiches, dessen frühere Macht über die anderen Völker sie zwar richtig als von Gott gegeben interpretierten; doch zogen sie Cassiodor zufolge nicht die richtigen Schlüsse aus dem Verlust der göttlichen Unterstützung und weigerten sich, Buße für ihre Vergehen zu tun und sich zu bekehren.239 Dennoch behielt Cassiodor eine positive Perspektive auf Asaph als Verteidiger Israels bei. Dass Gott dessen Fürbitte nicht unmittelbar erhörte, erklärte er mit der Unwilligkeit der übrigen Juden, Buße zu tun.240 Asaph selbst jedoch ging, wie Cassiodor betonte, mit gutem Beispiel voran und legte ein Schuldbekenntnis ab, so wie es auch die Juden spätestens nach der Tempelzerstörung tun hätten sollen.241 Die Eroberung Jerusalems und die Zerstörung des Tempels waren gebildeten Christen nicht zuletzt durch die eindrückliche Schilderung des Flavius Josephus geläufig. Dessen Bellum Iudaicum wurde in der christlichen Historiographie seit Eusebius ge-

236 EP 78.1–3 und 7. 237 Aug. En.Ps. 73.11–14; 21–22. 238 EP 73.8. Vgl. auch 73.18. 239 EP 73.9 und 18. 240 EP 73.9. 241 EP 73.19.

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nutzt, um eine apologetische Deutung der Eroberung als Gottesstrafe für die Juden zu entwickeln, in der dem römischen Reich als Instrument der göttlichen Strafe eine providentielle Rolle zukam.242 Diese Deutung findet sich im 6. Jahrhundert beispielsweise bei Johannes Malalas, der wie Cassiodor betonte, dass die Zerstörung zur Zeit des Pessachfestes geschah und daher die Tötung Christi spiegelte.243 Auch Cassiodor wies die Leser seines Kommentars ausdrücklich auf den Text des Josephus hin; doch verlieh er der christlichen Deutung durch seine Kritik an den Römern einen besonderen Akzent.244 Der Fall Jerusalems war auch Gegenstand der zeitgenössischen historiographischen Diskussion. Prokop berichtet davon, dass der Tempelschatz, der nach der Zerstörung nach Rom gebracht worden war, wo er 455 den Vandalen in die Hände gefallen war, nun nach Konstantinopel gelangt war: Nach dem Sieg Belisars über die Vandalen wurde er gemeinsam mit dem vandalischen Königsschatz beim Triumphzug in der Hauptstadt präsentiert.245 Prokop nahm dies zum Anlass, um auf seine Weise über die Logik von göttlichen Strafen in der Geschichte zu reflektieren. Er zitierte die Worte eines Juden, der Justinian vor den Gefahren gewarnt habe, in die er sich durch die unrechtmäßige Aneignung des Tempelschatzes von Jerusalem gebracht hatte. Der Besitz des Tempelschatzes hatte den Römern kein Glück gebracht, als die Vandalen im Jahr 455 Rom einnahmen, während letztere wiederum erst kurze Zeit zuvor dieselbe Erfahrung gemacht hätten. Auch diese Erzählung konnte dazu anleiten, die gängige apologetische Deutung vom Fall Roms als Gottesstrafe und der Rolle der Römer dabei kritisch zu hinterfragen.246 Auch wenn der genaue Zeitpunkt, zu dem Cassiodor den Kommentar zu Ps 73 verfasste, nicht zu bestimmen ist, scheint doch die Annahme plausibel, dass die Kriegser242 Dazu Schreckenberg, Die christliche Wirkungsgeschichte 1112–1128 und 1142 f. Diese apologetische Sichtweise findet sich im 6. Jahrhundert etwa bei Johannes Malalas, der den Strafcharakter der Zerstörung akzentuiert, indem er sie auf das Pessachfest datiert und so den Zeitpunkt mit jenem der Kreuzigung parallelisiert: Mal. Chron. 10.45. 243 Mal. Chron. 10.45; EP 73.tit.; vgl. auch Aug. En.Ps. 73.3. 244 EP 73.3. In Vivarium war später die lateinische Übersetzung des ps.-Rufinus vorhanden. Ob Cassiodors Betonung der Grausamkeit der Römer von Josephus’ Darstellung beeinflusst war, lässt sich schwer beurteilen – dass Josephus zwar die clementia des Titus betont, dies aber durch die Darstellung des grausamen Verhaltens und der Respektlosigkeit der römischen Truppen vor dem heiligen Ort konterkariert, arbeitet Hadas-Lebel, Jerusalem against Rome 75–94 heraus. Cassiodors Interesse für Josephus schlug sich auch in den von ihm in Auftrag gegebenen Übersetzungen der Antiquitates und von Contra Apionem nieder. Zur Josephus-Rezeption im 6. Jahrhundert siehe die Übersicht bei Schreckenberg, Flavius-Josephus-Tradition 99–105, zu Cassiodor 104 f.; Pollard, Reading Josephus; Levenson/Martin, Ancient Latin Translations. Cassiodor erwähnt die Antiquitates und das Bellum Iudaicum in Cassiod. inst. 1.17.1. 245 Prok. BV 2.9.4–5; vgl. dazu Börm, Justinians Triumph; Meier, Das andere Zeitalter 150–165; McCormick, Eternal Victory 64–68. Zu Flavius Josephus’ Beschreibung des Triumphzuges des Vespasian siehe ebda. 14–17. 246 Prok. BV 2.9.5. Vgl. Rabello, Giustiniano, Ebrei e Samaritani 1: 192–195 zum Vergleich mit konkurrierenden Deutungen. Mal. Chron. 10.45 überliefert eine gänzlich andere Erzählung vom Verbleib des Tempelschatzes.

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eignisse seiner eigenen Gegenwart die Wahl seiner exegetischen Schwerpunkte prägten. Mit seiner Kritik an den Römern des ersten Jahrhunderts, die sich als grausam und überheblich erwiesen hatten, mag er auch zeitgenössische Akteure im Blick gehabt haben, ebenso wie mit seiner Reflexion über die religiöse Interpretation militärischer Niederlagen. Doch ist es von großer Bedeutung für das Verständnis von Cassiodors exegetischen Strategien, dass er nirgends explizit eine spezifische Gruppe als zeitgenössische „Römer“ oder „Israeliten“ identifizierte oder seinem Publikum nahelegte, die im Kommentar geäußerte Kritik speziell auf die imperiale oder die gotische Seite zu beziehen. Eine ähnliche Strategie lässt sich auch in Cassiodors Kommentar zum thematisch eng verwandten Ps 78 beobachten. Als historisches Szenario für diesen Psalm wählte er die Makkabäerzeit und die Kämpfe der Israeliten unter der Führung des Mathatias und der Hasmonäer gegen die Herrschaft des Seleukiden Antiochus Epiphanes.247 Deus, uenerunt gentes in hereditatem tuam / coinquinauerunt templum sanctum tuum / posuerunt Ierusalem uelut pomorum custodiarum (Ps 78:1 Vulg.: „Gott, Völker sind gekommen in dein Erbe/ sie haben deinen heiligen Tempel besudelt, sie haben Jerusalem zu einer Wachhütte für Obstbäume gemacht“) – so eröffnet Asaph seine Rede vor dem göttlichen Richter. Die folgenden Verse beschreiben das Ausmaß der Zerstörung der Stadt ebenso wie ihren vergangenen Ruhm: Sie haben die Leichname deiner Diener zur Speise für die Vögel des Himmels gemacht, das Fleisch deiner Geweihten für die Raubtiere der Erde./ Sie haben deren Blut wie Wasser vergossen im Umkreis von Jerusalem, und es gab keinen, der begraben konnte./ Wir sind zur Schmach geworden für unsere Nachbarn, zu Spott und Hohn für die, die rings um uns sind.248

Wie die Erzählung vom Fall Jerusalems hatte auch die Geschichte der Makkabäer, die Cassiodor anhand dieses Psalms zusammenfasste, großes Identifikationspotential, nicht zuletzt, weil die Makkabäer als Prototypen der christlichen Märtyrer angeeignet wurden.249 Cassiodor beschrieb eindrücklich die Situation, in der sich Asaph und sein Volk befanden.250 Er erweiterte Asaphs Beschreibung des belagerten und zerstörten 247 Zur Auslegungstradition des Psalms: Schnocks, „Gott, es kamen Völker“. Andere lateinische Exegeten – etwa Arnobius der Jüngere– bezogen den Psalm auf die Philisterkriege oder verstanden ihn als Prophezeiung der Eroberung Jerusalems unter dem babylonischen König Nebukadnezor II: Arnob. Iun. Ps 78. Vgl. zusammenfassend zur Datierung des Psalmentextes Hossfeld/ Zenger, Psalmen II 449–452; zur Diskussion ferner Goulder, Psalms of Asaph 132 f.; Weber, Asaph-Psalter 134–136; Emmendörfer, Der ferne Gott; Gärtner, Geschichtspsalmen 130–132. 248 Ps 78.2–4 (Übers. Vulg.). Cassiodors lateinischer Text: posuerunt mortalia seruorum tuorum escas uolatilibus caeli, carnes sanctorum tuorum bestiis terrae/ effuderunt sanguinem eorum sicut aquam in circuitu Ierusalem, et non erat qui sepeliret./ Facti sumus opprobrium uicinis nostris, derisui et contemptui his qui in circuitu nostro sunt. 249 Siehe dazu die Beiträge in Signori (ed.), Dying for the Faith. 250 EP 78.1–3. Vgl. oben bei Anm. 236.

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Jerusalem sorgfältig und vermittelte dabei seinen Lesern pointiert die Implikationen des Geschehens: Jener Ruhm Jerusalems, der im ganzen Erdkreis bewundernswert war, sei, sagt er, nun zur Schande bei den Nachbarn geworden; so sehr er einst vornehm erstrahlte, so sehr wurde er nun mit Abscheu beschmutzt. […] Sie [die Hebräer] wurden wahrlich zum Gespött, als die Nachbarn jene in Gefangenschaft geführt sahen, denen bekanntlich vorher so viele Königreiche unterlegen waren.251

Eine mächtige Stadt, einst siegreich und ein symbolisches Zentrum von weltlicher und religiöser Macht, war durch die imperialistischen Ambitionen des Seleukidenherrschers bedrängt, der politische mit religiöser Unterdrückung verband – eine vielsagende Kombination von Faktoren, deren Suggestivkraft Cassiodor durch seine Paraphrase noch verstärkte. Indem Mathatias, von Gott zur Hilfe ausgesandt, gegen die Armee des Antiochus Epiphanus auszog, befreite er sein Volk, den populus ciuicus, aus der Fremdherrschaft eines grausamen Herrschers und vom Zwang zu unrechten Kultopfern.252 Im Kontrast zu Cassiodors Auslegung spielte die historische Ebene der Geschichte Israels in Augustinus’ Kommentar zum selben Psalm keine Rolle: er argumentierte zu Beginn der Enarratio gegen die Interpretation des Psalms als Vorausdeutung der Tempelzerstörung 70 n. Chr. Den Makkabäeraufstand nannte er zwar als eine plausible Deutungsvariante, doch konzentrierte er sich in seiner Auslegung ganz auf die typologische Interpretation des Psalms als Vorausdeutung der Verfolgungen der christlichen Märtyrer durch heidnische gentes.253 Cassiodor beschrieb das historische Szenario eindrücklich, wobei er es dennoch vermied, explizite Parallelen zu zeitgenössischen Ereignissen zu ziehen – anders als beispielsweise Ambrosius von Mailand, der die im Psalm erzählte Geschichte Ende des 4. Jahrhunderts im Zuge des berühmten „Mailänder Kirchenstreites“ auf äußerst wirkungsvolle Weise einzusetzen gewusst hatte. In Brief 76 unterrichtete er seine Schwester über den Konflikt mit Kaiserin Justina und den Homöern sowie über die außerordentlich gut zum Höhepunkt der Auseinandersetzungen passende Tageslesung, Ps 78. Dabei identifizierte Ambrosius das alttestamentliche Israel mit seiner eigenen, katholischen Gemeinschaft, die von kaiserlichen Streitkräften bedroht war, zu denen auch homöische Goten gehörten.254 251 EP 78.4: Gloriam illam Ierosolymorum toto orbe mirabilem usque ad opprobrium dicit uenisse uicinorum, ut quanta prius nobilitate resplenduit, tanta postea abominatione sorderet […]. Contemptui uero tunc sunt habiti, quando eos captiuitati traditos uidebant, quibus pridem tot regna cessisse cognouerant. 252 EP 78.5. 253 Aug. En.Ps. 78.2–4. 254 Ambros. epist. 76 (Maur. 20). Vgl. auch den Kommentar zur englischen Übersetzung bei Liebeschuetz/Hill, Ambrose of Milan 124–159. Zum Hintergrund des Kirchenstreites siehe McLynn, Ambrose of Milan 181–196; Moorhead, Ambrose 132–134.

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Für Cassiodor hingegen war Israels Status als geheiligtes Gottesvolk wesentlich problematischer. Zwar zeigt sein Umgang mit dem Text deutlich sein Gespür für das Identifikationspotential der Erzählung, doch waren – ähnlich wie im Fall von Ps 73 und der römischen Eroberung Jerusalems – die biblischen Helden und Antihelden nicht so scharf voneinander zu trennen. Wieder diente seine Analyse von Asaphs rhetorischen Strategien als Mittel, um kritische Distanz sowohl zum bedrängten Gottesvolk als auch zu dessen Feinden aufzubauen. Wie Cassiodor bemerkte, stand Asaph mit der Verteidigung Israels vor einer schwierigen Aufgabe, denn viele Israeliten hatten sich der Apostasie schuldig gemacht und unter Missachtung der göttlichen lex fremden Göttern geopfert.255 Israels Identität als Gottesvolk stand daher in Frage – Cassiodor zufolge ließ sich das Bild der civitas kaum mehr aufrechterhalten, um die Zugehörigkeit der Israeliten zur auserwählten Gemeinschaft zu beschreiben: [Asaph] beklagt die Zerstörung und Entvölkerung der wunderschönen Stadt, wenn sie durch unfromme Herrschaft und durch die Überzeugung der Heiden von der Ansiedlung ihrer Bürger entleert wurde.256

Die Bedrängnis, in der sich die Israeliten befanden, konnte daher auch als göttliche Strafe für ihre Verfehlungen verstanden werden – schließlich waren militärische Niederlagen im Verständnis des Exegeten nur deshalb möglich, weil Gott die Erlaubnis dazu gegeben hatte.257 Es war unter diesen Umständen also undenkbar für Asaph, auf „nicht schuldig“ zu plädieren und so ein günstiges Urteil zu erwirken. Wie Cassiodor beobachtete, setzte Asaph daher mit dem dramatischen Beginn des Psalms – Deus, uenerunt gentes in hereditatem tuam (Ps 78.1; Übers. Vulg.: „Gott, die Völker sind gekommen in dein Erbe“) – auf Israels Status als Gottes Besitz und Erbschaft und formulierte ein juristisches Argument ad laesionem rei, ein Argument ausgehend von der beschädigten Sache, um den Richter auf seine Seite zu ziehen und seinen Zorn gegen Israels Feinde zu erregen.258 Mit Israels Sündhaftigkeit konfrontiert, tat Asaph, was jeder andere Strafverteidiger, der etwas auf sich hielt, in einer solchen Situation getan hätte. Er versuchte, die Aufmerksamkeit des göttlichen Richters von der Schuld der Israeliten abzulenken, indem er die noch schwerwiegenderen Verfehlungen der heidnischen Gegner anklagte: Er sagt: „Gieße deinen Zorn aus“, das heißt, sende deine Entrüstung deutlich gegen die Feinde […]. Und wenn er sagt, „die dich nicht kannten“, dann mildert er die Schuld der Juden ab: denn auch wenn viele sich versündigten, gab es doch einige unter ihnen, die den göttlichen Befehlen gehorchten. Er sagt nämlich, dass jene zurecht verfolgt werden sollten, 255 EP 78.8. 256 EP 78.7: Euersionem et solitudinem deplorat pulcherrimae ciuitatis, quando impia dominatione, persuasione gentilium ciuium suorum habitatione nudata est. 257 EP 78.6; vgl. ähnlich EP 88.44. 258 EP 78.1.

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die den Namen des Herren in jeder Hinsicht missachteten. So wird eine unentschuldbare Verfehlung durch den Vergleich mit einem schlimmeren Verbrechen abgemildert.259

Auch die Nennung des Patriarchen Jakob interpretierte Cassiodor als rhetorischen Schachzug Asaphs, um Gott zu größerer Milde gegenüber seinem sündigen Volk zu bewegen: „anstatt des Volkes (gens), das gesündigt hatte, wurde der Name des sehr geschätzten Patriarchen vorgebracht, damit die Erinnerung an diesen sehr heiligen Mann die Vergehen des Volkes (populus) abmildere.“260 Jakobs Prestige als heiliger Mann und die Erinnerung an seine besondere Verbindung mit Gott sollte das kollektive Schicksal seiner Nachkommen positiv beeinflussen. Doch angesichts der Schuld Israels blieb Asaph im Endeffekt nur übrig, auf die rhetorische Strategie der concessio zurückzugreifen, also auf die einfache Bitte um Gnade und Vergebung, die in den klassischen rhetorischen Handbüchern als letzter Ausweg eines Rechtsanwaltes galt.261 Asaph verlor also nicht das Gottvertrauen – ganz im Gegensatz zu seinen Klienten, den Israeliten, die bisweilen durch ihre missliche Lage dazu gebracht wurden, gegen Gottes Fügung der Geschichte zu murren und seine Gerechtigkeit in Zweifel zu ziehen.262 Asaph hingegen entwickelte im Lauf seiner Rede eine versöhnlichere und gottgefälligere Haltung in Bezug auf die kriegerischen Ereignisse. Mit einiger Mühe formulierte Cassiodor die Bitte des Psalmentextes um Rache an den Feinden in eine Bitte um ihre Bekehrung um. Asaph folgte damit dem Beispiel Christi, der ebenfalls am Kreuz für seine Verfolger gebetet hatte.263 Indem Cassiodor die einzelnen Schritte von Asaphs Argumentation vor dem göttlichen Richter mitvollzog, etablierte er nach und nach das Potenzial des Psalmensprechers, das sündige Israel als Fokus der Identifikation abzulösen. Dabei verschob sich 259 EP 78.6: Effunde iram tuam, dicit, id est, supra aduersarios indignationem tuam abundanter emitte […]. Et cum dicit, quae te non cognouerunt, culpas mitigat Iudaeorum: quoniam etsi multi deliquerant, erant tamen inter eos qui dominicis iussionibus seruiebant. Istos enim dicit merito persequendos qui nomen Domini omnimodis ignorabant. Sic culpa quae excusari non potest, superioris criminis collatione leuigatur. 260 EP 78. 7: Pro gente quae peccauerat, gratissimi patriarchae nomen obiectum est; ut recordatio sanctissimi uiri populi delicta mitigaret. Zur Frage von kollektivem Schicksal und der Logik von Schuld und Vergeltung siehe unten die Diskussion von EP 72. 261 EP 78. 8: Confessione delictorum propitium sibi iudicem reddit, ut qui se per iustitiam uindicare non poterat, per supplicationes necessarias expiaret. Vgl. zu Cassiodors Gebrauch von concessio Astell, Cassiodorus’ Commentary 52–62, die ebda. 54 f. auf den Kontrast zu Cicero hinweist, der vom Gebrauch der concessio bzw. deprecatio vor Gericht abrät: Cic. inv. 2.34.104; siehe auch Copeland, Cassiodorus’ Hermeneutics 171 f. 262 Siehe z. B. EP 78.5; vgl. zu den zweifelnden Israeliten EP 73.18. 263 EP 78.10. Vgl. auch den Kommentar zu EP 73.div., wo Cassiodor den Inhalt der Rede des Asaph als Bitte um Konversion der Römer beschreibt. Mit dieser Deutung griff Cassiodor die ausführliche Diskussion in Aug. En.Ps. 78.14 auf: Augustinus erläuterte, dass sich Gerechte niemals den Untergang ihrer Feinde wünschen, sondern ihn nur prophezeien; sie freuen sich nicht über das Leid der Feinde, sondern über die dadurch bewirkte Besserung oder über die Gerechtigkeit Gottes, die sich in seiner Strafe manifestiert.

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das von Asaph verkörperte Modell mit Fortschreiten des Textes beinahe unmerklich vom gerissenen Strafverteidiger zum christlichen Redner. Das wird beispielsweise deutlich, wenn Cassiodor Asaphs Beschreibung der Schrecken bei der Belagerung mit der Tätigkeit weltlicher Redner verglich und sie als besonders kunstvollen Einsatz der rhetorischen Figur der Steigerung (auxesis) beschrieb. „Wo sind die Redner, die ein Amt der Wahrheit in eine Kunst des Wahr-Scheinenden gewendet haben?“, fragte Cassiodor, und setzte hinzu: „Siehe, mit welchen Argumenten die talentierte Einfachheit agiert, nicht die böswillige Verschlagenheit.“264 Den klassischen Vorwurf gegen die Rhetorik aufgreifend, wonach sie ihre Überzeugungskraft häufig nicht im Dienste der Wahrheit, sondern der bloßen Wahrscheinlichkeit ausübe, behauptete Cassiodor hier, dass die Spannung zwischen Wort und Wahrheit erst dann zum Problem würde, wenn die Rhetorik von ihrem biblischen Ursprung auf weltliche Kontexte übertragen wird.265 Allerdings machte seine eigene Textanalyse deutlich, dass Asaph die Wahrheit wenn nicht zurechtbiegen, dann zumindest ihr ausweichen musste, um die gewünschte Reaktion bei Gott auszulösen. Erst nach und nach vertauschte Asaph dieses zweifelhafte Mittel des gewieften Redners gegen eine untadelige Strategie, nämlich schlicht die Sünden seines Volkes zu bekennen und Gott um Vergebung zu bitten.266 Zugleich formulierte er auch die richtige Sichtweise und Reaktion auf das erlittene Übel: Gottvertrauen und Standhaftigkeit. Gott komme den Menschen nicht aufgrund von deren Verdiensten zur Hilfe; wenn er bisweilen die Gläubigen mit gerechter Strafe zurechtweise, so verteidige er letztlich die Ehre seines Namens und das Seelenheil der Menschen.267 Die Rache Gottes an den Übeltätern aber sollte ihre Bekehrung zum Effekt haben, nicht ihre Zerstörung, weshalb auch der christliche Redner für die Umkehr und Besserung der Feinde beten musste.268 Während diese Umdeutung der Bitte um

264 EP 78.4.: Vbi sunt oratores qui ad artem uerisimilem ueritatis officia transtulerunt? Ecce quibus argumentis agit simplicitas ingeniosa, non malitiosa calliditas. 265 Cassiodor formulierte seine Antwort als Reaktion sowohl auf die philosophische als auch auf die christliche Skepsis gegenüber der Rhetorik. Eine christliche, biblisch begründete Rhetorik hat ihm zufolge per definitionem einen besonderen Wahrheitsanspruch, aus dem sich umgekehrt das Ethos des christlichen Rhetors ableitet. Vgl. dazu Astell, Cassiodorus’s Commentary 59–61; Agosto, Su Cassiodoro 296–298; Weissengruber, Educazione profana 64–69. Zur klassischen Diskussion dieses Problems siehe z. B. Cic. inv. 1.21.(29); vgl. Möller, Ciceros Rhetorik 94–97 mit weiterführender Literatur; Quint. inst. 2.17.39. Vgl. ebda. 2.15.18–38. Bei christlichen Autoren lässt sich im Kontrast dazu ein negativer Wahrscheinlichkeitsbegriff feststellen, eine Umwertung des ueri simile als bloßer Schein der Wahrheit, wie Blumenberg, Kritik und Rezeption anmerkt. Zum patristischen Umgang mit der Problematik vgl. außerdem Fuhrer, Begriff des veri simile; Tornau, Zwischen Rhetorik und Philosophie 20–35. 266 EP 78.8. 267 EP 78.10. 268 Z. B. EP 78.10: Sed hic illud uidetur optari, quod ad conuersionem respicit inimici; EP 78.12: Tale est redde quale quod superius dixit, uindica, quod etsi afflictionem tribuit corporum, salutem tamen efficit animarum […]. Quod ad conuersionem ipsorum non est dubium pertinere, quando sic recipiunt, ut in bonis partibus commutentur.

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Rache in eine Bitte um Bekehrung auch bei Augustinus zu finden ist,269 hatte Cassiodors Stilisierung des Psalmensprechers zum Gerichtsredner kein Vorbild in der augustinischen Exegese des Psalms. Die aufmerksame Analyse des Psalms als Rede und die Stilisierung des biblischen Sprechers zum idealen Redner reflektieren Cassiodors spezifisches Interesse an den Klagepsalmen. Auch an anderer Stelle unterbrach Cassiodor seine Exegese durch einen Aufruf an die weltlichen oratores, sich an der Rhetorik der Psalmen ein Beispiel zu nehmen und ihre Rednertätigkeit vor Gericht dem christlichen Modell entsprechend zu verändern. Im Kommentar zu Ps 31 rief er die weltlichen Redner auf: Kommt, ihr Redner, die ihr menschliche Angelegenheiten mit gewiefter Kunstfertigkeit behandelt; seht den Schuldigen, der sich mit Tränen reinigt, hört den Sünder, der durch das Geständnis losgesprochen ist, erkennt, dass das Urteil des princeps nicht das Heil der Menschen angreift, sondern eher die Sünden verurteilt. Dies sind die Gerichtsverhandlungen, die keiner kauft, dies ist das Urteil, das nichts Uneindeutiges entscheidet. Verteidigt eher auf solche Weise Eure Fälle, die Ihr Eure eigenen Fehler mit Verbrechen zu mischen pflegt, indem ihr die Wahrheit verleugnet. Verändert die Ordnung der weltlichen Gerichtspraxis […].270

Cassiodor erwartete wohl nicht, dass die Angesprochenen seine darauffolgende Aufforderung, sogar die Stilisierung und Disposition von Verteidigungsplädoyers nach dem Muster eines christlichen Bußgebets zu gestalten, tatsächlich umsetzen würden; doch äußerte er hier Kritik an der Glaubwürdigkeit und moralischen Integrität der Rechtspraxis, die zeitgenössische Bezugspunkte hatte.271 Die große Bedeutung von Kompetenz und Untadeligkeit von Advokaten und die Gerechtigkeit und Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung waren Themen, die Cassiodor im Auftrag der Gotenkönige auch in den Variae immer wieder betont hatte.272 Auch die Bestechlichkeit von

269 Aug. En.Ps. 78.13–14. 270 EP 31.7: Venite, oratores, qui negotia humana artificiosa subtilitate tractatis; uidete reum lacrimis se diluentem, audite peccatorem confessionibus absolutum, intellegite sententiam principis non salutem hominis impetere, sed potius peccata damnare. Ista sunt tribunalia, quae nullus redimit, ista sententia quae nihil sub ambiguitate decernit. Tali potius modo causas uestras defendite, qui negando ueritatem cum criminibus consuestis delicta uestra miscere. Conuertite ordinem saecularium iudiciorum, orationem uestram ab epilogis incipite, peruersas flebiliter narrate miserias, correctionem protinus ueraciter intimate, et tunc meremini gaudentes concludere quod flentes feliciter incohastis. Zur Stelle vgl. Astell, Cassiodorus’ Commentary 60 f. 271 Siehe zu Gerichtsbarkeit und Rechtspraxis im Ostgotenreich Lafferty, Law and Order mit den kritischen Bemerkungen bei Ubl, Edikt Theoderichs; zum Edikt jetzt auch Schmidt-Hofner/ Wiemer, Die Politik der Form. 272 In einer Reihe Schreiben an zukünftige Amtsträger hob Cassiodor die vorhergehende Tätigkeit des Betreffenden als Advokat als beispielhaft hervor, vgl. die von Lafferty, Law and Order 275 zusammengestellten Belege.

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Richtern und die Beeinflussung von Gerichtsurteilen war im Ostgotenreich ein akutes Problem. Im Edictum Theoderici spielen diese Themen eine Rolle; andere Bestimmungen zielten darauf ab, Patronage im Zusammenhang mit Gerichtsverhandlungen auszuschließen, und erinnerten daran, dass ausschließlich lex und ius Grundlage der Urteilsfindung sein dürften.273 Im Zuge der Rechtskodifikation und der justinianischen Reformen des Rechtssystems waren die Funktionsweise und die Prinzipien der juristischen Ausbildung und Praxis Gegenstand politischer Diskussion. Dabei wurde auch über die konzeptuellen Grundlagen von Gesetzgebung und Rechtsprechung verhandelt, nicht zuletzt in ihrer christlichen Dimension.274 Schon seit dem 4. Jahrhundert waren christliche Bischöfe in das imperiale Rechtssystem eingebunden.275 Dadurch ergaben sich vielfältige Anwendungsfelder für die forensische Rhetorik in einem kirchlichen Kontext. Die bischöfliche Gerichtsbarkeit verschob aber auch den Akzent der Rechtsprechung hin zu Prozessen der Mediation und Versöhnung. Das Vokabular von Buße und Vergebung war im Kontext dieser christlichen Rechtsprechung ebenso vertraut wie die Forderung, dass Status, Amt, Wohlstand oder Macht keine Rolle bei der Urteilsfindung spielen durften.276 Die Instituta divina regularia des Junillus Africanus, der am östlichen Hof das Amt des Quästors bekleidete, waren nicht nur eine Einführung in die exegetische Technik, sondern auch in breitere Themen wie die biblische Begründung imperialer Herrschaft und die Definition von Orthodoxie und Heterodoxie. Vor allem aber ähnelte Junillus’ Projekt dem Cassiodors darin, dass es mit Nachdruck auf die Konvergenz zwischen menschlichem und göttlichem Recht und den Modi ihrer Interpretation hinwies.277 Als Reflexion über den Status der weltlichen Rhetorik als Teil des Rechtssystems und über dessen moralische Standards war Cassiodors Aufforderung an die weltlichen oratores, sich ein Beispiel an der biblischen Praxis zunehmen, also durchaus zeitgemäß. Ps 78 endet mit einer starken Affirmation der Identität Israels als Gottesvolk: Nos autem populus tuus et oues gregis tui, confitebimur tibi in saeculum, et in saeculum saeculi narrabimus laudem tuam (Übers. Vulg.: „Wir aber, dein Volk, die Schafe deiner Weide, wir werden uns zu dir bekennen in Ewigkeit, Generation für Generation werden wir dein Lob verkünden“).278 Wie Cassiodor beobachtete und seine Leser aus der

273 Edict. Theod. 7 und 43. Vgl. Lafferty, Law and Order 285 f. 274 Für einen Überblick siehe Humfress, Law and Legal Practice; Leppin, Justinian 167–181; ausführlich Humfress, Orthodoxy and the Courts 196–215; Maas, Roman History and Christian Ideology; Honoré, Tribonian 1–39. In den Variae schloss Cassiodor Bjornlie zufolge bewusst an diesen Diskurs über Recht und seine Legitimität an, vgl. Bjornlie, Politics and Tradition 216– 227. 275 Harries, Law and Empire 191–211; Humfress, Orthodoxy and the Courts 153–195; Rapp, Holy Bishops 243–252. 276 Harries, Law and Empire 203 f. 277 Maas, Exegesis and Empire bes. 12 f., 67–75; vgl. Pollheimer, Divine Law. 278 Ps 78.13.

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vorhergehenden Erzählung schließen konnten, nannte Asaph zurecht jenen Teil der Israeliten „Gottes Herde“, der sich trotz aller Bedrängnisse als standhaft im Glauben erwiesen und das Gesetz geachtet hatte. Besonders bemerkenswert ist in unserem Zusammenhang Cassiodors Sensibilität für den rhetorischen Nutzen der Herdenmetapher, auf den er speziell hinwies: Man muss aber beachten, mit welcher Geschmeidigkeit er seine Klage beendete, sodass er jene die „Herde des Herren“ nennt, für die er so hingebungsvoll gefleht hatte, damit er [Gott] jenen nicht länger zürnte, die er als die Seinen erinnerte.279

Wenn so der gerechte Teil Israels unter Mathatias zum Vorbild der neuen Herde Gottes, der christlichen Gemeinschaft, werden sollte, galt das auch für Asaph, den Fürsprecher dieser Herde. In der conclusio zu Ps 78 zog Cassiodor die Parallele zwischen Asaphs Tätigkeit als Redner und der christlichen Gemeinschaft. Als Christen seien sie dazu aufgefordert, erinnerte Cassiodor sein Publikum, wie Asaph Anteil am Schicksal ihrer Gemeinschaft zu nehmen, indem sie „sich am Wohl der Kirche Gottes freuten und [sich] bitter von ihrem Schaden betroffen“ zeigten.280 Mithilfe eines Zitats aus dem Korintherbrief (1 Cor 12.26) forderte Cassiodor sie zu einer Haltung der Nächstenliebe und des Mitleids auf.281 Asaphs Gerichtsrede trug so zur Definition eines christlichen Gemeinschaftsideals bei. In Cassiodors Kommentar diente sie auch dazu, eine Perspektive auf gewalttätige Auseinandersetzungen und potenzielle Gegner zu entwickeln, die deren spirituelle Bedeutung und die Möglichkeit der Bekehrung und Besserung in den Vordergrund rückte. Auf diese Weise entwickelte Cassiodor mithilfe von Asaph ein Modell für eine christliche Gemeinschaft in Zeiten von militärischer Bedrängnis und äußeren Bedrohungen. Auch in Cassiodors oben diskutierter Interpretation von Ps 73 nahm Asaph eine bedeutende Rolle als Orientierungsmodell ein. Obwohl Asaph seine dortige Rede mit einer Zurechtweisung der Römer beendet hatte, hob Cassiodor in der Konklusion zu seinem Kommentar Asaphs Gebet als besonders bemerkenswert hervor, in dem dieser – in Cassiodors Deutung – für die Konversion jener Mitglieder seiner Gemeinschaft betete, die noch nicht an Christus glaubten – oder nicht in der richtigen Form, wie man vielleicht mit Blick auf die zeitgenössische Situation ergänzen könnte.282 Cassiodor wies sein Publikum, die auditores egregii, ausdrücklich auf Asaphs vorbildhafte Sorge um das Schicksal seiner Gemeinschaft hin:

279 EP 78.13: Intuendum est autem lamentationem suam qua suauitate concluserit, ut Domini dicat esse gregem, pro quo deuotissime supplicabat, ne diutius irasceretur eis, quos suos esse meminerat. 280 EP 78.concl.: [Considerandum quoque et alta mente condendum est quod caritatis studio commonemur] Ecclesiae Dei bonis laetari et iterum calamitatibus eius uehementer affligi. 281 EP 78.concl. 282 EP 73.20 und 22.

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Werte Hörer, ihr habt erkannt, wie süß die Pflichten der Frömmigkeit für die sehr treuen Männer sind; wie sie nicht wollen, dass ihre Nächsten Traurigkeit erleiden, sodass sie mit so vielen Tränen wegen zukünftiger Niederlagen bedrückt werden. Wahrlich, dies ist die heilige Vollkommenheit der Nächstenliebe, sich die zukünftigen Gefahren zu vergegenwärtigen, von denen man fürchtet, dass sie den Nächsten zustoßen könnten.283

Asaph wurde also zu einem Vehikel für die richtige Interpretation und Einordnung der in den Psalmen erzählten Geschichte. Gleichzeitig diente er als Sprachrohr für Cassiodors eigene Überlegungen und Anliegen. Darin lag für Cassiodor die Relevanz der Psalmen für die eigene Gegenwart: sie erlaubten es, eine angemessene Sprache und einen sinnvollen Deutungsrahmen für solche Ereignisse zu entwickeln. Asaph als Redner und die Krise der Interpretation Das Identifikationspotential des biblischen Redners wird in Cassiodors Auslegung von Ps 72 besonders deutlich. Wieder spricht der Bibeltext von einer Gemeinschaft (und Asaph als ihrem Stellvertreter) in der Krise, doch handelt es sich diesmal weniger um eine konkrete militärische Bedrohung als um eine Krise der Interpretation.284 Asaph und die Israeliten beobachten, wie die Sünder und Gottlosen in Wohlstand und Annehmlichkeit leben, anstatt die gerechte Strafe für ihre Übeltaten zu erhalten, während sie selbst trotz aller rechtschaffenen Bemühungen in Not und Bedrängnis geraten. Inwiefern nimmt Gott Anteil an den Vorgängen auf der Erde? Bestraft er Sünden und belohnt umgekehrt Rechtschaffenheit? Ist es überhaupt sinnvoll, sich um ein aufrichtiges, gottgefälliges Leben zu bemühen? Können Reichtum und Erfolg, Wohlstand oder Kriegsglück als Maßstab für Gottes Wohlwollen dem Einzelnen und der Gemeinschaft gegenüber dienen und den moralischen Status dieser Gemeinschaft bestimmen helfen? Asaph sieht sich mit Fragen nach der Gerechtigkeit Gottes und nach seiner Intervention in den Verlauf der menschlichen Geschichte konfrontiert. Anders als in den Kommentaren zu Ps 73 und 78 definierte Cassiodor in der Exegese zu Ps 72 weder einen chronologischen Rahmen für die Interpretation noch verband er die im Psalm beschriebenen Phänomene mit einem spezifischen Ereignis der biblischen Geschichte. Stattdessen konzentrierte er sich auf den Prozess der Sinnsuche, den der Psalmentext beschrieb und in dessen Verlauf Asaph um eine tragfähige

283 EP 73.concl.: Cognouistis, auditores egregii, quam suauia sint fidelissimis uiris officia pietatis: quemadmodum nolint proximos suos tristitiam sustinere, ut de futuris eorum cladibus tantis lacrimis affligantur. Haec est reuera caritatis sancta perfectio praesentare futura sibi pericula, quae proximis formidantur esse uentura. 284 Vgl. den Kommentar bei Hossfeld/Zenger, Psalmen II 418–422.

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Perspektive auf die Übel rang, denen er und seine Gemeinschaft ausgesetzt waren.285 Sowohl Asaph als auch der israelitische populus gelangten erst langsam zur richtigen Deutung der Vorgänge um sie herum: Und sie haben gesagt: „Wie weiß es Gott? Und gibt es eine Kenntnis beim Erhabenen?“/ Sieh, diese Gottlosen und im Überfluss Schwelgenden – in der Welt haben sie die Reichtümer vervielfacht/ Und ich sagte: „Also habe ich ohne Grund mein Herz recht gemacht und unter Unschuldigen meine Hände gewaschen/ Und ich war gegeißelt den ganzen Tag, und mein Verräter am Morgen“286

Cassiodor erklärte, dass „sie daran gezweifelt [hatten], dass Gott die vielen Übeltaten jener sehr verbrecherischen Menschen kenne, denen anscheinend alle weltlichen Dinge zugutekamen“ – eine blasphemische und irrige Annahme, wie er sofort hinzufügte.287 Doch nicht nur seine Gemeinde, auch Asaph selbst bekannte, Neid auf die Ungerechten und ihre weltlichen Errungenschaften gehegt und „auf unvernünftige Weise Missfallen an der Verwaltung des Herren“ gefunden zu haben.288 Asaph steckte also in einem moralischen Dilemma, dessen Überwindung sich Cassiodor mit großer Sensibilität näherte. In Asaphs Fall wog eine solche Krise des Vertrauens auf die Gerechtigkeit Gottes und die Zuverlässigkeit seines Wirkens in der Welt besonders schwer. Aufgrund seiner Position als Sprecher und Lehrmeister des israelitischen populus hatte es Auswirkungen auf die ganze Gemeinschaft, wenn Asaph falsche Schlüsse aus den Ereignissen um ihn herum zog, worüber er in Vers 15 selbst reflektierte: si dicebam: narrabo sic, ecce natio filiorum tuorum, cui disposui (Ps 72. 15; Übers. Vulg.: „Wenn ich gesagt hätte: ‚Ich werde so erzählen‘ – siehe, dann hätte ich das Volk deiner Kinder verworfen“).289 Cassiodor kommentierte: Er [Asaph] beratschlagt mit sich selbst, und während er zu einer so gewichtigen Frage geführt wird, schwankt er mit vielfacher Überlegung. Er sagte nämlich: „Wenn ich dem

285 Siehe EP 72.div. 286 Ps 72.11–14: Et dixerunt: quomodo sciuit Deus et si est scientia in Excelso / ecce ipsi peccatores et abundantes in saeculo obtinuerunt diuitias / et dixi: ergo sine causa iustificaui cor meum et laui inter innocentes manus meas / et fui flagellatus tota die et index mea in matutino. (Cassiodors VL-Text in Vers 72.14 weicht von der Vulgata ab, wo er et castigatio mea in matutino lautet, G. H.; die Übers. folgt der Vulgata). 287 EP 72.11: Dubitauerunt enim sciisse Deum tot mala sceleratissimos commisisse, quibus uidebant omnia mundi secunda prouenire […]. 288 EP 72.2: […] ut paene lapsum se diceret, cui administratio Domini irrationabiliter displicebat. Für den Neid auf die Sünder, der auch ein falsch ausgerichtetes Streben nach Reichtum und politischer Macht impliziert, siehe 72.3. 289 Cassiodors VL-Text weicht von der Vulgata ab, wo der zweite Versteil ecce nationem filiorum tuorum reprobavi heißt.

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Volk verkünde, dass Gott sich nicht um Sterbliches kümmert“; dann glaubt er, dass ihm die früheren Lehren entgegentreten, die er den Israeliten vorher eingeschärft hatte, Gott zu verehren, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der in seiner Weisheit alles lenkt, und der den Guten und den Schlechten ihren Taten gemäß Vergeltung zukommen lässt. Wie konnte er nun etwas anderes erzählen, der früher solches zu lehren schien?290

Langsam, aber sicher tastete sich Asaph an die Aufgabe heran, seiner Gemeinschaft die moralischen Richtlinien für die Reaktion auf solche Ereignisse zu liefern. Er verwarf die Meinung, dass Gott keinen Anteil an den Angelegenheiten der Menschen nehme. Die Israeliten sollten sich nicht von der prosperitas der Feinde täuschen lassen; auch wenn es manchmal nicht so schien, war Gott nicht ungerecht.291 Er konnte die Bestrafung der Sünder aufschieben, um ihnen die Möglichkeit zur Bekehrung zu geben, aber im Endeffekt würden Lohn und Vergeltung nach den jeweiligen Verdiensten beurteilt.292 Das Augenmerk musste nicht auf das momentane Glück, sondern auf die endgültige Beurteilung menschlicher Taten beim jüngsten Gericht und die spirituellen Gaben Gottes gerichtet werden.293 Die wesentlichen Elemente für seine inhaltliche Interpretation des Psalms übernahm Cassiodor aus Augustinus’ Enarratio zu Ps 72, der ebenfalls die Frage der göttlichen Gerechtigkeit und ihrer Manifestation in der menschlichen Geschichte als Hauptproblem des Psalms definiert hatte.294 Augustinus entwickelte dieses Thema allerdings in eine spezielle Richtung weiter: er diskutierte ausführlich die christliche Bewertung von materiellem Besitz und die Gefahr der superbia, die sich aus der sozialen Vorrangstellung der Reichen ergab. Diese Diskussion hatte in der Enarratio eine pastorale Dimension, in der Augustinus Leitlinien für den richtigen Umgang mit vermögenden Christen entwickelte.295 Dieses Thema nahm Cassiodor in der EP nicht auf, der sich vielmehr ganz auf die Fragen der göttlichen Vorsehung und ihrer Gerechtigkeit konzentrierte.296 Vor allem verlieh er seiner Exegese wieder durch die rhetorische Analyse des Psalms und den Fokus auf Asaphs Fähigkeiten als Redner einen speziellen Akzent. Wie Cassiodor feststellte, hatten die göttliche Gnade und die Kenntnis der 290 EP 72.15.: […] Secum ipse deliberat et ad tantam rem perductus cogitatione multiplici fluctuat. Dicebat enim: Si annuntiauero plebi Deum mortalia non curare, occurrere sibi putat praedicationes priores, quas Israelitis ante praedixerat, ut Deum colerent, caeli terraeque Creatorem, qui per suam sapientiam uniuersa disponit, bonis malisque pro suorum actuum qualitate restituens. Quomodo poterat aliter narrare, qui talia uisus est ante docuisse? 291 EP 72.15 und 23. 292 EP 72.15 und 18–19. 293 EP 72.20, 25 und 28. 294 Siehe dazu z. B. die konzise Zusammenfassung der Problematik in Aug. En.Ps. 72.5–6. 295 Aug. En. Ps. 72.12–13 und 26. Zum Thema des Reichtums in Augustinus’ Predigten Brown, ­Through the Eye of a Needle 339–358. 296 Vgl. EP 72.6–7 und 20 mit den in der vorigen Anmerkung genannten Passagen aus Aug. En. Ps. 72. Nur in EP 72.11 ist das Thema des Reichtums kurz angesprochen.

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Heiligen Schrift (lex divina) Asaph schließlich zur richtigen Einsicht verholfen – aber auch seine rhetorischen Fähigkeiten trugen dazu bei.297 Indem er das Ergebnis von Asaphs wiedergewonnener Urteilskraft zusammenfasste, verglich er dessen intellektuelle Anstrengung mit den Bemühungen eines politischen Redners: Diese Gattung der Rede wird Beratungsrede genannt, da auch die Redeteile vorgebracht werden, die uns zum Zweifeln bringen, und das Votum gewählt wird, das sowohl mit dem Nützlichen als auch dem Ehrbaren übereinstimmt.298

Cassiodor identifizierte also auch diesen Psalm mit einer der formalen Redegattungen, wie sie die rhetorischen Handbücher definierten. Diesmal handelte es sich aber nicht um eine forensische Rede wie in den oben diskutierten Psalmen zum Untergang Jerusalems, sondern um ein Beispiel für das genus deliberativum. Das Genre der „Beratungsrede“ war in der römischen Rhetorik eng mit der politischen Debatte im Senat oder in der Volksversammlung verbunden.299 Cicero ebenso wie nach ihm Quintilian definierten als Ziel der deliberativen Rede, Entscheidungen in öffentlichen Angelegenheiten herbeizuführen, indem sie Handlungen in ihrem Verhältnis zum erwartbaren politischen Nutzen (utilitas) und zu den gesellschaftlich akzeptierten moralischen Normen (honestum oder decorum) abwog.300 Schon in Ciceros Texten wird deutlich, dass sich der politische Charakter der deliberativen Rede keineswegs in ihrem realpolitischen Ergebnis, der Entscheidung über Kriegsführung, Staatsfinanzen, Handels- oder Sicherheitspolitik einer civitas, erschöpft. Wenn der Redner das honestum, von Cicero als Summe der um ihrer selbst willen erstrebenswerten Dinge definiert, zur Richtschnur politischen Handelns machte, dann verhandelte er damit gleichzeitig über die moralische Ordnung seiner Gesellschaft. Nicht umsonst beinhaltet der Abschnitt, den Cicero in De inventione dem genus deliberativum widmete, eine Abhandlung über die vier politischen Tugenden (prudentia, iustitia, fortitudo, temperantia).301 Ambivalenz und Konflikte ergaben sich dort, wo das honestum und die utilitas, die beiden Prinzipien der Entscheidungsfindung, im Konflikt miteinander standen. Dies war auch der Fall, wenn es sich beim Thema der Debatte um eine causa anceps handelte, also um eine

297 EP 72.17. 298 EP 72.17: Quod genus orationis dicitur deliberatiuum, quando et partes ponuntur, quae nos dubios reddunt et eligitur sententia, quae et utilitati conueniat et decori. 299 Zur klassischen Beratungsrede siehe Fantham, Contexts and Occasions, bes. 112–115; Alexander, Oratory, Rhetoric, and Politics 99–101; Kennedy, Art of Rhetoric 18–21; Fantham, Roman World 209–236. 300 Zur Definition des genus deliberativum: Cic. inv. 1.5.7; vgl. für utilitas und honestum als finis der deliberativen Rede ebda. 2.4.12. Ähnlich Quint. inst. 3.8, der suadere und dissuadere als officia der deliberativen Rede festlegt (3.8.6). Er weitet das Genre explizit auf die Beratung von Personen in privaten Angelegenheiten aus. 301 Cic. inv. 2.52.157–2.58.175. Vgl. auch Cic. orat. 2.333–340. Dazu Long, Cicero’s Politics; Becker, Kardinaltugenden; Müller, Decorum.

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moralisch ambivalente Sachlage, die Cicero zufolge durch die Vermischung zwischen dem Ehrbaren und dem Schändlichen (honestas und turpitudo) charakterisiert war.302 In diesem Sinn beschrieb Cassiodor auch Asaphs Problem treffsicher als causa anceps, „wie sie bei Beratungsreden häufig vorliegt, wenn der Verstand zweifelt, was er tun soll.“303 Wie beim klassischen genus deliberativum bestand auch bei Asaphs Psalmenrede das Ziel darin, die Handlungsfähigkeit der Israeliten wiederherzustellen. Wenn Asaph (und ihm folgend Cassiodor) die Frage diskutierten, nach welchen Kriterien – weltlichen oder spirituellen – die Menschen ihr Handeln und ihre Wünsche ausrichten sollten, so erfüllten sie für ihre jeweiligen Gemeinschaften eine ähnliche Aufgabe der Aushandlung von sozialem Konsens wie die klassischen Redner. Auch wenn wohl die Themen, die Asaph zum Gegenstand seiner Überlegungen machte, nicht vor einer römischen contio diskutiert worden wären, ist die politische Relevanz seiner Rede leicht nachzuvollziehen. So ist die Frage nach dem Urteil Gottes über die Sünder und nach der Manifestation dieses Urteils in der sichtbaren Welt (oder im Jenseits) immer auch eine gesellschaftliche Frage, insofern sie dem Einzelnen die Konsequenzen seiner Handlungen vor Augen führt. Das Problem der göttlichen Vorsehung und ihrer Rolle in der menschlichen Geschichte wiederum, das Bibeltext und Kommentar gleichermaßen bestimmt, findet sich auch bei Quintilian unter den Beispielen für quaestiones universales civiles; die Erörterung dieses Themas wird von ihm daher dem Aufgabenbereich des Redners zugeordnet.304 Ann Astell hat auf die kreative Spannung hingewiesen, die sich aus dem Zusammentreffen von politischer Rede und Psalmengebet in Cassiodors Exegese ergab. Dieses Zusammentreffen bewirkte zunächst eine gewisse Umdeutung und Neudefinition des genus deliberativum. Im Kontext der Psalmen verschob sich der Akzent weg von der politischen Diskussion hin zu einer spirituellen Debatte.305 Im Kommentar zu Ps 76 definierte Cassiodor diese innere Auseinandersetzung, das stillschweigende Sprechen mit der eigenen Seele, als Inbegriff der deliberativen Rede.306 Die Spannung zwischen dem Ehrbaren und dem Nützlichen verschob sich in diesem Kontext hin zur Spannung zwischen spirituellen und weltlichen Kriterien richtigen Handelns. Diese Verschiebung betraf auch die Zielsetzung der Rede selbst, wie Cassiodor am Beginn der Auslegung von Ps 76 deutlich machte. Asaph sprach – im Gegensatz zu vielen weltlichen Rednern – nicht zu Gott, um irdischen Nutzen zu erbitten, um Gesundheit, Ehre, 302 Cic. inv. 1.15.20. 303 EP 72.13: Hoc genus causae ab oratoribus anceps dicitur, quod maxime in deliberationibus prouenit, quando dubius est animus quid sequatur. Obwohl Cassiodor die Definition Ciceros kannte (er zitiert sie in Cassiod. inst. 2.2.8), leitete er die causa hier in einer recht gewagten Etymologie von der Ambivalenz des Zufalls (casus) her und folgte damit ganz und gar nicht den Begriffen der klassischen Rhetorik: Causa enim a casu dicta est, quod saepe bona sit, saepe mala. 304 Quint. inst. 3.5.12. 305 Astell, Cassiodorus’s Commentary 49–52. 306 EP 76.7.

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oder Reichtum zu erlangen, sondern betete aus Liebe.307 Wie sein Kommentar zu Ps 72 deutlich macht, bildeten für Christen außerdem die religiöse Einstellung und der richtige, orthodoxe Glaube eine wesentliche Richtschnur.308 Auch für Ps 72 beschrieb Cassiodor Teile von Asaphs Rede als innere Auseinandersetzung (secum ipse deliberat).309 Allerdings blieb Asaph hier auch der Repräsentant seines populus, und sein innerer Konflikt war nicht zuletzt ein Ringen um die richtige Lehre, die er diesem populus gegenüber vertreten sollte – seine Überlegungen betrafen weit mehr als nur ein persönliches Dilemma. Auch die „biblische“ Form des genus deliberativum bewahrte also eine politische Dimension.310 Um seinen Lesern die Tragweite des im Psalm diskutierten Dilemmas als kollektive Sinnkrise begreiflich zu machen, verglich Cassiodor den Verlust geeigneter Interpretationsmuster mit der Erfahrung von Exil und Entfremdung aus den heimatlichen Orten, den loca patriotica, eine Situation, mit der er auch persönlich konfrontiert war.311 Auch die Spannung zwischen weltlichem Streben und spirituellen Zielen bezog Cassiodor auf eine politische Ebene: „Während es den Anschein hat, Sünder seien reich, beherrschten viele Völker, und als gäbe es nichts auf dieser Welt, was sie fürchten, glaubt man, sie hätten Frieden.“312 Asaphs Neid auf die Sünder war für Cassiodor durchaus nachvollziehbar, doch erinnerte er daran, dass deren glücklicher Zustand im Endeffekt eine Illusion war: „Aber dieser Frieden liegt immer mit dem Gewissen im Streit, und im Inneren herrscht Kampf; und auch wenn er keinen Feind hat, bekämpft er sich selber.“313 Die weltliche felicitas der Sünder deutete Cassiodor als leere Träume, deren Erfüllung auf dem Weg zum spirituellen Jerusalem eher ein Hindernis darstellte – als Beispiele für solche Träume nannte er Reichtum, die wiederhergestellte Ehre nach einem begangenen Verbrechen, eine nützliche Eheverbindung oder eine angestrebte Machtposition bzw. ein Amt (imperium).314 Auch die Kritik an einer verfehlten religiösen Einstellung verband Cassiodor mit politischen Begriffen. Letzterer Vorwurf traf ihm zufolge nicht nur auf jene zu, die heidnische Götter verehrten, sondern auf alle, die aus dem zeitweiligen Aufschub

307 EP 76.2. 308 EP 72.22–23 und 26–27. Dabei konkretisierte Cassiodor den bei Augustinus gezogenen Kontrast zwischen Asaphs Haltung und der Idolatrie der biblischen Sünder, indem er spezifisch die Abweichung von der catholica fides kritisierte, vgl. EP 72.27 mit Aug. En. Ps. 72.33. Nur bei Cassiodor findet sich in EP 72.24 und 25 eine kurze Diskussion der Zwei-Naturen-Lehre, siehe dazu unten bei Anm. 406. 309 EP 72.15. 310 Dies konstatiert auch Astell, Cassiodorus’ Commentary 49. 311 EP 72.10. 312 EP 72.3: Nam cum peccatores uidentur locupletes, multisque dominari populis et in mundo non esse quod timeant, putantur habere pacem […]. 313 EP 72.3: […] sed pax ista cum conscientia semper litigat, rixatur intrinsecus; et cum hostem non habeat, secum ipsa decertat. 314 EP 72.20.

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der Strafe schlossen, dass Gott ihre Sünden nicht rächen würde. Ihre Vermessenheit brachte sie dazu, mit tyrannica voluntas die Sphäre menschlichen Handelns zu überschreiten oder Aussagen zu treffen, die dem Menschen nicht zustanden.315 Die christliche Neubewertung des Nützlichen und des Ehrbaren als Grundlagen für moralische Entscheidungen, die sich in Cassiodors Analyse abzeichnet, war auch mit einer Diskussion über den Status der rhetorischen Sprache selbst verbunden. Die Sünder, deren Auffassungen Asaph referierte, vertraten nicht nur irrige Positionen, sondern standen auch für eine falsch eingesetzte Rhetorik. Ihre Sprechweise kritisierte Cassiodor als „Argumentieren ohne Vernunft, Rede ohne Plan, Wissen ohne Weisheit“ – und damit als Sprechweise, die das deliberative Genus ad absurdum führte.316 Im Idealfall, so legt Cassiodors Exegese nahe, erlaubt eine christliche Rhetorik, das moralische Dilemma der Wahl zwischen verschiedenen Orientierungsmustern zu lösen. Anders als in der klassischen Rhetorik, wo honestum und utilitas oft in Konkurrenz zueinander standen, war das Ergebnis der christlichen Variante der deliberativen Rede eine Entscheidung, die das Nützliche und das Ehrbare miteinander in Einklang zu bringen vermochte. So sorgte Asaph denn auch in Ps 72 dafür, dass „jene Meinung ausgewählt wird, die sowohl dem Nützlichen als auch dem Schicklichen entspricht.“317 Auch die Definition des genus deliberativum, die Cassiodor im Kommentar zu Ps 2 gab, betont die Konvergenz der beiden Prinzipien.318 Eine solche Rhetorik bot einen Maßstab für ethisches Handeln in einer christlichen Gesellschaft an, der auf der Autorität der Schrift gründete und daher besonders konsensfähig erschien. Wie sein klassisches Vorbild erfüllte auch der biblische Redner in Cassiodors Exegese eine eminent politische Funktion: er handelte gesellschaftlichen Konsens aus. Asaphs Rede blieb eine politische Rede, insofern ihr Ziel darin bestand, Handlungsund Interpretationsspielräume auszuloten und deren moralische Grundlagen zu definieren. Seine Rolle als politische Führungsfigur ergab sich aus seiner Deutungshoheit; die Fähigkeit zur politischen Führung war eng mit der rhetorischen Praxis verbunden. Cassiodor las den Psalm nicht nur als Reflexion über den moralischen Zustand einer Gesellschaft und über die religiöse Interpretation historischer Ereignisse. Er verwendete ihn auch als Beispiel dafür, wie eine Führungspersönlichkeit und ein Lehrer wie Asaph seiner Gemeinschaft solche Themen nahebringen sollte. Wie im folgenden Abschnitt noch genauer diskutiert werden soll, führte Cassiodor selbst die Aufgabe des biblischen Redners für das Publikum seines Kommentars weiter, indem er die Lehren Asaphs erläuterte und verstärkte. Wie bei Ps 73 und 78 beendete Cassiodor seinen Kommentar zu Ps 72 mit einer Konklusion, in der er versuchte, sein Publikum davon

315 EP 72.9. 316 EP 72.12: ratiocinatio sine ratione, tractatus sine consilium, cogitatio sine sapore. 317 EP 72.17: […] eligitur sententia, quae et utilitati conueniat et decori; vgl. Astell, Cassiodorus’ Commentary 50. 318 EP 2.11.

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zu überzeugen, sich die von Asaph vorgeschlagene moralische Perspektive und seine theologischen Lehren zu eigen zu machen: Gib, Herr, dass du uns nicht solche Menschen beneiden lässt, die Du in Deiner Wahrheit verurteilst; vielmehr mögen wir jene verfluchen, die Du verachtest, und jene lieben, die Du liebst; denn nur wer Deinen Wünschen mit einem ganz ergebenen Sinn folgt, kann bei Dir seinen Anteil finden.319

Cassiodor nahm also für sein eigenes Publikum die Position des biblischen Redners Asaph ein. Durch die Arbeit des Exegeten wurde der Psalm zu einem Medium für die „Erziehung des Christen“ (institutio Christiani).320 Wie Asaphs Rede zielte auch Cassiodors Exegese darauf, Deutungsmuster und Anleitungen zur Handlung und Reaktion für christliche Gemeinschaften anzubieten. Der Exeget als Redner Als Exeget setzte Cassiodor diese Bemühungen des biblischen Redners fort. Indem er die im Psalmentext aufgeworfenen Fragen aufnahm und Asaphs Überlegungen verstärkte oder aus christlicher Perspektive modifizierte, formulierte er Antworten auf eine Reihe von Problemen, die auch für die politische Diskussion in der Mitte des 6. Jahrhunderts von großer Bedeutung waren. Cassiodor benutzte das „rhetorische ­Israel“ der Asaph-Psalmen als hermeneutisches Werkzeug, um über Fragen nach göttlicher Gerechtigkeit und den Konsequenzen menschlicher Handlungen zu reflektieren. Wie wir bereits gesehen haben, behandelte Cassiodor anhand von Asaphs Reden über die religiöse Interpretation kriegerischer Ereignisse und kritisierte das Verhalten erobernder Armeen. Aus Israels Geschichte versuchte er Aufschluss über die Gründe für Gottes Unterstützung im Krieg oder ihr Ausbleiben zu gewinnen und entsprechende Verhaltensregeln zu definieren. Die wichtigste Lehre, die Cassiodor aus der Geschichte der Makkabäerkriege in Ps 78 zog, war jene, dass die religiöse Uneinigkeit unter den Israeliten (von Cassiodor als certamen nefarium bezeichnet) jenes Grund­ übel darstellte, das alle weiteren Probleme nach sich zog. Umgekehrt waren Standhaftigkeit im Glauben auch unter bedrohlichen Verhältnissen, Orthodoxie und die richtige Kultpraxis für Gottes Wohlwollen unabdingbar. Wohl nicht zufällig hob Cassiodor die Wiederherstellung der Orthodoxie und der religiösen Einheit als wesentliche

319 EP 72.concl.: Praesta, Domine, ne nos talibus inuidere facias, quos tua ueritate condemnas, sed exsecremur quos horres, et amemus certe quos diligis; quia tecum nequeunt habere portionem, nisi qui uoluntates tuas mente deuotissima subsequuntur. 320 EP 72.concl.

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Leistung des Mathatias hervor.321 Cassiodor lobte Mathatias ebenso für seine Weigerung, den heidnischen Göttern zu opfern, wie für die Tötung eines Apostaten von der Verehrung Jahwes. Dass er dabei auch die Anwendung von Zwangsgewalt als legitim erachtete und sogar mit großer Zustimmung kommentierte, ist vor dem Hintergrund der zeitgenössischen doktrinären Konflikte bemerkenswert; im Kontext des Psalmenkommentars als Ganzes bildete dies allerdings eine Ausnahme.322 Nur jener Teil Israels, der unter Mathatias’ Führung standhaft im Glauben geblieben war und Gottes Gesetz trotz drohender Restriktionen bewahrt hatte, konnte wahrhaftig als „Gottesvolk“ gelten, wie Cassiodor erläuterte.323 In seiner Diskussion von Asaphs Rede in Ps 72 zeigte Cassiodor zwar Verständnis dafür, dass selbst Asaph kurzfristig das Vertrauen in die divina administratio verloren hatte, aber er betonte mit Nachdruck, dass Gott dem Schicksal der Menschen gegenüber nicht indifferent sei. Menschliche Handlungen hatten moralische Konsequenzen, wie Cassiodor seinem Publikum versicherte, und die menschliche Geschichte ist nicht vom Zufall regiert, sondern von Gottes Vorsehung, die es zu respektieren gilt.324 Seine Position unterschied sich dabei auch in manchen Punkten von jener, die Augustinus in seiner Enarratio formuliert hatte. Augustinus hatte betont, dass Gottes Gerechtigkeit unergründlich und es problematisch sei, sein Urteil aus den Ereignissen in dieser Welt herauszulesen. Dies verband Augustinus mit einer Kritik an der Astrologie.325 Cassiodor hingegen war bemüht, das Vertrauen in Gottes ordnende Macht zu bekräftigen. Asaphs Beispiel in seinen verschiedenen Reden zeigte, dass die Menschen gut daran taten, sich ganz der göttlichen potestas und ordinatio anzuvertrauen.326 Dies bedeutete zwar mitunter, in Zeiten der Bedrängnis nicht so sehr eine konkrete Verbesserung der diesseitigen Umstände zu erwarten. Doch wie Asaph konnte man Hoffnung aus dem Wissen darum beziehen, „mit welcher Weisheit Gott alles einrichtet, mit welcher Macht er alles erhält.“327 Deutlicher als Augustinus bestand Cassiodor auf der Möglichkeit, dass Gottes Vergeltung gegenüber den Sündern sich zumindest teilweise schon in dieser Welt manifestiere.328 Auch an anderer Stelle untermauerte Cassiodor die Gewissheit, dass der Ablauf menschlicher Geschichte Gottes souveränem Willen 321 EP 78.5 und 9, wo Mathatias’ Führung als göttlich gesandte Hilfe für die Israeliten präsentiert wird, die sie von ihrer Idolatrie befreit. Vgl. im Gegensatz dazu Aug. En.Ps. 78.12; certamen nefarium: EP 79.7. 322 Dies steht in Spannung zu der Haltung der religiösen Toleranz gegenüber den Juden, die Cassiodor im Namen Theoderichs in den Variae formulierte: religionem imperare non possumus, quia nemo cogetur ut credat invitus (Cassiod. var. 2.27.2), wobei hier nicht die Frage der Apostasie angesprochen ist. Siehe dazu unten Kap. 2.5. 323 EP 78.13. Den rechtschaffenen Teil Israels identifizierte er mit dem populus christianus. 324 EP 72.2 (Asaphs Missfallen an der diuina administratio); EP 72.15–16. 325 Aug. En.Ps. 72.22. 326 EP 76.2. Vgl. auch EP 76.4. 327 EP 76.3–4 (Zitat EP 76.4: […] qua sapientia cuncta disponat, quali potentia uniuersa contineat […]). 328 EP 72.4 und 18–19; vgl. damit Aug. En. Ps. 72.10, 24–25.

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unterworfen sei und Gott den Aufstieg und Fall von Völkern und Reichen lenke.329 Die rhetorische Inszenierung der Klagepsalmen, in denen Asaph sich bemühte, die Gottesstrafe für seine gens abzuwenden, setzte ebenfalls die Idee der vergeltenden Gerechtigkeit voraus.330 Sie basierte auf der Annahme, dass Israels Schicksal (so wie das anderer Völker) in Gottes Hand lag und dass ein drohender Untergang des Volkes durch die Überredungskunst des Gebetes abgewendet werden konnte.331 Die Logik von menschlicher Sünde und göttlicher Vergeltung war ein Thema, dem Cassiodor in der Exegese der Asaph-Psalmen besondere Aufmerksamkeit schenkte, insbesondere in ihren Auswirkungen auf das kollektive Schicksal einer politischen Gemeinschaft. Militärische Niederlagen oder andere Formen von äußerer Bedrängnis, wie die Israeliten sie immer wieder erlitten, waren Cassiodor zufolge nicht in jedem Fall ein Zeichen für Gottes Zorn. Manchmal ließen sie sich auch als Anreiz zur Buße und Umkehr für die Bedrängten verstehen und hatten daher heilbringende Wirkung. Die Deutung zeitgenössischer Übel als uotiua correctio war eine der Botschaften, die Asaph (assistiert von Cassiodor) in mehreren Psalmen seinem Publikum eindringlich zu vermitteln versuchte.332 Die Annahme, dass tribulationes von Gott geschickt und gesteuert sind, bekräftigte Cassiodor auch in seiner Analyse eines anderen biblischen Fürsprechers, Moses; allerdings waren sie doppeldeutig und konnten entweder Zeichen göttlicher Rache oder Gnade sein. Im letzteren Fall dienten sie dazu, das Gottesvolk zu Demut und Umkehr zu bewegen.333 Moses war aber auch bewusst, dass Gottes Zorn ebenso wie seine Gnade für den Menschen nicht im vollen Ausmaß erkennbar sei, auch wenn immer wieder punktuelle Manifestationen davon erfahrbar würden.334 Anhand von Ps 72 bestand Cassiodor – bei aller Betonung des Vorrangs der spirituellen Vergeltung vor der materiellen, den Augustinus herausgestellt hatte – darauf, dass Sünder, auch wenn sie mächtig und wohlhabend waren, den Konsequenzen ihrer verborgenen Schuld nie entkommen 329 Quoniam Domini est regnum et ipse dominabitur gentium (Übers. Vulg.:„Denn Gottes ist die Herrschaft, und er [selbst] wird über die Völker herrschen“), heißt es in Ps 21.29, was Cassiodor folgendermaßen kommentierte: „Gott wird die Völker beherrschen, ‚denn die Herrschaft (regnum) obliegt dem Herrn‘. Denn die Reiche gehören nicht den gentes, sondern dem Herrn, der die Herrscher in seiner Macht auswechselt oder erhält.“ (EP 21.29: Deus dominabitur gentium, quoniam Domini est regnum, quia non sunt gentium regna, sed Domini, qui potestate sua et mutat reges et continet). 330 Siehe Trompf, Rufinus; Kempshaw, Rhetoric and the Writing of History 52–107. 331 Siehe beispielsweise EP 73.8, 73.9 und 73.18 und vgl. auch Moses’ Rolle als Interzessor in EP 89 und EP 105.23. 332 EP 72.5: Für rechtschaffene Menschen (nicht aber für die halsstarrigen Sünder) bewirken afflictionum diuersarum flagella Läuterung und Rückkehr zu Gott. Für die Unfrommen bleibt eine solche uotiua correctio in diesem Leben aus, ihre Taten werden aber im Jenseits vergolten werden. Zur heilbringenden Wirkung von schwierigen Situationen siehe auch 72.14; 79.6 ([…] cladibus aerumnisque non exstinguimur, sed potius erudimur). 333 EP 89.15. 334 EP 89.11. Auch Augustinus diskutiert das Thema anhand von Ps 89 ausführlich, siehe Aug. En.Ps. 89.11 und 13.

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konnten, und dass sogar in dieser Welt diese Leute häufig eine Strafe auf sich zögen, mit der sie nicht gerechnet hätten.335 Doch war einer der wesentlichen Punkte, von denen Asaph in Ps 72 seine Zuhörer zu überzeugen versuchte, dass sich diese Strafen eben nicht notwendigerweise in einer spektakulären Form vollzogen, sondern mitunter an jedem Einzelnen nach dem Ende des irdischen Lebens.336 Zudem waren die Zeichen oft ambivalent und undurchsichtig; sie zu entziffern war daher eine schwierige und riskante Aufgabe, wie die Psalmen lehrten. Der biblische Text, der sie transportierte, war mitunter voller Widersprüche und Probleme. Einsicht in Gottes Plan für die Menschen und die Gefahr der Fehlinterpretation lagen daher stets dicht beieinander. Die erfolgreiche Kommunikation mit Gott – sei es über die handgreiflichen facta der Geschichte wie im Alten Bund oder vermittelt über die christliche Interpretation des Bibeltextes – hing auch von der richtigen Einstellung und dem rechtschaffenen Verhalten der Gemeinschaft ab. Dies war eine weitere Lehre, die Cassiodor aus dem bitteren Schicksal der Israeliten im Jahr 70 n. Chr. zog. Nun, nachdem sie ihren Status als auserwähltes Volk durch den Christusmord verspielt hatten, klagten die Israeliten über den Verlust von Zeichen und Propheten (Ps 73.9: signa nostra non uidimus, iam non est propheta [Übers. Vulg.: „Unsere Zeichen haben wir nicht gesehen, es gibt keinen Propheten mehr“]), doch auch dies nur, weil ihnen zu Bewusstsein kam, dass ihnen damit auch die göttliche Hilfe gegen die Feinde entzogen war. Viel zu spät sehnten sie sich nach der Instruktion, die ihnen durch Propheten in früheren Krisensituationen zuteilgeworden war, und verstanden nicht, dass diese Form der Kommunikation rechten Glauben und eine gottesfürchtige Haltung voraussetzte, Eigenschaften, die den Israeliten im Übrigen immer schon gefehlt hätten, wie Cassiodor bissig anmerkte. Sie hätten es meist verabsäumt, auf den Rat ihrer religiösen Experten zu hören.337 Dass die religiöse Interpretation militärischer Auseinandersetzungen und die kollektive Dimension religiöser Phänomene auch das Problem aufwirft, wie kollektives Schicksal und individuelles Seelenheil sich zueinander verhalten, war Cassiodor ebenfalls allzu bewusst. Der Versuch, die Mechanismen von Schuld und Vergeltung und die Manifestationen von Gottes Zorn und Wohlwollen zu beschreiben, stand daher in der EP in ständiger Spannung zum Nachdenken über die moralische Integrität des Einzelnen. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn Cassiodor über die Auseinandersetzung zwischen Israeliten und Philistern nachdachte. Für ihn bestand kein Zweifel, dass der Verlust der Bundeslade, jenes greifbaren Symbols für Gottes Schutz, der Grund für die vernichtende Niederlage der Israeliten in der darauffolgenden Schlacht gewesen war:

335 EP 72.18; vgl. auch EP 80.14–15. 336 EP 72.19 stellt die beiden Möglichkeiten einander gegenüber: mali können vom plötzlichen Tod getroffen werden und ihren gesamten Besitz verlieren, durch den sie zuvor so glücklich erschienen. Vor allem aber sterben die mali in diesem saeculum nicht nur den gewöhnlichen Tod, sondern verwirken auch das ewige Leben. 337 EP 73.9.

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Es war nur folgerichtig, dass das Volk (populus) auf schändliche Weise durch das Schwert zu Fall gebracht wurde, nachdem ihm die Auszeichnung der Bundeslade weggenommen worden war […]; denn niemand kann mehr jenem helfen, dem die göttliche Unterstützung offensichtlich entzogen ist.338

Er ließ auch keinerlei Zweifel darüber, dass der Grund für diese Geschehnisse die Sündhaftigkeit der Israeliten war: „Gott verwarf seine Erbschaft, als er das Volk, das er aus so vielen Völkern (nationes) erwählt hatte, aufgrund von dessen enormen Verbrechen verstieß.“339 Trotzdem war er sorgfältig darauf bedacht, zumindest die Unschuldigen unter den Israeliten vor den Auswirkungen dieser Gottesstrafe in Schutz zu nehmen: „Denn auch wenn er die gens der Gefangenschaft preisgab, so bewahrte er dennoch die Gottgefälligen durch die Lauterkeit des Gewissens.“340 Als Asaph in Ps 73 für die sündige gens eintrat, konnte er zwar darauf hoffen, dass die Erinnerung an die lange gemeinsame Geschichte, die Gott mit seinem Volk verband, ihn dazu bewegen würde, Israel den oft geleisteten Beistand auch diesmal nicht zu verwehren.341 Dies hielt Cassiodor offenbar für eine sinnvolle Argumentationsstrategie, „denn“, so notierte er zum unmittelbar voranstehenden Vers, „wir üben unsere Rache gegenüber denen gemäßigter aus, bei denen wir uns erinnern, dass sie einmal zu uns gehört haben.“342 Allerdings wurde dies nicht nur dadurch relativiert, dass diese Ereignisse ihren Fluchtpunkt in der Inkarnation hatten, sondern auch durch die Bedingtheit der Erwählung Israels, die Cassiodor nur so lange für wirksam hielt, wie Israel Gott mit reinem Herzen diente.343 Die Sogwirkung kollektiver Geschichte hatte jedenfalls ihre Grenzen – Gottes Beistand unterlag keinem Automatismus. Wenn der Fall Jerusalems eine beruhigende Schlussfolgerung zuließ, dann jene, dass auch unter den Juden zur Zeit der Passion einzelne Gläubige zu finden gewesen waren, deren Seelen Gott nicht dem Untergang preisgab.344

338 EP 77.62: Consequens fuit ut populus gladio caderet turpiter in ruinam, cui arcae dignitas probabatur ablata. […] nec quisquam potest subuenire, cui se probantur solatia diuina subtrahere. 339 EP 77.62: Spreuit enim hereditatem suam, quando populum, quem inter multas nationes elegerat, pro scelorum suorum immanitate proiecit. 340 EP 77.59: Nam etsi gentem captiuitati tradidit, tamen sibi placitos conscientiae integritate seruauit. 341 In EP 73.2 kommentierte Cassiodor den Appell Asaphs an Gott (Ps 73.2: Memento congregationis tuae, quam creasti ab initio; Übers. Vulg. „Denke an deine Versammlung, die du von Anfang an im Besitz hattest!“) folgendermaßen: „Es werden die gewährten Gaben aufgezählt, damit der Geist des guten Richters zu den gewohnten Wohltaten aufgefordert wird“ (Praestita enim dona numerantur, ut ad beneficia consueta animus boni Iudicis inuitetur). Daraufhin evozierte er im Zeitraffer einige der wichtigsten Stationen der Exodusgeschichte, und hob dabei jeweils überdeutlich Gottes Beistand und Hilfeleistung für die Israeliten hervor. 342 EP 73.1: […] quia semper in eis temperantius uindicamus, quos aliquando nostros fuisse meminimus. 343 Daran erinnert Cassiodor in EP 73.2: Hereditas Domini fuit populus Iudaeorum, quamdiu ei puro animo seruiebat. 344 EP 73.19.

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Eng mit der Spannung zwischen kollektivem Schicksal und individuellem Seelenheil verknüpft ist auch die Frage nach der Fähigkeit der Menschen, ihre Situation und ihr Verhältnis zu Gott im positiven Sinn zu beeinflussen. Dabei ist die Tatsache bemerkenswert, dass Cassiodor diesen Handlungsspielraum mitunter ebenso kollektiv definierte wie die Auswirkungen der drohenden Gottesstrafen oder Belohnungen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür außerhalb der Gruppe der Asaph-Psalmen ist Cassiodors Verwendung von Ps 142. Diesen Bußpsalm schrieb Cassiodor David zu, der von seinem Sohn Abschalom bedrängt wurde, nutzte ihn aber, um eine Perspektive für kollektives Handeln in Reaktion auf äußere Bedrohungen zu entwickeln. Er machte die Worte des individuellen Beters David zum Modell für die Effizienz von kollektiver Buße und kollektivem Gebet, indem er seine Leser an die Geschichte der Stadt Niniveh erinnerte, wo die Bußrituale und Fasten der gesamten Stadtbevölkerung den vom Propheten vorausgesagten Untergang der Stadt abzuwenden vermocht hatten: Denn während jene [Bußpsalmen] uns alle einzeln mahnen, unsere Sünden zu beklagen, und uns durch das Versprechen des Herren zur Hoffnung auf die Freude geleiten, existiert auch jenes ganz besonders effiziente Modell für ein Bittgesuch, nämlich das der Leute aus Niniveh. Damals seufzte das gesamte Zeitalter, jede Brust spürte das Fasten, und die allgemeine Betroffenheit war so wirksam, dass sie die Wahrheit des prophetischen Spruches zu überwinden vermochte.345

In analoger Weise – wie Cassiodor etwas kühn zu Ps 73 formulierte – hätten die Juden selbst den kompletten Untergang Jerusalems vermeiden können, wenn sie rechtzeitig Einsicht gezeigt und Asaphs Beispiel folgend ihre Schuld eingestanden hätten.346 Der menschliche Handlungsspielraum mochte durch göttliche Intervention in die Geschichte eingeschränkt sein, er war aber keineswegs aufgehoben. Eine weitere Botschaft, die Cassiodor seinem eigenen Publikum durch seine Deutung der Asaph-Reden zu vermitteln suchte, betraf den richtigen christlichen Umgang mit äußeren Feinden. So wurde der diesbezügliche Part seiner Gerichtsrede gegen die Römer in Ps 73 zu einer Bitte um deren Bekehrung umgedeutet.347 Dabei musste Cassiodor bisweilen einige Anstrengung aufwenden, um Asaphs leidenschaftliche Bitte um Rache an den Feinden Israels umzudeuten. In Ps 78 definierte Cassiodor Gottes Rache, die Asaph gegen die Seleukiden heraufbeschwor, als „Kraft, durch die 345 EP 142.concl.: Sed cum isti [die Bußpsalmen, G. H.] singillatim delicta nostra nos deflere commoneant, et ad spem gaudiorum Domini promissione perducant, exstat tamen et illud Niniuitarum efficacissimum supplicationis exemplum, ubi cuncta aetas ingemuit, ubi sensit pecus omne ieiunium; et tantum ualuit afflictio generalis, ut ueritatem potuisset prophetici superare sermonis. 346 EP 73.18: Consideremus igitur ordinem saluberrimum supplicantis. Sic pro culpabilis rogat, ut eorum semper confiteatur errata. Hoc si Iudaei fecissent mente deuota, potuerant generaliter debita uitare supplicia; vgl. auch 73.8. 347 Vgl. oben Anm. 213 zu EP 73.3: Haec uerba non sunt irati, sed remedium magis correctionis optantis.

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Unrecht durch die gerechte Vergeltung abgewehrt wird. Doch hier scheint er jenes zu wünschen, was zur Bekehrung des Feindes beiträgt.“348 Das entspricht der christlichen Grundhaltung, die durch das Gebot zur Feindesliebe definiert ist, das Cassiodor an dieser Stelle leicht abgewandelt zitierte: Orate pro inimicis uestris, benefacite his qui oderunt uos („Betet für Eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen“; vgl. Mt 5.44). Asaphs Rede wurde so auch zum Modell für die christliche Haltung den Gegnern gegenüber.349 Diese Deutung übernahm Cassiodor von Augustinus; wie wichtig dieses Thema ihm war, zeigt sich daran, dass er es im Gegensatz zu anderen Fragen nachdrücklich und wiederholt aufgriff. Im Kommentar zu Ps 137 machte Cassiodor dies als Verhaltensregel für einen populus catholicus explizit. Eine oratio, eine an Gott gerichtete Bitte, durfte nicht zornig sein, sondern musste an seine Barmherzigkeit appellieren und die Bekehrung der Gegner zum Ziel haben.350 Dem entsprechend schloss er den Kommentar zum selben Psalm mit einer bemerkenswert konkreten Aufforderung zur Identifikation. Betrachten wir aufmerksam, mit welcher Lehre uns der sanctus populus versorgt, mit welch frommen Instinkt er gebetet hat. Denn damit er in uns jede Eifersucht des Herzens gegen die Feinde ausschließt, bittet er, dass jene zu Verbündeten werden, die seine Gegner zu sein schienen. Folgen wir also dem frommen Urteil und bemühen uns die zu lieben, die uns bedrängen.351

Daraus leitete Cassiodor sehr pragmatisch die Folgerung ab, dass man Feinde nicht vor allem als Feinde einschätzen solle, da sie auch nützlich sein konnten. Wenn man ihnen mit Geduld begegnete, konnte man sich unter Umständen stärker in Tugend üben als in einer Umgebung, in der man lediglich den Schmeicheleien von Freunden ausgesetzt war. „Liebe daher die Geduld, und du wirst mehr finden in Deinem Feind, was liebenswert ist.“352 Zweifellos hätten Mitglieder der (italienischen) politischen Elite, soweit man sie unter Cassiodors Adressaten vermuten darf, Verwendung für eine solche Botschaft gehabt.353

348 EP 78.10: Vindicatio est enim per quam uis et iniuria iusta retributione defenditur. Sed hic illud uidetur optari, quod ad conuersionem respicit inimici. Vgl. ähnlich 78.12. 349 EP 78.10. 350 EP 137.8. Der Kontext für diesen Vers ist ein kriegerisches Szenario, das in die christliche Auseinandersetzung zwischen Märtyrern und persecutores übersetzt wird, vgl. EP 137.7. Siehe dazu auch EP 21.3, wo Cassiodor (mit Christus als Modell) zwei Arten der Bitte (petitio) unterschied, die des Weisen, der sich auf Spirituelles richtet, und die des Unvernünftigen, der sich auf Weltliches bezieht. 351 EP 137.concl.: Intendamus quali nos praedicatione populus sanctus imbuerit, quanto instinctu pietatis orauerit. Nam ut omnem nobis contra inimicos zelum cordis excluderet, ipsos rogauit sibi fieri socios, quos habere uidebatur aduersos. Sequamur sententiam piam, amemus potius affligentes. 352 EP 137.concl.: Quapropter ama patientiam et plus inuenis in inimico quod diligas. 353 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass Cassiodor den populus in EP 137.4 die Könige (reges terrae) zur Rechtgläubigkeit auffordern ließ. Wie Cassiodor anmerkte, sollten Könige

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Cassiodor und die Grenzen der Interpretation Dass Cassiodor solchen Fragen mit besonderer Sensibilität begegnete, wird zumindest teilweise aus seiner persönlichen Erfahrung heraus verständlich. Immerhin schrieb er als hochrangiger ehemaliger Vertreter eines gotischen Regimes, das zu diesem Zeitpunkt im Zusammenbruch begriffen war. Die Frage, wie die Zusammenarbeit mit den gotischen Eliten, die in den Augen ihrer römischen Gegner als Häretiker galten, sich mit einer intakten persönlichen Moral vereinbaren ließ, verlieh den Überlegungen, die Cassiodor zu den biblischen Grundlagen von Kollektivschuld anstellte, besondere Dringlichkeit.354 Doch seine Reflexion über die christliche Haltung gegenüber Kriegsgegnern und über das Verhältnis zwischen der menschlichen Handlungsfreiheit und der providentiellen Ordnung der Geschichte können auch als ein Beitrag zu einer breiteren gesellschaftlichen Debatte verstanden werden, in der es um Deutungsmuster für Katastrophen und militärische Rückschläge und die Strategien zu ihrer gedanklichen Bewältigung ging. So zeichnet sich beispielsweise in der Kriegsgeschichte Prokops eine kritische Debatte über eine religiös-moralisierende Deutung der rezenten Vergangenheit ab. Prokop setzte sich intensiv mit Fragen der historischen Kausalität und der Kontingenz von Ereignissen, aber auch mit dem Problem göttlichen Eingreifens in den Lauf der Geschichte und den Möglichkeiten, die Muster darin zu erkennen, auseinander. Er registrierte sorgfältig die Deutungsmuster seiner Zeitgenossen und lotete seinerseits unterschiedliche und teilweise widersprüchliche Sichtweisen aus.355 Die verschiedenen Akteure in den Bella, allen voran die großen Feldherren Belisar und Totila, artikulieren immer wieder die Überzeugung, dass Gottes Wille den Ausgang von Schlachten entscheidend mitbestimmt.356 Kriege werden nur von jenen gewonnen, die Gott auf ihrer Seite haben; Gott wiederum befindet sich auf der Seite derjenigen, die rechtschaffen handeln. Wenn Tugend und Gottesfurcht die Voraussetzung für Gottes Unterstützung im Kampf sind, so führt umgekehrt verantwortungsloses Handeln zum Verlust des Kriegsglücks.357 In einer Rede, die Prokop dem gotischen idealerweise frommes und gemäßigtes Verhalten beweisen, doch viele reges gentium seien entweder den Lastern ergeben oder folgten unwürdigen religiösen Praktiken. Dies lässt sich vielleicht als Kritik an zeitgenössischen, als häretisch wahrgenommenen Herrschern verstehen, obwohl Cassiodor dies nicht deutlich formulierte. 354 Siehe dazu unten 7.5. 355 Vgl. Cameron, Procopius 113–119, 247; Whitby, Religious Views; Brodka, Geschichtsphilosophie 14–61; Stickler, Christian Historical Thought 221–223 und 226–228. 356 Z. B. Prok. BG 1.24.4–5 (Belisar an Justinian); 1.23.4–8 (Petrus schützt die Stadtmauer in Rom); 1.19.6: Belisar affirmiert die Gerechtigkeit Gottes, der mit den Seinen ist; 3.15: Gott begünstigt die sichere Überfahrt nach Afrika (Rede Belisars); 8.33 schreibt den Erfolg des Narses Gott zu; vgl. auch Prok. BV 1.18.1–4; 1.19.6; Prok. HA 4. 357 Prok. BG 1.10.30–33 (Belisar mahnt die Massageten, sich des gottgegebenen Sieges nicht unwürdig zu erweisen); 3.8.12–19 (Totila bestraft einen gotischen Krieger, der eine Frau vergewaltigt hat, und

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Heerführer Totila in den Mund legte, führte dieser den angesichts der erheblich reduzierten Stärke ihres Heeres unerwarteten Erfolg der Goten darauf zurück, dass seine Truppen im Gegensatz zu ihren weniger erfolgreichen Vorgängern Recht und Gerechtigkeit respektierten und daher auf Gottes Wohlwollen zählen konnten. Gott unterstützt die Goten also nicht, weil sie Goten sind – er verteilt Sieg oder Niederlage je nach dem Verhalten der Menschen, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk. Weder das Imperium noch eine barbarische gens können unabhängig vom moralischen Status ihrer konkreten Repräsentanten Gottes Gunst beanspruchen.358 Dem Topos der Barbaren als Gottesstrafe näherte sich Prokop mit beißender Ironie, wenn er behauptete, dass ausgerechnet der Vandalenkönig Geiserich die Plünderungszüge seiner Armee mit dem Hinweis auf die Rolle der Vandalen als Geißel Gottes erklärte.359 Prokop registrierte zielsicher die ideologische Funktion providentieller Rhetorik und Deutungsmuster und er bemühte sich auch darum, die Grenzen einer solchen Logik von Schuld und Vergeltung aufzuzeigen. Angesichts der brutalen Eroberung Antiochias durch die Perser versagten diese herkömmlichen Deutungsmuster.360 So betonte Prokop auch immer wieder die Zufälligkeit von Ereignisketten, deren Gründe für die Menschen verborgen blieben.361 In Prokops Text steht der Glaube an die lenkende Hand Gottes in Spannung zum moralisch indifferenten Wirken der Tyche, die Annahme eines providentiellen Planes trifft auf das Bewusstsein für die Kontingenz von Ereignissen. Diese Widersprüche haben in der Forschung für einige Diskussion gesorgt.362 Gerade in ihrer Unaufgelöstheit können sie vielleicht als Hinweis darauf verstanden werden, dass Fragen nach historischer Kausalität, nach der Lenkung der Geschichte durch eine höhere Macht und nach den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Selbstbestimmtheit zur Zeit der Abfassung ein umstrittenes Thema waren.363 Dabei zeichnet sich bei Prokop eine gewisse Skepsis ab, was die Reichweite menschlicher Erkenntnis über solche Zusammenhänge und die Nachvollziehbarkeit

begründet die harsche Strafe mit der Logik von kollektiver Schuld und Vergeltung); siehe auch die Reden von Narses und Totila vor der Schlacht bei den Busta Gallorum in 4.30. 358 Prok. BG 3.21.8. 359 Prok. BV 1.5.24. 360 Prok. BP 2.10.4 f. mit Meier, Das andere Zeitalter 317; Whitby, Religious Views 85. 361 Z. B. Prok. BG 3.13.15–18; 3.25.4–5; 4.32.28–30. 362 Kaldellis, Procopius 165–221, nimmt Prokops kritische Distanz zu herkömmlichen Deutungsmustern und das Ausloten der Widersprüchlichkeit zwischen christlichem Providentialismus und der klassischen tyche zum Anlass für die – überzogene – These, Prokop als Philosophen mit Neigung zur altrömischen Religion zu charakterisieren. Er wendet sich damit nicht zuletzt gegen die Diskussion von Prokops christlichem Deutungsrahmen bei Cameron, Procopius 113–119. Vgl. die treffende Kritik an Kaldellis bei Whitby, Religious Views bes. 73–82; Greatrex, Recent Work. 363 Whitby, Religious Views 83–87; Brodka, Geschichtsphilosophie 21–61.

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eines zugrundeliegenden göttlichen Planes betrifft.364 Im Spannungsfeld zwischen der Vorstellung einer providentiellen Ordnung und der individuellen Verantwortung des Menschen stellte sich die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und nach menschlichen Handlungsspielräumen, eine Frage, die auch Asaph in seinen Reden und Cassiodor in seiner Exegese stark beschäftigte. Mit dieser Frage eng verknüpft war das Problem, inwiefern alttestamentliche Sprache und Modelle auf christliche Gemeinschaften in der eigenen Zeit übertragbar waren. In den politischen und historiographischen Diskussionen, die Justinians Kriege gegen das vandalische Afrika und das Ostgotenreich in Italien begleiteten, spielte der Rückgriff auf biblische Legitimationsmuster eine wichtige Rolle. In den Gesetzestexten vor allem der 530er Jahre stilisierte Justinian den (vorübergehenden) Friedensschluss mit dem Perserreich ebenso wie den Sieg über das vandalische Nordafrika zum Zeichen für Gottes Gnade und die eigene Erwähltheit.365 Diese Darstellung suggerierte, dass die Ereignisse nicht auf menschliche Verdienste zurückzuführen waren, sondern aufgrund göttlichen Willens geschahen, als dessen Instrument der Kaiser, seine Berater und Generäle und nicht zuletzt seine Armeen agierten.366 Das Epos, das Corippus (Gorippus) wohl kurz nach 548 verfasste, um die Siege des römischen Generals Johannes Troglita über die maurischen Verbände Nordafrikas zu verherrlichen, enthält ebenfalls Elemente dieses römisch-christlichen Triumphalismus.367 In einem Gebet, das der Titelheld während eines schweren Sturmes bei der Überfahrt nach Afrika spricht, stellte Corippus den Feldzug als Umsetzung nicht nur eines kaiserlichen, sondern gleichzeitig eines göttlichen Befehles dar.368 Zu Beginn des

364 Brodka, Geschichtsphilosophie 45 f.; Stickler, Christian Historical Thought 226 f. 365 Vgl. Meier, Das andere Zeitalter 101–114, 137–170; Maas, Roman History 24–27; Amory, People and Identity 140–147. Siehe Const. Tanta 23; Nov. Iust. 30.11.2: „in schweren Kriegen, durch die Gott uns die Möglichkeit gegeben hat, mit den Persern Frieden auszuhandeln, Vandalen, Alanen und Mauren zu bezwingen, Africa in seiner Gesamtheit und überdies auch noch Sizilien zu erobern und gute Hoffnungen darauf zu hegen, dass Gott uns auch die Herrschaft über den Rest zuspricht, worüber die alten Römer bis zu den Grenzen beider Ozeane geboten haben […]“ (Übersetzung nach Meier, Das andere Zeitalter 148). 366 Siehe z. B. Const. Deo auct. praef., in der die kaiserliche Herrschaft, die siegreichen Feldzüge und die innere Friedenswahrung als gottgewollt und gottgeben charakterisiert wird; Cod. Iust. 1.27.1.1 und 6–7, bezeichnet den Vandalensieg als Ausdruck göttlichen Willens und Justinian als dessen Instrument; vgl. dazu auch Nov. Iust. 36.praef. und Nov. Iust. 37.praef. Const. Tanta 6 beschwört die himmlische Gunst für das Imperium ebenso wie den göttlichen Beistand bei militärischen Unternehmungen. 367 Zum Namen und zur Datierung Riedlberger, Gorippus 28–33 bzw. 80–90, der die Abfassung der Bücher 1–5 kurz nach 546, die weiteren Bücher nach 548 annimmt; vgl. Hofmann, Fl. Cresconius Corippus 109–111. Zu Coripps Konzeption eines christlich-römischen Reiches, das auf seiner Aneignung und christlichen Umdeutung vergilscher Ideale basierte, siehe Lausberg, Parcere subiectis; Bureau, La prière. Zum Text vgl. außerdem Cameron, Corippus’ Iohannis; Gärtner, Untersuchungen; sowie die Beiträge in Goldlust (ed.), Corippe. 368 Coripp. Ioh. 1.293–300.

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dritten Buches charakterisierte Johannes in einer Rückschau den erfolgreichen Feldzug des Belisar gegen die Vandalen ebenfalls als Ergebnis göttlicher Vorsehung: die römische Armee fungiert hier als Instrument der göttlichen Rache gegen den Usurpator Gelimer und die Vandalen, deren Herrschaft über Afrika im hundertsten Jahr beendet worden sei. Den durch Belisars Triumph wiederhergestellten Frieden kontrastierte der Dichter mit den Wirren des Krieges, denen das Land bei der zweiten Ankunft des Johannes ausgesetzt war.369 Im Hinblick auf die darauffolgenden langwierigen Auseinandersetzungen mit maurischen Verbänden um die nachhaltige Kontrolle der eroberten Gebiete hatte Corippus beträchtliche Mühe, diese triumphalistische Rhetorik aufrechtzuerhalten.370 In einer ausführlichen Rückblende, die er dem nordafrikanischen Tribun Liberatus in den Mund legte, zeichnet dieser ein weitaus differenzierteres Bild. Dabei relativierte Corippus nicht nur die negative Sicht auf das Vandalenreich, sondern stilisierte vor allem die Mauren zum wichtigsten Gegner der römischen Ordnung in Afrika; als Ursache für die langwierigen Kriege mit den maurischen Verbänden machte Corippus dabei allerdings nicht zuletzt das Fehlverhalten der imperialen Besatzer selbst fest.371 Dennoch wird aus Corippus’ Text an vielen Stellen die Überzeugung deutlich, dass der Ausgang von Schlachten in Gottes Hand liege und er das Kriegsgeschehen lenke. Corippus nahm göttliches Wirken für die Erfolge des römischen Heeres – insbesondere unter der Führung seines Helden Johannes – gegen die als unchristlich und barbarisch beschriebenen Mauren in Anspruch, während er sich umgekehrt bemühte, römische Niederlagen als vorübergehende Prüfungen zu interpretieren, die Gott auferlegte.372 Im Endeffekt sorge Gott aber dafür, dass seine Erwählten nicht zugrunde gingen – eine Sichtweise, die mit jener korrespondierte, die Asaph in manchen seiner Reden vorschlug. Den Gegensatz zwischen Römern und den ihnen feindlich gegenüberstehenden maurischen Gruppen stilisierte Corippus dabei auch als religi-

369 Coripp. Ioh. 3.13–22; vgl. ausführlicher innerhalb der Rede des Liberatus: 3.277–339. 370 Zu den Ereignissen grundlegend Modéran, Les Maures 565–644; Conant, Staying Roman 252– 305; Steinacher, Vandalen 314–328. 371 Merrills, Reading Corippus; Cesa, Libia. Die Rückschau des Liberatus hat dabei eine doppelte Funktion, erlaubt sie doch einerseits die Integration von politischer Kritik, andererseits skizziert sie die Krise der 540er Jahre als Ausgangspunkt für die erfolgreiche Intervention des Johannes. Cameron, Corippus’ Iohannis und Modéran, Corippe et l’occupation byzantine, lesen den Text als Versuch, die römische Machtübernahme und die Strategie gegen die Mauren zu verteidigen. 372 Zur providentiellen Rhetorik und „Geschichtstheologie“ des Corippus vgl. Hofmann, Corippus as a Patristic Author; Mattei, Presence du christianisme 181–184; Bureau, La prière, bes. 232–236. Beispiele: Coripp. Ioh. 7.38–44: Menschen gewinnen Kriege nicht aus eigener Kraft; der Ausgang der Kriegsereignisse liegt allein in Gottes Hand; siehe für weitere Beispiele 4.273–284; 6.626–629; 6.480 f.; 7.88–91 und 100–103; zur Prüfung durch Gott als Interpretationsmuster für Rückschläge siehe 7.98 f.

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ösen Gegensatz und griff dafür auf biblisch inspirierte Sprache und Deutungsmuster zurück.373 Bemerkenswert sind hierbei zum Beispiel die Gebete, die der General Johannes Troglita vor entscheidenden Schlachten spricht; diese sind teilweise in sehr elaborierte liturgische Vorbereitungen eingebettet, die Gottes Beistand im Kampf sicherstellen sollten und in denen sich eine regelrechte Liturgisierung des Krieges abzeichnet.374 Fast so wie der Gott Israels in den Psalmen – und in sehr ähnlicher Sprache – wird der christliche Gott hier angerufen und gebeten, die gegnerischen gentes zu vernichten, während die imperialen Truppen als Gottesvolk stilisiert werden.375 Ähnlich wie Asaph Gottes Mitleid zu erregen suchte, indem er die brutale Zerstörung von Tempel und Stadt ausführlich beklagte, beschrieb der General Johannes in Corippus’ Erzählung die verlassenen Äcker und die in Brand gesetzten Städte Nordafrikas und klagt darüber, dass der cultus divinus nicht mehr aufrechterhalten werden könne.376 Während einer Feldmesse, die pro Latinis dargebracht wurde und die auch ein elaboriertes Ritual der kollektiven Buße enthielt, bat Johannes, dass Gott die maurischen Völker unterwerfen möge.377 Solche Szenen, in denen das sichtbare Zeichen von Gottes Beistand und Hilfe unzweifelhaft in der physischen Auslöschung der Feinde liegt, erinnern nicht nur in ihrer Wortwahl an die Sprache der Kriegshymnen im Psalter – sie verlängern auch sehr direkt die darin enthaltene alttestamentliche Logik des Bundes in die christliche Gegenwart hinein.378 Noch direkter formulierte Corippus diesen Anspruch auf eine dem auserwählten Volk Israel analoge Position, als er den Sieg des kaiserlichen Heeres über die Verbände des Maurenführers Antalas beschrieb. Corippus zufolge hätten die Römer an jenem Tag die maurischen gentes ein für alle Mal dem Erdboden gleichgemacht, wenn die Sonne ihren Lauf unterbrochen hätte und die Schlacht somit noch länger hätte andauern können – eine direkte Referenz auf das Buch Josua und die Schlacht bei Gibeon, in der Gott im Kampf gegen die Amoriter die Elemente mo373 Siehe dazu auch unten Kap. 5.3. Zur anti-berberischen Rhetorik und ihren komplexen Hintergründen bei Corippus siehe Riedlberger, Gorippus 45–54; Conant, Staying Roman 261–273; Merrills, Triumphal Ethnography; vgl. auch Opelt, Barbarendiskriminierung; Mantke, Bild der Barbaren. Zur Unterscheidung zwischen „inneren“ (romanisierten) und „äußeren“ Berbern, die einen simplen Kontrast zwischen Römern und Barbaren verkompliziert, siehe Modéran, Les Maures bes. 112–119. 374 Hoffmann, Corippus 367 f.; Bureau, La prière; Pohl, Liturgie di guerra. Der Kommentar zum 8. Buch von Riedlberger, Gorippus, arbeitet zahlreiche sprachliche Parallelen zu liturgischen Texten heraus, siehe insbesondere ebda. 311–337 zu Coripp. Ioh. 318–169. 375 Coripp. Ioh. 4.273–275 und 281–284: tu gentes et bella domas, tu conteris arma / impia, tu nostris solitus succurrere rebus […] sub nostris pedibus Maurorum sterne cateruas/ eripe captiuos saeuis a gentibus Afros/ Romanosque tuos solite miseratus alumnos / cerne pius, nostrosque fauens fac gaudia luctus. 376 Coripp. Ioh. 4.277 f. 377 Coripp. Ioh. 8.348–353: gentesque superbas/ frange, precor, virtute tua: dominumque potentem te solum agnoscant populi, dum conteris hostes / et saluas per bellas tuos; vgl. dazu Riedlberger, Gorippus 331 f.; Coripp. Ioh. 7.88–103. 378 Zu Anklängen an die Sprache der Psalmen siehe die Beispiele in Kap. 5.3 Anm. 173 f.

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bilisiert hatte, um den Israeliten beizustehen. Erst traf Hagel das fliehende Heer, dann stand auf Josuas Bitte hin die Sonne still, bis sich Israel an seinen Feinden gerächt hatte (Ios 10.12–14).379 Peter Riedlberger zufolge wurden Teile des Gedichtes wohl im Rahmen von Siegesfeiern für Johannes Troglita in Karthago öffentlich rezitiert.380 Wenn der Text auch keineswegs einfach als Reflexion imperialer Propaganda verstanden werden sollte, so ist er dennoch aufschlussreich für die Formen der Repräsentation der rezenten Vergangenheit, die in den Kreisen der militärischen Führung um Johannes Anklang finden konnten. Doch diente die providentielle Rhetorik neben der panegyrischen Überhöhung des Johannes wohl auch der Selbstvergewisserung der oströmischen Elite in Nordafrika – dies war möglicherweise auch mit Blick auf ein breiteres Publikum relevant, das der römischen Rückeroberung angesichts der zurückliegenden Schwierigkeiten zunehmend skeptisch gegenüber stand.381 Wie Andrew Merrills betont hat, ordnet sich die Iohannis in politische Diskussionen um die Deutung der rezenten Geschichte Nordafrikas und die Bewertung der imperialen Rückeroberung ein. Dass solche Argumente auch in Konstantinopel bekannt waren, wo sich um 550, als Cassiodor am Psalmenkommentar arbeitete, auch zahlreiche Nordafrikaner befanden, ist durchaus möglich, auch wenn über die weitere Verbreitung des Epos keine sicheren Nachrichten vorliegen.382 Wie sehr sich gerade bei der Frage nach der eigenen Position innerhalb der (Heils-) geschichte Bibeltext und Politik verbinden, zeigt ein weiterer Text aus dem Umfeld politischer Debatten in Konstantinopel, mit dem Cassiodor auch vertraut war, die Instituta regulariae divinae legis des kaiserlichen Quästors Junillus.383 Das Problem der gubernatio divina war eine der zentralen Fragen, die Junillus an den Bibeltext herantrug.384 Junillus gehörte nicht zu den metaphysischen Skeptikern wie Prokop, aber auch er reagierte offensichtlich auf ein gewisses Bedürfnis zur Selbstvergewisserung: Die Welt werde nicht vom Zufall regiert, sondern sei Gottes planvoller Herrschaft unterworfen, der Anteil am Geschick der Menschen nehme, wie er bekräftigt. Um menschli-

379 Coripp. Ioh. 5.522–524. 380 Riedlberger, Gorippus 83–90; Merrills, Triumphal Ethnography, sieht hingegen das Gedicht, und besonders den Katalog der maurischen gentes, unter dem Eindruck des Triumphes entstanden. 381 Cameron, Corippus’ Johannis 171 f.; die afrikanische Perspektive und das afrikanische Publikum betont (wenn auch mit anderem Akzent als Cameron) auch Merrils, Reading Corippus; anders Riedlberger, Gorippus 90–96, der die Annahme einer politisch-propagandistischen Funktion des Panegyricus kritisiert und vor allem die Selbstdarstellung eines inneren Zirkels römischer Militärs im Rahmen der Siegesfeier in den Vordergrund rückt. 382 Die These, wonach Corippus den Johannes nach dem Abschluss der nordafrikanischen Mission 552 nach Konstantinopel begleitet habe, kritisiert Hofmann, Fl. Cresconius Corippus 94 f. 383 Zu Datierung und Umfeld des Textes: Maas, Exegesis and Empire bes. 1–16; 53–57; 65–71. Cassiodors Kenntnis von Junillus’ Handbuch: Cassiod. inst. 1.10.1. 384 Maas, Exegesis and Empire 7 und 69–71. Siehe Iunill. Inst. reg. 2.3–13.

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chen Zweifeln daran entgegenzuwirken – ne mundus non putetur providentia divina regi, sed casibus – enthält der Bibeltext Junillus zufolge zahlreiche Exempla von sichtbaren Strafen für böse Taten in dieser Welt. Das gelte, obwohl die eigentliche Vergeltung erst für das Jüngste Gericht zu erwarten sei. Der Schutz für Abraham in der Fremde, die Bestrafung Kains oder die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern zeigten nach Junillus, dass es Gottes Wille entspreche, wenn Gutes mit Gutem vergolten werde und Böses mit Bösem, aber auch, wenn solche Konsequenzen mitunter ausblieben.385 Die Bibel war der Schlüssel zur richtigen Interpretation dieser lex per opera, einem der von Junillus konstatierten Modi göttlicher Herrschaftsausübung.386 Junillus verfügte – ähnlich wie Cassiodor – über ein feines Gespür für die Berührungspunkte zwischen der menschlichen und der göttlichen Rechtssprache.387 Gott bediene sich sichtbarer Strafen auf kollektiver oder individueller Ebene oder sende seinen Schutz als Lohn für Verdienste (in Form einer retributio generalis sowie der poena visibile generalis oder specialis), um den Menschen die Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu lehren.388 Die Menschen würden Gott als Schöpfer und Verwalter der Welt entweder durch die Anschauung der sichtbaren Dinge erkennen oder vermittels der Heiligen Schrift.389 Dementsprechend grundlegend war das richtige Verständnis der Schrift, dessen Voraussetzungen und Grundbegriffe Junillus in seinem Handbuch erläuterte. Die Bibel war nicht zuletzt ein wesentliches Instrument zum Verständnis der Weltordnung, und in diesem Sinn ließen sich auch die exegetischen Techniken im Hinblick auf den richtigen Gebrauch dieses hermeneutischen Instrumentariums analysieren.390 Die eben skizzierten Diskussionen bilden einen wichtigen Kontext für Cassiodors exegetische Überlegungen. In der EP reagierte Cassiodor auf die Frage nach der politischen Relevanz des Bibeltextes, und vor allem nach der Gültigkeit des Alten Testaments als Maßstab für zeitgenössische Phänomene. Dass er eine sehr differenzierte Sicht auf die Aneignung alttestamentlicher Deutungsmuster für die eigene Gegenwart entwickelte, ist anhand der Asaph-Psalmen bereits deutlich geworden. Als Exeget bemühte Cassiodor sich zwar darum, konkrete moralische Anleitung aus den Psalmen zu gewinnen. Nirgends aber identifizierte er eine zeitgenössische Gruppe direkt mit 385 Iunill. Inst. reg. 2.13. 386 Iunill. Inst. reg. 2.7. 387 Maas, Exegesis and Empire 12 f.; 67–69. 388 Iunill. Inst. reg. 2.7. Die Beispiele sind dabei wiederum dem Alten Testament entnommen: Abrahams Wohlstand in der Fremde; Noahs Sicherheit während der Sintflut; die Bestrafung von Kain und Saul. 389 Iunill. Inst. reg. 2.27. 390 Siehe vor allem den ersten Teil des zweiten Buches (Iunill. Inst. reg. 2.1–15), der die Aussagekraft der Heiligen Schrift im Hinblick auf das praesens saeculum und die gubernatio mundi auslotet. Obwohl Junillus das irdische Dasein, das praesens saeculum, sozusagen als Propädeutikum für das Jenseits beschrieb, war es ihm doch wichtig, den Spielraum aufrechtzuerhalten, um Gottes Wirken im Hier und Jetzt zu erkennen: qui pios et in hoc saeculo iuvit ut vincerent et victoribus praemia aeterna concessit (Iunill. Inst. reg. 2.26).

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einem biblischen Akteur, sei es das alttestamentliche Israel oder seine Feinde – sein oben diskutierter Umgang mit Asaphs Klagerede über den Fall Jerusalems in Ps 73 ist dafür ein Beispiel. Vielmehr griff Cassiodor wiederholt und sehr leidenschaftlich die Differenzierung zwischen der alttestamentlichen Geschichte und der eigenen, christlichen Zeit auf, die Augustinus formuliert hatte.391 Der Alte Bund unterschied sich vom Neuen Bund durch die Art, in der sich Gottes Erwählung und sein Handeln an den Menschen manifestierte, wie Cassiodor erläuterte. In jenem [Bund] waren die Versprechungen diesseitig, so wie die Verheißung des Landes oder die Unterwerfung der Feinde. Solche Dinge musste Gott einem unreifen Volk (populus) zugestehen, damit es ohne Zögern zu den spirituellen Dingen aufbrechen könnte. Im Neuen Bund aber wird das unzerstörbare Leben versprochen, das Königreich, das kein Ende kennt, die ewige Seligkeit, und die glorreiche Gottesschau.392

Die Hoffnung der Juden auf göttlichen Beistand gegen die Römer im Jahr 70 n. Chr. war auch deshalb verfehlt, weil nach der Inkarnation solche handgreiflichen Zeichen des göttlichen Beistandes nicht mehr zu erwarten waren.393 Diese Botschaft richtete sich keineswegs nur an die Juden, die ihre besonderen Privilegien als Bundesvolk verloren hatten. Im Kommentar zu Ps 43 wandte sich Cassiodor ebenfalls in aller Deutlichkeit gegen derartige Erwartungen auf christlicher Seite. Wir wissen, dass unsere Väter durch Wunder sichtbar von den Feinden befreit wurden; nun aber, wie wir gelernt haben, gelangen die Gläubigen durch körperliches Leid und durch seelische Traurigkeit zur ewigen Ruhe. So kann jede der beiden Erfahrungen, jeweils zu ihrer Zeit, als nützlich für die Menschheit erkannt werden.394

Diese Diskussion nahm ihren Ausgangspunkt von einem Psalm, der Erinnerungen an die erfolgreichen Schlachten, die Israel mit Gott an der Seite seines Heeres in der Vergangenheit ausgefochten hat, beschwört und ausgehend davon zwischen Hoffnungs-

391 Aug. En.Ps. 73.2–3 und 23. 392 EP 73.20: In illo enim [bezugnehmend auf testamentum quod disposui patribus eorum, ein Zitat aus Ier 23.5] pollicitationes temporales sunt, ut fuit terra repromissionis et inimicorum subiectio. Talia enim rudi populo debuit concedere, ut ad spiritalia intrepidus potuisset subinde festinare. In nouo autem testamento promittitur imperturbabilis uita, regnum cuius non erit finis, beatitudo perpetua, et Domini contemplatio gloriosa. Durch die Kontinuität bzw. den linearen Fortschritt vom alten (rudis) zum neuen Bundesvolk wird eine Art Lehrfunktion für die Heilsgeschichte des Alten Testaments postuliert, die ein christliches Bundesvolk, in einem reiferen Stadium, nicht mehr nötig hat. 393 EP 73.9. 394 EP 43.concl.: Patres enim nostros ab inimicis suis per miracula uisualiter liberatos esse cognouimus; nunc autem fideles per passiones corporum et tristitias animarum ad aeternam requiem peruenire didicimus, ut tempore suo utrumque factum humano generi cognosceretur esse proficuum. Auch hier griff Cassiodor Augustinus’ Formulierung des Problems auf, vgl. En.Ps. 43.5–6 und 10.

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losigkeit angesichts des momentanen Ausbleibens dieser Hilfe und dem Vertrauen auf die Wiederholung der Geschichte schwankt. Wie bei Ps 73 hatte Cassiodor offenbar das Bedürfnis, gegen das Identifikationspotential dieses Textes anzuschreiben, gerade aufgrund der möglichen Parallelen mit Goten und Römern in Italien. Einige seiner Kommentare scheinen diesen Vergleich bewusst zu evozieren, indem sie Reizwörter des zeitgenössischen politischen Diskurses benutzen: Gottes Hand vertreibt die ursprünglichen Bewohner aus dem Gelobten Land, um die Israeliten dort anzusiedeln;395 später verlieren die Israeliten libertas und ihren Besitz (patrimonia) an feindliche gentes;396 ein christlicher populus wird von Fremden (alienigeni) bedrängt, die dem falschen Glauben anhängen.397 Während Cassiodor sich auffallend dicht an der martialischen Sprache des Psalms orientierte, übertrug er diese Sprache gleichzeitig auf eine spirituelle Ebene. Er interpretierte die beschriebenen Kämpfe als Kampf der Märtyrer für den Glauben und verband die alttestamentlichen Israeliten so mit christlichen Heiligen anstatt mit christlichen Reichen. So wurde das Martyrium zum Ausgangspunkt für eine christliche Erfahrung der Bundeslogik, die mit der alttestamentlichen zwar die Sprache, nicht aber die Qualität teilt: Nun aber zieht Gott nicht aus mit dem Heer der Märtyrer, wenn er sie der Bedrängnis unterwirft, und sie verschiedenen Leiden ausliefert. Damals hingegen zog er aus mit den Heeren der Hebräer, als sie ganz mühelos jene niederwarfen, die es wagten, sich gegen das erwählte Volk zu erheben. Es besteht kein Zweifel, dass dies zum Trost des heiligen Volkes (populus) gehörte; aber niemand soll es schwernehmen, wenn die Vorfahren glücklicher waren, während er selbst mit Erlaubnis des Herren in Bedrängnis gerät.398

Der Grund, warum Cassiodor hier und an mehreren Stellen der EP so vehement gegen die direkte Aneignung der alttestamentlichen Bundeslogik argumentierte, mag in den negativen Implikationen zu finden sein, die ein solcher Gebrauch des Alten Testaments für den Umgang mit Feinden und politischen Gegnern hatte. In te inimicos nostros uentilabimus; et in nomine tuo spernemus insurgentes in nos, sagen die Israeliten – bzw. in Cassiodors Umdeutung die christlichen Märtyrer – in Vers 6 (Ps 43.6; Übers. Vulg.: „Durch dich werden wir unsere Feinde mit dem Horn fortblasen, und in deinem Namen werden wir die verachten, die sich gegen uns erheben“). Die395 EP 43.4. 396 EP 43.12: Diuersos significant fideles[…] qui gentibus traditi, libertatem suam cum patrimoniis perdiderunt. 397 EP 43.13. 398 EP 43.10: Nunc autem Deus non egreditur in uirtutibus martyrum, quando eos tribulationibus subdit et diuersis passionibus tradit. Tunc enim egrediebatur in uirtutibus Hebraeorum, quando sine labore prostrati sunt, qui se contra electum populum erigere tentauerunt. Quod ad consolationem sancti populi pertinere non dubium est; ne quis patres suos felicissimos grauiter ferret, cum ipse Domini permissionibus affligatur.

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se Drohung auf das Jüngste Gericht zu beziehen und ihr damit die Schärfe für die Gegenwart zu nehmen, wie Cassiodor es tat, reichte aber offenbar nicht aus.399 Um sicher zu gehen, dass seine Leser den Unterschied zwischen der christlichen und der alttestamentlichen Bitte um Rache in seiner ganzen Tragweite verstanden, musste er noch deutlicher werden: Dies aber, dass die Hand des Herren die Völker zerstreut, dass er die Hebräer an ihrer Stelle ansiedelte (wörtlich: einpflanzte), dass er ihnen die Gabe verlieh, ihre Feinde mühelos zu besiegen, das gehört in jenes Zeitalter. Dieses aber, dass die Gegner zerstreut werden, dass der alte Feind verachtenswert wird, bezieht sich auf das zukünftige Gericht, wo ein solcher Sieg eingefahren werden wird, der alle Streitigkeiten ein für alle Mal beenden wird.400

In dieselbe Kerbe schlug Cassiodor, wenn er im Kommentar zu Ps 80 aus der wechselhaften Geschichte von Israels Auseinandersetzungen mit fremden Mächten, für die er das Eingreifen Gottes oder eben das Ausbleiben seiner Hilfe verantwortlich machte, letztlich für seine christlichen Leser den Schluss zog, dass der wahre Sieg ohnedies nicht gegen äußere Feinde errungen werden müsse, sondern gegen die eigenen Laster.401 Solche Überlegungen waren zu einem Zeitpunkt, als die Frage zur Diskussion stand, wie die kaiserliche Politik mit unterworfenen Feinden wie Vandalen oder Goten verfahren sollte, eine wichtige und durchaus politische Botschaft. Cassiodors Ansatz gewinnt sein Profil nicht nur vor dem Hintergrund der Kriegspropaganda Justinians, sondern auch im Vergleich mit den Strategien anderer zeitgenössischer Autoren, die teilweise ohne Zögern auf eine an den Bibeltext angelehnte Sprache und Dramaturgie zurückgriffen, wie wir das am Beispiel des Corippus gesehen haben.402 Wenn Cassiodor also die Differenz zwischen Altem und Neuem Bund nachdrücklich betonte, so geschah das wohl auch im Bewusstsein der Gefahren einer zu nahtlosen Identifikation mit den biblischen Deutungsmustern. Die Suggestivkraft der martialischen Bilder und Vorstellungen von kollektiver Erwählung war groß; ihre unkritische Verwendung barg praktische und politische Gefahren.403 Cassiodor ging es in der EP nicht zuletzt darum, solche Formen der Aneignung des Bibeltextes zu delegitimieren.

399 EP 43.6. 400 EP 43.6: Illud enim quod manus Domini gentes dispersit, quod Hebraeos in sedibus eorum plantauit, quod eis donauit inimicos sine aliquo labore superare, ad istud pertinet tempus. Hoc autem quod uentilandi sunt inimici, quod hostis contemnendus antiquus, pertinet ad iudicium futurum, ubi talis est uictoria facienda, ut omnia probentur subruisse certamina. 401 EP 80.concl.: Sic enim uictoria nostra peragitur, si post talia sacra non aduersum extraneos, sed contra nostra uitia litigemus. 402 Vgl. oben Anm. 374. 403 Philippe Buc hat darauf hingewiesen, wie stark die Sprache der Gewalt und des Krieges vermittelt über das Alte Testament immer auch ein Teil der christlichen Sprache und des christlichen Denkens über die eigene Gemeinschaft und über die Anderen bleibt: Buc, Some Thoughts.

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Er nahm zwar durchaus an, dass das Alte Testament als hermeneutisches Werkzeug für die Deutung gegenwärtiger Situationen funktionieren konnte, doch musste dieses Instrument der Sinnstiftung mit großer Vorsicht und Bedachtsamkeit verwendet werden. Seine Exegese der Krisenpsalmen und die Umdeutung dessen, was die Beziehung zwischen Gott und seinem Bundesvolk ausmacht, sollte auch eine neue Perspektive auf die Kriegsgegner ermöglichen, die ihre (friedliche) Integration und Bekehrung betonte, nicht ihre gewaltsame Unterwerfung. Dieser christliche Zugang zu den feindlichen gentes war im zeitgenössischen Zusammenhang der Auseinandersetzung zwischen dem Imperium und den westlichen regna ein besonderes Anliegen Cassiodors. Wie in Kap. 5 ausführlicher gezeigt werden soll, entwickelte Cassiodor in der EP ein Modell der Integration der gentes in die christliche Kirche, das sich als Gegenmodell zu ihrer gewaltsamen Unterwerfung durch die Armeen Justinians lesen lässt. Letzteres war auch mit Blick auf die zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die Definition der korrekten christlichen Doktrin von Bedeutung. Rechter Glaube und politische Legitimität waren nicht nur in den alttestamentlichen Erzählungen miteinander verknüpft, sondern auch im politischen Diskurs des 6. Jahrhunderts. Die Heterodoxie der „arianischen“ Ostgoten war ein Propagandaelement zur Rechtfertigung von Justinians Kriegen im Westen und spielte eine wichtige Rolle für die retrospektive Bewertung von Theoderichs italienischem Projekt.404 Zudem gewann in den 540er Jahren der Dreikapitelstreit immer mehr an Dynamik, in dessen Verlauf die Positionierung in christologischen Debatten besondere politische Brisanz erhielt.405 Angesichts der Bedeutung, die Cassiodor dem korrekten religiösen Verhalten und der Orthodoxie für das Wohlergehen der Gemeinschaft und ihr Verhältnis zu Gott zuschrieb, verwundert es nicht, dass der biblische Rhetor Asaph (unterstützt vom Exegeten Cassiodor) in seinen Reden immer wieder Überzeugungsarbeit in Fragen der Trinität und Christologie zu leisten versuchte. So enthielt Asaphs Klage über das belagerte Jerusalem in Ps 73 eine Passage, die Cassiodor zufolge auf prophetische Weise die Inkarnation und ihre rettende Funktion für die Menschheit thematisierte und dabei die Wesenseinheit und Gleichewigkeit des Gottessohnes mit dem Vater hervorhob.406 Die soteriologische Bedeutung der Inkarnation und die Frage der Christologie identifizierte Cassiodor als Thema der deliberativen Rede Asaphs in Ps 76, wobei er Asaph zu einem vehementen Befürworter der chalkedonischen Zwei-Naturen-Lehre machte.407 Den Asaph-Psalm 81 interpretierte Cassiodor als Rede gegen die Juden, in der dieser ausführlich die Göttlichkeit Christi gegenüber den Juden verteidigte und

404 Mirşanu, The Imperial Policy of Otherness; vgl. ausführlich unten Kap. 6. 405 Dazu ausführlich Kap. 7. 406 EP 73.12–13. Vgl. auch EP 79.16, wo Asaphs Bitte um den Messias ebenfalls eine Affirmation nicänischer Orthodoxie enthält. 407 EP 76.7–10.

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die Inkarnation beschrieb.408 In Cassiodors Exegese erhielt Asaphs Rede dabei nicht nur einen vehementen anti-jüdischen Unterton, sondern zielte auch auf die Bekräftigung der Wesensgleichheit des Sohnes. Gleichzeitig nutzte er den Psalm, um die chalkedonische Lehre von den zwei Naturen sowohl gegenüber den „Nestorianern“ als auch gegenüber den Miaphysiten abzugrenzen, wobei seine Polemik gegen die miaphysitische Lehre wesentlich ausführlicher ausfiel.409 Asaph suchte in Ps 72 nicht nur nach einem Konsens über Gottes Gericht in dieser Welt; der Psalmentext enthielt auch einen Hinweis auf die Inkarnation. In seiner Exegese benutzte Cassiodor eine christologische Formel, die in der zeitgenössischen Diskussion von der neu-chalkedonischen Seite als mögliche Kompromissformel zwischen Miaphysiten und Chalkedonikern ins Spiel gebracht worden war.410 Cassiodor nutzte die Autorität des biblischen Redners Asaph also auch, um seine Position in den doktrinären Debatten seiner Zeit zu artikulieren. Auch diese theologische Positionierung war um 550 politisch brisant. Sie soll in Teil III dieses Buches ausführlich diskutiert werden. Doch zunächst soll im letzten Abschnitt dieses Kapitels untersucht werden, welche Rolle die Nachfahren des biblischen Israels, die ihre jüdische Identität in der sechsten aetas bewahrt hatten, die Iudaei, in Cassiodors Exegese spielen. 2.5 Cassiodor und die Juden Wie wir anhand der historischen Psalmen gesehen haben, führte Cassiodor die Geschichtserzählung des Gottesvolkes, ausgehend von den alttestamentlichen Wurzeln, bisweilen bis in die Lebenszeit Jesu und darüber hinaus bis zur Tempelzerstörung des Jahres 70 n. Chr. fort. Seine Perspektive auf die Juden, die in Christus nicht den Messias sahen und weiterhin als Juden ihren religiösen Traditionen folgten, ist wie bei den meisten christlichen Autoren zweischneidig. Mit Paulus bekräftigte er, dass die Juden zum Glauben an Christus und zur Rettung berufen waren und spätestens am Ende der Zeit wieder zu einem Teil des Gottesvolkes werden würden. Insofern bildeten die Juden neben dem populus christianus/gentium eine von zwei Teilgruppen, aus denen sich das wahre Gottesvolk letztlich zusammensetzen würde.411 Andererseits enthält die EP sehr scharfe anti-jüdische Polemik. Zahlreiche Stellen charakterisieren die Juden abwertend und stereotyp als ungläubige und perfide Feinde der Christen. Der exegetischen Tradition folgend, las Cassiodor außerdem zahlreiche Psalmen christologisch, das heißt, er verstand sie als prophetische Texte, in denen die Inkarnation vorausgedeutet war. Für manche Psalmen nahm er an, dass der Psalmist „in der Person Christi“ 408 409 410 411

EP 81.tit. Vgl. unten Kap. 2.5. EP 81.concl. EP 72.25. Vgl. zu Cassiodors Gebrauch der Formel ex duabus et in duabus naturis unten Kap. 7.2. Z. B. EP 50.concl.; 50.6; 54.22; 146.concl.; 88.47; 102.9.

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(ex persona Christi) spreche und der Psalmentext daher die Worte Christi enthalte. Diese Annahme wurde durch die Zitierung von Psalmenversen in den Evangelien unterstützt.412 Cassiodors Exegese dieser Psalmen beinhaltet die ganze Bandbreite der anti-jüdischen Stereotypen, die in der christlichen contra Iudaeos-Tradition entwickelt worden waren.413 Das verwundert nicht; immerhin war die christliche Perspektive auf die Juden von Beginn an stark durch die Bibel und ihre Exegese geprägt, weshalb sich die Argumentationsfiguren und die Formen der anti-jüdischen Rhetorik in Exegese und polemischen Traktaten vielfach überschneiden.414 Ein grundlegender Vorwurf, den christliche Autoren ihren jüdischen Gegnern machten, bestand in deren fehlgeleitetem, rein wörtlichen – oder, in der Terminologie der zeitgenössischen Autoren „fleischlichen“ – Verständnis der Schrift. Dieses mangelhafte Schriftverständnis resultierte den Christen zufolge in einer ritualistischen Auslegung und Anwendung des Gesetzes und in der fehlenden Anerkennung des Verweischarakters zwischen dem Alten und dem Neuen Testament.415 Die christologische Lektüre der Psalmen rückte vor allem Jesu Leiden und Tod in den Vordergrund – und damit auch die Rolle der Juden innerhalb der Passionsgeschichte. Dementsprechend findet sich der Vorwurf der Zurückweisung des Gottessohnes – den die Juden doch leibhaftig hätten wahrnehmen und erkennen können – und des Christusmordes in Cassiodors Exegese der entsprechenden Psalmen. Die Schuld am Kreuzestod Jesu formulierte Cassiodor dabei bewusst als kollektive Schuld aller Juden. Diese Schuld hafte dem jüdischen Volk in dieser Sicht quer durch seine Geschichte an: Vorboten dieser Schuld fanden sich im Alten Testament, als die Israeliten die von Gott gesandten Propheten verfolgten, und sie setzte sich in der Verfolgung der Apostel und der Urkirche fort.416 Damit korrespondierte die Zuschreibung von kollektiven Eigenschaften, die allen Juden zu allen Zeiten angelastet wurden: Untreue, Blindheit, Fleischlichkeit.417

412 Siehe dazu oben Kap. 1.4 und unten Kap. 7. 413 Siehe aus der umfangreichen Literatur Nirenberg, Anti-Judaismus; Schäfer, Antisemitismus 43–100; Limor/Stroumsa (ed.), Contra Iudaeos; Gager, Origins of Antisemitism; Schreckenberg, Adversus-Iudaeos Texte; Lieu, Image and Reality; für den poströmischen Westen Fredriksen, Jewish Romans; Hen/Limor/Noble (ed.), Jews and Barbarians. 414 Vgl. oben Kap. 2.1. 415 Fredriksen/Irshai, Christian Anti-Judaism 978–984. 416 EP 2.2–3; 7.15; 16.9–12; 21.13; 68.2–3; 108.16–18. 417 Unglauben/Untreue: EP 2.5; 7.5; 8.3; 13.tit.; 13.2; 13.3; 17.44–45; 21.11; 30.14; 45.4; 68.5 und 13; Blindheit (vermittelt über Rm 11.25): 45.11; 58.7; 88.47; 102.9; 17.46 (Is 52.15 zitierend); Fleischlichkeit: 16.14; 17.46; 30.14; 84.10; Ungehorsam und Sturheit: 7.8 und 12; 21.17; 54.div; 54.3; 63.8; 95.div.; 103.11; 109.4; 118.98. Diese negative Stereotypisierung der Juden als Kollektiv lässt sich als „racialising discourse“ oder „race thinking“ beschreiben, auch wenn Cassiodor die Juden nicht im modernen Sinn des Wortes als „race“ verstand. Zum Begriff: Whitaker, Black Metaphors.

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Antijüdische Polemik in der EP Ein typisches Beispiel für diese anti-jüdische Polemik ist Cassiodors Exegese von Ps 108. Im Lauf der Auslegung bezichtigte Cassiodor nicht nur Judas, sondern alle Juden mehrfach des Christusmordes, und unterstrich, dass die Schuld die Juden als ganzes Volk betraf.418 Er warf ihnen auch vor, nach Christi Auferstehung die Apostel und christliche Heilige blutig verfolgt zu haben.419 Die Juden charakterisierte er als „unglückliches Volk“ (infelix populus), dem das rechte Verständnis für die eigenen heiligen Schriften fehle.420 Ps 13, den er als „ersten jener Psalmen, die zur Zurechtweisung und Bekehrung der Juden“ geschrieben waren, identifizierte, zeigt Cassiodors Bereitschaft, die Juden mit sehr harscher Sprache zu beschimpfen und abzuwerten.421 Cassiodor interpretierte den Psalm als Rede der personifizierten ecclesia an die Juden, in der sie diese wegen ihrer Nichtanerkennung Christi und ihres fehlerhaften Schriftverständnisses zurechtwies. Es handelte sich um increpatio, eine Invektive gegen die verweltlichten und ungläubigen Juden.422 Die Juden, so klagte die ecclesia, hätten die Göttlichkeit Christi in seiner inkarnierten Gestalt nicht erkannt, obwohl er speziell zu ihnen gesandt worden war, wie Cassiodor unter Verweis auf Mt 15.24 betonte.423 Ihre fehlende Anerkennung Christi näherte Cassiodor sprachlich an den Bundesbruch an: sie wichen von den Geboten der Heiligen Schrift ab und waren so aufgrund ihrer Laster und Fehler „abscheulich“ (abominabiles) für den Herren. Durch die Ablehnung Christi waren sie außerdem von der Möglichkeit abgeschnitten, Gutes zu beginnen oder auszuführen, was ohne die Gnade Christi nicht möglich war.424 Obwohl Cassiodor zugestand, dass unter den Juden auch eine gewisse Menge zum Glauben an Christus gekommen war, hielt er die übrigen für „so treulos, dass man gleichsam alle für treulos und zugrunde gegangen halten kann“.425 Aus ihren Kehlen stiegen todbringende und schädliche Reden hervor wie Verwesungsgeruch aus Gräbern.426 Die wohlwollenden Mahnungen Christi hätten sie mit Taubheit und Gotteslästerung quittiert und Pläne zu seiner Tötung geschmiedet, die sie auf blutrünstige Weise und ohne Mäßigung in die Tat umsetzten.427 Einen wesentlichen Grund für die jüdische Zurückweisung des Messias sah Cassiodor mit Io 11.48 darin, dass die Juden die Furcht vor den weltlichen

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EP 108.6; 108.16; 108.28. EP 108.17. EP 108.29. EP 13.concl.: primum hunc esse psalmum eorum qui de Iudaeorum increpatione et conuersione conscripti sunt. EP 13.tit. EP 13.2. EP 13.2. EP 13.3: […] tanti enim impii fuerunt ut paene omnes perfidi esse ac periisse putarentur. EP 13.3. EP 13.3 und 13.6.

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Machthabern, den Römern, über die Gottesfurcht gestellt hatten. Der Erhalt ihrer Herrschaft in Judäa sei ihnen wichtiger gewesen als der Glaube.428 Wie wir oben anhand von Ps 73 bereits gesehen haben, sah Cassiodor in der Zerstörung des Tempels und der Eroberung des jüdischen Reiches durch die Römer die verdiente göttliche Strafe für den Christusmord. Die Juden verloren ihren politischen Zusammenhalt gemeinsam mit ihrem Land und wurden in alle Welt verstreut.429 Wie Mauro Pesce treffend beobachtet hat, formulierte Cassiodor die jüdische Weigerung, Christus als Messias anzuerkennen, als zugleich religiöse und politische Entscheidung, die daher Auswirkungen auf religiöse wie politische/ethnische Identität hatte.430 Das wird anhand von Ps 75 deutlich, wo Cassiodor den jüdischen Anspruch auf die Bezeichnung „Juda/Judäa“ zurückwies. Ausgangspunkt dafür war der Vers 75.2 (Notus in Iudaea Deus; in Israel magnum nomen eius; Übers. Vulg.: „Bekannt Gott in Judäa, sein Name groß in Israel“) – ein Vers, der für einen christlichen Leser, der um den weiteren Verlauf der Heilsgeschichte und die Zurückweisung des Messias durch die Juden wusste, paradox erscheinen konnte. Aufbauend auf Augustinus’ Exegese erläuterte Cassiodor den Zusammenhang zwischen dem Stamm Juda, aus dem die Königsdynastie stammte, und der Bezeichnung des Reiches Iudaea. Ausgehend von diesem Zusammenhang zwischen dem Volk und dem regnum, das göttlich sanktioniert war, erläuterte Cassiodor, dass die fehlende Anerkennung des wahren Königs aus dem Stamm Juda, Christus, nicht nur zum Verlust des regnum, sondern auch zum Untergang der gens geführt habe.431 Indem sie Christus die Loyalität verweigerten, verloren die Juden das Recht auf ihren Namen und damit auf ihre ethnische Identität: Sie entfremdeten sich vom genus Judas, woher sie ihren Namen erhalten hatten. Denn als sie den Herrn verrieten, sagten sie: „Wir haben keinen König außer Cäsar“ (Io 19.15). Wie können sie also zurecht „Juden“ genannt werden, die sich nicht zu Christus als ihrem König bekannten, sondern zu Cäsar?432

Die Juden erwiesen sich des Namens „Judäa“ in keiner Hinsicht als würdig. Sie verdienten ihn weder als Zeichen religiöser Identität (im Sinne der von Cassiodor postu428 EP 13.5. 429 EP 67.2 und 10–11; 68.26; 73.9; 75.concl.; 88.42. 430 Pesce, Cassiodoro e gli Ebrei 392. Pesce schließt daraus zurecht auf eine Konzeption jüdischer Identität, die sowohl religiös als auch ethnisch bestimmt ist, was er allerdings als inadäquat für die Konzeptualisierung zeitgenössischer Juden betrachtet, die seiner Meinung nach als religiöse Gruppe aufzufassen seien. Pesce übersieht, dass Cassiodor in der EP eine (wenn auch nicht ganz konsequent durchgehaltene) Unterscheidung zwischen Hebräern/Israeliten einerseits und Juden andererseits trifft. 431 EP 75.2. Vgl. Aug. En.Ps. 75.1–3; Fiedrowicz, Psalmus 277 f. 432 EP 75.2: [Nam illi Iudaei proprie non dicuntur,] qui se a Christo, id est a Iudae genere extraneos reddiderunt, unde eis nomen constat impositum. Ipsi enim in traditione Domini dixerunt: Nos regem non habemus, nisi Caesarem. Vnde ergo Iudaei ueraciter dici possunt, qui non Regem Christum, sed Caesarem se habere professi sunt?

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lierten Etymologie als „bekennend“) noch als Zeichen der politischen Loyalität mit der namengebenden Königssippe.433 Dass Cassiodor die Entscheidung für religiöse Zugehörigkeit als politische Entscheidung verstand, zeigt auch seine Konklusion zu diesem Psalm, in der Cassiodor an die Juden gerichtet resümierte: Und deshalb [wegen der Ablehnung Christi, GH] lebt ihr über fremde regna verstreut, habt keine Opfer; ihr wolltet nicht das heimische Szepter schätzen, sondern das römische. Da jene, die bekennen, auf Latein Iudaei genannt werden, wie könnt ihr, die ihr so unbeugsam seid, so genannt werden? Warum also habt ihr eine so große Bestrafung nicht wahrgenommen, die ihr nach allem anderen auch den Namen selbst verloren habt?434

Den Verlust der eigenständigen politischen Herrschaft und die Diaspora erklärte Cassiodor als Gottesstrafe für die Nichtanerkennung des Messias; beides markierte auch anderswo in der EP den endgültigen Verlust des besonderen Status der Juden als Gottesvolk.435 Juden als „Arianer“? Hermeneutische Juden und innerchristliche Polemik Die Zerstörung des zweiten Tempels war für Cassiodor das sichtbare Zeichen dafür, dass der dort verankerte Kult mit der Inkarnation seine Funktion verloren hatte. Im Kommentar zu Ps 49 verurteilte er den Tempelkult und die Opfer, wie sie im Alten Testament vorgeschrieben waren.436 Christus, das wahre Opferlamm, habe Tier- und Brandopfer abgelehnt, als er auf die Erde kam, und stattdessen die Zerknirschung der Seele über vergangene Sünden gefordert.437 Cassiodor kritisierte den Opferkult als materialistisch und kontrastierte ihn mit „spirituellen“ Opfern, wie rechtem Glauben, demütigem Bekenntnis, einem aufrichtigen, umkehrbereiten Herz und Freigiebigkeit gegenüber den Armen.438 Die Juden sollten daher endlich umkehren und ihre Schuld wiedergutmachen, indem sie stattdessen die christlichen Sakramente annahmen: Warum, ihr Juden, verhaltet ihr euch immer noch töricht? Warum fürchtet ihr nicht euren eigenen Untergang? […] Warum trennt ihr euch ab vom universellen Heil? Dasselbe wird

433 Das Argument ist eine Variante der christlichen Behauptung, die Juden hätten ihren Anspruch auf den Israel-Namen verwirkt, wie es sich unter anderem bei Salvian findet (Salv. gub. dei 234.29). 434 EP 75.concl.: Et ideo dispersi per aliena regna uiuitis, sacrificia non habetis, qui sceptrum noluistis patrioticum diligere, sed romanum. Nam dum confitentes latino sermone dicantur Iudaei, quemadmodum sic appellari potestis tam grauiter obstinati? Cur ergo ultionem tantam non aduertistis, qui ipsum quoque nomen post omnia perdidistis? Diese pointierte Formulierung hat keine Parallele bei Augustinus. 435 EP 88.45; 67.2. 436 EP 49.8–14. Vgl. oben Kap. 2.4. zur Auslegung von Ps 73. 437 EP 49.10. 438 EP 49.12 und 14.

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auch euch retten, was uns befreit hat. […] Strebt die Taufe an, nehmt das Fleisch auf, das ihr gekreuzigt habt, trinkt das Blut, das ihr vergossen habt!439

Auch wenn Cassiodor hier nachdrücklich die Juden seiner eigenen Gegenwart anzusprechen scheint, formulierte er sein Argument unter völliger Ausblendung der Entwicklung des rabbinischen Judentums nach der Tempelzerstörung. Die Rhetorik der Exklusion und die polemischen Vorwürfe waren nur teilweise (wenn überhaupt) an zeitgenössische Juden gerichtet; vielmehr handelt es sich bei den Iudaei in der EP um „hermeneutische Juden“ im Sinne Jeremy Cohens.440 Die eigentlichen Adressaten von Cassiodors Invektiven waren nicht zuletzt christliche „Häretiker“.441 So forderte Cassiodor im Kommentar zu Ps 49 die Reumütigen und Bußwilligen, darunter auch Juden, dazu auf, sich (wieder) in die Kirche einzugliedern. Hingegen schloss er die Hartherzigen und Verbrecherischen von dieser Möglichkeit aus. Diese identifizierte er alternativ als „häretische Lehrer“, denen er Missinterpretation der Heiligen Schrift vorwarf.442 Anhand von Ps 30 entwickelte Cassiodor zunächst ein Argument gegen die Juden, die Christus nach dem Leben trachteten, ein Verbrechen, das umso schwerwiegender sei, wenn es durch die Beratung vieler Menschen entstehe.443 In einem weiteren Schritt identifizierte er die Feinde Christi nicht nur mit Juden, sondern auch mit Heiden und verschiedenen Häretikern, die nun nicht mehr Christus selbst, sondern die Kirche verfolgten.444 Wenig später verglich er die jüdische Ansicht, wonach der Messias erst in Zukunft zu erwarten sei, mit jener der „Arianer“, die Christus für ein Geschöpf, also einen gewöhnlichen Menschen, hielten.445 Im Kommentar zu Ps 67 bezog er die im Psalmentext genannten „Häupter der Feinde“ auf die jüdischen Anführer, die für den Aufstand gegen Christus verantwortlich waren, und verglich diese wiederum mit Häresiarchen: „[Die Juden] haben Christus im Fleisch verfolgt, aber [die Lehrer] der Häretiker wüten noch grausamer gegen ihn in seiner göttlichen Natur, falls es nicht ein Sakrileg ist, dies zu sagen.“446 Der Vergleich zwischen Juden und Häretikern findet sich auch an weiteren Stellen in der EP.447

439 EP 49.concl.: Quid adhuc, Iudaei, desipitis? Cur uestrum interitum non timetis? […] Quid uos a generali medela diuiditis? Ipsum et uos saluat, quod et nos liberat […] Baptismum quaerite, carnem quam crucifixistis assumite, sanguinem quem fudistis ebibite. 440 Vgl. oben Einleitung Anm. 101. 441 Vgl. zur Gleichsetzung von Juden, Häretikern und auch Heiden bei Cassiodor die Stellen bei Pesce, Cassiodoro e gli Ebrei 396 Anm. 33. Allgemein zu dieser Gleichsetzung Cameron, Jews as Heretics; patristische Vorbilder: Nirenberg, Anti-Judaismus 107–111, 121–125. 442 EP 49.16. 443 EP 30.15. 444 EP 30.17. 445 EP 30.19. Zur Bezeichnung „Arianer“ siehe unten Kap. 6. 446 EP 67.22. 447 Z. B. EP 26.11; 34.4; 64.6; 118.85; 13.11 und 13.

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Konkret ist die anti-jüdische Polemik in der EP mit anti-„arianischer“ Polemik verknüpft. Cassiodor griff dabei auf althergebrachte Argumentationsmuster zurück, die den „Arianern“ judaisierende Tendenzen unterstellten und daraus eine ungebührliche Nähe zu den Juden ableiteten. Dass diese Argumentationsmuster mit den tatsächlichen Positionen sowohl des Arius als auch der Homöer wenig gemeinsam hatten, ist in der modernen Forschung schon lange betont worden.448 Cassiodor allerdings führte eine Vielzahl an vermeintlichen Parallelen zwischen Juden und „Arianern“ an. Beide Gruppen leugneten ihm zufolge die Göttlichkeit Christi – die Juden in ihrer Annahme, dass der Messias erst noch kommen müsse, die Arianer, weil sie ihn für einen „reinen Menschen“ hielten, der Gott Vater untergeben sei. Die jüdische Verachtung gegenüber Christus ließ sich also mit der Herabsetzung seiner Person durch die Subordinationslehre der „Arianer“ vergleichen.449 Im Kommentar zu Ps 88 diskutierte Cassiodor ausführlich den Status des Gottessohnes und seine Zeugung aus dem Vater, wobei er die Konsubstantialität von Vater und Sohn mehrfach unterstrich. Während Cassiodor damit vorgeblich die „Ungerechtigkeit“ der Juden kritisieren wollte, richtete sich das Argument offenbar gegen all jene Christen, die sich gegen die nicänische Lehre von der Wesensgleichheit wandten.450 Zu Ps 8 identifizierte Cassiodor den „Feind“ und „Verteidiger“, um dessen Zerstörung der Psalmentext Gott bat, mit dem „treulosen Juden, der sich als Feind des Sohnes erweist, während er denkt, Gott Vater zu verteidigen.“451 Derselbe Vorwurf, dem Sohn nicht dieselbe Ehre zu erweisen wie dem Vater, ließ sich hervorragend auf „alle Häretiker“ übertragen, mit denen hier wohl vor allem die „Arianer“ gemeint sein mussten.452 Juden und Häretiker teilten außerdem den inkorrekten Umgang mit der Heiligen Schrift. Insbesondere fehlte beiden Gruppen das korrekte christologische Verständnis der Bücher des Alten Testaments.453 Nicht immer waren anti-jüdische und anti-„arianische“ Rhetorik auf einer theologischen Ebene verknüpft. Im Kommentar zu einigen Psalmen richtete Cassiodor seine Kritik an beide Gruppen, ohne eine argumentative Verknüpfung herzustellen, wie etwa im Kommentar zu Ps 108, den Cassiodor als Ganzes contra Iudaeos gerichtet identifizierte.454 Trotz dieser eindeutigen Zuweisung beschränkte er seine Angriffe nicht auf Judas und die Juden, sondern richtete sie auch gegen die „Arianer“. So unterbrach er die ausführliche Entfaltung der Vorwürfe an den „untreuen populus“ der Juden, der auf die Ermordung Christi hingearbeitet hatte, relativ abrupt, um jene 448 Lorenz, Arius Iudaizans?; González Salinero, Judíos y arrianos; Brennecke, Imitatio 146; vgl. auch Hen/Heydemann, Double-Edged Sword 95. 449 EP 30.19; 65.4; 86.5. 450 EP 88.27–28. 451 EP 8.3.: […] Iudaeum perfidum […] dicit, qui dum deum patrem se putat defendere, filio existit inimicus. 452 EP 8.3.: Hoc et ad omnes haereticos competenter aptatur […]. 453 EP 26.11 (Häretiker); 30.19 ( Juden); vgl. auch 2.1–2; 8.3; 17.46; 58.13. 454 EP 108.div.

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zu kritisieren, die Christus „beim Herrn verleumden und die Schlechtes reden gegen meine Seele“ (Ps 108.20: qui detrahunt mihi apud Dominum et loquuntur mala aduersus animam meam; Übers. Vulg.), wie es im Psalmentext heißt.455 Hiermit waren nicht die Juden, sondern Häretiker gemeint, und zwar spezifisch die „Arianer“, die den Sohn für geringer hielten, und die Apollinaristen, die annahmen, der inkarnierte Christus habe keine menschliche Seele angenommen.456 Den darauffolgenden Vers interpretierte Cassiodor einerseits als Bitte des Gekreuzigten an den Vater, ihm den Ruhm der Auferstehung zuteilwerden zu lassen. Dabei versäumte er es weder, auf den Verrat des Judas und die Schuld eines verallgemeinerten „Juden“ an der Kreuzigung hinzuweisen, noch, die Gleichrangigkeit und Kooperation zwischen dem Vater und dem Sohn hervorzuheben, ein Argument, das klar gegen die hier nicht explizit genannten „Arianer“ gerichtet war.457 In EP 108.28 bezog Cassiodor den Gegensatz zwischen den verfluchenden und sich auflehnenden Feinden und dem segnenden und freudigen Knecht Gottes auf die Auseinandersetzungen zwischen den Juden und Jesus und zitierte dazu entsprechende Stellen aus den Evangelien. Die Bezeichnung Christi als „Knecht“ im Psalmentext wiederum war der Auslöser für eine ausführliche Zurechtweisung der Häretiker, die aufgrund dieser Wortwahl den Sohn für geringer hielten als den Vater.458 Auch Ps 54, den Cassiodor (in erster Linie) als Prophezeiung der Rache an den „Ungerechtigkeiten“ der „widerspenstigen Juden“ verstand, enthält gleichzeitig Argumente, die auf den trinitarischen Streit zielten. Vers 20 verstand Cassiodor als Bekräftigung der Gleichewigkeit des Sohnes mit dem Vater, wodurch die „verrückte Anmaßung der Arianer“ zum Schweigen gebracht werden sollte.459 Cassiodors anti-jüdische Rhetorik zielte also nicht in erster Linie (wenn überhaupt) darauf, tatsächlich existierende zeitgenössische Juden zu beschreiben, geschweige denn, mit ihnen in Dialog zu treten. Vielmehr diente sie als Vehikel für innerchristliche Polemik. Cassiodor nutzte die Argumente gegen die Juden, um die nicänische Lehre zu bekräftigen und sie scharf von heterodoxen Positionen abzugrenzen. Auch für die trinitarische Debatte gilt, dass aufgrund der topischen Qualität der Argumente mitunter schwer einzuschätzen ist, inwiefern Cassiodor Bezug auf eine rezente bzw. aktuelle Diskussion nahm oder inwiefern es sich auch bei den „Arianern“ vor allem um eine häresiologische und daher hermeneutische Kategorie handelt – dieser Frage soll im sechsten Kapitel nachgegangen werden. Die gezielte argumentative Verknüpfung

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EP 108.18. EP 108.20. EP 108.21. EP 108.28. EP 54.div. (iniquitates; obstinati Iudaei); 54.20 (Arianorum insana temeritas). Vgl. auch EP 2, wo Cassiodor antijüdische (2.2–5) mit anti-„arianischer“ Polemik (EP 2.8) verbindet; 47.2, 49.7 und siehe unten zu EP 81, wo er neben christologischen auch trinitarische Argumente vorbringt.

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der anti-jüdischen mit der anti-„arianischen“ Rhetorik weist aber in jedem Fall auf ein spezifisches Interesse Cassiodors hin. Auch in anderen zeitgenössischen Texten findet sich die Parallelisierung von anti-jüdischer und anti-„arianischer“ Polemik. Das exegetische Epos zur Apostelgeschichte, das der römische Subdiakon Arator, wie Cassiodor ein ehemaliger Amtsträger am Hof Theoderichs, im Auftrag des Papstes Vigilius verfasst und in einem öffentlichen Vortrag in San Pietro in Vincoli 544 vorgestellt hatte, enthält ebenfalls scharfe anti-jüdische Rhetorik.460 Daneben enthält Arators Text auch vehemente Angriffe auf den Häresiarchen Arius, dessen Irrtum er mit dem des Judas verglich.461 Auch wenn die „Arianer“ ansonsten selten explizit erwähnt werden, nutzte Arator jede sich bietende Gelegenheit, um die nicänische Trinitätslehre als einzigen wahren Glauben zu charakterisieren.462 Die theologischen Argumente, mit denen Arator die parallelen Angriffe auf Juden und „Arianer“ untermauerte, waren zum Teil antiquiert. Sowohl die Juden als auch die „Arianer“ in Arators Epos lassen sich daher vor allem als hermeneutische (bzw. häresiologische) Kategorie verstehen. Sie dienten als Gegenfolie, als das rhetorische „Andere“, um die Einheit und Loyalität der nicänischen Bevölkerung Roms, das zu diesem Zeitpunkt vor einer erneuten Belagerung durch gotische Truppen stand, unter der Führung des heiligen Petrus und seiner Nachfolger zu mobilisieren.463 Auch in der Debatte um die Legitimität der theodericianischen Herrschaft, die im Kontext der Gotenkriege an Schärfe gewann, spielte das Argument eine Rolle, wonach Theoderichs „Arianismus“ eine Politik begünstigt hätte, die den Juden über Gebühr Privilegien zugestand. Der Anonymus Valesianus interpretierte Theoderichs Tod infolge der Ruhr als Zeichen der göttlichen Strafe für seine Häresie, war dies doch die Todesart, der sowohl Judas als auch Arius zum Opfer gefallen waren.464 Auch die Gegenseite nutzte die Juden als Vehikel für innerchristliche Polemik. Unter den homöischen

460 Zu Autor und Text: Sotinel, Arator; Hillier, Arator; Green, Latin Epics 251–350; Deproost, L’Apotre. Zur anti-jüdischen Polemik bes. Châtillon, Arator. 461 Arat. Act. 1.442–554; 1.916–26. 462 Die Formel „ein Gott / eine Substanz – drei Personen“ kehrt mehrfach wieder (Arator Act. 1.157 f.; 1.385 f.; 1.450 f.; 1.924; 2.900 f.; 2.908), zudem betont Arator die Konsubstantialität des Sohnes (Act. 1.157; 2.788) und die Göttlichkeit des Hl. Geistes (1.437 f., 1.917–27). Vgl. für diese und weitere Beispiele Schwind, Arator-Studien 212–224, der den Text als „anti-arianische Kampfschrift“ sieht, wobei zu beachten ist, dass er ein mittlerweile veraltetes Narrativ zum Gegensatz zwischen „Arianern“ und „Katholiken“ zugrunde legt. Zurückhaltender Green, Latin Epics 313–316. 463 Arators Betonung der Autorität des hl. Petrus interpretiert Sotinel als Mittel zur Steigerung päpstlicher Autoritätsansprüche, siehe Sotinel, Arator 816–820; Schwind, Arator-Studien 224–233 und Green, Latin Epics 317–321. 464 Der Anon. Vales. 14.81–82 stellt einen Zusammenhang zwischen den anti-jüdischen Ausschreitungen und Verfolgungsmaßnahmen Theoderichs gegen die nicänische Kirche am Ende seiner Regierungszeit her; Tod Theoderichs: ebda. 16.95; vgl. Brennecke, Ipse haereticus 157 und 169 f.; Hen/Heydemann, Double-Edged Sword 93–96; Goltz, Barbar 502–507 und 516–519; siehe auch unten Kap. 6. Auch Arator widmete dem Tod des Judas eine ungewöhnlich ausführliche Beschreibung, Arat. act. 1.83–102; vgl. Deproost, Mort de Judas.

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Traktaten, die der Codex Verona LI überliefert, befindet sich auch eine Schrift Contra Iudaeos. Dieser Text nutzt ebenfalls biblische Verse nicht nur für Polemik gegen die Juden, sondern auch für trinitarische Argumente, in diesem Fall allerdings aus homöischer Perspektive.465 Bemerkenswert ist zudem, dass Cassiodor in der EP die Juden nicht nur als rhetorisches Mittel im Kampf gegen nicht-nicänische „Häretiker“ nutzte, sondern auch zur Bekräftigung der chalkedonischen Lehre von den zwei Naturen Christi in der einen Person. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist seine Exegese zu Ps 81, die oben bereits kurz diskutiert wurde. Wie wir gesehen haben, interpretierte Cassiodor diesen Psalm als Rede Asaphs gegen die Juden, in der dieser ausführlich Christus als Gottessohn gegenüber den Juden verteidigte und die Inkarnation erläuterte.466 Argumente zur Göttlichkeit Christi, der zwar Mensch geworden sei, im Unterschied zu den Menschen aber wahrhaftig und im eigentlichen Sinn Gott und Gottessohn genannt werden konnte, wechseln mit Vorwürfen gegen die Juden, sie hätten diese Göttlichkeit nicht anerkannt und ihn stattdessen getötet.467 Die Tatsache, dass Christus in der Inkarnation demütig und erniedrigt erschien wie Waisen und Arme, hätte die Juden nicht davon abhalten dürfen, ihn als Gottessohn zu erkennen. Asaphs Erläuterung der Inkarnation und der zwei Naturen in Christus berührte dabei trinitarische Fragen, doch diente die Unterscheidung zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur vor allem dazu, die Widersprüche zwischen der Herrlichkeit des verheißenen Messias und der Niedrigkeit von Jesu irdischen Leben zu erklären.468 In der Konklusion zum Psalm richtete Cassiodor sich direkt an die Juden, die er aufforderte, den wahren Inhalt des Psalms zu verstehen und „die katholischen Priester aufzusuchen, damit Eure Ohren geöffnet werden und Ihr durch die Gabe Gottes der ewigen Taubheit entkommen könnt“.469 Doch hatte Cassiodor parallel eine weitere Gruppe als Adressaten von Asaphs Lehrrede im Auge, nämlich jene, „die Ihr im schädlichen Dampf des Nestorius und des Eutyches brodelt“. Daran schloss er eine flammende Invektive, die sich vor allem gegen die miaphysitische Lehre von der einen, göttlichen Natur in Christus richtete.470 Beispiele für diese Vorgehensweise finden sich auch anderswo in der EP. Die jüdische Weigerung, Christus als Gottessohn und als König anzunehmen, obwohl sie sogar direkte Augenzeugen seiner fleischlichen Existenz geworden waren, verglich Cassiodor auch in Ps 20 mit dem Fehler der Miaphysiten, die ebenfalls nicht verstanden, dass dieser Psalm Christus deutlich als eine Person in zwei Naturen beschrieb. Den 465 Siehe C. Iud. 3 und 13, wo jeweils Psalmenverse den Ausgangspunkt der Diskussion bilden. Zum Vergleich der trinitarischen Argumentation mit der EP siehe unten Kap. 6. 466 EP 81. div. 467 Göttlichkeit Christi und Gottessohnschaft: EP 81.1 und 81.6; Vorwurf des Gottesmordes: 81.3; 81.5. 468 EP 81.3–4. 469 EP 81.concl.: Audite, Iudaei […] Venite ad catholicos sacerdotes, aperiantur aures uestrae ut possitis dono Domini diuturnam euadere surditatem. 470 EP 81.concl: qui Nestorii et Eutychis pestifero uapore feruetis.

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Psalm selbst deutete Cassiodor als Erzählung über die Inkarnation und das Leiden Christi und daher als Lehrpsalm über das Verhältnis zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur.471 An den Beginn von Ps 58, der wie bei Augustinus als Schlüsseltext für die Diskussion der Juden im christlichen Zeitalter fungierte, setzte Cassiodor ein wörtliches Zitat der Definitio fidei von Chalkedon.472 Inhalte und Zielrichtung seiner christologischen Diskussionen sollen wie seine anti-„arianische“ Polemik im letzten Abschnitt dieses Buches eingehend diskutiert werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig hervorzuheben, dass die rhetorische Verknüpfung von Anti-Judaismus und chalkedonischer Christologie Cassiodors Umgang mit den Juden einen besonderen Aktualitätsbezug verleiht. Obwohl also die Verknüpfung von anti-jüdischer und anti-häretischer Polemik in exegetischen Texten ein häufiger Topos ist, zeigt die EP, dass dieses Instrument zielgerichtet eingesetzt und präzise an die Erfordernisse der jeweils aktuellen Debatten angepasst wurde. „Töte sie nicht“: Cassiodor und Augustinus im Vergleich Dass die Auseinandersetzung mit innerchristlichen Gegnern Cassiodors exegetische Herangehensweise an die Juden entscheidend prägte, zeigt auch seine Exegese zu Vers 12 des gerade angesprochenen Ps 58. Dieser Vers (Ps 58.12: ne occideris eos nequando obliuiscantur legis tuae: disperge illos in uirtute tua et destrue eos, protector meus Domine; Übers. Vulg.: „Töte sie nicht, damit sie nicht dein Gesetz vergessen; zerstreue sie mit deiner Macht und setze sie aus, mein Beschützer, Herr“) bildete eine jener Schlüsselstellen, anhand derer Augustinus seine Theorie von der Zeugenschaft der Juden entwickelt hatte, mit der er die andauernde Präsenz der Juden auch im christlichen Zeitalter erklärt und als dem Willen Gottes gemäß gerechtfertigt hatte.473 Augustinus zufolge standen die Juden auch in der Diaspora unter Gottes besonderem Schutz. Einerseits sagte die Heilige Schrift ihre zukünftige Bekehrung voraus, die wiederum das Ende der Zeit einläuten würde. Andererseits dienten die Juden mit ihrem Festhalten an der „wörtlichen“ Bedeutung des Gesetzes und ihrer Befolgung der darin enthaltenen rituellen Vorschriften als „lebendige Zeugen“ für die Wahrheit der christlichen Botschaft im Kampf gegen heidnische Gegner.474 Cassiodor nahm diese Argumentation in ihren Grundlinien auf, doch wandelte er sie an einem entscheidenden Punkt ab: für ihn 471 EP 20.concl. 472 EP 58.div. Vgl. außerdem EP 13.3 und 6, wo Cassiodor christologische Themen in einen contra Iudaeos gerichteten Psalm einflicht; EP 7.12–15 (Auseinandersetzung zwischen Christus und den Juden) und EP 7.11 (christologische Argumente). 473 Dazu ausführlich Fredriksen, Augustine and the Jews 290–352; Cohen, Living Letters 19–71; ders., „Slay Them Not“; Massie, Le Psaume 58,12; ders., Peuple prophétique 355 f.; Nierenberg, Anti-Judaismus 140 f. Cassiodors Text: destrue statt depone (Vulg.). 474 Aug. En.Ps. 58.1.21–22 und 58.2.2.

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waren die Feinde des christlichen Glaubens, gegen die das jüdische Zeugnis ins Feld geführt werden sollte, nicht Heiden, sondern christliche Häretiker.475 Ein Vergleich zwischen Augustinus’ und Cassiodors Exegese von Ps 58 bringt weitere interessante Modifikationen zutage, die Cassiodor am augustinischen Modell vornahm. Insgesamt erscheinen die Juden bei Augustinus in einem positiveren Licht, als das bei Cassiodor der Fall ist. Während Augustinus mit Nachdruck betont hatte, dass die religiöse Distinktheit der Juden im post-Inkarnationszeitalter, wie sie sich durch die Observanz des Gesetzes und der rituellen Vorschriften ausdrückte, nach wie vor ihre Berechtigung besaß und daher aufrechterhalten werden müsse, schwächte Cassiodor dieses Argument stark ab und wiederholte nur Augustinus’ Kritik am rein „fleischlichen“ Verständnis des Gesetzes.476 Für Augustinus waren die Juden Träger der göttlichen Gebote (lex Dei): Denn siehe die feindlichen Juden […] bewahren das Gesetz Gottes, und daher wurde über jene gesagt: „Töte sie nicht, damit sie nicht dein Gesetz vergessen“, sodass das Volk (gens) der Juden fortbestehen und durch seinen Fortbestand die Menge der Christen wachsen möge. Und sicherlich bestehen die Juden unter allen Völkern fort und sind Juden, und haben nicht aufgehört das zu sein, was sie waren; das heißt, jenes Volk (gens) unterstellte sich nicht auf solche Weise dem römischen Recht, dass es die jüdische Identität verloren hätte, sondern es war den Römern so unterworfen, dass es sogar die [eigenen] Gesetze bewahrte, welche die Gesetze Gottes sind.477

Cassiodor schwächte diese Charakterisierung des jüdischen Sonderstatus deutlich ab, wenn er den Juden lediglich eine eigenständige Tradition (mos) im Kontext der rechtlichen Ordnung des römischen Reiches zugestand.478 Zwar ging auch er davon aus, dass die Existenz und das Überleben der Juden als eigenständige religiöse Gemeinschaft Gottes Willen und seinem Heilsplan entsprachen, doch erklärte er dies ausschließlich mit Blick auf ihre potentielle Konversion am Ende der Zeit und auf den Wert der hebräischen Schriften im Kampf gegen Häretiker. Seine Auslegung verstärkte den Druck auf die Juden zu konvertieren: den Aufruf des zweiten Versteiles von 58.12, die Gegner (in der Exegese als Juden identifiziert) zu zerstreuen, interpretierte Cassiodor als Bitte um ihre Bekehrung. Er betonte die Hoffnung auf Konversion als Grund

475 EP 58.12: […] ut inter contentiones haereticorum ab inimicis suis ueteris legis paratum testimonium haberet Ecclesia. Vgl. dazu Pesce, Cassiodoro e gli Ebrei 395. 476 Vgl. EP 58.12 mit Aug. En.Ps. 58.2.2. In EP 58.7 kritisierte Cassiodor außerdem den jüdischen Ungehorsam gegenüber dem Gesetz. 477 Aug. En.Ps. 58.2.2: Nam ecce inimici Iudaei […] legem dei tenent, et ideo de illis dictum est: Ne occideris eos, nequando obliuiscantur legis tuae, ut gens Iudaeorum maneret et ea manente cresceret multitudo Christianorum. Per omnes gentes manent certe, et Iudaei sunt, nec destiterunt esse quod erant; id est, gens ista non ita cessit in iura Romanorum, ut amiserit formam Iudaeorum; sed ita subdita Romanis est, ut etiam leges suas teneat, quae leges sunt dei. 478 EP 58.12. Vgl. zur Analyse der Stelle auch unten Kap. 5.

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für das Überleben der Juden in der Diaspora, ein Argument, das bei Augustinus fehlt, der vielmehr die bedeutende Rolle der Juden in der Urkirche hervorhob.479 Cassiodors Perspektive ließ wenig Raum für die Wertschätzung jüdischer Identität und Tradition als solcher, ebenso wenig wie für den jüdischen Anteil am frühen Christentum.480 Anders als Augustinus trennte Cassiodor scharf zwischen den Juden als zukünftigen Konvertiten zum Christentum (tunc) und den Juden als sturen Feinden der Kirche in der Gegenwart (nunc).481 Augustinus hatte zur selben Stelle bekräftigt, dass die Juden auch nach dem Verlust Jerusalems und des Tempels Juden blieben und das Gesetz weiter einhielten. Damit dienten sie den Christen einerseits als Beispiel für Gottes Barmherzigkeit, andererseits sollte ihre geschützte Existenz dazu dienen, den Hochmut der Christen gegenüber den gefallenen Juden im Zaum zu halten.482 Cassiodors Interpretation von Ps 94.4 (quoniam non repellit Dominus plebem suam; „Denn der Herr weist sein Volk nicht zurück“) bestätigt dieses Bild.483 Augustinus folgend, bekräftigte auch Cassiodor, dass Gott die Juden, sein auserwähltes Volk, nicht vollständig zurückgewiesen habe. Die Heiligen und Gerechten des Alten Testaments, die Apostel und die Juden, die sich der Urkirche angeschlossen hatten, gehörten zur nunmehr christlichen Gemeinschaft der Erwählten. Dazu führte Cassiodor den passenden Vers aus dem Römerbrief an, in dem Paulus dieselbe Botschaft formuliert hatte (Rm 11.1–2). Die Metapher von Christus als Eckstein, der Juden und gentes zu einem Gebilde verband, unterstrich die Kontinuität zwischen Juden und Christen.484 Im Kommentar zur zweiten Hälfte des Psalms vermittelte Cassiodor allerdings ein gänzlich anderes Bild. Auch dort erscheinen die Juden als Träger der alttestamentlichen Tradition der Patriarchen, doch diesmal ist es eine Tradition des Ungehorsams und der mangelnden Bundestreue.485 Im Gegensatz zu Augustinus verzichtete Cassiodor darauf, die Widersprüche zwischen den beiden Teilen des Textes zu glätten, indem er seine Leser an den Unterschied zwischen kollektiver Erwählung und individueller

479 EP 58.12; Aug. En.Ps. 58.2.2. 480 Pesce, Cassiodoro e gli Ebrei 398–400, hat aus Cassiodors Auslegung zu Ps 58 geschlossen, dass Cassiodor die Juden als „Hindernis“ auf dem Weg zu einer einheitlichen christlich-römischen Gesellschaft gesehen habe. Dies scheint jedoch angesichts seines Umgangs mit dem augustinischen Vorbild wenig wahrscheinlich, fehlt doch bei Cassiodor jede Spur des augustinischen Triumphalismus, mit dem dieser die Fähigkeit des römischen Reiches gelobt hatte, die Unterschiede zwischen Römern und eroberten gentes einzuschmelzen (vgl. Aug. En. Ps. 58.1.21 f.); zudem spielte Cassiodor den jüdischen Sonderstatus und dessen religiöse Bedeutung im Vergleich zu Augustinus herunter. Die Perspektive auf die Juden ist so zwar weniger positiv, doch gibt es andererseits keine Hinweise darauf, dass er ihre Existenz als inkompatibel mit der römischen Rechtsordnung verstanden hätte. 481 EP 58.12 und 13. 482 Aug. En.Ps. 58.1.21. 483 Cassiodors Vetus Latina-Text weicht von den hieronymianischen Übersetzungen ab, in denen dieser Versteil fehlt. 484 EP 94.4. 485 EP 94.8–11.

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Gnade erinnerte.486 Stattdessen beendete er seine Auslegung des Psalms mit einem dramatischen Aufruf an die Juden, „die durch einen sakrilegischen Geist verhärtet“ seien, sich zu bekehren und die wahre Bedeutung der Exoduswunder als Vorausdeutung der Zeichen für den Neuen Bund zu erkennen.487 Der herablassende Ton des Kommentars an dieser Stelle konterkariert den zu Beginn artikulierten Glauben an die zukünftige Bekehrung der Juden. Wieder lässt Cassiodors Exegese wenig Raum für Juden als Juden; in seiner exegetischen Welt finden sie bestenfalls als potenzielle Christen einen Platz. Religiöser Dissens, Überzeugung und Konversion Die Konversion der Juden und die Pflicht der Christen, darauf hinzuarbeiten, bildet einen wichtigen Aspekt von Cassiodors exegetischem Umgang mit den Juden. Neben Ps 94 beendete Cassiodor auch weitere Kommentare zu Psalmen, die er spezifisch als contra Iudaeos gerichtet verstand oder anhand derer er gegen die Juden polemisierte, mit einem Aufruf zu ihrer Bekehrung. Das ist zum Beispiel im oben diskutierten Ps 108 der Fall. Dieser besondere Akzent passt zu den Beobachtungen, die wir im vorigen Abschnitt anhand der Asaph-Psalmen gemacht haben.488 Er ist auch deswegen bemerkenswert, weil dadurch die Funktion der Juden als „hermeneutisches Werkzeug“ in der EP eine weitere Dimension erhält. Cassiodor benutzte die Juden, um ein Modell für den richtigen Umgang mit religiösem Dissens auch im innerchristlichen Kontext zu entwerfen. Dies machte Cassiodor bereits im Kommentar zum ersten contra-Iudaeos-Psalm 13 deutlich, den er als Invektive gegen die Juden interpretierte. Obwohl er die harsche Sprache des Psalms mit Verve aufgriff und gegen die Juden wendete, wie wir oben gesehen haben, enthielt die Rede der ecclesia auch Elemente, die auf die Ermahnung und Bekehrung der Juden zielten: „Dies alles wird mit frommem Geist gepredigt, damit der sakrilegische Sinn der Unreinen verbessert wird.“489 Wenn die ecclesia Christus als „Heilsgeschenk“ pries, das der Vater nach Jerusalem geschickt habe, so betonte sie auch, dass Christus ein Gottesvolk aus Juden und gentes versammeln wollte und dem alten populus eine unverhoffte Medizin brachte.490 Wie Cassiodor unterstrich, sprach die ecclesia in der Hoffnung, die Juden davon zu überzeugen, sich zu Christus zu bekehren. In der Konklusion zu seinem Kommentar stilisierte Cassiodor die Rede zum Modell für den richtigen Umgang mit christlichen Häretikern und forderte sein christliches Publikum auf, es der sprechenden ecclesia gleichzutun:

486 Aug. En.Ps. 94.15. 487 EP 94.concl.: […] Iudaei sacrilega mente durati […]. 488 Vgl. oben Kap. 2.4. 489 EP 13.5: Quod totum pia mente praedicitur, ut improborum mens sacrilega corrigatur. 490 EP 13.7.

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In diesem Psalm wird uns jene Tugend gepredigt, nach der wir unsere Feinde, soweit wir es vermögen, mit wohlwollendem Sinn trösten, damit sie nicht, durch blinde Widerspenstigkeit verhärtet, sich in einem unlösbaren Fehler verstricken. Die Kirche weist nämlich das sündige Volk zurecht, damit es nicht seinem Untergang entgegenstrebt, sodass es nicht zögern möge, die Niedertracht abzulegen und jenes von sich zu weisen, wodurch es auf vielfältige Weise untergehen kann. Deswegen sollen auch wir, soweit es uns gegeben sein wird, dieser ehrwürdigen Anleitung folgen. Lasst uns die Häretiker vom rechten Glauben überzeugen, lasst uns den Hochmütigen die heilige Demut predigen.491

Wie die Reden Asaphs boten also auch die contra Iudaeos-Psalmen Cassiodor die Gelegenheit, seinem Publikum den richtigen Umgang mit religiösen und politischen Feinden nahezulegen, seien es Juden oder Häretiker, „Arianer“ oder Miaphysiten. Seiner Ansicht nach waren nicänische Christen dazu verpflichtet, ihren Glauben in Auseinandersetzung mit gegnerischen Gruppen zu verteidigen und auf deren Bekehrung hinzuwirken. Cassiodors Exegese bot zahlreiche Modelle, mit deren Hilfe sie dieser Verpflichtung nachkommen konnten. Freilich war Cassiodors oft gewaltsame und herablassende Sprache gegenüber den Juden in der Praxis wenig geeignet, um mit realen Juden in einen aufrichtigen Dialog zu treten. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass Cassiodor die Anwendung von Zwang in religiösen Fragen ablehnte: wahrer Glaube entsprang ihm zufolge aus einer freien Gewissensentscheidung. In der EP verwendete er Ps 53 (53.8: Voluntarie sacrificabo tibi et confitebor nomini tuo, Domine, quoniam bonum est; Übers. Vulg. „Freigebig werde ich Dir opfern, ich werde mich zu deinem Namen bekennen, Herr, weil er gut ist“), um zu erläutern, dass die wahren Gläubigen Gott aus „unerzwungenem Begehren“ dienten.492 Auf denselben Vers hatte er auch in einem Brief an Kaiser Justinian angespielt, den er im Jahr 535 im Namen Theodahads geschrieben hatte. Darin versicherte der König, dass die zum nicänischen Glauben konvertierte Ranilda keinerlei Repressalien befürchten müsse, und begründete dies wie folgt: Wenn die Gottheit es zulässt, dass es verschiedene Religionen gibt, wagen wir es nicht, eine anzubefehlen. Wir erinnern uns nämlich gelesen zu haben, dass dem Herrn freiwillig zu opfern sei, nicht aufgrund der Befehlsgewalt eines Machthabers.493

491 EP 13.concl.: Si pio animo cogitemus, illa nobis uirtus in hoc psalmo praedicata est ut inimicis nostris, quantum in nobis est, mente beneuola consolamus, ne caeca obstinatione durati insolubili mancipentur errori. Increpat enim ecclesia populum peccatorem, ut ad suum non festinet exitium: quatenus prauitate deposita non moretur abicere, unde potest modis omnibus interire. Quapropter et nos, prout datum fuerit, sequamur instituta reuerenda. Suadeamus haereticis rectam fidem, superbis praedicemus sanctam humilitatem. 492 EP 70.tit (incoacto desiderio); vgl. 53.8: Gott muss um seiner selbst willen verehrt werden. 493 Cassiod. var. 10.26.4: Nam cum divinitas patiatur diversas religiones esse, nos unam non audemus imponere. Retinemus enim legisse nos voluntarie sacrificandum esse domino, non cuiusquam cogentis imperio

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Die Ähnlichkeit des Gedankenganges zwischen dem Psalmenkommentar und den Variae ist bemerkenswert, zeigt sie doch, dass Cassiodor die im Brief des Theodahad artikulierte Überzeugung teilte – wenn letztere nicht ohnehin durch die exegetische Expertise seines Beraters geprägt war – und dass er diese Meinung auch nach dem Ende des gotischen Regimes bekräftigte. Wohl nicht zufällig nutzte Cassiodor in der EP den Kommentar zu Ps 53 auch dazu, den von Saul verfolgten David zum Vorbild für die richtige Haltung zu stilisieren, mit der Christen auf die Besserung ihrer Feinde hinwirken sollten.494 Wie verhält sich Cassiodors exegetische Perspektive auf die Juden zu dem politischen Umgang mit ihnen, wie er sich aus den Variae herauslesen lässt? Die Sammlung enthält mehrere Schreiben, die sich mit den Anliegen der jüdischen Gemeinden in Italiens Städten befassen, darunter zwei Schreiben Theoderichs, in denen dieser angesichts gewaltsamer Ausschreitungen der christlichen Mehrheitsbevölkerung gegen die Juden von Rom und Mailand einschritt.495 Weitere Briefe garantierten den Juden jene Privilegien der freien Religionsausübung, die ihnen gemäß dem römischen Recht zukamen. Dies begründete Theoderich mit der civilitas, der Wahrung der rechtsstaatlichen Ordnung, und berief sich dazu auf die Tradition der imperialen Gesetzgebung.496 Eine vielzitierte Formulierung in einem Schreiben an die Juden von Genua, denen Theoderich die Restaurierung der Synagoge zugestand, erinnert ebenfalls an Cassiodors Interpretation von Ps 53.8: „Wir können die Religion nicht verordnen, denn niemand wird gezwungen, unfreiwillig zu glauben.“497 Allerdings enthielten einige der Schreiben auch Kritik am fehlenden Glauben der Juden und ihrer angeblichen Ausrichtung auf materielle Dinge. Bei aller Wahrung der rechtlichen Privilegien distanzierten sich die ostgotischen Herrscher in den von Cassiodor verfassten Schreiben also deutlich von den Juden.498 Die Samariter bezeichnete Cassiodor in einem Schreiben an einen gotischen comes sogar – wenn auch indirekt – als superstitio und stellte ihre Interessen denen der sacrosancta ecclesia gegenüber.499 Wie in der EP lässt sich in den Variae also eine gewisse Spannung zwischen dem res-

[…]. Übers. Dinzelbacher, Briefe 149. Wiemer, Theoderich 511 f. betont die Singularität der hier artikulierten Perspektive. 494 EP 53.div. und 53.concl. 495 Cassiod. var. 4.43 und 5.37. Vgl. für einen Bericht über anti-jüdische Ausschreitungen in Ravenna Anon. Vales. 14.81–82; dazu und zur Diskussion der Variae Pesce, Cassiodoro e gli Ebrei 379–388; Brennecke, Ipse haereticus 171; Wiemer, Theoderich 532–537; Cohen, Religious Diversity 506– 508; Hen/Heydemann, Double-Edged Sword 93–101. 496 Cassiod. var. 2.27; 4.33. 497 Cassiod. var. 2.27.2: religionem imperare non possumus, quia nemo cogetur ut credat invitus. Übers. Dinzelbacher 138. Zur Stelle Brennecke, Imitatio 141 f.; Pesce, Cassiodoro e gli Ebrei 380 f.; Hen/Heydemann, Double-Edged Sword 98 f. 498 Pesce, Cassiodoro e gli Ebrei 382 und 386 mit Verweis auf Cassiod. var. 5.37 zur fleischlichen Ausrichtung der Juden und var. 3.45; vgl. auch Wiemer, Theoderich 534. 499 Cassiod. var. 3.45.

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pektvollen Umgang mit der jüdischen Tradition einerseits und anti-jüdischer Polemik andererseits konstatieren. Auch für Theoderichs Politik den Juden gegenüber gilt, dass es dabei nicht nur – oder nicht in erster Linie – um das Wohlergehen der jüdischen Bevölkerung ging. Wie Brennecke betont hat, zielte der Umgang mit den Juden und seine Darstellung in den Variae darauf, Theoderich als Wahrer der römischen Rechtstradition zu präsentieren. Indem er als Schutzherr der den Juden nach dem römischen Recht traditionsgemäß zukommenden Vorrechte auftrat, erfüllte er eine Rolle, die für gewöhnlich den Kaisern zukam.500 Die Betonung dieses Aspektes seiner Religionspolitik war also Teil seiner römisch-imperial geprägten Herrschaftsrepräsentation. Gleichzeitig stand Theoderich damit im Kontrast zur repressiven Politik gegen die Juden im östlichen Reich, die deren althergebrachten Rechtsstatus zunehmend beschnitt.501 Wenn Cassiodor in den Variae Theoderichs Aufrechterhaltung der römisch-kaiserlichen Tradition so stark hervorstrich, so ließ sich das nach 540, als er die Sammlung publizierte, auch als implizite Kritik an Justinians Abweichung von dieser Tradition lesen. Möglich auch, dass Theoderich angesichts seines homöischen Glaubens ein besonderes Bedürfnis empfand, sich dennoch theologisch von den Juden abzugrenzen, um dementsprechenden Vorwürfen den Wind aus den Segeln zu nehmen.502 In der EP benutzte Cassiodor die rhetorische Figur der Iudaei, um eine Grenze nicht nur zwischen nicänischen Christen und „Arianern“ zu ziehen, sondern auch zwischen Chalkedonikern und nicht-Chalkedonikern. Gleichzeitig rief er dazu auf, die Belehrung der Juden, wie er sie anhand der Psalmen entwarf, zum Modell für den richtigen Umgang mit anderen religiösen Gegnern zu nehmen, seien es Juden, „Arianer“, „Nestorianer“ oder Miaphysiten. Die meist herabsetzende und mitunter auch gewaltsame Sprache verbietet es, darin ein Modell der „religiösen Toleranz“ zu sehen, wie die Forschung Theoderichs Religionspolitik oft bezeichnet hat. Dennoch war es ein Modell, das die Überzeugung durch Worte in den Mittelpunkt stellte. Wie Brennecke für die Variae, kann man auch für die EP annehmen, dass dieses Modell einen bewussten Kontrast zu den zunehmend repressiven Maßnahmen bilden sollte, mit denen man im östlichen Reich unter Justinian gegen Andersgläubige und heterodoxe christliche Gruppen vorging.

500 Brennecke, Imitatio. 501 Brennecke, Imitatio 142–144, mit Verweis auf die bei Noethlichs, Judentum 110–117, diskutierten Bestimmungen aus der Zeit zwischen der Promulgation des Codex Theodosianus und der Herrschaft Justinians. Vgl. auch Brennecke, Ipse haereticus 171 f. 502 Dies schlägt Yitzhak Hen vor: Hen/Heydemann, Double-Edged Sword 99–101; ähnlich Wiemer, Theoderich 536 f.

Teil II Exegese und Ethnizität

3. Kapitel Ethnischer und christlicher Diskurs in der Spätantike: Methodische Ausgangspunkte

Im vorangehenden Teil dieses Buches stand das biblische Israel als soziale Metapher im Zentrum. In Auseinandersetzung mit dem Gottesvolk des Alten Bundes entwarf Cassiodor Deutungsmuster, die auch im zeitgenössischen politischen Diskurs Relevanz besaßen. Cassiodor hinterfragte nicht nur das biblische Modell eines Gottesvolkes und seine politischen Aneignungen kritisch, sondern problematisierte auch die Beziehung zwischen dem Gottesvolk und den (gegnerischen) Völkern. Der letztgenannte Aspekt soll in den nun folgenden Kapiteln vertieft werden: Sie untersuchen, wie Cassiodor ausgehend vom Bibeltext die Rolle der gentes in der christlichen Welt (neu) zu definieren suchte. Wie wir in der Einleitung gesehen haben, entstand durch den Wandel der politischen Ordnung im Westen die Notwendigkeit, die „kategoriale Infrastruktur“, mit der die Zeitgenossen ihre Welt zu begreifen suchten, neu auszuhandeln.1 Der politische Deutungsrahmen verschob sich seit dem 5. Jahrhundert schrittweise von einem christlichen Imperium mit seinem römischen populus hin zu einer Vielfalt von christlichen gentes und regna. Diese Entwicklung ging mit der Durchsetzung von Ethnizität als Prinzip der politischen Organisation einher: christliche Völker wurden mehr und mehr als zentrale Akteure in einer postimperialen Ordnung wahrgenommen und akzeptiert.2 Wie die Kapitel in Teil II zeigen sollen, lässt sich in Cassiodors Texten – in den Variae, aber auch im Psalmenkommentar – eine wichtige Etappe dieses Aushandlungsprozesses nachzeichnen. Der Fokus der Analyse liegt dabei auf dem semantischen Spielraum der Begriffe gens und populus: es soll der Frage nachgegangen werden, wie Cassiodor den Gegensatz zwischen dem (römischen und biblischen) populus und den gentes, der durch die ethnographische und die biblische Tradition konstruiert wurde, an die veränderten Bedingungen des 6. Jahrhunderts adaptierte. Die Analyse des Sprachge-

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Brubaker, Grounds of Difference 8. Vgl. dazu und zum hier zugrunde gelegten Verständnis von „Ethnizität“ oben Einleitung.

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Ethnischer und christlicher Diskurs in der Spätantike

brauches in der EP kann zeigen, wie die christliche Auseinandersetzung mit biblischen Modellen dazu beitrug, die Ordnung der Welt als eine Welt von Völkern zu legitimieren. Diese christliche Perspektive auf die gentes formulierte Cassiodor vor dem Hintergrund militärischer Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft in den westlichen Provinzen, die auch mit Debatten über die politische Rolle der gentes und über die Neudefinition des Verhältnisses zwischen römisch-imperialer Identität, Christentum und Ethnizität verbunden waren. Daher soll Cassiodors Exegese der gentes in einem weiteren Schritt ins Verhältnis zur vorhergehenden exegetischen Tradition einerseits und zum politischen Diskurs über die gentes um 550 andererseits gesetzt werden. Auf diese Weise lässt sich die Situationsgebundenheit des Psalmenkommentars einschätzen und zeigen, dass Cassiodors Arbeit mit der Terminologie des Bibeltextes auch eine politische Botschaft transportieren konnte. Um Cassiodors Umgang mit dem Begriffsfeld gens und populus in der Exegese angemessen analysieren zu können, sollen in Kapitel 3 zunächst die römisch-ethnographische und die biblische Begriffstradition und ihre spätantike Weiterentwicklung kurz umrissen werden (3.1). Im zweiten Abschnitt dient eine Diskussion der Variae dazu, Cassiodors Sprachgebrauch mit Blick auf diese Tradition zu verorten und so nicht nur die damit verbundenen politischen Anliegen herauszuarbeiten, sondern auch die Voraussetzungen und Erfahrungen, mit denen Cassiodor sich in der EP dem Bibeltext und seiner Terminologie näherte (3.2). In der Exegese trafen die ethnographische und die biblische Tradition aufeinander. Dadurch entstand semantische Dynamik und es eröffneten sich Spielräume zur Reflexion über die Kategorien kollektiver Identität im Spannungsfeld zwischen religiösen, ethnischen und politischen Bedeutungen. Dabei stellt sich die methodische Frage, wie die Begriffe gens, populus, natio, genus etc. (oder ihre griechischen Äquivalente) in christlichen Texten zu interpretieren sind, eine Frage, die in den letzten Jahren vor allem in der englischsprachigen Forschung zum frühen Christentum intensiv diskutiert wurde. Aufbauend auf diesen Diskussionen argumentiert die vorliegende Studie, dass es wenig sinnvoll ist, die Spannung zwischen ethnischen und religiösen Bedeutungen zugunsten des einen oder anderen Pols aufzulösen oder die ethnische Terminologie als rein metaphorisch abzutun, wie das in der bisherigen Forschung häufig geschehen ist. Zielführender ist es, die Wechselwirkungen zwischen ethnographischem und biblischem Diskurs, zwischen ethnischen und religiösen Kategorien, zu untersuchen und zu fragen, welche argumentativen Funktionen diese Kategorien in exegetischen Texten erfüllten. Abschnitt 3.3 skizziert daher diese methodischen Ausgangspunkte.

Politischer Wandel und ethnischer Diskurs

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3.1 Politischer Wandel und ethnischer Diskurs Die römische ethnographische Tradition kennt, vereinfacht gesagt, zwei kontrastierende Modelle davon, was ein „Volk“ ist. Sie unterscheidet zwischen einem „Volk nach der Verfassung“, dem populus, und „Völkern nach Abstammung“, den übrigen gentes.3 Auch wenn weder der Sprachgebrauch noch das zugrundeliegende Konzept von populus exklusiv an den populus Romanus gebunden war, prägte die Vorstellung von den Römern als politische Gemeinschaft dieses Konzept nachhaltig. Der römische populus wurde als historisch gewordene Rechtsgemeinschaft verstanden; Zugehörigkeit zu dieser Rechtsgemeinschaft war konstitutionell begründet und setzte die bewusste Entscheidung zur Identifikation voraus. Ciceros einflussreiche und viel diskutierte Definition des römischen Staates, in der er die res publica als res populi bezeichnete, ist eigentlich eine Definition des populus: das Volk [ist] aber nicht jede beliebige Verbindung von Menschen, die auf eine nicht näher bestimmbare Weise zustande kam, sondern eine aus einer Vielzahl von Menschen bestehende Verbindung, die sich auf der Grundlage eines allgemein anerkannten gleichen Rechts und des gemeinsamen Nutzens gebildet hat.4

Diese klassisch gewordene Formulierung betont eben jene charakteristischen Elemente des Konsenses, der Rechtsgemeinschaft und des freiwilligen Zusammenschlusses zum gemeinsamen Wohl. Vorstellungen von legitimer Herrschaft, von gemeinschaftlichem Handeln und einem durch verbindliche Rechtsnormen geregelten Zusammenleben blieben auch in der Spätantike mit dem römischen populus verbunden.5 Demgegenüber hatten die barbarischen Völker, die gentes, ihre Ursprünge der römischen Sicht zufolge im Mythos; als Objekte ethnographischer Beschreibung verfügten sie nicht über eine Geschichte, sondern über gleichbleibende Merkmale wie Sprache, äußeren Habitus, Sitten und Kampfesweise. Zugehörigkeit zu einer gens war – zumindest der Theorie nach – durch Abstammung, eine gemeinsame Vergangenheit und geteil-

Geary, Myth of Nations 41–62; Pohl, Regnum und gens 435 f.; Gschnitzer, Art. Volk 154 f.;164– 168; Werner, Art. Volk 187 f.; Loefstedt, Syntactica 464–467; Zientara, Populus – gens – natio; vgl. auch die Belege in Meyer, Art. Gens 1848–50. (II.A. 2 f. und II.B.1). 4 Cic. rep. 1.25 (39): populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus (Übers. Nickel). Dies beobachtet Suerbaum, Staatsbegriff 3 f., 24 f. Aus der umfangreichen Literatur zur ciceronischen Definition der res publica siehe Christes, Populus und res publica; Ncigorski, Cicero’s Scepticism 169–175; Wood, Cicero’s Political Thought 123–128. Allgemein zum populus-Begriff in diesem Sinn siehe Gschnitzer, Art. Volk 157–159 und 166–168; Peppe, Nozione di „populus“, sowie die Belege in Ottink, Art. populus 2716–2721 (I.A). 5 Siehe Adams, Populus; Werner, Art. Volk 180–193; Neri, Concetto politico; für den rechtlichen Charakter auch des auf die civitas und ihren Bischof bezogenen populus siehe van Nuffelen, A Relationship of Justice 256 f. 3

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Ethnischer und christlicher Diskurs in der Spätantike

te kulturelle Merkmale definiert und schien daher „objektiv“ festgelegt.6 Wesentlich an dieser Dichotomie ist, dass sie perspektivisch ist: Sie grenzte das „Wir“ des (römischen) populus von der Welt der „ethnischen Anderen“ ab. Wie Georges Tugène treffend formuliert hat, waren gentes in dieser Konzeption immer aliae gentes, die „anderen Völker“. Die besondere Position des populus als spezielle Organisationsform einer gens ergibt sich aus dem Kontrast zu den übrigen Völkern.7 Eher als eine absolute Unterscheidung zwischen empirischen Gruppen ist der Gegensatz zwischen populus und gentes daher als ein Instrument zu verstehen, um aus römischer Sicht Differenzen in der politischen und sozialen Organisation von Kollektiven sowie differentielle Ansprüche auf politische Legitimität auszudrücken.8 Auch wenn im Folgenden der Schwerpunkt auf der eben skizzierten Bedeutungsebene großräumiger, politischer und ethnischer Identitäten liegt, muss darauf hingewiesen werden, dass beide Begriffe – populus und gens – Gruppen unterschiedlicher Größenordnung und Art bezeichnen konnten, von der Familie über lokale Gemeinschaften bis zu großräumigen politischen Verbänden. Vor allem die Bedeutungsebene der auf die civitas bezogenen Gemeinschaft blieb auch in der Spätantike wichtig, wobei sich dieser lokale populus zunehmend im Verhältnis zum Bischof konstituierte.9 Auch die Abgrenzung zu benachbarten Begriffen wie plebs und natio ist nicht immer eindeutig.10 Die plebs bezeichnete im klassischen Latein die Menge der nicht-senatorischen Bürger und in nachrepublikanischer Zeit allgemeiner die niedrigeren Gesellschaftsschichten.11 Doch auch populus kann in einem loseren Sinn von „Bevölkerung“ oder „Menschenmenge“ verwendet werden. Für die natio hingegen steht wie bei gens das Kriterium der gemeinsamen Abstammung und Herkunft im Vordergrund (und nicht, wie der moderne Sprachgebrauch und der Nationen-Begriff es nahelegen würde, die politische Einheit); natio konnte als Untereinheit von gens betrachtet werden, doch konnte das Verhältnis auch umgekehrt gefasst oder gens und natio synonym gebraucht werden.12

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Geary, Myth of Nations 49 f., 55 f. Zu den vermeintlich „objektiven“ Kriterien der Definition ethnischer Gruppen und ihren Grenzen siehe Pohl, Telling the Difference; Hall, Ethnic Identity 19–26; zur Kritik an Forschungstraditionen, die gens mit einem spezifisch „germanischen“ Gruppenbewusstsein („Gentilismus“) verbinden, Pohl, Art. Gentilismus. 7 Tugène, Idée de la nation 76 f.; vgl. Geary, Myth of Nations 55 f. und siehe die Belege bei Meyer, Art. Gens 1848 f. (II.A.2.) 8 Dabei werden, wie Pohl, Early Medieval Romanness 7–8, beobachtet, die Römer im Lauf des Frühmittelalters zunehmend häufig als gens bezeichnet, was darauf schließen lässt, dass die skizzierte Unterscheidung schrittweise an Bedeutung verlor. 9 Dazu van Nuffelen, A Relationship of Justice (mit weiterer Literatur); Brown, From patriae amator to amator pauperum. 10 Überblick über das Verhältnis der Begriffe Zientara, Populus – gens – natio. 11 Momigliano/Lintott, Art. Plebs. 12 Meyer, Art. Gens 1848 (II.A.1); Wolfram, How Many Peoples 101; Zientara, Populus – gens – natio 13 f.

Politischer Wandel und ethnischer Diskurs

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Wie wir in der Einleitung bereits kurz diskutiert haben, veränderte sich im Lauf der Umwandlung der römischen Welt und der Etablierung der poströmischen regna die politische Rolle der gentes.13 Innerhalb der regna vollzog sich ein gradueller Prozess der Konsolidierung der neuen militärischen und politischen Führungsschicht, die ursprünglich meist sehr heterogen war, zu einer gens als Herrschaftsträgerin innerhalb des regnum. Komplementär dazu begann ein noch langfristigerer Prozess der Öffnung dieser gens für die breitere Bevölkerungsmehrheit in den ehemaligen Provinzen. Dabei entwickelte sich, wie Walter Pohl prägnant formuliert hat, „die strukturelle Rolle ethnischer Identitäten in den regna erst mit diesen selbst.“14 Mit der veränderten politischen Rolle der gentes in der (post-)römischen Welt ging auch ein begrifflicher Wandel einher: Der gens-Begriff behielt zwar seine Konnotationen von Abstammung und gemeinsamem Ursprung, wurde aber immer stärker nicht nur mit militärischem, sondern auch mit politischem Handeln verknüpft. Die gens bezeichnete die Gruppe, die politische Herrschaft innerhalb eines regnum ausübte, und näherte sich so der Bedeutung von populus an. Das affektive Potential des populus wurde zunehmend auf die gens übertragen. Die Begriffe gens/gentes wandelten sich von einem Terminus zur Fremdbeschreibung nicht-römischer Gruppen zu einem Terminus der positiven Selbstidentifikation und der politischen Integration.15 Diese semantische Entwicklung wurde insbesondere in der Forschung zum politischen Diskurs im westgotischen Spanien herausgearbeitet. Zu Beginn des 7. Jahrhunderts zitierte Isidor in seinen Etymologiae die ciceronische Konzeption des populus als rechtlich-politische Gemeinschaft; seine Definition des gens-Begriffes zielte vorrangig auf die gemeinsame Abstammung, doch zeigt sie gleichzeitig, dass Isidor gens/gentes nicht einfach als Bezeichnung für das „ethnische Andere“ verstand, sondern als grundlegende Kategorie sozialer Organisation, die auch auf anderen Kriterien basieren konnte.16 In Isidors historiographischen Texten erscheint gens weitgehend synonym mit populus im Sinn eines politisch handelnden Kollektivs, wobei die gotische gens im Lauf der Erzählung sowohl den römischen populus in politischer als auch das biblische

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Vgl. oben Einleitung bei Anm. 36 f. Pohl, Regnum und gens 443 f.; ders., Christian and Barbarian Identities 8–17; Reimitz, History 4. Zum Verhältnis von gens und regnum in den Nachfolgereichen siehe außerdem die Beiträge in: Goetz/Jarnut/Pohl/Kaschke (ed.), Regna and Gentes. Pohl, Regnum und gens 448 f.; Geary, Myth of Nations 56–62; Goetz, Gens bes. 44–52; ders., Conclusion; Kleinschmidt, Geuissae and Bede 78–88; Werner, Art. Volk 186–193. Eine umfangreiche Materialsammlung zur Begriffsgeschichte bietet auch Dove, Studien zur Vorgeschichte, dessen Interpretationen aber aufgrund der ideologischen Perspektive des Autors mit großer Vorsicht zu behandeln sind. Isid. Sev. Etym. 9.4.5 (populus) und 9.2.1 (gens). Zu letzterer Stelle vgl. Pohl, Strategies of Identification 21; Reimitz, History 9 f.; Martin, Notion de gens 81 f.; Goetz, Gens 44 f. Siehe auch unten Kap. 4.2.

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Ethnischer und christlicher Diskurs in der Spätantike

Israel in religiöser Hinsicht ablöst.17 In den Konzilsakten des 7. Jahrhunderts und den dort überlieferten Treueidformeln bildete die gens gemeinsam mit der hispanischen patria und dem König den Bezugspunkt für die Loyalität der Bevölkerung (pro patriae gentisque Gothorum statu uel conseruatione regiae salutis). Die gens Gothorum bezeichnet die politische Gemeinschaft (bzw. die politische Elite) unabhängig von ihrer tatsächlichen ethnischen Herkunft – sie konnte neben Goten auch Römer und Sueben einschließen. Diese Politisierung des gens-Begriffes beinhaltete sowohl einen territorialen Bezug auf das gesamte regnum bzw. die patria als auch eine religiöse Legitimation.18 Die Neudefinition der ethnischen und politischen Sprache, die durch die schrittweise Loslösung vom politischen und konzeptuellen Rahmen des römischen Reiches notwendig wurde, war jedoch kein linearer und kohärenter Prozess der Bedeutungsentwicklung.19 Einzelne Autoren und Kompilatoren in den postimperialen regna gebrauchten das traditionelle begriffliche Instrumentarium in ihren Texten in jeweils spezifischer Weise, die von den politischen Kontexten und den Anliegen der Autoren gleichermaßen geprägt war, wie die Studien von Helmut Reimitz zur Bedeutung fränkischer Identität nahelegen.20 Für Gregor von Tours, der Ende des 6. Jahrhunderts die Rolle der Franci in der Geschichte des christlichen Galliens so weit als möglich herunterzuspielen versuchte, verloren die unterschiedlichen gentes bei ihrer Integration in das christliche regnum ihre distinktive Bedeutung und verschwanden als Akteure aus dem Narrativ. Er reagierte damit Reimitz zufolge gerade auf die zunehmende Politisierung ethnischer Identität im Allgemeinen und fränkischer Identität im Besonderen, wie sie aus zeitgleich entstandenen Texten hervorgeht.21 Die Kompilatoren der Fredegar-Chronik, die in mehreren Phasen im Lauf des 7. Jahrhunderts arbeiteten, entwarfen hingegen auf der Basis der Chronik des Hieronymus eine Welt aus Völkern, in der den unterschiedlichen gentes eine zentrale Rolle als kollektive Subjekte der Geschichte zugeschrieben wurde. Die gens der Franken nahm als Träger übergreifender politischer

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Wood, Religiones et gentes, zeigt dies für die Chronica maiora; zur Historia Gothorum: Martin, Notion de gens 76–78; Pohl/Dörler, Isidore and the gens Gothorum; Velasquez, Pro patriae gentisque Gothorum statu 185–196. Diese semantische Entwicklung ist richtig gesehen bei Adams, The Political Grammar, der die Gleichstellung von gens und populus bereits für Johannes von Biclar in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts feststellt, dies allerdings wenig hilfreich als Entwertung des populus-Begriffes und als Germanisierung der politischen Sprache bewertet. Martin, Notion de gens 86–88; Esders, Regem iura faciunt 94–96; Velasquez, Pro patriae gentisque Gothorum statu 196–215, sieht Toledo IV als Anfangspunkt der Öffnung des gens-Begriffes über die gotische gens hinaus. Wie Pohl/Dörler, Isidore and the gens Gothorum 140 f. hervorheben, unterscheiden die Akten des IV. Konzils von Toledo, das unter Isidors Federführung abgehalten wurde, zwischen der gens Gothorum und den populi, die ersterer den Treueid schulden. Die ältere Forschung hat diesen Prozess nationalistisch im Sinne einer sukzessiven Emanzipation der „gotischen Nation“ interpretiert, siehe Teillet, Des Goths. Reimitz, Observing Peoples 67 f. Reimitz, History; siehe auch Buchberger, Shifting Identities 107–177. Reimitz, History 74–75.

Politischer Wandel und ethnischer Diskurs

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Herrschaft und Integration einen besonderen Platz ein.22 Der Autor des Liber Historiae Francorum hingegen griff in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts auf die traditionelle Dichotomie zwischen dem (biblischen und römischen) populus und den übrigen gentes zurück, um die besondere Stellung der Franken in der Nachfolge Israels und des römischen populus zu unterstreichen. Das zeigt, dass die konzeptuelle Unterscheidung trotz der Politisierung des gens-Begriffes verfügbar und aktivierbar blieb.23 Analog zu den Entwicklungen im westgotischen Spanien lässt sich mit Reimitz auch für das Frankenreich das 6. und 7. Jahrhundert als entscheidende Phase festmachen, in der sich nicht nur der semantische Spielraum von gens änderte, sondern sich auch Ethnizität – die multipolare Einteilung der Bevölkerung in verschiedene, einander gleichgeordnete Völker – als Prinzip der gedanklichen und politischen Ordnung der lateinischen Welt durchsetzte. Die folgende Untersuchung geht von der These aus, dass für die skizzierte Neudefinition und Neubewertung der gentes der christliche Diskurs von entscheidender Bedeutung war.24 Zwar löste die christliche Identität zumindest vom Anspruch her ethnische und soziale Distinktionen auf. Doch die christliche Bibel enthielt auch wirkmächtige Modelle, die eine ethnische Ordnung der Welt als gottgewollt voraussetzten. In der Tat kann die Bibel als Ausgangspunkt für die zweite ethnographische Tradition der Spätantike und des frühen Mittelalters gelten. Das Alte Testament kennt eine der römischen Ethnographie vergleichbare dichotomische Konzeption von Völkern. Es unterscheidet zwischen Israel als auserwähltem Volk, das durch den Bund mit Gott definiert ist, und den anderen, nichterwählten Völkern, eine Unterscheidung, die in den lateinischen Übersetzungen analog zur römischen politischen Sprache mit populus vs. gentes wiedergegeben wurde.25 Wie im vorigen Kapitel deutlich wurde, ist das biblische Israel ein vielschichtiges Modell, das religiöse, ethnische und politische Aspekte von Zugehörigkeit und sozialer Identität verbindet. Christliche Exegeten und Intellektuelle eigneten sich dieses Modell und die Sprache, die im Bibeltext zur Beschreibung Israels verwendet wird, zur Selbstdefinition christlicher Gemeinschaften an. Zwar vermieden es die Autoren exegetischer Texte in der Regel sorgfältig, direkte Identifikationen zwischen dem biblischen Gottesvolk und einer konkreten politischen Gemeinschaft vorzunehmen. Doch gebrauchten sie die ethnische Terminologie des Bibeltextes, um christliche Gemeinschaften unterschiedlichen Zuschnitts zu beschreiben, von der lokalen Gemeinde an einem bestimmten Ort bis hin zur universalen Gemeinschaft der Christen auf der ganzen Welt. Gleichzeitig richtete sich die Botschaft des Evangeliums an alle Völker (gentes) auf der ganzen Welt (Mt 28.19). Die gentes

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Reimitz, History 222–236. Reimitz, History 269–281. Pohl, Christian and Barbarian Identities 17–26; ders., Christliche Dimension; vgl. auch oben Einleitung. Geary, Myth of Nations 52–56; vgl. zur Terminologie genauer unten 3.3.

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Ethnischer und christlicher Diskurs in der Spätantike

erhielten eine providentielle Rolle in der christlichen Geschichte und wurden so als Akteure legitimiert. Christliche Diskurse konnten daher zum Katalysator für den skizzierten Bedeutungswandel von ethnischer Terminologie und für die Durchsetzung einer ethnischen Ordnung der Welt werden.26 Die Aneignung dieser vom ethnographischen und politischen Diskurs geprägten Wahrnehmungsmuster, mit ihren Implikationen von profaner sozialer Organisation, ethnischem Partikularismus und einer exklusiven Gruppe von Erwählten, erforderte in der christlichen Exegese einen hohen Deutungsaufwand. Gleichzeitig führte dies zu Reflexionen darüber, was ein „Volk“ ausmacht, wodurch seine Zusammengehörigkeit begründet ist und inwiefern es zum Objekt göttlicher Gnade und Erwählung werden kann.27 Wenn Exegeten die Bibel für ihr christliches Publikum auslegten, taten sie das mit dem jeweils gängigen konzeptuellen und sprachlichen Werkzeug. Sie verknüpften den biblischen Text also mit dem politischen und ethnischen Vokabular ihrer eigenen Zeit. In der Exegese lässt sich deshalb nachvollziehen, wie der semantische Spielraum von Begriffen wie gens, populus, natio, die zur Beschreibung kollektiver Akteure in anderen Textsorten wie Chroniken und Geschichtsbüchern, Hagiographie und Gesetzestexten auftauchen, erläutert und dabei auch neu ausgehandelt wurde. Exegetische Texte erlauben deshalb einen außergewöhnlich differenzierten Zugriff auf den Bedeutungsspielraum und den Gebrauch der Terminologie kollektiver Identität, der in anderen Textgattungen schwieriger zu erschließen ist. Gleichzeitig lässt sich anhand dieser Quellen die Wechselwirkung zwischen ethnischen, politischen und religiösen Bedeutungsebenen der Begriffe zu untersuchen. Für eine Untersuchung der Terminologie der kollektiven Identität im Spannungsfeld zwischen exegetischem und ethnischem Diskurs eignet sich Cassiodors Psalmenkommentar besonders gut. Einerseits warfen die justinianischen Kriege in Afrika und Italien zu genau dem Zeitpunkt, als der Kommentar um die Mitte des 6. Jahrhunderts entstand, vehement die Frage nach der politischen Rolle der westlichen gentes im Verhältnis zum Imperium auf. Die zur selben Zeit geführten Debatten um die orthodoxe Christologie zeigen andererseits einen Prozess, in dem imperiale und christliche Identitäten immer stärker aneinander angenähert wurden und damit die Spielräume für Gruppen, die nicht der imperialen Orthodoxie folgten, enger wurden.28 Der exegetische Umgang mit den gentes und ihre Positionierung im Verhältnis zu einem christlichen Gottesvolk besaß daher auch aktuelle politische und theologische Relevanz.

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Pohl, Strategies of Identification 32–38; ders., Christian and Barbarian Identities 17–26; ders., Disputed Identifications; de Jong, State of the Church 245–248; Maas, Barbarians 67 f.; Heydemann, Biblical Israel. Heydemann, People(s) of God; Dies., Biblical Israel. Leppin, Justinian 97–106, 299–303; Meier, Das andere Zeitalter 198–215; Noethlichs, Orthodoxy and the Persecution of Heretics. Zu den theologischen Kontroversen unten Kap. 6–7.

Cassiodor und die politische Rolle der gotischen gens: Die Variae

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Zudem haben wir es bei Cassiodor mit einem Exegeten zu tun, der mit den ethnographischen Diskursen seiner Zeit bestens vertraut war. Für seine nicht mehr erhaltene Geschichte der Goten hatte er sich intensiv mit dem vorhandenen Material der römisch-ethnographischen Tradition auseinandergesetzt.29 Die in den Variae gesammelten Briefe, die er im Auftrag Theoderichs und seiner Nachfolger verfasste, zeigen, dass Cassiodor die ethnische Terminologie sehr gezielt und nuanciert einzusetzen verstand. 3.2 Cassiodor und die politische Rolle der gotischen gens: Die Variae Die gemeinsame Botschaft der verschiedenen diplomatischen und administrativen Stücke, die Cassiodor in den Variae sammelte und nach dem Ende seiner Tätigkeit am ostgotischen Hof veröffentlichte, bestand vor allem darin, die Konformität der gotischen Herrschaft in Italien mit römischen politischen und rechtlichen Traditionen zu belegen und dadurch ihre Legitimität zu unterstreichen.30 In den Variae erscheinen Römer und Goten als zwei distinkte Gruppen, die im sozialen Gefüge des Reiches jeweils unterschiedliche Funktionen übernehmen. Die Goten stellen das Heer und garantieren die Verteidigung des Landes, wodurch sie den Römern ein friedliches Leben in einer geordneten res publica ermöglichen, deren zivile Verwaltung letztere übernehmen. „Das Lob der Goten ist es, wenn die civilitas bewahrt wird“, heißt es zum Beispiel in einer vielzitierten Formulierung aus einem Brief an den comes von Syracus, Gildila, der wegen seiner mangelhaften Amtsführung zurechtgewiesen wurde. Cassiodor setzte hinzu: „Ihr sollt das Recht mit den Waffen verteidigen und es den Römern erlauben, im Frieden der Gesetze Prozesse zu führen.“31 Im Formular für die Einsetzung eines gotischen comes civitatis formulierte Cassiodor die ideale Beziehung zwischen den beiden Gruppen folgendermaßen:

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Vgl. oben Kap. 1.1 (Anm. 24). Zum politischen Programm der romanitas in den Variae, das eng mit dem apologetischen Charakter der Sammlung verknüpft ist, siehe ausführlich Kakridi, Cassiodors Variae bes. 296–347; Barnish, Roman Responses; Moorhead, Libertas and nomen Romanum; Vitiello, Il principe 45–68, 82–90; Giardina, Cassiodoro politico 25–46, und Bjornlie, Politics and Tradition 26–34 und 306–328, akzentuieren dabei stärker die Legitimation der römischen Beamtenschaft als der gotischen Könige selbst als Ziel Cassiodors, insbesondere mit Blick auf Theodahad und Witigis, von denen er sich subtil distanzierte. Vgl. weiters Wiemer, Theoderich 55 f.; Krautschick, Cassiodor 140 f. und 127–130 zu Theodahad; Reydellet, La royauté 192–197; Radtki-Jansen, Ein Herrscher und seine Schreiben betont die Rolle der Variae als Instrument der Herrschaftsdarstellung Theoderichs. 31 Cassiod. var. 9.14.8: Gothorum laus est civilitas custodita. […] Vos armis iura defendite. Romanos sinite legum pace litigare. Zum Ideal der civilitas und Rechtsstaatlichkeit siehe Kakridi, Cassiodors Variae 327–347; Stüven, Rechtliche Ausprägungen der civilitas; Saitta, La civilitas; Reydellet, Théoderic et la civilitas; Martino, Gothorum laus.

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Ethnischer und christlicher Diskurs in der Spätantike

Eine gemeinsame Lebensweise möge Euch vereinen, die ihr unter einer Herrschaft seid. Es sollen also beide Völker (populi) hören, was wir genehm finden. Die Römer sollen euch genauso in der Liebe verbunden sein, wie sie eure Nachbarn als Grundbesitzer sind. Ihr aber, Römer, müsst mit großem Eifer die Goten lieben, die sowohl euch die Bevölkerung im Frieden vermehren als auch den gesamten Staat im Krieg verteidigen.32

In einem Schreiben, das Cassiodor zum Amtsantritt von Theoderichs Nachfolger Athalarich in dessen Namen an den römischen populus richtete, bekräftigte er diese Aufgabenteilung als Wunsch auch des neuen Herrschers: […] [dass] für Goten und Römer bei uns ein gemeinsames Recht gelten und zwischen euch nichts getrennt sein soll, außer, dass jene sich zum gemeinsamen Nutzen den Mühen des Krieges unterziehen, euch aber ein ungestörtes Bewohnen der Stadt Rom vermehrt.33

Dieses Modell der funktionalen Teilung, das in den Variae mehrfach wiederholt und betont wird,34 ist in der modernen Forschung viel diskutiert und unterschiedlich interpretiert worden. Für Patrick Amory handelt es sich um „ethnographic ideology“, die eine viel komplexere soziale Realität verdecke, in der weder das gotische Heer eine ethnisch homogene Gruppe dargestellt habe noch die Grenze zwischen römischen Zivilisten und gotischen Kriegern so klar verlaufen sei, wie es die Variae und andere im Umfeld des ostgotischen Hofes produzierte Texte suggerieren. Amory sieht die Vorstellung, dass es sich bei den Goten um eine ethnische Gruppe mit einem stark ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühl handelte, als eine rhetorische Konstruktion Theoderichs und seiner politischen Berater an.35 Diese Thesen sind in der Forschung zurecht kritisiert worden, doch gebührt Amory das Verdienst, den einfachen Gegen32 Cassiod. var. 7.3.2–3: Unum vos amplectatur vivendi votum, quibus unum esse constat imperium. audiat uterque populus quod amamus. Romani vobis sicut sunt possessionibus vicini, ita sint et caritate coniuncti. vos autem, Romani, magno studio Gothos diligere debetis, qui et in pace numerosos vobis populos faciunt et universam rem publicam per bella defendunt. Vgl. die Übersetzung bei Wiemer, Theoderich 211; Meyer-Flügel, Das Bild der ostgotisch-römischen Gesellschaft 119 übersetzt quibus unum esse constat imperium mit „die ihr ein gemeinsames Herrschaftsgebiet habt“. 33 Cassiod. var. 8.3.4: […] Gothis Romanisque apud nos ius esse commune nec aliud inter vos esse divisum, nisi quod illi labores bellicos pro communi utilitate subeunt, vos autem habitatio quieta civitatis Romanae multiplicat. Übers. Wiemer, Von Theoderich zu Athalarich 289. 34 Außer den bereits zitierten Stellen Cassiod. var. 8.26.4; 12.5.4 und 7.4.3; vgl. für eine Zusammenstellung der Belege Meyer-Flügel, Das Bild der ostgotisch-römischen Gesellschaft 140–144; Swain, Gothic Identity 216. 35 Amory, People and Identity bes. 43–85. Dabei ging Amory davon aus, dass das Ideal der civilitas und der funktionalen Teilung zwischen Römern und Goten, wie es von hofnahen Autoren wie Cassiodor oder Ennodius propagiert wurde, im Gegensatz zur Betonung der gotischen gens, ihrer militärischen Stärke und der amalischen Traditionen in der Spätphase der gotischen Herrschaft gestanden habe. Doch waren beides komplementäre Strategien, um die Rolle und die Fähigkeit einer gens zur Herrschaftsausübung in einem römischen Staat zu demonstrieren. Vgl. die Kritik an Amory bei Kakridi, Cassiodors Variae 293–325 und 339–347 mit Anm. 193; Arnold, Theoderic 163 n. 93, 172.

Cassiodor und die politische Rolle der gotischen gens: Die Variae

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satz zwischen zwei homogenen Gruppen, „Goten“ und „Römern“, nachhaltig in Frage gestellt zu haben.36 Die Debatte über die Bedeutung gotischer Identität in Theoderichs Italien ist alles andere als abgeschlossen.37 So haben in den letzten Jahren etwa Jona­ than Arnold und Hans-Ulrich Wiemer zwei sehr unterschiedliche Modelle formuliert. Arnold, der von einer nahezu nahtlosen Kontinuität zwischen Theoderichs Regime und römisch-imperialen Traditionen ausgeht, bietet eine extrem romanistische Lesart der Variae (und anderer hofnaher Texte). Ihm zufolge waren die Goten sehr stark romanisiert und auch ihre militärische Rolle lässt sich als „römisch“ deuten. Arnold argumentiert, dass die (rein funktionale) Unterscheidung zwischen römischen Zivilisten und gotischen Militärs mit Fortdauer der ostgotischen Herrschaft zunehmend an Schärfe verlor.38 Hans-Ulrich Wiemer hingegen hat aus der Rhetorik der funktionalen Teilung ein Herrschaftsprogramm Theoderichs abgeleitet, das er mit der prägnanten Formel „Integration durch Separation“ charakterisiert. Demnach war es Theoderichs Ziel, eine „soziale Scheidewand“ zwischen Goten und Römern zu errichten und die beiden Gruppen dauerhaft getrennt zu halten. Die durch die militärische bzw. zivile Funktion gegebene Unterscheidung sieht Wiemer durch weitere Faktoren verstärkt, zu denen die Trennung zwischen militärischer und ziviler Verwaltung und Rechtsprechung, die Sprachbarriere, aber auch die religiöse Differenz zwischen (mehrheitlich) gotischen Homöern und römischen Nicänern gehörten. Dabei basierte die politische Strategie Theoderichs Wiemer zufolge auf einem bereits vorhandenen und stark ausgeprägten Gefühl der Zugehörigkeit unter den Goten, das zunächst vor allem durch die gemeinsame militärische Erfahrung begründet war.39 Um das Prestige und die soziale Dominanz einer zahlenmäßig relativ geringen gotischen Elite zu erhalten, waren Strategien der Integration und der Konsensbildung ebenso notwendig wie Strategien der Distinktion. Römer und Goten konkurrierten sowohl untereinander als auch miteinander um Zugang zum König sowie um Macht und Ämter, und ihre Homogenität als Interessensgruppen sollte nicht überschätzt werden.40 In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass die Variae Teil eines Diskurses über die Goten bildeten, in dem über ihre Rolle und ihren Status als Gruppe innerhalb der römischen Welt und des italischen regnum verhandelt wurde. Dabei war die Rhetorik der funktionalen Teilung in den Variae auch mit einer Rhetorik des Konsenses zwischen den beiden Gruppen verbunden. So betonte das Schreiben Athalarichs die 36

Zur Auseinandersetzung mit den Thesen Amorys siehe insbes. Heather, Merely an Ideology?; ders., Gens and regnum. Einen Überblick über die Diskussion gibt Swain, Gothic Identity. 37 Zuletzt Swain, Gothic Identity; Pohl, Gotische Identitäten. 38 Arnold, Theoderic bes. 117–174. 39 Wiemer, Theoderich bes. 193–231 („soziale Scheidewand“: ebda. 197); ders., Integration durch Separation. Zur Diskussion um die Funktion des homöischen Bekenntnisses als Marker ethnischer Differenz siehe unten Kap. 6.2. 40 Heather, Goths 237–244; Moorhead, Theoderic 71–75; 144–158; Wiemer, Theoderich 196, 229–31.

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Ethnischer und christlicher Diskurs in der Spätantike

Rechtsgemeinschaft und Einheit von Goten und Römern trotz der Aufgabenteilung; im selben Text beschwor Cassiodor auch den „höchst angenehmen Konsens der Goten und Römer“ zur Herrschaft des neuen Königs, den beide Gruppen durch einen feierlichen Treueid bekräftigten.41 Die Formel für den gotischen comes enthält ebenfalls den Hinweis auf die gemeinsame Lebensweise unter einer gemeinsamen politischen Herrschaft (imperium), sowie auf die Beziehung der caritas zwischen Römern und Goten, die sich aus dem engen sozialen Kontakt als Landbesitzer ergab.42 Das vielleicht bekannteste Beispiel für diese Argumentation ist die Beschreibung der erfolgreichen Durchführung der Ansiedlung des gotischen Heeres durch Liberius. Das Ergebnis von Liberius’ umsichtiger Vorgangsweise war Cassiodor zufolge, dass Landgüter und Geister von Goten und Römern (possessiones und animi Gothorum Romanorumque) in Harmonie verbunden wurden; ein einheitliches Recht und eine einheitliche Lebensweise (una lex, una disciplina) stellten die Freundschaft zwischen den beiden Völkern (populi) sicher.43 Hierbei ist Cassiodors Aneignung dieser (ciceronischen) Sprache ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass er sie gleichberechtigt auf beide Gruppen bzw. auf das gesamte regnum anwandte.44 Die Rhetorik der funktionalen Teilung in den Variae zielte darauf ab, die gesellschaftliche Funktion der Goten als komplementär zu jener der römischen Zivilgesellschaft darzustellen. Gleichzeitig unterstrich Cassiodor in den Variae auch die romanitas, die römischen Qualitäten, der Goten.45 Die Goten übertrafen alle anderen nicht-römischen gentes dadurch, dass sie als einzige die Vorzüge einer barbarischen gens, insbesondere die militärische Stärke (virtus), mit römischen Tugenden und kulturellen Errungenschaften zu verbinden wussten. Sie zeichneten sich durch ihre Fähigkeit aus, römisches Recht und eine staatliche Ordnung zu akzeptieren, ebenso wie durch ihre Kenntnis von römischer Kultur und Bildung. „Die Goten haben sich immer derart im Zentrum des Lobes befunden, weil sie sowohl die Weisheit der Römer er41 Cassiod. var. 8.3.3: Gothorum Romanorumque suavissisimus consensus in regnum nostrum. Zum Treueid auf Athalarich und seinen römischrechtlichen Grundlagen siehe Esders, Rechtliche Grundlagen 429 f.; zu den Legitimationsstrategien im Kontext des Herrschaftsübergangs auf Athalarich Wiemer, Von Theoderich zu Athalarich. 42 Oben Anm. 32. 43 Cassiod. var. 2.16.5. Vgl. auch 7.3.3: Goten und Römer, als utraeque nationes bzw. uterque populus, sind durch pax communis, caritas und amicitia vereint, ebenso wie durch den wechselseitigen Respekt von Rechtsnormen und civilitas; 3.13.2 (Rechtseinheit). Wie Kakridi, Cassiodors Variae 317 f. bemerkt, beschreiben die Variae die Beziehungen zwischen Goten und Römern mitunter auch in verwandtschaftlichen Begriffen. 44 In diesem Zusammenhang ist auch auf die Bedeutung von Konzepten wie libertas (z. B. Cassiod. var. 1.32.1; 4.4.5; 10.33.3; 12.5.6) oder utilitas communis/publica (var. 1.17.1; 1.24.1; 3.24.2; 8.3.4) hinzuweisen. Dazu Kakridi, Cassiodors Variae 327–347; vgl. Reydellet, La royauté 207 f. und 221–224; Moorhead, Libertas and nomen Romanum; Reydellet, Théoderic et la civilitas; Suerbaum, Staatsbegriff 24–31. 45 Kakridi, Cassiodors Variae 296–236; Arnold, Theoderic 126–137; Teillet, Des Goths 286–290, die darin eine Überordnung der Goten über die Römer erkennen will.

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fassten als auch die Kriegstüchtigkeit der gentes besaßen“ – so fasste Cassiodor die Stellung der Goten in einem Schreiben an den comes Colosseus in Pannonien, der alten sedis der Goten, deren Kontrolle Theoderich zur Zeit der Abfassung des Stückes gegen imperiale Interventionen zu verteidigen hatte, zusammen.46 Der comes selbst solle Gerechtigkeit walten lassen, damit die iustitia der Goten sich von den herabgekommenen Sitten der anderen nationes abheben möge. So leiteten wir unsere Goten mit Gottes Hilfe an, dass sie sowohl in der Kriegskunst geübt sind als auch in Gerechtigkeit geschult. Das ist etwas, das die übrigen gentes nicht besitzen können: das ist etwas, das euch einzigartig macht, wenn ihr, die ihr kriegsgewohnt seid, offenkundig mit den Römern den Gesetzen entsprechend lebt,

schrieb Cassiodor in einem Brief an einen comes bezüglich des ihm zugeordneten Büroleiters.47 In einem Schreiben, das Cassiodor im Namen des römischen Senats am Vorabend des Gotenkrieges an Justinian richtete, rief eine personifizierte Roma dem Kaiser in Erinnerung, dass Italien anders als Nordafrika nicht auf imperiale Truppen angewiesen sei, um die römische libertas wiederherzustellen, die vielmehr unter gotischer Herrschaft ebenso floriert habe wie der nicänische Glaube.48 In Übereinstimmung mit der Herrschaftsideologie des Theoderich beschrieb Cassiodor in den Variae also eine politische Ordnung, die auf dem Konsens und der Interessensgemeinschaft zwischen Römern und Goten basierte, und benutzte dafür die traditionellen Begriffe der römischen politischen Sprache. Es handelt sich um eine Rhetorik der Kompatibilität, die die Goten als legitime Träger der politischen Ordnung und respektable Partner der Römer etablieren sollte.49 Während Cassiodor die klassischen Stereotypen von der Unzivilisiertheit, Rechtlosigkeit und Wildheit der

46 Cassiod. var. 3.23.3: [Gothi] sic semper fuerunt in laudum medio constituti, ut et Romanorum prudentiam caperent et virtutem gentium possiderent. Zur Paarung prudentia – virtus in den Variae, die sich auch in Jordanes’ Getica beobachten lässt, und ihren politischen Implikationen siehe Vitiello, Il principe 82–100; zur gotischen virtus in den Variae auch Moorhead, Cassiodorus on the Goths, der dies als Distinktionsmerkmal der Goten gegenüber den Römern versteht. Arnold, Theoderic 134–136 ordnet hingegen auch die virtus der Goten in den Diskurs der Romanisierung ein. 47 Cassiod. var. 7.25.1: sic enim Gothos nostros deo iuvante produximus, ut et armis sint instructi et aequitate compositi. Hoc est quod reliquae gentes habere non possunt: hoc est, quod vos efficit singulares, si assueti bellis videamini legibus vivere cum Romanis. Vgl. 8.26.2–3: Goten besitzen ein Rechtssystem und die dazugehörige disciplina; ihre moralische Rechtschaffenheit und ihre aequitas bilden die Grundlage auch für militärische Erfolge und stellen das nötige göttliche Wohlwollen sicher. Vgl. auch 3.17.1, an die gallischen Provinzialen, wo – ironischerweise – die Goten dafür verantwortlich sind, die romanitas nach Gallien zurückzubringen. Dies beinhaltet die Wiederherstellung von libertas und mores togatae, vor allem aber des römischen Rechtssystems (iuridicae mores; iura publica). 48 Cassiod. var. 11.13.3 und 5. 49 Dies war freilich nur eine mögliche Sichtweise. Für konkurrierende Deutungen der Rolle der Goten innerhalb des regnum Italiae und der Beziehungen zum römischen Imperium siehe Amory, People and Identity 109–148; Moorhead, Theoderic 82 f.; ders. Libertas and nomen Romanum.

220

Ethnischer und christlicher Diskurs in der Spätantike

Barbaren durchaus verwendete, um andere nicht-römische gentes zu beschreiben, waren die Goten in den Variae eindeutig keine Barbaren: sie transzendierten die ethnographische Trennlinie zwischen Römern und Barbaren.50 Dazu passt, dass Cassiodor es in den Variae auch vermied, von einer gens Gothorum zu sprechen: zwar bezeichnet gens an einigen Stellen klar die Goten, doch ist der Begriff fast nie mit dem Ethnonym verbunden und kommt insgesamt überraschend selten vor.51 Der gens-Begriff wird in den Variae meist im Plural für andere, gegebenenfalls feindliche, Völker benutzt, die von den Goten unterschieden sind.52 Dies bedeutet nicht, dass Cassiodors gens-Konzept unklar war oder er unsicher war, ob die Goten überhaupt eine gens seien, wie Moorhead vermutet hat.53 Vielmehr suggerierte Cassiodor, dass die gotische gens einem populus in römischer Tradition ähnelte.54 In diesem Sinn konnte Cassiodor Römer und Goten gemeinsam als uterque populus oder utraque natio bezeichnen.55 In den Variae löste Cassiodor also die konzeptuelle Dichotomie, die einen (römischen) populus den (barbarischen) gentes gegenüberstellte, auf. Zwar negierte er nicht die Unterschiede zwischen Römern und Goten; er argumentierte nicht, dass die Goten ihren Status als gens verloren hatten oder ablegen sollten. Sehr wohl aber suggerierte er die Vereinbarkeit zwischen der Herrschaft dieser gotischen gens und römischen Vorstellungen von Staatlichkeit und gerechter politischer Ordnung. Darauf gründete

50 Wie Meyer-Flügel, Das Bild der ostgotischen Gesellschaft 53–65 herausarbeitet, bezeichnet Cassiodor die Goten nirgends mit dem Barbarenbegriff; vgl. Moorhead, Theoderic 81 f.; Arnold, Theoderic 133–137. Im Gegensatz dazu wird im Edictum Theoderici zwischen Römern und Barbaren (nicht: Goten) unterschieden, wobei der letztere Begriff eine stark militärische Konnotation aufweist: Ubl, Edictum 228; Wood, The Term >barbarusbarbarus< in Fifth-, Sixth- and Seventh-Century Gaul, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41/4 (2011) 39–50. Ders.: Christianisation and the Dissemination of Christian Teaching, in: The New Cambridge Medieval History 1, c. 500–c. 700, ed. Paul Fouracre (Cambridge 2005) 710–734. Wood, Jamie: Religiones and gentes in Isidore’s Chronica Maiora, in: Post-Roman Transitions. Christian and Barbarian Identities in the Early Medieval West, ed. Walter Pohl / Gerda Heydemann (CELAMA 14, Turnhout 2013) 125–168. Ders.: The Politics of Identity in Visigothic Spain. Religion and Power in the Histories of Isidor of Seville (Brill’s Series on the Early Middle Ages 21, Leiden 2012). Wolfe, Brendan: The Bologna Fragments and Homoianism, in: Le palimpseste gotique de Bologne. Études philologiques et linguistiques – The Gothic Palimpsest from Bologna Philological and Linguistic Studies, ed. Anita Auer / Michiel de Vaan (Lausanne 2016) 99–110. Wyrwa, Dietmar: Drei Etappen der Rezeptionsgeschichte des Konzils von Chalkedon im lateinischen Westen, in: Chalkedon. Geschichte und Aktualität. Studien zur Rezeption der christo­ logischen Formel von Chalkedon, ed. Johannes van Oort (Patristic Studies 4, Leuven 1998) 147–189. Young, Frances M.: From Nicaea to Chalcedon. A Guide to the Literature and its Background (London 22010). Dies.: Interpretation of Scripture, in: Oxford Handbook of Early Christian Studies, ed. Susan Ashbrook Harvey / David G. Hunter (Oxford 2008) 845–863. Dies.: Biblical Exegesis and the Formation of Christian Culture (Cambridge 1997, Nachdruck Peabody-MA 2002). Dies.: Typology, in: Crossing the Boundaries. Essays in Biblical Interpretation in Honour of Michael D. Goulder, ed. Stanley E. Porter / Paul Joyce / David E. Orton (Leiden/New York/Köln 1994) 29–48. Dies.: The Rhetorical Schools and their Influence on Patristic Exegesis, in: The Making of Orthodoxy. Essays in Honour of Henry Chadwick, ed. Rowan Williams (Cambridge 1989) 182–199. Yuval, Israel Jakob: Two Nations in Your Womb. Perceptions of Jews and Christians in Late Antiquity and the Middle Ages (Berkeley 2006). Zahnd, Ueli: Novus David, in: FmSt 42 (2008) 71–87.

500

Verzeichnisse

Zientara, Benedykt: Populus – Gens – Natio. Einige Probleme aus dem Bereich der ethnischen Terminologie des frühen Mittelalters, in: Nationalismus in vorindustrieller Zeit, ed. Otto Dann (München 1986) 11–20. Zill, Rüdiger: „Substrukturen des Denkens“. Grenzen und Perspektiven einer Metapherngeschichte nach Hans Blumenberg, in: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, ed. Hans Erich Bödeker (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Göttingen 2002) 210–258.

Websites , aufgerufen 11. März 2021. , aufgerufen 4. März 2021. , aufgerufen 4. März 2021.

Personen- und Ortsregister

501

Personen- und Ortsregister (ps.) Arnobius, d. Jüngere  31, 40, 155247, 254, 285, 290 f., 299–301, 315, 326, 436 (ps.) Fredegar, Geschichtsschreiber  212 (ps.) Rufinus, Übersetzer des Fl. Josephus  61, 154244 Aaron (bibl.)  128 f., 131 Abiram (bibl.)  129, 131 Abraham (bibl.)  104 f., 120, 123, 133144, 183, 222, 237, 241, 255, 263, 265, 269, 280, 282, 293, 300126, 301130 Abschalom (bibl.)  175 Adams, Jeremy DuQuesnay  229 Aetius, mag. mil.  335 Agapet I., Papst  48, 60, 306, 34559, 34661, 381 Agosto, Mauro  63 Alarich I., got. König 149 Amalasuntha, got. Königin  47, 85211, 309, 342 Ambrosius, Bf. von Mailand  31, 71, 85, 107, 139 f., 156, 320, 359 f., 363, 368, 370197, 374, 378, 385, 388, 415, 417, 419183 Ambrosius, Quästor  83200, 97 Amory, Patrick  342 Amphilochius, Bf. von Ikonium  415 f. Anastasios, Ks.  17, 307160, 378 Anonymus Valesianus  142190, 196, 344 f., 423 Antalas, Anführer der Frexes  181 Anthimus,PatriarchvonKonstantinopel  34661 Antiochia  70, 178, 3773 Antiochus IV. Epiphanes  155 f. Apollinaris, Bf. von Laodicea  403, 415 Aquileia 380 Arator, Dichter  97, 99, 196 Arius  194, 196, 311, 334, 33823, 346, 348, 362, 376, 38538, 423 Arnold, Jonathan  217 Asaph (bibl.)  79, 89, 118, 145201, 146 f., 150, 152 f., 155, 157–159, 162–175, 179–181, 183, 187 f., 201, 259 f., 312, 423, 425204, 426, 432, 434 Astell, Ann  37, 63, 77, 80, 167 Athalarich, got. Kg.  47, 51, 83, 135156, 216, 21841, 309, 341, 345 Athanasius, Bf. von Alexandria  95, 388, 393, 414

Verzeichnisse

Augustinus, Bf. von Hippo  28, 30 f., 37, 40, 54, 46, 65, 68115, 69, 71, 72140, 78, 80, 85, 89, 93252, 94258, 95262 f., 106–108, 11252, 121, 128–131, 132138, 133143–146, 134151, 140182, 147, 149 f. 153, 156, 158263, 160, 165, 171 f., 176, 184, 191, 198–200, 236, 244, 246, 254–256, 258, 261, 262 f., 265, 267, 269, 272, 283–285, 291–301, 303 f., 311, 318–321, 323, 349, 352, 355114, 357127, 358 f., 361, 363, 368–372, 374 f., 378, 385, 388–391, 402, 405, 408, 415, 436 Auxentius, Schüler Wulfilas  349 f., 362156 Avienus, Rufius Magnus Faustus Iunior, praef. praet. 135156 Avitus, Bf. von Vienne  351, 353, 358, 375 Babylon  244, 247, 316 Barnish, Samuel  5339, 54, 56, 62, 66, 84, 144, 380, 385 f. Basilius, Bf. von Ancyra 335 Basilius, Fl. Anicius Faustus Albinus, cos. 541  98 Batsheba (bibl.)  139 Beda Venerabilis  27, 2864, 46, 66, 72, 436 Belisar, Feldherr  47, 151 f., 154, 177, 180, 305151, 307–309 Bjornlie, Shane  52, 77, 161274 Blumenberg, Hans  78, 95, 112, 116 Boethius, Anicius Manlius Severinus, cos. 510  47, 49, 55, 100, 346, 394, 397, 426206 Bonifatius II., Papst  Erstnennung 345 Borgomeo, Pasquale  297109 Brown, Peter  84, 102, 293, 377 Brubaker, Rogers  32, 3492 Buell, Denise  224 Caesarius, Bf. von Arles  145200, 300 Cameron, Averil  23, 56 Cassian, Johannes  69, 300 Cassiodor senior, praef. praet. 503–507 47 Cethegus, Fl. Rufinus Petronius Nicomachus, cos. 504  49, 54 f., 5659, 98 Cicero  54,82 f., 85, 89230, 94, 112, 11355, 158261, 166 f., 209, 211, 218, 238, 254, 267 Cohen, Jeremy  193 Cohen, Samuel  345, 347 Colosseus, comes  219

502

Verzeichnisse

Corippus (Gorippus), Dichter  179–182, 186, 309–311, 432 Courcelle, Pierre  60 Cyrill, Bf. von Alexandria  70, 376, 377–379, 38226, 388, 390–393, 402, 409–412, 414–416, 420, 430 Darius I., Perserkg.  462 Datan (bibl.)  129 David (bibl.)  139–142, 175, 203, 238, 255, 279, 34244, 363, 402, 421 De Jong, Mayke  29 De Simone, Paolo  63 Deuterius von Mailand, Grammatiker  99 Didymus (d. Blinde), Exeget  70, 363, 383 Diodor, Bf. von Tarsus  70 Dionysius Exiguus  47, 38643 Duda, saio  83 Eco, Umberto  112 Elm, Susanna  101 Ennodius, Magnus Felix, Bf. von Pavia  19, 84202, 99, 21635, 340, 342 Epiphanius Scholasticus  55, 97268, 385, 430 Eugippius, Abt von Lucullanum  145200 Eunomius, Bf. von Cyzicus  335, 33823, 351 Eureleva, Mutter Theoderichs d. Gr.  344 Eusebius, Bf. von Caesarea  137, 147, 153, 25567, 258112 Eutharich, Schwiegersohn Theoderichs  50 f., 34664 Eutyches, Theologe  197,304148, 318, 377, 388 f., 391 f., 395 Facundus, Bf. von Hermiane  54, 58, 98, 37911, 381 f., 399102, 400, 415 f. Faustus Iunior Niger, Fl. Anicius Probus, cos. 490 100 Faustus von Mileve  106 Faustus, Bf. von Riez  353, 358 Felix IV., Papst  341 Felix, Quästor  82, 83200 Fiedrowicz, Manfred  292 Fishbane, Michael  74 Flavius Josephus  55, 61, 153 f. Fortunatian, Grammatiker  82 Foucault, Michel  35 Fredriksen, Paula  106 Fritigern, terwing. Heerführer  33927 Fulgentius, Bf. von Ruspe  303, 399102

Gärtner, Judith  119 Geiserich, vand. Kg.  178, 340 Gelasius I., Papst  303147, 34137, 347 Genua 203 Georg, Bf. von Laodicäa  355 Germinius, Bf. von Sirmium  355 Giardina, Andrea  51 f., 81 Gildas 1028 Gildila, comes  215 Gregor I., Papst (der Große)  27, 5426, 131131, 134148, 415167, 436 Gregor, Bf. von Tours  212 Gryson, Roger  355 f. Gudila, homöischer (?) Bf.  34036 Gumerlock, Francis  299, 301 Gundobad, burg. Kg.  34348, 35297, 358 Hadrian, Exeget  71 Hahner, Ursula  71 Halporn, James  58, 63, 64100 Heil, Uta  351 f., 358, 375 Herakleios, Ks.  139 Hieronymus  71, 100, 212, 228–230, 232, 236, 239, 253 f., 260, 268, 316206, 388 Hilarius, Bf. von Poitiers  30 f., 40, 64, 71132, 253, 285–291, 318, 326, 359, 363, 368, 372–375, 388, 417, 424197, 436 Hiob (bibl.)  79 Hippo Regius  149214 Holtz, Louis  60 Honoratus, Korrespondent des Augustinus  371 Hormisdas, Papst  34559, 398 Hunerich, vand. Kg.  340, 351 Hwang, Alexander  301 Ibas, Bf. von Edessa  42, 55, 379, 400 Irvine, Martin  68, 70 Isidor, Bf. von Sevilla  27, 101 f., 142192, 211, 249, 436 Jerusalem  69, 123, 147 f., 154–156, 168, 187, 201, 258111, 38956 Johannes Chrysostomus, Bf. von Konstantinopel  55, 70, 388, 415167 Johannes I., Papst  340, 345 f. Johannes II., Papst  381, 393, 398 Johannes Lydus, praef. praet. (oström.)  135153 Johannes Malalas  154

Personen- und Ortsregister

Johannes Maxentius (scyth.), Theologe  39368, 39687 Johannes Troglita, Feldherr  179–182, 310 Johannes, Bf. von Biclar  21217 Johannes der Täufer (bibl.)  354 Johnson, Mark  113 Jordanes  19, 50, 54, 56, 21946, 308164, 327, 339, 38537 Joseph (bibl.)  134–139, 141, 144, 183, 426, 434 Jouanaud, Jean–Louis  97 Judas Ischariot (bibl.)  190 f., 194–196 Julian, Bf. von Eclanum  260, 299121, 38332 Junillus Africanus, Quästor (oström.) 54, 71, 99, 161, 182 f., 382–384 Justin Märtyrer  10619, 22567 Justin I., Ks.  340, 345, 378, 398 Justin II., Ks.  310 Justina, Ks.in  156 Justinian I., Ks.  18, 21 f., 37 f., 40–42, 52, 56–58, 84204, 94254, 97 f., 102, 135153,140 f., 154, 161, 177356, 179, 186 f., 202, 204, 214, 219, 285, 305–308, 310, 314, 318, 325 f., 334, 340, 34348, 344, 34661, 376, 378–382, 38330, 385 f., 391, 393 f., 396–400, 402 f., 405, 410, 419–422, 424, 429–432, 434 f. Kain (bibl.)  107, 129124, 183 Kaiphas (bibl.)  256104 Kant, Immanuel  93251, 112 Karthago  101, 149214, 152232, 182, 298114, 352 Konstantin, Ks.  24, 137, 38538 Konstantinopel  14, 20, 46 f., 50, 52–57, 59, 61, 6283, 64, 65101, 66, 97–100, 138167,154, 182, 308, 327, 329, 337, 340, 345, 347, 380, 38125, 382, 385, 393, 420, 428 f., 430, 435, 437 Korach (bibl.)  129 Kreiner, Jamie  29 Lakoff, George  113 Leo I., Papst  378, 38226, 38330, 385, 388–391, 393, 399102, 420, 430 Leo I., Ks.  388 Leppin, Hartmut  139 Liberatus, Bf. von Karthago  54, 56, 98, 382 Liberius, Petrus Marcellinus Felix, praef. praet., patricius  98, 218, 303 Liberatus, Tribun in Nordafrika  180 Maas, Michael  23, 226, 382 f., Mailand 5235, 107, 151, 203, 34737, 380

503

Mani 423 Marcellinus Comes  306 f. Markell, Bf. von Ancyra  374 Markion, Theologe  106 Martin, hl.  424197 Mathatias (bibl.)  138170, 155 f., 162, 171 Maxentius (scyth.)  s. Johannes Maxentius Maximinus, homöischer Bf.  349 f., 369 Maximus, Bf. von Turin (ps.)  354 Maximian, Bf. von Ravenna  34663 Mazza, Mario  56 Meier, Mischa  20, 434 Meriba (bibl.)  138 Merrills, Andrew 182 Modéran, Yves  351,349184 Momigliano, Arnaldo  5024 Moorhead, John  220 Morin, Germain (OSB)  299 Moses (bibl.)  24, 79, 90, 94, 96, 101, 119, 128–132, 134, 137–139, 141, 172, 237 f., 258 f., 287, 434 Neapel  151 f., 309 Nebukadnezor II., babylon. Kg.  1021, 155247 Nestorius, Patriarch von Konstantinopel  197, 304148, 318, 373, 376 f., 379, 391 f., 395, 400, 402, 406, 409 Neusner, Jacob  36, 103, 110 f., 118 Niniveh 175 Nisibis 382 O’Donnell, James  48, 55, 59, 62 f., 65 f., 385 f., 420 Odoaker, Kg. in Italien  17, 47, 307 Olsen, Derek  63 f. Origenes von Alexandria  68, 70, 10517, 10619, 25384 f., 415165 Palladius, Bf. von Ratiaria  350, 357127, 360, 362156, 374 Patricius, Quästor  97 Paulus, hl.  72, 87222, 104 f., 120, 126 f., 129122, 188, 200, 221, 231 f., 288, 374219, 427 Pelagius, Theologe  61, 106 Pelagius I., Papst  58, 98, 100, 34661, 37911, 380 Pesce, Mauro  191 Petrus, hl.  99, 346, 177356, 196, 365, 402 Petrus, „der Patrizier“, Gesandter Justinians  97 Piétri, Charles  99 Pohl, Walter  20, 40, 211

504

Verzeichnisse

Primasius, Bf. von Hadrumetum  54, 6180, 98, 314195, 381 f., 415165, 427211 Prokop von Caesarea  97, 151 f., 154, 177 f., 182, 307–309, 314 Prosper von Aquitanien  31, 40, 254, 285, 299, 301–304, 318, 418 Quintilian  82, 83199, 11355, 166 f. Raab (bibl.)  316 Radicotti, Paolo  100 Ranilda  202, 344, 422 Ravenna  15, 47, 49, 57, 140, 152232, 203495, 340, 34450, 346, 428 Reimitz, Helmut  22, 40, 51, 212 f., Renatus, Marcius Notatus, vir cl. et sp.  100 Riedlberger, Peter  182, 310 Rom  99, 102, 148, 150 f., 152229, 154, 177356, 203, 299119, 303, 307 f., 380, 39368, 429 Romulus Augustulus, Ks.  17 Rusticus, röm. diaconus  4710, 381, 38643 Sabellius, Theologe  423 Salomon (bibl.)  141, 142190, 38433 Salvian von Marseille  101–103, 131135, 192433, 345 Schlieben, Reinhard  62 f., 385 f., 407 Scott, James  231 Sebastianus, röm. diaconus  4710, 381 Serenus, Bf. von Cimitile (Nola)  34137 Severus, Bf.  34137 Shaw, Brent  297 Sidonius Appollinaris  98276 Silverius, Papst  34661 Sisebut, westgot. Kg.  102 Sokrates Scholasticus, Kirchenhistoriker  55 Sozomen, Kirchenhistoriker  55 Stephan, päpstlicher apocrisarius  98 Stoppacci, Patrizia  58 f., 63 Stotzas, oström. Offizier  308 Succensus, Bf.  391 Surgentius, päpstlicher primicerius  99 Symmachus, Q. Aurelius Memmius, cos. 485  49, 55, 100 Symmachus, Papst 34662, 39368 Theodahad, got. Kg.  47, 51–53, 142192, 202 f., 21530, 342, 344, 422 Theoderich (d. Große), got. Kg.  13, 17–19, 38, 47, 49–51, 55, 77, 137, 138167, 142190, 144, 171322, 187, 196, 203 f., 215–217, 219, 306153, 307, 309, 314195, 333, 339–346, 34766, 421186, 423, 430

Theodor, Bf. von Mopsuestia  42, 55, 70, 379, 381–385, 400–407, 410–415, 420, 429 f. Theodor, Bf. von Herakleia  349 Theodoret, Bf. von Cyrus  42, 55 f., 140, 3773, 379, 383, 385, 400, 410, 416, 430 Theodosius I., Ks.  139, 336–338, 348 Thrasamund, vand. Kg.  351 Titus, Ks.  115, 154244, 256, 313188 Totila, got. Kg.  152232, 177 f., 306153 Trifolius, presbyter  39896 Troncarelli, Fabio  60 Tugène, Georges  210 Tyconius, Exeget  71, 107 Tyrus 316 Urias (bibl.)  140182 Ursacius, Bf. von Singidinum  335 Valens, Bf. von Mursia  335 Valens, Ks.  339 Valentinian II., Ks.  336 f. Van Hoof, Lieve  56 Van Nuffelen, Peter  56 Verecundus, Bf. von Iunca  98, 315, 38125, 415165, 435 Verona 354 Vespasian, Ks.  115,154245, 256 Vessey, Mark  48, 54, 58 Vicentius, päpstl. primicerius  98 Victor von Vita  350 Vigilius I., Papst  42,4710, 54, 5659, 58 f., 97– 99, 196,34661, 379–382, 38433, 385 f., 393, 396, 398–406, 410 f., 420 f., 429–431 Viliaric, Schreiber  100 Vivarium  14, 29, 46, 48, 55, 58–62, 64–66, 77, 96, 154244, 229, 314195, 315, 382, 38537, 386,38849, 424197, 427 f., 430, 437 Wearmouth-Jarrow 61 Whelan, Robin  342 f., 358 f. Wiemer, Hans-Ulrich  18, 217 Wilkinson, Ryan  137 Wittigis, got. Kg.  47, 49, 51–53, 22051, 34136, 429 Wood, Jamie  102 Wulfila, Bf.  338 f., 34245, 343, 349 f., 355, 362156 Young, Frances  30, 70, 74 Zahnd, Ueli  139 f. Zenon, Ks.  307160

505

Stellenregister zu den Psalmen

Stellenregister zu den Psalmen Vorbemerkung: Aufgenommen sind Psalmen bzw. -verse, die entweder direkt zitiert werden oder deren Kommentierung durch Cassiodor oder andere Exegeten thematisiert wird. Die Einträge sind folgendermaßen aufgebaut: Verweise auf ganze Psalmen stehen zu Beginn und beziehen sich entweder auf die Zitierung des ganzen Psalmes im Text oder auf eine längere, zusammenhängende Diskussion mehrerer Verse und ihrer Auslegung. Darauf folgt die Aufschlüsselung nach Einzelversen. Dabei werden zunächst die direkten Zitate des Psalmentextes, sodann nacheinander die unterschiedlichen Kommentare gelistet. Ausführliche Diskussionen einer Psalmenstelle und ihrer Exegese sind mit einem * hinter der Seitenzahl markiert. Nicht ins Register aufgenommen sind reine Belegstellen aus der EP (z. B. für das Vorkommen von Begriffen oder rhetorischen Figuren). Dafür seien der Leser direkt auf die Anmerkungen in den entsprechenden Kapiteln verwiesen. Psalm

Vers

Kommentar

Stelle

Seite

Ps 2 2 2.6 2.7 2.8 2 2.6 2.7

384, 412–414* 414 368184, 412 285 EP

2.concl. 2.7 2.8

2.7 f. 2.8

2.8 f. 2.9

2.10

2.11 . 2.27–30 2.31 2.33

2.6 f. 2.8 2.8

Hil. Tract.s.Ps.

2.6 f. 2.8

Theod. Mops. Ps.

2.6 2.8

387 f., 388, 392 f., 407, 413 f., 423193 414162 195459, 360147, 367, 395, 39687, 39789, 412* 372307 248–250*, 279*, 285–287*, 374218, 38849, 409140, 413* 169 372 286 f.* 374 414 413

506

Verzeichnisse

Ps 3 3 3.7 f.

EP

3.div. 3.8

395 11355

Ps 4 4 4 4.2 4.4–7 4.5 4.6–8

93 f.*, 317 f.* EP

4.div., concl. 4.2 4.4–7 4.5 4.7 f.

93 f.*, 317 f. 94, 318 317 319218 94

4.6 4.8

317209 317209

Aug. En.Ps. 4.5 4.7 Ps 5 5.3 f.

EP

5.3 f.

361153

6

EP

6.div.

80

7.tit 7.11 7.12–15

EP

7.tit. 7.11 7.12–15

72 198472 198472

Ps 6

Ps 7

Ps 8 8 8.2–8 8.5 8.5–7

384, 411 f.* 411 411 414

8 8.3 8.6 8.8

EP

8.div., concl. 8.3 8.6 f. 8.8

388 f., 391 f., 412 194, 371 f.* 38433, 412 24024

8.3

Aug. En.Ps.

8.6

371

8 8.1 8.5

Theod. Mops. Ps.

8 8.1 8.5

38433 411* 411*

507

Stellenregister zu den Psalmen

Ps 9 9 9.21 9.25 f. 9.27 9.28 9.29 f. 9.37

314 f.* EP

9.21 9.25 f. 9.27 9.28 9.29 f. 9.37

314 314 25282 314 314 314

Ps 13 13

190 f.*, 201 f.*

13 13.2 13.3 13.5 13.6 13.7

EP

13.concl. 13.2 13.3 13.5 13.6 13.7

190, 202 190 190, 198472 190 f., 201 190, 198472 201

14.2 f.

Hil. Tract. s. Ps.

14.7

290

Ps 14

Ps 15 15 15.8–10

383 f.33 365

15 15.1 15.5

EP

15.div. 15.1 15.5

397 394–396 367183, 374219

16

EP

16.concl.

387, 391

17.2 17.4 f. 17.21–25 17.26 f. 17.48 17.51

EP

17.2 17.4 f. 17.21–25 17.26 f. 17.48 17.51

141 f.190 141 141 425* 422 f. 141 f.190

Ps 16

Ps 17

508

Verzeichnisse

Ps 18 18.7

EP

18.7

360148

19.2 19.4 19.5

EP

19.2 19.4 19.5

263142 399* 125

20 20.tit. 20.4

EP

20.concl. 20.tit. 20.4

197 f., 394, 407, 418 f.* 387 418179

Ps 19

Ps 20

Ps 21 21 21.2 21.17 21.19 21 21.2

384 f.33, 401–403, 414 f. 367183, 416 401 371, 401 f.*, 415 EP

21.3 21.14 21.19 21.25 21.28 21.29 21.29 21.32

21.div. 21.2 21.3 21.14 21.19 21.25 21.28 21.29 21.29 21.32

401 38847, 39790, 402 f.*, 40914, 414, 418179 176350 238 415 250 f. 276 171 f. 371* 244 f.*

21.19 21.28–29

Aug. En.Ps.

21.2.19 21.2.29–31

415 371

21.2

Theod. Mops. Ps.

21.2

402

22.4

EP

22.4

313190

25 25.4 25.12

EP

25.div. 25.4 25.12

425 425 f.* 426

Ps 22

Ps. 25

509

Stellenregister zu den Psalmen

Ps 26 26.tit. 26.11

EP

26.tit. 26.11

238 194

27.3

EP

27.3

406134

28 28.9

EP

28.div., concl. 28.9

244, 361, 363 361

29.7

EP

29.7

406

Ps 27

Ps 28

Ps 29

Ps 30 30

193 f.*

30.6 30.9 30.14 30.16 30.19

EP

30.6 30.10 30.15 30.17 30.19

412154 406134 193 193 193 f.

31.4 31.5 31.6 31.7

EP

31.4 31.5 31.6 31.7

73141 88 11355 87, 89228, 160*

32 32.2 32.11 32.12

EP

32.div. 32.2 32.11 32.12

276 126, 145202 387 265*

32.13–14

Aug. En.Ps.

32.2.17–18

265149

33.9

EP

33.9

395 f.

36 36.tit. 36.25

EP

36.concl. 36.tit. 36.25

92 91 91

Ps 31

Ps 32

Ps 33

Ps 36

510

Verzeichnisse

39.8

Aug. En.Ps.

39.13

296106

40.13

EP

40.13

393

42.1

EP

42.1

24024, 245, 251

Ps 40

Ps 42

Ps 43 43

184–186*, 313 f.*

43 43.4 43.6 43.10 43.12 43.13 43.14 43.15 43.17 43.22

EP

43.concl. 43.4 43.6 43.10 43.12 43.13 43.14 43.15 43.17 43.22

184 f. 185, 34766 185 f. 185, 2377 185, 313192 185 314192 313192 314192 314192

43.2 f.

Arnob. Iun. Ps.

43.lin.7–11

290

Ps 44 44 44.7 f.

316 f.*, 384, 366 f. 365172, 367, 368184

44.5 44.7 44.8 44.9 44.10 44.11

EP

44.5 44.7 44.8 44.9 44.10 44.11

142191, 362, 366 f.*, 370*, 39789 142191 38433 75* 251, 317* 24452

44.5 44.7 44.10 44.17

Aug. En.Ps.

44.16 44.17 44.24 44.32

370 142192, 316203 317208 317208

44.7–8

Theod. Mops. Ps.

44.7–8

38433

511

Stellenregister zu den Psalmen

Ps 45 45

320 f.*

45.7 45.10 45.11

EP

45.7 45.10 45.11

320 320 321

45.10

Ambros. Explan. Ps. 45.21

320

45.7 45.10

Aug. En.Ps.

45.10 45.13

320227 320

46.tit. 46.10

EP

46.tit. 46.10

91 239, 274, 290

46.8

Aug. En.Ps.

46.9

298114

Ps 46

Ps 47 47

371

47.2

EP

47.2

371

47.3–4

Aug. En.Ps.

47.3–4

371

Ps 49 49 49 49.tit. 49.8–14 49.10 49.12 49.13 49.14 49.16 49.21

192 f.* EP

49. div., concl. 49.tit. 49.8–14 49.10 49.12 49.13 49.14 49.16 49.21

192 f., 10831 145 f., 10831 192, 12285 126, 192 192, 28142 126 192 193 426

Ps 50 50 50 50.tit 50.3

119, 139–141* EP

50.conc. 50.tit. 50.3

141 141 140

512

Verzeichnisse

50.6 50.14

50.6 50.14

140 75, 140 f., 360 f., 363 f.*, 421

50.1–2 50.5

Aug. En.Ps.

50.3–5 50.8

140182 140182

52.tit.

EP

52.tit.

237

Ps 52

Ps 53 53.8

202 f.*

53 53.3 53.7 f. 53.8

EP

53.div., concl. 53.3 53.7 f. 53.8

203 242 141 f.190 202, 422*

54 54.20

EP

54.div., concl. 54.20

195, 388 195, 361 f., 372207

54.17–20

Hil. Tract.s.Ps.

54.15

372

55.11

EP

55.11

361, 363 f.

56

EP

56.div.

390 f.

Ps 54

. Ps 55

Ps 56

Ps 57 57.5

310174

Ps 58 58 58.tit

EP

58.9 58.12 58.18 58.9 58.12 58.12–14

Aug. En.Ps.

58.div. 58.tit. 58.9 58.12 58.18

198 386 f., 38845, 39789, 404, 407, 409, 423193 271 f.*, 290, 289 f., 324 198–200*, 256 395 f.

58.1.17 58.1.21 58.1.21–22, 58.2.2

272 272, 296 198–200*

513

Stellenregister zu den Psalmen

58.6 58.8

Hil. Tract.s.Ps.

58.6 58.9

28869 289

60.3 60.5

EP

60.3 60.5

314192, 324242 314192

61.3 61.12 f.

EP

61.3 61.12 f.

370*, 372207 360, 370*

61.12

Aug. En.Ps.

61.18

370

61.2

Ambros. Explan.Ps.

61.4–5, 61.6–9

370, 374219

61.2 f.

Hil. Tract.s.Ps.

61.2

372

62.11

EP

62.11

260

63.2

EP

63.2

374218 Vgl

63.1

Hil. Tract.s.Ps.

63.2–3

374

64.3

Aug. En.Ps.

64.5

296103

Ps 60

Ps 61

Ps 62

Ps 63

Ps 64

Ps 65 65 65 65.tit. 65.3 65.4 65.5 65.5 f. 65.6 65.8 65.13 65.15

122 f., 283 f.* EP

65.div., concl. 65.tit. 65.3 65.4 65.5 65.5 f. 65.6 65.8 65.13 65.15

283 f., 315 f. 259, 281 315 f., 388 194, 360147, 361153 284, 315 f. 122 f. 259 f. 284, 318, 388 f. 126108 12185, 126108

514

Verzeichnisse

Ps 66 66.7

EP

66.7

274

66.3 66.4 f.

Hil. Tract s.Ps.

66.4 66.5

28869 28869

66.5

Hieron. Tract.Ps.

66.lin.63

253

Ps 67 67 67.22 67.31

.

284* 310174 310

67.2 67.8 67.10 67.10 f. 67.11 67.15 67.18 67.22 67.30 67.31 67.32 67.33 67.34

EP

67.2 67.8 67.10 67.10 f. 67.11 67.15 67.18 67.22 67.30 67.31 67.32 67.33 67.34

145199, 191 f., 256 f.* 284 284 191, 316 145199, 284 142192, 316 145199 193 319 311 311* 275 38849, 389

67.9–10 67.15 67.31

Aug. En.Ps.

67.9–12 67.21 67.39

284 316203 311

67.31

Hil. Tract s.Ps.

67.32

288

Ps 68 68 65.7 68.9 68.10 68.14 68.22 f. 68.28

38433 EP

65.7 68.9 68.10 68.14 68.22 f. 68.26

284 255, 321233 402108 391 402108 191

515

Stellenregister zu den Psalmen

Ps 70 70.tit. 70.18

EP

70.tit. 70.18

202, 422191 24024

70.7

Aug. En.Ps.

70.1.9

261131

71 71.tit 71.2 71.3 71.5 71.8 71.11 71.13 71.14 71.15 71.17

EP

71. div., concl. 71.tit. 71.2 71.3 71.5 71.8 71.11 71.13 71.14 71.15 71.17

360, 387, 395, 404, 408 38433 141 f.190 126105 393 38433, 38847 322–325* 38433 325 38956 275

71.8 71.10–11

Aug. En.Ps.

71.11 71.13

323239 323

Ps 71

Ps 72 72 72.11–14 72 72.tit. 72.2 72.3 72.4 72.5 72.6 f. 72.9 72.10 72.11 72.12 72.13 72.14 72.15 72.15 f. 72.17 72.18

163–173* 164 EP

72.div., concl. 72.tit. 72.2 f. 72.3 72.4 72.5 72.6 f. 72.9 72.10 72.11 72.12 72.13 72.14 72.15 72.15 f. 72.17 72.18

163 f., 169 f. 396 164, 171 168 171 172 165 168 f., 421 168 164 f. 169 167 172 164 f.*, 168 171 165 f., 169 172 f.

516

Verzeichnisse

72.18 f. 72.19 72.20 72.22 f. 72.23 72.24 72.24 f. 72.25 72.26 f. 72.27 f. 72.28 72.1 72.4–5 72.7 72.16 72.18–19 72.20 72.27

72.18 f. 72.19 72.20 72.22 f. 72.23 72.24 72.24 f. 72.25 72.26 f. 72.27 f. 72.28

165, 171 173 165, 168 168 165 388, 391 168 165, 188, 393 168 425204 165, 423

72.5–6 72.10 72.12–13 72.22 72.24–25 72.26 72.33

165 171 165 171 171 165 168308

EP

73.div., concl. 73.tit. 73.1 73.1 f. 73.2 73.3 73.4 73.4–7 73.7 73.8 73.8 f. 73.9 73.12 f. 73.18 73.19 73.20 73.22 73.23

147–154*, 157, 163, 169, 185 119 118 f., 158263,162 f. 145–147, 154 174 147 174, 38956 148*, 154, 175 150 150 150 153 147, 172 153, 173, 184, 191 187 153, 158262, 172, 175 153, 174 162, 184* 162 150 f.

Aug. En.Ps.

73 73.1–3, 73.4

149 f.* 147, 149 f., 184

Aug. En.Ps.

Ps 73 73 73.2 73 73.tit. 73.1 73.1 f. 73.2 73.3 73.4 73.4–7 73.7 73.8 73.8 f. 73.9 73.12 f. 73.18 73.19 73.20 73.22 73.23 73 73.1

517

Stellenregister zu den Psalmen

73.3 73.5 73.6–7 73.8–12 73.18 f. 73.20

73.6 73.8 73.9–10 73.11–14 73.21–22 73.23

149 f. 149 f. 150 153 153 184

74.div. 74.2

11038 11038, 24024, 242

Ps 74 74 74.2

EP

Ps 75 75

239

75 75.2

EP

75.concl. 75.2

10937, 191 f. 10937, 123, 191 f.*, 238, 25595

75.2

Aug. En.Ps.

75.1–3

191

76.2 76.3 f. 76.6 f. 76.7–10 76.11 76.16

EP

76.2 76.3 f. 76.7 76.7–10 76.11 76.16

167 f., 171 171 167 187 245 137

Ps 76

Ps 77 77 77.5–7 77 77.1 77.5 77.7 77.9 f. 77.14 77.15 f. 77.16 77.23 77.28 77.30 f. 77.34 f. 77.43–51

119, 126–130*, 255 f.* 119 EP

77.div., concl. 77.1 77.5 77.7 77.9 f. 77.14 77.15 f. 77.16 77.23 77.28 77.30 f. 77.34 f. 77.43–51

118, 128, 255, 259 122, 127 126 125105 12286 126109, 127 126109 127 126109 128 12286, 128 f., 138 129 132139

518

Verzeichnisse

77.51 77.52–54 77.54 77.59 77.60 f. 77.60–64 77.62 77.68 77.70 77.21–31 77.34–35 77.38–39 77.44–51 77.59–60

Aug. En.Ps.

77.51 77.52–54 77.55 77.59 77.60 f. 77.60–64 77.62 77.68 77.70

255, 259, 261 126, 255, 257 f.* 126 129 f., 174, 255 f. 12286 129 f. 173 f., 2377 12395 12395

77.17–18 77.20 77.22 77.27 77.35–38

129 129 129 261 129

Ps 78 78 78.1 78.2–4

118 f., 144, 153, 155–162 f.*, 169 f. 155 155

78 78.tit. 78.1 78.1–3 78.4 78.5 78.6 78.7 78.8 78.9 78.10 78.12 78.13

EP

78.1 78.1–3 78.10

Aug. En.Ps.

78

Arnob. Iun. Ps.

78.concl. 78.tit. 78.1 78.1–3 78.4 78.5 78.6 78.7 78.8 78.9 78.10 78.12 78.13 . 78.3 78.2–4 78. 14, 78.13 f.

144, 162 145 f. 157, 237, 249, 27933 153, 155 155 f., 159 138170, 156, 158, 170 f. 157 f., 256 153, 157 f., 259 157 f., 159 113, 170 f. 158 f., 175 f. 159 119, 161 f., 171

78

155

261131 156 158263, 160

Ps 79 79 79.9–14

114–117*, 119 114

519

Stellenregister zu den Psalmen

79.6 79.7 79.9 79.10 79.12 79.13 f. 79.14 79.16 79.16–19

EP

79.6 79.7 79.9 79.10 79.12 79. 13 f. 79.14 79.16 79.16–19

172332 170 f. 115–117 116 116 115 256, 260 187406 116 f.

79.10–12

Aug. En.Ps.

79.9

261131

Ps 80 80 80.9 f.

.

371* 124

80 80.3 80.5 80.9 80.9 f. 80.10 80.11 80.12–15 80.14 80.14 f. 80.16

EP

80.9. f.

Aug. En.Ps.

80.14 80.15 80.16

186, 359, 361 f., 363 f., 371, 39685 122 24554 371 124 f.*, 24024 387 121, 371 119 122, 424 121 122

80.13–14

371

80.concl. 80.3 80.5 80.9 80.9 f. 80.10 80.11

Ps 81 81 81 81.tit. 81.1 81.3 f. 81.5 81.6

197* EP

81.concl. 81.tit. 81.1 81.3 f. 81.5 81.6

188, 197, 387, 392, 396 f. 187 f. 197 197 197 197, 405126

Ps 82 82 82.3–5

119 EP

82.3–5

266 f.

520

Verzeichnisse

82.5 82.7–9 82.11 82.13

82.5 82.7–9 82.11 82.13

266 f.* 266 266 267 f.

82.3–5

Arnob. Iun. Ps.

82.lin.12–37

290 f.

82.5

Aug. En.Ps.

82.5

267, 269

82.5 82.7 82.9

Hieron. Tract.Ps.

82.lin.30 82.lin.43–55 82.lin.73–85

236, 268 266155 266155

83.10

EP

83.10

318

84 84.4 84.9

EP

84.div. 84.4 84.9

12398, 27725 263 298112, 361153

84.2

Aug. En.Ps.

84.4

261131

Ps 83

Ps 84

Ps 85 85.9

293*

85.tit. 85.1 85.9

EP

85.tit 85.1 85.9

39476 73141 273, 318

85.9 f.

Aug. En.Ps.

85.14

293

86 86.4 86.5

EP

86.div. 86.4 86.5

39476 247, 316 194, 362160

88.3 f. 88.4 f. 88.7 88.16

EP

88.31 f. 88.4 f. 88.7 88.16

125105 12395 404 f. 125

Ps 86

Ps 88

521

Stellenregister zu den Psalmen

88.27 f. 88.31 f. 88.34 f. 88.40 88.40 f. 88.41 88.42 88.45 88.45 f. 88.47 88.50

88.27 f. 88.31 f. 88.34 f. 88.40 88.40 f. 88.41 88.42 88.45 88.45 f. 88.47 88.50

194 24452 121 122 123 260 191 192, 239, 256 123 12398 260

Ps 89 89

78 f.*, 119

89.tit. 89.1 89.2 89.7 89.10 f. 89.13 89.15

EP

89.tit. 89.1 89.2 89.7 89.11 89.13 89.15

78 f.*, 138 f. 90, 138, 237 138 79, 90, 138, 237 172 79, 138 172

89.11–12 89.12

Aug. En.Ps.

89.11 89.13

172334 172334

90.12 90.14

EP

90.12 90.14

405 362160

Ps 90

Ps 94 94

200 f.*

94 94.4 ÷94.4 94.8–11

EP

94.concl. 94.4 94.4 94.8–11

201 325*, 421 f. 200 200

94.4 94.11

Aug. En.Ps.

94.8 94.15

325245 200 f.

Ps 95 95

251

522

Verzeichnisse

95 95.3 95.6 95.7 95.8 95.13

EP

95.div. 95.3 95.4–6 95.7 95.8 95.13

274 280 279 249–251*, 276 f., 279 f.*, 321 f.* 280, 318 246, 281

95.1 95.2–3

Aug. En.Ps.

95.2 95.3

295, 321 293–295*, 321*

96.3

Aug. En.Ps.

96.7

298

97.2

Arnob. Iun. Ps.

97.lin.11

25487

98.5

EP

98.5

39057

101 101.tit. 101.4 101.16 101.16 f. 101.22 f. 101.23

EP

101.div., concl. 101.tit. 101.4 101.16 101.16 f. 101.22 f. 101.23

87, 88*, 89 f., 97266 88* 87 273 f., 319 316 243 27725, 324242

102.9

EP

102.9

12398

103.17 103.30

EP

103.17 103.30

65 363164

103.16–7

Aug. En.Ps.

103.3.15–16

65

Ps 96

Ps 97

Ps 98

Ps 101

Ps 102

Ps 103

Ps 104 104 104.1–5 104 104.1 104.1 f.

130128, 131–137*, 144 119 EP

104.concl. 104.1 104.1 f.

72137, 118, 133 133 122

523

Stellenregister zu den Psalmen

104.5 104.6 104.6–10 104.15 104.17–20 104.17–22 104.22 104.23 104.24 104.26 104.27 104.29 f. 104.30 f. 104.32–35 104.36 104.38 104.40 f. 104.42 f. 104.43 104.44 f. 104.45

104.5 104.6 104.6–10 104.15 104.17–20 104.17–22 104.22 104.23 104.24 104.26 104.27 104.29 f. 104.30 f. 104.32–35 104.36 104.38 104.40 f. 104.42 f. 104.43 104.44 f. 104.45

132 269166 12079 123 134 144 134–136*, 426 135 f.157 23813 132 f. 132 132 132 132 132 259 126109 123 2377 121, 133, 144 126

104.1–2 104.6 104.8

Arnob. Iun. Ps.

104.lin.19–23 104.lin.31 104.lin.58–85

291 254 300*

104.6–7 104.8–11 104.13–44 104.20–22 104.29–35 104.45

Aug. En.Ps.

104.5 104.6–7 104.37–40 104.14 104.21–26 104.34

263, 265147, 269166 300126 133146 134151 132138 133143

Ps 105 105 105 105.tit. 105.5 105.7 105.10 105.13 f. 105.16 105.19

119, 130 f.* EP

105.concl. 105.tit. 105.5 105.7 105.10 105.13 f. 105.16 105.19

118 91 264*, 274 130, 259 126109 130 131 138

524

Verzeichnisse

105.21 f. 105.23 105.32 105.32 f. 105.34–36 105.40–42 105.43 f.

105.21 f. 105.23 105.32 105.32 f. 105.34–36 105.40–42 105.43 f.

130 131, 138, 172331, 237, 258 f. 237 138 131 131 131

105.4–5 105.7 105.13–14 105.21–22 105.23 105.40–43 105.43–45

Aug. En.Ps.

105.5 105.7 105.13–14 105.20 105.21 105.32 f. 105.34 f.

265 130 130 130 131 131 131

105.5

Hieron. Tract.Ps.

105.lin.65 f.

265148

Ps 106 106 106.20

93252, 119, 282–284* 366

106 106.tit. 106.2 106.4 106.7 106.8 106.10 106.11 f. 106.13 f. 106.18 106.20 106.23 106.31 106.32 106.33 f.

EP

106.div. 106.tit. 106.2 106.4–5 106.7 106.8 106.10 106.11 f. 106.13 f. 106.18 106.20 106.23 106.31 106.32 106.33 f.

282 118, 282 282 282 f. 315 283 282, 313 282 282 282 362, 366 28352 315 28352, 315 283, 315

106 106.2–3 106.32

Aug. En.Ps.

106 106.3 106.13

93252 283 261131

525

Stellenregister zu den Psalmen

Ps 107 107 107 107.3 107.10 107.11 107.14

416 f.* EP

107.div. 107.3 107.10 f. 107.11 107.14

408 f., 416 416 416 367, 416 f. 416 f., 419

Ps 108 108 108 108.2 108.6 108.16 108.17 108.18 108.20 108.21 108.28 108.29

194 f.* EP

108.div. 108.2 108.6 108.16 108.17 108.18 108.20 108.21 108.28 108.29

194, 368 239 190 190, 239 190 195 195, 38956 195, 368, 405 f. 190, 195 190

Ps 109 109 109.1 109.3 109.5

364–366*, 369*, 384 368184 362156, 365 f.*, 368184, 369 310174

109 109.1 109.2 109.3 109.5 109.5 f.

EP

109.div., concl. 109.1 109.2 109.3 109.5 109.5 f.

364, 369, 38956, 418, 427 364 f.*, 369, 39789 369, 374219 361 f., 366, 368 f.*, 38956, 418179 365173, 369 424

109.2 109.3

Aug. En.Ps.

109.10 109.12 und 16

369 369

110.1 110.6

EP

110.1 110.6

324242 241

Ps 110

526

Verzeichnisse

Ps 113 113.1 113.2

EP

113.1 113.2

312 73144, 120, 122

113.2

Aug. En.Ps.

113.1.2, 113.1.5

25592, 263, 297112

114.7

EP

144.7

12288

116.1 116.1 f. 116.2

EP

116.1 116.1 f. 116.2

275 318 361–363

117 117.19 117.26

EP

117.div. 117.19 117.26

312184 243 243

Ps 114

Ps 116

Ps 117

Ps 118 118 118 118.4 118.5 118.9 118.16 118.18 118.19 118.36 118.44 118.51 118.97 118.106 118.111 118.112 118.113 118.119 118.135 118.141 118.158 118.164 118.165

24235 EP

118.div. 118.4 118.5 118.9 118.16 118.18 118.19 118.36 118.44 118.51 118.97 118.106 118.111 118.112 118.113 118.119 118.135 118.141 118.158 118.164 118.165

265 f.* 12288 24761 24761 24235 24761 243 f. 24235 12288 24235 24235, 24761 24235 24235 322235 24235 303148 237 137162, 24554 121, 238 65 298112

527

Stellenregister zu den Psalmen

118.46

Ambros. Explan.Ps.

118.lit.6.34

265151

118.37

Aug. En.Ps.

118.12.2

297112

118.73

Hil. Tract.s.Ps.

118.iod.9

29074

119.5

Arnob. Iun. Ps.

119.lin.6–15

291

121.3

EP

121.3

244

122.2

EP

122.2

75

122.1 122.3 122.4

Hil. Tract.s.Ps.

122.5 122.10 122.12

290 29074 29074

123.tit. 123.1

EP

123.tit. 123.1

92, 24024, 242 144199

124.5

EP

124.5

242 f.

126

EP

126.div.

12288

128.1

EP

128.1

2375

129.1

Hil. Tract.s.Ps.

129.1

288

131.11

EP

131.11

24452

132.3

EP

132.3

311

133.3

EP

133.3

242

Ps 119

Ps 121

Ps 122

Ps 123

Ps 124

Ps 126

Ps 128

Ps 129

Ps 131

Ps 132

Ps 133

528

Verzeichnisse

Ps 134 134.14

EP

134.14

2377, 277

134.4 134.14

Aug. En.Ps.

134.8 134.22

261131 261131

134.14

Hil. Tract.s.Ps.

134.25

288

136 136.tit. 136.3–5 136.4

EP

136.concl. 136.tit. 136.3–5 136.4

118 f. 91 122 425*

136.1

Aug. En.Ps.

136.3

89

137 137.2 137.4 137.7 137.8

EP

137.div., concl. 137.2 137.4 137.7 137.8

92, 176* 92 142, 176, 319, 421186 176 176

137.4

Aug. En.Ps.

137.9

261131

Ps 136

Ps 137

Ps 138 138 138.6 138 138.2 138.3 f. 138.4 138.5 138.6 138.7 138.8–10 138.10 138.14 138.15 138.17 138.18 138.23 138.23 f.

372–374* 372 EP

138.concl. 138.1–2 138.3 f. 138.4 138.5 138.6 138.7 138.8–10 138.10 138.14 138.15 138.17 138.18 138.23 138.23 f.

382, 387, 393 f.*, 400, 427 417* 39476 373, 417176 373 360148, 373, 417 f.* 362, 373 f. 372, 408 405 39476 290 f. 423193 263 39476 39789

529

Stellenregister zu den Psalmen

138.24

138.24

373216

138.2 138.5 f. 138.6

Hil. Tract.s.Ps.

138.2–3 138.13–15 138.15, 138.17

372 373 373

139.7

EP

139.7

303148, 318

142

EP

142.concl.

175*

143.7

EP

143.7

248

145.5

EP

145.5

10937

146.10 f.

Arnob. Iun. Ps.

146.lin.100–134

300

146.9

Aug. En.Ps.

146.18

297111

147.12 147.20

Aug. En.Ps.

147.8 147.28

298112 298

Ps 139

Ps 142

Ps 143

Ps 145

Ps 146

Ps 147

Cassiodor verkörpert wie wenige Persönlichkeiten den politischen und religiösen Wandel der Spätantike. Als hochrangiger Amtsträger am Hof Theoderichs gestaltete er die Politik im gotischen Italien mit. Während der Gotenkriege schrieb er im Exil in Konstantinopel einen von der historischen Forschung bisher wenig beachteten, umfangreichen Psalmenkommentar. Gerda Heydemann untersucht ihn mit dem Ziel, Cassiodors Wirken als Politiker und Exeget zusammen zu betrachten. Sie analysiert seinen Umgang mit dem biblischen Israel als Identifikationsmodell für christliche Gemeinschaften; seine Perspektive auf Ethnizität und die Position der gentes in einer christlichen politischen Ordnung; die Positionierung zu Arianismus und Dreikapitelstreit. So ergibt sich ein faszinierender Einblick in die Bemühungen eines Zeitgenossen, die spätantike Umbruchszeit neu und in zukunftsweisender Art zu verstehen. www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-13592-4

9 783515 135924