Bundesverfassungsgericht und Bundesstaat: Die Bundesstaatsverfassung im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Eine Untersuchung nach Schwerpunkten [1 ed.] 9783428531806, 9783428131808

In seiner Arbeit belegt Bert-Sebastian Dörfer die These, dass die Rechtsprechung des BVerfG maßgeblichen Einfluss auf di

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Bundesverfassungsgericht und Bundesstaat: Die Bundesstaatsverfassung im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Eine Untersuchung nach Schwerpunkten [1 ed.]
 9783428531806, 9783428131808

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1159

Bundesverfassungsgericht und Bundesstaat Die Bundesstaatsverfassung im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Eine Untersuchung nach Schwerpunkten

Von Bert-Sebastian Dörfer

Duncker & Humblot · Berlin

BERT-SEBASTIAN DÖRFER

Bundesverfassungsgericht und Bundesstaat

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1159

Bundesverfassungsgericht und Bundesstaat Die Bundesstaatsverfassung im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Eine Untersuchung nach Schwerpunkten

Von Bert-Sebastian Dörfer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Potsdam hat diese Arbeit im Jahre 2009 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Process Media Consult, Darmstadt Druck: Berliner Buchdruckerei Union, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-13180-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Gudrun, Claire und Hendrik

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr des Jahres 2009 von der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam als Dissertation angenommen. Meiner Betreuerin, Frau Prof. Dr. Carola Schulze, gilt mein besonders herzlicher Dank für ihre Ermunterung, meinem Interesse an der Thematik der nunmehr vorliegenden Doktorarbeit zu folgen. Ganz am Anfang gab sie den entscheidenden Impuls, mich im Rahmen meiner Dissertation mit Bundesverfassungsgericht und Bundesstaat zu befassen. Während der Abfassung der Arbeit konnte ich stets auf ihre immerwährende Bereitschaft zu konstruktivem Austausch über den Fortgang der Arbeit zurückgreifen. Ihr anhaltendes Interesse an den Ergebnissen meiner Untersuchung war mir zusätzliche Motivation und hat zum Gelingen der Arbeit wesentlich beigetragen. Für die außergewöhnlich schnelle Erstellung der beiden Gutachten bin ich neben Frau Prof. Dr. Carola Schulze auch Herrn Prof. Dr. Ralf Jänkel dankbar. Besonders herzlicher Dank gilt auch meiner Mutter, Gudrun Dörfer, sowie meiner Frau, Claire Müller, die mich unverdrossen durch die Höhen und Tiefen des Arbeitsprozesses begleitet haben und die das mühevolle Korrekturlesen des Manuskriptes übernommen haben. Für die anhaltende Unterstützung während meiner juristischen Ausbildung und die Bekräftigung des Entschlusses, diese Doktorarbeit zu verfassen, danke ich ebenfalls meinem Freund, Herrn Rechtsanwalt Axel Keller. Für steten Zuspruch und bedingungslose Hilfsbereitschaft – nicht nur im Hinblick auf die vorliegende Arbeit – darf ich mich an dieser Stelle herzlich bei meinen Freunden bedanken. Dies gilt in besonderem Maße für Raphael Maus, Thammo Weise und Wenke Dreffien, die hier stellvertretend für viele andere genannt sein sollen. Dem Deutschen Bundesrat danke ich für die Gewährung einer Publikationsförderung. Dank gilt schließlich auch dem Verein der Freunde und Förderer der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam, der diese Arbeit im November 2009 mit dem WolfRüdiger-Bub-Preis ausgezeichnet hat. Potsdam, Februar 2010

Bert-Sebastian Dörfer

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

1. Kapitel Der Bundesstaat – Begriff und theoretisch-konstruktive Erfassung

22

I. Der dreigliedrige Bundesstaatsbegriff in der Staatsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . 23 1. Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Hans Nawiasky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Theodor Maunz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 4. Stellungnahme zum Dreigliedrigkeitstheorem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. BVerfGE 6, 309 – Reichskonkordatsurteil (Urteil des Zweiten Senates vom 26. März 1957) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2. BVerfGE 13, 54 – Neugliederungsurteil (Urteil des Zweiten Senates vom 11. Juli 1958) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 a) Keine gesamtstaatliche Ebene oberhalb von Bund und Ländern . . . . . . . . . . . 34 b) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

2. Kapitel Die Staatlichkeit der Länder

40

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Staatsqualität der Länder sowie deren Gewährleistung durch Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. BVerfGE 1, 14 – Südweststaat (Urteil des Zweiten Senates vom 23. Oktober 1951) 41 a) Staaten eigener staatlich anerkannter Hoheitsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 b) Verfassungshoheit der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

10

Inhaltsverzeichnis c) Indisponibilität von Gesetzgebungskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 d) Der Begriff des labilen Bundesstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. BVerfGE 4, 178 – Landesgesetz zur Verwaltungsgerichtsbarkeit (Beschluss des Ersten Senates vom 11. Mai 1955) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 a) Grundsatz getrennter Verfassungsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 b) Betont föderativ gestalteter Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3. BVerfGE 34, 9 – Hausgut der Länder (Urteil des Zweiten Senates vom 26. Juli 1972) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 a) Die Unabänderlichkeit der Staatlichkeit der Länder – Art. 79 Abs. 3 GG . . . . 52 b) Das Hausgut der Länder – Kernaufgaben als Bedingung der Staatlichkeit . . . . 53 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4. BVerfGE 103, 332 – Naturschutzgesetz Schleswig-Holstein (Beschluss des Zweiten Senates vom 7. Mai 2001 in der Funktion als Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 a) Durchbrechung des Prinzips der getrennten Verfassungsräume? . . . . . . . . . . . 59 b) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

II. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

3. Kapitel Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

68

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundesstaatsprinzip . . . . . 68 1. Normative Anbindung des Bundesstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3. Funktionen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . 72 a) Auslegungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 b) Stützungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 c) Quelle von Unterprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

Inhaltsverzeichnis

11

II. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bundestreue . . . . . . . . . . . . 76 1. BVerfGE 1, 299 – Wohnungsbauförderung (Urteil des Zweiten Senates vom 21. Mai 1952) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 a) Herleitung der Bundestreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 b) Funktionale Deutung der Bundestreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 c) Zwang zur Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 d) Dreidimensionale Bindungswirkung der Bundestreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2. BVerfGE 4, 115 – Beamtenbesoldung (Urteil des Zweiten Senates vom 1. Dezember 1954) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a) Einführung des Terminus Bundestreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Dogmatische Einordnung als ungeschriebener Verfassungsgrundsatz . . . . . . . 88 c) Kompetenzausübungsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 d) Rücksichtnahmepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 e) Justiziabilität der Bundestreue – Rechtsmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 f) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3. BVerfGE 8, 122 – Volksbefragung Hessen (Urteil des Zweiten Senates vom 30. Juli 1958) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 a) Anwendungsbereich – Tun und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 b) Mitwirkungspflicht der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 c) Herleitungsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 d) Grundsätzliche Funktionsbestimmung der Bundestreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 e) Generelle Bindung durch die Bundestreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 f) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4. BVerfGE 12, 205 – Fernsehurteil (Urteil des Zweiten Senates vom 28. Februar 1961) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a) Stil und Procedere von Verhandlungen zwischen Bund und Ländern . . . . . . . . 101 b) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 c) Kritik an der Bundestreuerechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 aa) Die Kritik im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

12

Inhaltsverzeichnis 5. BVerfGE 13, 54 – Neugliederungsurteil (Urteil des Zweiten Senates vom 11. Juli 1961) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 a) Akzessorietät der Bundestreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 b) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 6. Weitere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bundestreue . . . . . . 110 7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4. Kapitel Die Gesetzgebung im Bundesstaat

117

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes gemäß Art. 72 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Art. 72 Abs. 2 GG in der Fassung von 1949 – 1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Frühe Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) BVerfGE 2, 213 – Straffreiheitsgesetz 1949 (Beschluss des Ersten Senates vom 22. April 1953) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 aa) Injustiziabilität der Bedürfnisentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 bb) Die Entstehungsgeschichte unter verfassungspolitischen Motiven . . . . . . 123 cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 c) Weitere Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 d) Bewertung der Rspr. zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Art. 72 Abs. 2 GG in der Fassung von 1994 – 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 a) BVerfGE 106, 62 – Altenpflegegesetz (Urteil des 2. Senates vom 24. Oktober 2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 aa) Die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG i. d. F.von 1994 . . . . . 135 (1) Umfassende Justiziabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 (2) Konkretisierung der Tatbestandsmerkmale des Art. 72 Abs. 2 GG . . . 139 (a) Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet . 139 (b) Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse . . . . . . 142 (c) Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse . . 144 bb) Verfassungsrechtliche Reichweite des Erfordernisses . . . . . . . . . . . . . . . . 145 cc) Gesetzgeberischer Entscheidungsprozess und Kontrolldichte . . . . . . . . . . 146 dd) Die Erforderlichkeit des Altenpflegegesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 (1) Einheitlichkeit der Berufsausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Inhaltsverzeichnis

13

(2) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 b) Weitere Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG i. d. F. von 1994 – 2006 . . . . . . 152 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates gemäß Art. 84 Abs. 1 GG a.F. in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1. BVerfGE 8, 274 – Preisgesetz 1948 (Beschluss des Zweiten Senates vom 12. November 1958) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a) Materielles Zustimmungsrecht des Bundesrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 b) Stellungnahme zur Funktion des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 c) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 d) Die Blockade im Bundesrat – Folge der Rechtsprechung? . . . . . . . . . . . . . . . . 170 e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2. BVerfGE 37, 363 – Bundesrat (Urteil des Zweiten Senates vom 25. Juni 1974) . 173 a) Der Bundesrat – Keine zweite Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 b) Zustimmungsgesetze als konzeptionelle Ausnahme des Grundgesetzes . . . . . . 175 c) Schutzvorrichtung gegen Systemverschiebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 d) Zustimmung zu Änderungsgesetzen nur bei erneuter Systemverschiebung . . . 179 e) Notwendigkeiten erneuter Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 f) Teilung von Gesetzesvorhaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 g) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 3. BVerfGE 55, 274 – Ausbildungsplatzförderungsgesetz 1976 (Urteil des Zweiten Senates vom 10. Dezember 1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 a) Kompetenzverteilung im Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 b) Die Sondervoten der Richter Rottmann und Hirsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 c) Doppelgesichtigkeit materieller Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 4. BVerfGE 105, 313 – Lebenspartnerschaftsgesetz (Urteil des Ersten Senates vom 17. Juli 2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 a) Aufteilung in materielle und verfahrensrechtliche Vorschriften während des Gesetzgebungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

14

Inhaltsverzeichnis 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

5. Kapitel Die Finanzverfassung

198

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum horizontalen Länderfinanzausgleich und den Bundesergänzungszuweisungen gemäß Art. 107 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 1. BVerfGE 1, 117 – Länderfinanzausgleich I (Urteil des Ersten Senates vom 20. September 1952) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 a) Schwächungs- und Nivellierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 b) Keine Aufrechterhaltung existenzunfähiger Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2. BVerfGE 72, 330 – Länderfinanzausgleich II (Urteil des Zweiten Senates vom 24. Juni 1986) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 a) Die bundesstaatliche Solidargemeinschaft der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 b) Das bündische Prinzip des Einstehens füreinander – Föderative Finanzhilfe . . 209 c) Spannungslage des Bundesstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 d) Finanzkraft als Maßstab des Finanzausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 e) Das föderative Gleichbehandlungsgebot bei der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 f) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 3. BVerfGE 86, 148 – Länderfinanzausgleich III (Urteil des Zweiten Senates vom 27. Mai 1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 a) Bundesergänzungszuweisungen – grundsätzlich nur als Hilfe zur Selbsthilfe . 221 b) Hilfeleistungspflicht bei Haushaltsnotlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 c) Bundesergänzungszuweisungen zur Bekämpfung von Haushaltsnotlagen . . . . 224 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4. BVerfGE 101, 158 – Länderfinanzausgleich IV (Urteil des Zweiten Senates vom 11. November 1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 a) Maßstäbe für die Verteilung des Finanzaufkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 b) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Inhaltsverzeichnis

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5. BVerfGE 116, 327 – Haushaltsnotlage Berlin (Urteil des Zweiten Senates vom 19. Oktober 2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 a) Sanierungshilfen – Fremdkörper innerhalb der Finanzverfassung . . . . . . . . . . 232 b) Ultima-Ratio-Prinzip – bis zur Neugliederung des Bundesgebietes . . . . . . . . . 234 c) Relative und absolute Haushaltsnotlage – Ausschöpfung der eigenen Handlungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 d) Erneute Aufforderung des Bundesgesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 e) Signal für einen weniger solidarischen Föderalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 f) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 II. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Übersicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Abkürzungsverzeichnis a.A. ABl. Abs. a.E. a.F. Anm. AöR APlFG APuZ Art. Aufl. Az. bay. BayVBl. Bd. Beschl. Bespr. BesVNG BGBl.I BK BMI BR-Drucks. BT-Drucks. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE dens. ders. dies. diesbez. Diss. DöD Dok. DÖV DVBl. ebda. EEAG EG

anderer Ansicht Amtsblatt Absatz am Ende alte Fassung Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Ausbildungsplatzförderungsgesetz Aus Politik und Zeitgeschichte Artikel Auflage Aktenzeichen bayerisch Bayerische Verwaltungsblätter Band Beschluss Besprechung Gesetz zur Vereinheitlichung und Neuregelung des Besoldungsrechts in Bund und Ländern Bundesgesetzblatt Teil I Bonner Kommentar zum Grundgesetz Bundesministerium des Innern Drucksachen des Bundesrates Drucksachen des Deutschen Bundestages Bundesverfassungsgericht Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts denselben derselbe dieselbe, dieselben diesbezüglich Dissertation Der öffentliche Dienst Dokument Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt ebenda Gesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte Europäische Gemeinschaft

Abkürzungsverzeichnis Erl. EWG EWiR FAG f., ff. FG Fn. FS GBl. geänd. GG GS GVBl. GVK Halbs. HBesAnpG HChE Hess. h.M. HRGÄndG Hrsg. hrsgg. i. d. F. i.E. i.V.m. JA Jahrg. JöR JR Jura JuS JZ Kap. K-Drs. Komm. LadenschlG LPartDisG LPartGErG Ls. m. E. m.w.N. Nachw. n.F. NF. NJ NJW NRW, nrw

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Erläuterung Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschaftsrecht Finanzausgleichsgesetz folgende, fortfolgende Festgabe Fußnote Festschrift Gesetzblatt geändert Grundgesetz Gedächtnisschrift Gesetz- und Verordnungsblatt Gemeinsame Verfassungskommission Halbsatz Hessisches Besoldungsanpassungsgesetz Herrenchiemsee-Entwurf hessisch herrschende Meinung Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes Herausgeber herausgegeben in der Fassung im Ergebnis in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jahrgang Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Drucksache der Bundesstaatskommission Kommentar Gesetz über den Ladenschluss Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften Lebenspartnerschaftgesetzergänzungsgesetz Leitsatz meines Erachtens mit weiteren Nachweisen Nachweis neuer Fassung neue Folge Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Nordrhein-Westfalen, nordrhein-westfälisch

18 NVwZ NVwZ-RR OVG Parl. Rat Pkt. Rdnr., Rdnrn. ReichsG RGBl. RRG Rspr. RVÄndG SchfG s. o. StFG StGH s.u. s.w.o. s.w.u. u. a. Urt. v. VBlBW Verf. VerfGH VerwArch VG VGH VO VVDStRL VwGO VwVfG WiGBl. WoBauG WRV ZaöRV ZG Ziff. ZRP zzgl.

Abkürzungsverzeichnis Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, Rechtssprechungs-Report Oberverwaltungsgericht Parlamentarischer Rat Punkt Randnummer, Randnummern Reichsgesetz Reichsgesetzblatt Rentenreformgesetz Rechtsprechung Rentenversicherungsänderungsgesetz Schornsteinfegergesetz siehe oben Straffreiheitsgesetz Staatsgerichtshof siehe unten siehe weiter oben siehe weiter unten unter anderem Urteil von Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg Verfasser Verfassungsgerichtshof Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Verordnung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Wirtschaftsgesetzblatt Wohnungsbaugesetz Weimarer Reichsverfassung Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Gesetzgebung Ziffer Zeitschrift für Rechtspolitik zuzüglich

Weitere Abkürzungen sind Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 6. Aufl. 2008 zu entnehmen.

Einleitung In Artikel 20 Absatz 1 bekennt sich die deutsche Verfassung ausdrücklich zum föderativen Staatsaufbau. Die weiteren Bestimmungen der Bundesstaatsverfassung konkretisieren die organisatorische und funktionale Struktur des Bundesstaates. Von herausragender Bedeutung für die Verteilung staatlicher Macht im Bundesstaat sind die Gesetzgebungskompetenzen und die Verteilung der Staatsfinanzen. Obwohl die Bundesstaatsverfassung, also die Gesamtheit aller Verfassungsbestimmungen mit bundesstaatlichem Bezug, eine besonders hohe Regelungsdichte aufweist, enthalten die einzelnen Vorschriften naturgemäß auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe. Es liegt in der Natur des Föderalismus, dass die beiden staatlichen Ebenen – der Bund und die Länder – unterschiedlicher Ansicht über den objektiven Bedeutungsgehalt bundesstaatlicher Kompetenzvorschriften sind und dabei jeweils die für sie günstigere Verfassungsinterpretation zugrunde legen. In Erwartung entsprechender Meinungsunterschiede hat der Verfassungsgeber für föderative Streitigkeiten den Weg zum Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 93 GG vorgesehen. Das Bundesverfassungsgericht ist dementsprechend auch oberster Hüter der Bundesstaatsverfassung. In dieser Funktion entscheidet es sämtliche Streitigkeiten über den Regelungsgehalt der Bundesstaatsnormen. Dies kann sowohl im Rahmen kontradiktorischer Verfahren wie dem Bund-Länder-Streit geschehen, als auch außerhalb eines konkreten Anwendungsstreites, etwa anlässlich einer abstrakten Normenkontrolle. Selbst die Individualverfassungsbeschwerde bietet dem Gericht Gelegenheit zu der Klärung bundesstaatlicher Rechtsfragen, etwa im Hinblick auf die Einhaltung der bundesstaatlichen Gesetzgebungskompetenzen beim Erlass eines Gesetzes. Die primäre Bedeutung der Rechtsprechung liegt selbstverständlich auch im Bereich föderativer Streitigkeiten zunächst in der Entscheidung des Einzelfalls, für den es abschließende Klarheit zu schaffen gilt. Daneben erfüllt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aber auch eine über den konkreten Verfassungsstreit hinausgehende Funktion. Im Rahmen seiner Urteile und Beschlüsse konkretisiert und systematisiert das Gericht die zahlreichen Bestimmungen der Bundesstaatsverfassung. Die hierbei gewonnenen Einsichten haben naturgemäß oft richtungsweisende Bedeutung über den Einzelfall hinaus. Um seinen Erkenntnissen nachhaltige Wirkung zu verleihen, formuliert das Gericht entsprechende Grundsätze, die den Akteuren des Bundesstaates als verbindliche Grundlage ihres Handelns zu dienen bestimmt sind. Auf diese Weise und aufgrund der Bindungskraft seiner Rechtsprechung ist es dem Gericht möglich, kontinuierlich Einfluss auf die Verfassungspraxis im Bundesstaat zu

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Einleitung

nehmen. In gewisser Weise zählt eine gezielte Einflussnahme sogar zu seinen vordringlichen Aufgaben, sofern es etwa um die Korrektur anwendungsbedingter Fehlentwicklungen des föderalen Systems geht. Wie in allen Bereichen der verfassungsgerichtlichen Judikatur sind jedoch auch Fehleinschätzungen und in der Folge negative Auswirkungen der bundesstaatsbezogenen Rechtsprechung vorstellbar. Ohne jeden Zweifel wird man davon ausgehen können, dass die jeweils aktuelle Situation des Föderalismus in Deutschland zu einem gewissen Teil immer auch von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt ist. Das Ausmaß und vor allem die Qualität der Einflussnahme des Bundesverfassungsgerichts auf die Entwicklung des deutschen Bundesstaates bilden den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Den entscheidenden Anstoß gab die Arbeit der gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung. Die Krise des föderalen Systems, die 2003 zur Einsetzung der Bundesstaatskommission führte, beruhte nach einhelliger Ansicht darauf, dass die damals herrschende Praxis der föderalen Kompetenz- und Beteiligungsmechanismen die Handlungsfähigkeit sowohl des Bundes als auch der Länder in nicht länger hinnehmbarer Weise lähmte. Einerseits war der Erfolg der Gesetzesvorhaben des Bundestages regelmäßig von der Zustimmung der Ländermehrheit im Bundesrat abhängig, andererseits war der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum der Länder durch die jahrzehntelange Anhäufung von Gesetzgebungskompetenzen auf Seiten des Bundes unhaltbar dezimiert. Nach der Jahrzehnte währenden Diskussion um Unitarisierung, Kooperation und Politikverflechtung im Bundesstaat sollte mit der Föderalismusreform des Jahres 2006 ein wichtiger reformatorischer Schritt gelingen, dessen Nachhaltigkeit sich in den kommenden Jahren erweisen wird. Angesichts des immanenten Einflusses der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auf die föderale Verfassungspraxis stellte sich bereits anlässlich der Reformdiskussion unwillkürlich die Frage, welchen ursächlichen Beitrag das Bundesverfassungsgericht zu jener bedenklichen Entwicklung geleistet haben könnte. Einen wichtigen Anhaltspunkt gaben die frühen Stellungnahmen der Sachverständigen der Bundesstaatskommission, denen die eindeutige Tendenz zu entnehmen war, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. die parteipolitische Blockade im Bundesrat zumindest begünstigt habe. Ausgehend von diesen Einschätzungen lag es nahe, den größeren Zusammenhang herzustellen und allgemeine Schwerpunkte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf dem Gebiet des Bundesstaatrechts herauszuarbeiten und zu untersuchen. Entsprechend der Vielschichtigkeit der Bundesstaatsverfassung existiert eine Fülle von Entscheidungen, mit denen das Gericht Einfluss auf die Gestalt des Föderalismus genommen hat. Um dem Ziel einer gleichermaßen aussagekräftigen wie übersichtlichen Darstellung so nahe wie möglich zu kommen, waren gewisse thematische und inhaltliche Einschränkungen unumgänglich. Die folgenden Themenkomplexe erwiesen sich als repräsentativer Kernbestand der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auf dem Gebiet des Bundesstaatsrechts: Die theoretisch-konstrukti-

Einleitung

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ve Erfassung des Bundesstaates, die Staatlichkeit der Länder, das Bundesstaatsprinzip und als dessen Unterprinzip die Bundestreue, die Gesetzgebung im Bundesstaat mit den Schwerpunkten der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes gemäß Art. 72 Abs. 2 GG und dem Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates gemäß Art. 84 Abs. 1 GG a.F. sowie der horizontale Länderfinanzausgleich und die Bundesergänzungszuweisungen. Im Rahmen der entsprechenden Kapitel wird anhand ausgewählter richtungsweisender Entscheidungen die Entwicklung der Rechtsprechung auf dem jeweiligen Gebiet der Bundesstaatsverfassung dargestellt. Die den einzelnen Entscheidungen zugrunde liegenden Streitigkeiten werden in den historischen Kontext eingeordnet und einleitend kurz dargestellt. Dem Inhalt der Entscheidungsbegründung folgend, werden sodann die bundesstaatlich relevanten Passagen betrachtet und auf ihren spezifischen Aussagegehalt hin untersucht. Schließlich werden die betreffenden Ausführungen des Gerichts einer kritischen Analyse unterzogen, die in eine abschließende Bewertung der Entscheidung mündet. Den gedanklichen Leitfaden der Untersuchung bildet die Überlegung, ob sich die Rechtsprechung unter föderativem Blickwinkel zugunsten oder zulasten des Bundes beziehungsweise der Länder ausgewirkt hat. Letztlich gilt es die Frage zu beantworten, ob das Bundesverfassungsgericht der jeweiligen bundesstaatlichen Intention des Grundgesetzes hinreichend Geltung verschafft hat.

1. Kapitel

Der Bundesstaat – Begriff und theoretisch-konstruktive Erfassung Art. 20 Abs. 1 des GG konstituiert die Bundesrepublik Deutschland als demokratischen und sozialen Bundesstaat. Dem Grundgesetz ist darüber hinaus zu entnehmen, dass die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder ist, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt. Derartige andere Regelungen sind in erster Linie jene Kompetenzvorschriften der Art. 70 ff. und 83 ff. GG, durch die der Bund legislative und exekutive Befugnisse erhält, aber auch Art. 92 ff. GG, durch die dem Bund Aufgaben der Judikative übertragen werden. Dem ist zu entnehmen, dass die ,Protagonisten des Bundesstaates der Bund und die Länder sind. Sonstige, explizite Aussagen über die bundesstaatliche Struktur sucht man im Verfassungstext vergeblich. Wenn man also nicht bereits die Zuständigkeitsordnung der Verfassung als aussagekräftig genug erachtet, um zuverlässig abzuleiten, welche bundesstaatsorganisatorische Struktur der Verfassungsgeber etablieren wollte, wenn man also den nahe liegenden Schluss nicht zieht, dass Bund und Länder die beiden einzigen staatlichen Ebenen darstellen, dann offenbart sich ein diesbezüglicher Mangel an Deutlichkeit und Klarheit. Bemühungen im Hinblick auf die konstruktive Erfassung des Bundesstaates erwartet man indes zu Recht in erster Linie von Seiten der Rechtswissenschaft. Die in dieser Hinsicht wohl bedeutsamste Diskussion betraf die Frage, ob der Bundesstaat des Grundgesetzes zweigliedrig oder dreigliedrig aufgebaut sei, ob also neben dem Bund und den Bundesländern eine weitere übergeordnete staatliche Ebene existiere. Aus damaliger Perspektive wie auch aus heutiger Sicht erscheint die Überlegung, der Aufbau des Bundesstaates des Grundgesetzes könne neben dem Bund und den Ländern eine weitere staatliche Ebene enthalten, keineswegs als nahe liegend. Allenfalls lässt sich konstatieren, dass der Wortlaut des Grundgesetzes keinen widerspruchsfreien Beitrag zur Klärung der Struktur des deutschen Bundesstaates zu leisten vermag. Eine begriffliche oder strukturelle Präzisierung der Struktur des Bundesstaates nimmt das Grundgesetz nicht vor. Vielmehr verursacht die teilweise differenzierte, teilweise verallgemeinernde Nutzung der Begriffe Bund und Bundesrepublik mehr Unklarheit, als sie konstitutive Klarheit schafft. Gleiches gilt selbst für Regelungen jüngeren Datums, die den Begriff des Gesamtstaates enthalten. So obliegt nach Art. 22 Abs. 1 Satz 2 GG die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt dem Bund. Diese Passage erscheint durchaus geeignet, Anlass zu der Fragestel-

I. Der dreigliedrige Bundesstaatsbegriff in der Staatsrechtswissenschaft

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lung zu geben, ob neben dem Bund und den Ländern ein übergeordneter Gesamtstaat als gesonderte staatliche Ebene existiert. Andererseits spricht Art. 23 Abs. 2 GG in Satz 5 und 6 von der gesamtstaatlichen Verantwortung des Bundes, eine Formulierung, die wiederum den Schluss auf eine Übereinstimmung von Gesamtstaat und Bund zulässt. Trotz dieses Mangels an Klarheit sprach und spricht vieles für die Struktur eines zweigliedrigen Bundesstaates. Sowohl eine Gesamtanalyse des Verfassungstextes, insbesondere die eingangs erwähnte Zuweisung staatlicher Kompetenzen als auch die Reflexion der Staatspraxis, die den Bund und die Länder als die einzigen Träger der Staatlichkeit erkennbar werden lässt, sprechen für diese Sichtweise. Die dennoch vereinzelte Annahme einer dritten staatlichen Ebene, also eines dritten Rechtssubjekts, musste zwangsläufig Fragen nach dessen Rechten und Pflichten aufwerfen, deren Beantwortung zu richtungsweisenden Konsequenzen für die Verfassungspraxis führen musste. In dieser Hinsicht seien nur der Aspekt der Zuordnung staatlicher Souveränität erwähnt sowie die Verteilung staatlicher Kompetenzen, wobei insbesondere dieser letzte Aspekt die praktische Relevanz der Entscheidung dieser Frage verdeutlicht. Denn wenn man dem Gedanken eines über Bund und Ländern stehenden Gesamtstaates folgen würde, ergäbe sich zwangsläufig die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem dualen Kompetenzregime des Grundgesetzes. Auch das Bundesverfassungsgericht betrachtete diese Frage als klärungsbedürftig, so dass es sich dazu im Rahmen seiner Rechtsprechung explizit äußerte. Bevor die Ergebnisse der Untersuchung der betreffenden Entscheidungen dargestellt werden, soll zunächst kurz auf jene wissenschaftlichen Beiträge eingegangen werden, deren Präsenz für eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik und damit letztlich auch für die Bewertung der Rechtsprechung unverzichtbar ist.

I. Der dreigliedrige Bundesstaatsbegriff in der Staatsrechtswissenschaft 1. Hans Kelsen Die Ursprünge des dreigliedrigen Bundesstaatsbegriffs finden sich in den – wohlgemerkt vorkonstitutionellen – Arbeiten Kelsens, der als Begründer dieses Konstruktionsmodells gilt.1 Die rechtstheoretische Basis seiner diesbezüglichen Erkenntnisse bildete der Rechtspositivismus, auf dessen Fundament er die sogenannte Reine Rechtslehre entwickelte.2 Eine der Hauptthesen dieser Lehre beanspruchte, dass den Gegenstand der 1

Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 199 ff.; ders., in: Giacometti, FG für Fleiner, 1927, S. 127 ff. 2 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934.

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1. Kap.: Der Bundesstaat – Begriff und Erfassung

Rechtswissenschaft ausschließlich gesetzte Rechtsnormen bilden könnten, die jeweils auf eine übergeordnete Normenordnung zurückführbar seien.3 Diesen Prämissen entsprach auch die Vorgehensweise Kelsens bei der Untersuchung der Struktur des Bundesstaates. Er näherte sich der Erfassung des Bundesstaates, indem er den Staat als durch Verfassungsnormen dezentralisierte Rechtsordnung betrachtete. Eine ausdrückliche Formulierung des dreigliedrigen Bundesstaatsbegriffs findet sich daher nicht. Selbst die Begriffe Oberstaat und Gliedstaaten, die häufig vorkommen, werden in Anführungszeichen gesetzt.4 Dem formalen Ansatz der Reinen Rechtslehre entsprechend, arbeitete er in erster Linie mit normativen Kategorien, wie „Gesamtverfassung“ und „Teilrechtsordnungen“ im Sinne von Teilverfassungen.5 Die Zurechnung der Dreigliederung ergibt sich aus seiner Einschätzung, dass die dezentralisierte Rechtsordnung auf einer Gesamtverfassung beruhe, die zwei Arten von Teilordnungen delegiere. Eine Teilordnung, die räumlich für das Gesamtgebiet gelte, sachlich aber nur für einen Teil der Aufgaben zuständig sei. Diese Teilordnung der bundesstaatlichen Gesamtverfassung sei der Bund oder der sogenannte Oberstaat sowie eine weitere Teilordnung, die räumlich in den Teilgebieten gelte und dementsprechend die Gliedstaaten darstelle.6 Kelsen differenziert also zwischen einer Gesamtverfassung und den zwei sich aus ihr ableitenden Teilrechtsordnungen „Oberstaat“ und „Gliedstaaten“. Die Gesamtverfassung sei es schließlich, die den Bundesstaat im Sinne eines Ober- und Gliedstaaten umfassenden Ganzen darstelle. Am deutlichsten wird seine Sichtweise, wenn er ausführt, dass die Gesamtverfassung zusammen mit den von ihr delegierten Teilordnungen und den darauf begründeten Teilgemeinschaften des Bundes und der Gliedstaaten eine Gesamtgemeinschaft konstituiere.7 Kelsen führt an dieser Stelle die Begriffe der „Gesamtgemeinschaft“ und der „Teilgemeinschaften“ ein und löst sich damit, zumindest begrifflich, von der streng positivistischen Sichtweise reiner Rechtsnormbetrachtung. Auch ohne die Verwendung des zusätzlichen Begriffs Gesamtstaat wird hier deutlich, dass Kelsen neben Bund und Gliedstaaten eine weitere, eine dritte Gliederungsebene des Bundesstaates erkennt: die „bundesstaatliche Gesamtgemeinschaft“, von der sich Bund und Glieder unterscheiden. Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass Kelsen an dieser Stelle seiner Ausführungen offen lässt, ob es zutreffend sei, die „Gesamtgemeinschaft“ als Staat zu bezeichnen.8 3

Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, S. 9 f., 73 f. Kelsen, in: Giacometti, FG für Fleiner, 1927, S. 127 f. 5 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 199 f.; ders., in: Giacometti, FG für Fleiner, 1927, S. 131. 6 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 200. 7 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 200. 8 Kelsen, in: Giacometti, FG für Fleiner, 1927, S. 131 f. 4

I. Der dreigliedrige Bundesstaatsbegriff in der Staatsrechtswissenschaft

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2. Hans Nawiasky Als bedeutendster Vertreter des Dreigliedrigkeitstheorems im Hinblick auf die konstruktive Erfassung des grundgesetzlichen Bundesstaates gilt Nawiasky. Auch nach seiner Ansicht bestanden im Rahmen der bundesstaatlichen Gesamtheit neben den Bundesländern als Gliedstaaten zwei weitere staatliche Gliederungsebenen.9 Nach seiner Definition ist der Bundesstaat ein Gesamtstaat, bestehend aus einer Verbindung mehrerer Einzelstaaten und einer Zentralgewalt, der die Einzelstaaten einen im Wesentlichen übereinstimmenden Teil ihrer Zuständigkeit übertragen haben, oder welche für deren gemeinsame Angelegenheiten zuständig ist, soweit diese nicht vom Gesamtstaat selbst besorgt werden.10 Diese Zentralgewalt, die von den Gliedstaaten abgezweigte und vereinigte einheitliche Staatsgewalt umfasse, sei der „Zentralstaat“ oder „Verbindungsstaat“. Der Begriff „Verbindungsstaat“ bilde die Brücke zu dem Ausdruck Bundesstaat.11 Bildlich gesprochen bestünde danach zwischen dem Gesamtstaat und den Gliedstaaten der Zentralstaat als Verbindungsglied. Die Gesamtheit könne als selbständiges Rechtssubjekt, als eigener Hoheitsträger aufgefasst werden, dem eine Anzahl von Kompetenzen gewissermaßen als Eigenbesitz zustehe. Hierzu zählten insbesondere die Kompetenz zur Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen dem Zentralstaat und den Gliedstaaten, die Regelung ihrer gegenseitigen Rechte und Pflichten, die Feststellung der rechtlichen Grundlage des ganzen Staatsaufbaus im Sinne der Staatsfundamentalnorm sowie die Schaffung und Änderung der Bundesverfassung und die Vertretung der Gesamtheit nach außen.12 Zur argumentativen Festigung seiner Position verweist er auf die unterschiedlichen Bezeichnungen, die das Grundgesetz selbst bereithalte. Danach werde der Begriff Bundesrepublik für den Gesamtstaat verwendet und der Begriff Bund für den Zentralstaat.13 Dem zu erwartenden Widerspruch unter Verweis auf die Realitätswahrnehmung, wonach die Bundesrepublik Deutschland ausschließlich aus dem Bund und den Bundesländern bestehe, mithin zweigliedrige Bundesstaatlichkeit aufweise, versucht Nawiasky zuvorzukommen. Die sich ergebende Differenzierung zwischen der Gesamtstaatsgewalt und der Zentralgewalt im Bundesstaat könne freilich dadurch verhüllt, ja unsichtbar sein, da es in der Regel dieselben Organe seien, die für Aufgaben sowohl des Gesamtstaates als auch des Zentralstaates eingesetzt werden. Eine solche funktionsbezogene Betrachtungsweise verleite leicht zu der Auffassung, dass es sich bei 9

Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, 3. Teil, 1956, S. 144 f. Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, 3. Teil, 1956, S. 161. 11 Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, 3. Teil, 1956, S. 150. 12 Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, 3. Teil, 1956, S. 159. 13 Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, 3. Teil, 1956, S. 161. 10

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1. Kap.: Der Bundesstaat – Begriff und Erfassung

den Angelegenheiten des Gesamtstaates um solche des Zentralstaates handele.14 Warum eine solche Betrachtung des Bundesstaates, die über die Funktionswahrnehmung der Organe auf verfassungsrechtliche Grundlagen zurückführbar ist, nicht geeignet sein soll, um sich der strukturellen Erfassung des Bundesstaates anzunähern, lässt Nawiasky offen.

3. Theodor Maunz Als weiterer Vertreter des dreigliedrigen Bundesstaatsbegriffs offenbarte sich zunächst auch Maunz, indem er die Ansicht vertrat, dass der Bundesstaat als Gesamtstaat aus den Gliedstaaten und einem „Zentralstaat“ gebildet werde. Zentralstaat und Gesamtstaat seien zwei verschiedene Gebilde. Zentralstaat sei der Staat, bei dem ein Ausschnitt der staatlichen Aufgaben aller Gliedstaaten zentral zusammengefasst sei. Der Gesamtstaat sei dagegen die Einheit von Zentralstaat und Gliedstaaten, mithin die Summe der Staatlichkeit. Im Grundgesetz sei einmal vom einen, dann wieder vom anderen Gebilde die Rede, ohne dass die Terminologie einheitlich durchgeführt werde. So sei es zu erklären, dass einmal der Ausdruck Bundesrepublik, dann wieder der Ausdruck Bund verwendet werde. Überwiegend jedoch bedeute Bund im Sinne des Grundgesetzes Zentralstaat, wohingegen mit dem Ausdruck Bundesrepublik der Gesamtstaat gemeint sei.15 Im Laufe der Zeit bemühte sich Maunz, seine Einschätzungen zu relativieren, indem er reklamierte, dass die rechtstheoretische Unterscheidung des „Zentralstaates“ und des „Gesamtstaates“ von Anfang an „(…) nur eine gedankliche Hilfskonstruktion für die begriffliche Erkenntnis“ gewesen sei, nicht aber die Behauptung, dass zwei reale Staatsgebilde als Rechtssubjekte nebeneinander existierten.16 Die beabsichtigte Relativierung seiner ursprünglichen Erkenntnisse geht freilich fehl, da die früheren Ausführungen eine eindeutige Sprache sprechen. Der Sinneswandel, der sich hier offenbart, mag vor allem mit dem kurz zuvor ergangenen Neugliederungsurteil des Bundesverfassungsgerichts zusammenhängen, in dem die Dreigliedrigkeitstheorie unnachgiebig verworfen und die zweigliedrige Struktur als zutreffend proklamiert wurde.17 Wiederum einige Zeit später findet die Dreigliedrigkeitstheorie bei Maunz nur noch Erwähnung als „Gedankenexperiment“, dessen Sinn allein darin bestehe, zur Verbildlichung der Kompetenzverteilung erwogen zu werden, dessen Nützlichkeit aber in Zweifel gezogen werden könne.18 Auch dieser Relativierungsversuch scheitert angesichts der ursprünglichen Positionierung. Zudem muss bereits die Tauglichkeit der Inanspruchnahme des Dreigliedrigkeitstheorems zu diesem Zweck ausdrück14 15 16 17 18

Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, 3. Teil, 1956, S. 160. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 1. Aufl. 1951, S. 110. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 11. Aufl. 1962, S. 164. BVerfGE 13, 54; vgl. w.u. Gliederungspunkt II.2. Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 25. Aufl. 1983, S. 101.

II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

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lich bezweifelt werden. Zur „Verbildlichung“, so Maunz, sei die Klarstellung erforderlich, dass mit dem Begriff Zentralstaat nur die Gesamtheit der Zentralorgane und ihrer Kompetenzen, nicht aber die Existenz eines realen Staatengebildes behauptet werden soll.19 Soweit eine Verbildlichung der bundesstaatlichen Kompetenzordnung des Grundgesetzes tatsächlich erforderlich erscheinen mochte, die Geeignetheit des Dreigliedrigkeitstheorem zu diesem Zweck muss stark bezweifelt werden, denn es steht geradezu im Widerspruch zum dualen Kompetenzregime des Grundgesetzes. Zuletzt bekannte sich Maunz ohne Einschränkung zur Zweigliedrigkeit des Bundesstaates.20

4. Stellungnahme zum Dreigliedrigkeitstheorem Den vorab dargestellten Ansichten gemein ist das Bekenntnis zu einer dritten übergeordneten staatlichen Ebene – ein Bund und Länder integrierender Gesamtstaat. Mit Blick auf die uneindeutige Terminologie des Grundgesetzes ist eine derartige Interpretation nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Die Differenzierung des Verfassungstextes zwischen Bundesstaat, Bund und Ländern fordert zu der Suche nach einem dritten staatlichen Subjekt geradezu heraus. Die Anknüpfung an diese formellen Uneindeutigkeiten vermag jedoch keineswegs die Tragfähigkeit der Dreigliedrigkeits-Theorien zu begründen. Hierfür bedürfte es einer verfassungsunmittelbaren substanziellen materiellen Ausgestaltung eines solchen dritten staatlichen Subjekts. Tatsächlich findet sich jedoch kein Hinweis im Text des Grundgesetzes, der auf den Willen des Verfassungsgebers schließen ließe, neben dem Bund und den Ländern eine dritte Ebene mit materieller Staatlichkeit auszustatten. Vielmehr geht das Grundgesetz bei der Konstitution der staatlichen Kompetenzordnung von einem Dualismus von Bund und Ländern aus. Die Zuordnung originärer staatlicher Hoheitsmacht gegenüber einem dritten Subjekt erfolgt gerade nicht. Diesem Verfassungskonzept des Kompetenzdualismus von Bund und Bundesländern wird das Dreigliedrigkeitstheorem nicht gerecht.

II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die einzige Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Thematik erfolgte im Rahmen des sogenannten Neugliederungsurteils über den Streit zwischen dem Bundesland Hessen und der Bundesregierung hinsichtlich deren Pflicht zur Neu-

19 20

Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 25. Aufl. 1983, S. 101. Maunz, in: Isensee/Kirchhof, HStR IV, 2. Aufl. 1999, § 94 Rdnr. 7.

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1. Kap.: Der Bundesstaat – Begriff und Erfassung

gliederung des Bundesgebietes.21 In seiner Positionierung nahm das Gericht direkten Bezug auf das Konkordatsurteil22 und die daran anknüpfende Kritik an einigen Passagen dieser Entscheidung, die den Eindruck entstehen lassen hatten, das Gericht neige zur Annahme des dreigliedrigen Bundesstaatsaufbaus. Infolge der Verknüpfung der beiden Entscheidungen ist das Konkordatsurteil Ausgangspunkt der zugrunde liegenden Untersuchung.

1. BVerfGE 6, 309 – Reichskonkordatsurteil (Urteil des Zweiten Senates vom 26. März 1957) Auf eine eingehende Darstellung des Urteils kann an dieser Stelle verzichtet werden, da das Gericht in dieser Entscheidung keine substantielle Auseinandersetzung mit der Konstruktion des Bundesstaates vornahm.23 Die hier interessierende Äußerung erfolgte im Rahmen der Annäherung an den eigentlichen Streitgegenstand. Ein kurzer Abriss soll daher genügen, um zu verdeutlichen, in welchem Kontext das Gericht die anstoßgebenden Äußerungen vornahm. Gegenstand des Rechtsstreits war die zwischen der Bundesregierung und dem Land Niedersachsen bestehende Meinungsverschiedenheit darüber, ob das Bundesland Niedersachsen durch den Erlass des Gesetzes über das öffentliche Schulwesen in Niedersachsen vom 14. September 1954 gegen das Konkordat zwischen dem Vatikan und dem Deutschen Reich vom 20. Juli 1933 verstoßen und dadurch das Recht des Bundes auf Beachtung der für ihn verbindlichen internationalen Verträge verletzt hat. Die bedeutendste Neuerung durch das niedersächsische Schulgesetz war die Einführung der überkonfessionellen Gemeinschaftsschule als Regelschule. Dies widersprach dem Konkordat insofern, als dort von der katholischen beziehungsweise von der getrennten Bekenntnisschule als Regelschule ausgegangen worden war. Bereits während des Gesetzgebungsverfahrens wandte sich der Apostolische Nuntius an die Bundesregierung und diese wiederum an den Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen zur Beanstandung des Verstoßes gegen diverse Vorschriften des Konkordates. Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes beantragte die Bundesregierung beim Bundesverfassungsgericht die Feststellung, dass das Land Niedersachsen durch den Erlass des Gesetzes über das öffentliche Schulwesen in Niedersachsen gegen das in Bundesrecht transformierte Reichskonkordat verstoßen und damit das Recht des Bundes auf Respektierung der für ihn verbindlichen internationalen Verträge verletzt habe. Es ist erkennbar davon auszugehen, dass die Bundesregierung über den konkreten Fall hinaus daran interessiert war, vom Bundesverfassungsgericht die Bestätigung zu erhalten, dass die Bundesländer gegenüber dem Bund verpflichtet seien, sich im

21 22 23

BVerfGE 13, 54 [77]. BVerfGE 6, 309. I.d.S. Schäfer, NJW 1961, S. 1281 (1282).

II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

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Einklang mit den die Bundesrepublik verpflichtenden internationalen Verträgen zu verhalten. Zunächst stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das Reichskonkordat wirksam zustande gekommen sei und über die Zeit des nationalsozialistischen Regimes und dessen Zusammenbruch in Kraft geblieben sei.24 Sodann gelangt es zu dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die Rolle als völkerrechtlicher Vertragspartner des Reichskonkordats als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches anzusehen sei.25 In der Folge dieser Befunde gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die sich aus dem Konkordat ergebenden beiderseitigen Verpflichtungen von den Vertragsparteien zu erfüllen seien. Im Geltungsbereich des Grundgesetzes sei als Partner des Reichskonkordats die Bundesrepublik Deutschland anzusehen. Die Bundesrepublik Deutschland, so das Gericht, das seien „verfassungsrechtlich der Bund und die Länder als ein Ganzes“.26 Bereits diese Formulierung wurde als Neigung des Gerichts zu einem dreigliedrigen Bundesstaatsbegriff interpretiert.27 Inhaltlich ging es dem Gericht jedoch nicht um die Klärung dieser theoretischen Frage, sondern um das Aufzeigen einer anderen Problematik. Als Vertragspartner des Reichskonkordats auf der deutschen Seite kämen nach der Errichtung der bundesstaatlichen Organisation infolge des Inkrafttretens des Grundgesetzes nunmehr zwei statt wie bisher ein Träger staatlicher Gewalt in Frage. Sachlich zuständig für den Bereich des Schulwesens seien jedoch allein die Bundesländer. Im Ergebnis sei die Entscheidung des Rechtsstreits daher davon abhängig, ob der Bund die Beachtung des Konkordats von den Ländern verlangen könne, beziehungsweise ob die Länder dem Bund gegenüber verfassungsrechtlich verpflichtet seien, die betreffenden Regelungen des Konkordats bei der Gestaltung des Schulrechts einzuhalten.28 Um vom Gegenstand der Untersuchung nicht abzukommen, sei hier nur kurz das bekannte Ergebnis der weiteren verfassungsgerichtlichen Prüfung zusammengefasst. Im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen unterliegen die Bundesländer keiner anderen Bindung als der des Grundgesetzes29, aus dem seinerseits keine Pflicht der Länder ableitbar ist, die Schulbestimmungen des Reichskonkordats im Rahmen ihrer Gesetzgebungstätigkeit einzuhalten.30 Erst im Rahmen der argumentativen Nachbereitung dieser grundsätzlichen Entscheidung gelangte das Bundesverfassungsgericht zu einer Äußerung, die als 24 25 26 27

BVerfGE 6, 309 [332, 336]. BVerfGE 6, 309 [338]. BVerfGE 6, 309 [340]. Kaiser, ZaöRV 18 (1957/58), S. 526 (526); Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962,

S. 5. 28 29 30

BVerfGE 6, 309 [340]. BVerfGE 6, 309 [354]. BVerfGE 6, 309 [353 ff.].

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1. Kap.: Der Bundesstaat – Begriff und Erfassung

Votum für den dreigliedrigen Bundesstaatsbegriff aufgefasst wurde. Die betreffende Textpassage lautet: „Im Geltungsbereich des Grundgesetzes wird die staatliche Einheit durch die Bundesrepublik Deutschland als Bundesstaat verwirklicht, deren Glieder der Bund und die Länder sind.“31 Es ist nur zu verständlich, dass diese Aussage von den Kritikern des dreigliedrigen Bundesstaatsbegriffs zum Anlass genommen wurde, dem Bundesverfassungsgericht vorzuwerfen, dass es sich dieser, nach ihrer Einschätzung, unzutreffenden Sichtweise angeschlossen habe.32 Dennoch, aus welchem Grund dem Gericht an dieser Stelle diese Äußerungen unterlaufen sein mögen, ob aus Unachtsamkeit oder fehlendem Problembewusstsein, das Gericht beabsichtigte jedenfalls nicht, wie es später sinngemäß zum Ausdruck brachte33, der Theorie des dreigliedrigen Bundesstaatsbegriffs zum Durchbruch zu verhelfen. Dies erscheint jedenfalls ex post durchaus nachvollziehbar, da die betreffenden Äußerungen in keinem inhaltlichen Zusammenhang stehen, der den zwingenden Schluss zuließe, dass mit ihnen eine grundsätzliche Positionierung zur Frage der bundesstaatlichen Struktur erfolgen sollte. Das Gericht greift kurz vor der betreffenden Textstelle die Argumentation der Bundesregierung auf, wonach die verfassungsmäßige Pflicht der Länder, die Schulbestimmungen des Reichskonkordats einzuhalten, sich schon daraus ergebe, dass sie Teile des vertraglich gebundenen Deutschen Reiches seien, mit dem die Bundesrepublik Deutschland identisch sei.34 Damit, so das Gericht, sei jedoch eine derartige Bundespflicht der Länder nicht zu begründen.35 Nachfolgend verdeutlicht es, dass neben der rechtlichen Bindung der Bundesländer gegenüber dem Vatikanstaat keine korrespondierende Verpflichtung gegenüber dem Bund bestehe, sich im Einklang mit dessen Obliegenheiten gegenüber dem Vatikan zu verhalten. Im Rahmen der einhergehenden Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches sei, und die Bundesländer als Glieder des neu konstituierten Bundesstaates ebenfalls gegenüber dem Vatikan verpflichtet seien, teilt es seine umstrittene Einschätzung mit: „Die rechtliche Beurteilung der mit der Durchführung des Reichskonkordats verbundenen Fragen muss allerdings davon ausgehen, dass das rechtsgültig abgeschlossene Reichskonkordat das Deutsche Reich als staatliche Einheit verpflichtet. Das Deutsche Reich ist als Völkerrechtssubjekt nicht untergegangen. Es hat aber nach dem 8. Mai 1945 seine staatliche Organisation eingebüßt. Im Geltungsbereich des Grundgesetzes wird die staatliche Einheit durch die Bundesrepublik Deutschland als Bundesstaat verwirklicht,

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BVerfGE 6, 309 [364]. Kaiser, ZaöRV 18 (1957/58), S. 526 (526); Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 5; Schäfer, NJW 1961, S. 1281 (1282); ferner Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (643). 33 BVerfGE 13, 54 [77]. 34 BVerfGE 6, 309 [363]. 35 BVerfGE 6, 309 [363]. 32

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deren Glieder der Bund und die Länder sind. Auf diese staatliche Einheit sind heute noch die Rechte und Pflichten aus dem Reichskonkordat bezogen.“36 Es ging dem Gericht an dieser Stelle also erkennbar darum, die grundsätzliche Bindung der verschiedenen staatlichen Ebenen zu begründen, die im Unterschied zum Zeitpunkt des Konkordatsschlusses nunmehr existierten. Dem entspricht es, wenn das Gericht sodann zur Konzentration auf den eigentlichen Streitgegenstand ermahnt: „Im vorliegenden Verfahren geht es aber nicht darum, ob und in welchem Umfang die Erfüllung der völkerrechtlichen Pflichten der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Heiligen Stuhl den Ländern als Gliedern des Ganzen aufgegeben ist.“37 Gleichwohl mussten die vorhergehenden Äußerungen des Gerichts entsprechende Reaktionen auslösen, da sie kaum anders aufgefasst werden konnten, denn als Votum für den dreigliedrigen Bundesstaatsbegriff. Exemplarisch sei hier auf Kaiser Bezug genommen, dessen Ausführungen zum Konkordatsurteil die wohl umfassendste und intensivste Auseinandersetzung mit den gegenständlichen Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts darstellen.38 Dort wurde die dreigliedrige Bundesstaatskonstruktion als eine unzulässig vereinfachende und vergröbernde Mechanisierung des organischen Bundesstaatsbegriffs betrachtet. Zutreffend sei vielmehr eine schlichte untheoretische Befundnahme, wonach sich der Bundesstaat als eine auf den Dualismus politischer Existenz gegründete Ordnung darstelle.39 Für die dem Konkordatsurteil zugrunde liegende Dreigliedrigkeitstheorie fänden sich weder im Grundgesetz noch im zwischenstaatlichen Verkehr Anhaltspunkte. Der Begriff des Bundes, wie ihn der Text des Grundgesetzes benutzte, stelle die institutionelle Ordnung des Gesamtstaates dar.40 Überdies widerspreche das Dreigliedrigkeitstheorem der phänomenologischen Befundnahme, da die Differenz zwischen einem angenommenen Zentralstaat, den der Bund darstelle, und einem gesonderten Gesamtstaat nirgends sichtbar werde. Der Bund stelle vielmehr das Ganze dar. Ein über den Gliedern Bund und Ländern stehender Gesamtstaat sei daher ein Gedankengebilde ohne irgendeine Entsprechung in der wirklichen Welt.41

36

BVerfGE 6, 309 [364]. BVerfGE 6, 309 [364]. 38 Kaiser, ZaöRV 18 (1957/58), S. 526 (526); zustimmend Schäfer, NJW 1961, S. 1281 (1282); ebenso Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 6.; Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (643). 39 Kaiser, ZaöRV 18, (1957/58), S. 526 (531). 40 Kaiser, ZaöRV 18, (1957/58), S. 526 (534). 41 Kaiser, ZaöRV 18, (1957/58), S. 526 (535); stärker noch als Kaiser kritisierten Hesse und Scheuner die rechtspositivistische Basis des Dreigliedrigkeitsbegriffs, nämlich die Identifikation von Staat und Rechtsordnung, die sie für „nicht haltbar“ bzw. „untauglich“ ansahen, vgl. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 6 sowie Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (644). 37

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1. Kap.: Der Bundesstaat – Begriff und Erfassung

Das Bundesverfassungsgericht wiederum sah sich durch diese Einschätzung fehlinterpretiert und nutzte anlässlich seines Neugliederungsurteils die Gelegenheit zu einer unmissverständlichen Positionierung.

2. BVerfGE 13, 54 – Neugliederungsurteil (Urteil des Zweiten Senates vom 11. Juli 1958) Die hessische Landesregierung begehrte die Feststellung eines Verfassungsverstoßes durch die Bundesregierung, da diese es unterlassen hatte, den Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung des Bundesgebietes vorzulegen.42 Im Kern ging es dabei um die Frage, ob ein Bundesland – gestützt auf Art. 29 GG damaliger Fassung – einen Anspruch auf Neugliederung des Bundesgebietes gegenüber der Bundesregierung geltend machen könne. Den historischen Hintergrund der Entscheidung bildet die Länderneubildung durch die Alliierten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Hierbei wurden bestimmte Gebietsteile der Regierungsbezirke Montabaur und Rheinhessen, die ursprünglich Hessen angehörten, dem neuen Bundesland Rheinland-Pfalz zugeordnet. Nach Beendigung des Besatzungsregimes am 5. Mai 1955 initiierten die hessisch orientierten Heimatbünde Hessen-Nassau und Rheinhessenbund Volksbegehren, die auf eine Wiederangliederung der betreffenden Gebiete an das Bundesland Hessen gerichtet waren und von jeweils mehr als 20 Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung befürwortet wurden. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Neugliederung des Bundesgebietes in mehrfacher Hinsicht besondere Beachtung verdient. Neben der hier sogleich zu thematisierenden Stellungnahme zum Bundesstaatsbegriff enthält das Urteil auch bedeutsame Vorgaben hinsichtlich der territorialen Existenz der Bundesländer43 sowie hinsichtlich der Bundestreue.44 Darstellung und Untersuchung des Urteils beschränken sich an dieser Stelle jedoch auf jene Passagen, die sich der Frage nach der theoretisch-konstruktiven Erfassung des Bundesstaates widmen. Sowohl das Land Hessen als auch die betreffenden Heimatbünde vertraten die Ansicht, dass die Bundesregierung gemäß Art. 29 Abs. 6 GG damaliger Fassung45 ver42 Neben der hessischen Landesregierung waren auch die Heimatverbände Hessen-Nassau und Rheinhessenbund als Antragsteller beteiligt. 43 BVerfGE 13, 54 [75]. 44 BVerfGE 13, 54 [75]. 45 Art. 29 Abs. 1 GG damaliger Fassung gebot die Neugliederung des Bundesgebietes durch Bundesgesetz. Nach Art. 29 Abs. 6 GG sollte diese Neugliederung vor Ablauf von drei Jahren nach Verkündung des Grundgesetzes geregelt sein. Da das Inkrafttreten des Art. 29 GG zunächst durch die Besatzungsmächte suspendiert worden war, begann diese Frist erst mit der Beendigung des Besatzungsregimes am 5. Mai 1955. Erst an diesem Tage begann auch die

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pflichtet gewesen sei, dem Bundestag bis zum 5. Mai 1958 den Entwurf eines Neugliederungsgesetzes vorzulegen. Nach ergebnislosem Ablauf der Drei-Jahres-Frist rief die hessische Landesregierung das Bundesverfassungsgericht an und beantragte zu erkennen, dass die Bundesregierung durch das Unterlassen der Einbringung eines Neugliederungsgesetzes gegen Art. 29 GG und gegen den Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens verstoßen habe. Die hessische Landesregierung bemühte sich, glaubhaft zu machen, dass sie keinen Anspruch auf bestimmte Gebietsveränderungen zu ihren Gunsten verfolge, sondern das ihrer Ansicht nach grundsätzliche Recht der Länder auf Neugliederung. Die Unterlassung der Bundesregierung berühre die Rechtssphäre der Länder, da Art. 29 Abs. 1 GG einen Anspruch der Länder auf Stärkung der föderativen Struktur der Bundesrepublik Deutschland durch eine den dort aufgestellten Grundsätzen entsprechende Neugliederung gewähre; damit hätten die Länder auch einen Anspruch auf Einhaltung der hierfür gesetzten Frist.46 Zur Untermauerung ihrer Ansicht nahm die hessische Landesregierung Bezug auf den dreigliedrigen Bundesstaatsbegriff. In dem dreigliedrigen Bundesstaat, den das Grundgesetz voraussetze, sei die Neugliederung des Bundesgebietes als ergänzende Verfassungsgebung Aufgabe des Gesamtstaates Bundesrepublik Deutschland. Durch Art. 29 GG werde der Bund als Zentralstaat vom Gesamtstaat ermächtigt und damit diesem gegenüber zugleich verpflichtet, diese Aufgabe durch ein Bundesgesetz zu erfüllen. Die Länder seien als Hüter der Bundesverfassung berufen, die Pflicht des Bundes gegenüber dem Gesamtstaat im Klagewege vor dem Bundesverfassungsgericht geltend zu machen.47 Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass der Bund durch die Unterlassung der Bundesregierung das Land Hessen nicht in dessen Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet habe.48 Zwischen dem Land Hessen und dem Bund bestehe bereits kein entsprechendes Rechtsverhältnis, aus dem Hessen einen Anspruch auf Erlass des Neugliederungsgesetzes herleiten könne. Art. 29 Abs. 1 Satz 1 GG bezeichne als Objekt der Neugliederung ausdrücklich nur das Bundesgebiet und mache die Neugliederung zu einer ausschließlichen Angelegenheit des Bundes. Die Länder seien in das Verfahren nicht eingeschaltet. Das Gesetz bedürfe nicht einmal der Zustimmung des Bundesrats. Daher begründe der Verfassungsartikel, der dem Bund die Neugliederung aufträgt, kein Rechtsverhältnis zwischen dem Bund und den gegenwärtig bestehenden

Jahresfrist, binnen der nach Art. 29 Abs. 2 GG in Gebietsteilen, die bei der Neubildung der Länder nach dem 8. Mai 1945 ohne Volksabstimmung ihre Landeszugehörigkeit geändert haben, durch Volksbegehren eine bestimmte Änderung der über die Landeszugehörigkeit getroffenen Entscheidung gefordert werden konnte. 46 BVerfGE 13, 54 [61]. 47 BVerfGE 13, 54 [61 f.]. 48 BVerfGE 13, 54 [72].

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1. Kap.: Der Bundesstaat – Begriff und Erfassung

Ländern.49 Die lediglich passive Beteiligung der Länder als Objekte der von Bundes wegen vorzunehmenden Neugliederung könne keinen Status der bestehenden Länder erzeugen, aus dem sich ein Anspruch auf Neugliederung ergebe. Ebenso könne der geltend gemachte Anspruch nicht auf das Prinzip der Bundestreue gestützt werden, denn dieses konstituiere Rechte und Pflichten innerhalb eines bestehenden Rechtsverhältnisses zwischen Bund und Ländern, begründe aber nicht selbständig ein Rechtsverhältnis zwischen ihnen. Die wechselseitigen rechtlichen Beziehungen, innerhalb denen Treue zu wahren sei, müssten konstitutiv oder durch Verhandlungen begründet worden sein.50 a) Keine gesamtstaatliche Ebene oberhalb von Bund und Ländern Sodann gelangt das Urteil zu der hier vorrangig interessierenden Thematik und stellt einleitend klar, dass auch die Konzeption eines dreigliedrigen Bundesstaates, wie sie von der hessischen Landesregierung vertreten wird, den Antrag nicht zu stützen vermag.51 Statt umgehend zu begründen, warum auch unter Zugrundelegung einer Dreigliederung des Bundesstaates kein Rechtsverhältnis ableitbar sei, aus dem sich ein Anspruch auf Durchführung der Neugliederung ergibt, nutzt das Gericht zunächst die Gelegenheit zu einer Richtigstellung seiner umstrittenen Formulierungen im Text des Konkordatsurteils.52 Zwar habe das Bundesverfassungsgericht im Konkordatsurteil von der Bundesrepublik Deutschland als dem Bundesstaat gesprochen, dessen Glieder der Bund und die Länder seien.53 Damit, so das Gericht, sollte jedoch nur zum Ausdruck gebracht werden, dass die Aufteilung der staatlichen Befugnisse im Innern des Bundesstaates zwischen den Organen des Bundes und den Organen der Länder keine Wirkung nach außen hat, dass vielmehr nach außen alle Organe, die im Innern staatliche Befugnisse ausüben, die völkerrechtliche Einheit Bundesrepublik Deutschland darstellen. Nicht aber sei daraus zu folgern, dass zwischen einem Zentralstaat und einem Gesamtstaat als zwei verschiedenen Rechtsträgern und Subjekten gegenseitiger verfassungsrechtlicher Rechte und Pflichten zu unterscheiden sei.54 Sodann geht das Gericht näher auf die Begründung der Antragstellerin ein, wonach der Bund als Zentralstaat durch Art. 29 GG vom Gesamtstaat Bundesrepublik Deutschland ermächtigt und zugleich verpflichtet werde, die Vorgabe der Neugliederung des Bundesgebietes durch ein Bundesgesetz zu erfüllen.

49 50 51 52 53 54

BVerfGE 13, 54 [73]. BVerfGE 13, 54 [75]; vgl. zur Bundestreue Kap.3, Gliederungspkt. II.5.a). BVerfGE 13, 54 [77]. BVerfGE 13, 54 [77]. BVerfGE 6, 309 [340, 364]. BVerfGE 13, 54 [77].

II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

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„Es gibt nicht neben dem Bundesstaat als Gesamtstaat noch einen besonderen Zentralstaat, sondern nur eine zentrale Organisation, die zusammen mit den gliedstaatlichen Organisationen im Geltungsbereich des Grundgesetzes als Bundesstaat alle die staatlichen Aufgaben erfüllt, die im Einheitsstaat einer einheitlichen staatlichen Organisation zufallen.“55

Zur Begründung seiner Ansicht verweist das Gericht auf das Grundgesetz selbst. Dieses habe die Aufteilung der Kompetenzen nur zwischen den Organen des Bundes und denen der Länder vorgenommen, wobei unter Bund, der durch Zusammenschluss der Länder entstandene Gesamtstaat zu verstehen sei. Es gebe weder besondere Organe eines Zentralstaates oder eines Gesamtstaates noch sei eine Aufteilung der den Ländern nicht zugewiesenen staatlichen Aufgaben zwischen einem Gesamtstaat und einem Zentralstaat vorgenommen worden.56 Auch das Fernsehurteil spreche nur von dem „gesamten verfassungsrechtlichen Verhältnis zwischen dem Gesamtstaat und seinen Gliedern“ und setze den Gesamtstaat gleich Bund und die Glieder gleich Länder.57 Mit diesem Rückgriff auf die Kompetenzordnung des Grundgesetzes liefert das Gericht ein gewichtiges, wenn nicht das entscheidende Argument. Abseits der fehlenden Klarheit des Verfassungstextes hinsichtlich des Gebrauchs und der Bedeutung der Begriffe Bund und Bundesrepublik Deutschland, lässt sich dem Text und dem Wortlaut der Verfassung eindeutig entnehmen, dass es mit dem Bund und den Bundesländern nur zwei Kompetenzträger von staatlicher Qualität gibt und damit auch nur zwei entsprechende Rechtssubjekte. Für die Annahme eines weiteren Rechtsträgers staatlicher Qualität spricht weder der Wortlaut noch die Zuständigkeitsverteilung der Verfassung. Zwar mag die uneinheitliche Nutzung der Begriffe Bund und Bundesrepublik Deutschland im ersten Moment Zweifel daran aufkommen lassen, dass beide Begriffe synonym zu verstehen sind. Um aber daraufhin über den Wortlaut und den Inhalt der Verfassung hinaus eine weitere staatliche Ebene zu begründen, bedarf es jedoch eines weit gewichtigeren Argumentes als desjenigen der fehlenden Klarheit des Verfassungstextes. Ebenfalls nur auf den ersten Blick denkbar wäre etwa eine offensichtlich fehlende Zuordnung staatlicher Zuständigkeit zur Erfüllung essentieller Aufgaben, die weder vom Bund noch von den Ländern als den beiden konstituierten staatlichen Rechtssubjekten wahrgenommen werden könnten. Ein solcher Gedanke verbietet sich jedoch bereits im Hinblick auf die Klarheit und Ausführlichkeit, mit welcher der Verfassungsgeber die Zuständigkeiten auf den Gebieten der Gesetzgebung, der völkerrechtlichen Vertretung und der Verwaltung geregelt hat.

55 56 57

BVerfGE 13, 54 [77]. BVerfGE 13, 54 [77 f.]. BVerfGE 13, 54 [78].

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1. Kap.: Der Bundesstaat – Begriff und Erfassung

Das Bundesverfassungsgericht stützt sich somit bei der Ablehnung einer dritten staatlichen Ebene zu Recht auf die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes, welche die Erfüllung staatlicher Aufgaben allein auf den Bund und die Länder verteilt. Unbeschadet des Verdienstes dieser bedeutenden Klarstellung, gelingt es dem Gericht jedoch nachfolgend nicht, zu einer abschließenden Klarheit in begrifflicher Hinsicht beizutragen. Hatte der Urteilstext wenige Zeilen zuvor zutreffend formuliert, dass der Bund der Gesamtsstaat und die Länder die Glieder seien, und damit wichtige terminologische Fixpunkte gesetzt, führt es nun ohne Notwendigkeit den Begriff des „Oberstaates“ ein: „(…) dieser Bund ist kein Zentral-,Staat im Unterschied zu einem Gesamt-,Staat, sondern nur die oberstaatliche Organisation, die zugleich im Verhältnis zu den Gliedstaaten den Bundesstaat repräsentiert. Die Rechtskreise zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten und zwischen den Gliedstaaten werden durch das Bündnis der Gliedstaaten geschaffen, das der Bundesstaat begrifflich voraussetzt. Zwischen dem so geschaffenen Oberstaat und den Gliedstaaten kann aber nicht ein weiteres Bündnis bestehen, aus dem ein sogenannter Gesamtstaat hervorgehen würde.“58

Die terminologische Uneinheitlichkeit ist evident. Bis dahin gebrauchte das Gericht den Ausdruck Gesamtstaat als feststehenden Begriff und verwies sogar zum Nachweis seiner diesbezüglichen Kontinuität auf die Verwendung im Fernsehurteil.59 Erstmals überhaupt benutzt es zur Qualifizierung des Bundes gegenüber den Bundesländern den Begriff des Oberstaates bzw. den der oberstaatlichen Organisation. Zwar entstammt der Terminus Gesamtstaat der Dreigliedrigkeitstheorie, so dass das Gericht guten Grund gehabt hätte, auch ihn nicht zu benutzen. Da es aber den Begriff des Gesamtstaates zuvor in deutlicher Abgrenzung gegenüber der Dreigliedrigkeitstheorie ausdrücklich zur Qualifikation des Bundes als der einzigen staatlichen Ebene neben jener der Länder gebrauchte60, hätte es auf die Einführung eines neuen Begriffs verzichten sollen. Dies umso mehr, als auch der Begriff des Oberstaates auf das Engste mit jenen Ausführungen Kelsens verbunden ist, die ihn als geistigen Vater der Dreigliedrigkeitslehre ausweisen.61 Stattdessen führt das Urteil weiter aus, wenn das Grundgesetz vom Bund im Gegensatz zu den Ländern spreche, verstehe es unter Bund den Oberstaat, der durch die Verbindung der Länder zu einem Bundesstaat bewirkt werde. Dieser Oberstaat sei den Ländern prinzipiell übergeordnet.62 58

BVerfGE 13, 54 [78]. BVerfGE 13, 54 [78]: „Auch das Fernsehurteil vom 28. Februar 1961 spricht in Abschnitt E II, der von der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten handelt, nur von dem ,gesamten verfassungsrechtlichen Verhältnis zwischen dem Gesamtstaat und seinen Gliedern und setzt den Gesamtstaat gleich Bund und die Glieder gleich Länder.“; vgl. dazu BVerfGE 12, 209 [254]. 60 BVerfGE 13, 54 [78]: „(…) wobei unter Bund der durch Zusammenschluss der Länder entstandene Gesamtstaat zu verstehen ist“. 61 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 200; ders., in: Giacometti, FG für Fleiner, 1927, S. 131. 62 BVerfGE 13, 54 [78]. 59

II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

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Das Urteil lässt im Folgenden die Frage unbeantwortet, ob das Gericht mit diesen Formulierungen eine begriffliche Bereinigung oder gar eine Neuordnung vorzunehmen gedachte und hinterlässt an dieser Stelle in terminologischer Hinsicht Konfusion.63 Ohne unmittelbare Anknüpfung an das grundsätzliche Bekenntnis zum zweigliedrigen Bundesstaatsbegriff führt der Entscheidungstext zu der streitentscheidenden Frage, ob Art. 29 GG dem Land Hessen einen Anspruch gegenüber dem Bund auf Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung des Bundesgebietes gewähre. Ausgehend vom Gedanken der prinzipiellen Überordnung des Bundes über die Länder gelangt das Gericht zu der Einschätzung, dass grundsätzlich allein den Organen des Bundes die Wahrung der Gesamtverfassung anvertraut sei. Art. 29 GG begründe insoweit keine Ausnahme.64 Antragsbezogen lässt sich somit resümieren, dass die Bundesländer einen Anspruch auf Neugliederung des Bundesgebietes nicht darauf stützen können, dass sie neben dem Bund als Glieder eines über Bund und Ländern stehenden Gesamtstaates gegenüber dem Bund zur Wahrung der Verfassung berufen seien. Für die gegenständliche Untersuchung weit bedeutsamer als die Einzelfallentscheidung ist jedoch die Manifestation des zweigliedrigen Bundesstaatsbegriffs. Hierbei besonders begrüßenswert ist die Herleitung und Begründung aus dem Verfassungstext ohne politische oder ideologisch anmutende Hilfsargumente, die das Risiko einer fortwährenden Infragestellung bedeutet hätten. Die Entscheidung gegen die Anträge Hessens und der übrigen Antragsteller fällt im Ergebnis zugunsten des Bundes aus. Danach ist grundsätzlich er es, den die Verfassung zur Wahrnehmung der gesamtstaatlichen Aufgaben nach dem Grundgesetz berufen hat. Die Länder haben gegenüber dem Bund grundsätzlich kein einklagbares Recht auf die Einhaltung der Verfassung, soweit nicht ihre subjektiven Rechte betroffen sind. Hinsichtlich der Proklamation des zweigliedrigen Bundesstaates ist eine Bewertung der Entscheidung im Sinne einer bundes- oder länderfreundlichen Rechtsprechung nicht ohne Weiteres möglich. Zwar mussten die Vertreter der Dreigliedrigkeitstheorie die Entscheidung als länderfeindlich empfinden, da die Verwerfung des dreigliedrigen Bundesstaatsaufbaus unmittelbar mit der Ablehnung der von Hessen beanspruchten Rechtsposition seitens der Länder einherging. Im Kern jedoch kann weder der Konzeption des dreigliedrigen noch der des zweigliedrigen Bundesstaatsaufbaus eine eindeutig föderalismus- oder länderfreundliche Tendenz entnommen werden, noch ist eine der beiden einseitig zu Gunsten des Bundes auslegbar. So bietet zwar die Theorie eines übergeordneten Gesamtstaates Spielraum für den Gedanken der Gleichordnung von Bund und Ländern als gleichberechtigten Gliedern desselben. Doch können daraus keine Kompetenzpositionen abgeleitet werden, die über den Text der geschriebenen Verfassung hinausgingen. Es mag somit für das 63 In einer späteren Entscheidung nimmt das Gericht jedoch den Begriff des Gesamtstaates wieder auf, ohne ein Abrücken vom zweigliedrigen Bundesstaatsbegriff erkennen zu lassen. Vgl. BVerfGE 36, 342 [360]. 64 BVerfGE 13, 54 [79].

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1. Kap.: Der Bundesstaat – Begriff und Erfassung

Selbstverständnis der Länder, und zugegebenermaßen auch für manche Verhandlungssituation gegenüber dem Bund, von Nachteil erscheinen, wenn der Bund selbst den Gesamtstaat darstellt. Dennoch entspricht dies, wie das Gericht aufgezeigt hat, der Konzeption des Grundgesetzes, das durch seine Kompetenzordnung den Bund mit der gesamtstaatlichen Aufgabenwahrnehmung betraut hat. Zudem würde die Annahme einer zusätzlichen staatlichen Ebene, die dennoch von den Organen des Bundes wahrgenommen wird, den Ländern keinen höheren Einfluss garantieren. b) Fazit Das Urteil entscheidet die Frage nach der theoretisch-konstruktiven Erfassung des Bundesstaates zugunsten einer zweigliedrigen Struktur und orientiert sich dabei konsequent an der Kompetenzordnung der Verfassung. Im deutschen Bundesstaat existieren nur zwei staatliche Ebenen: der Bund und die Bundesländer. Anders als das Urteil insgesamt, das deutlich zugunsten des Bundes ausfällt, enthält die Festlegung auf die zweigliedrige Bundesstaatsstruktur keine vergleichbare Aussage zugunsten oder zulasten des Bundes oder der Länder. Abseits der Frage nach bundes- oder länderfreundlichen Tendenzen stellt die Entscheidung für den zweigliedrigen Bundesstaat jedoch eine Klarstellung von substantieller Bedeutung dar. Jede Auseinandersetzung mit der Konstruktion des Bundesstaats, sei es aus wissenschaftlich-theoretischer oder sonstiger praktischer Perspektive, muss sich seither an der abschließenden Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts orientieren.65

III. Zusammenfassung Die Frage nach der theoretisch-konstruktiven Erfassung des grundgesetzlichen Bundesstaates beantwortet das Bundesverfassungsgericht nach anfänglicher Uneindeutigkeit im Sinne einer zweigliedrigen Bundesstaatskonstruktion. Entgegen anders 65 Trotz der dem Grunde nach eindeutigen Positionierung des Gerichts zugunsten der zweigliedrigen Bundesstaatsstruktur im Rahmen des Neugliederungsurteils wird vereinzelt immer noch eine vermeintlich feststellbare Uneinheitlichkeit der Rspr. des BVerfG zum Anlass genommen, das Dreigliedrigkeitstheorem erneut ins Spiel zu bringen. So etwa Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 126 Rdnr. 88 ff., der jedoch verkennt, dass sein Befund einer insoweit uneinheitlichen Rspr. auf der Annahme beruht, das Gericht hätte seine missverständlichen Äußerungen nicht abschließend klargestellt. Für das Ziel Isensees – die Erfassung der Doppelfunktion des Bundes – bedarf es keines Rückgriffs auf die Dreigliedrigkeitstheorie, da das Grundgesetz insoweit keine Rätsel aufgibt. Zudem ist sie für diesen Zweck ungeeignet, da sie von Nawiasky in prägender Weise als Strukturtheorie und eben nicht funktionstheoretisch in die Rechtswissenschaft nach 1949 eingeführt wurde; vgl. o. Gliederungspkt. I.2. – Differenzierend Oeter, Integration und Subsidiarität, 1998, S. 573, der zwar einen höheren heuristischen Nutzen der Dreigliedrigkeitstheorie erkennt, aber dennoch zutreffend betont, dass im Ergebnis abstrakte Konstruktionsmodelle und deduktiv entwickelte Bundesstaatstheorien tatsächlich nicht geeignet seien, verfassungsdogmatischen Fortschritt zu erzielen.

III. Zusammenfassung

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lautenden Stellungnahmen vertrat das Bundesverfassungsgericht zu keinem Zeitpunkt die auf Kelsen zurückzuführende und durch Nawiasky und Maunz nach 1949 vertretene Dreigliedrigkeitstheorie. Diesbezügliche Zweifel beseitigte das Gericht durch seine eindeutige Stellungnahme anlässlich des Neugliederungsurteils. Eine signifikante Tendenz zugunsten einer betont bundes- oder länderfreundlichen Bundesstaatsinterpretation lässt sich dieser Rechtsprechung nicht entnehmen. Dessen ungeachtet ist sie von herausragender Bedeutung für das theoretische Verständnis des grundgesetzlichen Bundesstaates.

2. Kapitel

Die Staatlichkeit der Länder Das Grundgesetz enthält keine explizite Aussage zur Staatsqualität der Bundesländer. Art. 30 GG lautet: „Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt.“ Der Verfassungstext normiert demnach lediglich die länderseitige Teilhabe bei der Wahrnehmung staatlicher Rechte und Pflichten, vorbehaltlich des Vorrechts des Bundes. Auch Art. 28 Abs. 1 GG trifft keine abschließende Entscheidung über ihren diesbezüglichen Status, wenngleich sein Regelungsgehalt zumindest die Verfassungshoheit der Länder impliziert. Art. 79 Abs. 3 beschränkt seinen Gewährleistungsinhalt diesbezüglich auf die Gliederung des Bundes in Länder, deren grundsätzliche Mitwirkung bei der Gesetzgebung und das Fortbestehen des Bundesstaatsprinzips, so dass auch von daher keine weitergehenden Rückschlüsse möglich sind. Das Fehlen einer definitorischen Statuierung der Länder stellt auf den ersten Blick kein gravierendes Defizit dar, da sich der konstitutive Gehalt des Grundgesetzes zunächst auch ohne sie erschließt. Die herausgehobene Stellung der Länder, die sich vor allem in der Wahrnehmung staatlicher Macht manifestiert, gebietet jedoch geradezu ihre qualitative Erfassung. Ebenso erfordert die verständige Auseinandersetzung mit dem bundesstaatlichen System eine Abgrenzung staatlicher Subjektivität. Erst eine konkrete Bestimmung der Stellung der Länder ermöglicht eine sachgerechte Interpretation ihrer Rolle im Bundesstaat. In Folge dieser Erkenntnis ist es leicht vorstellbar, dass sich das Bundesverfassungsgericht bereits zu Beginn seiner Tätigkeit dazu berufen gefühlt haben dürfte, die Frage nach der Staatlichkeit der Länder zu beantworten. Insoweit kann es nicht überraschen, dass das Gericht bereits in seinem ersten Urteil66 den Grundstein für das Staatsverständnis der Länder legte. Ungeachtet dessen musste auch die Reichweite der verfassungsgebenden Kraft der Länder alsbald bestimmt werden.

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BVerfGE 1, 14 – Südweststaat.

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Staatsqualität der Länder

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I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Staatsqualität der Länder sowie deren Gewährleistung durch Art. 79 Abs. 3 GG 1. BVerfGE 1, 14 – Südweststaat (Urteil des Zweiten Senates vom 23. Oktober 1951) Schon in seinem ersten Urteil vom 23. Oktober 1951 sah sich das Bundesverfassungsgericht also berufen, zur Qualität der staatsorganisatorischen Konstitution der Bundesländer Stellung zu beziehen. Gegenstand der Normenkontrolle waren das Erste und Zweite Gesetz zur Durchführung der Neugliederung der Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern vom 4. Mai 1951. Aufgrund einer Vereinbarung zwischen der amerikanischen und der französischen Militärregierung wurden die Gebiete der Länder Baden und Württemberg Anfang Juli 1945 horizontal geteilt, um den jeweiligen Besatzungszonen zugeordnet werden zu können. Die nördlichen Teile wurden durch Proklamation der amerikanischen Militärregierung vom 19. September 1945 zum Land Württemberg-Baden vereinigt. Aus den verbliebenen südlichen Teilen wurden die Länder Baden und Württemberg-Hohenzollern gebildet. Diese staatsrechtliche Gliederung im Südwestraum wurde von Anfang an als unbefriedigend empfunden. Dennoch gaben sich die so entstandenen drei Länder in den Jahren 1946 und 1947 Landesverfassungen. Durch das Frankfurter Dokument Nr. 2 vom 1. Juli 1948 wurden die Ministerpräsidenten aufgefordert, die Grenzen der einzelnen Länder zu überprüfen und Änderungen vorzuschlagen. In den anschließenden Verhandlungen zwischen den Regierungen der drei Länder gelang es diesen jedoch nicht, eine Einigung über den Inhalt und das Verfahren der Neugliederung im Südwestraum zu erzielen. Die Regierung des Landes Baden, das aus dem südlichen Landesteil des ehemaligen Landes Baden hervorgegangen war, lehnte die Schaffung eines gemeinsamen Südstaates ab und verfolgte stattdessen das Ziel der Wiedervereinigung mit dem nördlichen Teil Badens. In den Ländern Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern stand man hingegen der Schaffung eines Südstaates unter Vereinigung der drei Länder offen gegenüber. Eine in den drei Ländern am 24. September 1950 durchgeführte ,informatorische Volksbefragung führte dementsprechend zu keiner Lösung, da sich die Befragten im südlichen Altbaden für ein Land Gesamtbaden und gegen den Südweststaat aussprachen. Das Grundgesetz enthielt mit Blick auf die als unbefriedigend empfundene Gebietsordnung durch die Alliierten den Art. 118 GG, der die Neugliederung im Südwestraum betraf. Bemühungen der beteiligten Länder, gemäß Art. 118 Satz 1 GG zu einer Einigung zu gelangen, wurden Ende 1950 erfolglos eingestellt. Gemäß Art. 118 Satz 2 GG wurde damit der Bund zuständig, den Südwestraum durch Bundesgesetz neu zu gliedern. Dementsprechend wurden mehrere Gesetzentwürfe zur Neugliederung des Südwestraumes in den Bundestag eingebracht.

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2. Kap.: Die Staatlichkeit der Länder

Die Termine für die Landtagswahlen in den Ländern Baden und Württemberg-Hohenzollern standen kurz bevor. In beiden Ländern bestanden Bedenken, Neuwahlen durchzuführen, da man davon ausging, der Landtag werde infolge der bevorstehenden staatsrechtlichen Neuordnung nur wenige Wochen Bestand haben. Deshalb beschlossen die Landtage beider Länder Verfassungsänderungen, durch die die Wahlperioden bis zur Neugliederung des Gebiets verlängert werden sollten. Die notwendigen Volksentscheide waren Anfang März auf den 8. April 1951 festgesetzt worden. Im Widerspruch zu der Kompetenzwahrnehmung durch die Länderparlamente sah sich auch der Bundestag zur Verlängerung der Legislaturperioden in den Ländern berufen. Nach Einschaltung des Vermittlungsausschusses durch den Bundesrat wurde das sogenannte Erste Neugliederungsgesetz verabschiedet und am 4. Mai 1951 in Kraft gesetzt und damit die Verlängerung der Legislaturperioden bis zum 31. März 1952 in den Ländern durch den Bundestag geregelt. Das gleichzeitig in Kraft getretene Zweite Neugliederungsgesetz hatte die Neugliederung des Südwestraumes zum Gegenstand. Es bestimmte das Nähere über die Durchführung einer Volksabstimmung, machte von dem Ergebnis der Volksabstimmung abhängig, welche neue staatliche Ordnung an die Stelle der bisherigen treten werde und regelte im einzelnen die Überführung der alten in die neue Ordnung. Gegen diese mutmaßliche Kompetenzanmaßung und als Gegner der Schaffung eines Südweststaates rief die Landesregierung Baden das Bundesverfassungsgericht an. Sie beantragte im Rahmen eines Normenkontrollantrages festzustellen, dass der Bund nicht berechtigt sei, durch das Erste Neugliederungsgesetz die Wahlperiode des Landtages des Landes Baden zu verlängern. Hinsichtlich des Zweiten Neugliederungsgesetzes begehrte es die Feststellung, nicht zu dessen Ausführung verpflichtet zu sein.67 Zunächst stellt das Bundesverfassungsgericht klar, dass die Demokratie nicht nur die Existenz einer Volksvertretung fordere, sondern auch kontinuierlichen Respekt vor der Entscheidung der Wahlberechtigten. Dazu gehöre, dass die Wahlperiode eines Landtages, deren Dauer das Volk durch Annahme der Verfassung bestimmt hat, nur in dem in dieser Verfassung vorgesehenen Verfahren, das heißt gegebenenfalls mit Zustimmung des Volkes, verlängert wird. Der Bund verstoße gegen diese Pflicht, wenn er seinerseits ohne Zustimmung des Landesvolkes eine nach der Landesverfassung fällige Wahl verhindere.68 Sodann gelangt das Gericht zur Thematik der Staatsqualität der Bundesländer.

67

Gleichzeitig beantragte das Land Baden, im Wege der einstweiligen Anordnung, den Vollzug des Zweiten Neugliederungsgesetzes bis zur Entscheidung über den Hauptantrag auszusetzen. Diesem Antrag entsprach das Gericht durch seine erste Entscheidung vom 9. September 1951 durch einstweilige Anordnung des Zweiten Senates, vgl. BVerfGE 1, 1. 68 BVerfGE 1, 14 [33].

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Staatsqualität der Länder

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a) Staaten eigener staatlich anerkannter Hoheitsmacht „Die Länder sind als Glieder des Bundes Staaten mit eigener – wenn auch gegenständlich beschränkter – nicht vom Bund abgeleiteter, sondern von ihm anerkannter staatlicher Hoheitsmacht.“69

Das Gericht stellt hiermit unmissverständlich klar, dass es eine eigene Staatlichkeit der Bundesländer anerkennt. Diese Klarstellung verdient besondere Beachtung, weil das Grundgesetz, wie eingangs erwähnt, insoweit keine explizite Festlegung trifft. Art. 30 GG deutet diese Staatsqualität der Länder nur an, indem dort, wenn auch in grundsätzlicher Weise, so aber doch nur staatsorganisatorisch, die Erfüllung staatlicher Aufgaben und die Inanspruchnahme ebensolcher Befugnisse zuerkannt werden.70 Offen bleibt, ob dies in Wahrnehmung eigenständiger Hoheitsmacht geschieht oder im Rahmen abgeleiteter oder delegierter Macht. Wenig ergiebiger stellt sich die Regelung des Art. 28 Abs. 1 GG dar, wonach die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen muss. An dieser Stelle setzt das Grundgesetz selbst die Existenz staatlicher Verfassungen und Strukturen in den Ländern voraus, wie insbesondere die Bezugnahme auf die Prinzipien des Grundgesetzes deutlich zeigt. Da die Existenz einer Verfassung zu den prägnantesten Merkmalen moderner Staatlichkeit gehört, kann Artikel 28 Absatz 1 Grundgesetz zumindest als deutlicher Hinweis auf die Staatsqualität der Länder aufgefasst werden. Da aber weder in den Artikeln 28 und 30 GG noch in anderen Verfassungsnormen die Staatlichkeit der Länder ausdrücklich manifestiert oder ausgesprochen wird, schafft die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts wichtige Klarheit über den Status der Länder als Staaten.71 Zugunsten der Länder fällt insbesondere die Bezugnahme auf ihre Stellung als Glieder des Bundes aus. Denn obwohl nur Glieder des Bundes, betont das Gericht, 69

BVerfGE 1, 14 [34]. Nach a.A. ergibt sich bereits aus Art. 30 GG die Staatsqualität der Länder; vgl. Barschel, Die Staatsqualität der deutschen Länder, 1982, S. 167. 71 Freilich handelt es sich bei der Eigenstaatlichkeit der Bundesländer nicht um die Staatlichkeit souveräner Staaten, sondern um einen verfassungsrelativen Staatscharakter, der seine normative Wirkung im Verhältnis zum Bund entfaltet. Die Bundesländer sind Staaten im Sinne und nach Maßgabe des Grundgesetzes. Vgl.: Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 126 Rdnr. 65; Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3.Aufl. 2004, § 29 Rdnr. 65. Die Staatsqualität der Bundesländer ist daher von der staats- und völkerrechtlichen Kategorie der Souveränität unabhängig. Vgl.: Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 IV, Rdnr. 39 f. m.w.N.; Isensee, in: ders./Kirchhof, HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 126 Rdnr. 66; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 20 Rdnr. 65; i.E. auch Barschel, Die Staatsqualität der deutschen Länder, 1982, S. 258. Teilweise wird die Eigenstaatlichkeit der Länder lediglich als Strukturformel ohne bedeutenden normativen Mehrwert betrachtet, so etwa Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 374 f., teilweise wird sie völlig in Frage gestellt, vgl. die Nachweise bei Möllers, ebda., S. 350, Fn. 4. 70

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2. Kap.: Die Staatlichkeit der Länder

dass die Länder eigene staatliche Hoheitsmacht innehaben. Es geht also über eine rein deklaratorische Statuierung hinaus und qualifiziert die Staatlichkeit der Länder. b) Verfassungshoheit der Länder Im Anschluss an die Postulierung der Staatlichkeit der Länder nimmt das Gericht eine wichtige Konkretisierung der anerkannten Hoheitsmacht vor. „In ihren Bereich gehört die Gestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung im Lande, solange sie sich im Rahmen des Art. 28 Abs. 1 GG hält. Insbesondere ist die Bestimmung der Regeln, nach denen sich die Bildung der Landesverfassungsorgane, ihre Funktionen und ihre Kompetenzen bemessen, ausschließlich Sache des Landes.“72

Hiermit bestätigt das Bundesverfassungsgericht die der Bestimmung des Art. 28 Abs. 1 GG zugrunde liegende, aber nicht ausdrücklich normierte Verfassungshoheit der Länder. Ausdruck dieser Verfassungshoheit – so das Gericht unter Bezugnahme auf den Streitgegenstand – seien auch die Vorschriften darüber, wie oft und bei welchen Gelegenheiten der Bürger von seinem Wahlrecht Gebrauch machen könne und wann und unter welchen Voraussetzungen ein gewählter Landtag sein Ende finde. Solange die Länder beständen und ihre verfassungsmäßige Ordnung sich im Rahmen des Artikel 28 Absatz 1 GG halte, könne der Bund nicht ohne Verletzung des im Grundgesetz garantierten bundesstaatlichen Prinzips in ihre Verfassungsordnung eingreifen.73 Dies gelte auch für die Gesetzgebung nach Artikel 118 Satz 2 GG. Zwar habe der Bundesgesetzgeber die Macht, die Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern „abzubauen“, um eine Neugliederung zu ermöglichen. Er dürfe aber nicht die verfassungsmäßige Ordnung der Länder stören, solange diese ungeschmälert bestehen. Die Verlängerung der Wahlperiode und die damit einhergehende Verschiebung des Wahltermins durch den Bundesgesetzgeber stellt somit einen Verstoß gegen die Verfassungshoheit der Länder dar. Das Gericht differenziert hier sehr genau zwischen dem Neugliederungsauftrag des Grundgesetzes, durch den bestehende Länder beseitigt und neue Länder geschaffen werden sollen, und jenen Aktivitäten des Bundesgesetzgebers, die sich im Rahmen der Vorbereitung der Neugliederung auf existierende Länder beziehen. Bis auf die Neugliederung selbst sind dem Bund die staatsorganisatorischen Entscheidungen des Landesverfassungsgebers entzogen. Die bestehenden Länder verdienen demnach uneingeschränkte Achtung ihrer staatstragenden Verfassungshoheit, unabhängig davon, ob sie im Zuge einer anstehenden Neuordnung beseitigt werden sollen. Mit dieser Differenzierung bekräftigt das Gericht seine

72 73

BVerfGE 1, 14 [34]. BVerfGE 1, 14 [34].

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Staatsqualität der Länder

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Einschätzung des hohen Stellenwertes, den die Staatlichkeit der Länder und die damit verbundene Verfassungshoheit genießen.74 c) Indisponibilität von Gesetzgebungskompetenzen Schließlich nimmt das Gericht eine weitere für den zukünftigen Status der Länder sehr bedeutsame Einschätzung vor. Im Hinblick auf die Einverständniserklärung des Landes Württemberg-Hohenzollern zu der Verlängerung seiner Landtagsperiode durch den Bundesgesetzgeber stellt das Gericht klar, dass ein Land über seine verfassungsmäßige Gesetzgebungskompetenz nicht verfügen könne. Ebenso könne der Bund eine Gesetzgebungszuständigkeit, die ihm das Grundgesetz nicht gewährt, auch nicht durch Zustimmung des Landes gewinnen.75 Demnach sind die konstitutiven Festlegungen der legislativen Kompetenzen der Länder nicht disponibel, da sie den verfassungsrechtlich begründeten Kern ihrer staatlichen Hoheitsmacht darstellen. Die Grundentscheidung der Verfassung für ein föderales Staatswesen ist nicht nur als Prinzip fixiert, sondern findet sich in zahlreichen Vorschriften des Grundgesetzes wieder. Besonders prägnant tritt der föderative Charakter in den Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes hervor, da dort die Verteilung staatlicher Hoheitsmacht fixiert ist. Die beiden staatlichen Ebenen des Bundesstaates erhalten konkrete Kompetenzen, Befugnisse und Pflichten. Diese Gestaltungshoheit der Länder – ihre Staatsmacht – stellt neben Staatsgebiet und Staatsvolk das dritte wesentliche Element der Staatlichkeit der Länder dar. Insbesondere auf Seiten der Länder bedürfen die hoheitlichen Kompetenzen eines besonderen Schutzes, da sie fortwährend dem gesamtstaatlichen Gestaltungsanspruch des Bundes ausgesetzt sind. Der Gefahr solcher Kompetenzverschiebungen begegnet das Grundgesetz in Art. 79 Abs. 1 und 2 GG, indem es höchste Anforderungen an diesbezügliche Verfassungsänderungen stellt. Keinesfalls steht daher, nach zutreffender Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, der zugrunde liegende konstitutive Entschluss des Verfassungsgebers zu der vorgenommenen Kompetenzverteilung zur Disposition der Regierungen von Bund oder Ländern. Mit dieser Klarstellung, durch die es nicht nur die grobe Struktur des Bundesstaates bestätigt hat, sondern wichtige Ausprägungen einer kurzfristig ausgerichteten Disposition entzogen hat, setzte das Gericht gerade in der damaligen frühen Phase des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland ein be-

74

Das vorgetragene Argument, der Bund verkürze durch die Beseitigung der drei Landtage ihre Wahlperiode, infolgedessen könne er sie auch für eine Übergangszeit verlängern, weist das Gericht zurück. Beide Möglichkeiten ständen zueinander nicht im Verhältnis des maius zum minus. Die Beseitigung der Landtage sei eine notwendige Folge der Vernichtung der Länder; sie stelle also keine Abkürzung einer Wahlperiode dar. Die Verlängerung der Wahlperiode solle hingegen für bestehende Landtage erfolgen. Dafür bedürfe es eines besonderen Gesetzgebungsaktes, der dem Bund aus dem dargelegten Grunde verwehrt sei. Vgl. BVerfGE 1, 14 [34]. 75 BVerfGE 1, 14 [35] sowie 30.Ls.

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2. Kap.: Die Staatlichkeit der Länder

sonders wichtiges Zeichen, das für die Etablierung des föderativen Staatswesens von großer Bedeutung gewesen ist. d) Der Begriff des labilen Bundesstaates Besondere Beachtung verdient an dieser Stelle auch jene Passage, in der das Gericht den Terminus ,labiler Bundesstaat aufgreift. In der Regel – so das Gericht – würden durch die Verfassung eines Bundesstaates die Existenz und das Gebiet der Gliedstaaten garantiert. Von dieser Regel weiche aber das Grundgesetz ausdrücklich ab: „In Art. 79 Abs. 3 GG ist nur der Grundsatz unverbrüchlich gesichert, dass der Bund ,in Länder gegliedert sein muß. Eine Garantie für die derzeit bestehenden Länder und ihre Grenzen kennt das Grundgesetz nicht. Im Gegenteil, es sieht, wie sich aus Art. 29 und Art. 118 GG ergibt, sowohl Veränderungen im Gebietsstand der einzelnen Länder als auch eine Neugliederung des Bundesgebietes vor, die zur Beseitigung eines oder mehrerer bestehender Länder führen kann. Diese Neugliederung kann sogar entgegen dem Willen der Bevölkerung des betroffenen Landes durchgeführt werden (vgl. Prot. des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates S. 54, 57 f.). Das Grundgesetz hat sich also zum ,labilen Bundesstaat im Sinne Thomas (HdbDStR Bd. I S. 184) bekannt.“76

So schmerzlich diese Einschätzungen für die kurz zuvor konstituierten Länder gewesen sein müssen, so unmissverständlich verhielt sich das Grundgesetz in der damaligen Fassung. Art. 29 Abs. 1 GG richtete einen ausdrücklichen Neugliederungsauftrag an den Bundesgesetzgeber und gab einen Zeitraum von drei Jahren nach Inkrafttreten der Übergangsverfassung vor.77 Der territoriale Bestand der Länder war also mit Inkrafttreten des Grundgesetzes der Selbstbestimmung der Länder entzogen worden. Insofern stellt es keine Verfassungsinterpretation zuungunsten der Länder dar, wenn das Gericht feststellte, dass die Bundesländer in ihrem territorialen Bestand nicht geschützt seien. Deutliche Kritik verdient jedoch die Einführung des Begriffs „labiler Bundesstaat“ unter Bezugnahme auf Thoma. Dieser analysierte in einem seiner Beiträge im Handbuch des Deutschen Staatsrechts von 1930 die bundesstaatliche Verfassung der Weimarer Republik vom 11. August 1919.78 Hierbei verwies er explizit auf den singulären Charakter der deutschen Republik. Die Weimarer Verfassung – so Thoma 76

BVerfGE 1, 14 [48]. Die damalige Fassung des Art. 29 Abs. 1 GG vom 23. 05. 1949 lautete: „(1) Das Bundesgebiet ist unter Berücksichtigung der landsmannschaftlichen Verbundenheit, der geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit und des sozialen Gefüges durch Bundesgesetz neu zu gliedern. Die Neugliederung soll Länder schaffen, die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können. […] (6) Das Verfahren regelt ein Bundesgesetz. Die Neugliederung soll vor Ablauf von drei Jahren nach Verkündung des Grundgesetzes und, falls sie als Folge des Beitritts eines anderen Teiles von Deutschland notwendig wird, innerhalb von zwei Jahren nach dem Beitritt geregelt werden.“, vgl. BGBl. 1949, S. 1 ff. 78 Thoma, in: Anschütz/Thoma, HdbDStR, Bd.1, 1930, S. 169 ff. 77

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Staatsqualität der Länder

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– sei die „einzige Bundesstaatsverfassung, deren föderalistische Elemente ohne Rechtsbruch aufgehoben werden könnten und also insofern juristisch labil erscheinen“.79 Juristisch seien jeder im nationalen Interesse notwendigen Reform die Tore geöffnet.80 Thoma entnimmt seine Einschätzung eines „labilen Föderalismus“81 dabei in erster Linie dem Umstand, dass die Weimarer Verfassung von 1919, anders als die Verfassung der USA und der Schweiz, keine „anderwärts vorgesehenen Unantastbarkeiten“ enthielt. Er bezog sich also auf den durchaus bemerkenswerten Umstand, dass die bundesstaatliche Konstitution der Weimarer Republik eben gerade nicht gegen eine grundlegende Veränderung oder gar ihre Beseitigung geschützt war. Wie Art. 18 der WRV zu entnehmen ist, ging bereits der historische Verfassungsgeber von der Notwendigkeit einer Länderneugliederung aus und stellte dementsprechend moderate Anforderungen an die Änderung von Zahl und Territorium der Länder.82 Zwar enthielt auch das Grundgesetz adäquate Regelungen in Art. 29 und Art. 118 damaliger Fassung. Der entscheidende Unterschied bestand jedoch in der ,Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG, die damals wie heute festlegt, dass die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und das Bundesstaatssystem selbst nicht abschaffbar sind. Eine solche Regelung enthielt die Weimarer Verfassung aber gerade nicht. Das Bundesverfassungsgericht verkennt an dieser Stelle offenbar sowohl den bundesstaatlichen Gewährleistungsgehalt des Grundgesetzes, der sich deutlich von den Regelungen der Weimarer Verfassung unterscheidet83, als auch die Beweggründe Thomas.84 79

Thoma, in: Anschütz/Thoma, HdbDStR, Bd.1, 1930, S.182. Thoma, in: Anschütz/Thoma, HdbDStR, Bd.1, 1930, S.184. 81 Thoma selbst verwendet ausschließlich den Begriff ,labiler Föderalismus. Der Terminus ,labiler Bundestaat geht also auf das BVerfG selbst zurück. 82 Art. 18 WRV lautete: „(1) Die Gliederung des Reichs in Länder soll unter möglichster Berücksichtigung des Willens der beteiligten Bevölkerung der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes dienen. Die Änderung des Gebiets von Ländern und die Neubildung von Ländern innerhalb des Reichs erfolgen durch verfassungsänderndes Reichsgesetz. (2) Stimmen die unmittelbar beteiligten Länder zu, so bedarf es nur eines einfachen Reichsgesetzes. (3) Ein einfaches Reichsgesetz genügt ferner, wenn eines der beteiligten Länder nicht zustimmt, die Gebietsänderung oder Neubildung aber durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird und ein überwiegendes Reichsinteresse sie erheischt.“, vgl. RGBl. 1919, S. 1383 (1387). 83 I.d.S auch Isensee, in: Badura/Dreier, in: FS 50 Jahre BVerfG, 2001, S. 719 (736) sowie Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 IV, Rdnr. 89. 84 Im Übrigen erscheint bereits die Charakterisierung des Weimarer Bundesstaatssystems als ,labiler Föderalismus missverständlich. Die negative Konnotation verschleiert die durchaus beabsichtigte Flexibilität, den eigentlichen Zweck des Art. 18 WRV. Dieser bestand gerade darin, zu vermeiden, die 1919 vorgefundene Gliederung der Länder statisch zu konstituieren, um so Zusammenschlüsse zu ermöglichen, soweit dies der wirtschaftlichen und kulturellen Prosperität zuträglich erschien. Der Neugliederungsvorbehalt in Art. 18 Abs. 1 Satz 2 erscheint 80

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2. Kap.: Die Staatlichkeit der Länder

Allein die unzutreffende negative Suggestion, die von dem Begriff ausgeht, hätte dem Gericht diese Wortwahl verbieten müssen. Erst recht jedoch lassen die Stabilisatoren des bundesstaatlichen Systems, die sich in der Regelung des Art. 79 Abs. 3, 1. und 2. Alt. GG finden, eine derartige Typisierung nicht zu. Weder die bundesstaatliche Struktur, also die Gliederung des Bundes in Länder, war labil. Im Gegenteil war und ist sie in Art. 79 Abs. 3 GG als unveränderlich garantiert.85 Noch waren die einzelnen Bundesländer der Gefahr ausgesetzt, durch geringe Anforderungen an ein entsprechendes Verfahren, Gebietsverluste hinnehmen zu müssen oder gar ihre Existenz einzubüßen, wie es der Ausdruck ,labil nahe legt. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass das Gericht lediglich klarstellen wollte, dass der territoriale Bestand der Länder nicht von der Garantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfasst ist. Zwar griff das Gericht anlässlich einer späteren Entscheidung den Terminus erneut auf, im Ergebnis stellen die dortigen Ausführungen jedoch eine Relativierung im hier vertretenen Sinne dar: „Art. 29 GG i.V.m. Art. 20 und Art. 79 Abs. 3 GG gibt unserer Verfassungsordnung das Gepräge eines labilen Bundesstaates: Zwar ist es von Rechts wegen ausgeschlossen, die bundesstaatliche Struktur zu beseitigen und an ihre Stelle irgendeine Form des Einheitsstaates zu setzen; aber die einzelnen Länder der Bundesrepublik sind weder in ihrer Existenz noch in ihrem Gebietsstand gegen Eingriffe und Veränderungen durch die Bundesgewalt verfassungsrechtlich geschützt.“86 Von einer tieferen Erörterung der Frage der Labilität des Bundesstaates soll hier abgesehen werden, da durch das Dreiunddreißigste Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 23. 08. 1976, Art. 29 GG dahingehend geändert wurde, dass statt der vorherigen Pflicht zur Neugliederung seither ,nur noch die Möglichkeit der Neugliederung besteht, mithin der Ausgangspunkt der gerichtlichen Einschätzung weggefallen ist.87 Jedenfalls gehört die Begriffsprägung ,labiler Bundesstaat nicht zu den Beiträgen des Bundesverfassungsgerichts, die zu größerer Klarheit bei der Interpretation der Bundesstaatsverfassung geführt haben. Anders als in sonstigen Fällen konnte es hierdurch keinen sinnvollen Beitrag zu einem besseren Verständnis des föderalen Systems leisten. Retrospektiv bleibt lediglich festzuhalten, aus damaliger Perspektive, angesichts der enormen Größenunterschiede zwischen den damaligen Ländern, wonach Preußen über 37 Mio. Einwohner verfügte, Schaumburg-Lippe noch nicht einmal über 50.000, geradezu als zwingend geboten. Dies räumt auch Thoma ein, der in diesem Zusammenhang von „unstreitiger Reformbedürftigkeit der bundesstaatlichen Bestandteile“ spricht. Insoweit kann seine Begriffswahl nur als diskutabler Versuch angesehen werden, die fehlende ,Unantastbarkeit der Bundesstaatlichkeit der Weimarer Republik terminologisch zu erfassen. Umso weniger ist sie als Anhaltspunkt für die Bewertung des Bundesstaates des Grundgesetzes geeignet. 85 So schließlich auch das Bundesverfassungsgericht selbst in BVerfGE 34, 9 [19] sowie hervorgehoben im 1.Ls.; vgl. die Untersuchung der Entscheidung im Rahmen dieses Kapitels u. 3.a). 86 BVerfGE 5, 34, [38]. 87 Art. 29 Abs. 1 Satz 1 GG lautete seitdem: „Das Bundesgebiet kann neu gegliedert werden, um zu gewährleisten, dass die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können.“, vgl. BGBl. I S. 2381.

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Staatsqualität der Länder

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dass es der Begriffsprägung zu verdanken sein dürfte, durch ihre fortwirkende schlagwortartige Präsenz den dahinter stehenden wichtigen Befund im allgemeinen Bewusstsein wach zu halten: Die seit 1949 überkommene Gliederung der Bundesrepublik Deutschland ist nicht auf ewig festgeschrieben. Vielmehr besteht die Möglichkeit, die Länder in ihren territorialen Ausmaßen respektive der Einwohnerzahl neu zu gliedern, um die staatliche Leistungsfähigkeit auf Länderebene zu gewährleisten.

e) Fazit Bereits in seiner zweiten Entscheidung attestierte das Bundesverfassungsgericht den Ländern Staatsqualität und Verfassungshoheit. Die Position der Länder gegenüber dem Bund wurde damit nachhaltig gestärkt. Die zugleich ausgesprochene Formel vom labilen Bundesstaat knüpfte an das vorkonstitutionelle Bundesstaatssystem der Weimarer Republik an und wurde der neu geschaffenen Konstruktion nicht gerecht. In konsequenter Anknüpfung an die mit der Südweststaatentscheidung postulierte Staatlichkeit der Länder bestätigte und präzisierte das Bundesverfassungsgericht in seiner weiteren Rechtsprechung den eingeschlagenen Weg.88 Mit abschließender Klarheit formulierte das Gericht dementsprechend: „Das Eigentümliche des Bundesstaates ist, dass der Gesamtstaat Staatsqualität und dass die Gliedstaaten Staatsqualität besitzen.“89 Von primärem Interesse für die weitere Untersuchung war demzufolge die Konkretisierung der Staatlichkeit der Länder.

2. BVerfGE 4, 178 – Landesgesetz zur Verwaltungsgerichtsbarkeit (Beschluss des Ersten Senates vom 11. Mai 1955) Das Gericht hatte zu klären, ob Artikel 88 der Landesverfassung Baden-Württembergs gegen Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG verstößt, indem die Vorschrift die Prüfungszuständigkeit des Staatsgerichtshofes auf das gesamte sogenannte vorkonstitutionelle Recht erstreckte und damit zugleich den Fachgerichten entzog. Hintergrund war die Anfechtungsklage eines Studienrates gegen die Ablehnung seiner Einstufung in eine höhere Besoldungsgruppe. Der Kläger erhob gemäß § 50 des von 1946 stammenden Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Land Württemberg-Baden Klage unmittelbar vor dem VGH, den die Vorschrift als erstinstanzlich zuständiges Gericht auswies. Im Hinblick auf den Wortlaut des Artikels 67 Absatz 3 der Landesverfassung, der den zweistufigen Verwaltungsgerichtsweg konstituierte, bestanden Zweifel über die Zuständigkeit des Gerichts. Mit dem Normenkontrollantrag begehrte der Verwaltungsgerichtshof primär die Klärung der Frage, ob seine Zuständigkeit weiterhin durch § 50 VGG begründet werde, indem dieser als 88

BVerfGE 4, 115 [136], 6, 309 [346 f.], 8, 104 [116], 14, 221 [234], 34, 9 [19], 36, 342 [360 f.], 60, 175 [207 f.], 72, 330 [385], 81, 310 [334], 87, 181 [196], 96, 345 [366]. 89 BVerfGE 36, 342 [ 360].

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2. Kap.: Die Staatlichkeit der Länder

Bundesrecht der Landesverfassung vorgehe. Das Bundesverfassungsgericht verneinte diese Frage.90 Dies antizipierend hatte der VGH hilfsweise beantragt zu klären, ob Artikel 88 LV insoweit das Grundgesetz verletze, als er die Prüfungszuständigkeit des Staatsgerichtshofes auf das sogenannte vorkonstitutionelle Recht erstrecke.91 Tatsächlich hatte der Landesverfassungsgeber die Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit – auch von vorkonstitutionellen Normen – gemäß Artikel 68 Absatz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Artikel 88 LV in die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs gestellt. Der VGH sah sich hierdurch in seinem verfassungsmäßig garantierten unmittelbaren Prüfungsrecht beschnitten. Die landesverfassungsgerichtlich begründete Vorlagepflicht laufe Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG zuwider, da dieser nur für nachkonstitutionelles Recht die Prüfungszuständigkeit des Staatsgerichtshofs begründe.92 Das Bundesverfassungsgericht gelangte zu der Einschätzung, dass Artikel 88 LV Württemberg-Baden nicht gegen Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG verstoße.93 Zwar sei das Wort ,Gesetz in Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG nur im formellen Sinne zu verstehen, so dass also vor Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassene Gesetze nicht umfasst seien. Jedoch kommt nach Ansicht des Gerichts Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG lediglich die Bedeutung zu, das Mindestmaß an Prüfungskompetenz der Landesverfassungsgerichte festzulegen. Keineswegs schließe er aber die Erweiterung auf vorkonstitutionelle Gesetze aus.94 Artikel 100 GG hat demnach nicht den Status einer Ausschlussnorm, sondern begründet eine Mindestkompetenz der Verfassungsgerichte. a) Grundsatz getrennter Verfassungsräume Erst im Nachgang zu diesen Feststellungen gelangt das Gericht in seiner Begründung zur Materie der Staatlichkeit beziehungsweise der Verfassungsautonomie der Länder. „In einem so betont föderativ gestalteten Staat wie der Bundesrepublik Deutschland stehen die Verfassungsräume des Bundes und der Länder grundsätzlich selbständig nebeneinander. Das Grundgesetz gibt für die Verfassungen der Länder nur wenige Normativbestimmungen. Im Übrigen können die Länder ihr Verfassungsrecht und damit auch ihre Verfassungsgerichtsbarkeit nach eigenem Ermessen ordnen.“95

Hiermit bestätigt das Gericht seine im Südweststaaturteil vorgenommenen Ausführungen zur Verfassungshoheit der Bundesländer. Darüber hinaus betont es an dieser Stelle deutlich die Eigenständigkeit und Freiheit der Länder bei der Ausgestaltung 90 91 92 93 94 95

BVerfGE 4, 178 [182]. BVerfGE 4, 178 [186]. BVerfGE 4, 178 [187]. BVerfGE 4, 178 [188]. BVerfGE 4, 178 [189]. BVerfGE 4, 178 [189].

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ihrer Verfassungen und schafft damit die Grundlage für das Prinzip getrennter Verfassungsräume von Bund und Ländern. Das Grundgesetz will es dabei ausdrücklich nicht als Muster für die Landesverfassungen verstanden wissen. b) Betont föderativ gestalteter Staat Neben dieser Konkretisierung der Verfassungshoheit der Länder sind auch die einleitenden Worte von fundamentaler Bedeutung. Das Gericht beseitigt jede Unsicherheit hinsichtlich der Intensität der föderalen Prägung der staatlichen Ordnung. Obwohl es einer solchen Klarstellung, zumal für die Lösung des zugrunde liegenden Streits, wahrscheinlich nicht unbedingt bedurft hätte, schafft das Gericht durch das Postulat des ,betont föderal gestalteten Staates höchst dankenswerte Klarheit. Es bedarf keiner großen Anstrengung sich vorzustellen, dass ohne die Formulierung dieses Leitgedankens mancher Skeptiker den Diskurs über die Notwendigkeit einer zentralistischeren Verfassungsinterpretation mit größerem Engagement geführt hätte. Auch die Signalwirkung an die Gesetzgeber in Bund und Ländern wird zumindest in gewissem Umfang die Begehrlichkeiten auf der einen Seite gebremst und das Selbstbewusstsein auf der anderen Seite gestärkt haben. Jedenfalls stellt diese Einschätzung der Bedeutung des föderalen Gedankens eine wegweisende Charakterisierung für das bundesstaatliche System der Bundesrepublik Deutschland dar.

3. BVerfGE 34, 9 – Hausgut der Länder (Urteil des Zweiten Senates vom 26. Juli 1972) Die Bundesregierung hatte mit dem Ersten Besoldungsvereinheitlichungs- und Neuregelungsgesetz vom 18. März 197196 den ersten Schritt zu einer Angleichung der Beamtenbesoldung in Bund und Ländern getan. Hierbei stützte sie sich auf den zeitgleich neu geschaffenen Kompetenztitel des Art. 74 a GG. Der Hessische Landtag hatte kurz darauf in dem sogenannten Ersten Hessischen Besoldungsanpassungsgesetz vom 24. Mai 197197 (1. HBesAnpG) diverse Regelungen getroffen, durch die es seine Landesbeamten in Besoldungsgruppen einordnete, die nach dem Bundesgesetz für entsprechende Amtsträger nicht vorgesehen waren. Die Bundesregierung sah in diesen Regelungen einen Verstoß gegen Art. V § 8 des 1. BesVNG98, gegen die Kompetenzzuweisung des Art. 74 a GG sowie gegen die 96

Vgl. BGBl. I S. 208. Vgl. hess. GVBl. I S. 113. 98 Art. V § 8 Abs. 1 des 1. BesVNG lautete: „Soweit sich aus dem Bundesbesoldungsgesetz in der Fassung dieses Gesetzes und den Vorschriften dieses Gesetzes nicht etwas anderes ergibt, gelten die bis zum Tage der Verkündung dieses Gesetzes erlassenen landesrechtlichen Gesetze und Rechtsverordnungen, soweit sie die Besoldung oder die Versorgung zum Gegenstand haben, unverändert fort“. 97

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Bundestreue. Artikel V § 8 Abs. 1 des Gesetzes hindere die Landesgesetzgeber, ihre besoldungs- und versorgungsrechtlichen Bestimmungen zu ändern. Erst diese „Sperrvorschrift“ ermögliche dem Bundesgesetzgeber die sukzessive Vereinheitlichung und Neuordnung des Besoldungsrechts in Bund und Ländern.99 Da sich die Bundesregierung in ihrem Normenkontrollantrag auf Art. 74 a GG bezog, sah sich das Bundesverfassungsgericht veranlasst, zu Beginn der materiellen Begründung seiner Entscheidung die grundsätzliche Frage zu erörtern, ob Art. 74 a Abs. 1 GG mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar sei. Diesen einleitenden Ausführungen gilt an dieser Stelle das Hauptinteresse, da sie entscheidende Feststellungen zur Staatsqualität der Bundesländer enthalten.

a) Die Unabänderlichkeit der Staatlichkeit der Länder – Art. 79 Abs. 3 GG Zunächst stellt das Gericht klar, dass nicht nur die territoriale Gliederung des Bundes in Länder, sondern auch die Staatsqualität der Länder vom Schutzbereich des absoluten Veränderungsverbotes des Art. 79 Abs. 3 GG umfasst ist: „Art. 79 Abs. 3 GG verbietet eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche ,die Gliederung des Bundes in Länder berührt wird. Die ,Länder sind hier, wie es dem Begriff und der Qualität des Bundesstaates entspricht, gegen eine Verfassungsänderung gesichert, durch die sie die Qualität von Staaten oder eine Essentiale der Staatlichkeit einbüßen.“100

Mit dieser Interpretation erstreckt das Gericht den Gewährleistungsinhalt des Art. 79 Abs. 3 GG über die Vorgabe des Verfassungstextes zugunsten der Länderstaatlichkeit. Der Wortlaut des Art. 79 Abs. 3 GG beschränkt sich hinsichtlich der Garantie bundesstaatlicher Bestimmungen auf die der Gliederung des Bundes in Länder, die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung sowie des bundesstaatlichen Prinzips. Das Grundgesetz verbietet also seinem Wortlaut gemäß lediglich die Änderung der territorialen Gliederungsstruktur, den Ausschluss der Länder von der Gesetzgebung sowie die Abschaffung des Bundesstaates. Eine explizite Garantie der Staatsqualität der Länder enthält der Text des Art. 79 Abs. 3 GG hingegen nicht. Die Integration gelingt dem Gericht, indem es die Gliederungsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG nicht nur territorial interpretiert, sondern, im Einklang mit seiner gefestigten Rechtsprechung, als Garantie der Gliederung des Bundes in Länder mit Staatsqualität.101 Die Staatlichkeit der Länder ist demnach bei der Lektüre des Verfassungstextes stets zu berücksichtigen. Der hierdurch geleistete Beitrag zur Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Stellung der Länder ist enorm. Befürwortete das Gericht die Staatlichkeit der Länder bis dahin ohne präzise verfassungsrechtliche Anbindung, erkennt es nun in Art. 79 99

BVerfGE 34, 9 [16 f.]. BVerfGE 34, 9 [19] sowie 1.Ls. 101 I.d.S. auch Barschel, Die Staatsqualität der deutschen Länder, 1982, S. 171. 100

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Abs. 3 GG die konstitutive Ewigkeitsgarantie für die Staatsqualität der Länder und die Essentialen ihrer Staatlichkeit. Die Beurteilungen des Gerichts stellen eine deutliche Stärkung der Position der Länder dar. Nicht nur die formale Existenz der Länder als Glieder des Bundes ist danach unveränderlich, sondern auch ihre staatliche Qualität. Die vorgenommene länderfreundliche Auslegung verdient zusätzliche Beachtung insofern, als sie die Stellung der Länder als Staaten nicht nur verfassungsrechtlich konstitutiv bestätigt, sondern sie jedwedem zukünftigen Veränderungsbegehren entzieht. Das Gericht gewährt auf diesem Weg umfassenden konstitutiven Bestandsschutz für die Länder als Gliedstaaten. b) Das Hausgut der Länder – Kernaufgaben als Bedingung der Staatlichkeit Unmittelbar nachdem das Gericht die Staatsqualität der Länder und ihre Essentialen dem Schutz der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG unterstellt hat, geht es dazu über, die Ausprägung der Staatlichkeit der Länder näher zu bestimmen. Zunächst schließt es eine Konkretisierung der Länderstaatlichkeit unter alleiniger Bezugnahme auf formale Kriterien aus. „Ob die Länder der Bundesrepublik ,Staaten sind oder von Körperschaften ,am Rande der Staatlichkeit zu ,höchstpotenzierten Gebietskörperschaften in einem dezentralisierten Einheitsstaat herabsinken, läßt sich nicht formal danach bestimmen, daß sie eine eigene Verfassung besitzen und daß sie über irgendein Stück vom Gesamtstaat unabgeleiteter Hoheitsmacht verfügen, also irgendeinen Rest von Gesetzgebungszuständigkeit, Verwaltungszuständigkeit und justizieller Zuständigkeit ihr eigen nennen.“102

Hierbei wird bereits deutlich, welche Bedeutung das Gericht der Ausgestaltung der Länderstaatlichkeit beimisst. Es begnügt sich nicht damit, die anerkannten primären Attribute des Staatswesens zu konstatieren – wenngleich anhand von Verfassung und Staatsgewalten der betreffende Status durchaus bestimmbar wäre. Vielmehr weist es vorausschauend darauf hin, dass die konstitutionellen Bestimmungen des Grundgesetzes den Status der Länder als Staaten nicht umfassend, sondern nur dem Grunde nach absicherten. Die Länder – so der Urteilstext – könnten in ihrer Qualität als Staaten durch Grundgesetzänderungen nach und nach ausgehöhlt werden, so dass am Ende nur noch eine leere Hülse von Eigenstaatlichkeit übrig bliebe.103 Das Gericht erkennt hier zutreffend, dass die Staatlichkeit der Länder allein durch das Zugeständnis von Verfassungshoheit und unspezifischer Beteiligung an staatlicher Machtausübung keine ausreichende Absicherung findet. Die Bedrohung der Substanz der Staatlichkeit der Länder durch einen kontinuierlichen Kompetenzentzug erschien dem Bundesverfassungsgericht offensichtlich so präsent, dass es mit

102 103

BVerfGE 34, 9 (19). BVerfGE 34, 9 [19 f.].

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2. Kap.: Die Staatlichkeit der Länder

dem Hausgutbegriff ein ergänzendes Kriterium schaffen wollte, um einer Aushöhlung der Länderstaatlichkeit entgegen zu wirken.104 Das Gericht gelangt, nachdem es die Notwendigkeit der verfassungsergänzenden Konkretisierung der Länderstaatlichkeit veranschaulicht hat, zu der konstruktiven Bestimmung des Gewährleitungsinhalts. „Die Länder im Bundesstaat sind nur dann Staaten, wenn ihnen ein Kern eigener Aufgaben als ,Hausgut unentziehbar verbleibt. Was immer im einzelnen dazu gehören mag, jedenfalls muß dem Land die freie Bestimmung über seine Organisation einschließlich der in der Landesverfassung enthaltenen organisatorischen Grundentscheidungen sowie die Garantie der verfassungskräftigen Zuweisung eines angemessenen Anteils am Gesamtsteueraufkommen im Bundesstaat verbleiben.“105

Die hiermit vollzogene Bestimmung einer weiteren Essentiale der Länderstaatlichkeit verdient genauere Betrachtung. Die Kernaussage besteht im Postulat der Garantie eines unentziehbaren Spektrums eigener staatlicher Aufgaben als weiterem substanziellen Kennzeichen der Staatlichkeit der Länder. Hinsichtlich der Struktur des dualen Kompetenzregimes des Grundgesetzes bedeutet dies, dass es dem Bund verwehrt ist, durch verfassungsändernde Gesetze den Bundesländern Zuständigkeiten in einer Weise zu entziehen, die sie ihrer Eigenstaatlichkeit entkleiden würden. Diese Klarstellung ist insoweit von herausragender Bedeutung, als der Verfassungstext – abgesehen vom Garantiegehalt des Art. 79 Abs. 3 GG – grundsätzlich jede mit entsprechender qualifizierter Mehrheit herbeigeführte Verfassungsänderung zulässt. Nach Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts ist aber hiernach jener Aufgaben- bzw. Zuständigkeitsbereich der Länder dem verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen, der für die Qualifizierung der Eigenstaatlichkeit unabdingbar ist. Eine verbindliche Aussage, wann die Schwelle zu einem solch substantiellen Entzug überschritten wird, bleibt das Gericht indes schuldig. Angesichts der Vielfalt der denkbaren Konstellationen kann eine grundlegende Beantwortung dieser Frage im Rahmen einer einzelnen Urteilsbegründung wohl auch nicht erwartet werden. Es bleibt wie so oft einer Abwägung des Einzelfalls vorbehalten, die jeweilige Konfliktlage sachgerecht aufzulösen. Immerhin nimmt das Gericht den gegenständlichen Streit zum Anlass auf zwei fundamentale Aspekte einzugehen. Zum einen erklärt es die Organisationshoheit der Länder zu den unentziehbaren Ausprägungen ihrer Staatlichkeit. Umfasst sind hiervon neben den in der Landesverfassung niedergelegten organisatorischen Grundentscheidungen auch sämtliche sonstigen organisatorischen Entscheidungen, die die ländereigene Aufgabenerfüllung betreffen. Im Bundesstaat des Grundgesetzes beinhaltet die Staatlichkeit der Länder also auch die Freiheit von Einflussnahme durch den Bund hinsichtlich der Organisation der länderei104 Vgl. zu der Frage, inwieweit das BVerfG durch seine Rspr. zur sog. Bedürfnisklausel Art. 72 Abs. 2 GG a.F. zu diesem Kompetenzverlust der Länder selbst beigetragen hat, die Untersuchung im Rahmen des 4. Kapitels unter Gliederungspunkt I.1. 105 BVerfGE 34, 9 [20].

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genen Aufgaben. Nicht umfasst ist demnach die Organisation der Erfüllung von Aufgaben, die dem Wirkungskreis des Bundes angehören, die von den Ländern also lediglich an Stelle des Bundes wahrgenommen werden. Dies ist auch sachgerecht, da die Wahrnehmung dieser Aufgaben gerade nicht der Eigenstaatlichkeit der Länder entspringt, sondern der konstitutiven Zuweisung von Bundesaufgaben an die Länder. Als weitere essentielle Bedingung der Länderstaatlichkeit nennt das Gericht zum anderen die Garantie der verfassungskräftigen Finanzausstattung. Genau genommen handelt es sich hierbei nicht um eine weitere unentziehbare Aufgabe im Sinne des Hausgutes der Länder, sondern um eine zusätzliche Kategorie zur Identifikation und Gewährleistung ihrer Staatlichkeit. Die Bedeutung dieser Voraussetzung liegt auf der Hand. Eine ausreichende Finanzausstattung ist unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben, also auch hinsichtlich jener Kernaufgaben, die das Hausgut der Länder ausmachen.106 Nach diesen wegweisenden allgemeingültigen Einschätzungen widmet sich der Urteilstext jener der Besoldungs- und Versorgungsvereinheitlichung vorhergehenden Grundgesetzänderung und damit der Fragestellung, ob Art. 74 a Abs. 1 GG gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstößt. Zwar werde mit der Übertragung der Zuständigkeit zur konkurrierenden Gesetzgebung auf dem Gebiet des gesamten Besoldungs- und Versorgungsrechts der Landesbeamten auf den Bund dem Land die Hoheit über einen wesentlichen Teil seines legislativen Organisationsrechts entzogen.107 Dennoch liege kein Verstoß gegen Artikel 79 Abs. 3 GG vor, da der Bundesgesetzgeber bei der Ausübung seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 a Abs. 1 GG an den Grundsatz der Bundestreue gebunden sei. Dem genüge der Bund bereits dann, wenn er die Regelung der Besoldung und Versorgung der Landesbeamten so treffe, dass den Ländern die Möglichkeit offen bleibt, im Zuge von Reformen und strukturellen Änderungen ihrer Organisation Ämter mit neuem Amtsinhalt, einschließlich ihrer besoldungsrechtlichen Einstufung, in eigener Verantwortung zu schaffen.

106 Eine weitere unentziehbare Kernaufgabe der Länder ist die Kulturhoheit und die damit verbundene Aufgabe der Gestaltung des Schulwesens. In dieser Hinsicht hatte das Bundesverfassungsgericht bereits in BVerfGE 6, 309 [354] Folgendes festgestellt: Die in Art. 7, 30, 70 GG getroffenen Grundentscheidungen „erklären – im Gegensatz zur Weimarer Verfassung – die Länder zum ausschließlichen Träger der Kulturhoheit, die für den Bereich der bekenntnismäßigen Gestaltung des Schulwesens nur durch die Bestimmungen der Art. 7, 141 GG begrenzt ist. Es handelt sich dabei um ein wesentliches Element des bundesstaatlichen Aufbaus der Bundesrepublik Deutschland.“ Der Zumessung elementarer Bedeutung für den Aufbau des Bundesstaates ist die Erkenntnis der Wesentlichkeit der Kulturhoheit für die Länderstaatlichkeit immanent. Folgerichtig ist sie dem Hausgut der Länder zuzurechnen. 107 BVerfGE 34, 9 [20]. An dieser Stelle erfolgt die fallspezifische inhaltliche Anknüpfung an die vorhergehenden Ausführungen zum Hausgut der Länder, denn die Ausgestaltung des Besoldungsrechts der Landesbeamten fällt in den Bereich jener Organisationsentscheidungen, die als Kernaufgabe dem unentziehbaren Hausgut zuzurechnen sind. Zudem geht es hierbei um die Verteilung von Finanzmitteln, die sich auf den Gesamthaushalt des jeweiligen Landes auswirkt und mithin auch die länderstaatliche Finanzhoheit betrifft.

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2. Kap.: Die Staatlichkeit der Länder

Dieser Befund muss Erstaunen hervorrufen, da er dem zuvor formulierten Grundsatz eines Staatsqualität begründenden Hausgutes ländereigener Kernaufgaben nur unzureichend Rechnung trägt. Vielmehr steht die Begründung, mit welcher das Gericht den Einklang zwischen den Vorschriften des Art. 74 a Abs. 1 GG und des Art. 79 Abs. 3 GG herzustellen versucht, geradezu im Widerspruch zu seinen vorherigen wertvollen Bemühungen, die Staatlichkeit der Länder zu konkretisieren und dem Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG zu unterstellen. Einerseits betont das Gericht, dass Organisationshoheit und Finanzhoheit der Länder zum unentziehbaren Hausgut der Länder gehören und von der Garantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfasst sind, andererseits befindet es den Entzug wesentlicher Ausprägungen dieser Kernaufgaben als verfassungskonform. Die Zuständigkeit für die Besoldung und Versorgung der Landesbeamten zählt fraglos zu den elementaren organisatorischen Aufgaben der Länder. Beamte werden in der Regel dort eingesetzt, wo es um die Wahrnehmung essentieller staatlicher Aufgaben geht. Zwar ließe sich anführen, dass es sich bei Fragen der Besoldung und Versorgung nicht um solch elementare Entscheidungen handelt wie beispielsweise bei der Schaffung von Beamtenstellen und der Ernennung von Landesbeamten. Dennoch kommt auch ihnen erhebliche Bedeutung zu, da die Besoldung und Versorgung der Beamten zentrale Aspekte bei der Ausgestaltung der Dienstverhältnisse und somit des Beamtentums des Landes darstellen. Dies zugrunde gelegt kann die Einschätzung des Gerichts nicht mitgetragen werden, wonach kein substanzieller Entzug vorliege, solange es den Ländern möglich sei, Ämter mit neuem Amtsinhalt einschließlich besoldungsrechtlicher Einstufung zu schaffen. Diese Argumentation taugt allenfalls zum Nachweis des Verbleibens eines wesentlichen Teils der Organisationshoheit, jedoch nicht dazu, die Wesentlichkeit der entzogenen Zuständigkeitsposition in Frage zu stellen. Die Zuständigkeitsverlagerung ist nicht zuletzt auch deswegen als bedeutsam anzusehen, da jede diesbezügliche bundesgesetzgeberische Entscheidung unmittelbare finanzielle Folgen für die Länder herbeiführt. Berücksichtigt man also die durch die Kompetenzverlagerung verursachten Einschnitte sowohl hinsichtlich der Organisationshoheit als auch hinsichtlich der Finanzhoheit der Länder, muss man zu dem Ergebnis gelangen, dass Art. 74a Abs. 1 GG durchaus als erheblicher Entzug staatlicher Eigenständigkeit der Länder angesehen werden kann.108 Die Bedeutung der Kompetenz der Beamtenbesoldung und -versorgung für die Staatsqualität der Bundesländer lässt sich auch daran ermessen, dass Artikel 74a Abs. 1 GG im Rahmen der Revitalisierung des föderalen Systems durch die erste Stufe der Föderalismusreform abgeschafft wurde. Zwar wurde der Kanon des Art. 74 Abs. 1 GG durch die Aufnahme der Nummer 27 erweitert, wonach die Sta108 Kritisch insoweit auch Oeter, Integration und Subsidiarität, 1998, S. 352; ders., in: Starck, Föderalismusreform, 2007, S. 9 (37). Nachvollziehbar bezeichnet er dort die Einfügung des Art. 74a GG als Ergebnis eines unitaristischen Rauschs der frühen siebziger Jahre und deutet die widersprüchliche Argumentation des Bundesverfassungsgerichts als Bemühen, dem Gesetzgeber bei der Umsetzung seiner verfassungspolitischen Vorstellungen nicht in die Arme zu fallen.

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tusrechte und -pflichten der Beamten der Länder, Gemeinden und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts sowie der Richter in den Ländern in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung fallen. Jedoch – und darauf kommt es maßgeblich an – enthält die Zuständigkeitsvorschrift im letzten Halbsatz eine wichtige Einschränkung: „mit Ausnahme der Laufbahnen, Besoldung und Versorgung“. Im Ergebnis ist dieser Annex von wesentlich größerer Bedeutung als der eigentliche Zumessungsgehalt der Norm, da er die immanente Klarstellung enthält, dass die wichtigsten Aspekte der beamtenrechtlichen Regelungsmaterie bei den Bundesländern liegen. Im Hinblick auf die Regelungen des ersten hessischen Besoldungsanpassungsgesetzes kommt das Gericht zu keinem einheitlichen Ergebnis. Den überwiegenden Teil der beanstandeten hessischen Vorschriften erklärt es jedoch für verfassungsrechtlich unvereinbar. Artikel V § 8 Abs. 1 des Besoldungsvereinheitlichungsgesetzes komme zwar nicht die Qualität einer die Länder bindenden konstitutiven Sperrklausel zu. Jedoch schließe Art. 72 Abs. 1 GG die Länder von der Gesetzgebung im Gesamtbereich der Materie aus, sobald der Bund sie zu regeln begonnen habe. Art. 72 Abs. 1 GG knüpfe an das ,Gebrauchmachen an und verlange nicht, dass der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht umfassend ,Gebrauch gemacht habe. Hinsichtlich der streitgegenständlichen Regelungen sei dem hessischen Landesgesetzgeber die legislative Befugnis daher entzogen, obwohl der Bundesgesetzgeber diesbezüglich erst einen Teilbereich explizit vereinheitlicht habe.109

c) Fazit Die Hausgutentscheidung des Bundesverfassungsgerichts enthält mehrere Aussagen, die für die Bewertung der Staatlichkeit der Länder von herausragender Bedeutung sind. Zum einen die ausdrückliche Einbeziehung der Staatlichkeit der Bundesländer in den Gewährleistungsumfang des Art. 79 Abs. 3 GG. Nicht nur die Gliederung des Bundes in Länder, sondern die Staatlichkeit und ihre essentiellen Merkmale sind danach von der Ewigkeitsgarantie umfasst. Im Anschluss an eine Warnung vor der systemimmanenten Gefahr einer Aushöhlung der Staatlichkeit der Bundesländer präsentiert das Gericht zum anderen ein weiteres Kriterium für die Bestimmung der Länderstaatlichkeit. Neben Verfassungsautonomie und Gewaltenpartizipation bedarf es eines Kerns staatlicher Aufgaben, der den Ländern als unentziehbares Hausgut garantiert ist. Hierzu zählen jedenfalls die Organisationshoheit sowie die verfassungskräftige Zuweisung eines angemessenen Anteils am Gesamtsteueraufkommen im Bundesstaat. Die konkrete Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse lässt indes die wünschenswerte Konsequenz vermissen, worin ein Zugeständnis an den verfassungspolitischen Zeitgeist zu erkennen sein mag. Dennoch nimmt die Entscheidung wegen ihrer länderfreundlichen Positionierung eine besondere Stellung ein. Das Gericht nutzt die sich ihm bietende Möglichkeit, sein überraschend weitreichendes Verständnis der Länderstaatlichkeit ausführlich 109

BVerfGE 34, 9 [28 f.].

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darzulegen und um das Kriterium des Hausgutes der Länder zu ergänzen. Hiermit manifestiert das Bundesverfassungsgericht die Eigenstaatlichkeit der Länder und stärkt ihre Position vehement. Den verfehlten Topos des labilen Bundesstaates hat das Gericht mit dieser Entscheidung endgültig aufgegeben.

4. BVerfGE 103, 332 – Naturschutzgesetz Schleswig-Holstein (Beschluss des Zweiten Senates vom 7. Mai 2001 in der Funktion als Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein) Auch in jüngerer Vergangenheit befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit Fragen der Länderstaatlichkeit und der Verfassungsautonomie der Länder. Das Gericht wurde anlässlich des zugrunde liegenden Verfassungsstreits gemäß Art. 44 Nr. 2 LV Schleswig-Holstein i.V.m. Art. 99 GG, § 13 Nr. 10 BVerfGG in seiner Funktion als Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein angerufen.110 Eine Reihe von Landtagsabgeordneten beantragte, das Gericht möge das schleswig-holsteinische Landesnaturschutzgesetz vom 16. Juni 1993 wegen fehlender Vereinbarkeit mit der Landesverfassung für nichtig erklären.111 Nach Ansicht der Antragsteller verstieß das Landesnaturschutzgesetz gegen die „Gefolgschaftspflicht des Landes gegenüber Bundesrecht“112, gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG, gegen die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung sowie gegen das Rechtsstaatsprinzip. Die folgende Analyse widmet sich den Ausführungen zur Frage des Verstoßes gegen die vermeintliche Gefolgschaftspflicht des Landes gegenüber Bundesrecht, da nur in diesem Zusammenhang Aspekte der Länderstaatlichkeit und der Verfassungsautonomie aufgegriffen werden. Dem Antrag der Landtagsabgeordneten lag der Gedanke zugrunde, dass neben dem Grundgesetz auch die Landesverfassung Schleswig-Holsteins den Landesgesetzgeber dazu verpflichtet, die Kompetenzvorgaben des Art. 75 GG sowie des Art. 74 GG einzuhalten. Transformationsmedium zwischen Grundgesetz und Landesverfassung sei die Gefolgschaftspflicht des Landes gegenüber Bundesrecht. Sie folge aus Art. 1 LV und aus der „apriorischen föderativen Eingebundenheit der Landesstaatlichkeit“.113 Auf den Punkt gebracht: die Antragsteller waren der Ansicht, dass ein Verstoß gegen Art. 74 und 75 GG zugleich einen Verstoß gegen die LV zur Folge habe und das Landesverfassungsgericht daher einen solchen Verstoß revidieren könne. 110

BVerfGE 103, 332 [344]. BVerfGE 103, 332 [334]. 112 BVerfGE 103, 332 [335]. 113 BVerfGE 103, 332 [335]. Nach Artikel 1 LV ist das Land Schleswig-Holstein ein „Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland“. 111

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Im Hinblick auf den angenommenen Verstoß gegen die Gefolgschaftspflicht des Landes verneint das Gericht bereits die Zulässigkeit des Antrags, da es an einer hinreichenden Normierung einer solchen Pflicht oder zumindest an einer normativen Anknüpfung innerhalb der Landesverfassung fehle, die hier alleiniger Prüfungsmaßstab sei.114 Grundgesetzliche Bestimmungen und Grundsätze könnten nur dann auch Bestandteile der Landesverfassung sein, wenn eine parallele Regelung auf Bundesund Landesebene überhaupt möglich sei. Die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen auf Bund und Länder erfolge in einem Bundesstaat jedoch nur auf der Ebene des Gesamtstaates. Eine Landesverfassung könne zwar eine eigenständige Anordnung dahingehend enthalten, dass die Landesstaatsgewalt die Verbandskompetenzordnung der Bundesverfassung zu beachten habe. Die Verfassung des Landes Schleswig-Holstein enthalte aber keine solche ausdrückliche Anordnung, und sie ergebe sich auch weder aus ihrem Art. 1, wonach das Land Schleswig-Holstein ein Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland sei, noch aus dem Rechtsstaatsprinzip der schleswig-holsteinischen Landesverfassung.115 a) Durchbrechung des Prinzips der getrennten Verfassungsräume? Nachdem das Gericht den Argumentationstopos der ,Gefolgschaftspflicht des Landes gegenüber Bundesrecht bereits als unzulässig verworfen hat, widmet es sich der grundsätzlichen Frage der Reichweite der Verfassungsautonomie der Länder. Zunächst wiederholt es die Formel vom betont föderativ gestalteten Staatswesen der Bundesrepublik Deutschland, in dem die Verfassungsbereiche des Bundes und der Länder grundsätzlich nebeneinander stehen. Ausgehend vom Fundament dieser ständigen Rechtsprechung116 nimmt das Gericht sodann eine bemerkenswerte Einschränkung der Selbständigkeit der Verfassungsräume vor. „Das selbständige Nebeneinander der Verfassungsräume darf nicht als Bezuglosigkeit aufgefasst werden; ein grundgesetzliches Einwirken in den landesverfassungsrechtlichen Raum ist nicht ausgeschlossen.“ […] „Denkbar sind folgende Modifizierungen und Durchbrechungen des Trennungsprinzips: Prüfung der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht als Vorfrage (a); Hineinwirken des Grundgesetzes in die Landesverfassung (b); Prüfung über das landesverfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip (c); Art. 100 Abs. 3 GG und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 60, 175 (d).“117

114 BVerfGE 103, 332 [349]. Das Gericht weist einleitend darauf hin, dass die Bindung der Länder an das Bundesrecht durch Art. 31 GG verfassungsrechtlich normiert sei, dass diese Bundesnorm aber kein tauglicher Prüfungsmaßstab für die gegenständliche Normenkontrolle auf Landesebene sei. 115 BVerfGE 103, 322 [350]. 116 BVerfGE 4, 178 [189]; 6, 376 [382]; 22, 267 [270]; 60, 175 [209]; 64, 301 [317]; 96, 345 [368]. 117 BVerfGE 103, 322 [351 f.].

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Ausgehend vom Prinzip getrennter Verfassungsräume stellt das Gericht klar, dass es diesen Grundsatz nicht als ausnahmslos ansieht. Als generalisierte Ausnahmekonstellationen benennt es das grundgesetzliche Einwirken in den landesverfassungsrechtlichen Raum und die allgemeinen Tatbestände der Modifizierung sowie der Durchbrechung des Trennungsprinzips. Die unterschiedliche Qualität der generalisierten Ausnahmen ist signifikant. Der Ausdruck des Durchbrechens gibt etwa Anlass zu der Annahme eines zumindest teilweisen Außerkrafttretens der Verfassungsautonomie der Länder. Ebenso der Ausdruck der Modifizierungen, der eine partiell eingeschränkte Wirksamkeit des Trennungsprinzips nahe legt. Hingegen lässt der Terminus des Einwirkens eine erheblich behutsamere Deutung zu, die eine durchgängige Geltung der Verfassungsautonomie nicht in Frage stellt. Angesichts der Bedeutung der Verfassungsautonomie für die Eigenstaatlichkeit der Bundesländer bedarf es der Klärung, inwieweit sich hinter den Ausführungen des Entscheidungstextes eine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts verbirgt.118 Sobald wie hier Modifizierungen und Durchbrechungen des Trennungsprinzips ins Feld geführt werden, stellt sich unwillkürlich die Frage, ob dadurch ohne Not der Stellenwert der Verfassungsautonomie in Frage gestellt wird. Zunächst ist jedoch die Vorfrage zu beantworten, ob die explizit genannten Konstellationen, die das Gericht als Modifizierungen und Durchbrechungen des Trennungsprinzips bezeichnet, in ihrer tatsächlichen Ausprägung überhaupt eine solche Intensität erreichen, die eine derartige Begriffswahl rechtfertigt. Von einer Modifizierung oder Durchbrechung des Trennungsprinzips kann nach hier vertretener Ansicht nur im Fall einer substanziellen Einschränkung der Verfassungsautonomie ausgegangen werden. Insbesondere der Begriff der Durchbrechung ist wohl nur dann angemessen, wenn ein Eingriffsrecht des Bundes in die Autonomie der Länder in Rede steht, etwa im Sinne eines Vetorechts des Bundes. Zweifel an der richtigen Begriffswahl müssen jedoch zulässig sein, sofern sich herausstellt, dass die betreffenden Einschränkungen lediglich Schranken des Verfassungsgestaltungsrechts der Länder sind, die die Allgemeingültigkeit der Verfassungsautonomie nicht in Frage stellen. Die Konzentration auf die terminologische Kennzeichnung findet ihre Rechtfertigung in der Nachhaltigkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Begriffsprägungen und der ihnen zugemessenen Bedeutung. Aus diesem Grund hütet sich das Gericht in aller Regel zu Recht vor allzu pointierten Begriffsprägungen, um Fehldeutungen über die tatsächliche Tragweite und Verallgemeinerungsfähigkeit der dahinter stehenden Erkenntnis vorzubeugen. Umso mehr verdient es eingehender Betrachtung, wenn das Gericht erstmals von der Durchbrechung des Trennungsprinzips spricht, nachdem zuvor allenfalls die Überlegung eines grundgesetzlichen Einwirkens auf die Landesverfassung zu vernehmen war.

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In der früheren Rechtsprechung des BVerfG hatte sich die systematische Unterscheidung von Durchgriffsnormen und Bestandteilsnormen herausgebildet; vgl. etwa Nierhaus, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 28 Rdnr. 4 f. sowie Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd.2, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rdnr. 53.

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Die unter dem Buchstaben a) benannte Prüfung einschlägiger Bestimmungen der Landesverfassung auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht119 als klärungsbedürftiger Vorfrage landesverfassungsrechtlicher Streitigkeiten bleibt ohne substantiellen Einfluss auf die Verfassungshoheit der Länder. Hierbei wird nicht die Selbstbestimmung der Länder bei der Gestaltung ihrer Verfassung in Frage gestellt, sondern die notwendige Kongruenz mit dem Grundgesetz überprüft. Gemessen an den früheren Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Aspekt ist insofern keine Abweichung zu erkennen. Bereits in BVerfGE 4, 178 wies das Gericht darauf hin, dass das Grundgesetz für die Verfassungen der Länder nur wenige Normativbestimmungen vorgibt und die Länder ihr Verfassungsrecht im Übrigen nach eigenem Ermessen ordnen können.120 Das Bundesverfassungsgericht sah die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten also seit jeher unter dem in Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG konstituierten Vorbehalt. Dennoch stehen die Verfassungsräume des Bundes und der Länder grundsätzlich selbständig nebeneinander.121 Von einer Modifikation oder Durchbrechung des Trennungsprinzips im Sinne einer substanziellen Einschränkung der Verfassungsautonomie kann daher keine Rede sein. Als weitere Einschränkung des Prinzips der getrennten Verfassungsräume führt der Beschluss das „Hineinwirken des Grundgesetzes in die Landesverfassung“ an. Diese Beziehung entspricht wohl am ehesten der von den Antragstellern im zugrunde liegenden Fall behaupteten Gefolgschaftspflicht des Landes gegenüber Bundesrecht, die auf einem Hineinwirken der Art. 74, 75 GG in die Landesverfassung beruhe. Das Bundesverfassungsgericht verweist hierzu auf eine seiner frühesten Entscheidungen aus dem Jahr 1952. Dort habe es bereits hervorgehoben, dass die Verfassung der Gliedstaaten eines Bundesstaates nicht in der Landesverfassungsurkunde allein enthalten sei, sondern in sie hinein auch Elemente der Bundesverfassung wirkten, so dass erst beide Elemente zusammen die Verfassung des Gliedstaates ausmachten.122 Wenngleich die letzte Position der Stellung der Landesverfassungen nicht gerecht wird123, weist das Gericht zutreffend darauf hin, dass der Landesverfassung auch

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BVerfGE 103, 322 [352]. BVerfGE 4, 178 [189], vgl. die Auswertung der Entscheidung unter Gliederungspkt. I.2.a) im Rahmen dieses Kapitels. 121 BVerfGE 4, 178 [189]. 122 BVerfGE 103, 322 [352] unter Verweis auf BVerfGE 1, 208 [232]. 123 Die Annahme, dass gewisse Bestimmungen des Grundgesetzes unabdingbare elementare Bestandteile der Landesverfassung seien, trifft nicht zu. Der Landesverfassungsgeber ist jedoch an gewisse Vorgaben des Grundgesetzes, wie das Homogenitätsprinzip des Art. 28 Abs. 1 GG gebunden. Die betreffende Passage stammt aus der Zeit der weiter oben analysierten Grundsatzentscheidung BVerfGE 4, 178 [189], die als Ausgangspunkt des Prinzips der Verfassungsautonomie anzusehen ist. Umso befremdlicher ist die Anknüpfung an diese ,überholten Erkenntnisse. Skeptisch hinsichtlich der historischen Passage auch Nierhaus: „rätselhaft und nebulös“, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 28 Rdnr. 3; ebenso Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd.2, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rdnr. 54; jeweils m.w.N. 120

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2. Kap.: Die Staatlichkeit der Länder

ohne explizite Nennung gewisse Grundentscheidungen der Bundesverfassung zugrunde liegen.124 In einem derartigen ,Hineinwirken des Grundgesetzes in die Länderverfassungen zeigt sich jedoch keine substanzielle Einschränkung der Verfassungsautonomie der Bundesländer. Vielmehr sind diese Grundsätze durch die Zustimmung der Länderparlamente zum Grundgesetz im Mai 1949 ungeschriebener Bestandteil der Länderverfassungen geworden. Die Länder haben die entsprechenden Grundsätze selbstbestimmt zum Gegenstand ihrer Verfasstheit erklärt. Darin ist insbesondere kein Verzicht auf konstitutive Selbstbestimmung zusehen, sondern im Gegenteil ein spezifischer Akt praktizierter Verfassungsautonomie im Bundesstaat. Zumal damit nicht die Preisgabe zuvor bestehender konstitutiver Werte einherging, sondern die Integration der Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes, also ein bedeutender Zugewinn. Der einzig konkretisierbare Verlust besteht darin, dass es den einzelnen Landesverfassungsgebern nicht möglich ist, sich der Bindung an das Grundgesetz eigenmächtig zu entziehen. Da diese Selbstbindung aber durch die verfassungsgebende Entscheidung der Länderparlamente herbeigeführt wurde, stellt sie keine typische Einschränkung, sondern eine originäre Prägung der Reichweite der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie dar. Die Metapher des ,Hineinwirkens des Grundgesetzes in die Verfassungen der Länder wird der Komplexität der verfassungsrechtlichen Wirkungen daher nicht in vollem Umfang gerecht. Tatsächlich haben die Länder die Grundsätze der Bundesverfassung und damit letztlich auch das Homogenitätsprinzip als ungeschriebenen Bestandteil ihrer eigenen Verfassungen konstitutiv anerkannt.125 Die besagten Grundsätze wirken also nicht permanent aus dem Verfassungsraum des Grundgesetzes in den der Landesverfassungen hinein126, sondern durch ihre konstitutive Integration in die 124 BVerfGE 103, 322 [353] unter Verweis auf BVerfGE 1, 208; Der Entscheidungstext nennt exemplarisch die in Art. 20 Abs. 3 GG normierte Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung, die entsprechend dem Selbstverständnis eines demokratischen Rechtsstaates auch den Landesverfassungen zugrunde liege. Gleiches gelte für den Primat des Völkerrechts vor dem innerstaatlichen Recht gemäß Art. 25 GG, der Gleichheit vor dem Gesetz, im Hinblick auf Art. 21 GG sowie hinsichtlich der Garantie der Freiheit des Rundfunks gemäß Art. 5 Abs. 1 GG. 125 Die fehlende ausdrückliche Normierung in den Landesverfassungen vermag diesen Befund nicht in Frage zu stellen. Anderenfalls müsste jede diesbezügliche Regelungslücke in der Landesverfassung als Verstoß gegen Art. 28 Abs. 1 und Art. 31 GG gewertet werden. Es kann jedoch nicht vorausgesetzt werden, dass die Landesverfassungen sämtliche Kernaussagen der Bundesverfassung wiederholen müssen, um sich im Einklang mit dem Grundgesetz zu befinden. Der Akt der Annahme des Grundgesetzes samt seinem bundesstaatlichen Integrationsmodell durch die Länderparlamente wirkt insofern fort. 126 I.d.S. auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd.2, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rdnr. 54, der die sog. Bestandteilstheorie kategorisch ablehnt, da sie eine unzulässige Umgehung des Art. 28 Abs. 1 GG darstelle, m.w.N.; ebenso: Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 5. Aufl. 2005, Art. 28 Rdnr. 32; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl., Art. 28 Rdnr. 1; zurückhaltender: Nierhaus, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 28 Rdnr. 5; Bartelsperger, in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 128 Rdnr. 46 f.

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Staatsqualität der Länder

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Verfassungen der Länder als deren eigenständige Inhalte fort. Genau genommen wirkt also nicht das Grundgesetz in die Landesverfassungen hinein, sondern die integrierten Grundsätze des Grundgesetzes entfalten als ungeschriebener Teil der Landesverfassungen im autonomen Verfassungsraum der Länder ihre andauernde Wirkung. Wenn also ein ,Hineinwirken bundesverfassungsrechtlicher Grundsätze in die Länderverfassungen in Rede steht, muss der konstitutive Akt der Übernahme dieser Grundsätze in den jeweiligen Kanon der gliedstaatlichen Verfassungsbestimmungen berücksichtigt werden. Die Länder sind im Ergebnis nicht allein durch das Grundgesetz an dessen Grundsätze gebunden, sondern durch deren – wenn auch ungeschriebene – Integration in die jeweiligen Landesverfassungen. Das ,Hineinwirken des Grundgesetzes in die Landesverfassung stellt im Ergebnis keine weitere Einschränkung der Verfassungsautonomie dar, sondern eine Ausprägung des Homogenitätsgebotes. Die Bezeichnung dieser rechtlichen Beziehungen zwischen den Verfassungsräumen als Durchbrechung des Prinzips der getrennten Verfassungsräume geht daher fehl. Auch hinsichtlich der zwei weiteren Konstellationen, die das Gericht als Durchbrechungen der Verfassungsautonomie anführt, ist die begrifflich suggerierte Intensität nicht gegeben. Die Anwendung grundgesetzlicher Bestimmungen im Rahmen der landesverfassungsgerichtlichen Prüfung eines Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip der Landesverfassung lässt die Selbständigkeit der Verfassungsräume unberührt. Ungeachtet der Frage, ob die singuläre Praxis des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs mit Art. 100 Abs. 1 GG vereinbar ist, verbirgt sich dahinter im Kern lediglich eine gerichtliche Entscheidung über eine zu klärende Vorfrage hinsichtlich des eigentlichen Prüfungsmaßstabs, aber keine Einschränkung der Verfassungsautonomie. In diesem Sinne weist das Bundesverfassungsgericht ergänzend darauf hin, dass der Bayerische Verfassungsgerichtshof nicht verbindlich über Bundesrecht entscheide.127 Auch Art. 100 Abs. 3 GG stellt keine Modifizierung oder Durchbrechung des Trennungsprinzips dar. Zwar wird dort ein Prüfungsrecht der Landesverfassungsgerichte hinsichtlich des Grundgesetzes vorausgesetzt, die Bestimmung zielt jedoch gerade darauf ab, die endgültige Interpretationshoheit des Bundesverfassungsgerichts zu untermauern. Hinsichtlich BVerfGE 60, 175 weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass die dort maßgebliche hessische Landesverfassung im Unterschied zur schleswig-holsteinischen das gesamte Landesrecht unter den Vorbehalt der Vereinbarkeit mit Bundesrecht gestellt habe. Daraus entnahm das Gericht eine einzigartige unmittelbare Geltung der Art. 70 ff GG für den Verfassungsraum des betreffenden Landes, die auf Schleswig-Holstein jedoch nicht übertragbar sei.128 Auch hier wird deutlich, dass die Verfassungsautonomie der Länder, abgesehen von den unumgänglichen Zugeständnissen im Rahmen ihrer selbst bestimmten konstitutiven Einbindung in das föderale System, uneingeschränkt gilt. Nur eine verfassungsrechtliche 127 128

BVerfGE 103, 322 [355]. BVerfGE 103, 322 [356].

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2. Kap.: Die Staatlichkeit der Länder

Einbindung des Bundesrechts durch den jeweiligen Verfassungsgeber kann zu weiteren Einschränkungen führen. Als Zwischenergebnis bleibt also festzuhalten, dass die exemplarisch angeführten Konstellationen keine substanziellen Einschränkungen darstellen, die eine Einordnung als Modifizierung oder gar Durchbrechung des Trennungsprinzips rechtfertigen können. Die Terminologie ist insofern missverständlich und darüber hinaus ungeeignet, die betreffenden Rechtsbeziehungen zwischen den Verfassungsräumen zutreffend zu qualifizieren. Die Verfassungsautonomie der Länder wird jedenfalls weit weniger eingeschränkt als der Sinngehalt der Begriffe es nahe legt. Eine nachhaltige Einschränkung der Verfassungsautonomie, die etwa die Befürchtung einer Aushöhlung der Verfassungsautonomie begründen könnte, existiert demnach nicht. Im Hinblick auf die assoziative Kraft der Aussagen des Bundesverfassungsgerichts bleibt daher zu hoffen, dass die Metapher von der ,Durchbrechung des Prinzips der selbständigen Verfassungsräume keinen Eingang in den wiederkehrenden Sprachgebrauch des Gerichts findet.129 Abseits der unpräzisen terminologischen Einordnung der Grenzen der Verfassungsautonomie gelangt der Entscheidungstext folgerichtig zu dem Ergebnis, dass die Normenkontrolle keinen Raum für die Prüfung der Art. 70 ff GG bietet, da diese nicht in die Landesverfassung Schleswig-Holsteins hineinwirke.130 Wie zur Klarstellung seiner vorhergehenden Ausführungen ergreift das Gericht nun die Gelegenheit, sich zu der Frage der Staatsqualität der Länder zu äußern. „Aus der Sicht eines Landes ist ferner zu berücksichtigen, dass seine Verfassungsautonomie und damit seine Staatlichkeit ganz nachhaltig beschädigt werden, je mehr an Prinzipien oder Normen der Bundesverfassung in eine Landesverfassung ,hineingelesen wird. Auf diese Weise wird letztlich ein Eckpfeiler des Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland untergraben: das föderale Prinzip des Art. 20 Abs. 1 GG.“131

Dieser Erkenntnis ist zuzustimmen. Sofern der vorhergehende Entscheidungstext den Leser durch seine missverständliche Terminologie im Zweifel darüber ließ, welchen Stellenwert das Gericht der Verfassungsautonomie der Länder und ihrer Bedeutung für die Staatsqualität der Länder aktuell beimisst, so deutlich bezieht es an dieser Stelle Position. Bemerkenswert ist bereits die kausale Verknüpfung von Länderstaatlichkeit und Verfassungsautonomie, die das Gericht in dieser Deutlichkeit nie zuvor benannt hat. Als erkenne es die Gefahr einer Erosion der Verfassungsautonomie, 129 Ob die Aufnahme der Entscheidung in das Nachschlagewerk der Rechtsprechung des BVerfG (vor Art. 20 GG, Nr. 28.1.) unter dem Schlagwort ,Durchbrechung des Trennungsprinzips einen Schritt in diese Richtung darstellt, kann erst zukünftig beantwortet werden. Positiv aus hiesiger Sicht ist jedenfalls anzumerken, dass die betreffende Terminologie bisher keinen Eingang in die aktuelle Kommentarliteratur gefunden hat. Vgl. etwa Nierhaus, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 28 Rdnr. 3 ff.; Hillgruber, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK, Art. 30 Rdnrn. 34 f., 115; Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd.2, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rdnr. 53 f. 130 BVerfGE 103, 322 [357]. 131 BVerfGE 103, 322 [357].

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Staatsqualität der Länder

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warnt es regelrecht davor, ohne Not Grundsätze oder einzelne Bestimmungen des Grundgesetzes in die Landesverfassungen ,hineinzulesen, da dies die Staatlichkeit der Länder nachhaltig beschädige. Es geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt eine Verbindung her, ausgehend von der Verfassungsautonomie über die Staatlichkeit der Länder bis hin zum föderalen System als Eckpfeiler der Bundesrepublik Deutschland. Sofern bis dahin irgendwelche Zweifel über den tatsächlichen Stellenwert der Verfassungsautonomie der Länder bestanden haben mögen, mit diesem Anerkenntnis der fundamentalen Bedeutung für die Länderstaatlichkeit und das Gesamtbild des deutschen Bundesstaates hat das Gericht für größtmögliche Klarheit gesorgt. Über den zugrunde liegenden Streitgegenstand hinaus weisen auch die anschließenden Zeilen des Beschlusstextes: „Letztlich spricht schon die Kompetenzordnung der Art. 70 ff. GG selbst gegen ein ,Hineinlesen (oder Hineinwirken) der bundesverfassungsrechtlichen Gesetzgebungskompetenzen in das Landesverfassungsrecht. Die Art. 70 ff. GG verteilen die Gesetzgebungsbefugnisse auf Bund und Länder. Dadurch werden Bund und Länder unmittelbar kraft Bundesverfassungsrechts berechtigt. Für die Länder bedarf es keiner Transformation auf der Ebene der Landesverfassung, um in dem ihnen belassenen vom Bund in der Verfassung geregelten Umfang tätig zu werden. Ihre Befugnisse und ihnen fehlende Befugnisse können die Länder unmittelbar aus dem Grundgesetz ablesen. Aus den genannten Erwägungen können die Art. 30 und 70 ff. GG auch nicht in die Bezeichnung des Landes Schleswig-Holstein als Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland in Art. 1 LV ,hineingelesen oder über das landesverfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip mittelbar als Prüfungsmaßstab herangezogen werden.“132

Damit gelangt der Beschluss zu jener Position, die den Antragstellern als Einfallstor ihrer Argumentation erschien. Dem entgegen stellt das Gericht unmissverständlich klar, dass die Kompetenzvorschriften der Art. 70 ff GG nicht zu den Grundsätzen und Prinzipien des Grundgesetzes gehören, die in den Verfassungsraum der Länder hineinwirken. Dem ist zuzustimmen, da die Kompetenzordnung zwar die Landesgesetzgeber hinsichtlich formeller und materieller Gesetze bindet, aber keinerlei Vorgaben hinsichtlich der Gestaltung ihrer Verfassungen enthält.133 b) Fazit Die Ambivalenz der Entscheidungsbegründung erschwert eine tendenzielle Einordnung. Einerseits operiert der Beschlusstext mit den Begriffen Modifizierung und Durchbrechung des Trennungsprinzips. Dadurch wird zunächst unwillkürlich der Eindruck erweckt, dass das Gericht im Gegensatz zu seiner früheren Rechtsprechung zu einer weniger restriktiven Deutung des Trennungsprinzips bereit sei. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass die aufgeführten Einschränkungen bei 132

BVerfGE 103, 322 [357, 358]. So auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd.2, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rdnr. 53 a.E.; Nierhaus, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 28 Rdnr. 6. 133

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2. Kap.: Die Staatlichkeit der Länder

weitem nicht jene Intensität aufweisen, die eine Charakterisierung als tatsächliche Durchbrechungen rechtfertigen. Die Begriffsprägung verdient daher deutliche Kritik. Nicht zuletzt, weil sich das Gericht andererseits in die Kontinuität seiner früheren Judikatur stellt, indem es die Verfassungsautonomie der Länder regelrecht beschwört. Es betont ausdrücklich die Bedeutung der Verfassungsautonomie der Bundesländer für deren Eigenstaatlichkeit und warnt vor dem ,Hineinlesen von Prinzipien und Normen des Grundgesetzes in die Landesverfassungen. Verfassungsautonomie und Staatlichkeit der Länder würden dadurch nachhaltig beschädigt und das föderale Prinzip als Eckpfeiler des Staatswesens untergraben. Auch wenn die schlagwortartige Präsenz der Parole von der Durchbrechung des Trennungsprinzips die Bestimmung der Position des Gerichts zunächst erschwert, der grundsätzliche Stellenwert der Verfassungsautonomie bleibt gewahrt. Das Gericht stärkt in dieser Hinsicht sogar die Position der Länder, indem es sich im Ergebnis deutlich gegen das Hineinlesen grundgesetzlicher Inhalte in die Landesverfassungen ausspricht und die Verfassungsautonomie als elementaren Baustein der Länderstaatlichkeit und des gesamten Bundesstaates bezeichnet.

II. Zusammenfassung Obwohl die Staatlichkeit der Länder nie im gleichen Maße umstritten war wie die theoretisch-konstruktive Erfassung des Bundesstaates, es also nicht so sehr auf die schlichtende Autorität des Bundesverfassungsgerichts ankam, so bedeutsam sind dennoch seine diesbezüglichen Feststellungen für den Stellenwert der Länder. Wie eingangs des Kapitels erwähnt, gibt der Verfassungstext mit Art. 30 Abs. 1 GG lediglich Anhaltspunkte für die Teilhabe der Länder an der Ausübung der Staatsmacht. Eine explizite Statuierung der Staatlichkeit der Bundesländer sieht das Grundgesetz nicht vor. Die Notwendigkeit einer solchen Festlegung verdeutlicht der Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner zweiten Entscheidung die Eigenstaatlichkeit der Länder begründete, die seither zum verfassungsrechtlichen Allgemeingut gehört. Die Zumessung staatlicher Qualität gehört zweifellos zu den bedeutsamsten und nachhaltigsten Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zugunsten der Länder. Unter dem nachhaltigen Eindruck der bundesstaatlichen Konzeption der Weimarer Reichsverfassung prägte das Gericht zunächst die missverständliche Formel vom labilen Bundesstaat. Diese frühe Rechtsprechung wurde bereits nach kurzer Zeit fallengelassen, so dass sie heute als überholt anzusehen ist. Weitere bedeutende Impulse für die Staatlichkeit der Länder gab das Gericht mit der Deklaration ihrer Verfassungshoheit und ihrer Verfassungsautonomie. Insbesondere das Prinzip der Trennung der Verfassungsräume gewährleistet nach Ansicht des Gerichts die Eigenstaatlichkeit der Länder, da hierdurch einer Aushöhlung der Verfassungshoheit der Länder durch ein Hineinlesen grundgesetzlicher Normen entgegengetreten werde. Neben der Hoheit über ihre unabhängigen Verfassungen und die

II. Zusammenfassung

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Teilhabe an den Staatsgewalten bedingt und erfordert die Staatlichkeit der Länder einen Kernbestand an unentziehbaren Aufgaben – das vom Gericht sogenannte Hausgut der Länder. Zu diesen Kernaufgaben gehören jedenfalls die Organisationshoheit sowie die bundesverfassungsrechtlich verankerte Finanzausstattung der Länder. Wie die Staatlichkeit der Länder selbst unterstellte das Gericht auch ihre essentiellen Kennzeichen und Ausprägungen der Garantie des Art. 79 Abs. 3 GG. Die Länder verdanken dem Bundesverfassungsgericht neben dem Anerkenntnis und der Konkretisierung ihrer Staatsqualität somit auch deren fortwährende Gewährleistung. Die Länderfreundlichkeit dieses Teils der Rechtsprechung ist evident.

3. Kapitel

Bundesstaatsprinzip und Bundestreue I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundesstaatsprinzip Bereits in dem ersten Urteil des Bundesverfassungsgerichts überhaupt findet sich eine Einschätzung, die deutlich erkennen lässt, welche Bedeutung es dem Bundesstaatsprinzip fortan beizumessen gedachte. „Zu den elementaren Grundsätzen des Grundgesetzes gehören das Prinzip der Demokratie, das bundesstaatliche Prinzip und das rechtsstaatliche Prinzip.“134

Die hiermit vorgenommene Einordnung als Elementarprinzip des 1949 neu konstituierten deutschen Staatswesens sowie die Gleichstellung mit den Kernprinzipien der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit steht für die herausgehobene Stellung, die das Gericht dem Bundesstaatsprinzip von Anfang an zuerkannte. Dementsprechend bezeichnete es das bundesstaatliche Prinzip als „Grundlage der Verfassung“135, als „fundamentales Verfassungsprinzip“136 und nahm an anderer Stelle Bezug auf das „bundesstaatliche Prinzip, auf dem die Verfassungsordnung der Bundesrepublik beruht“137. Entsprechend seinem Charakter als Verfassungsgrundsatz ist dem Bundesstaatsprinzip zunächst kein konkreter Normgehalt im engeren Sinne zu entnehmen. Es läge also nicht fern anzunehmen, dass das Bundesstaatsprinzip in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, jedenfalls aber im Rahmen der konkreten Falllösung, nur flankierende Bedeutung gewonnen haben könnte. Tatsächlich kommt ihm jedoch in den diversen Ausprägungen der Rechtsprechung teilweise sogar tragende Bedeutung zu. Exemplarisch seien hier nur die Bereiche Länderneugliederung138, Gesetzgebungskompetenzen139, Verwaltungskompetenzen140 und Finanzverfassung141 ge134 135 136 137 138 139 140

BVerfGE 1, 14 [28.Ls.]. BVerfGE 1, 14 [34]. BVerfGE 12, 36 [41]. BVerfGE 11, 77 [85]. BVerfGE 1, 14; 13, 54. BVerfGE 4, 115; 6, 309; 12, 205; 32, 199; 34, 9; 43, 291; 61, 149; 92, 203. BVerfGE 8, 122; 12, 205; 14, 197; 21, 312; 63, 1; 81, 310; 88, 203; 104, 238; 104, 249.

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Bundesstaatsprinzip

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nannt.142 Untersucht man die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung im Hinblick auf das Bundesstaatsprinzip, fällt sogleich auf, dass sich diese Materie von den anderen Gegenständen der Bundesstaatsrechtsprechung deutlich unterscheidet. Anders als dessen kodifizierte Normen ist das Bundesstaatsprinzip kein geschriebener Rechtssatz, der unmittelbar konkrete Rechtspositionen begründet. Streitentscheidende Funktion im ursprünglichen Sinne kann ihm schon von daher nur in begrenztem Maße zukommen. Die Regelungsdichte der geschriebenen Normen der Bundesstaatsverfassung ist zudem derart hoch143, dass es eines Rückgriffs auf das Bundesstaatsprinzip im Sinne einer streitentscheidenden Norm in der Regel nicht bedarf.144 Seiner Natur als Verfassungsprinzip entsprechend kommt dem Bundesstaatsgrundsatz daher primär eine prinzipielle und grundsätzliche Funktion zuteil. Diese muss wiederum in erster Linie darin bestehen, Unklarheiten bei der Anwendung konkreter Verfassungsnormen zu beseitigen. Nur ausnahmsweise kann es daher als Quelle ungeschriebenen Verfassungsrechts dienen und nur im letztgenannten Fall besteht überhaupt die Möglichkeit, dass sich justiziable Kontroversen unter Rückgriff auf das Bundesstaatsprinzip beurteilen lassen.

1. Normative Anbindung des Bundesstaatsprinzips Eine regelrechte Herleitung des Bundesstaatsprinzips nimmt das Bundesverfassungsgericht nicht vor.145 Vielmehr ist von Anbeginn erkennbar, dass es das föderative Prinzip als originären Bestandteil des Grundgesetzes auffasst. Dementsprechend ist von dem „im Grundgesetz festgelegten bundesstaatlichen Prinzip“ die Rede.146 Dies ist insofern nachvollziehbar, als der Bundesstaat in Art. 20 Abs. 1 GG ausdrücklich proklamiert wird und es daher als überflüssig erscheinen mochte, eine eigenständige Herleitung des Bundesstaatsprinzips vorzunehmen. Da sich jedoch hinter einem Prinzip stets mehr verbirgt als ein einzelner, wenn auch staatsprägender materieller Aspekt – in diesem Fall mehr als der bloße Tatbestand der föderativen Staatsform – hätte eine substanzielle Herleitung unter Bezugnahme auf konkrete Verfassungsnormen dem Prinzip inhaltliche Gestalt verleihen können. Zudem hätte sich das Gericht 141

BVerfGE 1, 117; 39, 96; 72, 330; 86, 148; 95, 250; 101, 158. Weitere Nachweise bei Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 29 Rdnr. 25. 143 Isensee, in: Isensee/Kirchhof, in: HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 126 Rdnr. 5; Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 29 Rdnr. 13. 144 Für den Bereich der Gesetzgebungszuständigkeiten exemplarisch Jestaedt, in: Isensee/ Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 29 Rdnr. 17, Fn. 97. 145 Vgl. Sˇarcˇevic´, Das Bundesstaatsprinzip, 2000, S. 62 sowie Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 29 Rdnr. 20. Ein Überblick über die Verortung des Bundesstaatsprinzips durch die Staatsrechtswissenschaft sowie eine eigenständige substanzielle Auseinandersetzung mit der normativen Anbindung finden sich bei Sˇarcˇevic´, Das Bundesstaatsprinzip, 2000, S. 60 ff. 146 BVerfGE 1, 14 [48]. 142

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

bei der anschließenden Bezugnahme und Ableitung weiterer Unterprinzipien nicht dem fortgesetzten Vorwurf ausgesetzt gesehen, diese entbehrten ihrerseits einer konstitutiven Herleitung.147 Zumindest nahm das Gericht zu Beginn seiner diesbezüglichen Spruchpraxis verschiedene Versuche einer normativen Anbindung vor, die jedoch zunächst bemerkenswert uneinheitlich blieben. So enthielt zwar die erste Erwähnung des bundesstaatlichen Prinzips den Klammerzusatz „(Art. 20, 28, 30 GG)“148 – mit der Nennung dieser Normen gibt das Gericht immerhin zu erkennen, dass es das Bundesstaatsprinzip der geschriebenen Verfassung im Wege der Induktion entnimmt. Doch bereits die nächstfolgende Entscheidung, in der dem bundesstaatlichen Prinzip eine tragende Rolle zukam und in deren Text in synonymer Verwendung die Begriffe „bundesstaatliches Prinzip“, „verfassungsrechtlicher Grundsatz des Föderalismus“ und „föderalistisches Prinzip“ enthalten sind, verzichtet komplett auf die Anknüpfung an den Verfassungstext.149 Spätere Entscheidungen nennen „Art. 20 Abs. 1 GG“150, „Artikel 20 Absatz 1, Artikel 28 Absatz 1 GG“151 und sogar „Art. 79 Abs. 3 GG“152 als konstitutiv-normative Grundlagen des Bundesstaatsprinzips. Zwischenzeitlich wurde geltend gemacht, dass das Gericht in neueren Entscheidungen ganz darauf verzichtet habe, die Geltung des Bundesstaatsprinzips durch geschriebene Verfassungsnormen zu begründen.153 In den seit dem Jahr 2000 ergangenen Entscheidungen finden sich jedoch wieder Bezugnahmen auf das Bundesstaatsprinzip unter unmittelbarer Anknüpfung an Art. 20 Abs. 1 GG. In BVerfGE 103, 81 – Pofalla I – nimmt das Gericht im Hinblick auf die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten Bezug auf den „in Art. 20 Abs. 1 GG verankerten Grundsatz der Bundesstaatlichkeit“.154 Jüngst befand das Gericht in BVerfGE 116, 327 zur Haushaltslage Berlins die angegriffenen Normen des Finanzausgleichsgesetzes und des Solidarpaktfortführungsgesetzes „mit Art. 107 Abs. 2 S. 3 GG und dem Bundesstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 1 GG, vereinbar“.155 Trotz aller Uneinheitlichkeit bleibt festzuhalten, dass das Bundesverfassungsgericht das Bundesstaatsprinzip in der überwiegenden Zahl der Fälle auf Art. 20 Abs. 1 GG zurückführt156 und diesen daher als primäre normative Basis anerkennt. Diese 147

Vgl. etwa die Kritik an der Herleitung der Bundestreue unter Gliederungspkt. II.4.c). BVerfGE 1, 14 [34]. 149 BVerfGE 1, 299 [315]. 150 BVerfGE 34, 9 [2.Ls.]; 63, 1 [43]; 95, 250 [264]. 151 BVerfGE 88, 203 [209]. 152 BVerfGE 92, 203 [237]. 153 ˇ Sarcˇevic´, Das Bundesstaatsprinzip, 2000, S. 62, unter Verweis auf BVerfGE 99, 1 und 101, 158; a.A. Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 29 Rdnr. 20, Fn. 124 unter zutreffendem Verweis auf BVerfGE 95, 250 [264]. Das Gericht hatte dort Art. 134 Abs. 3 GG „in Verbindung mit dem Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG)“ erörtert. 154 BVerfGE 103, 81 [88]. 155 BVerfGE 116, 327 [377]; an anderer Stelle der Entscheidung [387] ist die Rede vom „Rückgriff auf das allgemeine Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG)“. 156 So auch Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 29 Rdnr. 20. 148

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Bundesstaatsprinzip

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Präferenz verdient ausdrückliche Zustimmung, da sie sich auf die explizite Typisierung des deutschen Staatswesens durch den Verfassungswortlaut stützen kann.

2. Terminologie In der verfassungsgerichtlichen Judikatur findet sich eine Vielzahl im Grunde gleichbedeutender Bezeichnungen157, wie etwa „bundesstaatliches Prinzip“158, „föderatives Prinzip“159, „föderalistisches Prinzip“160, „Grundsatz der Bundesstaatlichkeit“161. Teilweise bedient sich das Gericht in einer Entscheidung verschiedener Bezeichnungen, wie in der bereits erwähnten frühen Entscheidung BVerfGE 1, 299 zur Bundeswohnungsbauförderung, in der unmittelbar nacheinander sowohl vom „föderalistischen Prinzip“ als auch vom „bundesstaatlichen Prinzip“ die Rede ist.162 Ebenso wie in jener Entscheidung vom 19. Oktober 2006, mit der es die beantragte Anerkennung einer solidaritätspflichtigen extremen Haushaltsnotlage des Landes Berlin ablehnte, wo sowohl von „dem bundesstaatlichen Prinzip“ als auch vom „Bundesstaatsprinzip“ die Rede ist, ohne dass eine inhaltliche Differenzierung vorgenommen wird.163 Zweifellos wird das Gericht die Verwendung der unterschiedlichen Bezeichnungen in aller Regel sorgsam abwägen, doch insbesondere im Hinblick auf Überschneidungen, wie die zuletzt genannten, wird man davon ausgehen können, dass die begriffliche Vielfalt in erster Linie dem Bemühen um eine pointierte und abwechslungsreiche Sprache entspringt. Dem widerspricht auch nicht die Erkenntnis, dass am häufigsten vom bundesstaatlichen Prinzip die Rede ist.164

Vgl. die Übersicht bei Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 29 Rdnr. 19. 158 Etwa in der bereits erwähnten ,Südweststaatentscheidung – BVerfGE 1, 14 [18 f., 34, 48] sowie aus neuerer Zeit BVerfGE 116, 327 [328]. 159 BVerfGE 64, 301 [317]; 102, 245 [251]. 160 BVerfGE 1, 14 [50]; 1, 299 [300] sowie 7.Ls.; 11, 77 [88]. 161 BVerfGE 103, 81 [88]. 162 BVerfGE 1, 299 [315]. 163 BVerfGE 116, 327 [328, 377]. 164 So auch: Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 29 Rdnr. 19. Dementsprechend findet sich auch in den Sachregistern der einzelnen Bände der Entscheidungssammlung des BVerfG sowie in den Sachregisterbänden selbst der Registerbegriff „Bundesstaat (bundesstaatliche Ordnung; bundesstaatliches Prinzip)“. – Der Begriff „Föderalistische Struktur (Ordnung) der Bundesrepublik“ bezieht sich hingegen auf die Gliederung des Bundes in Länder. 157

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

3. Funktionen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Auf den Kern seiner Wirkungsweise reduziert, fungiert das Bundesstaatsprinzip einerseits als Rechtserkenntnisquelle und andererseits als Rechtsquelle.165 Wie bereits erwähnt, werden die funktionalen Facetten des Bundesstaatsprinzips teilweise sehr weit ausdifferenziert. Die diesbezüglich wohl umfassendste Unterscheidung nimmt Sˇarcˇevic´ vor, der insgesamt acht Funktionen des Bundesstaatsprinzips benennt: 1. die Funktion als „typusbestimmender Maßstab der deutschen Staatlichkeit“, 2. die „Stützungsfunktion“, 3. die Funktion als „Auslegungsmaßstab der Verfassungsnormen“, 4. die Funktion als „Generator von Unterprinzipien“, 5. die „gewaltenteilende Funktion“, 6. die „integrationssperrende Funktion“, 7. die „konstruierende und konstituierende Funktion“ sowie 8. die „prinzipienergänzende Funktion“.166 Isensee charakterisiert die verfassungsgerichtliche Rezeption des Bundesstaatsprinzips als „Folie, die den Hintergrund für ein konkretes Problem der Rechtsanwendung abgibt“167 und erkennt folgende funktionale Erscheinungsformen: Das Bundesstaatsprinzip gebe „Aufschluss über die Stellung der Länder, über Inhalt und Umfang ihrer Handlungsmacht“, aus ihm folgten „unmittelbare Direktiven“ sowie „konkrete Subprinzipien“.168 Da dem Bundesstaatsprinzip in sämtlichen Facetten der bundesstaatlichen Rechtsprechung zum Teil tragende Bedeutung zukommt, die nur im jeweiligen materiellen Kontext angemessen analysiert werden kann, konzentriert sich auch die vorliegende Darstellung auf die hauptsächlichen Funktionen. Im Rahmen der Untersuchung kristallisierten sich folgende drei Erscheinungsformen heraus: 1. Auslegungsmaßstab, 2. Argumentative Stütze sowie 3. Quelle weiterer Unterprinzipien. a) Auslegungsmaßstab Die Anwendung der Bundesverfassung erfordert regelmäßig Reflexionen über Inhalt, Zielrichtung und Reichweite der jeweiligen Verfassungsnormen. Hierbei ist das Bundesstaatsprinzip häufig dogmatischer Bezugspunkt der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts. Der exemplarischen Veranschaulichung sollen die folgenden Beispiele dienen. Im Rahmen der Entscheidung BVerfGE 11, 77 – Ermächtigungsadressaten – hatte das Gericht zu beurteilen, ob die Verfassung missachtet wird, wenn die obersten Landesbehörden als Adressaten einer bundesgesetzlichen Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung benannt werden. Nach Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG können 165

So Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 29 Rdnr. 25. Sˇarcˇevic´, Das Bundesstaatsprinzip, 2000, in entsprechender Reihenfolge: 1. S.140 ; 2. S. 148 ; 3. S. 161; 4. S. 169; 5. S. 194; 6. S.197; 7. S. 200; 8. S. 202. 167 Isensee, in: Badura/Dreier, FS 50 Jahre BVerfG, Bd.2, S. 719 (733). 168 Vgl. Isensee, in: Badura/Dreier, FS 50 Jahre BVerfG, Bd.2, S. 719 (734). 166

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Bundesstaatsprinzip

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durch Bundesgesetz die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Es stellte sich nun die Frage, ob mit der Ermächtigung der obersten Landesbehörde – womit nach deutscher Gesetzestechnik das zuständige Fachministerium bezeichnet wird – unzulässig in die Hoheit der Länder eingegriffen worden sei: „Der für die Auslegung des Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG entscheidende Gesichtspunkt ist jedoch die Rücksicht auf das bundesstaatliche Prinzip, auf dem die Verfassungsordnung der Bundesrepublik beruht. Grundsätzlich respektiert die Bundesverfassung die Verfassungsordnung der Länder; ein Eingriff der Bundesgewalt in die Verfassungsordnung der Länder ist nur zulässig, soweit es das Grundgesetz ausdrücklich bestimmt oder zuläßt.“169 Im Folgenden arbeitet das Gericht heraus, dass eine entsprechende Ermächtigung durch Bundesgesetz nur an die Landesregierung als Kollektivorgan adressiert werden könne. „In keinem Fall kann das Bundesgesetz die Ermächtigung unmittelbar an den Landesminister geben; damit griffe es ohne Not korrigierend in die Kompetenzverteilung ein, die die Landesverfassung getroffen hat.“170 „Diese ,föderalistische, dem Bundesgesetzgeber Schranken ziehende Auslegung des Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG ist umso mehr geboten, als es nicht selten politisch höchst bedeutsam ist, welcher Stelle des Landes die Verordnungsmacht von Bundes wegen übertragen wird: […].“171 Anschließend veranschaulicht das Gericht näher, welches erhöhte Risiko politischer Einflussnahme es zu vermeiden gilt. Als weiteres Beispiel verfassungsgerichtlicher Auslegung anhand des Bundesstaatsprinzips lässt sich eine Passage aus der Entscheidung BVerfGE 72, 330 – Länderfinanzausgleich II – anführen. Das Bundesverfassungsgericht betont dort die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit eines vollständigen Finanzausgleichs zwischen den Ländern unter Hinweis auf das Bundesstaatsprinzip. Art. 107 Abs. Satz 1 GG verlange, dass die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen ausgeglichen werde. Unter Bezugnahme auf das Kriterium der Angemessenheit führt es aus: „Es würde indes gegen das bundesstaatliche Prinzip verstoßen, wenn der horizontale Finanzausgleich die Leistungsfähigkeit der gebenden Länder entscheidend schwächte oder zu einer Nivellierung der Länderfinanzen führte.“172 b) Stützungsfunktion Das Bundesverfassungsgericht bedient sich des Rückgriffs auf das Bundesstaatsprinzip auch, um jene Ergebnisse, die im Rahmen der Anwendung konkreter Verfassungsnormen zu gewinnen sind, zusätzlich auf das Verfassungsprinzip zu stützen.

169

BVerfGE 11, 77 [85]. BVerfGE 11, 77 [86]. 171 BVerfGE 11, 77 [86]. 172 BVerfGE 77, 330 [398]; vgl. die Analyse der Entscheidung in Kap. 5 unter Gliederungspkt. I. 2. c). 170

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

Gegenstand des in BVerfGE 63, 1 wiedergegebenen Verfassungsstreits war § 38 Abs. 2 SchornsteinfegerG, wonach die Bayerische Landesversicherungskammer zur Geschäftsführung der Bundesversorgungsanstalt der deutschen Bezirksschornsteinfegermeister verpflichtet wurde. Nachdem das Gericht zunächst die Vereinbarkeit der organisatorischen Ausgestaltung der Versorgungsanstalt im Hinblick auf Art. 87 Abs. 2 GG festgestellt hatte, widmete es sich der Frage der Zustimmungsbedürftigkeit einer solchen Organleihe: „Gegen § 38 Abs. 2 SchfG bestehen auch im übrigen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Inanspruchnahme von persönlichen und sächlichen Mitteln einer Landesbehörde durch den Bund, wie sie § 38 Abs. 2 SchfG vorsieht, bedarf der Zustimmung des die Behörde tragenden Landes. Erfolgte sie nicht, so bedeutete eine solche Inanspruchnahme einen unzulässigen Eingriff in die Verwaltungshoheit des betreffenden Landes und verletzte letztlich das bundesstaatliche Prinzip (Art. 20 Abs. 1 GG).“173 Zur Begründung der Verfassungswidrigkeit der hier vom Gericht hypothetisch entworfenen Konstellation hätte es eines Rückgriffs auf das Bundesstaatsprinzip nicht bedurft. Die Verfassungswidrigkeit der fiktiven Inanspruchnahme einer Landesbehörde durch den Bund ohne entsprechende Zustimmung des betreffenden Landes ergibt sich – wie das Gericht selbst zum Ausdruck bringt – primär aus der Missachtung der gemäß Art. 83 ff GG garantierten Verwaltungshoheit der Länder. Der zusätzliche Hinweis auf die Verletzung des Bundesstaatsprinzips stellt lediglich eine zusätzliche dogmatische Absicherung dar. Im vorliegenden Fall hatte das Land Bayern seine Zustimmung im Rahmen einer Bundesratsabstimmung erteilt. Insbesondere hinsichtlich der Finanzverfassung rekurriert die Rechtsprechung häufig auf das Bundesstaatsprinzip oder die daraus abgeleiteten speziellen Unterprinzipien, wie die Pflicht zu gegenseitiger Hilfeleistung oder das Prinzip des Füreinandereinstehens.174 BVerfGE 86, 148 – Länderfinanzausgleich III – enthält eine Passage, die exemplarisch für die parallele prinzipielle Absicherung normativ abgeleiteter Ergebnisse steht: „Im Hinblick auf die im Prinzip bundesstaatlicher Hilfeleistung angelegte und in Art. 109 Abs. 2 GG ausdrücklich niedergelegte Kooperationspflicht von Bund und Ländern kann dabei die Gewährung der Bundesergänzungszuweisungen daran gebunden werden, daß das betreffende Land sich zur Aufstellung und Durchführung eines Sanierungsprogramms verpflichtet.“175 Art. 109 Abs. 2 besagt, dass Bund und Länder bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen haben. Die daraus abgeleitete Kooperationspflicht stützt das Gericht zusätzlich auf das bundesstaatliche Hilfeleistungsprinzip als Unterprinzip des Bundesstaatsgrundsatzes. Damit vollzieht das Gericht auch an dieser Stelle eine übergeordnete dogmatische Anknüpfung, die seine Lesart des Art. 109 Abs. 2 GG bestätigt. 173 174 175

BVerfGE 63, 1 [43]. Vgl. im Anschluss Gliederungspkt. c). BVerfGE 86, 148 [269].

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Bundesstaatsprinzip

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c) Quelle von Unterprinzipien Besondere Beachtung verdienen schließlich jene Entscheidungen, in denen das Gericht Unterprinzipien aus dem Bundesstaatsprinzip abgeleitet hat. Diese Ergänzungen der geschriebenen Verfassung geben in besonderer Weise die Anschauung des Bundesverfassungsgerichts wieder. Die Statuierung der Prinzipien erfolgt in der Regel im Wege fallspezifischer Herleitung.176 Aufgrund dieser spezifischen Relation der einzelnen Unterprinzipien zu den separaten Teilbereichen der Bundesstaatsverfassung würde eine Darstellung, die sie abstrahierend als Ableitungen des Bundesstaatsprinzips wiedergibt, ihrem materiellen Gehalt nicht ausreichend gerecht werden können. Dies trifft insbesondere auf Bereiche wie die Finanzverfassung zu, für die dieser Teil der Rechtsprechung substanzielle Bedeutung hat.177 Ausgangspunkt der Unterprinzipien ist stets eine konkrete materielle verfassungsrechtliche Fragestellung. Das Bundesstaatsprinzip ist lediglich der dogmatische Bezugspunkt für deren Herleitung. Dementsprechend beschränkt sich die Arbeit an dieser Stelle auf eine knappe Darstellung der wichtigsten Unterprinzipien und ihre verfassungsgerichtliche Basis. Ihrem materiellen Schwerpunkt entsprechend werden sie im Rahmen der jeweiligen Kapitel anhand der maßgeblichen Entscheidungen ausführlich dargestellt und untersucht. Allein die Rechtsprechung zur Bundestreue soll als Schwerpunkt im Rahmen dieses Kapitels behandelt werden, da sie das am häufigsten angeführte Unterprinzip des Bundesstaatsprinzips darstellt und die Anzahl der Entscheidungen und die darin vollzogene materielle Ausgestaltung eine gesonderte Darstellung erfordert. Wie bereits angedeutet, sind abgesehen von der Bundestreue vor allem jene verschiedenen Unterprinzipien und Grundsätze von Bedeutung, die das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner finanzverfassungsrechtlichen Spruchpraxis herausgearbeitet hat.178 Das bündische Prinzip des Einstehens füreinander hat seinen judikativen Ursprung in BVerfGE 72, 330, wo es als ungeschriebene Grundlage des horizontalen Finanzausgleichs Eingang in die ständige Rechtsprechung des Gerichts fand und aus dem Wesen des bündischen Prinzips abgeleitet wurde.179 Zuletzt wies der Zweite Senat in BVerfGE 116, 327 – der Entscheidung über das Bestehen der Haushaltsnotlage des Landes Berlin – darauf hin, dass „nach der bisherigen Recht176

Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 29 Rdnr. 23. Vgl. bspw. BVerfGE 1, 117 [131] – Pflicht zum Finanzausgleich; BVerfGE 72, 330 [386] – bündisches Prinzip des Einstehens füreinander; BVerfGE 72, 330 [398] – Spannungslage des Länderfinanzausgleichs; BVerfGE 72, 330 [404] – Föderatives Gleichbehandlungsgebot. 178 Selbstverständlich existieren in der Judikatur des BVerfG zahlreiche weitere Grundsätze, die sich auf das Bundesstaatsprinzip zurückführen lassen. So etwa die Uneinschränkbarkeit der Länderkompetenzen – BVerfGE 11, 77 [88] und die Selbständigkeit der Verfassungsräume – BVerfGE 64, 301 [317] u. 99, 1 [11]; m. w. N. Sˇarcˇevic´, Das Bundesstaatsprinzip, 2000, S. 169. 179 BVerfGE 72, 330 [398]. 177

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

sprechung im Fall der extremen Haushaltsnotlage eines Landes eine bundesstaatliche Verfassungspflicht zur Hilfeleistung auch gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG in Verbindung mit dem bundesstaatlichen Prinzip des Füreinandereinstehens, Art. 20 Abs. 1 GG, bestehen“ kann.180 Zwar unterbleibt eine ausdrückliche Nennung des Bundesstaatsprinzips, aber die unmittelbare Bezugnahme auf Art. 20 Abs. 1 GG lässt keine Zweifel am Ursprung des Prinzips aufkommen. Das föderative Gleichbehandlungsgebot bezieht sich auf die Zuteilung von Bundesergänzungszuweisungen. Der Bundesgesetzgeber – so das Bundesverfassungsgericht – sei bei der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen, die das Ziel haben, die Finanzkraft der leistungsschwachen Länder allgemein anzuheben, zur Gleichbehandlung der Länder verpflichtet. Aus dem Bundesstaatsprinzip und dem allgemeinen Gleichheitssatz folge insoweit ein föderatives Gleichbehandlungsgebot für den Bund im Verhältnis zu den Ländern.181 Ohne die Ergebnisse der ausführlichen Analyse der betreffenden Rechtsprechung182 vorwegzunehmen, sei im Hinblick auf den limitierenden Wortlaut darauf hingewiesen, dass die Geltung des föderativen Gleichbehandlungsgebotes auf den Bereich der Bundesergänzungszuweisungen beschränkt ist.

4. Fazit Das Bundesstaatsprinzip wird vom Bundesverfassungsgericht in sämtlichen Bereichen bundesstaatsrechtlicher Fragestellungen in verschiedenen Funktionen eingesetzt. Die bedeutendsten sind die Verwendung als Auslegungsmaßstab, als Mittel unterstützender Argumentation sowie als dogmatischer Ausgangspunkt für die Herleitung föderativer Unterprinzipien und Grundsätze. Die Bezugnahme auf das Bundesstaatsprinzip enthält für sich genommen keine föderalistische oder zentralistische Tendenz. Erst der konkrete verfassungsrechtliche Kontext lässt eine entsprechende Beurteilung zu. Die jeweilige Judikatur zu den diversen Gegenständen der Bundesstaatsverfassung bietet den geeigneten Rahmen, die Bedeutung des Bundesstaatsprinzips in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu untersuchen.

II. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bundestreue „Die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten verlangt nach gefestigter Rechtsprechung, dass sowohl der Bund als auch die Länder bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen die ge-

180 181 182

BVerfGE, 116, 327 [375 f.]. BVerfGE 72, 330 [404]; zuletzt auch BVerfGE 116, 327 [382]. Vgl. Kap. 5, Gliederungspkt. I.2.e).

II. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Bundestreue

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botene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der Länder nehmen.“183

Dieser Passus aus dem Beschluss des Zweiten Senates vom 27. Juni 2002184 stellt eine der jüngeren Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts zum Grundsatz der Bundestreue dar. Die gefestigte Rechtsprechung, auf die darin Bezug genommen wird, geht bis auf den Beginn der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts zurück. Die erste Entscheidung, in der sich das Gericht der Materie der Bundestreue annäherte – damals noch ohne Nennung der später gleichermaßen verwendeten Begriffe Bundestreue und Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten – stellt das Urteil vom 20. Februar 1952 dar.185 „Das bundesstaatliche Prinzip begründet seinem Wesen nach nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Eine dieser Pflichten besteht darin, dass die finanzstärkeren Länder den schwächeren Ländern in gewissen Grenzen Hilfe zu leisten haben.“186

Mit dieser Feststellung schuf das Bundesverfassungsgericht bereits im ersten Jahr seiner Tätigkeit die Grundlage für die anschließende Entwicklung der Rechtsprechung zur Bundestreue. Die Grundsatzentscheidungen zur Bundestreue, die das Gericht alle in der ersten Dekade seines Schaffens zu treffen hatte, nehmen kontinuierlich Bezug auf diese frühe Entscheidung des Gerichts.187 1. BVerfGE 1, 299 – Wohnungsbauförderung (Urteil des Zweiten Senates vom 21. Mai 1952) Gegenstand des zugrunde liegenden Bund-Länder-Streits war der Entschluss der Bundesregierung zur Verteilung von Wohnungsbaufördermitteln unter Ausschluss der Bundesländer Bayern, Hessen und Niedersachsen. Den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Entscheidung bildeten die Probleme der späten Nachkriegsjahre in Deutschland, wie Wohnungsnot, massive Arbeitslosigkeit und die Organisation der Flüchtlingsfürsorge. Das Bundesland Schleswig-Holstein hatte 1951 im Rahmen seines Wohnungsbauprogramms Bauvorhaben gefördert und sich dabei unter massiver Überdehnung seiner finanziellen Möglichkeiten erheblich verschuldet. Auf diese Weise entstand ein Fehlbetrag von 53 Mio. DM. Die Länder signalisierten, dass sie ausnahmsweise eine Sonderregelung befürworten würden, die es Schleswig-Holstein ermöglichen sollte, den Fehlbetrag abzudecken. Die Bundesregierung entschloss sich, dem Land Mittel aus dem Haushaltstitel für die Wohnungsbauförderung in den Ländern zuzuteilen. Dies jedoch zulasten ein183 184 185 186 187

BVerfGE 106, 1 [27]. BVerfGE 106, 1. BVerfGE 1, 117. BVerfGE 1, 117 [131]. BVerfGE 6, 309 [361]; 8, 122 [138]; 12, 205 [254]; 13, 54 [75].

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

zelner anderer Länder, die nach dem sogenannten Düsseldorfer Schlüssel, einer Ländervereinbarung über die Verteilung der Wohnungsbaufördermittel des Bundes, bedeutende Zuteilungen erwarten durften. Ausgangspunkt des Streits war ein Vorschlag des Bundesministers für Wohnungsbau, wonach von den noch zu verteilenden 91 Mio. DM für Zwecke des sozialen Wohnungsbaus aus dem Bundeshaushalt 1951 47 Mio. DM an das Land Schleswig-Holstein zur Abdeckung der offenen Finanzierungsbeträge fließen sollten. Der Vorschlag für den sogenannten Verteilungsplan sah weitere Zuwendungen an andere Bundesländer vor, schloss aber die Länder Bayern, Niedersachsen und Hessen von einer Verteilung der restlichen 44 Mio. DM aus. Der Verfahrensgang der Fördermittelverteilung war gesetzlich durch § 14 Abs. 1 des Ersten Wohnungsbaugesetzes188 festgelegt. Danach waren die Bundesmittel für den Wohnungsbau im Einvernehmen mit den Ländern durch den Bundesminister auf die Länder zu verteilen. In der maßgeblichen Abstimmung widersprachen die Länder Bayern, Hessen und Niedersachsen dem vorgeschlagenen Verteilungsplan. Dennoch kündigte der Bundesminister an, die Mittel entsprechend seinem Vorschlag zuzuteilen. Die bayerische Staatsregierung rief dagegen das Bundesverfassungsgericht an und beantragte sinngemäß festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sei, an das Land Bayern weitere 14,7 Mio. DM zu Zwecken des Wohnungsbaus abzuführen; hilfsweise beantragte sie, die Bundesregierung zu verpflichten, die geplante Auszahlung an Schleswig-Holstein zu unterlassen. Sie begründete ihren Antrag primär damit, dass das nach § 14 Abs. 1 des 1.WoBauG erforderliche Einvernehmen mit den Ländern nicht hergestellt worden sei. Die Bundesregierung entgegnete daraufhin, dass ein Einvernehmen mit den Ländern über die Art der Verteilung der Wohnungsbaumittel bereits hergestellt sei, wenn die Mehrheit der Länder mit dem Verteilungsvorschlag des Bundesministers für Wohnungsbau einverstanden sei. Bayern und Niedersachsen seien deshalb nicht bedacht worden, weil sie zuvor Soforthilfemittel für Zwecke des Wohnungsbaus in Höhe von 20 Mio. DM beziehungsweise 18 Mio. DM erhalten hätten. Nach Ansicht der bayerischen Staatsregierung war die Berücksichtigung der 20 Mio. DM Soforthilfe nicht berechtigt, weil dieser Betrag im Rahmen der Verteilung von 400 Mio. DM Soforthilfemitteln zum Zwecke der „innergebietlichen Umsetzung von Flüchtlingen“ verteilt worden war. Gegenüber Schleswig-Holstein bestehe der gravierende Unterschied, dass sich Bayern bei der Aufstellung seines Wohnungsbauprogramms im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Mittel gehalten habe, während Schleswig-Holstein bei Überschreitung dieser Grenze darauf spekuliert habe, der Bund werde das entstehende Defizit abdecken.189 Mit seiner Entscheidung lehnte das Bundesverfassungsgericht zwar den Hauptantrag auf Zahlung einer bestimmten Summe ab, dennoch gab es der bayerischen Staats188 189

1.WoBauG vom 24. 04. 1950, BGBl. I S. 83. BVerfGE 1, 299 [305].

II. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Bundestreue

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regierung hinsichtlich der entscheidenden Frage Recht. In der Entscheidungsformel brachte es sinngemäß zum Ausdruck, dass die Verteilung der 91 Mio. DM Wohnungsbaufördermittel nur dann rechtmäßig erfolgen könne, wenn zuvor ein Einvernehmen mit allen Bundesländern erreicht worden sei. Bayern habe durch seine Verweigerung der Zustimmung zum Verteilungsplan die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten nicht verletzt, da der Ausschluss Bayerns von der Fördermittelzuteilung auf sachwidrigen Erwägungen beruhe und willkürlich sei.190 Zunächst stellt der Urteilstext unter Zuhilfenahme eindeutiger Formulierungen klar, dass der Wortlaut des § 14 Abs. 1 des 1.WoBauG keine andere Deutung zulasse als jene, wonach ein Einvernehmen ausschließlich dann angenommen werden könne, wenn alle Bundesländer dem Verteilungsplan zustimmten.191 Anknüpfungspunkt für die Ausführungen zur Bundestreue ist die anschließend angestellte Überlegung des Gerichts, in deren Rahmen es den § 14 Abs. 1 des 1.WoBauG in den größeren Zusammenhang des geltenden Verfassungsrechts stellt. Die Mitwirkung der Bundesländer bei der Verteilung der Wohnungsbaufördermittel des Bundes sei Ausdruck des föderalistischen Prinzips, das neben anderen Grundsätzen der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ihr Gepräge gebe.192 Als Glieder des Bundes besäßen die Länder, vorbehaltlich entgegenstehender verfassungsrechtlicher Bestimmungen, den gleichen Status; unter ihnen gelte nicht das Mehrheitsprinzip, sondern der Grundsatz der Einstimmigkeit, so dass kein Land durch die übrigen Länder überstimmt werden könne.193 Das Gericht stützt sich also zur Ausdeutung der Formulierung ,im Einvernehmen mit den Ländern neben der Wortlautanalyse auch auf verfassungsrechtliche Erwägungen zu dem Verhältnis der Bundesländer im Bundesstaat. Im Ergebnis gelangt es auf diesem Weg zu der Überzeugung, dass es zur Herstellung des erforderlichen Einvernehmens der Zustimmung aller Länder bedarf. Diese Forderung nach Einstimmigkeit hätte indes Bedenken hervorrufen können, wenn eine derartige Anforderung dazu führen würde, dass eine Minderheit durch ihr Veto mehrheitsfähige Entscheidungen auf Dauer verhindern könnte. Das Bundesverfassungsgericht verneint jedoch die Gefahr der Herrschaft der Minderheit mit der Begründung, dass die Länder durch die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten zu einer Verständigung gezwungen seien.194 Die maßgebliche Passage des Urteilstextes lautet: „Dem bundesstaatlichen Prinzip entspricht vielmehr die verfassungsrechtliche Pflicht, dass die Glieder des Bundes sowohl einander als auch dem größeren Ganzen und der Bund den Gliedern die Treue halten und sich verständigen. Der im Bundesstaat geltende verfassungsrechtliche Grundsatz des Föderalismus enthält deshalb die Rechtspflicht des Bundes und aller seiner Glieder zu ,bundesfreundlichem Verhalten; d. h. alle an dem verfassungsrecht190 191 192 193 194

BVerfGE 1, 299 [299]. BVerfGE 1, 299 [312], „wenn der Sprache nicht Gewalt angetan werden soll“. BVerfGE 1, 299 [314 f.]. BVerfGE 1, 299 [315]. BVerfGE 1, 299 [315].

80

3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue lichen ,Bündnis Beteiligten sind gehalten, dem Wesen dieses Bündnisses entsprechend zusammenzuwirken und zu seiner Festigung und zur Wahrung seiner und der wohlverstandenen Belange seiner Glieder beizutragen (so schon R. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, in der Festgabe für Otto Mayer, 1916, S. 247 ff., 261).“195

In diesen Sätzen findet sich der Ausgangspunkt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Institut der Bundestreue. Ausgehend davon, dass im Bundesstaat die Rechtspflicht zu bundesfreundlichem Verhalten gelte, stellt das Gericht fest, dass der Bund und die Länder untereinander verpflichtet seien, Verständigung zu erreichen. Es bestehe die Pflicht zur Verständigung. Damit beantwortet das Gericht zunächst die drängende Frage, wie der Bund und die Länder untereinander das Einvernehmen nach § 14 Abs. 1 des 1.WoBauG trotz vorhersehbar gegensätzlicher Interessen herzustellen haben. Denn naturgemäß wird bei der Verteilung von Finanzmitteln jedes Land primär auf seinen eigenen Vorteil bedacht sein. Man kann das Gericht diesbezüglich nur so verstehen, dass die Verhandlungen über den Verteilungsplan unter der Prämisse durchzuführen sind, dass eine Einigung erzielt werden muss. Dies erscheint auch praktikabel, weil alle Beteiligten ein Interesse an einer Einigung haben müssten, da es nach dem Wortlaut des Gesetzes nur dann zu einer Zuteilung von Fördermitteln kommen kann. Im Anschluss an diese Erkenntnis geht das Gericht zur Beantwortung der Frage über, ob das Land Bayern durch die Ablehnung des vorgeschlagenen Verteilungsplans gegen seine Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten gegenüber dem Bund und den übrigen Ländern verstoßen habe.196 Ein solcher Verstoß, so das Gericht, sei nur dann gegeben, wenn der Widerspruch des Landes Bayern als offenbar unsachlich einzustufen sei. Denn ein unsachlicher Widerspruch könne das Einvernehmen der anderen Beteiligten nie in Frage stellen; er sei schlicht unbeachtlich.197 Ein Einvernehmen ist demnach trotz des Widerspruchs eines Landes anzunehmen, wenn dieser auf offensichtlich unsachlichen Erwägungen beruht. Das Gericht geht also von der Fiktion eines Einvernehmens aus. Streng genommen stellt sich das Gericht damit zwar in Widerspruch zu seiner zuvor gewonnenen Erkenntnis, dass § 14 Abs. 1 des 1.WoBauG das Einvernehmen aller Länder fordere. Dennoch ist dem Gericht im Ergebnis zuzustimmen, denn erst durch die Fiktion des Einvernehmens bleibt die Verteilung der Wohnungsbaufördermittel praktizierbar. Denn anderenfalls bestünde tatsächlich die Gefahr des Diktats der Minderheit. Kein Verstoß gegen die Bundestreue liege vor, wenn – wie im Fall des Landes Bayern – ein sachlich begründeter Widerspruch das Einvernehmen verhindere. Legitim, so das Bundesverfassungsgericht, sei der Widerspruch eines Landes jedenfalls dann, wenn der zugrunde liegende Verteilungsvorschlag des Bundesministers auf offenbar

195 196 197

BVerfGE 1, 299 [315]. BVerfGE 1, 299 [316]. BVerfGE 1, 299 [317].

II. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Bundestreue

81

sachwidrige Erwägungen zurückzuführen sei.198 Derart sachwidrige Erwägungen lägen dem Verteilungsvorschlag des Bundesministers hier zugrunde. Einerseits sei es fehlerhaft, dem Land Bayern Mittel mit der Begründung zu versagen, dass das Land Schleswig-Holstein die Mittel zur Deckung seiner Schulden benötige. Denn, so das Gericht, Schleswig-Holstein habe sich in Höhe von 53 Mio. DM verschuldet, obgleich es nicht damit rechnen durfte, dass die vom Bund zu erwartenden Mittel zur Deckung der eingegangenen Verpflichtungen ausreichen würden. Ein Land, welches so handele, möge den Fehlbetrag aus den ihm später ordnungsgemäß zufließenden Bundesmitteln für den sozialen Wohnungsbau abdecken oder sich die Mittel anderweit beschaffen. Keinesfalls aber komme eine Verteilung unter Benachteiligung der anderen Länder in Betracht.199 Andererseits sei auch der Gesichtspunkt sachfremd, dass das Bundesland Bayern bereits 20 Mio. DM zur Soforthilfe erhalten habe. Eine Aufrechnung sei unzulässig, da die Mittel aus unterschiedlichen Quellen flössen, nach verschiedenen Verfahren und für verschiedene Zwecke verteilt würden. Die Soforthilfemittel habe Bayern allein zur Behebung dringender sozialer Notstände bei Flüchtlingen und Sachgeschädigten erhalten.200 a) Herleitung der Bundestreue Das Bundesverfassungsgericht leitet die Rechtspflicht zu bundesfreundlichem Verhalten aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Föderalismus her.201 Die Bedeutung dieser Erkenntnis unterstreicht es durch deren Wiedergabe als Leitsatz der Entscheidung.202 Anlass zu Kritik bietet jedoch das Versäumnis des Bundesverfassungsgerichts, das Grundgesetz als Fundament dieser Erweiterung der geschriebenen Verfassung zu nutzen. Eine dogmatisch fundierte Herleitung unter klarer Bezugnahme auf die Regelungen des Grundgesetzes findet nicht statt.203 Es erfolgt vielmehr eine Feststellung unter allgemein gehaltener Inanspruchnahme des verfassungsrechtlichen Grundsatzes des Föderalismus beziehungsweise des föderalistischen Prinzips.204 Hierbei entsteht der Eindruck, als würden allgemeine Überlegungen zu Treuepflichten in föderalistisch

198

BVerfGE 1, 299 [317]. BVerfGE 1, 299 [318 f.]. 200 BVerfGE 1, 299 [320]. 201 BVerfGE 1, 299 [315]. 202 BVerfGE 1, 299 [300] sowie 7.Ls. 203 Ähnlich Oeter, Integration und Subsidiarität, 1998, S. 217, der das Fehlen einer erkennbaren Konzeption der Bundestreue beklagt und dies dem „unentschiedenen Moment“ der frühen Rechtsprechung des BVerfG zur Bundestreue anlastet. 204 Kritisch insoweit auch Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 29 Rdnr. 73. 199

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

strukturierten Staaten angestellt, nicht aber eine grundsätzliche Konkretisierung des kürzlich neu geschaffenen deutschen Verfassungsrechts vorgenommen.205 Neben der Klarheit des Bezugs auf das Grundgesetz fehlt es an einer Begründung für die Notwendigkeit der Einführung eines solchen Rechtsinstituts.206 Es mag ohne Weiteres einleuchten, dass sich der Bund und die Bundesländer, ebenso wie die Beteiligten sonstiger Bündnisse, neben gesetzlichen Normen und konkreten Vereinbarungen auf ungeschriebene Grundsätze des gemeinsamen und gemeinschaftlichen Umgangs stützen und berufen können müssen. Dennoch ist die vermeintliche oder tatsächliche Selbstverständlichkeit, mit der eine Erkenntnis erlangt wird, keine geeignete Grundlage, um die Rechtsbindungen des Grundgesetzes um einen ungeschriebenen Grundsatz zu erweitern. Insofern fehlt es zumindest an einer erläuternden Darstellung, aus welchen Gründen sich dem Gericht das Erfordernis einer Rechtspflicht zu bundestreuem Verhalten aufdrängte. Dies durfte indes erwartet werden, da es dem Rang der Verfassung entsprochen hätte, eine derartige Ergänzung des geschriebenen Verfassungsrechts nur unter gleichzeitigem Nachweis der offensichtlichen Notwendigkeit vorzunehmen. Eine Beschreibung des Weges zu einer solchen Erkenntnis und die Darlegung der Geeignetheit der betreffenden Rechtspflicht als Korrektiv für den Umgang des Bundes und der Länder unter der Geltung des Grundgesetzes finden sich nicht. Dies ist insbesondere deshalb nicht nachzuvollziehen, weil das Inkrafttreten des Grundgesetzes zum Zeitpunkt der Entscheidung erst zwei Jahre zurücklag. Bei der Einführung eines ungeschriebenen Rechtsgrundsatzes in ein neues Verfassungsgefüge wäre besondere Sorgfalt bei der Begründung einer solchen Entscheidung angebracht gewesen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Grundgesetz im Vergleich zur Weimarer Verfassung detaillierte Regeln über das Bund-Länder-Verhältnis enthielt. Missverständlich tritt hinzu, dass statt der fehlenden Begründung ein lapidar anmutender Quellenverweis erfolgt: „so schon R. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, in der Festgabe für Otto Mayer, 1916, S. 247 ff., 261“.207 Zwar muss darin kein „Transfer verfassungsrechtlicher Aussagen gleich über mehrere Verfassungsepochen“ zu erblicken sein208, denn das hieße davon auszugehen, dass das Gericht sich zur Implementierung der Bundestreue in das bundesrepublikanische Verfassungsrecht eines Festgabebeitrages bedienen wollte, der Überlegungen über das ungeschriebene Verfassungsrecht zu Zeiten des Kaiserreichs ent205 Dieser Eindruck entsteht insbesondere durch den Einsatz allgemeiner Terminologie. So spricht das Gericht allgemein von Bündnis, den Gliedern des Bundes, dem größeren Ganzen, von dem im Bundesstaat geltenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des Föderalismus, von der Rechtspflicht des Bundes und aller seiner Glieder. Keine Erwähnung finden hingegen die Begriffe Grundgesetz, Bundesrepublik Deutschland und Bundesländer. 206 Ebenso sieht dies auch Korioth, Integration und Bundesstaat, 1990, S. 260. 207 BVerfGE 1, 299 [315]. 208 So sieht dies Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 123, der eine derartige Übertragung freilich als „in höchstem Maße begründungspflichtig“ ansieht.

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hielt. Vielmehr entsteht jedoch durch die einleitende Formulierung ,so schon der Eindruck, dass der Senat diese Quelle lediglich zum Beleg althergebrachter Selbstverständlichkeit anführen wollte, mit welcher sich die allgemeingültige Erkenntnis durchgesetzt habe, dass die Bundestreue in jedem bundesstaatlichen Gefüge Geltung beanspruchen könne. Diese Interpretation erscheint nicht zuletzt deswegen nahe liegend, weil sie übereinstimmt mit dem bereits erwähnten Eindruck der Allgemeingehaltenheit der Überlegungen. Der Anschein der Unbedarftheit209, mit der er diese Referenz anführt, legt nahe, dass der Senat eine konsistente Herleitung der Bundestreue am Maßstab des Grundgesetzes, dem einzig relevanten Bezugsobjekt, nicht für erforderlich hielt. Dass dieser Obliegenheit nicht entsprochen wurde, ließe sich, ebenso wie die ganz überwiegend unkritische Aufnahme der Entscheidung im zeitgenössischen Schrifttum210, vermutlich nur damit erklären, dass die Rechtsgeltung der Bundestreue zum Gemeingut des Bundesstaatsrechts und damit zur Selbstverständlichkeit avanciert war.211 Jedoch angesichts der erstmaligen ausdrücklichen Anwendung der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten, zumal unter der kurzen Geltungsdauer der neuen Verfassung, war das Bundesverfassungsgericht nicht davon entbunden, diesen ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz212 für die noch junge Bundesrepublik konstitutiv zu entwickeln, mochte seine Geltung den Richtern auch noch so selbstverständlich erscheinen.213

209 Diesen Eindruck teilt Korioth, Integration und Bundesstaat, 1990, S. 268, wenn er feststellt, dass offen bleiben müsse, ob die Bezugnahme auf Smend durch das Bundesverfassungsgericht bewusst oder unbewusst geschehen sei; einen „auffallend unbekümmerten Umgang“ registriert auch Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 124. 210 Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 127; offene Kritik wurde erst anlässlich des sogenannten Fernsehurteils vom 28. 02. 1961 – BVerfGE 12, 205 geübt, vgl. insoweit w.u. Gliederungspkt. 4. c). 211 Dazu ausführlich Bauer, Die Bundestreue, 1992 sowohl hinsichtlich der Publikationen seit 1949 (S. 117 f.), als auch mit Blick auf die Zeit nach der Entscheidung, (S. 126 f.). 212 Die systematische Einordnung als ungeschriebener Verfassungsgrundsatz behielt sich das Gericht für eine spätere Entscheidung vor – BVerfGE 4, 115 [140]. Vgl. w.u. Gliederungspkt. II.2.b). 213 Deutliche Kritik an der Bezugnahme auf vorkonstitutionelle Quellen üben u. a.: Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 124, der eine anachronistische Wirkung reklamiert; Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3.A., 2004, § 29 Rdnr. 73; Kowalsky, Die Rechtsgrundlagen der Bundestreue, 1970, S. 43, der die Berufung des Bundesverfassungsgerichts auf Smend als unzutreffend bezeichnet. Bezeichnend ist die Einschätzung Smends, in: Kunst/Herzog/ Schneemelcher, Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Stichwort Integration, Spalte 1024 (1026), wonach die Bundestreue dem Bonner Grundgesetz wohl nicht ohne weiteres zu entnehmen gewesen sei.

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

b) Funktionale Deutung der Bundestreue Zunächst greift das Bundesverfassungsgericht zur inhaltlichen Bestimmung der Bundestreue die zentrale Aussage des Festgabebeitrags Smends214 auf und wandelt diese folgendermaßen ab: „alle an dem verfassungsrechtlichen ,Bündnis Beteiligten sind gehalten, dem Wesen dieses Bündnisses entsprechend zusammenzuwirken und zu seiner Festigung und zur Wahrung seiner und der wohlverstandenen Belange seiner Glieder beizutragen“.215 Trotz der erstmaligen Rezeption des Bundestreuegedankens unterbleiben weitere Ausführungen zur Verdeutlichung des Inhalts. Jedoch bietet die Sinndeutung des Gerichts auch so genügend Anhalt für eine weiterführende Interpretation. Unter den Kernbegriff der verfassungsgerichtlichen Deutung, das Zusammenwirken, lässt sich exemplarisch subsumieren, dass Bund und Bundesländer bei der Erfüllung ihrer Aufgaben womöglich gemeinsam agieren und ihre Kräfte dabei zum Vorteil auch der anderen Länder und des Bundes bündeln sollen. Darunter lässt sich wiederum die vorbehaltlose Bereitschaft zu Zusammenarbeit und gemeinsamer Problemlösung fassen, dementsprechend der Wille zum Konsens und zum Ausgleich widerstreitender Interessen, ebenso wie die Bereitschaft zur Unterordnung der eigenen Interessen und schließlich die gegenseitige Rücksichtnahme. Aus der allgemein gehaltenen Definition lassen sich also weitere allgemeine und konkrete Verhaltensnormen ableiten. Ausgehend von der Offenheit und Entwicklungsfähigkeit des Begriffs der Rechtspflicht zu bundesfreundlichem Verhalten ist erkennbar, welche Funktion das Bundesverfassungsgericht der Bundestreue zuweist. Nämlich die eines flexiblen Instrumentes zur Herleitung konkreter Verhaltenspflichten zwischen Bund und Ländern. c) Zwang zur Verständigung Im Anschluss an die allgemeine funktionale Deutung führt das Gericht aus: „Der in dieser Rechtspflicht liegende Zwang zur Verständigung wirkt zwar nicht so automatisch wie das demokratische Mehrheitsprinzip. Er ist jedoch stark genug, um die notwendigen gemeinsamen Entscheidungen sachgerecht herbeizuführen. Er ist es vor allem, der auch der Übermacht des Gesamtstaates im Interesse der Glieder feste Schranken zieht.“216

In fortgesetzt feststellender Diktion gelangt das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass der Bundestreue ein „Zwang zur Verständigung“ innewohne. Wie zuvor erfolgt auch hier keine grundsätzliche Begründung oder Darlegung. Es stellt sich daher die Frage, ob dieser Feststellung, neben ihrer Bedeutung für den zugrunde 214 Smend, in: FG für Mayer, 1916, S. 247 (261); die betreffende Passage lautet: „d. h. jeder der Verbündeten schuldet dem anderen und dem Ganzen die Bundes-, die ,Vertrags-Treue und hat in diesem Sinne seine reichsverfassungsmäßigen Pflichten zu erfüllen und seine entsprechenden Rechte wahrzunehmen“. 215 BVerfGE 1, 299 [315]. 216 BVerfGE 1, 299 [315].

II. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Bundestreue

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liegenden Streit, von Seiten des Gerichts Allgemeingültigkeit beigemessen wurde. Dafür spricht neben dem allgemeinen Kontext, in dem diese Erkenntnis formuliert wird, insbesondere die vergleichende Bezugnahme auf das demokratische Mehrheitsprinzip des Grundgesetzes. Im Ergebnis ist das Postulat des Zwangs zur Verständigung daher so zu interpretieren, dass, sofern das Gesetz es erfordert, die Glieder des Bundes nicht nur gehalten, sondern zwingend verpflichtet sind, gegebenenfalls unter äußerster Anstrengung ihrer Kompromissbereitschaft, eine erforderliche Einigung herbeizuführen. Diese Einigung hat unter Berücksichtigung und nach sachgerechter Abwägung aller berechtigten Interessen zu erfolgen. Weit über den zugrunde liegenden Streit hinaus verdient das Postulat des Zwangs zur Verständigung größte Beachtung. Schließlich liegt dem ein Verständnis zugrunde, wonach sich die Bundesländer untereinander und gegenüber dem Bund auf gleicher Augenhöhe begegnen. Soweit also das Gesetz keine Mehrheitsentscheidung gestattet, haben sich Bund und Länder als die Glieder des Bundesstaates zusammenzufinden und nach einer Lösung zu suchen, die auch die Interessen der Minderheit berücksichtigt. Das Bundesverfassungsgericht betont also die Gleichordnung der Beteiligten. Zudem gibt es den spezifisch föderativen Anforderungen an eine Entscheidungsfindung den Vorrang vor einer Vereinfachung durch eine globale Anwendung des Mehrheitsprinzips. Dies wird umso deutlicher, wenn es positiv betont, dass der Verständigungszwang der Übermacht des Gesamtstaates im Interesse der Glieder feste Schranken zieht. Vereinfacht ausgedrückt soll der Bund nicht die Bedenken einzelner Länder übergehen können, indem er ein Einverständnis in seinem Sinne einfach feststellt. Hier wird besonders deutlich, welchen hohen Stellenwert das Gericht der Eigenständigkeit der Länder beimisst. d) Dreidimensionale Bindungswirkung der Bundestreue Ebenfalls von großer Bedeutung ist der Befund, dass sich die Bindungswirkung der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten nicht nur einseitig zugunsten des Bundes entfaltet, sondern auch zwischen den Ländern und, was besondere Beachtung verdient, auch der Bund gegenüber den Ländern zu bundesfreundlichem Verhalten verpflichtet ist: „ … die Rechtspflicht des Bundes und aller seiner Glieder zu bundesfreundlichem Verhalten“.217 Diese richtungsweisende Deutung fällt unverkennbar zugunsten der Länder aus. Dies ist umso bemerkenswerter, als der zugrunde liegende Gleichordnungsgedanke keinesfalls von der herrschenden zeitgenössischen Rechtswissenschaft vorformuliert

217

BVerfGE 1, 299 [315]. Diese Deutung bestätigt das Gericht in BVerfGE 12, 205 [254], wonach die bisherige Rechtsprechung erkennen lasse, dass sich aus diesem Grundsatz konkrete zusätzliche Pflichten des Bundes gegenüber den Ländern entwickeln ließen, vgl. w.u. Gliederungspkt. II.4.a).

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

worden war.218 Das Bundesverfassungsgericht leistete somit den maßgeblichen Beitrag zu der heute unbestrittenen Erkenntnis, wonach die Bundestreue dreidimensionale Bindungswirkung entfaltet.219 e) Fazit Die Grundtendenz der analysierten Entscheidung des Zweiten Senates ist eindeutig als föderalismusfreundlich zu charakterisieren. In erster Linie wird dies deutlich durch die grundsätzliche Feststellung der Existenz der Bundestreue als Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten und deren inhaltliche Deutung im Sinne eines Zusammenwirkens zur Festigung und Wahrung des verfassungsrechtlichen Bündnisses. Besonderes Augenmerk kommt der Einschätzung des Gerichts zu, wonach die Bundestreue nicht nur die Länder zugunsten des Bundes bindet, sondern auch den Bund zugunsten der Länder sowie die Länder untereinander. Zur Stärkung des Bündnisgedankens trägt ebenfalls jene Konkretisierung der Bundestreue bei, wonach sich aus ihr ein Zwang zur Verständigung ergeben kann.

2. BVerfGE 4, 115 – Beamtenbesoldung (Urteil des Zweiten Senates vom 1. Dezember 1954) Gegenstand des zugrunde liegenden Bund-Länder-Streites war das Besoldungsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Juni 1954220, dessen Regelungen nach Ansicht der Bundesregierung gegen Rahmenvorschriften des Bundes verstießen. Der Bundesgesetzgeber hatte im Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Besoldungsrechts vom 6. Dezember 1951221 bestimmt, dass die Beamten und Richter der Länder nicht höher besoldet werden als die entsprechenden Beamten und Richter des Bundes. Unter der Kapitelüberschrift ,Wahrung der Einheitlichkeit auf dem Gebiete des Besoldungs- und Versorgungsrechts hatte er in §§ 8 und 9 die Bundesbezüge der Richter und Beamten als Höchstbeträge für die Landesgesetzgeber festgelegt. Durch das Besoldungsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Juni 1954 wurde die Besoldung der Beamten grundlegend neu gestaltet mit der Folge, dass die Besoldung der Landesbeamten höher ausfiel als die der Bundesbeamten. Die Bundesregierung war der Auffassung, dass das Land durch den Erlass dieses Gesetzes gegen Pflichten verstoßen habe, die ihm aus Rahmenvorschriften erwüch-

218 Vgl. Bauer, Die Bundestreue, 1992, S.130, mit dem Nachweis, dass bedeutende Teile der damaligen Rechtswissenschaft weiterhin der „althergebrachten subordinationsrechtlichen Ordnungsidee des Bundesstaates“ anhingen; i.d.S. auch Bayer, Die Bundestreue, 1961, S. 58. 219 Bauer, Die Bundestreue, 1992, S.131 f. 220 GVBl. NRW I S. 162. 221 BGBl. I S. 939.

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sen, welche der Bundesgesetzgeber gemäß Art. 75 Nr. 1 GG erlassen habe.222 Zur Begründung ihres Antrags wies die Bundesregierung daraufhin, dass nach dem Landesgesetz in allen Besoldungsgruppen eine durchschnittliche Erhöhung der Bezüge um rund 7 vom Hundert, teilweise um bis zu 30 vom Hundert gegenüber den entsprechenden Bundessätzen zu verzeichnen sei.223 Ihrem Abweisungsantrag legte die Landesregierung die Einschätzung zugrunde, dass die vom Bund als Rahmenvorschriften für das Besoldungsrecht der Länder erlassenen Gesetze grundgesetzwidrig seien, da sie die dem Bundesgesetzgeber durch Art. 75 Nr. 1 GG gezogene Grenze der Rahmengesetzgebung überschritten. Eine derart ins Einzelne gehende Regelung könne der Bund nur erlassen, wenn ihm die Befugnis zur „Vollgesetzgebung“ zukäme.224 Das Gericht formulierte zunächst die für den Streit bedeutsame Vorfrage, ob die Gesetze, deren Verletzung die Bundesregierung behauptete, ihrerseits verfassungskonform zustande gekommen seien. Denn schließlich könne das Land NordrheinWestfalen durch Erlass seines Besoldungsgesetzes nur dann eine ihm dem Bund gegenüber obliegende Pflicht verletzt und gegen das Grundgesetz verstoßen haben, wenn der Bund nach dem Grundgesetz befugt war, Gesetze dieses Inhalts zu erlassen.225 Zur Beantwortung dieser Frage stellt das Gericht fest, dass die Besoldungsangleichungsbestimmungen unter Verstoß gegen Art. 75 Nr. 1 GG zustande gekommen und daher verfassungswidrig seien.226 Da der Bund nur ermächtigt gewesen sei Rahmenvorschriften zu erlassen, habe er die Besoldung der Landesbeamten jedenfalls nicht erschöpfend regeln dürfen. Diese Grenze sei dann überschritten, wenn der Bund den Ländern zahlenmäßige Höchstbeträge für die Besoldung der Landesbeamten vorschreibe und dabei ein bestimmtes Besoldungssystem für die Länder verbindlich mache.227 Im Anschluss an die Klärung der kompetenzrechtlichen Vorfrage gelangt das Gericht zur Fragestellung eines Bundestreueverstoßes. Selbst wenn die Landesregierung nicht an gültiges Bundesrahmenrecht über das Besoldungswesen gebunden gewesen sei, so könne sie dennoch durch den Erlass des Besoldungsgesetzes gegen Bundesrecht verstoßen haben, wenn sie dem Grundsatz der Bundestreue zuwider gehandelt habe.228

222 BVerfGE 4, 115 [119]. Die sog. Rahmengesetzgebung gemäß Art. 75 a.F. GG wurde im Zuge der Föderalismusreform 2006 abgeschafft. 223 BVerfGE 4, 115 [120]. 224 BVerfGE 4, 115 [121]. 225 BVerfGE 4, 115 [123]. 226 BVerfGE 4, 115 [138]. 227 BVerfGE 4, 115 [135 f.]. 228 BVerfGE 4, 115 [140].

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

a) Einführung des Terminus Bundestreue Sprach das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Wohnungsbauförderung229, jener Entscheidung, in der es sich inhaltlich erstmalig mit der Bundestreue auseinanderzusetzen hatte, ausschließlich von der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten, so gebraucht es nun offensiv den Begriff der Bundestreue. Zwar benutzte der Zweite Senat den Begriff erstmalig anlässlich seiner Entscheidung vom 10. Dezember 1953230, jedoch geschah dies nur beiläufig und einmalig im Zuge eines kurzen Appells an die Länder. Der gegenständlichen Entscheidung ist daher die Einführung des Terminus in das regelmäßige verfassungsgerichtliche Vokabular zuzuschreiben, da die Nennung der Bundestreue hier erstmalig im Rahmen einer konkreten rechtlichen Prüfung erfolgte. b) Dogmatische Einordnung als ungeschriebener Verfassungsgrundsatz Eine klarstellende Herleitung oder systematische Einordnung anhand des Grundgesetzes bleibt erneut aus, obwohl gerade die Einführung des neuen Begriffs in die Terminologie des Gerichts entsprechenden Anlass geboten hätte. Immerhin nimmt das Gericht die überfällige dogmatisch-systematische Einordnung vor und erklärt die Bundestreue zu einem ungeschriebenen Grundsatz des Verfassungsrechts.231 Die Beiläufigkeit mit der es dies tut, stützt erneut die These, dass dem Gericht die rechtlich verbindliche Geltung der Bundestreue als Selbstverständlichkeit erschien. c) Kompetenzausübungsschranke „Eine Rechtsschranke für die Ausübung von Gesetzgebungsbefugnissen im Bundesstaat – für Bund und Länder – ergibt sich aus dem ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz der Bundestreue“.232

Mit diesen Worten nimmt das Bundesverfassungsgericht eine neue funktionelle Einordnung der Bundestreue vor. In der Zuweisung der Funktion einer ,Kompetenzausübungsschranke liegt eine bedeutende Erweiterung des zugemessenen Aufgabenspektrums.233 In der vorhergehenden Entscheidung hatte das Gericht den Gehalt der Bundestreue dahingehend bestimmt, dass der Bund und die Länder verpflichtet 229

BVerfGE 1, 299. BVerfGE 3, 52. 231 BVerfGE 4, 115 [140]. 232 BVerfGE 4, 115 [140]. 233 Dieser Einordnung folgen u. a. Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 355; Bayer, Die Bundestreue, 1961, S. 65; Bauschke, Bundesstaatsprinzip und Bundesverfassungsgericht, 1970, S. 65; Benda, in: Probleme des Föderalismus, 1985, S. 71 (80); Jestaedt, in: Isensee/ Kirchhof, HStR II, 3. Aufl., 2004, § 29, Rdnr. 73; Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, S. 703. 230

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seien, zusammenzuwirken und sich zu verständigen.234 Im Unterschied dazu wird der Bundestreue hier, statt der Begründung von Pflichten, die Funktion zu Teil, Rechte zu beschränken.235 Dies ist in qualitativer Hinsicht bemerkenswert, da das Bundesverfassungsgericht dem wohlgemerkt ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz somit nicht nur ergänzende Funktion beimisst, sondern ihn auch für geeignet erachtet, die Regelungen des Grundgesetzes gewissermaßen zu beschränken. Die Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Bundestreue als Kompetenzausübungsschranke liegt nach Ansicht des Gerichts dann vor, wenn die Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung nicht auf den Raum des betreffenden Landes begrenzt bleiben.236 Bei der Ordnung der Besoldung ihrer Beamten – so das Verfassungsgericht – müssten die Länder demnach bedenken, dass trotz der in Art. 109 GG verbürgten selbständigen Haushaltwirtschaft von Bund und Ländern das Finanzwesen im Bundesstaat ein Gesamtgefüge darstelle.237 Hier wird bereits erkennbar, was das Gericht im Weiteren deutlich formuliert, nämlich dass die bundesstaatliche Struktur gegenseitige Rücksichtnahme ihrer Glieder voraussetzt. d) Rücksichtnahmepflicht Parallel zu der grundsätzlichen Proklamation der Bundestreue als Kompetenzausübungsschranke nimmt das Bundesverfassungsgericht eine weitere Konkretisierung vor. Blieben die Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung nicht auf den Raum eines Landes begrenzt, so müsse der Landesgesetzgeber Rücksicht auf die Interessen des Bundes und der übrigen Länder nehmen. Da auch der Bund und die übrigen Länder Beamte hätten, müssten die Länder bei der Regelung der Besoldung ihrer Beamten jedenfalls so viel Rücksicht auf die Besoldungsverhältnisse in Bund und Ländern nehmen, dass eine Erschütterung des Finanzwesens von Bund und Ländern vermieden werde.238 Das Gericht leitet also aus dem Grundsatz der Bundestreue die Pflicht zur Rücksichtnahme auf das bundesstaatliche Finanzgefüge ab. Ohne weitere Konkretisierung belässt es das Gericht also bei dem Hinweis, dass eine Erschütterung des Gesamtgefüges der Finanzen von Bund und Ländern zu vermeiden sei. Worin eine solche Erschütterung bestehen könne, bleibt ungeklärt. Es lässt sich daher nur mutmaßen, dass im konkreten Fall eine solche Erschütterung bejaht worden wäre, wenn der Bund in der Folge einer Erhöhung der Beamtenbesoldung in Nordrhein-Westfalen dazu gezwungen gewesen wäre, seine Besoldung anzupassen und sich daraufhin ernsthafte finanzielle Probleme bei der Erfüllung seiner sonstigen Aufgaben ergeben hätten.

234 235 236 237 238

BVerfGE 1, 299 [315]. Vgl. die Kategorisierung bei Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 342 ff. BVerfGE 4, 115 [140]. BVerfGE 4, 115 [140]. BVerfGE 4, 115 [140].

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

Unabhängig von dem konkreten Bezug auf die Regelung der Beamtenbesoldung kann darüber hinaus eine grundsätzliche Position des Gerichts hinsichtlich der Verhältnisse im Bundesstaat abgelesen werden. Die Bundestreue verpflichtete alle Glieder des Bundesstaates zur Rücksichtnahme auf die Interessen der jeweils anderen Glieder und nicht nur die Länder gegenüber dem Bund.239 Diese Schlussfolgerung bestätigt das Gericht durch folgenden Satz, mit dem es zugleich die Bedeutung der Rücksichtnahme unterstreicht: „Ein Bundesstaat kann nur bestehen, wenn Bund und Länder im Verhältnis zueinander beachten, dass das Maß, in dem sie von formal bestehenden Kompetenzen Gebrauch machen können, durch gegenseitige Rücksichtnahme bestimmt ist.“240 e) Justiziabilität der Bundestreue – Rechtsmissbrauch Nachdem das Gericht dargelegt hat, dass die Bundestreue ihre Wirkung als Schranke für die Ausübung von Gesetzgebungskompetenzen immer dann entfaltet, wenn sich ein Gesetz auch auf andere Länder oder den Bund auswirkt, geht es dazu über, den Maßstab für die Justiziabilität der Bundestreue zu entwickeln. Bei der Prüfung, ob das Land durch den Erlass seines Besoldungsgesetzes gegen eine aus dem Grundsatz der Bundestreue abzuleitende Schranke seiner Gesetzgebungsbefugnis verstoßen habe, könne es sich nur um die Kontrolle der Einhaltung äußerster Grenzen handeln. Ein Landesgesetz könne aus diesem Grunde nur verworfen werden, wenn der Landesgesetzgeber seine Kompetenz offenbar missbraucht habe.241 Das Bundesverfassungsgericht begrenzt also seine Verwerfungskompetenz in dieser Hinsicht zurückhaltend auf ein Minimum, nämlich auf den Tatbestand rechtsmissbräuchlichen Gesetzeserlasses.242 Wenn das Gericht hierbei nicht zu der Formulierung verbindlicher Maßstäbe für das Vorliegen eines Kompetenzmissbrauchs gelangt ist, so ist dies wohl der Erkenntnis geschuldet, dass es zu der konkreten Feststellung eines Rechtsmissbrauchs stets der Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls bedarf.243 Dementsprechend ist es zu verstehen, wenn das Gericht im unmittelbaren Anschluss darauf hinweist, dass bei der Beamtenbesoldung ins Gewicht falle, dass die Länder ein nachvollziehbares Interesse daran hätten, ihrer Beamtenschaft ein besonderes Gesicht zu geben und zu erhalten. Die völlige Uniformität der Beamtenbesoldung, die die Bundesregierung offensichtlich anstrebe, folge weder aus dem Wesen 239

So auch Benda, in: Probleme des Föderalismus, 1985, S. 71 (80). BVerfGE 4, 115 [141 f.]. 241 BVerfGE 4, 115 [140]. 242 Zustimmend: Faller, in: Lerche, FS für Maunz, 1981, S. 53 (66); Jestaedt, in: Isensee/ Kirchhof, HStR II, 3. Aufl., 2004, § 29 Rdnr. 77; Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 151, 366 f.; kritisch Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1961, S. 7, der lediglich den Maßstab des Rechtsmissbrauchs befürwortet, jedoch der Ansicht ist, dass es der Anwendung der Bundestreue hier nicht bedurft hätte. 243 Faller, in: Lerche, FS für Maunz, 1981, S. 53 (66). 240

II. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Bundestreue

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des Bundesstaates noch aus der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland.244 Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ergeben sich nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts keine Anhaltspunkte für einen offenbaren Missbrauch durch den nordrhein-westfälischen Landesgesetzgeber beim Erlass des Besoldungsgesetzes. Einen Verstoß gegen die Bundestreue verneint das Gericht daher. Weder die Einzelregelungen, die zu einer höheren Besoldung führen, noch die durchschnittliche Erhöhung der Beamtengehälter erreichten ein solches Ausmaß, dass sie in ihren Auswirkungen die Finanzwirtschaft von Bund und Ländern erschüttern könnten. Ein Verstoß gegen die Bundestreue liege nicht vor.245 f) Fazit Der Ableitung einer Kompetenzausübungsschranke aus dem Grundsatz der Bundestreue mag auf den ersten Blick keine eindeutige Tendenz zu entnehmen sein. Zwar nimmt das Gericht die Ableitung am Beispiel Nordrhein-Westfalens vor; das Gericht betont aber, dass sich aus der Bundestreue eine Rechtsschranke sowohl für den Bund als auch für die Länder ergebe.246 Nach Auffassung des Gerichts kann die Bundestreue in der Funktion als Kompetenzausübungsschranke also sowohl dem Bund als auch den Ländern zugute kommen. Gerade diese ausdrückliche Gleichstellung der Kompetenzen des Bundes und der Länder verdeutlicht den hohen Stellenwert, den das Bundesverfassungsgericht der bundesstaatlichen Organisationsstruktur und den Ländern als Gliedern des Bundesstaates beimisst. Ebenfalls dazu angetan den föderalen Gedanken zu stärken, ist das Postulat gegenseitiger Rücksichtnahmepflichten. Der föderalismusfreundliche Ansatz wird besonders deutlich, wenn das Gericht mahnend die existenzielle Perspektive des Bundesstaates an die Beachtung gegenseitiger Rücksichtnahme knüpft.247 Im Sinne eines starken Föderalismus urteilt das Bundesverfassungsgericht auch, indem es den Eintritt eines justiziablen Verstoßes gegen die Bundestreue auf jene Fälle begrenzt, wo Bund oder Land ihre Kompetenzen missbräuchlich gegenüber dem jeweils anderen ausübten. Durch diese Vorgabe gewährleistet das Gericht vor allem den gesetzgeberischen Spielraum der Länder, dessen Weite maßgeblich zur Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Bundesländer gegenüber dem Bund beiträgt.

244 245 246 247

BVerfGE 4, 115 [140 f.]. BVerfGE 4, 115 [141]. BVerfGE 4, 115 [140]. BVerfGE 4, 115 [141 f.].

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

3. BVerfGE 8, 122 – Volksbefragung Hessen (Urteil des Zweiten Senates vom 30. Juli 1958) Das Gericht hatte zu entscheiden, ob ein Verstoß der hessischen Landesregierung gegen den Grundsatz der Bundestreue vorlag, weil diese nicht der Aufforderung der Bundesregierung gefolgt war, im Wege der Kommunalaufsicht Beschlüsse hessischer Gemeinden aufzuheben, die auf die Durchführung von Volksbefragungen über die Stationierung von Atomwaffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gerichtet waren. Den historischen Hintergrund der Entscheidung bildet die politische Auseinandersetzung des Jahres 1958 über die Frage der atomaren Bewaffnung der Bundesrepublik Deutschland. Die damalige von der CDU geführte Bundesregierung und die Mehrheit des Bundestages beabsichtigten, für den Fall des Scheiterns der internationalen Bemühungen um atomare Abrüstung, die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen im Rahmen des Atlantischen Verteidigungsbündnisses, dem die Bundesrepublik im Jahr 1955 beigetreten war. Im Zuge des politischen Diskurses forderte die Sozialdemokratische Partei die Durchführung einer Volksbefragung. Nach einem Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion der SPD sollten die Wahlberechtigten in der Bundesrepublik die Frage beantworten, ob sie damit einverstanden seien, dass deutsche Streitkräfte mit atomaren Sprengkörpern ausgerüstet werden und in Deutschland Abschussvorrichtungen für atomare Sprengkörper angelegt werden sollten. Nachdem der Antrag der SPD im Bundestag keine Aussicht auf Erfolg hatte, wurden ähnliche Gesetzesentwürfe in den Landtagen mehrerer Länder eingebracht und von den Fraktionen der SPD unterstützt. In den Ländern Hamburg und Bremen ergingen entsprechende Volksbefragungsgesetze. Da der Antrag der SPD im hessischen Landtag nicht zum Erfolg führte, beschlossen einige hessische Gemeinden entsprechende Volksbefragungen durchzuführen. Der Beschluss der Stadtverordnetenversammlung von Frankfurt am Main vom 10. April 1958 lautete: „Der Magistrat wird beauftragt, in Frankfurt a.M. eine Volksbefragung über die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik durchzuführen. Bei der Befragung ist folgende Frage zur Entscheidung zu stellen: Sollen auf deutschem Boden Streitkräfte mit atomaren Sprengkörpern ausgerüstet und atomare Abschussbasen eingerichtet werden? Die Volksbefragung ist sofort vorzubereiten. Die Volksbefragung für das Gebiet der Stadt Frankfurt a.M. entfällt, wenn eine gleiche Befragung im Lande Hessen stattfindet.“ Die Bundesregierung wies durch Schreiben des Bundeskanzlers die von der SPD geführte hessische Landesregierung darauf hin, dass sie die Beschlüsse der hessischen Gemeinden für grundgesetzwidrig halte und die Landesregierung ersuche, die Beschlüsse durch den hessischen Minister des Innern aufzuheben und die aufgrund dieser Beschlüsse getroffenen Maßnahmen rückgängig machen zu lassen. Die hessische Landesregierung erwiderte, dass nach ihrer Auffassung die beanstandeten Beschlüsse der hessischen Gemeinden mit der Rechtsordnung in Einklang stünden und sie sich deshalb außerstande sehe, dem Ersuchen der Bundesregierung zu entsprechen. Daraufhin rief die Bundesregierung das Bundesverfassungsgericht an und beantragte zu erkennen, dass das

II. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Bundestreue

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Land Hessen die ihm obliegende Pflicht zur Bundestreue verletze, indem es die Landesregierung unterlasse, die Beschlüsse der hessischen Gemeinden zur Durchführung von Volksbefragungen über Atomwaffen in der Bundesrepublik aufzuheben. Mit ihren Beschlüssen hätten die Gemeinden in den Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit des Bundes eingegriffen. Da dem Bund die Aufsicht über die Gemeinden nicht zustehe, sei das Land dem Bund gegenüber verpflichtet, im Wege der Kommunalaufsicht dafür zu sorgen, dass die Gemeinden das Grundgesetz beachten. Die hessische Landesregierung entgegnete, dass in eine ausschließliche Zuständigkeit des Bundes nicht eingegriffen werde. Dies könne nur durch ein Gesetz oder durch einen Verwaltungsakt geschehen, nicht aber durch eine politische Stellungnahme. Zudem liege die Entscheidung der Frage des Einschreitens der Kommunalaufsicht im Ermessen der Landesregierung. Der Grundsatz der Bundestreue könne für sich allein keine selbständige Pflicht des Landes begründen, er setze einer gegebenen Landeskompetenz nur eine ungeschriebene Schranke.248 Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die Landesregierung gegen den Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens verstoßen habe, indem sie es unterlassen hatte, durch den Minister des Innern die Beschlüsse hessischer Gemeinden über die Durchführung amtlicher Befragungen der wahlberechtigten Gemeindebürger über Atomwaffen in der Bundesrepublik aufzuheben oder aufheben zu lassen. Hatte das Gericht den Grundsatz der Bundestreue zuvor zwar bereits mehrmals als Maßstab seiner Prüfung angewendet, ihn aber bis dahin nie als verletzt angesehen, so liegt mit dem hier zu untersuchenden Urteil die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor, in der es einen solchen Verstoß gegen die Bundestreue bejahte.

a) Anwendungsbereich – Tun und Unterlassen Bereits im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung trifft das Gericht grundlegende Festlegungen hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Bundestreue. Zu entscheiden hatte es die Vorfrage, ob das Unterlassen einer Maßnahme der Kommunalaufsicht einen Verstoß gegen den Grundsatz der Bundestreue darstellen kann. Das Gericht bejahte dies, ohne darauf im Rahmen einer Begründung näher einzugehen.249 Der Grundsatz der Bundestreue sei von Bund und Ländern bei jeder ihrer Maßnahmen, sei es beim Erlass von Gesetzen, sei es beim Erlass von Regierungs- und Verwaltungsakten, zu beachten. Gegen diesen Grundsatz könne sowohl durch ein Tun als auch durch ein Unterlassen verstoßen werden.250 Die grundsätzliche Bedeutung dieser Erkenntnis betonte das Gericht, indem es sie als Teil des ersten Leitsatzes seiner Entscheidung voranstellte.251 Mit dieser Entscheidung erstreckte das Gericht den An248 249 250 251

BVerfGE 8, 122 [124 ff.]. BVerfGE 8, 122 [131]. BVerfGE 8, 122 [132]. BVerfGE 8, 122 [122].

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

wendungsbereich der Bundestreue auf alle denkbaren Handlungsformen der Bundesstaatsglieder.252 Diese Klarstellung der umfassenden Geltung des ungeschriebenen Verfassungsgrundsatzes verdeutlicht den universalen Geltungsanspruch der Bundestreue aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts. Seine Ausführungen zu den materiellen Rechtsfragen beginnt das Gericht mit einer Analyse der Beschlüsse der hessischen Kommunen, die es im Ergebnis als Übergriffe in den Zuständigkeitsbereich des Bundes betrachtet. Die Beschlüsse zur Durchführung der Volksbefragungen durch die Verfassungsorgane der Gemeinden seien als hoheitliche Akte einzustufen, die sich im Rahmen der gemeindlichen Zuständigkeit halten müssten. Die hessischen Gemeinden seien als hoheitlich handelnde Gebietskörperschaften, soweit ihnen nicht Auftragsangelegenheiten vom Staat zugewiesen worden seien, von Rechts wegen darauf beschränkt, sich mit Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises zu befassen. Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises seien nur solche Aufgaben, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf die örtliche Gemeinschaft einen spezifischen Bezug haben und von der örtlichen Gemeinschaft eigenverantwortlich und selbständig bewältigt werden könnten.253 Die Gemeinde könne zwar gegen eine sie speziell berührende staatliche Maßnahme protestieren; sie überschreite aber die ihr gesetzten rechtlichen Schranken, wenn sie zu allgemeinen, überörtlichen, vielleicht hochpolitischen Fragen Resolutionen fasse oder für oder gegen eine Politik Stellung nehme, die sie nicht als einzelne Gemeinde besonders betreffe, sondern der Allgemeinheit eine Last aufbürde, oder sie allgemeinen Gefahren aussetze. Die Abgrenzung im Einzelnen könne offen bleiben. Jedenfalls gehöre die Stellungnahme zur Frage der Ausrüstung der Bundeswehr nicht zu den Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises der Gemeinde und deshalb nicht zu den hoheitlich zu erledigenden Aufgaben der Gemeinde.254 Zwar erreiche nicht jede Überschreitung der gemeindlichen Zuständigkeiten den Grad einer Verletzung von Bundeskompetenzen, ganz anders liege es aber hier, weil die politischen Zusammenhänge erkennen ließen, dass es den Gemeinden um eine Einflussnahme auf die Bundespolitik gehe.255 Unter Verweis auf Maßstäbe, die es anlässlich einer früheren Entscheidung zu Volksbefragungsgesetzen in Hamburg und Bremen entwickelt hatte, stellt das Gericht schließlich einen Übergriff der Gemeinden in die ausschließliche Zuständigkeit des Bundes fest.256

b) Mitwirkungspflicht der Länder Mit Blick auf die Verletzung der Bundeskompetenzen durch die gemeindlichen Beschlüsse stellt das Gericht überleitend fest, dass es dem Bund nach der bundesstaat252 253 254 255 256

So auch Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 327. BVerfGE 8, 122 [134]. BVerfGE 8, 122 [134]. BVerfGE 8, 122 [135]. BVerfGE 8, 122 [136 f.].

II. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Bundestreue

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lichen Ordnung des Grundgesetzes an einem Durchgriffsrecht auf die Gemeinden fehle. Die Staatsaufsicht über die hessischen Gemeinden obliege vielmehr dem hessischen Innenminister. Die hierbei auszuübende Rechtsaufsicht diene auch der Überwachung der Beachtung des Bundesrechts und des Bundesverfassungsrechts. Grundsätzlich verfüge die Staatsaufsichtsbehörde nach hessischem Landesrecht über mehrere Möglichkeiten auf Verstöße der Kommunen zu reagieren und sei nicht zwingend zum Einschreiten verpflichtet.257 Sodann geht dass Gericht den weit reichenden Schritt, die Kompetenz der Landesbehörden zu Maßnahmen der Kommunalaufsicht dem Prinzip der Bundestreue zu unterstellen. Was nach Landesrecht im Verhältnis zur Gemeinde eine im Ermessen der zuständigen Behörde liegende Befugnis ist, könne nach Bundesverfassungsrecht im Verhältnis zum Bund Pflicht des Landes werden.258 Zur Begründung verweist das Gericht darauf, dass Bund und Länder im Bundesstaat die gemeinsame Pflicht zur Wahrung und Herstellung der grundgesetzlichen Ordnung in allen Teilen und Ebenen des Gesamtstaates hätten.259 Aus dem ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten ergebe sich eine Pflicht des Landes zur Mitwirkung, soweit der Bund darauf angewiesen sei, weil er nicht unmittelbar Sorge dafür tragen könne.260 Zwar werde durch den Grundsatz der Bundestreue dem Bund und den Ländern in erster Linie eine Schranke beim Gebrauchmachen ihrer Zuständigkeiten gezogen. Derselbe Grundsatz begründe aber unter Umständen auch Hilfs- und Mitwirkungspflichten des Bundes oder der Länder, die wiederum als Schranken ihrer Freiheit innerhalb ihrer Zuständigkeiten begriffen werden könnten.261 In derselben Richtung liege es, so der Senat, wenn aus der allgemeinen Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten die besondere Pflicht abgeleitet werde, dass ein Land von einer ihm gegenüber einer Gemeinde zustehenden Befugnis Gebrauch zu machen habe, um eine Störung der grundgesetzlichen Ordnung zu beseitigen, zu deren Beseitigung der Bund mangels einer Kompetenz nicht imstande sei.262 Dies gelte jedenfalls für den Fall einer empfindlichen und schwerwiegenden Störung der grundgesetzlichen Ordnung, wie sie hier in dem von der Opposition im Bundestag gesteuerten einheitlichen Vorgehen der Gemeinden vorliege, das einen Übergriff und Eingriff der Gemeinden in die Ent-

257

BVerfGE 8, 122 [137]. BVerfGE 8, 122 [138] sowie 7.Ls. 259 BVerfGE 8, 122 [138]. 260 BVerfGE 8, 122 [138]. 261 BVerfGE 8, 122 [138]. 262 BVerfGE 8, 122 [139]; zustimmend Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 351; skeptisch: Scheuner, DÖV, 1962, S. 641 (646), der die Pflicht der hessischen Landesregierung zur Anwendung von Mitteln der Kommunalaufsicht bereits aus der allgemeinen Pflicht des Landes Rechtsverletzungen entgegenzutreten ableitet. 258

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

scheidungsfreiheit der zuständigen Verfassungsorgane des Bundes auf dem Gebiet des Verteidigungswesens darstelle.263 Das Gericht stellt damit insbesondere klar, dass die Bundestreue neben ihrer Funktion als Kompetenzausübungsschranke ebenso zur Begründung spezieller Pflichten herangezogen werden kann.264 c) Herleitungsdefizite Das Gericht verweist zu Beginn seiner Ausführungen zur Bundestreue darauf, dass es die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten in Übereinstimmung mit der Rechtslehre aus dem Wesen des Bundesstaates entwickelt habe.265 Die inhaltliche Aussage dieser Passage reduziert sich auf die Feststellung, dass das Gericht die Bundestreue, beziehungsweise die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten aus dem Wesen des Bundesstaates herleitet. Die Inanspruchnahme einer ,Entwicklung, also eine konstruktive Herleitung in den vorangegangenen Entscheidungen, vermag jedoch nicht zu überzeugen. Wie bereits die Analyse der in Bezug genommenen ersten Grundsatzentscheidung266 ergab, begnügte sich das Gericht damit, die Geltung der Bundestreue deklaratorisch festzustellen. Eine begründete Herleitung, wie die Verwendung des Begriffs Entwicklung es nahe legt, erfolgte zu keinem Zeitpunkt. Das Gericht bezog sich zur Begründung lediglich auf den im Bundesstaat geltenden Grundsatz des Föderalismus.267 Wie zuvor bleibt der Senat auch hier eine am Grundgesetz orientierte systematische Herleitung schuldig, obwohl gerade der erste verfassungsgerichtlich festgestellte Verstoß gegen die Bundestreue einer soliden Grundlage bedurft hätte. Im Ergebnis wahrt das Gericht zumindest insofern Kontinuität, als es sich ohne Umschweife auf das Wesen des Bundesstaates bezieht. Dieser Ansatz entspricht im Ergebnis der Bezugnahme auf das Bundesstaatsprinzip als Quelle der Rechtspflicht zur Bundestreue. d) Grundsätzliche Funktionsbestimmung der Bundestreue Nachdem das Gericht klargestellt hat, welche konkreten Aufgaben das Institut der Bundestreue in der Rechtsanwendung zu übernehmen habe, gelangt es erstmalig zu einer generellen Einschätzung der Funktion der Bundestreue im deutschen Verfassungsrecht. Das Gericht sah sich zu einer solch grundsätzlichen Positionierung veranlasst, weil das Land Hessen in seiner Entgegnung gegenüber dem Vorwurf des bundesunfreundlichen Verhaltens angeführt hatte, dass die Bundesregierung ihrerseits 263 264 265 266 267

BVerfGE 8, 122 [139]. Ebenso Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 147. BVerfGE 8, 122 [138] unter Verweis auf BVerfGE 1, 117 [131] und 1, 299 [315]. BVerfGE 1, 299. BVerfGE 1, 299 [315].

II. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Bundestreue

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das Grundgesetz verletzt habe, indem sie die atomare Aufrüstung der Bundeswehr vorantreibe.268 „Der für Bund und Länder gleichermaßen geltende Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens hat die Funktion, die aufeinander angewiesenen ,Teile des Bundesstaates, Bund und Länder, stärker unter der gemeinsamen Verfassungsrechtsordnung aneinander zu binden, aber nicht die Aufgabe, das bundesstaatliche Gefüge zu lockern. Deshalb kann sich kein Teil seiner Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten mit der Behauptung oder mit dem Nachweis entziehen, daß auch der andere Teil seiner Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten nicht nachgekommen sei; die Verletzung der Pflicht durch den einen Teil entbindet den anderen nicht von der Beachtung dieser selben Pflicht.“269

Über den Bereich des Einzelfalls hinaus teilt das Gericht eine Erkenntnis von größter Tragweite mit.270 Mit seiner Einschätzung charakterisiert das Bundesverfassungsgericht die Bundestreue als Garant gegenseitiger Bindung der Bundesstaatsglieder und als Faktor bundesstaatlicher Integration. Es betont also erneut die beiderseitige Bindung der Bundestreue, sowohl für die Länder als auch für den Bund. Im Zentrum seiner Gedanken steht das Aufeinanderangewiesensein der Glieder des Bundesstaates. Das Gericht stellt die Bundestreue somit in den Dienst eines betont gemeinschaftlich ausgerichteten Föderalismus.271 e) Generelle Bindung durch die Bundestreue Anknüpfend an die dogmatische Konkretisierung der Bundestreue weist das Gericht den Versuch der Landesregierung zurück, sich der Bindungskraft der Bundestreue mit dem Verweis entziehen zu wollen, die Bundesregierung habe durch ihre Politik gegen das Grundgesetz verstoßen. Bei seiner Zurückweisung betont das Gericht zugleich, dass selbst für den tatsächlichen Fall eines beiderseitigen Verstoßes gegen die Bundestreue eine diesbezügliche Berufung ohne Erfolg bleiben müsse.272 Der von einem Verstoß gegen die Bundestreue Betroffene kann sich demnach hinsichtlich eines von ihm gegenüber dem ursprünglich untreu Handelnden vorgenommenen Verstoßes nicht dadurch seiner Pflicht entziehen, indem er auf den früheren Verstoß zu seinen Lasten verweist. Das Bundesverfassungsgericht fordert von den Bundesstaatsgliedern also den uneingeschränkten Einklang ihres Verhaltens mit dem Grundsatz der Bundestreue, unabhängig vom Verhalten der anderen Glieder.273 268

BVerfGE 8, 122 [140]. BVerfGE 8, 122 [140], bekannt als Verbot des Einwandes tu quoque; vgl. Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 338. 270 BVerfGE 8, 122 [140] sowie 7.Ls. 271 in diesem Sinne: Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 146; Rupp, in: Eschenburg u. a., FG für Schmid, 1962, S. 141 (152). 272 BVerfGE 8, 122 [140]. 273 Zustimmend: Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 338; Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, S. 702; a.A.: Bayer, Die Bundestreue, 1961, S. 68 f.; Fuß, DÖV 1964, S. 37 (41), Fn. 34. 269

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

Dem ist vorbehaltlos zuzustimmen, da dies die einzige Sichtweise ist, die der hohen Stellung von Bund und Ländern gerecht wird. Eine andere Sichtweise müsste zudem ignorieren, dass es allein dem Bundesverfassungsgericht obliegt, einen Verstoß gegen das Grundgesetz festzustellen. Der Grundsatz der Bundestreue gilt demzufolge unabhängig von etwaigen vorhergehenden Verstößen zwischen den Gliedern des Bundesstaates. f) Fazit Die grundsätzlich ,föderalismusfreundliche Haltung des Bundesverfassungsgerichts tritt mit dieser Entscheidung offen zu Tage. Einerseits durch die Klarstellung, dass der konkrete Gehalt der Bundestreue sich gerade nicht auf die passive Funktion einer Kompetenzausübungsschranke reduzieren lässt, sondern gleichermaßen darin besteht, konkrete Verhaltenspflichten zu begründen, deren Einhaltung unabdingbare Voraussetzung für das gemeinschaftliche Miteinander von Bund und Ländern ist. Das Gericht legt hierbei besonderen Wert auf die Betonung des Gedankens der Koordination.274 Andererseits durch die wegweisende Interpretation der Bundestreue als Garant bundesstaatlicher Integration: Das Bundesverfassungsgericht lässt keinen Zweifel daran, dass es die Zukunft des deutschen Bundesstaates im gemeinschaftlichen Miteinander seiner Glieder erkennt. Einer gegenläufigen Entwicklung infolge politischer Konkurrenz zulasten des Bundesstaates wird eine klare Absage erteilt. Die konkrete Entscheidung fällt zwar zugunsten des Bundes aus, da das Land zur Mitwirkung ermahnt wird. Eine zentralistische Tendenz ist darin dennoch nicht erkennbar, da das Gericht keine Verfassungsinterpretation zugunsten des Bundes vornimmt, sondern klarstellt, dass die Bundesstaatsglieder zur Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung aufeinander angewiesen sind. Zudem betont das Gericht erneut, dass der Grundsatz der Bundestreue sowohl zugunsten des Bundes als auch der Länder gilt.

4. BVerfGE 12, 205 – Fernsehurteil (Urteil des Zweiten Senates vom 28. Februar 1961) Das Gericht hatte zu entscheiden, ob ein Verstoß seitens der Bundesregierung gegen den Grundsatz der Bundestreue vorlag, indem sie die Länder bei der Gründung der sogenannten ,Deutschland-Fernsehen-GmbH nicht angemessen beteiligt hatte. Ausgangspunkt der Streitigkeit waren die Bestrebungen der von 1957 bis 1961 amtierenden Bundesregierung den Bund am Rundfunkwesen zu beteiligen. Neben der Einrichtung der öffentlich-rechtlichen Anstalten Deutsche Welle und Deutschlandfunk verfolgte sie das Ziel der Schaffung des sogenannten ,Deutschlandfernsehens, eines länderunabhängigen Bundesfernsehens. Um die erforderliche Zustimmung der Länder zu erhalten, nahm die Bundesregierung Verhandlungen mit Vertre274

Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 148.

II. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Bundestreue

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tern der Länder auf, deren Regierungschefs daraufhin eine Kommission ins Leben riefen, der die Verhandlungsführung übertragen wurde. Ihr gehörten in paritätischer Beteiligung Vertreter der SPD- sowie der unionsgeführten Bundesländer an. Zu Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und dieser Kommission kam es jedoch nicht. Vielmehr fanden die Besprechungen lediglich zwischen den der CDU und CSU angehörenden Ministerpräsidenten und der Bundesregierung statt. Anlässlich mehrerer Beratungen des Bundeskanzlers mit einigen der Union angehörenden Ministerpräsidenten wurde im Juli 1960 der Entschluss gefasst, zur Veranstaltung eines zweiten deutschen Fernsehprogramms eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu gründen. Über den Inhalt des Gesellschaftsvertrages wurde von Seiten der Bundesregierung wiederum nur mit Vertretern von CDU und CSU verhandelt. Erst mit einem Schreiben vom 16. Juli 1960 wurden die der SPD angehörenden Regierungschefs der Länder von der bevorstehenden Gründung der Deutschland-Fernsehen-GmbH unterrichtet und zu einer Erörterung am 22. Juli 1960 eingeladen, mithin nur drei Tage vor dem avisierten Gründungstermin am 25. Juli 1960. Wie zu erwarten, stimmten die Regierungschefs der SPD-, aber auch die der unionsgeführten Länder dem Vorschlag nicht vorbehaltlos zu. Der Bundeskanzler lehnte eine Berücksichtigung der Gegenvorschläge ab und verwies darauf, dass die Verschiebung des in Aussicht genommenen Termins zur Gründung der Gesellschaft nicht zu verantworten sei. Am 25. Juli 1960 wurde durch die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundeskanzler und den Bundesminister der Justiz, der die Länder vertreten sollte, die Deutschland-Fernsehen-GmbH mit Sitz in Köln gegründet. Die Bundesländer sollten sukzessiv beitreten können. Die mangelnde Akzeptanz dieses Vorgehens äußerte sich darin, dass sämtliche Bundesländer ihre Beteiligung an der GmbH ausschlossen. Die Freie und Hansestadt Hamburg und das Land Hessen beantragten festzustellen, dass sie durch die Gründung der Deutschland-Fernsehen-GmbH in ihren verfassungsmäßigen Rechten aus Art. 30 GG verletzt worden seien. Darüber hinaus, so die Begründung des Landes Hessen, habe die Bundesregierung durch die Gründung der Gesellschaft gegen den Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens verstoßen. Sie betonte hierbei ausdrücklich, dass auch die Art und Weise, in der der Bund vorgegangen sei, mit jenem Grundsatz nicht vereinbar sei.275 Die Bundesregierung beantragte die Abweisung der Anträge. Nach Art. 73 Nr. 7 GG, jedenfalls aber kraft Sachzusammenhangs, sei der Bund befugt, den Rundfunk als Ganzes zu regeln. Die Rechte der Länder aus Art. 30 GG seien nicht verletzt worden, da die Veranstaltung von Rundfunksendungen keine staatliche Aufgabe sei. Gegen den Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens habe die Bundesregierung deshalb nicht verstoßen, weil sie bereit gewesen sei, die Gesellschaft gemeinsam mit den Ländern zu gründen, denen der Beitritt weiterhin offen stehe.276 275 276

BVerfGE 12, 205 [218]. BVerfGE 12, 205 [218 f.].

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Im Rahmen seiner Urteilsbegründung stellt das Bundesverfassungsgericht zunächst fest, dass das Grundgesetz, anders als es die Bundesregierung beanspruchte, keine Bundeszuständigkeit im Hinblick auf die Organisation und Veranstaltung von Rundfunksendungen enthält. Insbesondere erstrecke sich die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 73 Nr. 7 GG lediglich auf den Bereich der Sendetechnik.277 Sodann gelangt das Gericht zu der Feststellung, dass der Bund durch Gründung der Deutschland-Fernsehen-GmbH gegen Art. 30 i.V.m. Art. 83 ff. GG verstoßen habe.278 Die Veranstaltung von Rundfunksendungen sei nach der deutschen Rechtsentwicklung eine öffentliche Aufgabe, deren Erfüllung nach Art. 30 GG Sache der Länder sei, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung getroffen oder zugelassen habe. Da eine derartige Regelung zugunsten des Bundes nicht existiere, stehe die Gründung der Gesellschaft im Widerspruch zur Verfassung. Seine Ausführungen zur Bundestreue beginnt das Bundesverfassungsgericht mit einem Eingangssatz, der zugleich als Resümee seiner bisherigen Rechtsprechung angesehen werden kann. „Im deutschen Bundesstaat wird das gesamte verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen dem Gesamtstaat und seinen Gliedern sowie das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen den Gliedern durch den ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz von der wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten beherrscht.“279

Das Gericht betont hier erneut die wechselseitige Geltung der Bundestreue, die sowohl die Länder gegenüber dem Bund als auch den Bund gegenüber den Ländern sowie die Länder untereinander bindet. Damit verdeutlicht das Gericht erneut seine Einschätzung von der grundsätzlichen Gleichordnung von Bund und Ländern als ebenbürtigen Bundesstaatsgliedern. Dementsprechend, so das Gericht, lasse die bisherige Rechtsprechung erkennen, dass sich aus diesem Grundsatz sowohl konkrete, über die in der bundesstaatlichen Verfassung ausdrücklich normierten verfassungsrechtlichen Pflichten hinausgehende, zusätzliche Pflichten der Länder gegenüber dem Bund und zusätzliche Pflichten des Bundes gegenüber den Ländern entwickeln ließen als auch konkrete Beschränkungen in der Ausübung der dem Bund und den Ländern im Grundgesetz eingeräumten Kompetenzen ergeben würden.280 Sodann führt der Text des Urteils sämtliche im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung entwickelten Rechte und Pflichten auf281; von der Pflicht der finanzstärkeren Länder, den schwächeren Ländern in gewissen Grenzen Hilfe zu leisten282, über die Rechtsschranke bei der Ausübung von Gesetzgebungskompetenzen aus Rücksichtnahme auf die Auswirkungen einer gesetzlichen 277 278 279 280 281 282

BVerfGE 12, 205 [225] sowie 3.Ls. BVerfGE 12, 205 [243]. BVerfGE 12, 205 [254]. BVerfGE 12, 205 [255]. BVerfGE 12, 205 [254 f.]. BVerfGE 1, 117 [131].

II. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Bundestreue

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Regelung auf andere Länder oder den Bund283 bis zur Pflicht eines Landes im Interesse des Bundes im Wege der Kommunalaufsicht gegen Gemeinden einzuschreiten284. Entsprechend der proklamierten generellen Geltungskraft der Bundestreue kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens auch bei der Wahrnehmung der Bundeskompetenzen auf dem Gebiet des Rundfunks von grundsätzlicher Bedeutung ist.285 a) Stil und Procedere von Verhandlungen zwischen Bund und Ländern Mit der Ankündigung, dass der vorliegende Fall Veranlassung gebe, den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten nach einer anderen Seite weiter zu entwickeln, leitet das Gericht zu einer weiteren Konkretisierung der Bundestreue über. „Auch das Procedere und der Stil der Verhandlungen, die zwischen dem Bund und seinen Gliedern und zwischen den Ländern im Verfassungsleben erforderlich werden, stehen unter dem Gebot bundesfreundlichen Verhaltens. In der Bundesrepublik Deutschland haben alle Länder den gleichen verfassungsrechtlichen Status; sie sind Staaten, die im Verkehr mit dem Bund Anspruch auf gleiche Behandlung haben. Wo immer der Bund sich in einer Frage des Verfassungslebens, an der alle Länder interessiert und beteiligt sind, um eine verfassungsrechtlich relevante Vereinbarung bemüht, verbietet ihm jene Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten, nach dem Grundsatz divide et impera zu handeln, d. h. auf die Spaltung der Länder auszugehen, nur mit einigen eine Vereinbarung zu suchen und die anderen vor den Zwang des Beitritts zu stellen.“286

Gegen diesen Grundsatz habe die Bundesregierung verstoßen, indem sie die eigens dafür installierte Länder-Kommission nicht an den Verhandlungen beteiligte. Insbesondere seien die in den Besprechungen zwischen Politikern der CDU und CSU erarbeiteten Vorschläge und Pläne nicht zum Gegenstand von Verhandlungen der Bundesregierung mit den Landesregierungen bzw. der von ihnen gebildeten Kommission gemacht worden.287 Die Positionierung des Gerichts zugunsten der übergangenen Bundesländer kann mit Blick auf seine bisherige Rechtsprechung nicht allzu sehr überraschen. Die Bundesregierung verletzte die elementaren Umgangsformen bundesstaatlichen Miteinanders, indem sie das von allen Ländern installierte Verhandlungsgremium negierte und in politischem Kalkül jene Länder ausschloss, von denen Widerstand zu erwarten war. Sie beabsichtigte, ihr politisches Ziel der Einflussnahme auf die Veranstaltung 283 284 285 286 287

BVerfGE 4, 115 [140]. BVerfGE 8, 122 [138 ff.]. BVerfGE 12, 205 [255]. BVerfGE 12, 205 [255]. BVerfGE 12, 205 [256 f.].

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von Rundfunksendungen gegen die bundesstaatliche Vorgabe des Grundgesetzes hinter dem Rücken eines Teils der Bundesländer zu erreichen. Ein solches Ausspielen gleichgeordneter Bündnispartner steht in eklatantem Widerspruch zu dem Bündnisgedanken des Grundgesetzes und jedes föderalen Staatswesens. Der Bund hat die Funktion, die Interessen seiner Glieder zu befördern und nicht die Gegensätze auszunutzen oder gar zu betonen, um seine Machtfülle zu erweitern. Hätte die Bundesregierung ihr Ziel unter Umgehung der SPD-geführten Länder erreicht, hätte diese Spaltung zu einer Schwächung der Position aller Gliedstaaten und des Gesamtsystems Bundesstaat geführt. Das Bundesverfassungsgericht hat den Bestrebungen der Bundesregierung eine deutliche Absage erteilt, indem es sie als klaren Verstoß gegen die Formen bundesstaatlichen Umgangs bewertet hat. Sofern die Bundesregierung beabsichtigt, bestimmte Fragen zu regeln, die sie nur unter Beteiligung aller Länder regeln kann, weil alle Länder davon betroffen sind, muss sie die Verhandlungen auch mit allen Bundesländern führen. Sie darf keine Einigung mit jenen Länderregierungen suchen, die ihr politisch nahe stehen, um den zu erwartenden Widerstand der anderen Länder durch Schaffung vollendeter Tatsachen zu umgehen. Dem ist vollends zuzustimmen. Im Hinblick auf die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten stellt sich das Verhalten der Bundesregierung als völlig inakzeptabel dar. Bereits ohne das bundesstaatliche Treueverhältnis in Anspruch nehmen zu müssen, widerspricht es jeder Akzeptanz, diejenigen, über deren Rechte disponiert werden soll, von den Verhandlungen über die Vorgehensweise auszuschließen. Einen weiteren Verstoß gegen die Bundestreue erkannte das Gericht darin, dass die Bundesregierung, trotz fehlender Zustimmung der Ministerpräsidenten, darauf bestand, den Gesellschaftsvertrag am 25. Juli 1960 in der von ihr vorgesehenen Form zu unterzeichnen. Zutreffend verweist das Gericht darauf, dass den Ministerpräsidenten der SPD-geführten Länder eine unangemessen kurze Frist eingeräumt worden sei, als sie erstmals drei Tage vor dem Unterzeichnungstermin Gelegenheit erhielten, über den Plan zu beraten. Bereits darin sei eine Missachtung der Position der Länder zu erkennen. Schlechthin unvereinbar mit dem Gebot zu bundesfreundlichem Verhalten sei jedoch, dass die Bundesregierung, trotz Ablehnung und gleichzeitiger Unterbreitung neuer Vorschläge durch die Ministerpräsidenten, gleichwohl darauf bestanden habe, dass der Gesellschaftsvertrag am 25. Juli 1960 in der von ihr vorgesehenen Form unterzeichnet werde solle.288 Das Bundesverfassungsgericht betont in diesem Zusammenhang, dass die Landesregierungen eine inhaltliche Stellungnahme zu ihren Gegenvorschlägen erwarten und nicht vor vermeintlich vollendete Tatsachen gestellt werden durften.289 Hierin liegt eine weitere wesentliche Aussage des Bundesverfassungsgerichts zugunsten der Länder. Der Rang der Bundesländer als Gliedstaaten des Bundes gebietet 288 289

BVerfGE 12, 205 [258]. BVerfGE 12, 205 [258].

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stets eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung der Bundesregierung mit dem Vorbringen der Länderregierungen. Diese Aussage geht über die allgemeine Feststellung der grundsätzlichen Gleichordnung der Länder gegenüber dem Bund hinaus, da sie konkrete Verhaltensmaßstäbe zugunsten der Länder formuliert. Der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten widerstreite schließlich auch die Art der Gründung der Gesellschaft.290 Wenn wie hier klar sei, dass die Länder nicht Willens seien, sich an der vom Bund initiierten Gesellschaft zur Veranstaltung von Rundfunksendungen zu beteiligen, dann verstoße die Bundesregierung gegen das Gebot zu bundesfreundlichem Verhalten, wenn sie in ihren eigenen Reihen einen Treuhänder für die Länder suche und mit dessen Hilfe die von den Ländern abgelehnte Gesellschaft gründe.291 Das vorhergehende verfassungswidrige Verhalten der Bundesregierung erreiche seinen „Gipfel“ im Akt der Gründung der Gesellschaft. Die Verfassungswidrigkeit der Prozedur hafte dem Gründungsakt derart an, dass die durch ihn geschaffene Situation auch aus diesem Grunde nicht zum Ausgangspunkt einer verfassungsrechtlich zulässigen Betätigung werden könne.292 Das Gericht bringt somit abschließend zum Ausdruck, dass jede zukünftige Tätigkeit der Gesellschaft gegen die Verfassung verstoßen müsse, da das gesamte Vorgeschehen dem Grundsatz der Bundestreue so offensichtlich widersprochen habe, dass die Existenz der GmbH nicht davon getrennt werden könne. Angesichts der Ausführlichkeit, mit der sich das Gericht dem Verstoß der Bundesregierung gegen die Bundestreue widmet, fällt auf, dass das Gericht die Gelegenheit versäumt, das Verhalten der CDU/CSU-geführten Landesregierungen kritisch zu werten. Deren Verfehlung durch die Aufnahme von Verhandlungen mit der Bundesregierung unter Ausschluss der SPD-geführten Landesregierungen wiegen ebenfalls schwer, da beide Seiten die Verhandlungsführung der eigens dafür ins Leben gerufenen paritätisch besetzten Kommission übertragen hatten. Obwohl dieses fragwürdige Verhalten nicht Gegenstand der Streitigkeit war, hätte sich die Einbeziehung dieses Verhaltens geradezu aufgedrängt. Insbesondere mit Blick auf die Eindringlichkeit, mit welcher das Gericht den Verstoß der Bundesregierung gegen die Bundestreue zutreffend kritisiert, hätte die unrühmliche Rolle der betreffenden Länder zumindest Erwähnung finden müssen. b) Fazit Das sogenannte Fernsehurteil weist deutliche länder- und föderalismusfreundliche Tendenzen auf. Einerseits liegt mit dem bestätigenden Resümee zu Beginn der betreffenden Darlegungen eine Konsolidierung und Festigung der bisherigen länderfreundlichen Rechtsprechung zur Bundestreue des Gerichts vor. Die Bundestreuejudikatur erlangt mit dieser Entscheidung den Status einer gefestigten Rechtsprechung.

290 291 292

BVerfGE 12, 205 [258]. BVerfGE 12, 205 [258 f.]. BVerfGE 12, 205 [259].

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Andererseits ist auch die weitergehende Konkretisierung der inhaltlichen Geltung der Bundestreue im konkreten Fall als länderfreundlich zu bewerten. Die Klarstellungen, dass die Bundesregierung Verhandlungen über Vorhaben, deren Umsetzung alle Länder in verfassungsrechtlichen Positionen betrifft, auch mit allen Ländern führen muss, dass für die Prüfung konkreter Vorschläge ausreichend Zeit einzuräumen ist und auf Gegenvorschläge angemessen zu reagieren ist, sind eindeutig zugunsten der Länder zu werten. Die vorgenommene Konkretisierung des Grundsatzes der Bundestreue stellt zugleich eine Ausweitung ihres Anwendungsbereichs dar, da Fragen der Verhandlungsführung zwischen den Bundesstaatsgliedern bisher nicht von der Rechtsprechung berührt wurden und anders als die Gegenstände der bisherigen Entscheidungen auch nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Inanspruchnahme verfassungsrechtlicher Kompetenzen stehen. Die klare und detaillierte Zurückweisung des Verhaltens der Bundesregierung ist insbesondere deswegen von elementarer Bedeutung, als damit der Versuch unterbunden wurde, einen Teil der Länder gegen den anderen Teil auszuspielen, um Kompetenzdefizite auszugleichen und politische Ziele durchzusetzen. Wäre dieses Verhalten ohne verfassungsgerichtliche Sanktion geblieben, hätte dies eine schwere Niederlage für den bundesstaatlichen Gedanken bedeutet. Zudem enthielt das konspirative Vorgehen der Bundesregierung, das auf den Ausschluss legitimierter Organe der Länder gerichtet war, eine grobe Missachtung des Souveräns in den jeweiligen Bundesländern. Eine weitere Besonderheit des Urteils liegt darin, dass das Bundesverfassungsgericht erstmals einen Verstoß des Bundes gegen die Bundestreue zulasten der Länder feststellte. Die Präzedenz der Entscheidung wird insbesondere im Hinblick auf die Position der Länder im bundesstaatlichen Gefüge deutlich. Zwar hatte sich das Gericht in seinen vorhergehenden Entscheidungen bereits dazu bekannt, dass die Bundestreue entgegen ihrem buchstäblichen Sinn nicht allein die Treue der Länder gegenüber dem Bund beinhaltet, sondern ebenso die des Bundes gegenüber den Ländern. Mit der vorliegenden Entscheidung erfährt diese Interpretation des Bundestreuegedankens jedoch erstmals ihre praktische Bestätigung und somit greifbare verfassungsrechtliche Kontur. Das Bundesverfassungsgericht manifestiert damit die Gleichordnung von Bund und Ländern im Hinblick auf die gegenseitig zu erbringende Bundestreue.293 c) Kritik an der Bundestreuerechtsprechung Die Untersuchung des Fernsehurteils bietet Gelegenheit, auf die daran anknüpfende Kritik des Schrifttums an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts näher einzugehen. In Folge der Entscheidung wurde teilweise heftige Kritik laut, so293

In diesem Sinne auch Rupp, in: Eschenburg u. a., FG für Schmid, 1962, S. 141 (145).

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wohl hinsichtlich der Anwendung des Grundsatzes der Bundestreue überhaupt als auch wegen der Bedeutung, die das Bundesverfassungsgericht der Bundestreue in seiner Rechtsprechung zumaß.294 Die Kritik entzündete sich insbesondere an der vermeintlichen Proklamation zum ,beherrschenden Grundsatz des Bundesstaatsrechts, bezog sich aber letztendlich auf die gesamte bisherige Rechtsprechung zur Bundestreue. Den bedeutendsten Beitrag des kritischen Schrifttums enthielt eine Publikation Hesses aus dem Jahr 1962, in der sich der Verfasser unter anderem auch der Rechtsprechung zum Grundsatz der Bundestreue, widmete. Ausgangspunkt der Kritik ist Hesses Einschätzung, dass das Bundesverfassungsgericht im Begriff sei, durch seine Aussagen im Fernsehurteil den Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens zu einem „Zentralsatz der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes“ zu erheben.295 Zum Beleg dieser Beobachtung verweist er gleich zu Beginn auf einen Beitrag Geigers296, eines Mitglieds des befassten Zweiten Senates des Bundesverfassungsgerichts, nach dessen Einschätzung der Grundsatz der Bundestreue „eine fundamentale, umfassende, das ganze Verfassungsgefüge tief greifend gestaltende Bedeutung gewonnen“ habe und von „größerer theoretischer und praktischer Bedeutung als das föderalistische Prinzip“ sei.297 aa) Die Kritik im Einzelnen Die Bundestreue, so Hesse, sei den geschriebenen und den gesicherten ungeschriebenen Grundsätzen ohne Notwendigkeit als ungeschriebener Verfassungsgrundsatz hinzugefügt worden. In kaum einem Fall habe zwingender Anlass bestanden, auf den Grundsatz der Bundestreue zurückzugreifen, da die Pflicht zur Einhaltung der geschriebenen Verfassung durch Bund und Länder bereits unmittelbar aus der Geltung der gemeinsamen Verfassungsordnung folge.298 Soweit die Zulässigkeit und die Art der Ausnutzung von Zuständigkeiten durch den Bund oder die Länder streitig gewesen wären, seien die traditionellen Grundsätze über den Rechtsmissbrauch oder das Prinzip der Verhältnismäßigkeit anwendbar gewesen.299 Des Weiteren bemängelte Hesse, dass der Grundsatz der Bundestreue mehrfach herangezogen worden sei, um ihn zumindest teilweise zur Grundlage weitreichender Entscheidungen zu machen. 294 Zu den Kritikern der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zählten neben Hesse in erster Linie Fuß, DÖV 1964, S. 37 ff., Scheuner, DÖV 1962, S. 641 ff. und Spanner, DÖV 1961, S. 481 ff.; In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Scheuner und Spanner bereits in das verfassungsgerichtliche Verfahren eingebunden waren, indem sie gutachterlich zugunsten der Bundesregierung Stellung bezogen hatten, vgl. BVerfGE 12, 205 [219]. 295 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 6. 296 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 6. 297 Geiger, in: Süsterhenn, Föderalistische Ordnung, 1961, S. 113 (114, 123). 298 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 7. 299 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 7; in diesem Sinne auch Fuß, DÖV 1964, S. 37 (41), Scheuner, DÖV 1962, S. 641 (646), ders., DÖV 1963, S. 197 (197).

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

Hierbei seien konkrete, über die normierten verfassungsrechtlichen Pflichten hinausgehende, zusätzliche Pflichten als auch konkrete Beschränkungen der geschriebenen Kompetenzen von Bund und Ländern entwickelt worden. Diese Überordnung über das positiv normierte Verfassungsrecht stelle eine Überdehnung der Bedeutung der Bundestreue dar, zumal wenn diese gegenüber den verfassungsmäßig normierten Sätzen der bundesstaatlichen Ordnung das eigentliche Wesen dieser Ordnung verkörpern solle.300 Hinsichtlich der durch das Bundesverfassungsgericht in Anspruch genommenen Tradition der Bundestreue unter Bezugnahme auf Smend moniert Hesse die fehlende Anknüpfung an die grundgesetzlichen Verfassungsordnung und die mangelnde Vergleichbarkeit der Verhältnisse. Zu Zeiten des Kaiserreichs habe sich die Entwicklung eines ungeschriebenen Verfassungssatzes als sinnvolle Ergänzung des notgedrungen unvollkommenen, geschriebenen Verfassungsrechts erwiesen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland normiere hingegen eine voll ausgebaute bundesstaatliche Ordnung und gewährleiste diese in einem umfassenden Sinne durch eine voll ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit.301

bb) Stellungnahme Der grundsätzlichen Infragestellung des Grundsatzes der Bundestreue soll, trotz ihrer damaligen Brisanz, an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden, da die Bundestreue mittlerweile übereinstimmend als fester Bestandteil des Verfassungsrechts angesehen wird.302 Zustimmung verdient die Kritik jedenfalls, soweit sie die unklare systematische Herleitung der Bundestreue im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes bemängelt. Hinsichtlich der fehlenden konstitutiven Herleitung und Begründung der Bundestreue sei auf die Analyse von BVerfGE 1, 299 am Anfang dieses Kapitels verwiesen. Bereits dort wurde dieses Versäumnis kritisch beleuchtet. In der Folge unternahm das Gericht keinerlei Anstrengungen, um diesem Missstand abzuhelfen und beförderte damit die sich nun entladende Kritik. Zumindest aus heutiger Sicht zu weitgehend erscheint jedoch die Einschätzung, wonach die Rechtsprechung des Gerichts und insbesondere das Fernsehurteil zu einer Überdehnung der Bedeutung der Bundestreue beigetragen habe. Zur Überprüfung dieser These, die sich primär auf die vermeintliche Einordnung als beherrschenden Grundsatz der bundesstaatlichen Ordnung stützt, gilt es aufmerksam zu differenzieren zwischen der Position des Bundesverfassungsgerichts und der Interpretation des Urteils durch das Senatsmitglied Geiger. Für eine sachgerechte Analyse ist es un300 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 7; zustimmend: Scheuner, DÖV, S. 641 (646); Spanner, DÖV 1961, S. 481 (483); im Hinblick auf das Fernsehurteil auch Fuß, DÖV 1964, S. 37 (39). 301 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 7 f; Fuß, DÖV 1964, S. 37 (39). 302 Vgl. nur die Aufzählung bei Bauer, Die Bundestreue, 1992, S.1.

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abdingbar, sich den exakten Wortlaut der anstoßgebenden Passage des Urteilstextes erneut vor Augen zu führen, ebenso wie den inhaltlichen Kontext, in den sie eingebettet ist. „Im deutschen Bundesstaat wird das gesamte verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen dem Gesamtstaat und seinen Gliedern sowie das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen den Gliedern durch den ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz von der wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten beherrscht.“303

Allein der Wortlaut lässt keine übersteigerte Bedeutungszuweisung erkennen. Er enthält lediglich eine ausdrückliche Bekräftigung der bis dahin gewonnenen Einschätzung der Bedeutung der Bundestreue. Prägnant formuliert lautet diese: Zwischen allen Gliedern des Bundesstaates gilt die wechselseitige Pflicht zur Bundestreue. Inhaltlich bedeutet dies die Widerholung der bekannten Feststellung, dass sich die Geltung der Bundestreue sowohl auf das Verhältnis des Bundes zu den Ländern als auch auf jenes zwischen den Ländern erstreckt. Insbesondere weist das Gericht dem Ausdruck ,beherrschen nicht die Bedeutung eines allumfassenden Dominierens zu, sondern die Rolle eines Vorbehalts, unter dem das gegenseitig wirkende Verhalten der Bundesstaatsglieder steht. Erst recht verdeutlicht der Kontext, in dem die Textpassage steht, dass hier keine Erweiterung der Geltungskraft der Bundestreue erfolgt oder etwa die Zuweisung einer neuen Bedeutungsqualität. Ganz im Gegenteil wird deutlich, dass es sich bei den fraglichen Formulierungen lediglich um den Einstieg in eine Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung handelt. Denn im Anschluss an die zitierte Textpassage erfolgt, jeweils unter Angabe der zugrunde liegenden Entscheidung, eine lückenlose Darstellung des bisherigen Erkenntnisstandes zum materiellen Gehalt der Bundestreue. Auf diese Weise gelangt der Urteilstext zum eigentlichen Kern der gerichtlichen Darlegungen, nämlich der weiteren Konkretisierung des Grundsatzes der Bundestreue. Es bleibt also festzuhalten, dass die betreffenden Urteilspassagen einerseits der Konsolidierung der Bundestreuerechtsprechung dienten und andererseits, unter vorheriger Bestimmung des status quo, der Fortentwicklung der inhaltlichen Konturen des Bundestreuegrundsatzes. Keinesfalls aber ist in den betreffenden Ausführungen eine extensive Ausdehnung oder etwa die Zuweisung einer neuen Bedeutungsqualität zu erkennen.304 Grundsätzlich anders zu bewerten sind hingegen die Äußerungen Geigers. Diese enthalten die deutliche Tendenz einer extensiven Rechtsprechungsinterpretation. Diese tritt schon allein darin deutlich zu Tage, dass Geiger der Bundestreue eine größere Bedeutung beizumessen gedachte als dem Bundesstaatsprinzip selbst.305 Diese Betrachtungsweise erscheint allein schon deswegen fragwürdig, weil das Bundesver-

303 304 305

BVerfGE 12, 205 [254]. So sieht dies auch Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 149. Geiger, in: Süsterhenn, Föderalistische Ordnung, 1961, S. 113 (123).

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fassungsgericht den Grundsatz der Bundestreue seit Beginn seiner Rechtsprechung dem Bundesstaatsprinzip entnahm, ihn also als Unterprinzip desselben ansah. Für die vorliegende Arbeit genügt indes der Befund, dass weniger das Bundesverfassungsgericht und seine Rechtsprechung zur Bundestreue, sondern vielmehr dessen extensive Interpreten die richtigen Adressaten der Kritik gewesen wären. Zwar ist es nachvollziehbar, dass sich Hesse und die anderen Autoren neben der konkreten Entscheidung auch auf Äußerungen Geigers bezogen, jedoch fehlt der Kritik insofern die Grundlage, als den maßgeblichen Urteilspassagen, im Unterschied zu den Äußerungen Geigers, eine extensive Bedeutungszuweisung nicht zu entnehmen ist.306 Vielmehr steht das Urteil in der Kontinuität der bisherigen Rechtsprechung zur Bundestreue, die zugegebenermaßen betont föderalismus- und auch länderfreundlich ausfiel.307

5. BVerfGE 13, 54 – Neugliederungsurteil (Urteil des Zweiten Senates vom 11. Juli 1961) Die hessische Landesregierung begehrte unter anderem die Feststellung eines Verstoßes gegen die Rechtspflicht zu bundesfreundlichem Verhalten seitens der Bundesregierung, weil diese es unterlassen hatte, den Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung des Bundesgebietes vorzulegen.308 Aus dem Grundsatz der Bundestreue, so die Landesregierung, ergebe sich die Pflicht der Bundesregierung, das Neugliederungsverfahren durch Einbringung eines entsprechenden Gesetzesentwurfs einzuleiten, da bis zum Abschluss der Neugliederung nicht feststehe, welches Gebiet die Bundesländer endgültig umfassen werden. Dies führe zu Unsicherheit und Unruhe, erschwere die Rechtssetzung und stehe allen gebietsbezogenen Maßnahmen der Länder zur Ordnung der Verwaltung hindernd im Wege.309. Die Bundesregierung widersprach mit der Begründung, sie habe ihre Bemühungen um ein Neugliederungsgesetz vorerst zurückgestellt, weil die Wiedervereinigung Deutschlands als Hauptaufgabe deutscher Politik die Konzentration aller Kräfte erfordere.310 Der Antrag der Landesregierung scheiterte bereits an der fehlenden Antragsbefugnis, da – so das Gericht – zwischen dem Land Hessen und dem Bund kein Rechtsverhältnis bestehe, aus dem Hessen einen Anspruch auf Erlass des Neugliederungs306 In diesem Sinne auch Thieme, AöR 88 (1963), S. 38 (63), den die Bedenken Hesses gegen eine Aktualisierung der Bundestreue nicht überzeugen; Faller, in: Lerche, FS für Maunz, 1981, S. 53 (66), der konstatiert, dass das Bundesverfassungsgericht das Verfassungsprinzip der Bundestreue schrittweise und behutsam entwickelt habe. 307 Diese Einschätzung teilt auch Oeter, Integration und Subsidiarität, 1998, S. 232. 308 Vgl. die Darstellung des Sachverhalts in Kap. 1, Gliederungspkt. II.2. 309 BVerfGE 13, 54 [62]. 310 BVerfGE 13, 54 [64].

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gesetzes herleiten könne.311 Art. 29 Abs. 1 S. 1 GG312 bezeichne als Objekt der Neugliederung ausdrücklich nur das Bundesgebiet und mache die Neugliederung zu einer ausschließlichen Aufgabe des Bundes. Zudem sei die Neugliederung im Interesse des Ganzen vorgesehen und nicht im Interesse der Länder.313 Anknüpfend an die vorhergehende Erkenntnis, dass Art. 29 GG eine einseitige Rechtspflicht des Bundes zur Neugliederung des Bundesgebietes begründe, aber keinen entsprechenden Anspruch des Landes Hessen gegenüber dem Bund, gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Pflicht zur Bundestreue im vorliegenden Fall nicht als Maßstab herangezogen werden könne.314 a) Akzessorietät der Bundestreue Das Prinzip der Bundestreue konstituiere oder begrenze Rechte und Pflichten zwischen Bund und Ländern nur innerhalb bestehender Rechtsverhältnisse, begründe aber nicht selbständig ein Rechtsverhältnis zwischen ihnen. Die wechselseitigen rechtlichen Beziehungen, innerhalb denen die Bundestreue zu wahren sei, müssten „bestehen oder durch Verhandlungen begründet werden“.315 Die zugrunde liegende Konstellation unterscheide sich von den bisherigen insofern, als Art. 29 GG eine einseitige Pflicht des Bundes begründe, der diese Aufgabe in Überordnung über die Länder erfüllen könne. Es fehle somit an der für die Anwendbarkeit der Bundestreue maßgeblichen Wechselseitigkeit des Rechtsverhältnisses.316 Das Bundesverfassungsgericht nutzt hier die Gelegenheit, den Anwendungsbereich der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten einzugrenzen. Es begründet hierbei den Grundsatz der Akzessorietät der Bundestreue und verleiht dem ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz damit konkrete Konturen. Danach kann die Bundestreue nur in bestehenden Rechtsverhältnissen oder nach Aufnahme von Verhandlungen zwischen den Bundesstaatsgliedern zur Anwendung gelangen. Entgegen der Annahme der Kritiker der Bundestreuerechtsprechung interpretierte das Gericht die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten somit nicht als übergreifenden Zentralsatz des Bundesstaates.317

311

BVerfGE 13, 54 [73]. Das Urteil bezieht sich auf die von 1949 bis zum 22. 8. 1969 in Kraft befindliche Fassung des Art. 29 GG (BGBl. 1949 I S. 1 ff.). 313 BVerfGE 13, 54 [73]. 314 BVerfGE 13, 54 [75]. 315 BVerfGE 13, 54 [75]. 316 BVerfGE 13, 54 [76]. 317 Die Kritiker der Rspr. zur Bundestreue hatten zwar teilweise auf das bereits mehrere Jahre zuvor ergangene Neugliederungsurteil hingewiesen, ließen sich aber dennoch nicht von ihrer Grundsatzkritik abhalten. Vgl. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 10, Fn. 48; Fuß, DÖV 1964, S. 37 (40). 312

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

Es schränkt die Geltung der Bundestreue vielmehr auf jene Konstellationen ein, in denen sich Bund und Länder als Träger von Rechten und Pflichten gegenüber stehen. Zu diesen Rechtsverhältnissen gehören solche, die durch die Verfassung begründet sind oder auf entsprechende Gesetzgebung oder Verhandlungen zurückgehen. Eine Begründung von Rechten und Pflichten oder gar von Ansprüchen allein aus dem Prinzip der Bundestreue scheidet somit aus. Diese Rechtsprechung ist sachgerecht, da dem ungeschriebenen Grundsatz der Bundestreue als einem Unterprinzip des Bundesstaatsprinzips nicht die Funktion positiven Rechts zugewiesen werden kann, aus dem Rechtsverhältnisse abgeleitet werden, die materielle Ansprüche, Rechte oder Pflichten begründen. Ihre funktionelle Bedeutung besteht darin, in bestehenden Rechtsverhältnissen oder im Rahmen von Verhandlungen zwischen den Bundesstaatsgliedern Rücksichtnahme-, Mitwirkungsoder anderweitige föderative Verhaltenspflichten zu begründen.318 b) Fazit Obwohl diese Entscheidung eine Beschränkung des Anwendungsbereichs der Bundestreue darstellt, korrespondiert sie mit der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts. Mit seiner Entscheidung verhindert das Bundesverfassungsgericht eine sich abzeichnende ausufernde Inanspruchnahme des ungeschriebenen Verfassungsgrundsatzes der Bundestreue. Die Tendenz einer gewissen Beliebigkeit bei der Berufung auf die Bundestreue zeigte sich nicht zuletzt darin, dass die hessische Landesregierung sich zur Begründung ihres vermeintlichen Anspruchs nicht allein auf Art. 29 GG berief, sondern die Bundestreue quasi hilfsweise anführte.

6. Weitere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bundestreue Die Inhalte der zuvor untersuchten Entscheidungen aus den zwei Nachkriegsjahrzehnten bilden die Basis der nachfolgenden verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Ausgehend von diesem rasant errichteten Fundament entwickelte sich eine an Kontinuität und Wahrung des erreichten Stellenwertes orientierte Judikatur, die keine vergleichbaren Höhepunkte, aber auch keine erkennbaren Brüche aufweist. Es gelang dem Bundesverfassungsgericht vielmehr, seine Erkenntnisse zu einer gefestigten Rechtsprechung auszubauen. Die Ergebnisse der weiteren Rechtsprechung bilden dementsprechend zusätzliche Ableitungen von Rücksichtnahme319 – und Mitwirkungspflichten320, die Anwendung 318

Kritisch dazu Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 182, Fn. 121, den die Betonung des akzessorischen Charakters der Bundestreue nicht überzeugt. 319 BVerfGE 81, 310 [337]; 43, 291 [348]. 320 BVerfGE 56, 298 [322]; 39, 96 [119].

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der Bundestreue auf die Verhandlungsführung zwischen Bundesstaatsgliedern321, die weitere Ausdifferenzierung der Akzessorietät der Bundestreue322 sowie die Bestätigung des Missbrauchskriteriums als Voraussetzung für das Vorliegen einer Verletzung der Bundestreuepflicht323. Neben der reinen Konsolidierung der Rechtsprechung finden sich jedoch auch einige Entscheidungen, mit denen das Gericht neue inhaltliche Konkretisierungen vornahm. So etwa befand das Bundesverfassungsgericht angesichts der Erkenntnis, dass eine 1920 zwischen Bayern und dem früheren Land Coburg staatsvertraglich vereinbarte unbeschränkte Garantie über das Territorium der Stadt Coburg unter dem Vorbehalt der clausula rebus sic stantibus stehe, dass eben dieser Grundsatz als ungeschriebener Bestandteil des Verfassungsrechts im ebenfalls ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Grundsatz der Bundestreue seine systematischen Wurzeln habe.324 Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist ebenso die Ableitung einer Mitwirkungsbefugnis der Länder bei der Schaffung von Verwaltungsvorschriften für die Verteilung von Bundesmitteln an die Länder325 und einer Pflicht zur Neuverhandlung über die Verteilung der Umsatzsteueranteile an die Länder für die Fälle, da deren Aufgabenerfüllung finanziell nicht mehr gewährleistet ist326. Ebenfalls von großer Bedeutung sind die Ausführungen des Gerichts in BVerfGE 6, 309, dem sogenannten Konkordatsurteil vom 26. März 1957, das zeitlich und inhaltlich den frühen Grundentscheidungen zugeordnet werden kann. Das Gericht entschied, dass das Land Niedersachsen durch den Erlass des streitgegenständlichen Schulgesetzes nicht gegen das Reichskonkordat von 1933 verstoßen und folglich auch nicht den Grundsatz der Bundestreue verletzt habe. Zunächst stellte der Senat mit grundsätzlicher Wirkung fest, dass eine Verletzung der Bundestreue, trotz deren Natur als ungeschriebenem Verfassungsrecht, im Wege der verfassungsgerichtlichen Rechtsfindung überprüfbar sei. Ebenfalls grundsätzlicher Art ist die Einschätzung des Gerichts, dass die Rechtspflicht zur Bundestreue nur aus der Zusammenschau mit allen anderen Verfassungsnormen, die das bundesstaatliche Verhältnis regeln, richtig verstanden werden könne.327 Auch inhaltlich nimmt das Gericht eine wichtige Konkretisierung vor. Die Bundestreue erfordere die Rücksichtnahme jedes Gliedes auf Interessen- und Spannungslagen, die im Bund auftreten, insbesondere auf die nach außen gerichteten Interessen des Bundes. Daraus sei zu folgern, dass insbesondere auf dem Gebiet der auswärtigen 321 322 323 324 325 326 327

BVerfGE 86, 148 [211]; 95, 250 [266]; 103, 81 [88]. BVerfGE 103, 81 [88]; 95, 250 [266]; 21, 312 [3.Ls.]. BVerfGE 14, 197 [215]; 34, 9 [44]; 76, 1 [77]; 81, 310 [337]. BVerfGE 34, 216 [232]. BVerfGE 42, 291 [308]. BVerfGE 72, 330 [402]. BVerfGE 6, 309 [361].

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Beziehungen, in denen der Bund die Kompetenzvermutung für sich habe, die Treuepflicht der Länder dem Bund gegenüber besonders ernst zu nehmen sei.328 Wenngleich das Gericht im Ergebnis eine Verletzung der Bundestreue verneinte, so brachte es dennoch eindeutig zum Ausdruck, dass die Bundestreue im Bereich der auswärtigen Beziehungen besondere Anforderungen an die Rücksichtnahmebereitschaft der Bundesstaatsglieder stellt. Diesen Grundsatz erhebt das Gericht jedoch nicht zum Dogma, sondern sieht ihn eingebettet in das gesamte Regelwerk des Grundgesetzes und gibt an dieser Stelle den Interessen des Landes Niedersachsen den Vorrang. Es ist als sachgerecht anzusehen, wenn das Gericht die Gesetzgebungskompetenz der Länder für den Bereich des Schulwesens als höherrangig erachtet als die Einhaltung vorkonstitutioneller völkerrechtlicher Verträge. Besondere Beachtung verdient auch die Entscheidung des Zweiten Senates vom 22. Mai 1990, BVerfGE 81, 310 – Kalkar II, welcher unter anderem die Frage zugrunde lag, ob der für Reaktorsicherheit zuständige Bundesminister durch eine Weisung im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung gegen die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten verstoßen habe. Im Kern ging es um die Frage, ob der Grundsatz der Bundestreue es dem Bund gebiete, vor Erteilung einer Weisung gemäß Art. 85 Abs. 3 GG den betreffenden Landesminister einzubeziehen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist zunächst, dass der Grundsatz der Bundestreue in seiner Funktion als Kompetenzausübungsschranke erstmalig im Bereich der Bundesauftragsverwaltung zur Anwendung gelangte, wodurch das Bundesverfassungsgericht die Allgemeingültigkeit des Grundsatzes für das Kompetenzgefüge des Grundgesetzes bestätigte. Bis dahin geschah dies nur im Hinblick auf die Ausübung von Gesetzgebungskompetenzen. Das Gericht befand, dass die Pflicht zu gegenseitiger Rücksichtnahme es gebiete, dass der Bund vor Weisungserlass dem Land Gelegenheit zur Stellungnahme gebe und dessen Standpunkt erwäge. Der gebotenen Rücksichtnahme sei grundsätzlich Genüge getan, wenn der Bund dem Land im Streitfall zu erkennen gebe, dass er den Erlass einer Weisung erwäge und damit dem Land die Bedeutung dieses Konflikts vor Augen führe.329 Hingegen müsse er sich nicht um ein Einvernehmen mit dem Land bemühen, bevor er zum Mittel der Weisung greife. Denn der Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens ändere nichts an der im Grundgesetz festgelegten Kompetenzverteilung.330 Im Spannungsfeld zwischen föderalistischen und zentralistischen Tendenzen lässt sich diese Entscheidung ebenfalls als ausgewogen charakterisieren. Denn mit dem Zugeständnis vorheriger Information und Stellungnahme findet das Gericht einen sachgerechten Ausgleich zwischen den beanspruchten Positionen.

328 329 330

BVerfGE 6, 309 [362]. BVerfGE 81, 310 [337 f.]. BVerfGE 81, 310 [337].

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Eine in mehrfacher Hinsicht bedeutsame Entscheidung stellt das Urteil vom 22. März 1995, BVerfGE 92, 203 – EG-Fernsehrichtlinie, dar. Dabei ging es um die Frage des bundesstaatlichen Verfahrens in Fällen, in denen auf europäischer Ebene Rechtssetzungsakte zur Abstimmung stehen, die die ausschließlichen Kompetenzen der Bundesländer betreffen. Die Bundesregierung hatte trotz ablehnender Stellungnahme des Bundesrates dem Vorschlag der Kommission zur Verabschiedung der sogenannten EWG-Fernsehrichtlinie331 am 3. Oktober 1989 zugestimmt. Das Land Bayern, das hierdurch sowohl seine Rundfunkhoheit als auch den Grundsatz der Bundestreue verletzt sah, begehrte die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Zustimmung der Bundesregierung. Begründet wurde dies damit, dass die Bundesregierung den Erfordernissen des sogenannten Bundesratsverfahrens nach Art. 2 EEAG332 als Konkretisierung der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten nicht genügt habe. Da das Rundfunkwesen in die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder falle, hätte die Bundesregierung die in der Stellungnahme des Bundesrates geltend gemachten Länderbelange nur aus unabweisbaren außen- und integrationspolitischen Gründen übergehen dürfen. Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Ergebnis, dass die Bundesregierung durch die Art, in der sie die Mitgliedschaftsrechte der Bundesrepublik Deutschland beim Zustandekommen der Fernsehrichtlinie wahrnahm, gegen den Grundsatz der Bundestreue verstoßen habe.333 Beanspruche die Europäische Gemeinschaft eine Rechtsetzungskompetenz, so sei es Sache der Bundesregierung, etwaige entgegenstehende Rechte der Bundesrepublik Deutschland zu wahren und gegenüber der Gemeinschaft wirksam zu vertreten. Die Länder könnten die ihnen verfassungsrechtlich zugewiesenen Kompetenzen gegenüber den Gemeinschaftsorganen selbst nicht wahrnehmen. Wenn das Bestehen oder die Reichweite einer Gemeinschaftskompetenz zur Setzung von sekundärem Gemeinschaftsrecht im Streit liege, seien sie darauf angewiesen, dass die Bundesregierung als ihr Sachwalter die ihnen durch das Grundgesetz zugewiesenen und nach dem Gemeinschaftsvertrag verbliebenen Gesetzgebungskompetenzen wirksam verteidige. Mit Blick auf das Bundesratsverfahren 331

Richtlinie (89/552/EWG) des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. EG Nr. L 298/23 vom 17. 10.1989. 332 Art. 2 Abs. 2 und 3 des Gesetzes zur Einheitlichen Europäischen Akte vom 28. 02. 1986 (EEAG) vom 19. Dezember 1986 (BGBl. II S. 1102) lauten: „(2) Die Bundesregierung gibt vor ihrer Zustimmung bei Beschlüssen der Europäischen Gemeinschaften, die ganz oder in einzelnen Bestimmungen ausschließliche Gesetzgebungsmaterien der Länder betreffen oder deren wesentliche Interessen berühren, dem Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme binnen angemessener Frist. (3) Die Bundesregierung berücksichtigt diese Stellungnahme bei den Verhandlungen. Soweit eine Stellungnahme ausschließliche Gesetzgebungsmaterien der Länder betrifft, darf die Bundesregierung hiervon nur aus unabweisbaren außen- und integrationspolitischen Gründen abweichen. Im Übrigen bezieht sie die vom Bundesrat vorgetragenen Länderbelange in ihre Abwägung ein.“ 333 BVerfGE 92, 203 [330].

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führt das Gericht aus: „Das in Art. 2 EEAG vorgesehene Verfahren formt die Pflicht von Bund und Ländern, sich im kooperativen Bundesstaat gegenseitig zu verständigen (vgl. BVerfGE 1, 299 [315]), in bestimmter Weise aus.“334 Überdies verpflichte das bundesstaatliche Prinzip der Bundestreue die Bundesorgane, einer langfristigen Entwicklung entgegenzuwirken, bei der durch eine schrittweise ausdehnende Inanspruchnahme der Gemeinschaftskompetenzen, vor allem der sogenannten Querschnittskompetenzen, verbliebene Sachkompetenzen der Mitgliedstaaten und damit auch Länderrechte beeinträchtigt werden können.335 Mit seiner Entscheidung stellt das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Bundestreue in den Kontext der Europäischen Integration. Auch und gerade im Rahmen der Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaft ist der Bund gegenüber den Ländern zu bundesfreundlichem Verhalten verpflichtet. Das Gericht erklärt hier den Bund, den es sonst stets bemüht sieht, seine Kompetenzen zu Lasten der Länder auszuweiten, zum Treuhänder der Interessen der Länder. Es zeigt somit erneut, welch enormen Stellenwert es der Gewährleistung der verfassungsrechtlichen Position der Länder beimisst. Darüber hinaus gibt das Bundesverfassungsgericht ein ausdrückliches Bekenntnis zum kooperativen Bundesstaat ab. Zwar stellt dies genau genommen keine inhaltliche Innovation dar, da die gesamte Bundestreuerechtsprechung von einem kooperativen Verständnis der bundesstaatlichen Beziehungen geprägt ist. Dennoch verdient dieser Umstand insofern gewisse Beachtung, als sich das Gericht einer entsprechenden Positionierung bisher enthalten hatte, obwohl es durch seine Bundestreuejudikatur maßgeblich zur Wahrnehmung des kooperativen Aspekts der Bundesstaatsverfassung beigetragen haben dürfte. Auch die jüngste zu erwähnende Entscheidung, der Beschluss des Zweiten Senates vom 27. Juni 2002, BVerfGE 106, 1 – Oberfinanzdirektionen, betraf die Frage, inwieweit der Bund bei der Ausübung seiner Kompetenzen auf die Belange eines betroffenen Bundeslands Rücksicht zu nehmen hat. Aufgrund einer Verordnung des Bundesministeriums der Finanzen wurden die Aufgaben bestimmter Zoll- und Steuerabteilungen sowie die Aufgaben der Bundesvermögensabteilungen neu unter den Oberfinanzdirektionen verteilt. Dies hatte zur Folge, dass einige Oberfinanzdirektionen, die zuvor sowohl Bundes- als auch Landesaufgaben wahrnahmen, nur noch Landesaufgaben wahrzunehmen hatten und infolge dessen als Landesbehörden eingestuft wurden. Das Land Hessen wehrte sich unter Verweis darauf, dass die Verordnung einen Paradigmenwechsel einleite, der einer gesetzlichen Absicherung bedürfe. Der vorgenommene Erlass verstoße daher gegen die Verpflichtung zur Bundestreue. Dem entgegnete die Bundesregierung, dass eine Verletzung ausscheide, da die Inanspruchnahme der Verordnungskompetenz weder missbräuchlich erfolgt sei, noch habe der Bund gegen prozedurale Anforderungen des Grundgesetzes verstoßen. Unter Bezugnahme auf die „gefestigte Rechtsprechung zur Pflicht bundesfreundlichen Verhal334 335

BVerfGE 92, 203 [334]. BVerfGE 92, 203 [330].

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tens“ – so der Urteilstext – schloss sich der Senat der Einschätzung der Bundesregierung an. Ein Verstoß gegen die Beteiligungsrechte des Landes liege nicht vor, da es die Bundesregierung nicht versäumt habe, sich mit der Antragstellerin hinsichtlich der Verlegung von Bundesabteilungen ins Benehmen zu setzen.336 Ungeachtet dessen, dass das Gericht auch hier keinen Verstoß gegen die Bundestreue erkannte, stellte es erneut klar, das der Grundsatz der Bundestreue Beteiligungsrechte jener Bundesstaatsglieder auslösen könne, die durch die Kompetenzausübung eines anderen Gliedes betroffen seien.

7. Zusammenfassung Gelangte das Bundesverfassungsgericht auch nur in seltenen Fällen zu der Feststellung eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Bundestreue, so nutzte es dennoch häufig die Gelegenheit zu verdeutlichen, welchen Anforderungen der föderative Umgang von Bund und Ländern zu genügen habe. Die dabei vorgenommene verfassungsgerichtliche Interpretation und Ausprägung des Grundsatzes der Bundestreue lässt deutlich den hohen Stellenwert erkennen, den das Gericht dem föderalen Staatsaufbau und der Bundestreue beimisst. Seit seinen frühesten Entscheidungen nahm das Bundesverfassungsgericht Bezug auf die Pflicht zur Bundestreue, die es in systematischer Hinsicht als ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz einordnete. Die Herleitung des Grundsatzes erfolgte unter Verweis auf das föderalistische Prinzip, also das Bundesstaatsprinzip und das Wesen des Bundesstaates, wobei es das Gericht jedoch bis zuletzt versäumt hat, eine konsistente Anknüpfung an den Text des Grundgesetzes vorzunehmen. Als Aufgabe des ungeschriebenen Verfassungsgrundsatzes hat es das Gericht angesehen, Bund und Länder als aufeinander angewiesene Teile des Bundesstaates stärker unter der gemeinsamen Verfassungsrechtsordnung aneinander zu binden. Ein Bundesstaat kann danach nur dann bestehen, wenn Bund und Länder im Verhältnis zueinander beachten, dass das Maß, in dem sie von formal bestehenden Kompetenzen Gebrauch machen können, durch gegenseitige Rücksichtnahme bestimmt ist. Ausgehend von dieser Hauptpflicht zu gegenseitiger Rücksichtnahme, die das Gericht auf unterschiedliche Konstellationen modifiziert anwendet, nahm es auch diverse anderweitige Konkretisierungen vor. Exemplarisch sind zu nennen die Pflicht zu finanzieller Unterstützung finanzschwächerer Bundesländer, die Pflicht zur notwendigen Mitwirkung der Bundesländer bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben des Bundes sowie das Recht der Länder auf Beteiligung an laufenden Verhandlungen über ihre Kompetenzgegenstände. Trotz ausdrücklicher Beschränkung der Justiziabilität auf missbräuchliche Kompetenzausübung sah sich das Gericht heftiger Kritik insbesondere darüber ausgesetzt, welch große Bedeutung es der Bundestreue beimaß. Daraufhin stellte es klar, dass die 336

BVerfGE 106, 1 [27].

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3. Kap.: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue

Bundestreue nur in bestehenden Rechtsverhältnissen zwischen den Gliedern des Bundesstaates Rechtsbindungen auslöse, also akzessorisch sei. Die Rechtsprechung zur Bundestreue zeichnet ein Bild der Gleichordnung und gegenseitigen Rücksichtnahme im Interesse einer optimalen Aufgabenerfüllung aller Glieder des Bundesstaates. Bereits von Beginn an betonte das Gericht, dass der Grundsatz der Bundestreue sowohl die Länder gegenüber dem Bund als auch den Bund gegenüber den Ländern und schließlich auch die Länder untereinander binde. In dieser Gleichordnung von Bund und Bundesländern ist gewiss ein höchst bedeutsamer Impuls der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung für die weitere Ausprägung des deutschen Föderalismus zu erkennen. Insbesondere mit dieser Proklamation gleicher Rechte und Pflichten bekundete das Gericht seine positive Haltung gegenüber der föderativen Staatsstruktur. Die Bundesländer sind danach nicht auf die Rolle von Erfüllungsgehilfen des Bundes beschränkt, sondern insoweit gleichberechtigte Hoheitsträger, die bei der Erfüllung ihrer Aufgaben aus dem Grundsatz der Bundestreue in gleichem Maße berechtigt und verpflichtet sind. Die föderalismusfreundliche Interpretation der Bundestreue ist ebenso daran erkennbar, dass das Gericht den Bund und die Länder durch die Bundestreue gehalten sieht, dem Wesen des Bundesstaates entsprechend zusammenzuwirken und zu seiner Festigung und zur Wahrung seiner und der wohlverstandenen Belange seiner Glieder beizutragen. Über die Pflicht zu gegenseitiger Rücksichtnahme hinaus fordert das Gericht also ein Zusammenwirken von Bund und Ländern mit dem Ziel der Sicherung und Stärkung des Bundesstaates. Obwohl das Gericht selbst den Ausdruck des kooperativen Föderalismus nicht geprägt hat, zu der Ausbildung eines dementsprechenden Bundesstaatsverständnisses hat es durch seine Bundestreuerechtsprechung gewiss beigetragen.

4. Kapitel

Die Gesetzgebung im Bundesstaat Die Konstitution der Gesetzgebungszuständigkeiten von Bund und Ländern durch Art. 70 ff gehört zu den verfassungspraktisch bedeutsamsten Determinationen des Grundgesetzes. Die jeweiligen legislativen Kompetenzen bilden die Kernsubstanz der Staatlichkeit von Bund und Ländern. Der großen Bedeutung der Gesetzgebungskompetenzen entspricht die Menge verfassungsgerichtlicher Judikatur, deren umfassende Aufarbeitung den Rahmen der Analyse gesprengt hätte. Dem engeren Untersuchungsgegenstand entsprechend konzentriert sich die Darstellung auf jene Bereiche der Rechtsprechung, die das Bild des Föderalismus am nachhaltigsten geprägt haben. Das Konfliktpotential auf dem Gebiet der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern ist naturgemäß dort am größten, wo die Wahrnehmung von Gesetzgebungskompetenzen durch den Bund zu einer unmittelbaren Verringerung des staatlichen Handlungsspielraums der Länder führt. In der Vergangenheit waren dies in erster Linie die Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes337 sowie die organisationsrechtliche Bundeskompetenz im Hinblick auf die Durchführung der Bundesgesetze durch die Länder gemäß Art. 84 Abs. 1 GG a.F. Aufgrund der Verfassungsreformen der Jahre 1994 und 2006 wurden beide Bereiche erheblich modifiziert. Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bundesgesetzgeber wurden verschärft, um gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum für die Länder zurück zu gewinnen.

337 Die sog. Rahmengesetzgebung gemäß Art. 75 GG a.F. als Variante der konkurrierenden Gesetzgebung wurde im Zuge der Föderalismusreform 2006 vollständig aufgegeben. Zum Erlass von Rahmenvorschriften für die Gesetzgebung der Länder war der Bund gemäß Art. 75 Abs. 1 Satz 1 GG a.F. nur unter den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG berechtigt. Dementsprechend war bis 1994 bzw. bis 2006 die jeweilige Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 72 Abs. 2 GG anwendbar. Beide Perioden der Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG sind Gegenstand dieses Kapitels. – Auf die Untersuchung der inzwischen überholten Rechtsprechung zur Frage der zulässigen Regelungsdichte der Rahmenvorschriften des Bundes sowie zu den einzelnen Gegenständen des Art. 75 wurde verzichtet. Auf folgende Darstellungen sei insoweit verwiesen: Rengeling, in: Isensee/Kirchhof, HStR IV, 2. Aufl. 1999, § 100 Rdnr. 248 ff.; Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 5. Aufl. 2005, Art. 72 Rdnr. 16 ff.; Streppel, Die Rahmenkompetenz, 2005, S. 107 ff; zur Fortgeltung von Rahmengesetzen Rengeling, in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 135 Rdnr. 361.

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

Die Einflussnahmemöglichkeit des Bundes auf die Durchführung der Bundesgesetze wurde durch ein Abweichungsrecht der Länder stark relativiert und die immanente Einflussnahme des Bundesrates auf die materielle Gesetzgebung des Bundes abgeschafft. Beide Reformen basierten auf der Erkenntnis einer vom Grundkonzept der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes weit entfernten Verfassungswirklichkeit, die sich am deutlichsten in einer alarmierenden Aushöhlung der Länderstaatlichkeit auf dem Gebiet der Gesetzgebung bemerkbar machte. Der verfassungsändernde Gesetzgeber wird in der Regel nur dann tätig, wenn die Staatspraxis von den allgemeinen Erwartungen an die Verfassungsrealität gravierend abweicht oder sich im Hinblick auf die Grundprinzipien der Verfassung als schlechthin unhaltbar erweist. Letzteres war sowohl hinsichtlich der Vereinnahmung der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund der Fall, als auch bezüglich jener Problematik, die unter der schlagwortartigen Bezeichnung ,Blockade im Bundesrat geläufig war. Da die Staatspraxis maßgeblich von den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts beeinflusst wird, stellt sich zwangsläufig die Frage, ob seine Rechtsprechung lediglich die Erkenntnis der Reformbedürftigkeit befördert oder ob die Judikatur den Reformbedarf mit verursacht hat.

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes gemäß Art. 72 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Art. 72 Abs. 2 GG in der Fassung von 1949 – 1994 Neben der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes und den entsprechenden Residualkompetenzen der Länder normiert das Grundgesetz in Art. 70 Abs. 2, 72, 74 die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes, die eine subsidiäre Inanspruchnahme der in Art. 74 GG aufgezählten Gegenstände durch den Bund ermöglichen soll. Stand das Gesetzgebungsrecht des Bundes in diesem Bereich ursprünglich unter dem Vorbehalt eines bundesgesetzlichen Bedürfnisses, nahm der Gesetzgeber 1994 eine Verschärfung der Anforderungen vor, indem er ein qualifiziertes Erfordernis bundesgesetzlicher Regelung verlangte. Diese Erforderlichkeitsklausel galt ursprünglich für den gesamten Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung, wurde jedoch im Rahmen der Föderalismusreform 2006 auf zehn der insgesamt dreiunddreißig Positionen des Art. 74 GG beschränkt. Hinsichtlich der übrigen Gegenstände hat der Bundesgesetzgeber nunmehr uneingeschränkten Zugriffsvorrang, wobei nach

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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dem neu geschaffenen Art. 72 Abs. 3 GG die Länder in bestimmten Bereichen wiederum abweichende Regelungen treffen können. Allen bisherigen normativen Fassungen der konkurrierenden Gesetzgebung gemein war das Konfliktpotential, das sich dadurch ergab, dass der Bund und die Länder um die entsprechenden Zuständigkeiten ,konkurrierten. Sobald der Bund auf einem bestimmten Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung tätig wurde, trat die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. ein. Die Länder konnten den jeweiligen Gegenstand nicht mehr eigenständig regeln. Sowohl in Fragen der grundsätzlichen Zulässigkeit bundesgesetzlicher Regelungen als auch hinsichtlich der Reichweite der Sperrwirkung der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes wurde das Bundesverfassungsgericht angerufen. Die vorliegende Darstellung konzentriert sich auf die unter föderativen Gesichtspunkten bedeutsamste Frage, unter welchen Voraussetzungen der Bundesgesetzgeber die konkurrierende Gesetzgebung in Anspruch nehmen konnte.338 Gewissermaßen einleitend wird die mittlerweile überholte Rechtsprechung zur Bedürfnisklausel in angemessenem Umfang thematisiert. Ihre fundamentale Bedeutung für die Entwicklungen auf diesem Gebiet der Gesetzgebungskompetenzen steht wie kaum ein anderer Teil der verfassungsgerichtlichen Judikatur für den maßgeblichen Einfluss des Bundesverfassungsgerichts auf die föderale Verfassungswirklichkeit. Zudem erschließt sich die Tragweite der noch jungen Judikatur zur Erforderlichkeitsklausel des Jahres 1994 erst vor dem Hintergrund dieser historischen Rechtsprechung in vollem Umfang. a) Frühe Rechtsprechung Das Bundesverfassungsgericht hatte sich bereits anlässlich seines ersten Urteils vom 23.10.1951339 mit dem Phänomen der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz zu befassen. Der Zweite Senat beurteilte die Verlängerung der Wahlperioden der Länder Baden und Württemberg-Hohenzollern durch das Erste Neugliederungsgesetz340 als verfassungswidrig. Hierbei stützte er sich primär auf die Missachtung des Demokratie- und Bundesstaatsprinzips durch den Bundesgesetzgeber. Ergänzend lehnte er das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. ab.341 Zusam338 Zu der Rspr. des BVerfG hinsichtlich der Reichweite der Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG vgl. etwa Rengeling, in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 135 Rdnr. 155 ff., sowie Stohlmeier, Die Sperrwirkung nach Art. 72 Abs. 1 GG, 1989, S. 115 f., 187 f.; zur Rspr. zu den einzelnen Kompetenztiteln des Art. 74 GG vgl. etwa Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 74 vor Rdnr. 1 sowie Rdnr. 4 ff.; Rengeling, in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 135 Rdnr. 191 ff. 339 BVerfGE 1, 14 – Südweststaat-Urteil; vgl. die Darstellung in Kap. 2 unter Gliederungspkt. I. 1. 340 Erstes Gesetz zur Durchführung der Neugliederung in dem die Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern umfassenden Gebiete gemäß Artikel 118 Satz 2 des Grundgesetzes vom 4. Mai 1951; vgl. BGBl. I S. 283. 341 BVerfGE 1, 14 [35 f.].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

menfassend heißt es dort: „Eine Regelung der Angelegenheit durch ein Bundesgesetz war also nicht erforderlich und das Gesetz wäre nach Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 GG nicht zulässig.“ Die Ausführungen erweckten also zunächst den Anschein, als würde das Bundesverfassungsgericht die Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 als justiziabel ansehen. Kurze Zeit später erhielt auch der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Gelegenheit sich zu positionieren. Dem sogenannten Schornsteinfegerurteil vom 30.04.1952342 lagen mehrere Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz zur Ordnung des Schornsteinfegerwesens zugrunde, die unter anderem das Fehlen des Bedürfnisses i.S.v. Art. 72 Abs. 2 GG rügten. Nach Feststellung der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes nach Art. 74 Ziff. 11 GG wendete sich das Gericht der Frage zu, ob ein Bedürfnis im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG anzuerkennen sei. Dabei, so der Entscheidungstext, sei zunächst zweifelhaft, ob das Bundesverfassungsgericht das Vorliegen eines Bedürfnisses überhaupt prüfen könne, oder ob es sich nicht, wie im Fall der ,Bedarfs-Gesetzgebung nach Art. 9 der Weimarer Verfassung, um eine nicht-justiziable Frage des gesetzgeberischen Ermessens handele. Es sprächen wichtige Gründe dafür, die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Prüfung der Bedürfnisfrage – von Fällen eines Ermessensmissbrauchs durch den Gesetzgeber abgesehen – zu verneinen.343 Letztendlich ließ der Senat die Frage der Justiziabilität mit der Begründung offen, dass im vorliegenden Fall ein eventuell zu prüfendes Bedürfnis jedenfalls ausreichend dargelegt sei und für einen Ermessensmissbrauch des Bundesgesetzgebers keinerlei Anhaltspunkte gegeben seien.344 Der Erste Senat hatte damit jedoch unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass er der vom Zweiten Senat im Südweststaat-Urteil zugrunde gelegten Sichtweise nicht folgen wolle. Seine Zweifel an der Justiziabilität wiederholte der Erste Senat dann erneut anlässlich des sogenannten Ersten Ladenschlussgesetz-Urteils vom 20. Mai 1952, ließ die Frage jedoch wiederum offen.345 Angesichts der deutlichen Divergenz zwischen den beiden Senaten und der essentiellen Bedeutung für die praktische Kompetenzwahrnehmung von Bund und Ländern dürfte einer abschließenden Positionierung des Gerichts zur Justiziabilität des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. mit umso größerer Spannung entgegen gesehen worden sein. Indes sollte die erste Grundsatzentscheidung zu dieser Frage nicht lange auf sich warten lassen.

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BVerfGE 1, 264. BVerfGE 1, 264 [272 f.]. 344 BVerfGE 1, 264 [273]. 345 BVerfGE 1, 283 [293]; im Kern ging es um die Frage, ob im Rahmen der Fortgeltung vorkonstitutionellen Rechts als Bundesrecht gemäß Art. 125 GG die Voraussetzung der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes gemäß Art. 72 Abs. 2 GG vorliegen müssten. Das Gericht betrachtete Art. 125 GG jedoch als von Art. 72 Abs. 2 GG unabhängig, so dass die Frage der Justiziabilität der Bedürfnisklausel nicht relevant wurde. 343

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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b) BVerfGE 2, 213 – Straffreiheitsgesetz 1949 (Beschluss des Ersten Senates vom 22. April 1953) Den strafrechtlichen Hintergrund der konkreten Normenkontrolle des Amtsgerichts Markt Oberdorf bildeten mehrere Delikte nach § 218 StGB a.F. Das Amtsgericht hielt für zwei vor dem Stichtag des Straffreiheitsgesetzes liegende Taten der Angeklagten eine Gesamtstrafe von sechs Monaten und für sämtliche der Angeklagten zur Last gelegten Taten eine Gesamtstrafe von acht Monaten Gefängnis für angemessen. Das Straffreiheitsgesetz vom 31.12.1949346 amnestierte jene vor dem 15. September des Jahres 1949 begangenen Taten, die mit Gefängnis bis zu sechs Monaten hätten bestraft werden können. Soweit die Taten vor dem Stichtag lagen, sah sich das Amtsgericht vor die Entscheidung gestellt, ob das Verfahren gemäß § 1, § 3 Abs. 1 StFG einzustellen oder eine zu verhängende Gefängnisstrafe gemäß § 2 Abs. 2 StFG bedingt zu erlassen sei. Da es die Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Hinblick auf Amnestien jedoch anzweifelte, beantragte es die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Straffreiheitsgesetzes. aa) Injustiziabilität der Bedürfnisentscheidung Das Bundesverfassungsgericht entschied die Frage der Zuständigkeit jedoch zugunsten des Bundesgesetzgebers. Hierzu berief es sich auf Art. 74 Ziff. 1 in Verbindung mit Art. 72 Abs. 2 Ziff. 3 GG. Nahm die Exegese des Art. 74 Ziff. 1 GG noch mehrere Seiten in Anspruch, widmete sich das Gericht Art. 72 Abs. 2 GG a.F. lediglich im Rahmen eines wenige Sätze umfassenden Absatzes. Für die Feststellung der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes genüge die Annahme des Tatbestandes des Art. 74 Ziff. 1 GG. Einer gesonderten Prüfung der Frage, ob für den Erlass des Gesetzes ein Bedürfnis im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG anzuerkennen sei, bedürfe es hingegen nicht. „Die Frage, ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, ist eine Frage pflichtmäßigen Ermessens des Bundesgesetzgebers, die ihrer Natur nach nicht justiziabel und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen ist.“347

Zwar seien – im Gegensatz zu Art. 9 WRV – die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts zur konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund im Einzelnen bezeichnet. Hierdurch werde die Ermessensfreiheit des Bundesgesetzgebers auch eingeengt, die Entscheidung der Bedürfnisfrage bleibe jedoch eine echte Ermessensentscheidung. Die Frage, inwieweit diese Entscheidung vom Bundesverfassungsge346

BGBl. I S. 37; vgl. zur ambivalenten gesellschaftspolitischen Intention des Gesetzgebers Blum, Strafbefreiungsgründe, 1996, S. 65 f. 347 BVerfGE 2, 213 [224].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

richt nachzuprüfen sei, falls der Bundesgesetzgeber die Ermessensgrenzen verkannt oder das ihm eingeräumte Ermessen missbraucht hätte, bedürfe mangels etwaiger Anhaltspunkte an dieser Stelle keiner Beantwortung.348 Was sich bereits in den früheren Entscheidungen des Ersten Senates abzeichnete, wurde nunmehr zur offiziellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Der Präsidialsenat proklamierte im Widerspruch zu den erwähnten Anmerkungen des Zweiten Senates die Injustiziabilität des Art. 72 Abs. 2 GG a.F.. Damit nahm er dem Bedürfnisvorbehalt der Norm jede praktische Bedeutung. In Anbetracht der Divergenzen der Senate war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar, dass diese Entscheidung zum Ausgangspunkt einer Jahrzehnte währenden, ständigen Rechtsprechung werden sollte, die zur Erosion der Gesetzgebungskompetenzen der Länderparlamente erheblich beitragen sollte. Eines war jedoch angesichts des Eifers, mit dem sich der Erste Senat über die zurückhaltenden Anmerkungen des Zweiten Senates hinwegsetzte, bereits zu diesem Zeitpunkt vorhersehbar. Aufgrund der präjudiziellen Wirkung der erstmaligen Festlegung sollte es vorerst allein im politischen Ermessen des Bundesgesetzgebers stehen, ob und inwieweit er auf dem Gebiet der konkurrierenden Rechtsprechung tätig werden würde. Die allenfalls theoretische Konstellation eines Missbrauchs zulasten der Länder ausgenommen – die Inanspruchnahme der zahlreichen Gegenstände des Art. 74 GG durch den Bund würde bis auf absehbare Zeit jeder Kontrolle entzogen sein. Die Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. im Hinblick auf die Überprüfbarkeit der Bedürfnisvoraussetzungen war somit frühzeitig zugunsten des Bundes sowie zulasten der Länder entschieden. Angesichts der zumindest aus heutiger Sicht befremdlich anmutenden Selbst-Limitation stellt sich unvermittelt die Frage, welche Beweggründe den Ersten Senat leiteten. Eine derart apodiktische Festlegung, die sich weder aus dem Wortlaut noch aus der Systematik ohne Weiteres erschließt, hätte jedenfalls einer umfassenden Begründung bedurft. Diese bleibt das Gericht jedoch bezeichnenderweise schuldig. Die zu erwartende Darlegung der noch kurz zuvor vollmundig apostrophierten „gewichtigen Gründe“349, die gegen eine verfassungsgerichtliche Überprüfung sprechen sollten, erfolgt mit keinem Wort. Der Rekurs auf Art. 9 WRV lässt freilich auf eine Ausrichtung am historischen Vorbild des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. schließen. Artikel 9 WRV lautete: „Soweit ein Bedürfnis für den Erlass einheitlicher Vorschriften vorhanden ist, hat das Reich die Gesetzgebung über: 1. die Wohlfahrtspflege; 2. den Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit […]“.350 Trotz der deutlichen Präzisierungen und Einschränkungen durch Art. 72 Abs. 2 GG a.F. kam das Gericht zu der Feststellung: „der Entscheidung der Bedürfnisfrage bleibt jedoch der Charakter einer echten Ermessensentschei-

348 349 350

BVerfGE 2, 213 [225]. BVerfGE 1, 264 [272 f.]. RGBl. 1919, S. 1383 ff.

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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dung“.351 Insbesondere die Verwendung des Ausdrucks ,bleibt offenbart deutlich die Orientierung am historischen Vorbild. Tatsächlich entsprach es wohl der herrschenden Wissenschaftsmeinung, die Entscheidung des Gesetzgebers zur Inanspruchnahme der konkurrierenden Bedarfsgesetzgebung als injustiziabel anzusehen. Gleichwohl war die Frage umstritten.352 Zudem ist es zu einer Entscheidung der Frage durch den Staatsgerichtshof bzw. den Reichsgerichtshof nie gekommen.353 Aber selbst wenn eine eindeutige Judikatur zu Art. 9 WRV ergangen wäre, hätte sich das Bundesverfassungsgericht niemals primär darauf stützen dürfen. Einerseits wegen der gravierenden Unterschiede zwischen den beiden Bestimmungen und andererseits wegen der grundsätzlich neuen Konstitution des Bundesstaates durch das Grundgesetz, zumal der konkurrierenden Gesetzgebung des Reiches bezeichnenderweise eine andere Systematik zugrunde lag als jener des Grundgesetzes. Einerseits sah Art. 7 WRV eine umfangreiche unbedingte konkurrierende Gesetzgebung des Reiches vor354, auf die der Gesetzgeber voraussetzungslos zugreifen konnte. Andererseits existierte die sogenannte Bedarfsgesetzgebung nach Art. 9 WRV. Allein diese Unterscheidung der Reichsverfassung, die im Übrigen auch damals schon deutlich für eine Überprüfbarkeit der Bedarfseinschätzung sprach, lässt die Bezugnahme auf Art. 9 WRV zweifelhaft erscheinen. Die Wortlautanalyse der fraglichen Textpassage führt zu dem ernüchternden Ergebnis einer oberflächlichen Bezugnahme auf vorkonstitutionelles Recht, dessen Exegese umstritten und zudem nur eingeschränkt mit Art. 72 Abs. 2 GG a.F. vergleichbar war. Das insoweit völlige Fehlen der notwendigen angemessenen Auseinandersetzung mit der föderalen Struktur des neu geschaffenen Grundgesetzes legt die Vermutung nahe, dass weniger verfassungsrechtliche als vielmehr verfassungspolitische Erwägungen den Ausschlag gegeben haben dürften. bb) Die Entstehungsgeschichte unter verfassungspolitischen Motiven Den historischen Ausgangspunkt der Schaffung des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. bildet Art. 34 des Herrenchiemseer Verfassungskonvents: „Im Bereich der Vorranggesetzgebung des Bundes behalten die Länder das Recht der Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat. 351

BVerfGE 2, 213 [225]. Vgl. mit entsprechenden Nachweisen Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 23; Knorr, Die Justiziabilität der Erforderlichkeitsklausel, 1998, S. 37; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 5. Aufl. 2005, Art. 72 Rdnr. 11. 353 Vgl. Joel, AöR 77 (1951/52), S. 129 ff. (154); Pestalozza in: v. Mangoldt/Klein/Pestalozza, GG, Bd.8, 3. Aufl. 1996, Art. 72 Rdnr. 43, Fn. 89; bestätigend Oeter, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, 5. Aufl. 2005, Art. 72 Rdnr. 11. 354 RGBl. 1919, S. 1383 ff. 352

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

Der Bund soll nur das regeln, was einheitlich geregelt werden muss.“355 In Übereinstimmung mit dem Ergebnis des HChE gingen auch die Mitglieder des Parlamentarischen Rates von einem grundsätzlich unbeschränkten Recht des Bundes zur Inanspruchnahme der betreffenden Materie aus, jedoch ebenfalls ergänzt um den Subsidiaritätsappell an den Bundesgesetzgeber. Art. 36 in der Fassung der 3. Lesung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates vom 10. Februar 1949 lautete dementsprechend: „(1) Der Bund hat den Vorrang bei der Gesetzgebung über […] (2) Der Bund soll auf diesen Gebieten nur regeln, was einheitlich geregelt werden muß. Die Länder behalten das Recht der Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch macht.“356 Als Soll-Vorschrift entbehrte diese Fassung jeder justiziablen Verbindlichkeit. Die Inanspruchnahme konkurrierender Gesetzgebung durch den Bund aufgrund einer solchen Bestimmung wäre einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht zugänglich gewesen.357 Bereits bei der Erteilung des Verfassungsauftrages gegenüber den westdeutschen Länderregierungen hatten die Alliierten im Frankfurter Dokument Nr. 1 zu erkennen gegeben, dass sie „für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs“ und „eine angemessene Zentralinstanz“ favorisierten.358 Insofern konnte es nicht überraschen, dass sie in ihrem Memorandum vom 2. März 1949 ihre Missbilligung gegenüber den Vorstellungen des Parlamentarischen Rates zum Ausdruck brachten.359 Die Alliierten forderten den Parlamentarischen Rat zu einer völligen Abkehr von einer Vorranggesetzgebung des Bundes auf, hin zu einer Vorranggesetzgebung der Länder bzw. einer eng begrenzten Ausnahmegesetzgebung des Bundes.360 Wie nicht anders zu erwarten, stieß der Vorschlag der Alliierten im Parlamentarischen Rat auf entschiedene Ablehnung. Auch wenn die Motive sich deutlich unterschieden haben mögen, herrschte unter den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates weitestgehender Konsens, dass die Inanspruchnahme der Vorranggesetzge-

355

Vgl. Der Parl. Rat, Bd. 2, Dok. Nr. 14, S. 504 (584). Vgl. Der Parl. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 8, S. 396 (424). 357 Vgl. Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 35. 358 Vgl. Der Parl. Rat, Bd. 1, Dok. Nr. 4, S. 30 (31). 359 Vgl. Der Parl. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 47, S. 131 (131): „Erstens möchten wir darauf hinweisen, dass die Zuständigkeiten der Bundesregierung, wie sie jetzt in Artikel 36 niedergelegt sind, nicht genügend klar definiert sind, um die Stellung der Länder in einem föderativen System angemessen zu wahren.“ 360 I.d.S. auch Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 56. Der Vorschlag der Alliierten für einen völligen Neuentwurf des Art. 36 Abs. 1 lautete: „(1) Die Länder behalten die Gesetzgebung auf den im folgenden aufgezählten Gebieten, außer wenn es offenbar für ein einziges Land unmöglich ist, wirksame Gesetze zu erlassen, oder wenn solche Gesetze, falls erlassen, den Rechten oder Interessen anderer Länder schädlich wären. In solchen Fällen, und vorausgesetzt, daß die Interessen der verschiedenen Länder offenbar, unmittelbar und im ganzen berührt sind, hat der Bund das Recht, die nötigen und angemessenen Gesetze zu erlassen: …“, vgl. Der Parl. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 47, S. 131 (131 f.). 356

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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bung durch den Bund einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle durch das Verfassungsgericht nicht zugänglich sein sollte.361 Im Rahmen der weiteren Verhandlungen gelang es den zuständigen Vertretern des Parlamentarischen Rates, die Alliierten durch Beharrlichkeit und scheinbare Zugeständnisse hinzuhalten.362 Ohne die Frage der Justiziabilität eindeutig geklärt zu haben, gaben sich die Alliierten schließlich damit zufrieden, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund so eng gefasst und interpretiert wurden, dass ihnen der grundsätzliche Vorrang der Länder justiziabel gesichert schien.363 Eine Einschätzung, die sich nicht bestätigen sollte. Der Parlamentarische Rat hielt bis zuletzt an seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Ansinnen der Alliierten fest. Selbst die späte Einfügung der eigentlichen Bedürfnisklausel durch den Redaktionsausschuss des Parlamentarischen Rates erfolgte weder auf Geheiß der Alliierten, noch diente sie der Klarstellung des justiziablen Charakters364 – ganz im Gegenteil. Wie die Mitglieder des Redaktionsausschusses Zinn und Strauß nur wenige Monate später anlässlich der sogenannten Weinheimer Juristentagung zu Protokoll gaben, wurde die Einfügung der Bedürfnisklausel in Anlehnung an den Wortlaut der WRV als Mittel angesehen, dem Bundesverfassungsgericht die Überprüfung der Entscheidung des Bundesgesetzgebers zu verwehren.365 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass Art. 72 Abs. 2 GG a.F. zwar auf die Intervention der Alliierten zurückzuführen ist, seine endgültige Fassung dennoch deutlich vom beharrlichen Widerstand des Parlamentarischen Rates geprägt war. Vor dem Hintergrund dieser verfassungspolitischen Auseinandersetzung um die Ausrichtung der konkurrierenden Gesetzgebung vermag es nicht zu überraschen, dass die Neigung des Ersten Senates des Bundesverfassungsgerichts gering war, Art. 72 Abs. 2 GG a.F. im Sinne der Alliierten als justiziabel zu interpretieren. Viel361 Vgl. Der Parl. Rat, Bd. 3, Dok. Nr. 10, S. 41 (78) sowie Bd. 8, Dok. Nr. 51, S. 150 (153 f.); m.z.N. Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 39 ff., 58 f.; Wilms, Ausländische Einwirkungen, 1999, S. 237; vgl. schließlich auch die Äußerungen der beiden Mitglieder des Parl. Rates Zinn und Strauß anlässlich der Weinheimer Tagung 1949, dokumentiert in: Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, 1950, S. 98 und 176. – Zu den Beweggründen vgl. Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 48, 65 f.; Pestalozza, in: v. Mangoldt/Klein/Pestalozza, GG, Bd.8, 3. Aufl. 1996, Art. 72 Rdnr. 45 sowie Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, 1950, S. 176. 362 Vgl. Der Parl. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 73, S. 248 (252). 363 Vgl. Kremer, in: Schneider, Das Grundgesetz – Dokumentation seiner Entstehung, Bd. 17, 2007, Art. 72 Rdnr. 82, S. 258; Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 74. 364 Pestalozza, in: v. Mangoldt/Klein/Pestalozza, GG, Bd.8, 3. Aufl. 1996, Art. 72 Rdnr. 42 ff.; Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 75. 365 Vgl. Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, 1950, S. 98, 119 und 176; Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 75; Pestalozza, in: v. Mangoldt/Klein/Pestalozza, GG, Bd.8, 3. Aufl. 1996, Art. 72 Rdnr. 42 ff. sowie daran anknüpfend Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 5. Aufl. 2005, Art. 72 Rdnr. 17.

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

mehr wird deutlich, dass er die Auffassung des Parlamentarischen Rates aufnahm, um dem Willen des Verfassungsgebers im Wege verfassungsgerichtlicher Konkretisierung endgültig zum Durchbruch zu verhelfen und die Injustiziablität der Entscheidung des Bundesgesetzgebers abschließend zu determinieren.366 Folglich musste es dem Senat seinerzeit geradezu kontraproduktiv erscheinen, zumindest jedoch überflüssig, Art. 72 Abs. 2 GG methodisch umfassend zu analysieren. Vor dem Hintergrund der historischen Begebenheiten steht die verfassungspolitische Motivation des Ersten Senates bei der Beurteilung der Justiziabilität des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. jedenfalls außer Frage. Vor dem Hintergrund dieses Befundes stellt sich unwillkürlich die grundsätzliche Frage, inwieweit eine derart einseitig politisch motivierte Rechtsprechung überhaupt Raum für verfassungsrechtliche Erwägungen zulässt. Da die äußerst knappen Ausführungen tatsächlich kaum entsprechende Anhaltspunkte bieten, soll an dieser Stelle lediglich auf die offensichtlichen Versäumnisse des Senates hingewiesen werden. Trotz der in den Reihen des Senates vorhandenen Kenntnis von der Genese des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. und dem subjektiven Willen des Verfassungsgebers oblag es dennoch dem Gericht, sich um eine objektive Erfassung des Normgehaltes zu bemühen. Da der Wortlaut insofern durchaus abweichende Deutungen zuließ, hätte es neben einer Konkretisierung des Normzwecks unter Berücksichtigung der historischen Umstände und der Motive des Parlamentarischen Rates auch einer eingehenden Auseinandersetzung mit der Systematik der neuen Verfassung bedurft. Die deutliche Stärkung der Position der Länder durch Bestimmungen wie Art. 30, 70 und 79 GG musste zu einer Neubewertung ihrer Stellung in Kompetenzfragen führen. Unter systematischen Gesichtspunkten wäre zudem zu begründen gewesen, wieso das Vorliegen der neuartigen tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 Ziffer 1 bis 3 GG a.F. keiner Nachprüfung zugänglich sein sollte, obwohl das Bundesverfassungsgericht in Art. 93 GG mit deutlich weiteren Prüfungskompetenzen ausgestattet worden war als seine Vorgänger. Zumal die konkurrierende Gesetzgebung des Grundgesetzes eben keine bedingungslose konkurrierende Vorranggesetzgebung oder abstrakte Bedarfsgesetzgebung im Sinne der WRV war, sondern eine an präzisierte Voraussetzungen geknüpfte Bedürfnisgesetzgebung des Bundes. 366 Neben der Bezugnahme auf Art. 9 WRV spricht hierfür auch die zum Teil wörtliche Wiedergabe eines Aufsatzes von Zinn, AöR 75 (1949), S. 291 (298): „Ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, hat der Bundesgesetzgeber nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Es geht also dabei nicht um eine Rechtsfrage, sondern um eine Frage des politischen Ermessens, die ihrer Natur nach nicht justiziabel ist. Infolgedessen dürfte eine Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht unzulässig oder nur unter dem Gesichtspunkt des Ermessensmissbrauchs möglich sein.“ In dieser Hinsicht entscheidend dürfte zudem die Mitwirkung des ersten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzenden des Ersten Senates Höpker-Aschoff an dem gegenständlichen Beschluss gewesen sein, der als Mitglied des sog. Siebenerausschusses des Parl. Rates an den Verhandlungen mit den Alliiertenvertretern unmittelbar beteiligt war und dessen intensive Abneigung gegen die föderativen Vorgaben der Alliierten überliefert sind; vgl. Oeter, Integration und Subsidiarität, 1998, S. 201 sowie Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 96 f.

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Der gegenständliche Beschluss geht auf diese Frage jedoch nur insoweit ein, als er das Vorliegen der Bedürfnisvoraussetzungen ebenso wie die Einschätzung des Bedürfnisses selbst dem gesetzgeberischen Ermessen des Bundesgesetzgebers anheim stellt. Das Vorliegen der in Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 GG a.F. genannten Voraussetzungen ist jedoch objektive Vorbedingung der Ermessensausübung über das Bedürfnis gesetzgeberischen Handelns. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass die Tatbestände der Nr. 1 bis 3, wenn auch auf alliierte Intervention eingefügt, anders als weitergehende Forderungen der Alliierten vom Parlamentarischen Rat akzeptiert und umgesetzt wurden. Nach verständiger Würdigung von Wortlaut, Normzweck und Normgenese waren die Voraussetzungen also keine injustiziablen Ermessenstatbestände, sondern unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer justizmäßigen Überprüfung zugänglich gewesen wären. cc) Fazit Die erste grundsätzliche Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfbarkeit der Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bundesgesetzgeber fiel einseitig zugunsten des Bundes aus. In offensichtlicher Negierung der deutlichen Unterschiede zwischen den Regelungen der WRV und denen des Grundgesetzes erklärte der Erste Senat unter Bezugnahme auf Art. 9 WRV sowohl die Annahme der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 GG a.F. als auch des Bedürfnisses nach bundesgesetzlicher Regelung zu einer grundsätzlich injustiziablen Ermessensentscheidung des Bundesgesetzgebers. Zumindest für den Fall von Ermessensüberschreitung und -missbrauch lässt es der Senat offen, inwieweit eine verfassungsgerichtliche Prüfung möglich ist. Vor dem Hintergrund der Kontroverse zwischen Parlamentarischem Rat und Alliierten hinsichtlich Art. 72 Abs. 2 GG a.F. offenbart sich unausweichlich die verfassungspolitische Motivlage der Entscheidung. Der Beschluss ist insoweit deutlich von der Absicht gekennzeichnet, den objektiven Normgehalt der Bestimmung zu negieren und Art. 72 GG a.F. im Sinne einer Vorranggesetzgebung des Bundes zu etablieren. Das vollständige Fehlen einer verfassungsrechtlichen Begründung am Maßstab des Grundgesetzes bestätigt dieses Ergebnis zusätzlich. Dass dieses Vorgehen unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten durchaus nicht alternativlos war, bestätigen die eingangs erwähnten, gegenteiligen Ausführungen des Zweiten Senates im Südweststaat-Urteil. Angesichts der dort zugrunde gelegten Justiziabilität der Bedürfnisvoraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. war die endgültige Entscheidung dieser Frage noch nicht getroffen. c) Weitere Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F. Die zu erwartende kontroverse Aufnahme des Beschlusses zum Straffreiheitsgesetz durch den Zweiten Senat blieb jedoch aus. Die vom Ersten Senat hinsichtlich Art. 72 Abs. 2 GG a.F. proklamierte Ermessensentscheidung des Bundesgesetzgebers wurde anlässlich BVerfGE 4, 115 – Besoldungsgesetz NRW schlicht übernommen. Auch im Hinblick auf die Zuständigkeit des Bundes zur Rahmengesetzgebung nach

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Art. 75 GG a.F. und dessen Bezugnahme auf Art. 72 Abs. 2 GG a.F. entscheide der Bundesgesetzgeber nach seinem pflichtgemäßen Ermessen, ob die Voraussetzungen der konkurrierenden Gesetzgebung gegeben sind. Das Bundesverfassungsgericht könne höchstens prüfen, ob der Gesetzgeber etwa sein Ermessen missbraucht habe.367 Dieser vorbehaltlose Schwenk auf die Linie des Ersten Senates markiert den Ausgangspunkt einer nunmehr von beiden Senaten getragenen ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Art. 72 Abs. 2 GG a.F. als weitestgehend injustiziabel interpretierte. Die BVerfGE 10, 234 zugrunde liegende Normenkontrolle des Straffreiheitsgesetzes 1954 förderte im Ergebnis keine neuen Erkenntnisse zu Tage. Zu erwähnen ist allenfalls die auf den Gesetzgeber bezogene Äußerung: „Es ist nicht ersichtlich, daß er hierbei die seinem Ermessen gesetzten Grenzen verkannt und das ihm eingeräumte Ermessen mißbraucht habe.“368 Teilweise wurde darin das Signal für eine höhere Prüfungsintensität erblickt.369 Weitaus größere Bedeutung erlangte hingegen BVerfGE 13, 230, das sogenannte Zweite Ladenschlussgesetzurteil aus dem Jahr 1961. Die Verfassungsbeschwerdeführerin rügte u. a., dass der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nur dann tätig werden dürfe, wenn ein Bedürfnis zur bundesgesetzlichen Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG vorliege. Eine bundesgesetzliche Regelung des Ladenschlusses hielt sie für überflüssig. Die Bundesregierung hatte ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung des Ladenschlusses, vor allem mit der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, den die Landesgrenzen überschreitenden einheitlichen Wirtschaftsräumen und dem Zusammenhang des Ladenschlusses mit dem bundesrechtlich geregelten Schutz der Arbeitszeit begründet. Im Mittelpunkt der Ausführungen zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F. stand die unter Nr. 3 geführte Bedingung der Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit sowie der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bund. Trotz der wiederholten Nennung des Wortes Wahrung stellte der Erste Senat fest, dass der Bundesgesetzgeber nicht darauf beschränkt sei, eine bereits bestehende Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse lediglich zu bewahren. Es könne „ihm nicht versagt sein, auf das ihm erwünscht erscheinende Maß an Einheitlichkeit im Sozialleben hinzustreben“. Damit eröffnete das Gericht dem Bundesgesetzgeber ein Tätigkeitsfeld, das weit über Wortlaut und Zweck des Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG a.F. hinausging – nämlich die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse durch den Bund. Eine verständige Würdigung von Sinn und Zweck der Norm hätte zu dem Ergebnis kommen müssen, dass ein Bedürfnis für eine bundesgesetzliche Regelung nur dann anzunehmen gewesen wäre, wenn ein rechtliches und faktisches Auseinanderdriften 367 368 369

BVerfGE 4, 115 [127 f.]. BVerfGE 10, 234 [246]. Gruson, Die Bedürfniskompetenz, 1967, S. 90.

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der Länder zu erkennen gewesen wäre, das mit bundesstaatlichen Prinzipien nicht vereinbar ist.370 Sofern der Bundesgesetzgeber zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass das Konzept der Bedarfsgesetzgebung nicht genügend Spielraum zulässt, hätte er um entsprechende Veränderungen der Verfassung werben müssen. So aber nahm das Bundesverfassungsgericht abermals eine Interpretation des Gesetzeszwecks des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. vor, die einseitig zugunsten des Bundesgesetzgebers ausfiel. Dieser konnte nun nicht nur zur Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse tätig werden, sondern auch die Vereinheitlichung bisher unterschiedlicher Lebensverhältnisse aktiv vorantreiben. Das Bundesverfassungsgericht interpretierte Art. 72 Abs. 2 GG a.F. damit einseitig zugunsten des Bundes im Sinne einer Ermächtigungsgrundlage zur Vereinheitlichung sämtlicher Bereiche des Soziallebens. Dies musste zwangsläufig dazu führen, dass sämtliche Innovationen auf den Gebieten der konkurrierenden Gesetzgebung – insbesondere im Bereich neuer Sozialstandards – einheitlich ergingen. Aufgrund der intensiven Regelungstätigkeit des Bundes führte dies in der Folge dazu, dass die Länderparlamente auf diesen Gebieten kaum mehr tätig werden konnten und somit deutlich an staatlicher Handlungsfähigkeit einbüssten. Der Zweck des Art. 72 Abs. 2 GG a.F., die Gewährleistung der Subsidiarität bundesgesetzgeberischer Tätigkeit, wurde somit weitestgehend verfehlt. Das Gericht erteilte zwar dem Bundesgesetzgeber den Hinweis, dass er sich zu fragen habe, ob die von ihm angestrebte Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse sein eigenes Tätigwerden erfordere; nur dann dürfe er die Bedürfnisfrage bejahen.371 Eine Überprüfung schloss es jedoch mit der Begründung aus, dass in der Entscheidung über die Erforderlichkeit der Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse eine politische Vorentscheidung liege, die das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich zu respektieren habe, weil es die Aufgabe jedes Gesetzgebers sei, Lebensverhältnisse – insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaft – gestaltend zu ordnen.372 Erst anschließend nahm das Gericht eine rechtliche Qualifizierung der in Art. 72 Abs. 2 GG a.F. genannten Voraussetzungen vor: „Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit und Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse sind zwar Rechtsbegriffe“, seien „jedoch so unbestimmt, dass ihre Konkretisierung weitgehend darüber entscheidet, ob zu ihrer Erreichung ein Bundesgesetz erforderlich ist“.373 Das Gericht nahm damit eine grundsätzlich zutreffende Differenzierung vor. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Nummern 1 bis 3 ordnet es in Abgrenzung zu der übergeordneten Ermessensentscheidung über das Bedürfnis bundesgesetzlicher Regelung als unbestimmte Rechtsbegriffe ein. Die nahe liegende Erwartung, dass sich das Gericht nun zumindest hinsichtlich der Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe zur Kontrolle des Bundesgesetzgebers berufen sehen würde, wurde indes nicht erfüllt: „Das Bundesverfassungsge370 371 372 373

I.d.S. bereits Gruson, Die Bedürfniskompetenz, 1967, S. 58. BVerfGE 13, 230 [233]. BVerfGE 13, 230 [233]. BVerfGE 13, 230 [234].

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richt ist deshalb auf die Prüfung beschränkt, ob der Bundesgesetzgeber die in Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG verwendeten Begriffe im Prinzip zutreffend ausgelegt und sich in dem dadurch bezeichneten Rahmen gehalten hat“.374 Die Unbestimmtheit des Verfassungstextes diente dem Gericht nun gar als Begründung, sich noch weiter aus der Kontrolle des Bundesgesetzgebers zurückzuziehen, obwohl es gerade an dieser Stelle auf seinen Beitrag zu einer objektiven Interpretation angekommen wäre.375 Unter äußerst knapper Bezugnahme auf die allgemein gehaltenen Ausführungen der Bundesregierung und dem völligen Verzicht einer Prüfung der Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe durch den Bundesgesetzgeber gelangt das Gericht zu dem Ergebnis: „Bei dieser Sachlage lässt sich nicht feststellen, dass der Bundesgesetzgeber seinen Ermessensbereich überschritten hat“.376 Die Verknüpfung unbestimmter Rechtsbegriffe und Ermessenspielräume bei deren Konkretisierung ist nicht als terminologischer Fehlgriff anzusehen, sondern vielmehr als tatsächliche Maßgabe des Gerichts. Das Gericht eröffnet dem Bundesgesetzgeber auch hinsichtlich der Vorbedingungen der Bedürfnisentscheidung einen nahezu grenzenlosen Ermessensspielraum, obwohl diese unbestimmten Rechtsbegriffe einer verfassungsgerichtlichen Prüfung durchaus voll zugänglich gewesen wären.377 Die Unterscheidung zwischen Ermessenstatbestand und unbestimmten Rechtsbegriffen ist rein terminologischer Natur und bleibt daher ohne praktische Folgen. Es ist also unverkennbar, dass das Gericht die Entscheidung über die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung so weit wie möglich dem politischen Ermessen des Bundesgesetzgebers überlassen wollte. Da dies dem Subsidiaritätsgedanken des Art. 72 Abs. 2 GG a.F., bundesgesetzliche Regelungen auf den Gebieten der konkurrierenden Gesetzgebung auf das objektiv erforderliche Maß zu beschränken, vehement widersprach, deutet auch an dieser Stelle alles auf eine verfassungspolitische Motivation des Gerichtes hin. Das sogenannte Zweite Ladenschlussurteil markiert bezeichnender Weise den Endpunkt der Entwicklung der Rechtsprechung zur Justiziabilität des Art. 72 Abs. 2 GG. Nachdem auch der Zweite Senat in BVerfGE 26, 338, dem sogenannten Eisenbahnkreuzungsgesetz-Beschluss aus dem Jahr 1969, die vorstehend dargestellte Linie übernommen hatte, begnügte sich das Gericht bis zur Reform des Jahres 1994 damit, seine Rechtsprechung zu bestätigen. Die letzte Erwähnung des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. findet sich in BVerfGE 78, 249, wo die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung erneut darauf beschränkt 374

BVerfGE 13, 230 [234]. Die Inkonsistenz dieser Rspr. kritisierte Maunz zutreffend mit folgendem Satz: „Unbestimmte Rechtsbegriffe auszulegen, ist aber unbestrittenermaßen Aufgabe der Rechtsprechung.“, ders. in: Maunz/Dürig, GG, Art. 72 Rdnr. 19. 376 BVerfGE 13, 230 [234]. 377 So bereits Gruson, Die Bedürfniskompetenz, 1967, S. 108; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 72 Rdnr. 19; Achterberg, DVBl. 1967, S. 213 (218); Kisker, Der Staat 1975, S. 169 (188 ff.); Scholz, in: Starck, FG 25 Jahre BVerfG, Bd.2, 1976, S. 252 (262), der in der Selbstbeschränkung zu Recht den zentralen Fehler des Bundesverfassungsgerichts erkannt hat sowie Stern, Staatsrecht II, 1980, S. 597. 375

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wurde, die prinzipielle Richtigkeit der gesetzgeberischen Interpretation der unbestimmten Rechtsbegriffe zu prüfen.378 d) Bewertung der Rspr. zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F. ist davon geprägt, dass die Entscheidung des Bundesgesetzgebers für die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes als weitestgehend injustiziabel angesehen wurde. Das Gericht differenzierte zwar terminologisch zwischen der Ermessensentscheidung hinsichtlich des übergeordneten Bedürfnisses nach bundesgesetzlicher Regelung und der zugrunde liegenden Beurteilung unbestimmter Rechtsbegriffe in den Tatbestandsmerkmalen des zweiten Absatzes. Für beide Entscheidungsebenen gestand es dem Bundesgesetzgeber jedoch einen nahezu unbegrenzten politischen Ermessenspielraum zu und verweigerte de facto die Überprüfung der Bedürfnisentscheidung. Zusätzlich erweiterte es den gesetzgeberischen Spielraum, indem es den auf Konsolidierung ausgerichteten Wortlaut des Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG a.F. negierte und statt der Wahrung auch die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse als Bedürfnisgrund anerkannte. In der Folge liefen die Maßstäbe des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. funktionell leer.379 Der Grundsatz der Subsidiarität des Bundes auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung war vom Bundesverfassungsgericht praktisch suspendiert worden. Es kam zu einer extensiven Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund, wodurch sich der gesetzgeberische Gestaltungsraum der Länder zwangsläufig verkleinerte.380 Das Bundesverfassungsgericht sieht sich daher zu Recht dem Vorwurf ausgesetzt, die Unitarisierung auf dem Gebiet der Gesetzgebung erheblich verstärkt zu haben.381 Rückblickend hat sich das Gericht dieser Einschätzung selbstkritisch angeschlossen.382 378

BVerfGE 78, 249 [270]. Scholz, Starck, FG 25 Jahre BVerfG, Bd.2, 1976, S. 252 (260); Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl., 1984, S. 678 f.; Pestalozza, in: v. Mangoldt/Klein/Pestalozza, 3. Aufl. 1996, Art. 72 Rdnr. 116; Oeter, Integration und Subsidiarität, 1998, S. 231; Isensee, in: Badura/Dreier, FS 50 Jahre BVerfG, Bd.2, S. 719 (744); Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 114; Eicher, Der Machtverlust der Landesparlamente, 1988, S. 78. 380 Stern, Staatsrecht II, 1980, S. 596 f.; Oeter, Integration und Subsidiarität, 1998, S. 415; Eicher, Machtverlust der Landesparlamente, 1988, S. 108 f. 381 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 15; Stern, Staatsrecht II, 1980, S. 597, der insoweit vom „Motor der Vereinheitlichung“ spricht, sowie Oeter, der pointiert formuliert: „Die Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG in der Konstruktion des Verfassungsgerichts könnte man insofern beinahe als ein antiföderales Instrument im Interesse einer Absicherung des Unitarisierungsprozesses bezeichnen.“, vgl. ders., Integration und Subsidiarität, 1998, S. 416 m.w.N.; Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 114; Kilper/ Lhotta, Föderalismus in der BRD, 1996, S. 161 f. 382 BVerfGE 106, 62 [136], vgl. die Ausführungen zum sog. Altenpflege-Urteil im Rahmen dieses Kapitels unter Gliederungspunkt I., 2.a)aa)(1). 379

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Kritik verdient vor allem die vom Grundgesetz losgelöste, geradezu apodiktische Vorgehensweise des Gerichts, die in krassem Widerspruch zum Subsidiaritätsgedanken des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. stand. Trotz der offensichtlichen Relevanz der Bestimmung für die Balance des bundesstaatlichen Kompetenzregimes hat es zu keinem Zeitpunkt die wesentlichen teleologischen und systematischen Aspekte der Problematik umfassend beleuchtet oder wenigstens seine Auffassung am Maßstab des Verfassungstextes begründet.383 So aber trägt die Rechtsprechung den offensichtlichen Makel eines verfassungspolitischen Kalküls zugunsten des Bundesgesetzgebers. Nicht allein der Umstand, dass das Gericht keine greifbaren verfassungsrechtlichen Argumente für seine Sichtweise anführte, lässt auf eine in erster Linie politische Motivlage schließen. Neben dem hierfür hauptursächlichen Unmut über die alliierte Einflussnahme auf die Konzeption der konkurrierenden Gesetzgebung mag später auch der Umstand beigetragen haben, dass die Unitarisierung des Bundesstaates als zeitgemäße Ausprägung des Föderalismus und somit als unausweichlich angenommen wurde.384 Das Gericht hätte sich jedoch trotz der Vorbehalte gegen das vermeintliche alliierte Diktat und des gewandelten Bildes des Föderalismus seiner Aufgabe als nüchterner Interpret des Verfassungstextes nicht entziehen dürfen und der objektiven Zweckbestimmung des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. zur Geltung verhelfen müssen. Dies umso mehr als der richtungsweisende Subsidiaritätsgedanke bereits in der ursprünglichen Konzeption der konkurrierenden Gesetzgebung des Parlamentarischen Rates enthalten war385 und insoweit nicht auf die Alliierten zurückzuführen ist. Spätestens als zu Beginn der 1960er Jahre die Rechtsprechung des Gerichts als kausaler Beitrag zur Entmachtung der Länderparlamente erkannt wurde386, hätte ein Umdenken stattfinden müssen. Schließlich bezog das Gericht in diversen anderen Verfassungsfragen deutlich Position zugunsten der Länder. Der Widerspruch zwischen dieser länderfreundlichen Rechtsprechung des Gerichts und jener zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F. ist rational nicht nachvollziehbar.387

383 Vgl. die kritischen Analysen von Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 72 Rdnr. 17 ff., Scholz, in: Starck, FG 25 Jahre BVerfG, Bd.2, 1976, S. 252 (262); Knorr, Die Justiziabilität der Erforderlichkeitsklausel, 1998, S. 32 ff.; Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 110. 384 Vgl. Scholz, in: Starck, FG 25 Jahre BVerfG, Bd.2, 1976, S. 252 (254); Bullinger, DÖV 1970, S. 761 (762, 768); Oeter, Integration und Subsidiarität, 1998, S. 415 sowie m.w.N. Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S.116. 385 Der auf Art. 34 HChE beruhende Art. 36 Abs. 2 des Entwurfes lautete: „Der Bund soll auf diesen Gebieten nur regeln, was einheitlich geregelt werden muß.“; vgl. Der Parl. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 8, S. 396 (424). 386 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 15. 387 Oeter, Integration und Subsidiarität, 1998, S. 413.

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Befand sich das Gericht zu Beginn seiner Rechtsprechung noch im Einklang mit der herrschenden Staatsrechtslehre388, hatte sich das Meinungsbild spätestens Mitte der 1970er Jahre vollständig gewandelt.389 Die Notwendigkeit der Aktivierung der Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. im Sinne einer ,föderativen Bremse wurde zunehmend anerkannt und setzte sich letztendlich auch auf Bundesebene durch.390 Die Unfähigkeit des Gerichts, auf diese Entwicklung zu reagieren, obwohl der Wortlaut der Norm alle Möglichkeiten offen ließ, führte zu der Einsicht, dass das Strukturelement der Subsidiarität der konkurrierenden Gesetzgebung nur durch eine entsprechende Verfassungsänderung Wirkung entfalten würde. Nachdem eine Reform des Art. 72 Abs. 2 GG in den 1970er Jahren zunächst nicht zustande gekommen war391, fanden schließlich die Vorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission des 12. Bundestages392 die erforderliche Mehrheit für die Grundgesetzreform des Jahres 1994.

2. Art. 72 Abs. 2 GG in der Fassung von 1994 – 2006 a) BVerfGE 106, 62 – Altenpflegegesetz (Urteil des 2. Senates vom 24. Oktober 2002) Der Normenkontrollantrag der Bayerischen Staatsregierung richtete sich gegen das Altenpflegegesetz aus dem Jahr 2000.393 Den sozialen Hintergrund bildete der seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend beklagte Pflegenotstand. Parallel zum Anstieg der Lebenserwartung nahm die Zahl Pflegebedürftiger und damit auch der Bedarf an qualifizierten Pflegekräften stetig zu. Das höhere Lebensalter ließ auch den Grad der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit der alten Menschen so anwachsen, dass medizinisch-pflegerische und therapeutische Elemente in der Altenpflege stark in den Vordergrund traten. Der Anteil der hierfür qualifizierten Fachkräfte an den insgesamt über 440.000 in stationären Pflegeeinrich-

388 Vgl. die Nachweise bei Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 83 f., 111. 389 Vgl. etwa Achterberg, DVBl. 1967, S. 213 ff.; Kisker, Der Staat 1975, S. 169 ff.; Scholz, in: Starck, FG 25 Jahre BVerfG, Bd.2, 1976, S. 252 ff.; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, 1959, Art. 72 Abs. 2 GG Rdnr. 23; Stern, Staatsrecht I, 1977, § 19 III. 3. b. b. sowie ders., Staatsrecht II, 1980, S. 596. Vgl. m.w.N. die umfassende Bestandsaufnahme bei Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 113 ff. 390 Vgl. Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 117 ff., 131. 391 Vgl. die Empfehlungen der EnquÞte-Kommission Verfassungsreform des 7. Bundestages aus dem Jahr 1976, BT-Drucks. 7/5924, S. 131. 392 Bericht der GVK v. 05. 11. 1993, BT-Drucks. 12/6000, S. 16, 131. 393 Gesetz über die Berufe in der Altenpflege sowie zur Änderung des Krankenpflegegesetzes vom 17. 11. 2000 (BGBl. I S. 1513).

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tungen arbeitenden Menschen betrug 1999 nur 30 v.H. gegenüber der Mindestquote von 50 v.H. gemäß § 5 Heimpersonalverordnung.394 Die Sorge um den Rückgang der Bewerberzahlen zu den Altenpflegeberufen und das stetige Anwachsen des älteren Bevölkerungsteils veranlasste die Bundesregierung im Jahr 1999 zum Entwurf des AltPflG.395 Zur Begründung wurde ausgeführt, dass eine bundeseinheitliche Regelung der Ausbildung für die Berufe in der Altenpflege einschließlich der Gewährung eines Rechtsanspruchs auf Ausbildungsvergütung dazu beitrage, eine ausreichende Zahl von Fachkräften für die Altenpflege zu gewinnen.396 Bereits in den Plenardebatten von Bundestag und Bundesrat wurden unterschiedliche Positionen zur Frage der Gesetzgebungskompetenz des Bundes diskutiert, ebenso wie die Frage, ob in der Altenpflege der medizinisch-pflegerische oder der sozialpflegerische Aspekt im Vordergrund stehe. Der Bundesrat stimmte schließlich mit 37 von 69 Stimmen für die entsprechende Empfehlung des federführenden Ausschusses.397 Das für den 1. August 2001 vorgesehene Inkrafttreten des Altenpflegegesetzes wurde durch einstweilige Anordnung des Gerichts vom 22. Mai 2001 bis zur Entscheidung in der Hauptsache ausgesetzt.398 Die Antragstellerin bestritt zunächst die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG. Das Altenpflegegesetz betreffe weder einen ,anderen Heilberuf oder ein Heilgewerbe noch die Zulassung zu ihnen. Der Begriff des ,anderen Heilberufs erhalte dadurch Konturen, dass er mit dem Arztberuf das Heilberufliche und die Zulassungsbedürftigkeit gemeinsam habe. Das Altenpflegegesetz habe Heiltätigkeiten in diesem Sinne nicht zum Gegenstand. Zu den Heilberufen könne man solche Berufe zählen, die im Wesentlichen den eigentlich Heilkundigen assistierten oder sie bei ihrer Tätigkeit ergänzten. Dies gelte für die Hebamme, die bei der Geburtshilfe als zentrale Aufgabe eine sonst dem Arzt vorbehaltene Tätigkeit vornehme, den Arzt mithin vertrete, ebenso wie bei der Krankenschwester, die die Tätigkeit des Arztes ergänze, nicht aber für die Altenpflegekräfte. Diesem Ansatz folgt das Bundesverfassungsgericht nur im Hinblick auf den Beruf des Altenpflegehelfers. Den Beruf der Altenpflegerin und des Altenpflegers erachtet es hingegen als ,anderen Heilberuf im Sinne des Art. 74 Nr. 19 GG. Dies ergebe sich nach Sinn und Zweck des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG, wonach dem Bund insgesamt die Gesetzgebungskompetenz für die Zulassung zu Heilberufen eröffnet sei. Das Berufs394

Kurzbericht der Pflegestatistik 1999, dargestellt im Vierten Altenbericht, BT-Drucks 14/8822,

S. 254. 395

BR-Drucks 162/99, BT-Drucks 14/1578. BT-Drucks 14/1578, S. 12. 397 BR-Plenarprotokoll 754, S. 342D/343 A. 398 Az.: 2 BvQ 48/00; wiederholt durch die Beschlüsse vom 7. 11. 2001 und vom 29.04.2002. 396

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bild der Altenpflege habe sich in den fachlichen Anforderungen und den praktischen Voraussetzungen inzwischen so weit denjenigen der Heilberufe angenähert, dass der Gesetzgeber diese Entwicklung mit einfachgesetzlichen Vorgaben weiterführen dürfe, indem er dem Berufsbild der Altenpflege einen klaren heilkundlichen Schwerpunkt verleihe.399 Anders liege es hinsichtlich des Berufs des Altenpflegehelfers. Weder im Gesetz selbst noch im Gesetzgebungsverfahren sei dargetan, worin das heilberufliche bei dem Beruf der Altenpflegehelfer liegen solle.400 Es fehle an jeglicher Konkretisierung eines Berufsbildes für die Altenpflegehelfer. Die Regelungen des Altenpflegegesetzes gingen für die Altenpflegehilfe nicht über einen Bezeichnungsschutz hinaus, der für sich genommen nicht zulassungsrelevant und somit kompetenzfremd sei.401

aa) Die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG i. d. F.von 1994 Den anderen Schwerpunkt des Normenkontrollverfahrens, der für den Untersuchungsgegenstand von ungleich größerem Interesse ist, bildete die Frage der Erforderlichkeit des AltPflG im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG in der Fassung des Jahres 1994.402 Nach Ansicht der Bayerischen Staatsregierung lagen die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG nicht vor, weil es an dem Erfordernis einer bundesgesetzlichen Regelung der Altenpflegeausbildung fehlte. Die Uneinheitlichkeit der bestehenden Landesregelungen reiche als Grund nicht aus. Rechtsvielfalt sei nach dem Grundgesetz legitim. Also müsse Weiteres hinzukommen, um den Zugriff des Bundes zu gestatten. Daraus folge, dass den Bund die Darlegungslast für die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG treffe. Dieser Last, die aus der Verantwortung des Gesetzgebers als Erstinterpret des Grundgesetzes folge, sei im Gesetzgebungsverfahren für das Altenpflegegesetz nicht genügt worden.403 Die Stellungnahme der Bundesregierung fiel erwartungsgemäß entgegengesetzt aus.404 – Das Altenpflegegesetz sei zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet im Hinblick auf die Pflege alter Menschen erforderlich, da die einheitliche Ausbildung in den Berufen der Altenpflege wesentlich zur Gewährleistung der Einheitlichkeit der fachlichen Qualifikation sowie des Nachwuchses ausreichenden Pflegepersonals beitrage. Die Länder seien erwiesenermaßen nicht zu einer effektiven Koordination in der Lage gewesen. Das gesamtstaatliche Interesse könne nicht durch die Länder, sondern nur aus der Sicht des Bundes als des Gesamtstaats bestimmt werden. Für das Altenpflegegesetz folge dies daraus, dass die Sicherung 399 400 401 402 403 404

BVerfGE 106, 62 [109 ff.]. BVerfGE 106, 62 [122 ff.]. BVerfGE 106, 62 [129]. Art. 72 Abs. 2 GG i. d. F.v. 27. 10. 1994 (BGBl. I S. 3146), in Kraft seit dem 15.11.1994. BVerfGE 106, 62 [94 f.]. BVerfGE 106, 62 [100 ff.].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

qualifizierten Fachpersonals für die Altenpflege eine staatliche Aufgabe darstelle, die im gesamten Bundesgebiet gleichermaßen von Bedeutung sei, und daraus, dass die Freizügigkeit dieses Personals über die Landesgrenzen hinweg verbessert werde. Eine Darlegungslast im Sinne einer verfassungsrechtlichen Gültigkeitsbedingung sei dem Grundgesetz zudem fremd. Die Bundesregierung bezweifelte zudem bereits die grundsätzliche Justiziabilität des Art. 72 Abs. 2 GG. Auch die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG biete mangels hinreichender Maßstäbe keine Grundlage für eine umfassende verfassungsgerichtliche Nachprüfung. Bei der Prüfung der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG komme mithin allein eine Evidenzkontrolle in Betracht.405 (1) Umfassende Justiziabilität Das Gericht verwendet nur wenige einleitende Sätze zur allgemeinen systematischen Bedeutung des Art. 72 Abs. 2 GG, bis es zu jener richtungsweisenden Feststellung gelangt, die es der erstmaligen Prüfung des Art. 72 Abs. 2 GG i. d. F. von 1994 gewissermaßen als Signal voranstellt: „Ein von verfassungsgerichtlicher Kontrolle freier gesetzgeberischer Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG besteht nicht.“406

Diese an sich selbstverständlich anmutende Einschätzung gewinnt ihre fundamentale Bedeutung allein vor dem Hintergrund jener allgemein als unbefriedigend empfundenen Rechtsprechung des Gerichts zur Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG a.F..407 Reduzierte das Gericht Art. 72 Abs. 2 GG a.F. aus politischen Gründen bislang darauf, die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit des Bundes zu gewährleisten, indem es dessen Entscheidungen als praktisch injustiziabel bewertete, bekennt es sich hier offensiv zu einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Bundesgesetzgebers.408 Seiner Stellung im System des Grundgesetzes, seinem Sinn und dem Willen des Verfassungsgebers könne Art. 72 Abs. 2 GG nur dann gerecht werden, wenn dessen Voraussetzungen nicht subjektiv vom Bund selbst bestimmt werden dürften, dessen Kompetenz durch Art. 72 Abs. 2 GG gerade beschränkt werden solle. In Anlehnung an die einschränkende Rechtsprechung zur Inanspruchnahme der in Art. 73 ff. GG aufgezählten Materien müssten auch die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG restriktiv interpretiert werden und gerichtlich kontrollierbar sein.409 Klarstellend fügt das Gericht an, dass weder die Genese des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. noch die bisherige Rechtsprechung einen Anhaltspunkt für die Auslegung des Art. 72 405

BVerfGE 106, 62 [100]. BVerfGE 106, 62 [135 f.]. 407 Jochum, NJW 2003, S. 28 (29). 408 Stettner charakterisierte das Urteil im Rückblick daher zutreffend als „ausdrückliche Selbstkorrektur gegenüber seiner als Irrweg einzustufenden Judikatur zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F. GG“; vgl. dens., JZ 2005, S. 119 (119). 409 BVerfGE 106, 62 [136]. 406

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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Abs. 2 GG n.F. bieten könnten. Doch es beschränkt sich nicht allein auf diese Feststellung.410 Es distanziert sich vielmehr deutlich von der früheren Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F.: „Diese Rechtsprechung hat der Bestimmung jedenfalls im Ergebnis keine begrenzende Funktion zugewiesen; sie ist im Gegenteil, zu einem ,Motor der Vereinheitlichung (Stern, Staatsrecht II, 1980, S. 597) geworden, was ihr vielfache Kritik eingetragen hat. Dies gilt in besonderem Maße für die Einordnung der Bedürfnisprüfung als Frage eines – zudem unscharf bestimmten – ,gesetzgeberischen Ermessens.“411

Obwohl oder gerade weil das Gericht diese Sätze ohne weiteren Kommentar im Raum stehen lässt, bringt es unmissverständlich seine kritische Haltung gegenüber der zurückliegenden Judikatur zum Ausdruck. Dies ist insofern beachtlich, als sich das Gericht ohne Weiteres allein darauf hätte zurückziehen können, die neue Fassung des Art. 72 Abs. 2 GG zu interpretieren. In der Regel nehmen die nachfolgenden Generationen des Bundesverfassungsgerichts in sehr diskreter Weise, zumeist ohne jede kritische Erwähnung, Abschied von den Ansichten ihrer Vorgänger. Demzufolge ist davon auszugehen, dass es dem Gericht ein besonderes Anliegen war auf die Schwäche der bisherigen Rechtsprechung hinzuweisen und sich von deren negativen Auswirkungen auf die bundesstaatliche Kompetenzbalance abzugrenzen. Nicht nur die Zitierung Sterns – einer der exponierten Kritiker der früheren Rechtsprechung – sondern auch die Diktion und der Kontext lassen deutlich erkennen, dass das Gericht die geradezu antiföderalistische Interpretation des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. rückblickend missbilligt.412 Mit Blick auf die Genese des im Rahmen der Verfassungsreform von 1994 modifizierten Wortlautes des Art. 72 Abs. 2 GG führt der Urteilstext weiter aus: „Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 Abs. 2 GG n.F. belegt, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber mit der Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG sowie der Einrichtung eines speziellen verfassungsgerichtlichen Verfahrens gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG das Ziel verfolgt hat, die Position der Länder zu stärken und zugleich eine effektive verfassungsgerichtliche Überprüfung sicherzustellen.“413

Bevor sich das Gericht erstmals der Konkretisierung der Tatbestandsmerkmale des Art. 72 Abs. 2 GG widmet, holt es zunächst zu einer Darstellung der Historie414 der Reform des Art. 72 Abs. 2 GG aus, um seine Sicht des reformgesetzgeberischen Willens zu bestätigen. Wie sich aus der Entstehungsgeschichte ergebe „liegt der Sinn der Norm im Schutz der Länder vor einer weiteren Auszehrung ihrer Gesetzgebungskompetenzen“, sowie

410 411 412 413 414

Kenntner, NVwZ 2003, S. 821 (822). BVerfGE 106, 62 [136]. Stettner, JZ 2005, S. 619 (619). BVerfGE 106, 62 [136 f.]. BVerfGE 106, 62 [137 ff.].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

darin, „die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG justiziabel zu machen“.415 Den Schutz der Länder sieht es nur dann gewährleistet, wenn die Erforderlichkeitsklausel als gerichtlich kontrollierbare Beschränkung verstanden werde, die dem Bundesgesetzgeber keinen injustiziablen Beurteilungsspielraum lasse. Die Einhaltung der Vorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG sei, wie bei allen anderen verfassungsrechtlichen Schranken, einer vollständigen Überprüfung zugänglich.416 Neben dem Willen des Gesetzgebers führt das Gericht auch den gewichtigen systematischen Gesichtspunkt an, dass 1994 parallel zur neuen Fassung des Art. 72 Abs. 2 GG mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG ein spezielles auf die Erforderlichkeitsklausel bezogenes eigenständiges, verfassungsgerichtliches Verfahren implementiert wurde. Zutreffend weist das Gericht darauf hin, dass diese Vorschrift leer liefe, verstünde man die Gesetzesbegriffe in Art. 72 Abs. 2 GG nicht als justiziabel.417 Zuletzt verweist das Gericht zur Bestätigung der Justiziabilität des Art. 72 Abs. 2 GG auf die gezielte Modifikation des Wortlautes durch die Verfassungsreform 1994, in der sich der objektive Wille des Verfassungsgebers niedergeschlagen habe.418 Wie das Gericht zutreffend feststellt, lässt sich die betont föderalistische Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG anhand der Normgeschichte und der Systematik auf den im Wortlaut objektivierten Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers zurückführen. Vor dem Hintergrund dieser Gesamtanalyse gelangt das Gericht zu folgender Einschätzung: „In der Grundgesetzänderung kann eine klare Anweisung des verfassungsändernden Gesetzgebers an das Bundesverfassungsgericht gesehen werden, seine bisherige, als korrekturbedürftig bewertete Rechtsprechung zu ändern.“419

Es liegt in der Natur des Art. 72 Abs. 2 GG, dass eine vollständige verfassungsgerichtliche Überprüfung der Erforderlichkeit bundesgesetzgeberischer Regelungen, wie sie das Gericht erstmals in Aussicht stellt, dem Schutz der Länder zugute kommt.420 Die ratio des Art. 72 Abs. 2 GG – die Subsidiarität des Bundes auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung – kommt nur dann zum Tragen, wenn dem Bund kein justizfreier Beurteilungsspielraum verbleibt. In eindeutiger Abgrenzung von seiner früheren Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F. bekennt sich das Bundesverfassungsgericht zu einer nunmehr umfassenden Kontrolle der Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund. Der semantische Unterschied zwischen den Begriffen Bedürfnis und Erfordernis ist nicht derart gravierend, 415

BVerfGE 106, 62 [142]. BVerfGE 106, 62 [142]; jenen Teilen des Schrifttums, die die Auffassung vertraten, dass auch nach der 1994 verabschiedeten Fassung des Art. 72 Abs. 2 GG ein dem Bundesgesetzgeber injustiziabler Beurteilungsspielraum verbleibe, erteilt das Gericht eine eindeutige Absage, indem es darin einen „klaren Widerspruch zum gesetzgeberischen Willen“ erkennt. 417 BVerfGE 106, 62 [142]. 418 BVerfGE 106, 62 [143]. 419 BVerfGE 106, 62 [142]. 420 Kenntner, NVwZ 2003, S. 821 (822). 416

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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dass allein wegen des neuen Wortlauts mit einer Neuausrichtung der Rechtsprechung geradezu gerechnet werden musste. Die wohlwollende Aufnahme der gesetzgeberischen Intention, der weiteren Auszehrung der Länderkompetenzen entgegenzutreten, steht daher für ein insoweit deutlich gewandeltes bundesstaatliches Bewusstsein des Gerichts.421 Die Implementierung des selbständigen Verfahrens in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG dürfte wesentlich zur Überzeugung des Gerichts beigetragen haben. Die herausragende Bedeutung des Schutzes der gesetzgeberischen Kompetenzen der Länder vor der ausufernden Inanspruchnahme durch den Bundesgesetzgeber scheint das Gericht mit dieser Entscheidung verinnerlicht zu haben. Am deutlichsten zeigt dies wohl die ungewöhnlich selbstkritische Haltung gegenüber den Auswirkungen der Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F.. (2) Konkretisierung der Tatbestandsmerkmale des Art. 72 Abs. 2 GG (a) Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet Das Tatbestandsmerkmal der Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. hatte sich unter der früheren Praxis des Bundesverfassungsgerichts gewissermaßen zur Triebfeder der Unitarisierung entwickelt.422 Im Rahmen der Verfassungsreform 1994 wurde der missverständliche Begriff der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse durch den der Gleichwertigkeit ersetzt.423 Nunmehr sollte eine bundesgesetzliche Regelung dann verfassungsgemäß sein, wenn die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet eine entsprechende bundesgesetzliche Regelung tatsächlich erforderte. Die begriffliche Modifikation legte zunächst nur eine einschränkende Relativierung der Voraussetzungen bundesgesetzgeberischen Handelns nahe, sowie eine Absenkung des zulässigen Niveaus entsprechender Vereinheitlichung. Aus diesen Gründen gingen einige Kommentatoren der Verfassungsreform weiterhin von einem politischen Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers aus und bezweifelten, dass das Bundesverfassungsgericht das Gegenteil bestätigen würde. Teil-

421 I.d.S.: Kenntner, NVwZ 2003, S. 821 (822); Depenheuer, ZG 2003, S. 177 (189); derselbe, ZG 2005, S.81 (86); Calliess, EuGRZ 2003, 181 (189); Faßbender, JZ 2003, S. 332 (337); Jochum, NJW 2003, S. 28 (29); Stettner, JZ 2005, S. 619 (619); zurückhaltender: Brenner, JuS 2003, S. 852 (853). 422 Vgl. Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 5. Aufl. 2005, Art. 72 Rdnr. 90. 423 Den Materialien zur Verfassungsreform 1994 ist zu entnehmen, dass der Begriff der Gleichwertigkeit als dem föderalistischen Gedanken der Verfassung angemessener betrachtet wurde. Insbesondere im Hinblick auf die trennungsbedingten Unterschiede nach der Wiedervereinigung wurde die Gleichwertigkeit als geeignet angesehen, um den regionalen Besonderheiten der einzelnen Länder Rechnung zu tragen, vgl. die Zitierungen in BVerfGE 106, 62 [143].

140

4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

weise wurde ein politischer Spielraum weiterhin für sachgerecht befunden, teilweise wurde die Wortlautmodifikation nicht als ausreichend angesehen.424 Das Bundesverfassungsgericht sollte diese Frage jedoch anders bewerten. Wiederum ausgehend vom Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers stellt das Gericht hierzu Folgendes fest: „Das bundesstaatliche Rechtsgut gleichwertiger Lebensverhältnisse ist vielmehr erst dann bedroht und der Bund erst dann zum Eingreifen ermächtigt, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet.“425

Das Gericht verschärft die Bedingungen der konkurrierenden Gesetzgebung damit bereits bei der Definition des deskriptiven Tatbestandsmerkmals enorm.426 Erst die drohende Beeinträchtigung des bundesstaatlichen Sozialgefüges eröffne dem Bundesgesetzgeber die Materien der konkurrierenden Gesetzgebung. Art. 72 Abs. 2 GG erhält insoweit den Charakter einer Gewährleistungsnorm bundesstaatlicher Gleichwertigkeit, die jedoch ausschließlich reaktives gesetzgeberisches Handeln ermöglicht. Die Restriktion dieser Anforderung geht erkennbar auf den Willen des Bundesverfassungsgerichts zurück, das Kriterium der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht der Beliebigkeit preiszugeben, wie dies hinsichtlich Art. 72 Abs. 2 GG a.F. der Fall war. Es geht hier freilich sehr weit, denn weder dem Wortlaut der Bestimmung noch dem darin objektivierten Zweck ist ohne weiteres zu entnehmen, dass Art. 72 Abs. 2 GG insoweit lediglich als Notbehelf für den Fall auseinanderdriftender Gesellschaftsverhältnisse in Frage kommen solle. Dagegen könnte insbesondere die Ersetzung des Begriffs der ,Wahrung durch den der ,Herstellung ins Feld geführt werden. Die vom Gericht auf diese Weise herbeigeführte zusätzliche Restriktion bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals lässt insoweit wenig Raum für eine praktische Anwendung.427 Dies kann sich freilich ändern, wenn die Ländergesetzgebung zu größeren Unterschieden hinsichtlich der Lebensverhältnisse führt. Die vom Verfassungsgesetzgeber beabsichtigte Verschärfung der Anforderungen konkurrierender Gesetzgebung wäre jedoch auch allein aus der restriktiv zu interpretierenden Bedingung der Erforderlichkeit bundesgesetzlicher Regulierung herzuleiten gewe424 Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, 1999, S. 155 ff.; Rybak/Hofmann, NVwZ 1995, S. 230 (231); Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2003, Art. 72 Rdnr. 11; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 2000, Art. 72 Rdnr. 112 f.; weitere Nachweise bei Fassbender, JZ 2005, S. 332 (334). 425 BVerfGE 106, 62 [144] sowie 2.Ls. b) aa). 426 Brenner, JuS 2003, S. 852 (853); Calliess, EuGRZ 2003, 181 (191). 427 I.d.S. auch: Depenheuer, ZG 2003, S. 177 (183); Brenner, JuS 2003, S. 852 (853); Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 72 Rdnr. 5. – Die Beschränkung des Art. 72 Abs. 2 GG auf bestimmte Gegenstände des Art. 74 GG im Zuge der Föderalismusreform 2006 hat den praktischen Anwendungsbereich der Erforderlichkeitsklausel zusätzlich verringert.

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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sen, die als normatives Element die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als Zielvorgabe ergänzt.428 Zur negativen Abgrenzung führt das Gericht weiter aus, dass das Erfordernis der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht schon dann erfüllt sei, „wenn es nur um das Inkraftsetzen bundeseinheitlicher Regelungen geht“ oder „wenn lediglich eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in Rede steht“.429 Auch hier grenzt sich das Gericht deutlich von der früheren Verfassungspraxis ab. In diesem Sinne ist auch die Feststellung zu verstehen, dass nach dem Willen der Gemeinsamen Verfassungskommission ,gleichwertige Lebensverhältnisse nicht ,einheitliche Lebensverhältnisse bedeute, sondern das „Niveau der kompetenziell legitimierten Vereinheitlichung“ deutlich zurücknehme.430 Obwohl die Bundesregierung sich zur Begründung des AltPflG gerade auf die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse beruft, nimmt das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle keine weitere Konkretisierung vor.431 Insoweit bleibt ungeklärt, welche Anzeichen die apostrophierte Beeinträchtigung des bundesstaatlichen Sozialgefüges aufweisen muss, um das Gesetzgebungsrecht zu begründen. Nach Ansicht des Gerichts lassen sich die in Anspruch genommenen Gründe für den Erlass des AltPlfG jedenfalls nicht unter die Voraussetzung der Erforderlichkeit der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse subsumieren. Die Begründung des Bundesgesetzgebers weist es an späterer Stelle des Entscheidungstextes dahingehend zurück, dass es ihm auf eine allgemeine Verbesserung der Situation in der Altenpflege angekommen sei.432 Zwar habe die Heterogenität der Länderregelungen nachteilige Folgen für die Altenpfleger und die Pflegebedürftigen, dass aber eine bestimmte Länderregelung „eine besonders defizitäre Pflegesituation im Gefolge hätte“, sei anhand des vorgelegten wissenschaftlichen und statistischen Materials nicht nachzuvollziehen.433 Die tatbestandliche Konkretisierung der ersten Zielvorgabe des Art. 72 Abs. 2 GG i. d. F. von 1994 fällt durch ihre Restriktion gegenüber dem Bundesgesetzgeber auf. Der Bund dürfte bei konsequenter Anwendung dieser Maßstäbe nur in Ausnahmefällen zur konkurrierenden Gesetzgebung berufen sein. Dennoch ist dem Gericht im Ergebnis zuzustimmen. Eine weniger strenge Interpretation des Tatbestandsmerkmals hätte den Bund mit Sicherheit ermutigt, die Regelungsgegenstände des Art. 74 verstärkt in Anspruch zu nehmen. Insbesondere die hohen Anforderungen an den Nach-

428

I.d.S. Stettner, JZ 2005, S. 619 (621). BVerfGE 106, 62 [144]. 430 BVerfGE 106, 62 [144]. 431 BVerfGE 106, 62 [87]. 432 BVerfGE 106, 62 [153]. 433 BVerfGE 106, 62 [153 f.]. Das Gericht gibt an dieser Stelle zumindest mittelbar zu erkennen, dass es die Situation anders bewertet hätte, wenn ein gravierender Qualitätsunterschied in der Altenpflege auf eine defizitäre Landesgesetzgebung zurückführbar gewesen wäre. 429

142

4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

weis einer mangelnden Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sollten den Bund von einer willkürlichen Berufung auf Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 GG abhalten. In der logischen Konsequenz der hohen Anforderungen liegt die anschließende Zurückweisung der auf die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gerichteten Argumentation der Bundesregierung. Sie enthält das unverkennbar föderalistische Signal an die Länder, dass dem Bundesgesetzgeber der Zugang zur konkurrierenden Gesetzgebung über den Vorwand der Verbesserung der Lebensverhältnisse verwehrt ist. Die Entscheidung des Gerichts verdient vor allem deshalb Anerkennung, weil das Erfordernis der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse auch deutlich weiter interpretierbar gewesen wäre und auf diese Weise der politischen Instrumentalisierung, für die es ohne Zweifel besonders anfällig ist, weitgehend entzogen sein dürfte. (b) Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse Zu Beginn seiner Darlegungen zu den Tatbestandsmerkmalen Rechtseinheit und Wirtschaftseinheit ist das Gericht augenscheinlich um die Herstellung eines inneren Bezugs zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse bemüht. In Anlehnung an letztere weist es darauf hin, dass weder die Zielvorgaben der Rechts- oder Wirtschaftseinheit noch das Tatbestandsmerkmal des gesamtstaatlichen Interesses dem Bundesgesetzgeber die Erlaubnis geben, ausschließlich zur Verfolgung von sonstigen Gemeinwohlinteressen oder auch nur mit dem allgemeinen Ziel einer Verbesserung der Lebensverhältnisse tätig zu werden. Die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit betreffe unmittelbar institutionelle Voraussetzungen des Bundesstaats und erst mittelbar die Lebensverhältnisse der Bürger.434 Sodann wendet es sich der Konkretisierung des Kriteriums der Wahrung der Rechtseinheit zu und schickt einige grundlegende Feststellungen voraus. Unterschiedliche Rechtslagen für die Bürger seien notwendige Folge des bundesstaatlichen Aufbaus. Das Grundgesetz lasse unterschiedliche rechtliche Ordnungen in den Gliedstaaten zu und begrenze insoweit auch eine Berufung auf Art. 3 Abs. 1 GG. Eine Unterschiedlichkeit von Regelungen in den Ländern allein könne deshalb ein gesamtstaatliches Interesse an einer bundesgesetzlichen Regelung nicht begründen.435 Das Erfordernis bundesgesetzgeberischen Eingreifens zur Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse sieht das Gericht unter folgenden Voraussetzungen gegeben: „Eine Gesetzesvielfalt auf Länderebene erfüllt die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG erst dann, wenn sie eine Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen darstellt, die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann. Gerade die Unterschiedlichkeit des Gesetzesrechts oder der Umstand, dass die Länder eine rege-

434 435

BVerfGE 106, 62 [145]. BVerfGE 106, 62 [145].

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

143

lungsbedürftige Materie nicht regeln, müssen das gesamtstaatliche Rechtsgut der Rechtseinheit, verstanden als Erhaltung einer funktionsfähigen Rechtsgemeinschaft, bedrohen.“436

Mit diesen drastischen Worten knüpft das Gericht an seine Ausdrucksweise im Zusammenhang mit dem Merkmal der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse an. Das Gericht nutzt prägnante Vokabeln wie die der Rechtszersplitterung, um der Begrenzung des Kompetenztitels auf Ausnahmesituationen Nachdruck zu verleihen und den zukünftigen Gesetzgeber vor einer leichtfertigen Inanspruchnahme zu warnen. Zur Illustration entwirft es die fiktiven Konstellationen länderspezifisch abweichender Personenstandsregelungen und Gerichtsverfassungen. Eine Angleichung der Rechtssituation in den Ländern könne erforderlich werden, wenn „die unterschiedliche rechtliche Behandlung desselben Lebenssachverhalts unter Umständen erhebliche Rechtsunsicherheiten und damit unzumutbare Behinderungen für den länderübergreifenden Rechtsverkehr erzeugen kann. Um dieser sich unmittelbar aus der Rechtslage ergebenden Bedrohung von Rechtssicherheit und Freizügigkeit im Bundesstaat entgegen zu wirken, kann der Bund eine bundesgesetzlich einheitliche Lösung wählen.“437 Auch für die Wahrung der Rechtseinheit gilt somit, was zuvor hinsichtlich der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse festgestellt wurde. Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts kann der Bundesgesetzgeber zur Wahrung der Rechtseinheit gewissermaßen nur im föderativen ,Notfall zur Abwendung von bundesstaatlich nicht hinnehmbaren Disparitäten tätig werden. Der Anwendungsbereich der Zielvorgabe dürfte mit der erneuten Modifikation des Art. 72 GG im Rahmen der Föderalismusreform 2006 zusätzlich geringer geworden sein, nachdem nun die für die Rechtseinheit bedeutsamen Materien, wie der Justizbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1, das Personenstandswesen oder das Sozial- und Arbeitsrecht unter die Vorranggesetzgebung des Bundes fallen.438 Im Ergebnis könne das AltPflG jedenfalls nicht auf die Zielvorgabe Wahrung der Rechtseinheit zurückgeführt werden. Mit ihm habe der Bundesgesetzgeber die Rechtsvereinheitlichung nicht deshalb angestrebt, weil die unterschiedlichen Ausbildungsregelungen selbst und unmittelbar bundesstaatlichen Interessen entgegenstünden. Es sei nicht – wie zur Wahrung der Rechtseinheit erforderlich – die Rechtsvielfalt als solche gewesen, die den Bundesgesetzgeber zum Tätigwerden veranlasst habe.439 Auch das Merkmal der Wahrung der Rechtseinheit entzieht das Gericht der willkürlichen Inanspruchnahme durch den Bundesgesetzgeber. Unterschiedliche Rechtslagen wertet es als notwendige Folge, also als selbstverständliche Ausprägung des bundesstaatlichen Aufbaus. Selbst den Zustand der Rechtszersplitterung, der an sich schon negativ assoziiert ist, lässt es nicht genügen, um ein Erfordernis der Ver436 437 438 439

BVerfGE 106, 62 [145]. BVerfGE 106, 62 [146]. Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 72 Rdnr. 16. BVerfGE 106, 62 [155].

144

4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

einheitlichung anzunehmen. Erst zusätzliche „problematische Folgen“ rechtfertigen eine Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung.440 Das Gericht ergreift auch in dieser Hinsicht unverkennbar Partei zugunsten föderalistischer Vielfalt und weitreichender Länderautonomie. (c) Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse Da das Gericht Rechtseinheit und Wirtschaftseinheit differenziert behandelt sehen will, ist es zunächst um inhaltliche Abgrenzung bemüht. Wirtschaftseinheit lasse sich zwar typischerweise über die Vereinheitlichung von Rechtslagen herstellen – Schnittmengen seien also selbstverständlich. Dennoch wiesen beide Rechtsgüter unterschiedliche Schwerpunkte auf. Die Wirtschaftseinheit gehe naturgemäß über die Rechtseinheit hinaus und sei dann betroffen, wenn „in erster Linie wirtschaftspolitisch bedrohliche oder unzumutbare Auswirkungen einer Rechtsvielfalt oder mangelnder länderrechtlicher Regelung“ in Frage ständen.441 Unterschiedliche landesrechtliche Regelungen könnten „Schranken oder Hindernisse für den wirtschaftlichen Verkehr im Bundesgebiet errichten und insbesondere die Verteilung des wirtschaftlichen (personellen und sachlichen) Potentials verzerren.“442 Ausgehend von diesen Überlegungen konkretisiert das Gericht die Voraussetzungen der dritten Zielvorgabe sodann wie folgt: „Der Erlass von Bundesgesetzen zur Wahrung der Wirtschaftseinheit steht dann im gesamtstaatlichen, also im gemeinsamen Interesse von Bund und Ländern, wenn Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich bringen.“443

Auch hier stellt das Gericht wiederum gezielt hohe Anforderungen, um die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bundesgesetzgeber auf gesamtstaatliche Notfälle zu begrenzen und den Ländern dadurch möglichst weiten Gestaltungsspielraum zu belassen. Im Anschluss an die allgemeine Konkretisierung der dritten Voraussetzung des Art. 72 Abs. 2 GG nimmt das Gericht jedoch eine unerwartete Einschränkung der zuvor formulierten Maßstäbe vor. Zur Wahrung der Wirtschaftseinheit sei „ein Bundesgesetz jedenfalls dann erforderlich, wenn es die Einheitlichkeit der beruflichen Ausbildung sicherstellen oder, wenn es für gleiche Zugangsmöglichkeiten zu Berufen oder Gewerben in allen Ländern sorgen muss“.444 Zur Begründung verweist es auf den Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers.

440 441 442 443 444

Kritisch Brenner, JuS 2003, S. 852 (854). BVerfGE 106, 62 [146]. BVerfGE 106, 62 [146 f.]. BVerfGE 106, 62 [146 f.]. BVerfGE 106, 62 [147].

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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Bevor die tatsächliche Bedeutung dieser Einschränkung anhand der konkreten verfassungsgerichtlichen Prüfung des AltPflG darzustellen ist, sollen zunächst die allgemeinen Ausführungen der Entscheidung abschließend analysiert werden. bb) Verfassungsrechtliche Reichweite des Erfordernisses Als zweiten Schritt der Erforderlichkeitsprüfung benennt das Gericht das Ausmaß der Eingriffsbefugnis. Sofern die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung im Grundsatz geklärt sei, stelle sich die Frage nach dem notwendigen Regelungsumfang. Art. 72 Abs. 2 GG trage dem grundsätzlichen Vorrang der Ländergesetzgebung insofern Rechnung, als er den Bundesgesetzgeber auf den „geringst möglichen Eingriff in das Gesetzgebungsrecht der Länder“ verweise.445 „Erforderlich ist die bundesgesetzliche Regelung danach nur soweit, als ohne sie die vom Gesetzgeber für sein Tätigwerden im konkret zu regelnden Bereich in Anspruch genommene Zielvorgabe des Art. 72 Abs. 2 GG, also die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse oder die im gesamtstaatlichen Interesse stehende Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, nicht oder nicht hinlänglich erreicht werden kann.“446

Eine Bundeskompetenz bestehe nicht, wenn landesrechtliche Regelungen zum Schutz der in Art. 72 Abs. 2 GG genannten gesamtstaatlichen Rechtsgüter ausreichten, wobei allerdings nicht jede theoretische Handlungsmöglichkeit der Länder genüge. Andernfalls wäre, da diese Möglichkeit theoretisch immer besteht, die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes gegenstandslos.447 Eine weitere Konkretisierung erfolgt an dieser Stelle zunächst nicht. Allerdings formuliert das Gericht einen weiteren Grundsatz, durch welchen dem Bundesgesetzgeber wiederum äußerste Zurückhaltung nahe gelegt wird: „Sinn der föderalen Verfassungssystematik ist es, den Ländern eigenständige Kompetenzräume für partikulardifferenzierte Regelungen zu eröffnen“.448 Bezogen auf die konkurrierende Gesetzgebung nimmt das Gericht damit eine fundamentale Kehrtwende seiner Sichtweise auf die systematische Funktion des Art. 72 Abs. 2 GG vor. Obwohl der Gedanke der Subsidiarität bundesgesetzgeberischer Aktivität bereits in Art. 72 Abs. 2 GG a.F. enthalten war, stand die Norm in der früheren Rechtsprechung des Gerichts für die Gewährleistung eines unbegrenzten Kompetenzraumes des Bundes. Mit diesem systematischen Gesinnungswandel wird das Bundesverfassungsgericht erstmals der grundsätzlichen Bedeutung des Instituts der konkurrierenden Gesetzgebung für die staatliche Eigenständigkeit der Länder gerecht.

445 446 447 448

BVerfGE 106, 62 [149]. BVerfGE 106, 62 [149]. BVerfGE 106, 62 [150]. BVerfGE 106, 62 [150].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

cc) Gesetzgeberischer Entscheidungsprozess und Kontrolldichte Schließlich konkretisiert das Gericht die Prüfungstiefe, die es bei der Kontrolle des Bundesgesetzes anzuwenden gilt. Zutreffend legt es dar, dass der Entscheidung über das Erfordernis einer bundesgesetzlichen Regelung zur Erreichung der Zielvorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG eine eingehende Tatsachenbewertung vorauszugehen habe, die in der Regel in eine Prognose der zukünftigen Entwicklung münde. Die vom Bundesgesetzgeber ermittelten Tatsachen müssten sich im Rahmen der gerichtlichen Prüfung bestätigen lassen. Neben der Abwesenheit sachfremder Erwägungen müsse die Prognose methodisch verlässlich erstellt sowie anhand tragender Gesichtspunkte nachvollziehbar sein.449 Das Bundesverfassungsgericht proklamiert insofern für das verfassungsgerichtliche Verfahren eine weitreichende Begründungs- und Darlegungslast des Bundesgesetzgebers.450 Der konkrete Prognosespielraum lasse sich nur im Wege einer sachbereichsbezogenen Gesamtbetrachtung des Einzelfalls ermitteln, bei der die Schutzbedürftigkeit der betroffenen Rechtsgüter genauso einzubeziehen sei, wie die Objektivität und Rationalität der Erwartungen des Bundesgesetzgebers.451 Das Gericht weist damit die von der Bundesregierung geforderte Beschränkung auf eine reine Evidenzkontrolle unmissverständlich zurück. Es sieht sich vielmehr verpflichtet, den gesamten Entscheidungsprozess zu überprüfen, dessen Darlegung und Begründung es nunmehr dem Gesetzgeber anheim stellt. Die Doktrin vom injustiziablen Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers aufgrund politischer Ermessensfreiheit gehört damit endgültig der Vergangenheit an. Es besteht lediglich ein Prognosespielraum, dessen Umfang und Einhaltung überprüfbar ist. Das Gericht setzt seine restriktive Interpretation des Art. 72 Abs. 2 GG damit auch hinsichtlich der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte konsequent fort.452 dd) Die Erforderlichkeit des Altenpflegegesetzes Nachdem das Gericht Art. 72 Abs. 2 GG zunächst ausführlich in allgemeiner Hinsicht interpretiert und dessen Tatbestandsmerkmale konkretisiert hat, widmet es sich schließlich der konkreten Prüfung des AltPflG. Wie bereits zuvor erwähnt, betrachtet es die Zielvorgaben der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und der Wahrung der Rechtseinheit nicht als geeignet, eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Hinblick auf das AltPflG zu begründen. Die Rechtsvereinheitlichung im Bereich der Altenpflege sei jedoch im gesamtstaatlichen Interesse der Wahrung der Wirtschaftseinheit erforderlich.453 449

BVerfGE 106, 62 [153]. Vgl. Depenheuer, ZG 2003, S. 177 (188). 451 BVerfGE 106, 62 [152]. 452 I.d.S. Calliess, EuGRZ 2003, 181 (192); Jochum, NJW 2003, S. 28 (29); Kenntner, NVwZ 2003, S. 821 (823). 453 BVerfGE 106, 62 [156 ff.]. 450

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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(1) Einheitlichkeit der Berufsausbildung An dieser Stelle weist die Entscheidung einen inneren Bruch auf. Anstatt den zuvor proklamierten allgemeinen restriktiven Maßstab anzuwenden, begründet das Gericht die Erforderlichkeit des AltPflG zur Wahrung der Wirtschaftseinheit mit der in den allgemeinen Ausführungen bereits angedeuteten Erforderlichkeit bundeseinheitlicher Berufsausbildungsregelungen. Zweck des AltPflG sei es, die „negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der bisherigen Ausbildung im Bereich der Altenpflege aufzufangen oder zu beseitigen“.454 Zur Konkretisierung der negativen wirtschaftlichen Auswirkungen verweist das Gericht auf zunehmenden Fachkräftemangel, Berufsflucht und die Nachwuchsprobleme aufgrund mangelnder Attraktivität des Berufes. Die bundeseinheitliche Regelung solle den Beruf attraktiver gestalten, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken und die Mobilität der Altenpfleger im Bundesgebiet und europaweit zu verbessern. Sie solle „so einer gleichmäßigen Verteilung des wirtschaftlichen, vor allem des personellen Potentials im gesamten Bundesgebiet dienen“.455 Es sei daran erinnert, dass die in den Leitsätzen der Entscheidung proklamierte Voraussetzung für die Erforderlichkeit bundesgesetzlichen Handelns zur Wahrung der Wirtschaftseinheit wie folgt lautet: „wenn Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich bringen“.456 An anderer Stelle hieß es: „Die ,Wahrung der Wirtschaftseinheit liegt im gesamtstaatlichen Interesse, wenn es um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik durch bundeseinheitliche Rechtssetzung geht.“457 Diesen Negativ-Anforderungen genügen die im Raum stehenden Defizite der Altenpflege freilich nicht, da sie die Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraumes schlicht nicht betreffen. Es ist völlig unbestritten, dass zunehmende gravierende Personalprobleme bei der ambulanten und stationären Versorgung von Pflegebedürftigen eine gesetzgeberische Lösung erforderten. Dies betrifft aber im Kern das von Art. 72 Abs. 2 GG nicht umfasste Ziel der Gewährleistung qualitativ angemessener Lebensverhältnisse im Bundesgebiet und nicht die Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat sich, was die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet anbelangt, nur für die Zielvorgabe der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse entschieden. Die Aufnahme des Ziels der Gewährleistung qualitativ angemessener Pflege in die Zielvorgabe der Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse sprengt insofern den engen Rahmen, den das Gericht zuvor vorgegeben hat. Da jeder dahingehende Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre, bemüht sich das Gericht gar nicht erst, eine Bedrohung der Gesamtwirtschaft 454 455 456 457

BVerfGE 106, 62 [157]. BVerfGE 106, 62 [157]. BVerfGE 106, 62 [147]. BVerfGE 106, 62 [146].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

oder der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik zu konstruieren. Es lässt die zuvor geschaffenen Maßstäbe ganz und gar unerwähnt und verweist unmittelbar auf den Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers. „Im Bereich der beruflichen Bildung hat der verfassungsändernde Gesetzgeber selbst ein gesamtstaatliches Interesse an der Wirtschaftseinheit gesehen. Die Sorge um eine Rechtszersplitterung im Bereich der beruflichen Bildung war Anlass dafür, den Begriff ,Wirtschaftseinheit in Art. 72 Abs. 2 GG wieder aufzunehmen (vgl. die Protokollerklärung der SPDFraktion im Bundestag, BT-Drucks 12/8165 und den Änderungsantrag der SPD-Fraktion in BT-Drucks 12/8174). Auf eine weitere normative Verstärkung dieses vom Bundesgesetzgeber mit dem Altenpflegegesetz verfolgten Interesses, etwa im Hinblick auf drohende Störungen der Wirtschaftseinheit, kommt es daher nicht an.“458

Das Gericht bezieht die ,Einheitlichkeit der Berufsausbildung in den materiellen Gehalt des Kriteriums Wahrung der Wirtschaftseinheit ein. Der letzte Satz des Zitats verschafft Klarheit über die Vorstellungen des Gerichts. Die Voraussetzungen der ,erheblichen Nachteile für die Gesamtwirtschaft und der Bedrohung der ,Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik gelten nach Ansicht des Gerichts nicht im Hinblick auf die Schaffung von Berufsausbildungsregeln. Der Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers, die bundesgesetzgeberische Regelung der beruflichen Bildung zu ermöglichen, veranlasst es, diesem Motiv bei der Interpretation des Merkmals Wahrung der Wirtschaftseinheit eine Ausnahmestellung einzuräumen. Es konkretisiert die Wirtschaftseinheit, indem es die Einheit der Berufsausbildung zu ihrem Unterfall erklärt. Die Vereinheitlichung der beruflichen Ausbildung stellt nach Ansicht des Gerichts stets ein grundsätzliches Erfordernis zur Wahrung der Wirtschaftseinheit dar, unabhängig vom Vorliegen der strengen allgemeinen Maßstäbe.459 (2) Kritik Dem Gericht ist zuzugestehen, dass die Intention des verfassungsändernden Gesetzgebers bei der Wiederaufnahme des Kriteriums Wahrung der Wirtschaftseinheit der Möglichkeit bundesgesetzlicher Regelung der Berufsausbildung galt. Dennoch stellt sich zwangsläufig die Frage der systematischen Vereinbarkeit der Aufstellung allgemeiner hoher Anforderungen an die Erforderlichkeit der Wahrung der Wirtschaftlichkeit mit der Akzeptanz einer Sonderstellung der Berufsausbildung. Länderspezifische Abweichungen in der Berufsausbildung begründen nicht per se erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft.460 Um seinen Willen restriktiver Handhabung des Erforderlichkeitskriteriums nicht sogleich wieder in Frage zu stellen, hätte das Gericht auch für die Einheitlichkeit der Berufsausbildung entsprechende Voraussetzungen aufstellen müssen. Die voraussetzungslose Anerkennung eines grundsätzlichen Erfordernisses nach bundeseinheitlicher Regelung der Berufsausbil458 459 460

BVerfGE 106, 62 [157 f.]. Depenheuer, ZG 2003, S. 177 (185); Calliess, EuGRZ 2003, 181 (192). Depenheuer, ZG 2003, S. 177 (185).

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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dung kommt der Statuierung einer Bundeskompetenz gleich. Wenn der verfassungsändernde Gesetzgeber die bedingungslose Zuständigkeit für die Berufsausbildung dem Bund zuerkennen wollte, hätte er dies über den Beschluss einer entsprechenden Zielvorgabe oder einer ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz erreichen können. Auffällig ist insofern die völlig unkritische Haltung des Gerichts, das dieser Problematik offensichtlich ausweichen wollte. Es hätte jedenfalls darauf hinweisen müssen, dass der dokumentierte Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers zwar zur Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe geeignet ist, jedoch nicht dafür, die mangelnde gesetzgeberische Entschlossenheit zum Erlass einer ganz bestimmten Regelung zu überwinden. Indem das Gericht der Einheitlichkeit der Berufsausbildung eine Sonderstellung zuerkennt und sie zwanglos unter die Zielvorgabe der Wirtschaftseinheit subsumiert, stellt sich daher zwangsläufig die Frage, welche Beständigkeit die allgemeinen restriktiven Interpretationen der Zielvorgaben in Zukunft haben werden. Die Beflissenheit, mit der das Gericht dem vermeintlichen Willen des Gesetzgebers folgt, lässt zudem die gebotene Differenzierung vermissen. Die bisherigen Ausführungen des Gerichts zugrunde gelegt, besteht allein hinsichtlich der Berufsausbildung ein grundsätzliches Erfordernis bundesgesetzlicher Regelung. Nur diese sind nach der Ausnahme ,Regelung der Berufsausbildung integraler Bestandteil der Zielvorgabe Wahrung der Wirtschaftseinheit und zu deren Verwirklichung als erforderlich anzusehen. Die Ausbildung der Altenpfleger betrifft jedoch nur einen Teil der Bestimmungen des AltPflG. Andere Regeln betreffen die Berufsbezeichnung oder die Anerkennung im Ausland erworbener Kenntnisse. Für jene Bestimmungen des AltPflG, die nicht die Vereinheitlichung der beruflichen Bildung betreffen, hätte der allgemeine strenge Maßstab zur Anwendung kommen müssen. Davon lässt sich das Gericht indes nicht beirren, sondern proklamiert zu allem Überfluss ein weites Verständnis des Kriteriums der Vereinheitlichung der Berufsausbildung: „Dabei kommt es entscheidend nicht darauf an, ob der Bundesgesetzgeber die Vereinheitlichung der Berufsausbildung der Altenpfleger als selbstständigen oder überwiegenden Zweck verfolgt, oder ob dies für ihn nur ein Mittel ist, um das Leistungsniveau der Altenpflege insgesamt zu verbessern. Ungeachtet weiterreichender oder längerfristiger Ziele ist der Bundesgesetzgeber jedenfalls berechtigt, die Wirtschaftseinheit durch Vereinheitlichung der Berufsbildung zu wahren.“461

Die Botschaft lautet: Sofern die Vereinheitlichung der beruflichen Ausbildung einen Beitrag zur Lösung eines Problems zu leisten vermag, ist der Bundesgesetzgeber unter dem Rubrum Wahrung der Wirtschaftseinheit berechtigt, tätig zu werden. Dabei soll es nicht darauf ankommen, ob die Vereinheitlichung der Ausbildungen den

461

BVerfGE 106, 62 [158].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

Hauptzweck darstellt, ja sie muss nicht einmal als selbständiges Ziel verfolgt werden.462 Die Ausnahme von den strengen Erforderlichkeitsmaßstäben, für die sich das Gericht bis dahin zumindest auf den Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers stützen konnte, erfährt auf diese Weise eine unangemessen extensive Ausweitung. Das Gericht ermöglicht dem Bundesgesetzgeber, über den Weg der Regelung der Berufsausbildung auf weite Teile des zugrunde liegenden Lebensbereichs, die ihm eigentlich versagt sind, Einfluss zu nehmen, indem es ihn von vornherein von einer ausbildungsbezogenen Zweckbindung befreit. Auf diese Weise verschafft das Gericht dem Hauptziel des Bundesgesetzgebers – die Verbesserung der Pflegeversorgung durch ausreichenden Fachkräftenachwuchs – für das Art. 72 Abs. 2 GG an sich keine Basis darstellt, über den Umweg der Vereinheitlichung der Berufsausbildung doch noch ein kompetenzielles Fundament in Art. 72 Abs. 2 GG.463 Das Gericht verkennt hierbei, dass auf diese Weise die Einheitlichkeit der Berufsausbildung zum Vehikel des Bundesgesetzgebers bei Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung werden kann. Das Gericht schießt hier deutlich über das Ziel hinaus. Es mag dem verfassungsändernden Gesetzgeber wohl darum gegangen sein, die bundesgesetzliche Vereinheitlichung der Berufsausbildung zu ermöglichen. Dass er damit aber die Möglichkeit schaffen wollte, abweichende Primärziele zu verfolgen, muss inständig bezweifelt werden. Schließlich ist es derselbe Verfassungsgeber, der die Restriktion der konkurrierenden Gesetzgebung im entsprechenden Reformvorhaben veranlasst hat. Die Priorität der Verfassungsreform 1994, die ohne Zweifel auf der Einschränkung bundesgesetzgeberischer Tätigkeit lag, verlangt auch bei der Interpretation des Ausnahmetatbestandes Vereinheitlichung der Berufsausbildung eine strenge Begrenzung des Aktionsfeldes des Bundesgesetzgebers. Dem widerspricht es fundamental, wenn der Bundesgesetzgeber mit der Regelung der Berufsausbildung ein abweichendes Primärziel verfolgen können soll.464 Unter föderativem Blickwinkel erscheint dieser Teil der Entscheidung bedenklich, da er eine unnötige Ausweitung der Zielvorgabe Wahrung der Wirtschaftseinheit darstellt und dadurch die Anbindung an die allgemeine, grundsätzlich länderfreundliche Interpretation der Zielvorgaben verliert. Die fehlende Konsequenz des Gerichts mündet in der Beurteilung des AltPflG als verfassungsgemäß. Die konkrete Erforderlichkeit der bundesgesetzlichen Vereinheitlichung der Altenpflegeausbildung begründet das Gericht letztlich doch mit der fehlenden Einheitlichkeit der Länderregelungen, die weder Ausbildungsstandards noch ein einheitliches Berufsbild garantieren könnten.465 Auf die Voraussetzung ,erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft kommt das Gericht nicht 462

Depenheuer trifft den Kern, wenn er insoweit von einem Blankoscheck spricht; vgl. dens., ZG 2003, S. 177 (185). 463 Ebenfalls kritisch Brenner, JuS 2003, S. 852 (854). 464 Kritisch insofern auch Depenheuer, ZG 2003, S. 177 (185). 465 BVerfGE 106, 62 [161].

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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mehr zu sprechen. Im Ergebnis erkennt das Gericht hinsichtlich des AltPflG ein Erfordernis zu bundesgesetzlicher Regelung an, um dem Bundesgesetzgeber zu ermöglichen, eine Verbesserung der Altenpflege durch die Erhöhung der Zahl qualifizierter Fachkräfte zu erreichen. Wie das Gericht zutreffend erkennt, wird das AltPflG den Mangel an fachlich qualifiziertem Personal allein nicht beheben können. Gerade unter diesem Gesichtspunkt erscheinen die Zugeständnisse an den Bund zulasten der Länder als teuer erkauft.466 Der Logik der Restriktion der allgemeinen Konkretisierung der Zielvorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG und der grundsätzlichen Neubestimmung der Zielrichtung des Instituts der konkurrierenden Gesetzgebung hätte es entsprochen, die Länder verstärkt in die Verantwortung zu nehmen und zu einer effektiven Koordination ihrer Ausbildungsregelungen aufzufordern – etwa unter Hinweis auf die legislative Praxis im Bereich der Hochschulausbildung. Stattdessen geht von der Entscheidung das negative Signal aus, die Länder könnten die Berufsausbildung nicht im gesamtstaatlichen Sinne regeln, also muss der Bundesgesetzgeber handeln. Auf diese Weise entzieht das Gericht den Ländern die notwendige Legitimation, der sie an sich bedürfen, um jene Eigenstaatlichkeit zu verwirklichen, die das Bundesverfassungsgericht ihnen an anderer Stelle bestätigt. ee) Fazit Die Bewertung des Altenpflegeurteils fällt unter bundesstaatlichem Blickwinkel uneinheitlich aus. Dennoch stellt sie im Hinblick auf die Balance der Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat eine deutliche Kehrtwende des Bundesverfassungsgerichts zugunsten der Länder dar. In einer verfassungssystematischen Neubestimmung umschreibt das Gericht den Zweck der konkurrierenden Gesetzgebung mit der Öffnung eigenständiger Kompetenzräume der Länder. Das Gericht nimmt damit eine grundlegende Korrektur seiner bisherigen Rechtsprechung vor. Die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bundesgesetzgeber unterliegt nunmehr in vollem Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Einen injustiziablen Beurteilungsspielraum des Bundes im Sinne politischen Ermessens lehnt das Gericht ausdrücklich ab. Die Konkretisierung der Zielvorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG erfolgt betont restriktiv, so dass dessen Anwendungsbereich auf die Abwehr von föderalen Gefährdungslagen beschränkt erscheint. Unter Anwendung dieser engen Erforderlichkeitsvoraussetzungen wäre das AltPflG als verfassungswidrig zu beurteilen gewesen. In deutlichem Widerspruch zu der Strenge der allgemeinen Maßstäbe lässt das Gericht jedoch hier eine Ausnahme zu. Unter Berufung auf den Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers erkennt es für den Bereich der Berufsausbildung ein grundsätzliches Erfordernis bundesgesetzlicher Regelung zur Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse an. Damit stellt es die Bindungskraft der zuvor proklamierten engen Maßstäbe für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes sogleich wieder in 466

Brenner, JuS 2003, S. 852 (854).

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

Frage. Zusätzliche Zweifel an der Konsequenz des Gerichts nährt die extensive Auslegung der Kompetenz des Bundes zur Vereinheitlichung der Berufsausbildung. Obwohl das Primärziel des Bundesgesetzgebers nicht in der Vereinheitlichung der Berufsausbildung lag, sondern in der Verbesserung der Pflegesituation, einem Aspekt der Qualität der Lebensverhältnisse, befindet das Gericht das AltPflG für erforderlich zur Wahrung der Wirtschaftseinheit. Aufgrund der Überlagerung der neu formulierten restriktiven Maßstäbe des Art. 72 Abs. 2 GG durch die ,Erforderlichkeitsvermutung zugunsten berufsausbildungsbezogener Regelungen kann eine aussagekräftige Bewertung des Altenpflegeurteils nur unter Einbeziehung der nachfolgenden Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG vorgenommen werden. Der grundsätzliche Wille zu einer fundamentalen Neuausrichtung der Rechtsprechung zur konkurrierenden Gesetzgebung unter Berücksichtigung der bundesstaatlichen Intention des Reformgesetzgebers ist allerdings deutlich erkennbar. b) Weitere Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG i. d. F. von 1994 – 2006 Die dem Altenpflege-Urteil nachfolgende Entscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht seine zuvor formulierten Erforderlichkeitsmaßstäbe erneut anzuwenden hatte, konnte aufgrund der verbliebenen Unklarheiten nur mit großer Spannung erwartet werden. Zudem stand die Positionierung des bislang unbeteiligten Ersten Senates aus. Eben jener war es schließlich, der in BVerfGE 110, 141 – Kampfhundeverbot dem Bundesgesetzgeber erstmals die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz wegen fehlender Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung absprechen sollte. Der damalige § 143 Abs. 1 StGB sanktionierte Verstöße gegen landesrechtliche Verbote der Zucht und des Handels mit gefährlichen Hunden. Der Bundesgesetzgeber hatte sich statt einer Begründung mit der Feststellung begnügt, dass die Länder von ihrer Kompetenz zur strafrechtlichen Bewährung von Ge- und Verboten hinsichtlich gefährlicher Hunde keinen Gebrauch gemacht hätten. Unter Verweis auf das Altenpflege-Urteil bekräftigte der Senat zunächst die umfassende Justiziabilität der gesetzgeberischen Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht.467 Bereits die Aufklärung der vom Gesetzgeber versäumten Darlegung der Ziele und Gründe für den Erlass einer Bundesstrafnorm hielt es aber nicht für notwendig, da es jedenfalls an der Erforderlichkeit im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG fehle. Da nicht in allen Bundesländern entsprechende Verbote existierten, werde durch § 143 Abs. 1 StGB nicht nur keine Bundeseinheitlichkeit erreicht, sondern die bestehende Uneinheitlichkeit über die strafrechtliche Sanktionierung sogar noch verstärkt.468 Angesichts des offensichtlichen Fehlens eines Erfordernisses verzichtet das Gericht auf eine Subsumtion unter die einzelnen Zielvorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG. 467 468

BVerfGE 110, 141 [175]. BVerfGE 110, 141 [176 f.].

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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Erstmals erklärt das Bundesverfassungsgericht damit eine Bundesnorm wegen fehlender Erforderlichkeit bundesgesetzlicher Regelung für nichtig. Mit der Entscheidung, die Verwerfung eines Bundesgesetzes auch auf die fehlende Erforderlichkeit im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG zu stützen, bekennt sich der Erste Senat in vollem Umfang zu den Vorgaben des Altenpflege-Urteils und außerdem zu einer praktischen Umsetzung der restriktiven Interpretation der Erforderlichkeitsklausel im Sinne der Länder.469 Ebenfalls durch den Ersten Senat erfuhr Art. 72 Abs. 2 GG zumindest vorübergehend zusätzliche Bedeutung. In BVerfGE 111, 10 – Ladenschlussgesetz befasste sich das Gericht erstmals mit dem Verhältnis des Art. 72 Abs. 2 GG und der Übergangsvorschrift Art. 125a Abs. 2 GG. Obwohl Bundesgesetze, die unter der alten Bedürfnisklausel erlassen wurden, gemäß Art. 125a Abs. 2 Satz 1 GG als Bundesrecht fortgelten, sei der Bund insofern an die strengeren Erforderlichkeitskriterien gebunden, als er ohne deren Vorliegen lediglich einzelne Änderungen des alten Rechts vornehmen dürfe. Zu substanziellen Veränderungen oder grundlegenden Neukonzeptionen seien nur die Länder befugt, allerdings erst nach einer Freigabe durch den Bund.470 Das Gericht sorgt an dieser Stelle dafür, dass die Übergangsvorschrift nicht zu einer unbegrenzten Aufrechterhaltung der früheren extensiven konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes führt. Durch seine betont restriktive Interpretation des Art. 125a Abs. 2 Satz 1 GG ermöglicht es in gewisser Weise eine Korrektur der Folgen seiner Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F.471 Das regelmäßige Erfordernis grundlegend neuer Gesetzesfassungen führt danach zwangsläufig dazu, dass vormals unnötigerweise vom Bundesgesetzgeber geregelte Materien diesem zukünftig entzogen sind und nach und nach wieder an die Länder zurückfallen können.472 Wenig später hatte sich erneut der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Art. 72 Abs. 2 GG zu befassen – BVerfGE 111, 226 – Juniorprofessur, Urteil des Zweiten Senates vom 27. Juli 2004. Die zugrunde liegenden Normenkontrollen richteten sich gegen das Fünfte Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes, dessen Schwerpunkt die Einführung 469

I.d.S. Pestalozza, NJW 2004, S. 1840 (1843). BVerfGE 111, 10 [31]. 471 Vgl. Stettner, JZ 2005, S. 619 (623). 472 Diese Rspr. des BVerfG führte zu der begründeten Befürchtung des Bundesgesetzgebers, jeglichen Einfluss auf bestimmte Regelungsbereiche der konkurrierenden Gesetzgebung zu verlieren, die er vor der Verfassungsänderung 1994 wie selbstverständlich dominierte. Im Rahmen der Föderalismusreform 2006 wurde daraufhin die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes dahingehend neu konzipiert, dass seither nur noch ungefähr ein Drittel der Regelungsgegenstände des Art. 74 GG in Art. 72 Abs. 2 GG dem Erforderlichkeitsvorbehalt unterstellt sind. Vgl. die Darstellung der Beweggründe im Gesetzentwurf zur Föderalismusreform, BT-Drucks. 16/813, S.7; Stettner, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl., Bd. 2 (Art. 20 – 82), Supplementum 2007, Art. 72 Rdnr. 32; Häde, JZ 2006, S. 930 (932); Klein/Schneider, DVBl. 2006, S. 1549 (1550); Oeter, in: Starck (Hrsg.), Föderalismusreform, 2007, Rdnr. 21. – Als zukünftiges Konfliktfeld zwischen Bund und Ländern könnte sich der bundesgesetzgeberische Umgang mit entsprechenden Freigabeforderungen der Länder erweisen. 470

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

der neuen Personalkategorie des Juniorprofessors war. Unabhängig von einer Habilitation sollte es besonders befähigten jungen Wissenschaftlern ermöglicht werden, schon frühzeitig nach der Promotion eigenständig zu forschen und zu lehren, um den Wissenschaftsstandort Deutschland zu stärken.473 Die Antragstellerinnen rügten die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz und begründeten sie mit der fehlenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes. Der Bundesgesetzgeber sei allein für die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens gemäß Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a GG zuständig. Die Vorschriften über die Juniorprofessur würden von diesem Kompetenztitel jedoch nicht getragen, da sie in ihrer Regelungsdichte über die Festlegung allgemeiner Grundsätze deutlich hinausgingen. Zudem stehe der Juniorprofessur das Subsidiaritätsregulativ des Art. 72 Abs. 2 GG entgegen, da eine derartige bundesgesetzliche Vereinheitlichung nicht erforderlich sei.474 Die verfassungsgerichtliche Beurteilung der Rahmengesetzgebung nach Art. 75 GG fiel aufgrund restriktiver Norminterpretation deutlich zugunsten der Länder aus. Angesichts der vollständigen Aufgabe dieses Gesetzgebungstypus im Zuge der Föderalismusreform 2006 sei an dieser Stelle exemplarisch auf den ersten Leitsatz der Entscheidung verwiesen. Danach sah das Bundesverfassungsgericht die Rahmengesetzgebung des Bundes auf inhaltliche Konkretisierung und Gestaltung durch die Länder angelegt. Das Gericht befand, den Ländern habe ein eigener Bereich politischer Gestaltung von substantiellem Gewicht zu verbleiben.475 Da Art. 75 GG auf Art. 72 Abs. 2 GG verwies, sah sich das Gericht zu der einleitenden Klarstellung veranlasst, dass bei der Rahmengesetzgebung des Bundes an das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG keine geringeren Anforderungen gestellt werden dürften als bei der konkurrierenden Gesetzgebung.476 Anknüpfend an die Altenpflege-Entscheidung schickt der Zweite Senat, anders als der Erste Senat, der konkreten Prüfung des 5. HRGÄndG zunächst eine vollständige Zusammenfassung seiner jüngst entwickelten Maßstäbe voraus. Die konkrete Anwendung der Erforderlichkeitskriterien des Art. 72 Abs. 2 GG fällt sodann zuungunsten der Juniorprofessur aus. Entgegen der Gesetzesbegründung, die ausdrücklich darauf abstellt, schließt das Gericht die Erforderlichkeit des Änderungsgesetzes zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse von vornherein aus. In dieser Hinsicht sei ein Bundesgesetz nur dann erforderlich, „wenn gerade durch unterschiedliches Recht in den Ländern

473

BVerfGE 111, 226 [230]. BVerfGE 111, 226 [233 f.]. 475 BVerfGE 111, 226 [248]; kritisch insoweit das Sondervotum BVerfGE 111, 274 [281 f.]; eine „äußerst restriktive Interpretation der Rahmengesetzgebung“ erkennt Wrase, NJ 2004, S. 456 (457); ähnlich Sachs, EWiR 2004, S. 1087 (1087 f.). 476 BVerfGE 111, 226 [252]. 474

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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eine Gefahrenlage entsteht“.477 Dies wiederum sei etwa der Fall, wenn die Lebensverhältnisse sich zwischen Ländern in unerträglicher Weise auseinander entwickelten oder ein beruflicher Wechsel von einem Bundesland in ein anderes erheblich erschwert oder gar praktisch ausgeschlossen sei.478 Derartige Gefahrenlagen seien nicht ersichtlich. Ebenso fehle es an einer Rechtszersplitterung des Hochschulrechts der Länder, die ein Erfordernis bundesgesetzgeberischen Handelns zur Wahrung der Rechtseinheit begründen könnten. Hinsichtlich der ersten beiden Zielvorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG behält das Gericht also seinen restriktiven Kurs bei und betont zusätzlich die normative Zielrichtung der Gefahrenabwehr. Mit dieser deutlichen Konkretisierung des Normzwecks trägt es zur Gewährleistung des Gestaltungsspielraums der Länder bei. Allein das Erfordernis bundesgesetzlicher Regelung zur Wahrung der Wirtschaftseinheit betrachtet das Gericht nicht von vornherein als ausgeschlossen. Angesichts der Einheitlichkeit der bisherigen nationalen Bestimmungen sieht es die Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen Neuregelung der Einstellungsvoraussetzungen für Professoren allerdings unter den Vorbehalt gestellt, dass sich nur so erhebliche Wettbewerbsnachteile für den Hochschulstandort Deutschland vermeiden ließen. Im Ergebnis verneint das Gericht jedoch auch in dieser Hinsicht die Erforderlichkeit der Einführung der Juniorprofessur. Die pauschale Begründung des Gesetzgebers habe keine Anhaltspunkte für ein Erfordernis zur Wahrung der Wirtschaftseinheit ergeben. Die Gesetzesbegründung zur Darlegung der Erforderlichkeit habe ausschließlich auf die ”Funktionsfähigkeit des deutschen Hochschulsystems” abgestellt und verfolge im Kern das Ziel der Konkurrenzfähigkeit des Wissenschaftsstandortes. Die Wirtschaftseinheit der Bundesrepublik Deutschland sei daher bereits nach der Intention des Gesetzgebers allenfalls mittelbar tangiert. Unter dem Hinweis auf die zentrale Bedeutung der Juniorprofessur erklärt das Bundesverfassungsgericht schließlich das gesamte 5. HRGÄndG für nichtig.479 Auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts lieferte mit dieser Entscheidung den nunmehr vollständigen Nachweis seiner Entschlossenheit, die im Rahmen des Altenpflege-Urteils formulierten restriktiven Maßstäbe bei der Prüfung der Erforderlichkeitskriterien konsequent zur Anwendung zu bringen. Die Position der Länder im Kompetenzstreit mit dem Bund erfährt durch die Entscheidung eine weitere Aufwertung.480 Die Befürchtung einer lediglich nominellen Verschärfung des Er477

BVerfGE 111, 226 [265]. BVerfGE 111, 226 [265]. 479 Zur Kritik der abweichenden Richter im Hinblick auf die enge Auslegung der Erforderlichkeitsklausel vgl. das Sondervotum BVerfGE 111, 274 [277 f.]. 480 Krausnick, DÖV 2005, S. 902 (908); Janz, JuS 2004, S. 852 (855); Stettner, JZ 2005, S. 619 (619); Depenheuer, ZG 2005, S. 81 (86); i.E. ebenso Wrase, NJ 2004, S. 457 (458), der allerdings Zweifel an der hohen Kontrolldichte anmeldet; Kontinuität gegenüber dem Altenpflege-Urteil erkennt auch Sachs, EWiR 2004, S. 1087 (1088), der die Entscheidung ebenfalls 478

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

forderlichkeitsmaßstabes des Art. 72 Abs. 2 GG kann damit als ausgeräumt angesehen werden. Seine fortwährende Bereitschaft, die strengen Maßstäbe des Art. 72 Abs. 2 GG auf die Rahmengesetzgebung des Bundes anzuwenden, stellte das Gericht nur wenige Monate später erneut unter Beweis. In seinem Urteil vom 26. Januar 2005, BVerfGE 112, 226 – Studiengebühren, bestätigte der Zweite Senat seine restriktive Handhabung des Art. 72 Abs. 2 GG erneut. Zu den Kernpunkten des angefochtenen 6. HRGÄndG gehörten die Festlegung der Gebührenfreiheit des Erststudiums und die Pflicht der Länder zur Bildung verfasster Studierendenschaften. Das sozialstaatliche Anliegen, möglichst breiten Kreisen der Bevölkerung den Zugang zum Hochschulstudium zu eröffnen und finanzielle Barrieren zu verhindern, erfüllt nach Ansicht des Senates nicht die Zielvorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG.481 Die Erhebung von 500 E Gebühren pro Semester führe nicht zu einer die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gefährdenden Benachteiligung.482 Auch die Befürchtungen erheblicher Abwanderungen und anschließender Kapazitätsprobleme in den Ländern ohne Gebührenpflicht bildeten insofern keine ausreichende Grundlage für eine gegenteilige Bewertung.483 Anders als im Fall der Altenpflegeausbildung stelle die Festlegung der Gebührenfreiheit keine Vereinheitlichung der Berufsausbildung dar, die zur Wahrung der Wirtschaftseinheit erforderlich sei.484 Überdies habe der Bundesgesetzgeber vernachlässigt, dass die Einführung von Studiengebühren den Ländern die Möglichkeit biete, die Qualität der Ausbildung zu erhöhen und auf diese Weise der Gesamtwirtschaft zu dienen.485 Für die bundesweite Einführung verfasster Studierendenschaften sieht das Gericht ebenfalls kein Erfordernis dargelegt. Allein aufgrund der mangelnden Erforderlichkeit erklärt das Gericht die betreffenden Vorschriften für nichtig. Neben der weiteren Konsolidierung seiner strengen Maßstäbe verdient vor allem der Umstand Beachtung, dass das Gericht gravierende Uneinheitlichkeiten bei der Regelung finanzieller Vorbedingungen des Hochschulstudiums zulässt, ohne zu versäumen, die Länder an ihre Pflicht zur Wahrung gleicher Bildungschancen zu erinnern.486 Das Gericht unterstützt damit föderale Vielfalt, indem es unterschiedliche Wege legitimiert, setzt aber bestimmt voraus, dass die Länder ihre staatliche Verantwortung wahrnehmen.487 Das Credo lautet: Föderale Eigenständigkeit im Einklang mit der Wahrnehmung bundesstaatlicher Verantwortung. kritisch hinterfragt, sie aber „im Kern den Intentionen der Grundgesetzänderung von 1994“ entsprechend ansieht. 481 BVerfGE 112, 226 [244]. 482 BVerfGE 112, 226 [245]. 483 BVerfGE 112, 226 [246]. 484 BVerfGE 112, 226 [249]. 485 BVerfGE 112, 226 [250]. 486 BVerfGE 112, 226 [245]. 487 I.d.S. Stettner, JZ 2005, S. 619 (623); Depenheuer, ZG 2005, S. 81 (91); Krausnick, DÖV 2005, S. 902 (908).

I. Die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes

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Ohne von seiner nunmehr gefestigten Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG abzuweichen, bejahte das Gericht in BVerfGE 113, 167 die Erforderlichkeit des bundesgesetzlichen Risikostrukturausgleichs der gesetzlichen Krankenversicherung. Die bundesweite Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung habe elementare Bedeutung für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland und hänge daher praktisch von einer bundesweit einheitlichen Regelung ab.488 Ebenso sah es in BVerfGE 114, 196 das Beitragssatzsicherungsgesetz aus dem Jahr 2002 zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit als erforderlich an. Eine annähernd gleichmäßige wirksame Begrenzung der Kassenbeiträge sei nur durch bundeseinheitliche Reglementierung der Kosten für Waren und Dienstleistungen im Gesundheitswesen zu gewährleisten. Unterschiedliche Länderregelungen führten unweigerlich zu einem Wettbewerb auf dem Gebiet der Preisreglementierungen, der wiederum zu unterschiedlicher Versorgungsqualität in den Ländern führen müsse.489 In BVerfGE 119, 59, einem Beschluss des Ersten Senates vom 3. Juli 2007, übernahm dieser das vom Zweiten Senat im Altenpflege-Urteil proklamierte Erforderlichkeitsdogma hinsichtlich der Vereinheitlichung der Berufsausbildung für den Bereich der Hufpflegeberufe.490 Die notwendige Beschränkung der Gesetzgebungszuständigkeit auf jene Bestimmungen des Gesetzes, die tatsächlich die Berufsausbildung betreffen, bleibt das Gericht auch in dieser Entscheidung schuldig.

3. Zusammenfassung Die Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes ergibt ein ambivalentes Bild. Im Hinblick auf ihre bundesstaatliche Relevanz lassen sich zwei völlig entgegengesetzte Phasen unterscheiden, die auf die unterschiedlichen Fassungen des Art. 72 Abs. 2 GG, aber auch auf einen deutlichen Sinneswandel des Gerichts zurückzuführen sind. In der ersten Phase von 1951 bis 2002 negierte das Gericht den Subsidiaritätsappell der Bedürfnisklausel, indem es, unter Bezugnahme auf die Vorranggesetzgebung der WRV, die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung als weitestgehend injustiziable politische Ermessensentscheidung des Bundesgesetzgebers einordnete. Eine verfassungsrechtliche Argumentation findet sich in der Jahrzehnte währenden Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F. nicht. Stattdessen ist von Anbeginn eine unverkennbare verfassungspolitisch motivierte Tendenz zugunsten eines weiten Gestaltungsspielraums des Bundesgesetzgebers zu verzeichnen. In der Folge kam es zu einer extensiven Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund, wodurch sich der gesetzgeberische Gestaltungsraum der Länder zwangsläufig verkleinerte. Das Bundesverfassungsgericht trieb ungeachtet der zahlreichen kriti488 489 490

BVerfGE 113, 167 [198]. BVerfGE 114, 196 [222 f.]. BVerfGE 119, 59 [82 f.].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

schen Stimmen die Unitarisierung auf dem Gebiet der Gesetzgebung erheblich voran und trug damit entscheidend zum Machtverlust der Länderparlamente bei. Diese Entwicklung und der kausale Beitrag des Bundesverfassungsgerichts wurden seit den 1970er Jahren als unvereinbar mit der bundesstaatlichen Kompetenzbalance angesehen. Da eine entsprechende Verfassungsänderung jedoch zwangsläufig mit einer Verringerung der Bundeskompetenzen einhergehen musste, bedurfte es weiterer Jahrzehnte, bis sich der Bundesgesetzgeber im Jahr 1994 zu einer wirksamen Reform durchringen konnte. Die entscheidende Zäsur in der Rechtsprechung stellt das Altenpflege-Urteil aus dem Jahr 2002 dar. Durch den unmissverständlichen Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers sah sich das Gericht nunmehr zu einer völligen Neuausrichtung seiner Rechtsprechung veranlasst. Die erstmalige Anwendung der neuen Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG nutzte das Gericht zu einer durchaus selbstkritischen Distanzierung von seiner früheren Rechtsprechung. Am grundsätzlichsten wird dies anhand der verfassungssystematischen Zweckbestimmung der konkurrierenden Gesetzgebung deutlich. Das Gericht bezeichnet es als den Sinn der gesamten föderalen Verfassungssystematik, den Ländern eigenständige Kompetenzräume für partikulardifferenzierte Regelungen zu eröffnen. Die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bundesgesetzgeber unterliegt seither in vollem Umfang der verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Einen injustiziablen Beurteilungsspielraum lehnt das Gericht ausdrücklich ab. Die Zielvorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG konkretisiert es betont restriktiv, so dass sich zu ihrer Inanspruchnahme regelmäßig eine bundesstaatliche Gefahrenlage abzeichnen muss. Den Bundesgesetzgeber sieht das Gericht insofern zu sorgfältigen Ermittlungen und Prognosen sowie zur Begründung seiner Entscheidung verpflichtet. In Abweichung von den allgemeinen Maßstäben sieht das Gericht ein Erfordernis bundesgesetzlicher Regelung zur Wahrung der Wirtschaftseinheit bereits dann als gegeben an, wenn es um die Vereinheitlichung der Berufsausbildung geht. Diese auf den Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers zurückführbare Ausnahme verlangt jedoch ebenfalls eine einschränkende Interpretation. Dies verkennt das Gericht, wenn es, wie geschehen, Gesetze als erforderlich ansieht, die nur zum Teil die Vereinheitlichung der Berufsausbildung verfolgen, aber im Kern einem abweichenden Primärziel dienen. Eine differenzierte Behandlung der einzelnen Bestimmungen eines Gesetzeswerkes ist insofern geboten. Im Ergebnis ist jedoch festzuhalten, dass das Gericht die mit dem Altenpflege-Urteil eingeleitete Kehrtwende seiner Rechtsprechung zur konkurrierenden Gesetzgebung nachhaltig vollzogen hat. Insbesondere mit der Verwerfung einiger Bundesgesetze hat das Gericht seinen Willen zum Schutz der Länder unter Beweis gestellt und den Bundesgesetzgeber in seine Schranken verwiesen. Die Unterschiedlichkeit der Ländergesetzgebung hat es als positiven Ausdruck des Föderalismus gewürdigt und die Länder auf diese Weise zur legislativen Wahrnehmung ihrer Eigenstaatlich-

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

159

keit ermutigt. Mittlerweile ist es daher angebracht, von einer gefestigten Rechtsprechung zugunsten der Länder zu sprechen. Der durch diese föderalismusfreundliche Judikatur gerade erst erweiterte Gestaltungsspielraum der Länder wurde durch die erneute Modifikation der konkurrierenden Gesetzgebung im Rahmen der Föderalismusreform bereits wieder drastisch verringert. Den verfassungsändernden Gesetzgeber hat angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts offensichtlich der Mut verlassen. Ein Rückfall in die Verhältnisse vor 1994 ist dennoch nicht zu befürchten, da die Länder an anderer Stelle gestalterischen Spielraum hinzugewonnen haben. Das Gericht bleibt jedoch gefordert, seine Erkenntnis einer zugunsten der Länder ausgerichteten föderalen Verfassungssystematik konsequent weiterzuverfolgen.

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates gemäß Art. 84 Abs. 1 GG a.F. in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Kaum ein anderes Thema hat die öffentliche Wahrnehmung des deutschen Föderalismus bis zur Föderalismusreform 2006 stärker geprägt als die allgegenwärtige Klage der jeweiligen Bundesregierungen über die Blockade ihrer Gesetzgebungsvorhaben durch die Ländermehrheit im Bundesrat. Den verfassungsrechtlichen Hintergrund bildete primär das Zustimmungsrecht des Bundesrates gemäß Art. 84 Abs. 1 GG a.F.. Danach waren verfahrensrechtliche Vorgaben des Bundes für den Vollzug der Bundesgesetze durch die Länder zwar grundsätzlich zulässig, zugleich aber von der Zustimmung des Bundesrates abhängig. Das Interesse von Bundesregierung und Bundestag an einem einheitlichen Vollzug der Bundesgesetze musste naturgemäß groß sein, ebenso wie das Anliegen, bedeutende Gesetzesvorhaben von den Länderregierungen mittragen zu lassen. Aufgrund der uneinheitlichen Wortwahl des Grundgesetzes war dem Verfassungstext selbst nicht zu entnehmen, ob das Zustimmungserfordernis des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. lediglich die verfahrensrechtlichen Regelungen betreffen sollte oder sich auch auf die materiellen Bestimmungen des Gesetzesbeschlusses erstreckte. Im Kern ging es hierbei um die richtungsweisende Beantwortung der Frage, ob die Länderregierungen über den Bundesrat Einfluss auf die materielle Gesetzgebung auf Bundesebene erlangen sollten. Aufgrund der oft gegenteiligen politischen Interessen von Bundestag und Bundesrat war es daher lediglich eine Frage der Zeit, wann das Bundesverfassungsgericht Stellung zu dieser Frage beziehen musste. Die bindende Auffassung des Gerichts musste das Erscheinungsbild des deutschen Föderalismus entscheidend beeinflussen. Ohne die anschließend dargelegten Untersuchungsergebnisse vorwegzunehmen: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. kristallisierte sich bereits im Rahmen der frühen Vorarbeiten zur Föderalismusreform als ein

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

Kernproblem der bundesstaatlichen Kompetenzverflechtung heraus.491 Aufgrund der weiterführenden Erkenntnisse der Arbeit der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung wurde Art. 84 Abs. 1 GG mittlerweile durch die sogenannte erste Stufe der Föderalismusreform derart verändert, dass der Bund ohne Zustimmung des Bundesrates verfahrensrechtliche Regelungen treffen kann, die Länder hiervon jedoch abweichen dürfen und das jeweils später erlassene Gesetz Vorrang genießt. Die Frage der Reichweite der Zustimmung des Bundesrates könnte dennoch in ähnlicher Weise erneut Relevanz erlangen. Gemäß Art. 84 Abs. 1 Satz 5 GG kann der Bund in Ausnahmefällen wegen eines besonderen Bedürfnisses nach einheitlicher Regelung das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsmöglichkeit für die Länder regeln. Hierbei ist er gemäß Art. 84 Abs. 1 Satz 6 GG jedoch wiederum auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen. Die Rechtsprechung zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. verdient dementsprechend sowohl unter historischem Blickwinkel als auch in aktueller Hinsicht besondere Aufmerksamkeit.

1. BVerfGE 8, 274 – Preisgesetz 1948 (Beschluss des Zweiten Senates vom 12. November 1958) Den Ausgangspunkt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 84. Abs. 1 GG a.F. markiert die Entscheidung des Zweiten Senates zum Übergangsgesetz über Preisbildung und Preisüberwachung492. Das sogenannte Preisgesetz vom 10. 04. 1948 – seinerzeit erlassen vom Wirtschaftsrat des vereinigten Wirtschaftsgebietes der britischen und der amerikanischen Besatzungszone – blieb auch nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Bis zum Zeitpunkt des Senatsbeschlusses wurde es durch sechs Verlängerungsgesetze aufrechterhalten.493 Nach seiner Konstitution am 7. September 1949 hatte der Bundesrat dem 2. und 3. Gesetz zur Verlängerung der Geltungsdauer des Preisgesetzes gemäß Art. 84. Abs. 1 GG a.F. noch ausdrücklich zugestimmt. Bei der Beratung und Beschlussfassung über die folgenden Verlängerungsgesetze ging der Bundesrat nach eigenem Bekunden auch weiterhin von der Zustimmungsbedürftigkeit der Gesetze aus. Er habe mit seinen Beschlüssen, keinen Antrag auf ein Vermittlungsverfahren zu stellen, seine Zustimmung zum Ausdruck bringen wollen. Obgleich eine ausdrückliche

491 Vgl. den Bericht zur staatlichen Kompetenzordnung der Bund/Länderarbeitsgruppe Innerstaatliche Kompetenzordnung des Lenkungsausschusses Föderalismusreform v. 17. 12. 2002, S. 42 ff., zzgl. Arbeitsgrundlage 0002 der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung: URL: http://www.bundesrat.de/cln_099/nn_8364/DE/foederalismus/ bundesstaatskommission/unterlagen/AU-002,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/ AU-002.pdf. 492 WiGBl. 1948, S. 27. 493 Vgl. BVerfGE 8, 274 [279].

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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Zustimmung versäumt wurde, seien die Beschlüsse dennoch als Zustimmungsbeschlüsse auszulegen.494 Mehrere Gerichte, darunter auch das Bundesverwaltungsgericht, hatten dem Bundesverfassungsgericht das Preisgesetz i. d. F. der verschiedenen Verlängerungsgesetze zur konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG vorgelegt. Die Antragsteller machten aus jeweils unterschiedlichen Gründen Zweifel am verfassungsgemäßen Bestand des Preisgesetzes geltend.495 Allein das Amtsgericht Köln rügte die formelle Verfassungswidrigkeit wegen fehlender Zustimmung des Bundesrates nach Art. 84 Abs. 1 GG a.F.496 Zwischen Bundesregierung und Bundesrat war die Zustimmungsbedürftigkeit der nachkonstitutionellen Gesetze zur Verlängerung des Preisgesetzes gemäß Art. 84 Abs. 1 GG a.F. zu keinem Zeitpunkt umstritten gewesen.497 Obwohl der Bundesrat seine Zustimmung nicht ausdrücklich erteilt hatte, wurden weder von der Bundesregierung noch von Bundestag und Bundesrat die wirksame Zustimmung zu den Verlängerungsgesetzen in Frage gestellt.498 Auch das Bundesverfassungsgericht bestätigte im Ergebnis das Vorliegen der Zustimmung zu den in Frage stehenden Verlängerungsgesetzen. Zunächst aber stellt der Beschlusstext im Rahmen der Ausführungen zur Zulässigkeit klar, dass die Verlängerung der Geltungsdauer eines Gesetzes dem Erlass eines neuen Gesetzes gleichkommt und in der Konstellation des Art. 84 Abs. 1 GG dementsprechend auch der erneuten Zustimmung des Bundesrates bedarf.499 Eingangs hatte das Gericht zu prüfen, ob und durch welche Norm die Zustimmungsbedürftigkeit gemäß Art. 84 Abs. 1 GG a.F. ausgelöst wurde. Ungeachtet der Vielzahl sonstiger in Frage kommender Bestimmungen des Preisgesetzes nimmt die Entscheidungsbegründung lediglich exemplarisch Bezug auf § 9 Abs. 2 PreisG. Mit dieser Vorschrift, so das Bundesverfassungsgericht, normiere der Bund die Zustellung von Verfügungen der Länderbehörden nach Maßgabe der Zivilprozessordnung und nehme insofern Einfluss auf das Länderverfahren.500

494

Vgl. zur Stellungnahme des Bundesrates BVerfGE 8, 274 [287]. BVerfGE 8, 274 [281 ff.]. Die unterschiedlichen Vorlagen reduzierte das Gericht auf die Fragen, ob § 2 des Preisgesetzes, den es als den Kern des Gesetzes bezeichnete, i. d. F. der Verlängerungsgesetze insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar sei, als die Vorschrift den Bundeswirtschaftsminister ermächtigte, Rechtsverordnungen nach Abs. 1 des § 2 zu erlassen, sowie die obersten Landesbehörden ermächtigte, bestimmte Verfügungen zu erlassen; vgl. [293]. 496 Der folgenden Darstellung liegen dementsprechend allein die Untersuchungsergebnisse im Hinblick auf die Vorlage des AG Köln zugrunde. 497 BVerfGE 8, 274 [287]. 498 BVerfGE 8, 274 [287]. 499 BVerfGE 8, 274 [290]. 500 BVerfGE 8, 274 [294]. 495

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

a) Materielles Zustimmungsrecht des Bundesrates Sodann nimmt das Gericht erstmals Stellung zur Reichweite des Zustimmungsrechts des Bundesrates gemäß Art. 84 Abs. 1 GG a.F. „Regelt aber ein Bundesgesetz, das die Länder als eigene Angelegenheit ausführen, das Verwaltungsverfahren der Landesbehörden, so bedarf nach Art. 84 Abs. 1 GG das Gesetz als Ganzes der Zustimmung des Bundesrates. Zustimmungsbedürftig ist nicht die einzelne Vorschrift über das Verwaltungsverfahren. Der Ausdruck ,Bundesgesetz am Ende von Art. 84 Abs. 1 GG meint nicht – wie etwa Art. 100 Abs. 1 GG – das Gesetz im Sinne einer einzelnen Norm, sondern das Gesetz als gesetzgebungstechnische Einheit (Held, a.a.O. S. 59 f.; Haas, a.a.O. S. 85; a. A. Hans Schneider, DVBI. 1953, 257 ff.). Das folgt vor allem aus Art. 78 GG. Das ,vom Bundestage beschlossene Gesetz sei das durch einen Gesetzesbeschluss des Bundestages zu einer Einheit zusammengefasste Gesetz. Dieses Gesetz komme nach Art. 78 GG nur zustande, wenn der Bundesrat zustimme, sofern nach Art. 84 Abs. 1 GG oder anderen Vorschriften des Grundgesetzes seine Zustimmung notwendig sei.“501

Ein Gesetz könne, „was den Vorgang seiner Entstehung angeht, nur als Ganzes gesehen und behandelt werden“. Sähe man als zustimmungsbedürftig lediglich die einzelnen, das Verfahren regelnden Normen der Gesetze an, so würden sich „kaum überwindbare Schwierigkeiten im Gesetzgebungsverfahren und bei der Verkündung der Gesetze ergeben“. Schließlich entspreche es „der ständigen Übung von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung, das ganze Gesetz als der Zustimmung des Bundesrates bedürftig anzusehen“.502 Im Ergebnis erstreckte das Gericht den Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates auf den gesamten materiellen Gehalt des Bundestagsbeschlusses. Da das ,Gesetz im Gesetzgebungsverfahren vor dem Bundestag als Ganzes behandelt werde, müsse dies auch für die Zustimmung durch den Bundesrat gelten. Untermauert wird dieses Ergebnis mit Praktikabilitätserwägungen und der vorgefundenen Verfassungspraxis. Es stattete somit den Bundesrat angesichts eines lediglich verfahrensrechtlichen Ingerenzrechts des Bundestages mit einem Vetorecht sowohl gegenüber den verfahrensrechtlichen als auch den materiellen Bestimmungen des Bundestagsbeschlusses aus. Es unterstellt also nicht, wie angesichts der Restriktion des Ingerenzrechts durchaus zu erwarten gewesen wäre, lediglich jene Vorschriften mit verfahrensregelndem Inhalt unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Bundesrates, sondern den gesamten parlamentarischen Beschluss. Das Gericht nimmt hiermit eine extensive Verfassungsauslegung vor, die als ausgesprochen bundesratsfreundlich einzuordnen ist und bei unbefangener Betrachtung der systematischen Stellung und der Zielrichtung des Art. 84 Abs. I GG nicht zu erwarten war.503

501

BVerfGE 8, 274 [294 f.]. BVerfGE 8, 274 [295]. 503 So auch Herzog, der von einer der „größten Überraschungen beim Vollzug des Grundgesetzes“ sprach, ders., in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, 1974, S. 235 (242). 502

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

163

b) Stellungnahme zur Funktion des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. Der VIII. Abschnitt des Grundgesetzes trägt die Überschrift ,Die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung. Entgegen der nahe liegenden Möglichkeit, den Vollzug der Bundesgesetze ebenfalls dem Bund zuzuweisen, manifestiert Art. 83 GG seit jeher die gegenteilige Grundregel: „Die Länder führen die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zulässt.“ Dieser Zentralsatz des deutschen Föderalismus entzieht also dem Bund die Hoheit über den Vollzug des größten Teils der vom Bundestag beschlossenen Gesetze.504 – Art. 84 Abs. 1 a.F. GG schloss in diesem Sinne an: „Führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, so regeln sie die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren, soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen.“ In beiden Bestimmungen kommt eine der wesentlichen Grundentscheidungen des Verfassungsgebers zum Ausdruck, die den deutschen Föderalismus entscheidend prägen. Der Bund in Gestalt des Parlamentes ist für die Gesetzgebung auf Bundesebene zuständig, die Länder sind es hinsichtlich des Vollzugs der Bundesgesetze.505 Der kompetenziellen Dominanz des Bundes im Bereich der Gesetzgebung steht die nach dem Grundgesetz umfassende Verwaltungszuständigkeit der Länder gegenüber. Diese Zuständigkeitsaufteilung ist der Kern des bundesstaatlichen Kompetenzgefüges und zugleich ein Element zusätzlicher funktionaler Gewaltenteilung, wie das Gericht zu einem späteren Zeitpunkt selbst betonte.506 Von dieser Regelzuständigkeit der Länder im Bereich der Verwaltung formulierte Art. 84 Abs. 1 GG a.F. zugleich die bedeutendste Ausnahme.507 Im letzten Nebensatz wurde dem Bund – gemeint war der Bundestag – das Recht gewährt, gewissen Einfluss auf den Vollzug der Bundesgesetze durch die Länder zu nehmen. Dieses restriktive Ingerenzrecht des Bundes erstreckte sich explizit auf verfahrensrechtliche Vorgaben für den Vollzug der Bundesgesetze durch die Länder. Der Bundestag konnte also Gesetze beschließen, die neben materiellen Bestimmungen auch Vorgaben für das Verwaltungsverfahren und die Behördeneinrichtung enthielten. Diese Einflussnahme auf das Verwaltungsverfahren der Länder beim Vollzug von Bundesgesetzen stand jedoch wiederum unter dem Vorbehalt des Bundesrates, der die Aufrechterhaltung des Kernprinzips der Verwaltungshoheit der Länder bezweckte.508 Demnach besaß das Ingerenzrecht des Bundestages, was seine Durchsetzungsfähigkeit anbelangte, lediglich die Qualität eines Vorschlagsrechts, da letztlich nicht der Bundestag 504 Hingegen sind die Gegenstände bundeseigner Verwaltung eng begrenzt, wie Art. 87 GG zu entnehmen ist. 505 Vgl. nur Dittmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 83 Rdnr. 1. 506 Vgl. BVerfGE 55, 274 [318]. 507 Vgl. Haghgu, Die Zustimmung des Bundesrates, 2007, S. 82 unter Bezugnahme auf Dästner, ZParl 2001, S. 290 ff. 508 So das Gericht später in BVerfGE 37, 363 [380] sowie 55, 274 [318 f.].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

über die Inkraftsetzung der von ihm entworfenen Verfahrensvorschriften zu entscheiden hatte, sondern die Mehrheit der Länderregierungen im Bundesrat. Wie bereits betont: Betrachtet man das dargestellte Kompetenzgefüge des Grundgesetzes allein im Hinblick auf die Bundesgesetze, so lag und liegt der Schwerpunkt der Kompetenzen hinsichtlich der Gesetzgebung auf Seiten des Bundes, jener der Länder beim Vollzug. Räumte nun Art. 84 Abs. 1 GG a.F. dem Bund dennoch ein Ingerenzrecht hinsichtlich des Vollzugs durch die Länder ein und stellt diese andererseits unter den Vorbehalt der Zustimmung des Bundesrates, so durfte man mit Fug und Recht annehmen, dass durch die Inanspruchnahme dieser Rechte der grundsätzliche Kompetenzdualismus nicht berührt, sondern gewährleistet werden sollte. Angesichts dessen, dass der Verfassungsgesetzgeber die Verwaltungshoheit der Länder dem Grunde nach unangetastet ließ, bestand jedoch kein Anlass davon auszugehen, er habe beabsichtigt, dem Bundesrat Einfluss auf die materiell-rechtliche Gesetzgebungshoheit des Bundestages verschaffen zu wollen. Weder sollten die Länder die Entscheidungsgewalt über den Vollzug der Bundesgesetze verlieren noch sollte der Bundestag in seiner Gesetzgebungshoheit beschränkt werden. Regelrecht widersinnig erscheint es daher anzunehmen, dass dem Ingerenzrecht des Bundes, das im Kern lediglich ein Vorschlagsrecht darstellte, ein weitgehendes materielles Vetorecht des Bundesrates gegenübertreten sollte, mit dem die Gesetzgebungshoheit des Bundestages ausgehebelt werden konnte. Ganz im Gegenteil sprach unter den gegebenen Umständen alles dafür, Art. 84 Abs. 1 GG a.F. als Normierung eines ausgewogenen, in sich geschlossenen Konzepts von wechselseitigem Ingerenzrecht und Vetorecht anzusehen509, das keineswegs eine über den verfahrensrechtlichen Bereich hinausgehende Rechtswirkung entfalten sollte. c) Kritik Das Gericht setzte sich zu diesen systematisch und teleologisch unproblematisch erreichbaren Erkenntnissen in deutlichen Widerspruch, indem es dem Bundesrat zugestand, neben den formellen Vorgaben hinsichtlich des Gesetzesvollzugs auch die materielle Entscheidung des Bundestages blockieren zu können. Das Ländergremium Bundesrat erfuhr auf diesem Weg eine extensive Ausweitung seiner Macht, die der grundsätzlichen Kompetenzverteilung hinsichtlich Erlass und Vollzug von Bundesgesetzen widersprach. Nicht die Länderparlamente, sondern lediglich die Landesregierungen, denen als Verwaltungsträgern die Durchführung der Bundesgesetze oblag, erhielten auf diese Weise eine ungerechtfertigt weite Machtfülle. In letzter Konsequenz führt die extensive Ausweitung des Vetorechts des Bundesrates zu 509 So das BVerfG selbst, das die Funktion des Zustimmungserfordernisses darin sieht, zu verhindern, „dass Systemverschiebungen im bundesstaatlichen Gefüge im Wege der einfachen Gesetzgebung herbeigeführt werden.“, vgl. BVerfGE 37, 363 [379]; 48, 127 [178]. I.d.S. auch BVerfGE 55, 274 [319], wonach Art. 84 Abs. 1 GG die Länder „vor einem Eindringen des Bundes in den ihnen vorbehaltenen Bereich der Verwaltung schützen“ solle.

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

165

dem geradezu grotesken Ergebnis, dass sich der Bundesgesetzgeber im Rahmen eines einheitlichen Gesetzgebungsvorhabens nicht nur dem verfahrensrechtlichen Zustimmungsrecht des Bundesrates unterwarf, sondern seine originäre materielle Rechtssetzungshoheit aufgab. Über die Befremdlichkeit dieses Ergebnisses kann auch nicht die später vom Gericht eingeräumte Möglichkeit hinweghelfen, eine Aufteilung in ein materielles und ein verfahrensrechtliches Gesetz vorzunehmen. Die Durchsetzungsfähigkeit der materiellen Gesetzgebungskompetenz des Bundestages kann nicht davon abhängen, ob er den Bundesrat umgeht. Dies entspricht weder dem Rang des Bundestages noch dem des Bundesrates.510 Soweit im Hinblick auf die zuvor dargelegten Widersprüche zum offensichtlichen Regelungszweck des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. überhaupt ein materiell-rechtliches Zustimmungsrecht des Bundesrates in Frage gekommen wäre, hätte dies in jedem Fall einer tief greifenden dogmatischen Auseinandersetzung und fundierten Begründung bedurft. Die Entscheidungsgründe des Urteils vermögen in Anbetracht der vorausgegangenen Darlegungen jedoch nicht zu überzeugen. Eine angemessene Auseinandersetzung mit Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Zweck des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. findet nicht statt.511 Rein formalistisch interpretiert das Gericht den fraglichen Passus des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. – „soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen“ – dahingehend, dass der Bundesrat nur der gesetzgebungstechnischen Einheit, also der Gesamtheit aller unter einer Gesetzesbezeichnung beschlossenen Einzelvorschriften, zustimmen könne. Es stützt seine Ansicht primär auf Art. 78 GG, wonach das Zustandekommen von Gesetzen durch Zustimmung des Bundesrates nur in der durch den Bundestagsbeschluss vorgegebenen Einheit vorgesehen sei. Wenn – so ist das Gericht zu verstehen – Bundesgesetzte nur als Einheit vom Bundestag beschlossen werden könnten, so müsse in Art. 84 Abs. 1 GG a.F. auch nur die Zustimmung des Bundesrates zu einer solchen Einheit gemeint sein. 510

Dies verkennt insb. Isensee, wenn er es als „kardinalen Fehler“ der hier vertretenen Ansicht ansieht, den Rang des Bundesrates nicht genügend zu würdigen, vgl. Isensee, in: Brink/ Wolff, FS für v. Arnim, 2004 S. 603 (622). Wenn einseitig die verfassungsrechtliche Stellung des Bundesrates zur Begründung der Reichweite seines Zustimmungsrechts angeführt wird, so entbehrt dies jedoch zum einen der notwendigen normativen Basis und lässt andererseits den Rang des demokratisch legitimierten Gesetzgebungsorgans Bundestag, in dessen Hoheitsbereich tatsächlich eingedrungen wird, zu Unrecht außer Betracht. 511 Erwähnt sei daher die nahezu unbestrittene Einschätzung, dass der Wortlaut des Art. 84. Abs. 1 a.F. GG keinen zuverlässigen Aufschluss über die Reichweite des Zustimmungserfordernisses geben konnte, da der Ausdruck Bundesgesetz im Text des Grundgesetzes in unterschiedlicher Bedeutung vorkommt. Vgl. statt aller: Trute, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, 5. Aufl. 2005, Art. 84 Rdnr. 24 sowie Haghgu, Die Zustimmung des Bundesrates, 2007, S. 224. – Ebenso wurde zu Recht allgemein davon ausgegangen, dass die Entstehungsgeschichte des Art. 84. Abs. 1 GG keinen zuverlässigen Aufschluss über das Bezugsobjekt des Zustimmungsvorbehalts geben könne. So bereits Haas, AöR 80 (1955/56), S. 81 (86); Schulze-Fielitz, DVBl. 1982, S. 328 (329); vgl. auch die Darstellungen von Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.3, 2. Aufl. 2008, Art. 84 Rdnr. 6 sowie zuletzt ausführlich Haghgu, Die Zustimmung des Bundesrates, 2007, S. 140 ff.

166

4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

Diese Begründung greift freilich zu kurz, da damit ein unmittelbarer Schluss von dem Gegenstand und dem Vorgang des Zustandekommens von Bundestagsbeschlüssen hin zu Gegenstand und Reichweite des materiellen Vorbehaltsrechts des Bundesrates nach Art. 84 Abs. 1 GG a.F. gezogen wird. Gegen die Begründung unter Bezugnahme auf Art. 78 GG spricht insbesondere, dass die Schaffung dieser Vorschrift seitens des Parlamentarischen Rates allein von der Absicht getragen wurde, Zweifel über den Zeitpunkt des Zustandekommens von Gesetzen zu beseitigen.512 Die genetische Auslegung ergibt zudem, dass Art. 78 GG keine Aussage darüber treffen sollte, worauf sich die Zustimmung des Bundesrates bei der Gesetzgebung bezieht.513 Insofern ist die argumentative Bezugnahme des Gerichts auf Art. 78 GG nicht geeignet, die Erstreckung des Zustimmungserfordernisses des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. auf das Gesetz als gesetzgebungstechnische Einheit zu begründen.514 Aber auch die argumentative Kraft der „kaum überwindbare[n] Schwierigkeiten im Gesetzgebungsverfahren und bei der Verkündung der Gesetze“, die den Kern der Einheitsthese darstellen, kann nicht annähernd überzeugen.515 Die gesetzgebungstechnische Einheit lässt sich allenfalls zugunsten des Bundestages geltend machen. Durch den Beschluss des Bundestages wird eine verfahrensbedingte Einheit der jeweiligen Bestimmungen geschaffen. Diese Einheit schützt die gesetzgeberische Freiheit des Bundestages, in der sich die demokratisch vermittelte Volkssouveränität verwirklicht. Der Bundesrat kann die Zusammenstellung der Bestimmungen daher entweder im Ganzen akzeptieren oder ablehnen. Durch die Ablehnung kann jedoch der materielle Teil des Beschlusses, für den allein der Bundestag die Rechtssetzungskompetenz besaß, nicht aus der Welt geschafft werden. Die Gesetzeseinheit kann nicht einerseits dem umfassenden Schutz des Bundestagsbeschlusses dienen, aber in der Konstellation der Zustimmungspflicht wegen einzelner Verfahrensnormen den Beschluss komplett liquidieren. Der Schutzzweck der Einheit des Gesetzesbeschlusses würde geradezu konterkariert. Der Schutz der gesetzgeberischen Freiheit des Bundestages als Ausfluss seiner demokratischen Legitimation steht weit über gesetzgebungstechnischen Schwierigkeiten, die im Übrigen durch den Gesetzgeber zu lösen sind. Ein Gesetzgebungsbeschluss des Bundestages darf nicht einseitig durch den Bundesrat verändert und oder gar zunichte gemacht werden. 512

Haghgu, Die Zustimmung des Bundesrates, 2007, S. 226, mit aussagekräftigen Zitierungen verschiedener Mitglieder des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates aus den Ausschussprotokollen hinsichtlich des mit Art. 78 GG verfolgten Zwecks. A.A. Haas, AöR 80 (1955/56), S. 81 (84). 513 Vgl. Füsslein, JöR 1, 1951, S. 571 ff. sowie Haghgu, Die Zustimmung des Bundesrates, 2007, S. 226, die zutreffend darauf hinweist, dass nach heute herrschender Auffassung der Bundesrat auch einem Einspruchsgesetz vor Ablauf der Einspruchsfrist i.S.d. Art. 78 GG „zustimmen“ könne. Insoweit unterscheide Art. 78 GG nicht zwischen Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen. Zustimmung i.S.d. Art. 78 GG sei daher nicht mit der Zustimmung zu zustimmungsbedürftigen Gesetzen gleichzusetzen. 514 Vgl. Friesenhahn, in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, 1974, S. 251 (257); Antoni, AöR 113 (1988), S. 327 (335). 515 Vgl. nur Antoni, AöR 113 (1988), S. 327 (336).

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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Die demokratische Legitimation des Bundestages zur Durchsetzung politisch umstrittener und damit zugleich oft richtungsweisender Gesetzgebungsvorhaben wiegt deutlich höher als die formalistischen Beweggründe, die für die Einheitsthese und den Rang des Bundesrates angeführt werden.516 Hinsichtlich der apostrophierten Schwierigkeiten sei zudem daran erinnert, dass das Grundgesetz nur die Grundsätze der Verfassungspraxis vorgeben will, die weitere Ausgestaltung aber dem verfassungsändernden Gesetzgeber obliegt. Soweit das Gericht keine Vereinbarkeit zwischen den gesetzgebungstechnischen Problemen und der Stellung des Bundestages herzustellen vermochte, hätte es das Defizit aufzeigen und den Gesetzgeber zu einer Klärung auffordern müssen, statt aus vermeintlich zwingenden formalistischen Gründen eine einseitige Verfassungsergänzung vorzunehmen, die in deutlichem Widerspruch zur Intention des Grundgesetzes steht.517 Angesichts der Unnachgiebigkeit, mit der das Gericht an anderer Stelle gesetzgeberisches Handeln zur Konkretisierung von weitaus komplexeren Verfassungsvorgaben eingefordert hat518, wäre auch hier eine praktikable Lösung erreichbar gewesen. Mit der Berufung auf die ständige Übung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane verlässt der Beschluss endgültig den Bereich verfassungsrechtlicher Argumentation. Dennoch offenbart dieser unübliche Rekurs in aller Deut516 I.d.S. Böckenförde, in: Jekewitz u. a., FS für Schäfer, 1980, S. 182 (192); Pestalozza, JuS 1975, S. 366 (369 f.); Antoni, AöR 113 (1988), S. 327 (337); Maurer, Staatsrecht I, 5. Aufl. 2007, § 17 Rdnr. 73 f.; Huber, K-Drs. 0008, S. 15; Trute, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, 5. Aufl. 2005, Art. 84 Rdnr. 22; Lücke/Mann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 77 Rdnr. 15; Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.3, 1. Aufl. 2000, Art. 84 Rdnr. 50, der die Bedeutung des Prinzips demokratischer Legitimation der Bundesgesetzgebung als schlagendes Argument gegen die verfassungsgerichtliche Extension ansieht. Ausführlich zur ,Legitimation des Bundesrates Haghgu, Die Zustimmung des Bundesrates, 2007, S. 123 ff.; problembewusst auch Schulze-Fielitz, DVBl. 1982, S. 328, der die Gefahren erkennt, die von einer zu intensiven Mitsprache des Bundesrates für die demokratische Struktur ausgehen (330). Negierend indes Isensee, in: Brink/Wolff, FS für v. Arnim, 2004 S. 603 (603), der sich noch kurz vor der Neufassung des Art. 84 Abs. 1 GG vehement für die Einheitsthese aussprach und dabei die Rolle des Bundesrates sehr hoch einschätzte, die Legitimation des Bundestages dabei jedoch völlig außer Acht ließ (622). 517 Dementsprechend haben sich alle inhaltlich befassten Sachverständigen der Bundesstaatskommission für eine Änderung des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. ausgesprochen, teilweise begleitet von deutlicher Kritik an der Einheitsthese des BVerfG; vgl. insb. Scholz, K-Drs. 0005, S. 9; Schmidt-Jortzig, K-Drs. 0006, S. 7; Huber, K-Drs. 0008, S. 15; Meyer, K-Drs. 0013, S. 26 f. 518 Vgl. etwa die Untersuchung der Rechtsprechung zum Finanzausgleich im Rahmen des 5.Kapitels dieser Arbeit. Das Gericht hatte wiederholt die Schaffung verbindlicher langfristiger Maßstäbe zur einfachgesetzlichen Umsetzung der betreffenden Verfassungsnormen gefordert (BVerfGE 72, 330; 86, 148) und sich angesichts der Untätigkeit des Gesetzgebers schließlich geweigert, erneut eine Normenkontrolle der einzelnen Bestimmungen des wiederum ohne vorgeschaltetes Maßstäbegesetz erlassenen FAG 1993 durchzuführen (BVerfGE; 101, 158). Stattdessen befristete es die Geltungsdauer des entsprechenden FAG und formulierte konkrete Vorgaben für den Gesetzgeber, so dass sich dieser letzten Endes zum Erlass des Maßstäbegesetzes gezwungen sah.

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

lichkeit das dogmatische Defizit der gesamten Begründung.519 Insbesondere dieser abschließende Verweis auf die damals noch junge Verfassungspraxis der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane lässt den Schluss zu, dass das Gericht die Erstreckung des Zustimmungsrechts des Bundesrates schlicht als verfassungspolitisch opportun ansah. Bereits damals war jedoch davon auszugehen, dass die Ansichten von Bundestag und Bundesregierung sich deutlich von der des Bundesrates unterschieden hätte, wenn es im vorliegenden Fall tatsächlich auf die Reichweite des Zustimmungsrechts des Bundesrates angekommen wäre.520 Obwohl es für die Beurteilung der Vorlagen nicht notwendig gewesen wäre, nahm das Bundesverfassungsgericht dennoch die wegweisende Weichenstellung im Rahmen eines obiter dictum vor und schuf damit das „große Einfallstor“521 des Bundesrates in den Bereich der Bundesgesetzgebung. Ein wesentlicher Beweggrund des Senates, diese für die Beurteilung der gegenständlichen Vorlagen an sich unerhebliche Problematik zu erörtern, ist maßgeblich auf den Umstand zurückzuführen, dass diese essenzielle Frage seit geraumer Zeit im Schrifttum kontrovers diskutiert wurde.522 Als früheste derartige, allgemein beachtete Stellungnahme zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. gilt ein Beitrag Kutschers aus dem Jahr 1952.523 Darin vertrat der Autor die Ansicht, dass die Art. 50, 80 und 83 ff. GG keine andere Deutung des Art. 84 Abs. 1 GG zuließen, als dass „der Bundesrat vor Erteilung seiner Zustimmung den gesamten materiellen und verfahrensmäßigen Inhalt zustimmungsbedürftiger Gesetze und Verordnungen prüfen kann und muß“.524 Die Gegenposition bezog kurz darauf Schneider, der zu Recht entgegnete, der Bundesrat sei nur legitimiert, diejenigen Punkte einer Vorlage ins Auge zu fassen, 519

Vgl. nur Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (396); i.E. auch Isensee, in: Brink/Wolff, FS für v. Arnim, 2004 S. 603 (609 f.). 520 So verweist etwa Ossenbühl auf eine Stellungnahme des BMF aus dem Jahr 1952 gegen die extensive Auffassung des Bundesrates, in: Finanzpolitischen Mitteilungen des Bundesministeriums der Finanzen Nr. 9 vom 18. 03. 1952; vgl. Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (381). 521 Diese gegenwärtig noch immer geläufige Sentenz geht auf die erste allgemein beachtete bundesratskritische Abhandlung von Schneider zurück, ders., DVBl 1953, S. 257 (257); vgl. etwa Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.3, 2. Aufl. 2008, Art. 84 Rdnr. 7. 522 Darauf lassen in erster Linie die Zitierungen Helds, Haas’ und Schneiders im Preisgesetzbeschluss schließen – BVerfGE 8, 274 [295]. 523 Kutscher, DÖV 1952, S. 710 (713). Den Anlass gab die zuvor bereits erwähnte Stellungnahme des BMF aus dem Jahr 1952: Finanzpolitische Mitteilungen, 9/18.03.1952. 524 Kutscher war in seiner späteren Funktion als Mitglied des Zweiten Senates an dem gegenständlichen Beschluss BVerfGE 8, 274 eigens beteiligt. Die Begründung entspricht weitgehend seiner Auffassung. Es liegt wohl nicht allzu fern, davon auszugehen, dass die länderfreundlich gesinnten Mitglieder des Senates – neben Kutscher bspw. auch Geiger – einer Infragestellung der bisherigen Praxis des Bundesrates zuvorkommen wollten. – Vgl. zur Entwicklung im Schrifttum die eingehende Darstellung bei Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (380 ff.), die den Zeitraum von 1949 bis 1974 behandelt.

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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die ein durch das Zustimmungserfordernis anerkanntes schutzwürdiges Länderinteresse beträfen.525 Unbeschadet der Zustimmung, die diese frühe Stellungnahme verdient hätte, blieb sie vorerst die einzige beachtete Publikation, die sich gegen die weite Auslegung des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. richtete.526 Hingegen finden sich verschiedene Beiträge im Sinne Kutschers. So etwa die vom Beschlusstext zitierten Beiträge Helds und Haas, deren Erwägungen augenscheinlich schlicht in die betreffende Begründungspassage des Beschlusses übernommen wurden.527 Der offensichtlichen Motivation des Gerichts entsprechend, die Frage der Reichweite des Zustimmungsrechts gleichsam in einem Handstreich zu determinieren, wurde der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bis zur Änderung des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. im Rahmen der Föderalismusreform 2006 auch überwiegend gefolgt528, wenngleich sie stets kritisch begleitet wurde und die berechtigte Kritik nie verstummte.529 Lässt man die fehlende Notwendigkeit der Festlegung und die unzureichende Begründung außer Acht, ist eine deutliche Positionierung des Gerichts zugunsten des Bundesrates zu konstatieren. Jedoch selbst die aus föderalistischer Sicht unbestreitbare Stärkung des Bundesrates bei der Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung ist zwiespältig. Einerseits, weil die Stärkung des Bundesrates mit einer Schwächung der Handlungsfähigkeit des Bundestages erkauft wurde. Und andererseits die Länderparlamente, die eigentlichen Träger legislativer Macht auf Länderebene, nicht gestärkt wurden.530 Anstelle des Schutzes der Länderparlamente vor einer Erosion ihrer Gestaltungsmöglichkeiten – wie sie an anderer Stelle möglich gewesen wäre, etwa durch die verfassungsgerichtliche Aufstellung hoher Anforderungen an die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes i.S.d. Art. 72 Abs. 2 GG a.F.531 – förderte das Gericht mit dieser Entscheidung lediglich die Möglichkeit

525

Schneider, DVBl 1953, S. 257 (259 f.). Vgl. ergänzend Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (381), der auf mehrere einschlägige Dissertationen hinweist, die weder vom BVerfG noch von der späteren Kommentarliteratur aufgegriffen wurden. 527 So findet sich im Beschlusstext etwa die argumentative Bezugnahme auf Art. 78 GG wie bei Held, AöR 80 (1955/56), S. 50 (60) und wortidentisch mit Haas die Formulierung: „Ein Gesetz kann, was den Vorgang seiner Entstehung angeht, nur als Ganzes gesehen und behandelt werden“, vgl. Haas, AöR 80 (1955/56), S. 81 (85). 528 Vgl. die Nachweise bei Isensee, in: Brink/Wolff, FS für v. Arnim, 2004 S. 603 (606). 529 Vgl. etwa Lücke/Mann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 77 Rdnr. 15; Trute, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, 5. Aufl. 2005, Art. 84 Rdnr. 24; Maurer, Staatsrecht I, 2005, § 17 Rdnr. 74 sowie zuletzt die ausführliche Auseinandersetzung von Haghgu, Die Zustimmung des Bundesrates, 2007. 530 Vgl. Antoni, AöR 113 (1988), S. 327 (354). 531 Vgl. zur allgemein als unbefriedigend empfundenen Zurückhaltung des Gerichts bei der Kontrolle des Vorliegens eines Bedürfnisses i.S.d. Art. 72 Abs. 2 GG a.F. die Darstellung der Untersuchungsergebnisse im ersten Teil dieses Kapitels unter Gliederungspkt. I. 1. b) aa). 526

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

negierender Mitwirkung, die später unter dem Schlagwort der ,Blockade im Bundesrat ihre ungünstigste Ausprägung erfahren sollte.532 d) Die Blockade im Bundesrat – Folge der Rechtsprechung? Die parteipolitische Instrumentalisierung des Vetorechts der Bundesratsmehrheit ist keine Erscheinung der fünfziger oder sechziger Jahre533, so dass gegenüber dem Gericht zumindest im Hinblick auf die gegenständliche Entscheidung nicht der Vorwurf der bewussten Inkaufnahme erhoben werden kann. Zwischen 1949 und 1969 waren die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse in Bundesrat und Bundestag zugunsten der jeweiligen Bundesregierung ausgefallen.534 In der Phase der sozialliberalen Koalition von 1969 bis 1982 kam es dann jedoch zu unterschiedlichen Mehrheiten in Bundesrat und Bundestag, die von Seiten der Union ab 1972 offensiv zur Verhinderung verschiedener von der Bundestagsmehrheit beschlossener Regierungsprojekte eingesetzt wurden.535 Scharpf verdient Zustimmung, wenn er zugespitzt formuliert: „Die schädlichen Folgen des Urteils zeigten sich erst in den 1970er Jahren, als der sozialliberalen Regierungsmehrheit zum ersten Mal eine oppositionelle Mehrheit im Bundesrat gegenüberstand.“536 Unter umgekehrten Mehrheitsverhältnissen wiederholte sich die strategische Instrumentalisierung des Bundesratsvetos dann erneut 532 Allgemein zur Blockade im Bundesrat vgl. u. a. Stüwe, APuZ B 50 – 51/2004, S. 25 ff.; Hinter dem Schlagwort verbirgt sich indes keine umfassende Ablehnungspolitik der Bundesratsmehrheit gegenüber sämtlichen Gesetzesvorhaben der Bundestagsmehrheit. Vielmehr bezog er sich als parteipolitischer Populismus jeweils auf einige, allerdings besonders bedeutende Gesetzesvorhaben, denen die Bundesratsmehrheit ihre Zustimmung versagte. Angesichts der statistischen Datenlage wird dem Befund einer tatsächlichen Blockade zutreffend die Anerkennung verweigert, die qualitative Relevanz weniger Ablehnungen besonders bedeutsamer Gesetzesvorhaben aber ausdrücklich unterstrichen. Vgl. etwa Lhotta, APuZ B 43/2003, S. 16 (20); Laufer/Münch, Das föderative System, 1998, S. 196. Stüwe, APuZ B 50 – 51 /2004, S.25 (29). 533 Vgl. Stüwe, APuZ B 50 – 51/2004, S. 25 (27); Lehmbruch Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1. Aufl. 1976, S.133 f. sowie 3. Aufl. 2000, S. 134 f. 534 Trotz keineswegs eindeutiger Verhältnisse zugunsten der CDU geführten Regierung, vollbrachte Adenauer von 1949 bis 1953 die sogenannte Gleichschaltung des Bundesrates. Ab Oktober 1953 stabilisierte sich die Ländermehrheit der Union, so dass sich auch Erhard und Kiesinger zu keinem Zeitpunkt mit opponierenden Mehrheiten auseinander setzen mussten. Vgl. Stüwe, APuZ B50 – 51/2004, S. 25 (27). 535 Vgl. Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1. Aufl. 1976, S. 134 ff. sowie 3. Aufl. 2000, S. 142, der exemplarisch das Städtebauförderungsgesetz, die Steuerreform und das Hochschulrahmengesetz anführt und auf deren erhebliche Veränderung im Rahmen des Vermittlungsausschusses verweist. Die angeführten Zitate Kiesingers, Stoltenbergs und Kohls verdeutlichen die bewusste parteipolitische Instrumentalisierung des Zustimmungsrechts aus Art. 84 Abs. 1 GG a.F.; ebenso Stüwe, APuZ B 50 – 51/2004, S. 25 (28), der des Weiteren die Neuregelung des § 218, die Ostverträge und das KriegsdienstverweigerungsG anführt; Lhotta, APuZ B 43/2003, S. 16 (20); Laufer/Münch, Das föderative System, 1998, S. 193, mit weiteren Beispielen. 536 Scharpf, APuZ 50/2006, S. 6 (6).

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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Mitte der neunziger Jahre sowie zuletzt während der Koalition von SPD und Bündnisgrünen zwischen 1998 und 2005.537 Wenn man bedenkt, dass der Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze zwischen 1949 und 2006 bei 55 Prozent lag538, deren Zustimmungsbedürftigkeit wiederum mehrheitlich auf Art. 84 Abs. 1 GG a.F. zurückzuführen war539 und in all diesen Fällen der Bundesrat aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts neben der Kontrolle der verfahrensrechtlichen Regelungen auch eine materielle Kontrolle des Bundestages ausübte, wird die Tragweite dieser Rechtsprechung deutlich.540 Zwar kam es in der Mehrzahl der Zustimmungsverweigerungen zu einem Kompromiss im Vermittlungsausschussverfahren. Dies mag im Sinne bundesstaatlicher Konsensfindung als begrüßenswert erscheinen und in der Logik des unitarischen Bundesstaates liegen.541 Im Ergebnis bleibt jedoch festzuhalten, dass der materielle Gehalt des ursprünglichen Bundestagsbeschlusses, anders als es die prinzipielle Kompetenzverteilung des Grundgesetzes vorgibt, am Bundesratsveto scheiterte und im Verlaufe des Vermittlungsverfahrens modifiziert wurde. Wie bereits ausgeführt: Die demokratische Legitimation des Bundestages zur Durchsetzung politisch umstrittener und damit zugleich oft richtungsweisender Gesetzgebungsvorhaben ist weitaus höher zu bewerten als die formalistischen Beweggründe, die für die Einheitsthese und im Interesse des Bundesrates angeführt wurden. Es ginge allerdings zu weit, die oppositionspolitisch motivierte Inanspruchnahme des Vetorechts allein dem Bundesverfassungsgericht anzulasten. Noch vor seiner Entscheidung zum Preisgesetz hatte es klargestellt: „Schließlich ist es auch möglich, daß der Bundestag diejenigen Bestimmungen des Gesetzes streicht, aus denen der Bundesrat bisher sein Zustimmungsrecht hergeleitet hat.“542 Es deutete damit erstmals an, was es erst wesentlich später ausdrücklich formulieren sollte. Nämlich 537 Vgl. Stüwe, APuZ B 50 – 51/2004, S. 25 (28 f.); Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 3. Aufl. 2000, S. 165 ff.; ein ausführlicher Überblick der Zustimmungsverweigerungen im Bundesrat in der 14. und 15. Wahlperiode findet sich bei Georgii/Borhanian, Zustimmungsgesetze nach der Föderalismusreform, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 – 37/06 und 123/06, 2006, S. 40 f., URL: http://www.bundestag.de/wissen/ analsen/2006/Zustimmungsgesetze_nach_der_Foederalismusreform.pdf. 538 Vgl. Gesamtstatistik Bundesrat: URL: http://www.bundesrat.de/cln_090/SharedDocs/ Downloads/DE/statistik/gesamtstatistik,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/gesamtstatistik.pdf, S. 5. 539 Vgl. Haghgu, Die Zustimmung des Bundesrates, 2007, S. 82 unter Bezugnahme auf Dästner, ZParl 2001, S. 290 ff.; Scholz, K-Drs. 0005, S. 9; Reuter, APuZ 50/2006, S. 12 (14) sowie mit Schwerpunkt hinsichtlich der 14. und 15. Wahlperiode Georgii/Borhanian, Zustimmungsgesetze nach der Föderalismusreform, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages. WD 3 – 37/06 und 123/06, 2006, S. 40 f. (a.a.O.). 540 Unter Bezugnahme auf die statistischen Werte Isensee, in: Brink/Wolff, FS für v. Arnim, 2004 S. 603 (602); Reuter, APuZ 50/2006, S. 12 (14); Lücke/Mann, in: Sachs, (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 77 Rdnr. 15. 541 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 23. 542 BVerfGE 3, 12 [17].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

dass die Aufteilung der materiellen Bestimmungen und der Verfahrensregelungen in jeweils eigenständige Gesetze als zulässig anzusehen sei.543 Wenn auch auf kompliziertem Umweg, aber das Gericht wies dem Bundesgesetzgeber zumindest einen Weg, um seine materielle Gesetzgebungshoheit unabhängig vom Bundesrat auszuschöpfen. Zudem hätte der Bundestag sich auf den Beschluss rein materieller Bestimmungen beschränken können, so wie es das Grundgesetz als Regel durchaus vorsah. Dennoch stellen auch diese Umgehungsmöglichkeiten des Bundesratsvetos eine unangemessene Einschränkung der gesetzgeberischen Freiheit des Bundestages dar. Zumal der Bund bei der Umsetzung seiner Gesetze aufgrund der Vollzugshoheit der Länder auf deren Mitwirken angewiesen war. Es lag also im berechtigten Interesse des Bundesgesetzgebers, die Zustimmung der Länderregierungen zu erhalten. Insbesondere bei Gesetzesvorhaben von grundsätzlicher politischer Bedeutung musste es dem Bundesgesetzgeber daher als zielführend erscheinen, den Bundesrat in die legislative Entscheidung einzubeziehen. Eine materiell-rechtliche Gesetzgebung gegen die Länderregierungen wäre aufgrund ihrer Vollzugshoheit mit dem hohen Risiko langwieriger Auseinandersetzungen verbunden gewesen. Ohne die politische Verantwortung der jeweiligen Vertreter der Landesregierungen außer Acht zu lassen, bleibt also festzuhalten: Die politische Instrumentalisierung des Zustimmungsrechts des Bundesrates beruht in entscheidendem Maße auf der im Widerspruch zur Intention des Grundgesetzes stehenden bundesratsfreundlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. Im Hinblick auf das Preisgesetz sah das Gericht die Zustimmung des Bundesrates als erteilt an. Da weder das Grundgesetz noch die geltende Geschäftsordnung des Bundesrates eine bestimmte Form der Beschlussfassung bei der Zustimmung zu Gesetzen vorsah, befand es das Gericht als möglich, ausnahmsweise einen Beschluss wie den vorliegenden als Zustimmung auszulegen, wenn besondere Umstände bei der Beratung und Beschlussfassung eindeutig erkennen ließen, dass der Bundesrat mit der Vorlage einverstanden war und das Zustandekommen des Gesetzes gewollt habe.544 e) Fazit Es bleibt festzuhalten, dass das Bundesverfassungsgericht mit der Erstreckung des Vetorechts des Bundesrates auf das komplette vom Bundestag beschlossene Gesetz dem Zustimmungsvorbehalt des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. schon zu Beginn seiner Tätigkeit eine außerordentlich große Reichweite verliehen hat.

543

Erstmals ausdrücklich in BVerfGE 37, 363 [382], sowie zuletzt 105, 313 [340]. Zur Frage der Aufteilung der materiellen und verfahrensrechtlichen Bestimmungen in eine nicht zustimmungsbedürftige und eine zustimmungsbedürftige Gesetzesvorlage vgl. die Untersuchung der beiden angeführten Entscheidungen im weiteren Verlauf der Darstellung. 544 BVerfGE 8, 274 [297].

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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Dieses Verständnis des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. stellte im Ergebnis eine enorme Stärkung der Position des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren dar, da die Länderregierungen unter den entsprechenden Umständen erheblichen Einfluss auf die materielle Gestaltung der Bundesgesetze geltend machen konnten. Die ungleich schwerwiegendere negative Auswirkung dieser Rechtsprechung – die Mitverursachung der Reform- und Handlungsunfähigkeit des Staates – war zu diesem Zeitpunkt noch nicht spürbar. Dennoch verdient die Entscheidung aus systematischer und teleologischer Perspektive auf Art. 84 Abs. 1 GG a.F. deutliche Kritik. Unter dem Aspekt der grundgesetzlichen Kompetenzsystematik und dem erkennbaren Regelungsziel des Verfassungsgesetzgebers lag es weitaus näher, dem lediglich verfahrensbezogenen Ingerenzrecht des Bundestages ein inhaltlich deckungsgleiches Vetorecht des Bundesrates gegenüberzustellen. Stattdessen entschied sich das Gericht dennoch für die Annahme eines Zustimmungsvorbehaltes, der die gesetzgeberische Freiheit des Bundestages unhaltbar einschränkte. Angesichts dieser gravierenden Abweichung vom Grundprinzip der Zuteilung von Gesetzgebungskompetenzen zugunsten des Bundestages einerseits und der umfassenden Vollzugskompetenz der Länder andererseits, bleibt die Begründung des Senates deutlich hinter den zu stellenden Anforderungen zurück.

2. BVerfGE 37, 363 – Bundesrat (Urteil des Zweiten Senates vom 25. Juni 1974) Den Streitgegenstand des Normenkontrollverfahrens bildete das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (4. RVÄndG) vom 30. März 1973.545 Mit ihm sollten diverse Vorschriften des mit Zustimmung des Bundesrates zustande gekommenen Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972546 modifiziert werden. Der ursprüngliche Fraktionsentwurf von SPD und FDP zielte darauf ab, die zuvor durch das Rentenreformgesetz getroffene Regelung der flexiblen Altersgrenze dahingehend abzuändern, dass allen in § 1248 RVO aufgeführten Empfängern vorgezogenen Altersruhegeldes nur noch eine begrenzte Erwerbstätigkeit gestattet sein sollte. Der Bundestag hat diesen Entwurf als Viertes Rentenversicherungs-Änderungsgesetz am 20. Dezember 1972 verabschiedet. Der Bundesrat stellte in seiner 389. Sitzung vom 2. Februar 1973 fest, dass das Gesetz seiner Zustimmung bedürfe und rief den Vermittlungsausschuss an. Nachdem der Vermittlungsausschuss das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz in der vom Bundestag beschlossenen Fassung bestätigt hatte, versagte der Bundesrat dem Gesetz am 21. Februar 1973 die Zustimmung. Das Gesetz wurde dennoch vom Bundespräsidenten ausgefertigt und anschließend verkündet.547 545 546 547

BGBl. I S. 257. BGBl. I S. 1965. BVerfGE 37, 363 [368].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

Die Regierung des Landes Rheinland-Pfalz und die Bayerische Staatsregierung beantragten daraufhin die Feststellung der Nichtigkeit des 4. RVÄndG im Wege der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Satz 2 GG. Nach Ansicht der Antragstellerinnen hätte das 4. RVÄndG gemäß Art. 84 Abs. 1 GG der Zustimmung des Bundesrates bedurft, weil es ein Zustimmungsgesetz – nämlich das Rentenreformgesetz – geändert habe.548 Mit seiner Zustimmung habe der Bundesrat, welcher nach dem Willen des Grundgesetzes bei Zustimmungsgesetzen gleichberechtigt mit dem Bundestag an der Gesetzgebung des Bundes mitwirke, die Verantwortung für das gesamte Gesetzeswerk übernommen.549 Wegen des inhaltlichen Aufeinanderbezogenseins von Änderungsgesetz und zu änderndem Gesetz berühre jede Gesetzesänderung diese Verantwortung des Bundesrates, auch wenn die geänderte Norm für sich gesehen nicht zustimmungsbedürftig sei. Das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz sei auch deswegen zustimmungsbedürftig gewesen, weil es Regelungen des Rentenreformgesetzes geändert habe, welche für dieses Gesetz die Zustimmungsbedürftigkeit begründet hätten oder mit solchen Bestimmungen untrennbar zusammenhingen.550 Im Ergebnis lehnte das Gericht die exzessive Ausweitung des Zustimmungsrechts des Bundesrates nach Art. 84 Abs. 1 GG a.F. auf sämtliche folgenden Änderungsgesetze zu Recht ab. Das Grundgesetz enthalte keine Vorschrift, der sich die Fortwirkung eines einmaligen Zustimmungsrechts entnehmen lasse. Die ausführliche Begründung der Entscheidung setzt sich zwar nicht weiterführend mit der Frage der Reichweite des Zustimmungsrechtes auseinander. Sie enthält jedoch die grundlegenden verfassungsgerichtlichen Einschätzungen zu Funktion und Bedeutung des Bundesrates und wichtige Konkretisierungen zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F.551 a) Der Bundesrat – Keine zweite Kammer Nach der Regelung des Grundgesetzes – so der Begründungstext – sei „der Bundesrat nicht eine zweite Kammer eines einheitlichen Gesetzgebungsorgans, die gleichwertig mit der ,ersten Kammer entscheidend am Gesetzgebungsverfahren be-

548

BVerfGE 37, 363 [371]. BVerfGE 37, 363 [372]. Hierbei bezog sich die Antragstellerin auf BVerfGE 24, 184 – Apostille, in der das BVerfG seine Übereinstimmung mit der sogenannten Mitverantwortungstheorie zu erkennen gab [194 ff.]. Das Gericht hatte in dieser Entscheidung die Zustimmung des Bundesrates für jenen Fall verlangt, dass eine Rechtsverordnung ein Zustimmungsgesetz näher ausführe. Darauf Bezug nehmend vertrat die Regierung des Landes Rheinland-Pfalz nun die Ansicht, dass ein Gesetz, welches ein Zustimmungsgesetz teilweise ändere, erst recht der Zustimmung des Bundesrates bedürfe. 550 BVerfGE 37, 363 [372]. 551 Die folgende Darstellung weicht aus Gründen der Übersichtlichkeit teilweise von der Abfolge des Begründungstextes ab. 549

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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teiligt wäre“.552 Nach Art. 77 Abs. 1 GG beschließe der Bundestag die Bundesgesetze. Der „Bundesrat wirkt bei der Gesetzgebung lediglich mit (Art. 50 GG)“ – unter anderem durch Einlegung des Einspruchs gegen ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz sowie durch Erteilung oder Verweigerung der Zustimmung (Art. 77 Abs. 3 GG).553 Ausgehend von dieser durch das Grundgesetz limitierten Einflussnahmemöglichkeit des Bundesrates auf die Bundesgesetzgebung gelangt das Gericht zu der insoweit korrespondierenden Begrenzung des Zustimmungsrechts des Bundesrates nach Art. 84 Abs. 1 GG a.F.. b) Zustimmungsgesetze als konzeptionelle Ausnahme des Grundgesetzes Unter Bezugnahme auf die zuvor konkretisierten legislativen Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundesrates geht das Gericht auf die prinzipielle Relevanz der Zustimmungsrechte des Bundesrates ein. Dabei stellt es ausdrücklich als „wesentlich“ fest, „dass das Erfordernis der Zustimmung zu einem Gesetz nach dem Grundgesetz die Ausnahme ist“.554 Die Zustimmung sei nur in bestimmten, im Grundgesetz einzeln ausdrücklich aufgeführten Fällen erforderlich, in denen der Interessenbereich der Länder besonders stark berührt werde. Jedenfalls lasse sich aus dem Prinzip der legislativen Mitwirkung kein allgemeines Kontrollrecht herleiten. Da die meisten Bundesgesetze Länderinteressen irgendwie berührten, würde die für Kompetenzvorschriften notwendige Klarheit verloren gehen, wollte man eine so weit und allgemein gefasste Kompetenz des Bundesrates annehmen.555 Die von den Antragstellerinnen vertretene Auffassung würde zu einer erheblichen Verschiebung der Gewichte zwischen dem Bundesrat einerseits und dem Bundestag und der Bundesregierung andererseits führen, mit der Folge, dass das Zustimmungsgesetz dann die Regel wäre und das Einspruchsgesetz die Ausnahme. Die Zahl der Zustimmungsgesetze würde sich erheblich vermehren. Dies aber widerspräche der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes, die von einer Gleichgewichtigkeit zwischen allen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorganen ausgehe.556 Mit der grundsätzlichen Verneinung der legislativen Funktion einer zweiten Kammer nimmt das Gericht eine angemessene Relativierung der Bedeutung des Bundes-

552 Zur Untermauerung seiner Ansicht verweist das Gericht auf die Verkündungsformel, die selbst beim Zustimmungsgesetz nicht laute: Bundestag und Bundesrat haben das folgende Gesetz beschlossen, sondern: Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen; vgl. BVerfGE 37, 363 [380]. 553 BVerfGE 37, 363 [380 f.]. 554 BVerfGE 37, 363 [381]. 555 BVerfGE 37, 363 [381]. 556 BVerfGE 37, 363 [383].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

rates im Hinblick auf das Gesetzgebungsverfahren vor.557 Es unterstreicht damit zugleich die diesbezügliche Bedeutung des Bundestages, welchem mit dem alleinigen Recht zur gesetzgebenden Beschlussfassung die Position des bestimmenden Legislativorgans auf Bundesebene zukommt. Auch wenn das Gericht dem Bundesrat damit eine wesentlich geringere Bedeutung für die Gesetzgebung als dem Bundestag zumisst, ist darin keine Degradierung des spezifisch föderalen Verfassungsorgans Bundesrat zu erblicken, sondern lediglich die verfassungsgemäße Deklaration der Stellung des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren. Der Bundesrat ist demnach kein dem Bundestag gleichgeordnetes Glied eines einheitlichen aus zwei Kammern bestehenden Gesetzgebungsorgans, wie es in anderen Bundesstaaten durchaus üblich ist. Die Rolle des Bundesrates beschränkt sich auf die Teilhabe in verfassungstextlich vorgegebenen, gegenüber dem Bundestag vergleichsweise engen Bahnen. Zutreffend verneint das Gericht demzufolge ein allgemeines Kontrollrecht des Bundesrates gegenüber dem Bundestag, dessen Hoheit über die materielle Bundesgesetzgebung es damit untermauert. Die Funktion des Zustimmungsvorbehalts gemäß Art. 84 Abs. 1 GG a.F. als lediglich partiellem Kontrollrecht beschränkt es auf den Schutz substanzieller Interessen der Länder und entspricht insoweit der erkennbaren Konzeption des Verfassungsgebers.558 Zudem manifestiert es das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates als grundgesetzlich konzipierten Ausnahmetatbestand gegenüber dem Regelfall des Einspruchsgesetzes. Auch diese Einschätzung verdient Zustimmung, da sie der Zuweisung der alleinigen Gesetzgebungskompetenz auf Bundesebene an den Bundestag Rechnung trägt. Inkonsistent ist der Urteilstext jedoch, wo er die Notwendigkeit der Beibehaltung dieses Regel-Ausnahme-Verhältnisses anschließend ohne erläuternde Worte mit der konzeptionsbedingten „Gleichgewichtigkeit zwischen allen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorganen“559 begründet.560 Ein Gleichgewicht zwischen Bundestag und Bundesrat besteht im Hinblick auf den Erlass von Gesetzen nach der

557 Zum Zeitpunkt der Entscheidung bestand keineswegs Einigkeit über diese Frage. Herzog etwa ging davon aus, dass „der Bundesrat nach dem Willen der Verfassung bei den Zustimmungsgesetzen echte zweite Kammer [ist]“, vgl. dens. in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, 1974, S. 235 (242). An gleicher Stelle vertrat die entgegengesetzte Ansicht Friesenhahn, ebd., S. 251 (254), der das gewichtige Argument der Ablehnung eines Zwei-Kammer-Systems durch den Parlamentarischen Rat anzuführen wusste. Selbst gegenwärtig besteht im Schrifttum kein völliges Einvernehmen über die verfassungsrechtlich zutreffende Charakterisierung der Funktion des Bundesrates. Vgl.: Lücke/Mann, in: Sachs, (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 77 Rdnr. 2 Fn. 4; Herzog, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 3. Aufl., 2005, § 57 Rdnr. 30. 558 Vgl. die Stellungnahme zur Funktion des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. im Rahmen der Untersuchung von BVerfGE 8, 274 unter Gliederungspunkt II. 1. b). dieses Kapitels. 559 Vgl. BVerfGE 37, 363 [383]. 560 Die methodischen Defizite dieser Argumentation kritisierten sogar die Mitglieder des Senates v. Schlabrendorff, Geiger und Rinck in ihrem gemeinsamen Sondervotum, BVerfGE 37, 401 [403]. Vgl. auch Oeter, Integration und Subsidiarität, 1998, S. 337.

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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zuvor verneinten Funktion einer zweiten Kammer eben gerade nicht.561 Der Bundestag verfügt auf Bundesebene allein über die Gesetzgebungskompetenz. Der Bundesrat hat hingegen lediglich gewisse Vetorechte, soweit die verfahrensrechtliche Umsetzung durch die Länderbehörden – wie das Gericht zuvor selbst ausführte – besonders stark berührt wird. Und selbst wenn der Bundesrat tätig wird, so doch nur im Rahmen von überwindbarem Einspruch im Regelfall und Zustimmungsverweigerung im Ausnahmefall. Selbst wenn man also die Einschätzung des Gerichts zugrunde legt, wonach das Zustimmungsrecht sämtliche Bestimmungen des Bundestagsbeschlusses erfasst, konnte man nicht zu einem Gleichgewicht von Bundestag und Bundesrat gelangen, ohne dass zuvor formulierte Regel-Ausnahme-Prinzip sogleich wieder in Frage zu stellen. Die Widersprüchlichkeit der verfassungsgerichtlichen Argumentation tritt besonders deutlich zu Tage, wenn das Gericht, wie nachfolgend dargestellt, die originäre Funktion des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. zunächst zutreffend im Schutz gegen die Erosion der Verwaltungshoheit der Länder erkennt, aber trotzdem den materiell-rechtlichen Gehalt der Bundestagsbeschlüsse dem Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates unterstellt.

c) Schutzvorrichtung gegen Systemverschiebungen Im Hinblick auf die Prämisse, dass nicht jedes Gesetz, das ein Zustimmungsgesetz ändert, schon allein aus diesem Grunde zustimmungsbedürftig ist, widmet sich die Urteilsbegründung der Bedeutung des Art. 84 Abs. 1 GG a.F.. Die im Grundgesetz vorgesehene Aufteilung der Staatsgewalt zwischen Bund und Ländern erfordere gewisse Schutzvorrichtungen gegen Systemverschiebungen im föderalistischen Gefüge.562 Diesem Zweck dienten – zugunsten der Länder – die Zustimmungsvorbehalte des Bundesrates. So auch Art. 84 Abs. 1 GG (a.F.), indem er ein Bundesgesetz, welches Vorschriften enthalte, die das Verfahren der Landesverwaltung regeln, unter den Vorbehalt des Bundesrates stelle.563 Im Hinblick auf das frühere Rentenreformgesetz habe der Bundesrat sein Einverständnis mit der Systemverschiebung erklärt, die darin liege, dass das Rentenreformgesetz auch das Verfahren der Landesverwaltung geregelt habe. Dieser Einbruch in jenen den Ländern in Art. 83 GG grundsätzlich garantierten Bereich der verwaltungsmäßigen Ausführung der Bundesgesetze sei mit der Zustimmung des Bundesrates zum Rentenreformgesetz genehmigt.564 Zunächst ist die funktionale Einordnung des Vetorechts nach Art. 84 Abs. 1 GG a.F. als Schutzvorrichtung zugunsten des föderalen Gefüges anzuerkennen. Eine ausdrückliche Konkretisierung dieses Gefüges erfolgt zwar nicht.565 Dem weiteren Urteilstext lässt sich jedoch eindeutig entnehmen, dass das Gericht vorliegend jenen den 561 562 563 564 565

Vgl. etwa Meyer, K-Drs. 0013, S. 27 sowie Huber, K-Drs. 0008, S. 15. BVerfGE 37, 363 [379]. BVerfGE 37, 363 [380]. BVerfGE 37, 363 [380]. Insoweit kritisch Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 84 Rdnr. 63.

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

Ländern in Art. 83 GG grundsätzlich garantierten Bereich der „verwaltungsmäßigen Ausführung der Bundesgesetze“ als das finale Schutzgut des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. ansieht.566 Wenn nun aber das Gericht Art. 84 Abs. 1 GG a.F. explizit den Zweck der Bewahrung der Verfahrenshoheit der Länder beim Vollzug der Bundesgesetze zuweist, stellt sich die Frage, wieso es das somit teleologisch zutreffend erfasste Vetorecht dennoch auf die materiellen Bestimmungen eines Bundestagsbeschlusses ausdehnt. Der Bundesrat – so das Gericht – „darf deshalb auch einem Gesetz, das sowohl materielle Normen als auch Vorschriften über das Verfahren der Landesverwaltung enthält deshalb die Zustimmung versagen, weil er nur mit der materiellen Regelung nicht einverstanden ist“.567 Der Zweck einer Norm ist für die Bestimmung der Anwendungsreichweite maßgeblich. Die Anwendung einer Norm über ihren erkennbaren Zweck hinaus kann nur ausnahmsweise gerechtfertigt sein und bedarf schwerwiegender Gründe, um nicht willkürlich zu sein. Derartige Gründe existieren jedoch nicht, da der Bundesrat keines entsprechenden Schutzes bedarf. Selbst wenn ein der Vollzugshoheit der Länder vergleichbares materielles Hoheitsrecht des Bundesrates existierte, stünde es jedenfalls nicht unter dem Schutz des Art. 84 Abs. 1 GG a.F.. Besteht der Zweck einer Norm darin, eine bestimmte Verschiebung einer konkreten Rechtsposition zu verhindern und wird der Rechtsträger hierfür mit einem Vetorecht ausgestattet, so erschöpft sich dieses Vetorecht im Schutz eben dieser und erstreckt sich nicht auf sonstige Rechtspositionen, deren Schutz die Bestimmung nicht dient. Das Gericht verkennt diesen grundsätzlichen Aspekt, indem es die umfassende Erstreckung des Vetorechts an dieser Stelle bekräftigt.568 Diese Sichtweise ist insbesondere auch deswegen höchst problematisch, weil sie eine erhebliche Einschränkung der gesetzgeberischen Freiheit des Bundestages mit sich bringt. Dieser Gesichtspunkt führt zu der bereits im Zusammenhang mit BVerfGE 8, 274 erörterten fehlenden Berücksichtigung des Demokratieprinzips in der Rechtsprechung zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F.. Im Ergebnis erhält der Bundesrat im Widerspruch zur vorherigen Feststellung nämlich doch Rechte, die denen einer zweiten Kammer durchaus vergleichbar sind.569 Der Bundestag allein ist das demokratisch legitimierte Legislativorgan auf Bundesebene. Der Bundesrat hingegen ist 566

BVerfGE 37, 363 [380], spricht insoweit vom „Landesreservat“. BVerfGE 37, 363 [381]. – Die bezweckte Verhinderung der Verschiebung der Gewichte zwischen Bundesrat und Bundestag wird gerade dann herbeigeführt, wenn das Vetorecht des Bundesrates die Wahrnehmung der materiellen Gesetzgebungskompetenzen durch den Bundestag verhindern kann und sich nicht auf die verfahrenrechtlichen Regelungen beschränkt, wie es dem Zweck entsprechen würde. 568 Deutlich Meyer, K-Drs. 0013, S. 27. 569 Vgl. etwa Herzog, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 57 Rdnr. 30 sowie Lücke/Mann, in: Sachs, (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 77 Rdnr. 2 Fn. 4; Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.3, 2. Aufl. 2008, Art. 84 Rdnr. 7. 567

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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ein Kollektivorgan der Länderexekutiven, dessen demokratische Legitimation sich lediglich auf eine Vermittlung durch die Länderparlamente zurückführen lässt.570 Wenn das Bundesverfassungsgericht vermittels seiner Rechtsprechung den Umstand herbeiführt, dass der Bundestag über die materiellen Inhalte der von ihm kraft seiner Gesetzgebungshoheit verabschiedeten Gesetzesvorlagen de facto doch nicht autark entscheidet, sondern vom Votum des Bundesrates abhängt – und sei es nur, indem seine Beschlüsse zum Gegenstand des Vermittlungsverfahrens werden –, besteht darin eine gravierende Einschränkung des demokratischen legitimierten Gesetzgebers.571 Der Zweck des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. rechtfertigte ein solches Veto ausschließlich hinsichtlich verfahrensrechtlicher Bestimmungen. Selbst wenn das Gericht die schwer zu rechtfertigende Einschränkung der Hoheit des Bundestages im Hinblick auf die materiellen Gesetzesinhalte nicht als unhaltbar ansehen mochte, hätte es jedenfalls einer tief greifenden Auseinandersetzung mit diesen elementaren Fragen demokratischer Legitimation bedurft. Das Gericht setzt sich jedoch auch hier mit dieser Frage, die sich umso drängender stellt, nachdem es die ratio legis des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. zutreffend bestimmt hat, nicht auseinander. Es geht offensichtlich weiterhin von der gesetzgebungstechnisch bedingten Erstreckung des Vetorechts auf sämtliche Bestimmungen des Bundestagsbeschlusses aus und bleibt damit weiterhin eine tragfähige Begründung schuldig. d) Zustimmung zu Änderungsgesetzen nur bei erneuter Systemverschiebung Die mangelnde Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Reichweite des Zustimmungserfordernisses nach Art. 84 Abs. 1 GG a.F. hindert das Gericht allerdings nicht, die richtigen Schlüsse im Hinblick auf die Zustimmungsbedürftigkeit von Änderungsgesetzen zu ziehen. Anders als beim ursprünglichen Rentenreformgesetz, dessen verfahrensrechtlichen Bestimmungen der Bundesrat zustimmen musste, verhalte es sich jedoch hinsichtlich des streitgegenständlichen 4. RVÄndG, mit welchem der Gesetzgeber das Rentenreformgesetz nachträglich geändert habe. „Erfolgt in einem späteren Änderungsgesetz kein neuer Einbruch in das Landesreservat, also keine erneute Systemverschiebung, so fehlen die Voraussetzungen dafür, auch für dieses Gesetz die Zustimmung des Bundesrates zu verlangen.“572

Daraus, dass sich die Zustimmung des Bundesrates auf das ganze Gesetz als eine gesetzgebungstechnische Einheit beziehe, folge nicht, dass jedes Änderungsgesetz wiederum der Zustimmung des Bundesrates bedürfe.573 Die Auffassung vom Zustimmungsgesetz als einer gesetzgebungstechnischen Einheit spreche vielmehr gegen die 570

Vgl. Trute, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, 5. Aufl. 2005, Art. 84 Rdnr. 22; Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.3, 1. Aufl. 2000, Art. 84 Rdnr. 50. 571 Vgl. Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.3, 1. Aufl. 2000, Art. 84 Rdnr. 50. 572 BVerfGE 37, 363 [380]. 573 BVerfGE 37, 363 [381].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

Zustimmungsbedürftigkeit von Änderungsgesetzen. Denn auch das Änderungsgesetz sei eine gesetzgebungstechnische Einheit, bei dessen Erlass, ebenso wie bei jedem anderen Gesetz, sämtliche Voraussetzungen der Gesetzgebung erneut und selbständig zu prüfen sind. Enthalte das Gesetz nicht selbst auch zustimmungsbedürftige Vorschriften und ändere es auch keine solchen Vorschriften ab, so sei es nicht zustimmungsbedürftig. Die These, dass die Zustimmungsbedürftigkeit das Gesetz, durch dessen Inhalt sie ausgelöst worden ist, gewissermaßen überlebt, sie also eine Fern- und Dauerwirkung habe und jedes Änderungsgesetz erneut der Zustimmung des Bundesrates bedürfe, lehnt das Gericht ab.574 Ungeachtet der ansonsten unbefriedigenden Argumentation mit dem Topos des Zustimmungsgesetzes als gesetzgebungstechnischer Einheit findet das Gericht in dieser Hinsicht den zutreffenden Ansatz und beendete jedenfalls praktisch den Streit zwischen Bundesregierung und Bundestag einerseits sowie dem Bundesrat andererseits.575 Jedes Gesetz ist als eigenständiger Hoheitsakt auf seine Zustimmungsbedürftigkeit hin zu überprüfen.

574

BVerfGE 37, 363 [382]. Die Entscheidung wurde vom Schrifttum überwiegend positiv aufgenommen. Vgl. die Nachweise bei Antoni, AöR 113 (1988), S. 327 (343), der selbst ebenfalls mit dem Ergebnis übereinstimmt, jedoch zu Recht auf die bestehenden Widersprüche im Urteilstext hinweist. Ähnlich Pestalozza, JuS 1978, S. 366 (372); Sauter, in: Kirchhof u. a., FS für Klein, 1994, S. 561 (564); wohl auch Oeter, Integration und Subsidiarität, 1998, S. 338; Isensee, in: Brink/Wolff, FS für v. Arnim, 2004, S. 603 (610); vor dem Urteil bereits Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (423 ff.) sowie Friesenhahn, in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, 1974, S. 251 (259). – Nach wie vor skeptisch Herzog, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 58 Rdnr. 15, der auf die seines Erachtens vom Gericht außer Acht gelassene Mitverantwortung des Bundesrates verweist. Vgl. diesbez. auch die abweichende Meinung der Richter von Schlabrendorff, Geiger und Rinck, in ihrem gemeinsamen Sondervotum, BVerfGE 37, 401 [410]. – Wie bereits erwähnt hatte sich das Gericht im sog. Apostille-Beschluss aus dem Jahr 1968 die sog. Mitverantwortungsthese zu Eigen gemacht. Dort hatte es Folgendes ausgeführt: „Die Zustimmung des Bundesrates zu einem Bundesgesetz bezieht sich auf alle Normen des Gesetzes, nicht nur auf die, die seine Zustimmungsbedürftigkeit ausgelöst haben. Der Bundesrat übernimmt durch seine Zustimmung die Verantwortung für das Gesetz als Ganzes.“, vgl.: BVerfGE 24, 184, [197 f.]. In der gegenständlichen Entscheidung verzichtete es jedoch aus gutem Grund auf jeden Bezug und nahm diesen Topos auch zukünftig nicht mehr auf. Es darf insoweit davon ausgegangen werden, dass das Gericht erkannt hatte, dass Verantwortung eine politische aber keine verfassungsrechtliche Kategorie darstellt. Vgl. die im Vorfeld der Entscheidung erschienenen kritischen Beiträge zur Mitverantwortungsthese von Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (407 ff), sowie Friesenhahn, in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, 1974, S. 251 (260). Die Einschätzungen Friesenhahns dürften für die Entscheidungsfindung wohl mitbestimmend gewesen sein, wie die zahlreichen Zitate seines Beitrages im Entscheidungstext vermuten lassen. Bestätigungen der Unzulänglichkeit der Mitverantwortungsthese finden sich auch in jüngeren Beiträgen, wie etwa bei Isensee, in: Brink/ Wolff, FS für v. Arnim, 2004 S. 603 (610) sowie Haghgu, Die Zustimmung des Bundesrates, 2007, S. 230 ff. 575

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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e) Notwendigkeiten erneuter Zustimmung Im Hinblick auf die gegenständliche Problematik führt der Urteilstext eine Reihe von Konstellationen an, in denen für die Änderung eines Zustimmungsgesetzes die Notwendigkeit der Zustimmung des Bundesrates bestehe. Dies sei dann der Fall, wenn das Änderungsgesetz neue Vorschriften enthalte, die ihrerseits die Zustimmungsbedürftigkeit auslösten oder von der Änderung solche Regelungen des geänderten Gesetzes betroffen seien, die dessen Zustimmungsbedürftigkeit erst begründet hätten. Dazu gehöre auch der Fall, dass ein Zustimmungsgesetz, das sich zwar auf die Regelung materiell-rechtlicher Fragen beschränke, in diesem Bereich jedoch Neuerungen in Kraft setze, die den nicht ausdrücklich geänderten Vorschriften über das Verwaltungsverfahren eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleihen würden.576 f) Teilung von Gesetzesvorhaben Zur weiteren Stützung seiner Ansicht verweist das Gericht darauf, dass der Bundestag nicht gehindert sei, „in Ausübung seiner gesetzgeberischen Freiheit ein Gesetzesvorhaben in mehreren Gesetzen zu regeln“. So könne er die materiell-rechtlichen Vorschriften in ein Gesetz aufnehmen, gegen das dem Bundesrat nur ein Einspruch zustehe und die Vorschriften über das Verfahren der Landesverwaltung in einem anderen, zustimmungsbedürftigen Gesetz beschließen.577 Folge man hier der Auffassung des Bundesrates – so das Gericht –, so wäre eine spätere Änderung des ersten Gesetzes, welches nur materielles Recht enthalte, nicht zustimmungsbedürftig; wären materielle und Verfahrensvorschriften aber in einem – dann zustimmungsbedürftigen – Gesetz enthalten, so wäre jede spätere Änderung dieses Gesetzes ebenfalls zustimmungsbedürftig. Nach Ansicht des Gerichts „wäre [es] aber widersinnig, wollte man diese beiden Fälle verschieden entscheiden“.578 Jenseits der argumentativen Einbindung verdient die Feststellung, dass es dem Bundesgesetzgeber offen stehe in Ausübung seiner gesetzgeberischen Freiheit ein Gesetzesvorhaben in mehreren Gesetzen zu regeln, besondere Beachtung. Erstmals 576

BVerfGE 37, 363 [383]. BVerfGE 37, 363 [382]. 578 BVerfGE 37, 363 [382 f.]. Das Gericht weist hier zu Recht auf die Widersinnigkeit der Unterscheidung bei der Behandlung materieller und formeller Aspekte in gemeinsamen bzw. getrennten Gesetzesbeschlüssen eines einheitlichen Gesetzesvorhabens hin. Diese Einsicht lässt sich allerdings auch auf die grundsätzliche Vorfrage der Reichweite des Zustimmungsrechts gemäß Art. 84 Abs. 1 GG a.F. übertragen. Führt im Fall verfahrensrechtlicher Regelungen die Trennung materieller und formeller Inhalte zur Zustimmungsbedürftigkeit allein des verfahrensregelnden Gesetzesbeschlusses, so macht es ebenso keinen Sinn im Fall eines zusammenfassenden Beschlusses die Zustimmungsbedürftigkeit auf die materiellen Inhalte auszudehnen. Das Argument der gesetzestechnischen Einheit vermag diesen Widerspruch eben nicht zu überwinden, wie das Gericht zumindest hinsichtlich der behaupteten zustimmungsauslösenden Wirkung materieller Änderungen eines vormals zustimmungsbedürftigen Gesetzes einräumt. 577

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

überhaupt stellt das Gericht ausdrücklich klar, dass materielle und formelle Bestimmungen eines an sich einheitlichen Gesetzgebungsvorhabens in gesonderten Vorlagen vom Bundestag beschlossen werden können. Wenn aber folglich die Möglichkeit der Unterscheidung materieller und verfahrensrechtlicher Bestimmungen offensichtlich besteht und der Gesetzgeber auf diesem Weg dem materiellen Vetorecht des Bundesrates ausweichen könnte, kann zur Begründung der Einheitsthese nicht das Gegenteil angeführt werden. Die gesetzgebungstechnischen Schwierigkeiten – sofern man sich auf diese zweifelhafte Argumentation überhaupt einlassen möchte – waren also keinesfalls immer zu erwarten. Es bleibt dabei: Die „kaum überwindbare[n] Schwierigkeiten im Gesetzgebungsverfahren und bei der Verkündung der Gesetze“, die die Differenzierung zwischen materiellen und formellen Bestimmungen betreffen, können jedenfalls nicht die Bedeutung des Gewichts der materiellen Gesetzgebungskompetenz des Bundestages erreichen; zumal wenn alternativ sowieso eine Aufteilung in Gesetze materiellen und formellen Inhalts uneingeschränkt möglich ist. Obwohl diese Problematik für das gegenständliche Normenkontrollverfahren nicht entscheidungserheblich war, hätte sich eine Auseinandersetzung aufgrund des Kontextes und der sonstigen grundsätzlichen Erwägungen geradezu aufgedrängt. g) Fazit Das Urteil enthält die grundlegenden Einschätzungen des Bundesverfassungsgerichts zu Funktion und Bedeutung des Bundesrates. Es betont die sekundäre Position des Bundesrates, indem es auf die lediglich als Mitwirkung konzipierte Teilhabe am Gesetzgebungsverfahren verweist und ein allgemeines Kontrollrecht gegenüber dem Bundestag ablehnt. Das durch Art. 77 Abs. 3 GG normierte Vetorecht des Bundesrates deklariert das Gericht als Ausnahme vom Regeltatbestand des Einspruchsgesetzes. Eine dieser Regel zuwiderlaufende Ausweitung der Beteiligung des Bundesrates durch die fortlaufende Übertragung eines einmaligen Zustimmungserfordernisses auf alle folgenden Änderungsgesetze weist die Entscheidung im Ergebnis zu Recht zurück und beendete damit den betreffenden Prinzipienstreit. Diese den Bundesrat beschränkende Interpretation des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. kann jedoch nicht als Rechtsprechung zu Lasten der Länder gewertet werden. Vielmehr liegt der entgegengesetzten Auffassung eine Überdehnung der Norm zugrunde, die mit dem Regelungszweck der Vorschrift noch weitaus stärker in Konflikt gerät, als es die These vom materiellen Vetorecht des Bundesrates bereits tut. Aus der zutreffenden Charakterisierung des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. als Schutzvorkehrung gegen Systemverschiebungen im föderalistischen Gefüge zieht das Gericht jedoch nicht die gebotenen Schlüsse. Zwar erkennt es als alleiniges Schutzgut des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. die in Art. 83 GG garantierte Hoheit der Länder über den Vollzug der Bundesgesetze. Dennoch legt es seinen weiteren Überlegungen – wie zuvor bereits in BVerfGE 8, 274 – die Auffassung zugrunde, das Vetorecht des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. erstrecke sich auch auf die materiellen Bestimmungen eines Bundestagsbe-

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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schlusses. Auch wenn die Entscheidung also im Ergebnis sachgerecht erfolgte, offenbart sie doch substanzielle Widersprüche und Unsicherheiten.

3. BVerfGE 55, 274 – Ausbildungsplatzförderungsgesetz 1976 (Urteil des Zweiten Senates vom 10. Dezember 1980) Den historischen Hintergrund bildete die in den 1970er Jahren zu verzeichnende Entwicklung einer deutlichen Zunahme der Zahl der Schulabgänger. Der ansteigenden Nachfrage nach Ausbildungsplätzen stand ein stagnierendes betriebliches Angebot gegenüber. Die Ausbildung eines nicht unerheblichen Teils der Schulabgänger schien damit in den Jahren ab 1977 nicht mehr gewährleistet zu sein. Um dem ungenügenden Angebot an Ausbildungsplätzen entgegenzuwirken, die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen sowie eine qualifizierte Berufsausbildung der Jugendlichen zu gewährleisten, beabsichtigte die Bundesregierung im Jahre 1975 die berufliche Bildung zu reformieren und für eine ausreichende Zahl an Ausbildungsplätzen zu sorgen. Der Regierungsentwurf eines neuen Berufsbildungsgesetzes wurde vom Bundestag angenommen; der Bundesrat versagte dem Gesetz jedoch seine Zustimmung. Daraufhin legten die Fraktionen der SPD und F.D.P. den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des Angebots an Ausbildungsplätzen in der Berufsausbildung vor. Er bestand im Wesentlichen aus Vorschriften über die Finanzierung der Berufsausbildung, Planung und Statistik und über das Bundesinstitut für Berufsbildung, wie sie schon in dem im Bundesrat gescheiterten Gesetzesvorhaben enthalten waren. Die ergänzenden steuerrechtlichen Regelungen wurden im Entwurf eines Gesetzes zur Regelung steuerrechtlicher und anderer Fragen der Ausbildungsplatzförderung zusammengefasst. Der Bundestag nahm beide Gesetzesvorlagen an. Nachdem das Vermittlungsverfahren ohne Ergebnis geblieben war, versagte der Bundesrat beiden Gesetzen die Zustimmung. Bundestag und Bundesregierung vertraten die Auffassung, das Ausbildungsplatzförderungsgesetz sei nicht zustimmungsbedürftig. Der Bundespräsident schloss sich dieser Auffassung an und fertigte das Gesetz aus. Das Ausbildungsplatzförderungsgesetz vom 7. September 1976 wurde am 9. September 1976 verkündet.579 Die Bayerische Staatsregierung beantragte gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 und § 76 Nr. 1 BVerfGG, das Ausbildungsplatzförderungsgesetz für nichtig zu erklären. Das Ausbildungsplatzförderungsgesetz sei ein Bundesgesetz über Steuern im Sinne des Art. 105 Abs. 3 GG und hätte deshalb der Zustimmung des Bundesrates bedurft. Da der Bundesrat seine Zustimmung versagt habe, sei das Gesetz nicht verfassungsgemäß zustande gekommen. Das Ausbildungsplatzförderungsgesetz hätte schließlich als Ganzes nach Art. 84 Abs. 1 GG der Zustimmung des Bundesrates 579

BGBl. I S. 2658.

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

auch deshalb bedurft, weil es in § 3 Abs. 5, 6 und 8 Nr. 2 und 3 bundesrechtliche Regelungen des Verwaltungsverfahrens enthalte.580 Zunächst stellt die Entscheidung fest, dass es sich bei der in § 3 Abs. 1 Satz 1 APlFG vorgesehenen Berufsausbildungsabgabe um eine Sonderabgabe und nicht um eine Steuer handele und daher auch nicht der Zustimmung nach Art. 105 Abs. 3 GG bedurft habe. Das Ausbildungsplatzförderungsgesetz habe jedoch nach Art. 84 Abs. 1 GG der Zustimmung des Bundesrates bedurft, weil es jedenfalls in § 3 Abs. 6 und Abs. 8 Nr. 3 Vorschriften über das Verwaltungsverfahren enthalte. Da der Bundesrat seine Zustimmung versagt habe, sei das Gesetz nach dem Grundgesetz nicht gültig zustande gekommen und deshalb nichtig. a) Kompetenzverteilung im Bundesstaat Eingangs seiner Begründung verweist das Gericht auf die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, Art. 83 sowie 30 GG, wonach den Ländern die umfassende Verwaltungszuständigkeit als eigene Angelegenheit übertragen sei. „Die in Rede stehende Kompetenzaufteilung ist eine wichtige Ausformung des bundesstaatlichen Prinzips im Grundgesetz und zugleich ein Element zusätzlicher funktionaler Gewaltenteilung. Sie verteilt politische Macht und setzt ihrer Ausübung einen verfassungsrechtlichen Rahmen, der diese Machtverteilung aufrechterhalten und ein Zusammenwirken der verschiedenen Kräfte sowie einen Ausgleich widerstreitender Belange ermöglichen soll.“581

Um die Länder vor einem Eindringen des Bundes in den ihnen vorbehaltenen Bereich der Verwaltung zu schützen, mache Art. 84 Abs. 1 GG (a.F.) das Zustandekommen von Bundesgesetzen, die Vorschriften über das Verwaltungsverfahren enthielten, von der Zustimmung des Bundesrates abhängig. Bezug nehmend auf BVerfGE 37, 363 unterstreicht das Gericht, dass das Zustimmungserfordernis die Grundentscheidung der Verfassung zugunsten des föderalistischen Staatsaufbaus absichern solle, indem es verhindere, dass Systemverschiebungen im bundesstaatlichen Gefüge im Wege der einfachen Gesetzgebung herbeigeführt werden.582 Bis zu dieser Stelle kann dem Entscheidungstext einschränkungslos gefolgt werden. Beschränkt er doch die Zielrichtung des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. zutreffend auf den klar benannten Zweck, ein Eindringen des Bundes in den prinzipiell den Ländern vorbehaltenen Bereich des Vollzugs der Bundesgesetze zu verhindern. Was jedoch dann folgt, entfernt sich von den zuvor formulierten Erkenntnissen derart, dass diese im Nachgang geradezu als Leerformel erscheinen.

580 581 582

BVerfGE 55, 274 [281 f., 286 f.]. BVerfGE 55, 274 [318 f.]. BVerfGE 55, 274 [319].

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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„Zustimmungsbedürftig ist nicht die einzelne Vorschrift über das Verwaltungsverfahren, sondern das Gesetz als Ganzes; dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 8, 274 [294 ff.]; 24, 184 [195]; 37, 363 [380 f., 383 f.]; 48, 127 [177 f.]). Damit wird den Ländern über den Bundesrat eine verstärkte Einflußnahme auch auf den materiell-rechtlichen Teil des Gesetzes ermöglicht.“583

Formulierung und Kontext lassen erkennen, dass das Gericht die Erstreckung des Vetorechts auf die materiellen Bestimmungen des Bundestagsbeschlusses nicht nur als bloße Folge verstanden wissen will, sondern als verfassungsgerichtlich adjudizierten Zweck des Art. 84 Abs. 1 GG a.F.. Das Gericht erweitert somit das Regelungsziel des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. auf eine Verstärkung des Einflusses der Länder auf die materielle Gesetzgebung des Bundes. Dieser Zweck ist Art. 84 Abs. 1 GG a.F. jedoch unter keinem verfassungsrechtlichen Blickwinkel zu entnehmen. Soweit der bis dahin ins Feld geführte Argumentationstopos der gesetzgebungstechnischen Einheit zumindest in gewisser Weise auf rechtlichen Überlegungen beruhte, offenbart diese Ausführung nunmehr eine deutliche verfassungspolitische Motivation. Dem Gericht ging es zu jenem Zeitpunkt erkennbar darum, dem Bundesrat um jeden Preis einen erheblichen Einfluss auf die materielle Gesetzgebung des Bundestages zu sichern. Dies mochte dem Gericht umso dringender erscheinen, je deutlicher sichtbar wurde, in welchem Ausmaß der Bund von seinem Recht zur Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 72 GG Gebrauch machte. Die Erosion der Kompetenzen der Länder auf diesem Gebiet beruhte in erheblichem Maße auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 2 GG. Das Gericht sah die Entscheidung über das Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. in diesem Bereich seit Beginn seiner Rechtsprechung als injustiziabel an.584 Der Bundestag konnte seither weitestgehend unkontrolliert über das Bedürfnis seines Tätigwerdens auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung entscheiden und nutzte dies extensiv aus. Diese Schwächung der Länderlegislativen mochte es manchem Beobachter als angemessen erscheinen lassen, den Bundesrat in einer Art Kompensation an der materiellen Bundesgesetzgebung zu beteiligen.585 Etwaige konkrete Beweggründe des Gerichts bleiben im Dunklen, da sich das Urteil insoweit näherer Ausführungen enthält. Jedenfalls konnte das Zugeständnis verstärkter materiell-rechtlicher Einflussnahme des Bundesrates allenfalls einer verfassungspolitischen Motivation entspringen, da keine verfassungsrechtlich haltbare Legitimation existierte.586 583

BVerfGE 55, 274 [319]. BVerfGE 2, 213 [224]. 585 So etwa Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 23; im Ansatz auch Sachs, VVDStRL 58, 1999, 39 (47); weitere Nachweise bei Haghgu, Die Zustimmung des Bundesrates, 2007, S. 240 f.; kritisch im Hinblick auf die gegenständliche Entscheidung SchulzeFielitz, DVBl. 1952, S. 328 (330). 586 Den mutmaßlichen Kompensationsgedanken allgemein ablehnend etwa Lerche, in: Maunz/Dürig, G, Art. 84 Rdnr. 63; Haghgu, Die Zustimmung des Bundesrates, 2007, S. 243; 584

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

Im Widerspruch zu der Feststellung, dass Art. 84 Abs. 1 GG a.F. allgemein dem Schutz gegen Verschiebungen des föderativen Gefüges diene – speziell jenem der Vollzugshoheit der Länder – nimmt es eine mindestens ebenso gewichtige Verschiebung vor, nämlich indem es dem Bundesrat materiellen Einfluss auf die Bundesgesetzgebung verschafft. Anders als in den zurückliegenden Entscheidungen, wo das Gericht lediglich mit der Figur der gesetzgebungstechnischen Einheit argumentierte, um die von ihm als kaum überwindbar apostrophierten technischen Schwierigkeiten zu umgehen, wird hier deutlich, dass es einen verstärkten Einfluss der Länder als solchen begrüßt. Der dahinter stehende Gedanke einer stärkeren Einflussnahme der Länder ist an sich nicht verwerflich, da er dem föderativen Gedanken substanzieller Eigenstaatlichkeit entspricht. Allerdings hätte die Umsetzung dieses Ziels unmittelbar auf dem Gebiet der Gesetzgebungskompetenzen stattfinden müssen. Zudem erfolgt – wie bereits dargelegt – lediglich eine Stärkung der Rechtsposition des Bundesrates und nicht der Länderparlamente. Das Gericht zweckentfremdet Art. 84 Abs. 1 GG a.F., indem es ihn dahingehend funktionalisiert, eine Stärkung des Einflusses der Länderregierungen auf die materiell-rechtliche Bundesgesetzgebung herbeizuführen und hierzu das Vetorecht des Bundesrates ausweitet. b) Die Sondervoten der Richter Rottmann und Hirsch Der mit dieser Entscheidung offen zu Tage getretene Widerspruch zwischen dem ursprünglich zutreffend formulierten Regelungsziel des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. und der nunmehr vorgenommenen Zweckentfremdung führte zu zwei abweichenden Sondervoten.587 Die Richter Rottmann und Hirsch wandten sich jeweils energisch gegen die von der Senatsmehrheit vertretenen Auslegung des Art. 84 Abs. 1 GG a.F.. Wenn das Ausbildungsplatzförderungsgesetz einzelne Normen enthielte, die das Verwaltungsverfahren der Länder regelten, dann – so Rottmann – hätte das Gericht lediglich diese Vorschriften für nichtig erklären dürfen. Die gegenteilige Auffassung der Senatsmehrheit, die sich auf den Wortlaut der Art. 78 und 84 Abs. 1 GG nicht stützen könne, sei ein Stück Verfassungskonkretisierung durch Richterspruch, dass allein mit praktischen Erwägungen begründet worden sei.588 Daraus, dass der Bundesrat materiellen und verfahrensrechtlichen Bestimmungen eines Gesetzesbeschlusses als Ganzem zustimme, folge nicht umgekehrt die Nichtigkeit eines solchen Gesetzes im Ganzen. Ein Gesetz könne, was die Frage seiner Gültigkeit angeht, regelmäßig sehr wohl hinsichtlich seiner einzelnen Bestimmungen unterschied-

die Kompensation der vermeintlich verminderten Verwaltungshoheit weist auch Hermes zurück, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.3, 1. Aufl. 2000, Art. 84 Rdnr. 48 f. 587 Insgesamt teilten sechs der acht Richter ihre von der jeweiligen Senatsmehrheit verschiedenen Ansichten in insgesamt vier Sondervoten mit. Vgl.: BVerfGE 55, 274 [329 ff.-Rinck/Steinberger/Träger; 331 ff.-Rottmann; 341 ff.-Hirsch; 345 ff.-Niebler]. 588 BVerfGE 55, 274 [333].

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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lich beurteilt werden, auch wenn es auf einheitliche Weise entstanden sei.589 Die Auffassung der Senatsmehrheit widerspreche der systematischen Konzeption des Gesetzgebungsrechts im Grundgesetz. Nach dieser Konzeption, die eine wesentliche Grundlage der verfassungsmäßigen Verteilung politischer Macht im demokratischen Bundesstaat bilde, sei das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates zu einem Gesetz die Ausnahme. Nur in jenen Fällen, in denen der Interessenbereich der Länder besonders stark berührt werde, so Rottmann unter Verweis auf BVerfGE 1, 76 [79]; 37, 363 [381], sei eine Zustimmung erforderlich.590 Die prinzipielle Erstreckung der Nichtigkeit einzelner Bestimmungen auf das ganze Gesetz gebe dem Bundesrat die Möglichkeit, aus vereinzelten, nebensächlichen Annexvorschriften mit geringfügigen oder unwesentlichen Auswirkungen auf die Organisationsgewalt der Länder oder deren Verwaltungsverfahren ein umfassendes Vetorecht gegen umfangreiche materiell-rechtliche Gesetzgebungsvorhaben des Bundes herzuleiten.591 Die Auffassung der Senatsmehrheit führe zu einer außerordentlich verstärkten Einflussnahme der Ländervertretung auf den Inhalt der Bundesgesetzgebung auch in solchen Fragen, die den grundgesetzlich geschützten Hoheitsbereich der Länder nicht berührten. Der daraus resultierende Einfluss auf die materielle Gesetzgebung des Bundes, der dem Bundesrat nach dem objektiven Sinngehalt des Grundgesetzes nicht zustehe, führe zu einer entscheidenden Verschiebung der verfassungsmäßigen Gewaltenverteilung.592 Die sich für den Bundestag ergebende Alternative der Aufteilung seiner Gesetzesvorhaben in zwei Gesetze oder der Verzicht auf verfahrensrechtliche Regelungen stelle ein der verfassungsrechtlichen Stellung der Gesetzgebungsorgane und dem praktischen Zweck der Gesetzgebung unangemessenes Ergebnis dar.593 Hirsch bekräftigt den Rang des Bundestages als Haupt-Gesetzgebungsorgan des Bundes, der die fraglichen materiell-rechtlichen Vorschriften in Wahrnehmung seiner Kompetenzen aus den Art. 71 ff. GG auch ohne Zustimmung des Bundesrates verfassungsgemäß erlassen habe. Im Falle der Nichtigerklärung des gesamten Gesetzes werde der Bundestag unnötigerweise gezwungen, diesen Teil des Gesetzgebungsverfahrens zu wiederholen.594 Die abweichenden Meinungen der Richter Rottmann und Hirsch verdienen ausdrückliche Zustimmung, da sie die Defizite und Widersprüche sowohl in der Begrün-

589 590 591 592 593 594

BVerfGE 55, 274 [334]. BVerfGE 55, 274 [334]. BVerfGE 55, 274 [335]. BVerfGE 55, 274 [335]. BVerfGE 55, 274 [335]. BVerfGE 55, 274 [342].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

dung der Senatsmehrheit als auch in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts rigoros aufdecken.595

c) Doppelgesichtigkeit materieller Normen Erwähnung verdient schließlich die Behandlung der bis dahin offenen Frage, welche Bestimmungen die Zustimmungsbedürftigkeit i.S.v. Art. 84 Abs. 1 GG a.F. auszulösen vermochten. Das Gericht positionierte sich zunächst folgendermaßen: „Das Zustimmungserfordernis gilt vielmehr allein für solche Bundesgesetze, die selbst das Verfahren der Landesbehörden regeln, also verbindlich die Art und Weise und die Formen ihrer Tätigkeit zur Ausführung des Gesetzes vorschreiben.“596 Angesichts der Beharrlichkeit der Senatsmehrheit bei der Verteidigung des materiell-rechtlichen Vetorechts des Bundesrates überrascht zunächst die restriktive Tendenz, die das Gericht in dieser Hinsicht zu zeigen scheint, zumal es explizit betont, dass „Art. 84 Abs. 1 GG a.F. strikt auszulegen“ sei.597 Jedoch auch in dieser Hinsicht setzt sich das Gericht in Widerspruch zu seinen zuvor formulierten Grundsätzen, indem es im Urteilstext nur wenige Zeilen weiter unten die These von der Doppelgesichtigkeit der Norm entwickelt: Auch ein materieller Gesetzesbefehl könne eine Ausgestaltung erhalten, die das ,Wie des Verwaltungshandelns verfahrensmäßig bindend festlege. Diese Doppelgesichtigkeit dürfe nicht dazu führen, dass materielle Normen eine verfahrensrechtliche Bindungswirkung gegenüber den Ländern entfalten, ohne dass dem Bundesrat die Zustimmung vorbehalten bleibe.598 Definiert das Gericht also zunächst die Regelung des Verfahrens der Landesbehörden im Sinne zielgerichteten Formulierens konkreter Verfahrensparameter – denn allein dies bedeutet „verbindlich die Art und Weise und die Formen ihrer Tätigkeit zur Ausführung des Gesetzes vorschreiben“ – erweitert es den Regelungsbegriff sodann auch auf materielle Normen, die das Verwaltungsverfahren allenfalls mittelbar determinieren. Dem kritischen Leser stellt sich erneut die Frage nach dem Sinn der Proklamation von Grundsätzen, deren prinzipielle Kraft den nächsten Gedanken nicht überdauert.599 Insbesondere im Hinblick auf seine zutreffende frühere Erkenntnis, dass die Zustimmung des Bundesrates nach der Konzeption des Grundgesetzes die Ausnahme 595

Auf eine gesonderte Auseinandersetzung mit den Sondervoten soll an dieser Stelle verzichtet werden, da sämtliche in ihnen enthaltene Kritikpunkte bereits im Rahmen der Darstellungen zu BVerfGE 8, 274 und BVerfGE 37, 363 eingehend erörtert wurden. 596 BVerfGE 55, 274 [319]. 597 BVerfGE 55, 274 [319]. 598 BVerfGE 55, 274 [321]. 599 Speziell zur fehlenden Konsistenz zwischen den aufgestellten Grundsätzen und der Einzelfallentscheidung vgl. die Sondervoten der Richter Rottmann und Hirsch, BVerfGE 55, 274 [338 ff., 344].

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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im Gesetzgebungsverfahren darstellt, verhält sich das Gericht an dieser Stelle geradezu paradox. Statt sich, wie zuerst formuliert, darauf zu beschränken, die Zustimmungsbedürftigkeit an eine zielgerichtete Festlegung der Verfahrensregelung zu binden, verstärkt das Gericht die sich aus Art. 84 Abs. 1 GG a.F. ergebende Unsicherheit zusätzlich und weitet den Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze aus.600 Es muss allerdings bezweifelt werden, dass das Gericht die inhaltliche Begrenzung des Regelungsbegriffs überhaupt in Erwägung gezogen hat, geschweige denn ernsthaft verfolgte. Angesichts der erkennbaren verfassungspolitischen Intention der Mehrheit des Senates, dem Bundesrat einen verstärkten Einfluss auf die materiell-rechtliche Bundesgesetzgebung zu ermöglichen, erübrigt sich an dieser Stelle jede weitere verfassungsrechtliche Erörterung.601 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle erwähnt, dass der Zweite Senat sich zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Relativierung dieser extensiven Rechtsprechung entschied, ohne sich allerdings von der Grundthese der Doppelgesichtigkeit materieller Normen ausdrücklich zu distanzieren.602

600 Vgl. wiederum die Sondervoten der Richter Rottmann und Hirsch, BVerfGE 55, 274 [338 ff., 344] sowie explizit zu BVerfGE 55, 274 Schulze-Fielitz, DVBl. 1982, S. 328 (330 f.); weitere kritische Stimmen: Antoni, AöR 113 (1988), S. 327 (376); Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.3, 1. Aufl. 2000, Art. 84 Rdnr. 31 f.; Meyer, K-Drs. 0013, S. 26 f. 601 Im vorliegenden Fall gelangte das Gericht zur Zustimmungsbedürftigkeit des § 3 Abs. 6 Satz 1 und 2 APlFG, die da lauteten: „Die Einzugsstellen können die Geschäftsbücher und sonstigen Unterlagen einsehen, um die eingereichten Lohnnachweise prüfen zu können. Ihnen sind die Geschäftsbücher und sonstigen Unterlagen zur Einsicht vorzulegen.“ Zur Begründung führt der Entscheidungstext aus: „Eine derartige Regelung bedeutet aus der Sicht der ausführenden Verwaltung, daß sie den Lohnnachweis entgegenzunehmen hat und prüfen muß, ob und wieweit sie ihn zur Grundlage ihrer weiteren Tätigkeit machen will, und daß sie gegebenenfalls zusätzliche Überprüfungen und Ermittlungen – nicht zuletzt auf dem vorgezeichneten Weg – anzustellen hat.“, BVerfGE 55, 274 [322]. – Die Absicht der Senatsmehrheit ist offensichtlich: Aus dem allgemeinen Verfahrensbezug einer materiellen Norm konstruiert sie eine verfahrensrechtliche Bindung der Landesverwaltung. Kritisch auch Schulze-Fielitz, DVBl. 1982, S. 328 (331), der zutreffend bemerkt: „Nach dieser Logik normiert jede gesetzliche Pflicht (eines Bürgers) gegenüber einer Verwaltungsbehörde zugleich das Verwaltungsverfahren, schon allein weil jeder Bürgerpflicht gegenüber einer Verwaltungsbehörde deren Pflicht zur Behandlung bzw. Verarbeitung korrespondiert“. I.d.S. auch Antoni, AöR 113 (1988), S. 327 (377). 602 Vgl. BVerfGE 75, 108 [152]. Um das Zustimmungsbedürfnis auszulösen, müsse eine materielle Norm „danach nicht nur irgendein, sondern ein verfahrensmäßiges Verhalten der Verwaltung“ festlegen. „Das ist nicht der Fall, wenn eine Norm einen materiell-rechtlichen Anspruch gewährt und damit zwar ein Handeln der Behörde erzwingt, aber das Verfahren hierfür – auch indirekt – nicht mit festlegt.“ Diese deutlich engeren Maßstäbe zugrunde gelegt, hätte das Gericht im gegenständlichen Fall § 3 Abs. 6 APlFG mutmaßlich nicht für zustimmungspflichtig befunden.

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

d) Fazit Im Ergebnis erklärte die Senatsmehrheit auch die materiellen Bestimmungen des Ausbildungsplatzförderungsgesetzes wegen fehlender Zustimmung des Bundesrates zu den vermeintlich zustimmungsbedürftigen doppelgesichtigen Normen für nichtig. Hierbei handelte es sich um das erste Urteil des Gerichts überhaupt, mit dem es aufgrund der These von der gesetzgebungstechnischen Einheit sämtliche Bestimmungen eines Gesetzesbeschlusses für nichtig befand. Auch diese Entscheidung ist gekennzeichnet vom Widerspruch zwischen bedeutenden grundsätzlichen Klarstellungen einerseits und inkonsequenter oder gar gegensätzlicher Anwendung der zuvor gewonnenen Erkenntnisse andererseits. So stellt das Gericht völlig zu Recht fest, dass „die in Rede stehende Kompetenzaufteilung [ist] eine wichtige Ausformung des bundesstaatlichen Prinzips im Grundgesetz und zugleich ein Element zusätzlicher funktionaler Gewaltenteilung“ darstellt. Aber dennoch lässt die Senatsmehrheit diese Erkenntnis unberücksichtigt, indem sie die materielle Gesetzgebungskompetenz des demokratisch legitimierten Bundestages teilweise durch ihre weite Auslegung des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. dem Bundesrat unterordnet. Die Befürwortung des materiellen Vetorechts des Bundesrates mit der unhaltbaren Begründung, dass durch Art. 84 Abs. 1 GG a.F. eine „verstärkte Einflussnahme auch auf den materiell-rechtlichen Teil des Gesetzes ermöglicht werde“, lässt zudem eine bedenkliche verfassungspolitische Motivation erkennen und steht in klarem Widerspruch zur Intention des Grundgesetzes.

4. BVerfGE 105, 313 – Lebenspartnerschaftsgesetz (Urteil des Ersten Senates vom 17. Juli 2002) Die Normenkontrollanträge der Länder Sachsen, Thüringen und Bayern richteten sich gegen das sog. Lebenspartnerschaftsgesetz vom 16. Februar 2001.603 Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens waren die materiellen und die formellen Reglungen des ursprünglich einheitlichen Entwurfs von SPD und Grünen auf zwei Gesetzesvorlagen aufgeteilt worden. Zugrunde lag die Absicht der Regierungsfraktionen, den ursprünglichen Gesetzentwurf in ein zustimmungsfreies und ein zustimmungspflichtiges Gesetz aufzuteilen, da mit einer umfassenden Zustimmung des Bundesrates nicht gerechnet werden konnte. Zur Abstimmung gelangten dementsprechend zwei Gesetze. Einerseits das Lebenspartnerschaftsgesetz, das die materiellen Regelungen zur Begründung und Beendigung eingetragener Lebenspartnerschaften für gleichgeschlechtliche Paare normierte. Andererseits das Lebenspartnerschaftsgesetzergänzungsgesetz, das ausschließlich verfahrensrechtliche Vorgaben für den Vollzug durch die Länder enthielt.

603 Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften (Lebenspartnerschaftsgesetz), BGBl. I S. 266.

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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Den Schwerpunkt des Verfassungsstreits bildete die Rüge der fehlenden Vereinbarkeit des Gesetzes mit dem nach Art. 6 Abs. 1 GG gebotenen Schutz von Ehe und Familie. Diese sowohl verfassungsrechtlich als auch gesellschaftspolitisch hoch brisante Problematik beurteilt das Gericht im Sinne der Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes.604 An dieser Stelle soll ausschließlich die Position des Gerichts in Bezug auf die Teilbarkeit von Gesetzesvorhaben erörtert werden. Im Kern bemängelten die Antragstellerinnen die Umgehung des gemäß Art. 84 Abs. 1 GG a.F. zustimmungsberechtigten Bundesrates. Die willkürliche Aufspaltung des Gesetzes, so die Antragsbegründung, in einen zustimmungsbedürftigen und einen nicht zustimmungsbedürftigen Teil während des Gesetzgebungsverfahrens führe zum Leerlaufen des Zustimmungsvorbehaltes.605 a) Aufteilung in materielle und verfahrensrechtliche Vorschriften während des Gesetzgebungsverfahrens Zwar handelte es sich nicht um das erste Gesetzesvorhaben, bei dem sich der Bundesgesetzgeber für eine Aufteilung der materiellen und formellen Bestimmungen entschieden hatte,606 jedoch hatte sich das Gericht bis dahin nie derart explizit zu einem solchen Vorgang geäußert.607 Zunächst stellt das Gericht fest, dass das Lebenspartnerschaftsgesetz keine speziellen zustimmungsauslösenden Bestimmungen enthalte. Insbesondere, so der Entscheidungstext, ergebe sich das Zustimmungserfordernis auch nicht aus der gerügten Aufspaltung in zwei Gesetze.608 Die Aufteilung des zunächst eingebrachten Gesetzentwurfs in das zu prüfende Lebenspartnerschaftsgesetz mit seinen materiellen Regelungen einerseits und in das verfahrensrechtliche Ergänzungsgesetz andererseits stünde im Einklang mit dem Grundgesetz. Der Bundestag, so das Gericht, sei verfassungsrechtlich nicht gehindert, in Ausübung seiner gesetzgeberischen Freiheit ein Gesetzgebungsvorhaben in mehreren Gesetzen zu regeln. Dabei könne er, wie hier geschehen, auch noch im laufenden Gesetzgebungsverfahren die von ihm angestrebten materiell-rechtlichen Bestimmungen in einem Gesetz zusammenfassen. Mit einer solchen Aufteilung werde weder das Recht der Länder, an der Gesetzgebung des Bun604 Vgl. etwa Tettinger, JZ 2002, S. 1146 ff., Lindenberg/Micker, DÖV 2003, 707 ff.; Windel, JR 2003, 152 ff. 605 BVerfGE 105, 313 [318 f.]. 606 Vgl. die Nachweise bei Haghgu, Die Zustimmung des Bundesrates, 2007, S. 304 ff.; Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (400 f.) sowie grundlegend zu dieser Thematik Fritz, Teilung von Bundesgesetzen, 1982. 607 Vgl. Sauter, in: Kirchhof u. a., FS für Klein, 1994, S. 561 (562 f.) – Allein anlässlich der Normenkontrolle des § 218a StGB in der Fassung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes hatte der Erste Senat eine entsprechende Aufteilung für zulässig befunden, vgl. BVerfGE 39, 1 [34 f.]. – Dabei, so Sauter zutreffend, hatte es jedoch „offengelassen, ob der Aufspaltungsbefugnis verfassungsrechtliche Grenzen gezogen sind und wo diese Grenzen verlaufen“. 608 BVerfGE 105, 313 [338].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

des mitzuwirken, in unzulässiger Weise eingeschränkt, noch kommt es zu einer Verschiebung der verfassungsrechtlich zugewiesenen Gewichte von Bundestag und Bundesrat bei der Gesetzgebung.609 Zunächst ist festzustellen, dass das Gericht mit dieser Beurteilung nichts grundsätzlich Neues mitteilt. Bereits in der Vergangenheit hatte es am Rande jener Entscheidung, die Art. 84 Abs. 1 GG a.F. betrafen, darauf hingewiesen, dass es die Aufspaltung in formelle und materielle Bestimmungen als in der Freiheit des Gesetzgebers stehend ansehe.610 Der maßgebliche qualitative Unterschied gegenüber den früheren Stellungnahmen besteht allerdings darin, dass das Gericht den Aspekt der Aufteilbarkeit von Gesetzesvorhaben nicht allein als argumentative Figur in einem anderweitigen Zusammenhang aufgreift bzw. sich nicht auf die bloße Feststellung der Zulässigkeit beschränkt. Erstmals erlangte die Frage, ob der Bundestag angesichts einer drohenden Zustimmungsverweigerung des Bundesrates die verfahrensrechtlichen Regelungen eines ursprünglich einheitlichen Gesetzesentwurfs separieren darf, um seine materiellen Vorstellungen unabhängig vom Bundesrat durchzusetzen, Entscheidungsrelevanz.611 Die Zustimmung des Gerichts vermag an sich nicht zu überraschen, da sich aus Art. 84 Abs. 1 GG a.F. ergibt, dass die Verbindung der materiellen Vorschriften mit verfahrensrechtlichen Vorgaben die Abweichung von der Regel darstellt. Bemerkenswert ist jedoch das explizite Anerkenntnis des Gerichts, dass der Bundestag auch im laufenden Gesetzgebungsverfahren eine solche Aufteilung vornehmen könne. Das Gericht deutet damit bereits an, dass es auch in der sukzessiven Aufteilung des Gesetzentwurfs eine ,legitime Umgehung der Bundesratszustimmung sieht. An fortgeschrittener Stelle verschafft der Entscheidungstext dann endgültige Klarheit. „Die Aufteilung verhindert, dass dem Bundesrat durch gemeinsame Behandlung materiellrechtlicher und verfahrensrechtlicher Regelungen in einem Gesetz ein Zustimmungsrecht auch hinsichtlich der materiell-rechtlichen Bestimmungen zuwächst. Sie sichert zugleich, dass der Bundestag die ihm zustimmungsfrei zugewiesenen Materien regeln kann, ohne auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen zu sein.“612

Der Bedeutungsgehalt dieser Textpassage erschöpft sich erkennbar nicht in der Feststellung der angeführten Tatsachen. Insbesondere dem zweiten Satz liegt die Prämisse zugrunde, dass der Bundestag zur Sicherung seiner materiellen Gesetzgebungskompetenz die Abhängigkeit vom Bundesrat strategisch umgehen können muss. Diese Einschätzung basiert wiederum auf dem überfälligen Anerkenntnis eines gesteigerten Gewährleistungsbedarfes des Bundestages in Anbetracht seiner 609

BVerfGE 105, 313 [338]. Vgl. BVerfGE 39, 1 [35] sowie 37, 363 [379 f.], 55, 274 [319] und 75, 108 [150]. 611 Anlässlich der BVerfGE 39, 1 [35] hatte sich das Gericht zwar ebenfalls zu dieser Frage positioniert, seine Entscheidung jedoch maßgeblich auf andere Erwägungen gestützt. 612 BVerfGE 105, 313 [340]. 610

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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Rechtsetzungshoheit. Freilich ohne dies konkret zu benennen, erkennt das Gericht demzufolge erstmals an, dass das Zustimmungserfordernis des Bundesrates in der Lesart der Einheitsthese die materielle Gesetzgebungshoheit des Bundestages erheblich einschränkt. Der Bundestag – so ist das Gericht zu verstehen – soll angesichts der materiellen Erstreckung des Zustimmungsrechts in der Lage sein, dem Veto des Bundesrates auszuweichen, um seine gesetzgeberischen Kompetenzen unabhängig vom Bundesrat ausüben zu können. Das Gericht schafft mit der Möglichkeit der Aufteilung der materiellen und formellen Bestimmungen eines Gesetzesvorhabens in zwei Gesetzesentwürfe eine Art Korrektiv zu der extensiven Auslegung des Vetorechts des Bundesrates. Indem es einerseits die Mitwirkung des Bundesrates an der Bundesgesetzgebung beschränkt, gewährleistet es andererseits die Kompetenzausübung des demokratisch legitimierten Hauptgesetzgebers.613 Die, insbesondere im Hinblick auf den zuletzt genannten Aspekt, notwendige Aufgabe der These des umfassenden Zustimmungserfordernisses nimmt das Gericht dennoch nicht vor. Die vorgenannten Ausführungen sind daher allenfalls als Schritt in die richtige Richtung zu bewerten. Das Gericht besteht weiterhin ohne tragfähige Begründung auf der Position eines materiellen Vetorechts des Bundesrats: „Denn das Erfordernis einer Zustimmung des Bundesrates erstreckt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf das ganze Gesetz als gesetzgebungstechnische Einheit, also auch auf an sich nicht zustimmungsbedürftige Normen (vgl. BVerfGE 8, 274 [294]; 37, 363 [381]; 55, 274 [319])“.614 Zugunsten des Ersten Senates lässt sich allenfalls anführen, dass er sich zunächst nicht scheut, die bisherige Rechtsprechung des Zweiten Senates zur Disposition zu stellen: „Ob an dieser Rechtsprechung angesichts der Kritik im Schrifttum (vgl. etwa Lücke in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 1999, Art. 77 Rn. 15; Maurer, Staatsrecht I, 2. Aufl. 2001, § 17 Rn. 74 ff.) festzuhalten ist, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, da der Gesetzgeber diesen Weg nicht gewählt hat.“615

Soweit Art. 84 Abs. 1 GG a.F. im Rahmen der Föderalismusreform nicht völlig neu konzipiert worden wäre, hätte dieser Satz bei nächster Gelegenheit vermutlich eine selbstkritische Auseinandersetzung des Gerichts ermöglicht. In der gegenständlichen Entscheidung sucht man jedoch vergeblich nach entsprechenden Ansätzen. Eine Abstandnahme oder gar grundsätzliche Infragestellung der von der Einheitsthe613 Bestätigung findet diese Einschätzung noch an anderer Stelle: „Unter der bisher angenommenen Voraussetzung, dass ein Gesetz schon dann insgesamt zustimmungsbedürftig wird, wenn es nur eine einzige zustimmungsbedürftige Vorschrift enthält (vgl. BVerfGE 8, 274 [294]; 55, 274 [319]), ist eine solche Aufteilung ein legitimer Weg, einer ausgreifenden Erstreckung der Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen zu begegnen und dem Parlament die Realisierung seines Gesetzesvorhabens zu ermöglichen.“; vgl. BVerfGE 105, 313 [341]. 614 BVerfGE 105, 313 [339]. 615 BVerfGE 105, 313 [339].

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4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

se bestimmten bisherigen Position des Gerichts ist nicht auszumachen.616 Dies verbietet sich in erster Linie wegen der gegenteiligen Ausführungen des Gerichts, auf die sogleich einzugehen ist. Andererseits aber auch wegen der mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffenden Vermutung, dass der Erste Senat sich nicht dazu berufen gefühlt haben dürfte, die jahrzehntelange Rechtsprechung des Zweiten Senates mit einem obiter dictum aufzugeben.617 Zudem hatte das Gericht mit der Bestätigung der Aufteilbarkeit von Gesetzesvorhaben einen nach seiner Auffassung gangbaren Ausweg aus dem Blockadeszenario aufgezeigt, weshalb es für eine Revision seiner Grundposition ohnehin keine Notwendigkeit gesehen haben dürfte. Dass der längst überfällige Hinweis auf die kritischen Stimmen keinesfalls den Beginn einer grundlegenden Infragestellung markiert, erweist sich primär anhand der weiteren Ausführungen des Gerichts: „Denn dem Bundesrat steht ein Zustimmungsrecht zu materiell-rechtlichen bundesgesetzlichen Regelungen – abgesehen von den im Grundgesetz vorgesehenen besonderen Fällen – nur dort zu, wo der Bundesgesetzgeber in den Zuständigkeitsbereich der Länder nach Art. 83 ff. GG eingreift.“618 In vergleichbar grober Verkennung des Regelungszwecks des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. und der Stellung des Legislativorgans Bundestag schließt sich der Erste Senat hiermit der bisherigen Rechtsprechung des Zweiten Senates an. Für die Annahme einer Distanzierung oder gar Verabschiedung von der Einheitsthese hätte es anderer Schritte bedurft. b) Fazit Die analysierte Entscheidung bildet den Abschluss der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. Aus der Perspektive des Gerichts stellt sie in gewisser Weise eine Abrundung der bisherigen Judikatur dar. Dem umfassenden Zustimmungs- und Vetorecht des Bundesrates kann der Bundestag von nun an mit ausdrücklicher Gestattung des Bundesverfassungsgerichts durch eine Aufteilung seiner Gesetzgebungsvorhaben gezielt ausweichen. Zuvor war die Aufteilung in einen zustimmungsfreien materiellen Teil und einen zustimmungsbedürftigen verfahrensrechtlichen Teil vom Gericht vorrangig als Argumentationstopos ins Spiel gebracht worden. Der Bundesgesetzgeber hatte sich freilich schon des Öfteren dieser Möglichkeit ungehindert bedient, weshalb sich die Bedeutung der Entscheidung in dem längst überfälligen verfassungsgerichtlichen Anerkenntnis der Notwendigkeit 616

A.A. etwa Haghgu, Die Zustimmung des Bundesrates, 2007, S. 211. Dies letztlich auch deshalb, weil sich das BVerfG bis zuletzt der Zustimmung eines bedeutenden Teils des staatsrechtlichen Schrifttums gewiss sein konnte. Vgl. die Nachweise neueren Datums bei Isensee, in: Brink/Wolff, FS für v. Arnim, 2004 S. 603 (607 f.). – Prinzipiell ist davon auszugehen, dass sich die Senate nicht ohne zwingende Gründe von ihren bisherigen Positionen trennen. Selbst als die negativen Folgen der Rechtsprechung angesichts der ,Blockade des Bundesrates in vollem Umfang erkennbar waren und die Frage des Zustimmungsrechts erstmals praktisch entscheidungsrelevant wurde, hatte der Zweite Senat in BVerfGE 55, 274 an seiner bisherigen Auffassung festgehalten und sie sogar weiter ausgebaut. 618 BVerfGE 105, 313 [340]. 617

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

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der Gewährleistung der materiellen Gesetzgebungshoheit des Bundestages erschöpft. Das Gericht wird der Stellung des Bundestages als Hauptgesetzgebungsorgans dennoch nicht gerecht. Die tatsächlich erforderliche Auseinandersetzung mit der eigens angesprochenen Kritik aus den Reihen des Schrifttums unterbleibt weiterhin. Der Erste Senat schließt sich in letzter Konsequenz sogar weitgehend der Rechtsprechung des Zweiten Senates an, indem er das vermeintliche materiell-rechtliche Vetorecht des Bundesrates der ratio des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. zuordnet.

5. Zusammenfassung Bereits vor der ersten Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts zur Reichweite des Zustimmungsrechts des Bundesrates nach Art. 84 Abs. 1 GG wies Hans Schneider gleichsam warnend darauf hin, dass der Bundesrat in eben dieser Verfassungsnorm das große Einfallstor in die Rechtssetzungshoheit des Bundes gefunden habe.619 Ungeachtet dieser frühen Warnung entschied sich der Zweite Senat des Gerichts dennoch kurze Zeit später dafür, die extensive Auslegung des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. zu übernehmen. Ohne dass dies seinerzeit absehbar gewesen wäre, schuf das Gericht damit die Grundlage für die spätere oppositionspolitische Instrumentalisierung der Bundesratsmehrheit zur Blockade der Regierungspolitik. Obwohl es im Hinblick auf die prinzipielle Trennung von Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen auf Bundesebene näher gelegen hätte, dem lediglich verfahrensbezogenen Ingerenzrecht des Bundestages ein inhaltlich deckungsgleiches Vetorecht des Bundesrates gegenüber zu stellen, entschied sich das Gericht dennoch für die Annahme eines allumfassenden Zustimmungsvorbehaltes des Bundesrates. Zur Legitimation verwies es auf den Topos der gesetzgebungstechnischen Einheit des Bundestagsbeschlusses, wonach formelle und materielle Normen des Beschlusses nicht getrennt werden könnten. Dieser formalistische Ansatz ignorierte die demokratisch legitimierte Kraft der materiellen Gesetzgebungskompetenz des Bundestages, hinter der jedes gesetzgebungstechnische Problem weit zurückstehen muss. Ein verfassungsgerichtlicher Hinweis an den Bundesrat, die von ihm missbilligten Verfahrensnormen eindeutig zu benennen – wohlgemerkt, ohne eine Begründungspflicht auszulösen – hätte eine entsprechende Aussonderung leicht ermöglicht. Eine tragfähige Begründung, die die verfassungsrechtlich relevanten Aspekte und Möglichkeiten einbezieht, sucht man jedenfalls vergebens. Die Rechtsprechung ist stattdessen gekennzeichnet vom Widerspruch zwischen der zutreffenden Erfassung der ratio des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. und der extensiven Ausdehnung des Zustimmungsrechts. Zugunsten des Bundesverfassungsgerichts sind zu erwähnen die Einordnung des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. als Schutzvorkehrung gegen Systemverschiebungen im föderalistischen Gefüge, das Anerkenntnis des 619

Schneider, DVBl 1953, S. 257 (257).

196

4. Kap.: Die Gesetzgebung im Bundesstaat

grundgesetzlichen Kompetenzdualismus der Gesetzgebungshoheit des Bundestages und der Verwaltungshoheit der Länder, die Einordnung des Zustimmungsgesetzes als konzeptionelle Ausnahme sowie die Betonung der lediglich mitwirkenden Rolle des Bundesrates im Hinblick auf die Teilhabe an der Bundesgesetzgebung. Indem das Gericht dennoch an einem materiellen Vetorecht des Bundesrates festhält, negiert es sämtliche zuvor gewonnenen Erkenntnisse und verkennt zudem die überragende Bedeutung der Gesetzgebungshoheit des demokratisch legitimierten Bundestages. Der Bundesrat erhielt gravierenden Einfluss auf die materielle Gesetzgebung, die an sich allein dem Bundestag oblag – die Konstellation des Zustimmungsgesetzes wurde zum Regelfall und der Kompetenzdualismus damit ausgehöhlt. Die Inkonsistenz der Rechtsprechung ist teilweise sogar auf eine rein bundesstaatspolitische Motivation des Gerichts zurückzuführen, die das verfassungsrechtliche Defizit umso deutlicher zu Tage treten lässt. Etwa indem es Art. 84 Abs. 1 GG a.F. den Zweck einer verstärkten materiell-rechtlichen Einflussnahme der Länder auf die Bundesgesetzgebung entnehmen zu können glaubte. Erst zuletzt gibt das Gericht ansatzweise zu erkennen, dass es nicht ausschließt, die ausgreifende Interpretation des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. zu überprüfen. Die zunehmende Kritik zwar registrierend, beharrte das Gericht dennoch weiterhin auf dem materiellen Vetorecht des Bundesrates. Als angemessener Ausweg erschien es ihm, die Aufteilung eines einheitlichen Gesetzesentwurfs in zustimmungsfreie und zustimmungsbedürftige Vorschriften als verfassungsgemäß zu bestätigen. Eine Praxis, zu der sich der Bundestag zur Umgehung des Vetos des Bundesrates zuletzt häufiger gezwungen sah. Auch hierbei verkannte das Gericht die Bedeutung der demokratischen Legitimation des Bundestages. Das Parlament darf bei der Ausübung seiner materiellen Rechtssetzungshoheit – unabhängig davon, ob es zugleich verfahrensrechtliche Vorgaben beschließt – nicht zu gesetzgebungstechnischen Ausweichmanövern gezwungen werden. Aus föderalistischer Perspektive führte die Rechtsprechung zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. in ein Dilemma. Einerseits erhielt der Bundesrat eine Schlüsselposition bei der Bundesgesetzgebung. Dieser Machtzuwachs erschöpfte sich allerdings in der Möglichkeit, die Gesetzesbeschlüsse des Bundestages zu suspendieren und letztlich völlig außer Kraft zu setzen. Hingegen blieb eine substantielle Stärkung der Länder im Sinne eines greifbaren Zugewinns an Eigenständigkeit aus. Das Vetorecht der Landesregierungen geriet allenfalls zur taktischen Verhandlungsmasse gegenüber dem Bund. Im Ergebnis wurden die destruktiven Befugnisse des Bundesrates derart ausgeweitet, dass sie die Arbeit des Bundesgesetzgebers unangemessen erschwerten. Die Problematik der extensiven Auslegung des Art. 84 Abs. 1 GG a.F. wurde durch die Föderalismusreform zielgerichtet beseitigt, indem der Bundestag nunmehr ohne Zustimmung des Bundesrates die Behördeneinrichtung und das Verwaltungsverfahren regeln kann. Die Länder wiederum wurden durch entsprechende Abweichungsrechte gestärkt, auf die der Bund allerdings wiederum reagieren kann. Die gegenständliche Problematik stellt sich somit allein im Hinblick auf Art. 84 Abs. 1 Satz 6 GG, dessen Wortlaut misslicherweise dem des Art. 84 Abs. 1 GG

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates

197

a.F. ähnelt und damit wiederum Raum für Interpretationen lässt.620 Die Perspektive dieser Vorschrift kann vor dem Hintergrund der Folgen der früheren Rechtsprechung nur in einer restriktiven Auslegung des Zustimmungserfordernisses liegen.621 Eine erneute Erstreckung auf den materiellen Gehalt widerspräche den negativen Erfahrungen mit der Rechtsprechung zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. sowie dem Hauptziel der Föderalismusreform, der Entflechtung staatlicher Zuständigkeiten.

620 621

Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.3, 2. Aufl. 2008, Art. 84 Rdnr. 62, 67 f. Trute, in: Starck (Hrsg.), Föderalismusreform, 2007, Rdnr. 147 ff. (153).

5. Kapitel

Die Finanzverfassung I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum horizontalen Länderfinanzausgleich und den Bundesergänzungszuweisungen gemäß Art. 107 Abs. 2 GG Zur Wahrnehmung ihrer verfassungsrechtlichen Befugnisse und Aufgaben bedürfen Bund und Länder einer angemessenen Finanzausstattung, die in erster Linie durch die Zuweisung von Steuererträgen gewährleistet wird. Das Grundgesetz regelt die Verteilung der Ausgabenlasten in Art. 104a GG, die Kompetenzen für die Steuergesetzgebungshoheit in Art. 105 GG, die Steuerertragshoheit in Art. 106 GG, Art. 107 GG regelt den Finanzausgleich zwischen den Ländern und Art. 108 GG schließlich die Finanzverwaltung und die Finanzgerichtsbarkeit. Die grundsätzliche Bedeutung dieser Bestimmungen für das föderale System hat das Bundesverfassungsgericht durch folgenden Leitsatz umrissen: „Die in den Art. 104a bis Art. 108 GG enthaltenen finanzverfassungsrechtlichen Normen sind einer der Eckpfeiler der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes.“622 Das Bundesverfassungsgericht betrachtet die Gesamtheit der genannten finanzverfassungsrechtlichen Normen demnach als integralen Bestandteil der Bundesstaatsverfassung. Die vorliegende Untersuchung widmet sich speziell der Rechtsprechung zu Fragen des sogenannten sekundären horizontalen Finanzausgleichs, also dem Länderfinanzausgleich im engeren Sinne, sowie den Bundesergänzungszuweisungen. Der sekundäre Länderfinanzausgleich nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG dient dem angemessenen Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder untereinander. Die Bundesergänzungszuweisungen gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG dienen hingegen der ergänzenden Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs leistungsschwacher Länder durch den Bund. Die Verfassung sieht demnach Transferleistungen einerseits der aufkommensstarken Länder und andererseits des Bundes zugunsten der finanzschwachen Länder vor. Das Volumen des Finanzausgleichs betrug 2007 immerhin 7,8 Mrd. Euro, die von fünf Ländern erbracht wurden und einer Mehrheit von elf Ländern zugute kamen; die Bundesergänzungszuweisungen betrugen

622

BVerfGE 105, 185 [194].

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

199

14,8 Mrd. Euro.623 Den Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur Konkretisierung und Ausprägung dieser bundesstaatlichen Solidarmechanismen zu veranschaulichen und zu bewerten ist Gegenstand dieses Kapitels.

1. BVerfGE 1, 117 – Länderfinanzausgleich I (Urteil des Ersten Senates vom 20. September 1952) Gegenstand des Normenkontrollverfahrens war das Bundesgesetz über den Finanzausgleich unter den Ländern im Rechnungsjahr 1950 vom 16. März 1951. Die Regierungen der Länder Württemberg-Baden und Hamburg stellten den Antrag, das Finanzausgleichsgesetz 1950 für nichtig zu erklären. Die Hauptrüge der Antragsteller ging dahin, dass der Bundesgesetzgeber mit dem angefochtenen FAG, die ihm durch Art. 106 Abs. 4 GG eingeräumte Befugnis überschritten und ein Finanzausgleichssystem entwickelt habe, das mit dem bundesstaatlichen Aufbau unvereinbar sei. Art. 106 Abs. 4 S. 1 GG in der ursprünglichen Fassung lautete: „Um die Leistungsfähigkeit auch der steuerschwachen Länder zu sichern und eine unterschiedliche Belastung der Länder mit Ausgaben auszugleichen, kann der Bund Zuschüsse gewähren und die Mittel hierfür bestimmten, den Ländern zufließenden Steuern entnehmen.“624 Ausgehend vom Wortlaut oblag die Entscheidung über den Ausgleich der unterschiedlichen Finanzstärke der Länder dem Bund. Es lag also allein in seinem Ermessen, zugunsten der Sicherung der Leistungsfähigkeit der Länder einzugreifen. Sofern er einen entsprechenden Entschluss fasste, konnte er den finanzschwachen Ländern Zuschüsse zuteil werden lassen. Hierbei hatte er auf die Steuereinnahmen der finanzstarken Länder zurückzugreifen. Die damalige Konzeption des horizontalen Länderfinanzausgleichs unterschied sich damit fundamental von den späteren Regelungen. Seit 1955 sieht Art. 107 Abs. 2 GG die verfassungsrechtliche Garantie eines finanziellen Ausgleichs zwischen leistungsfähigen und leistungsschwachen Ländern vor, der aus Beiträgen leistungsfähiger Länder zu bestreiten ist.625 Ein Ermessensspielraum des Bundes besteht seither nicht mehr. 623 URL:http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_4480/DE/BMF__Startseite/Service/Downloads/Abt__V/KAP__V__3,templateId=raw,property=publicationFile.pdf; vgl. SchulzeSteikow/Dietz/Müller, Wirtschaft und Statistik 2008, S. 438 (444). 624 Grundgesetz vom 23. Mai 1949 (BGBl. S.1); Art. 106 Abs. 4 Satz 2 GG lautete: „Durch Bundesgesetz, welches der Zustimmung des Bundesrates bedarf, wird bestimmt, welche Steuern hierbei herangezogen werden und mit welchen Beträgen und nach welchem Schlüssel die Zuschüsse an die ausgleichsberechtigten Länder verteilt werden; die Zuschüsse sind den Ländern unmittelbar zu überweisen.“ Zum historischen Werdegang des Länderfinanzausgleichs: Höpker-Aschoff, AöR 75 (1949), S. 306 (321 ff.). 625 Bereits mit dem Finanzverfassungsgesetz vom 23. 12. 1955 (BGBl. I S. 817) wurde der Finanzausgleich in Art. 107 Abs. 2 GG wie folgt geregelt: „Durch Bundesgesetz, das der

200

5. Kap.: Die Finanzverfassung

Dem angefochtenen FAG lagen folgende Strukturen zugrunde: Von den Steuereinnahmen eines Landes und seiner Gemeinden wurden bestimmte Lasten wegen ihrer überregionalen Bedeutung und ungleichmäßigen Verteilung als Ausgleichslasten abgezogen. Die Höhe der verbleibenden Steuereinnahmen ergab die Finanzkraft des Landes. Die daraus abgeleitete Finanzkraftmesszahl wurde mit der Ausgleichsmesszahl verglichen, die wiederum die bundesdurchschnittliche Finanzkraft am Maßstab der Bundesbevölkerung abbildete. Länder, deren Finanzkraftmesszahl ihre Ausgleichsmesszahl überstieg, hatten die Ausgleichsbeträge an die Bundeshauptkasse zu zahlen, woraufhin diese vom Bundesfinanzministerium an die anderen Länder verteilt wurden.626 Die Landesregierung Württemberg-Baden beanstandete, dass das Gesetz über die dem Bundesgesetzgeber durch Art. 106 Abs. 4 GG eingeräumte Befugnis hinaus gehe, da es sich nicht auf Zuschüsse beschränke, sondern einen allgemeinen horizontalen Finanzausgleich durchführe. Damit verstoße das FAG gegen das in Art. 20 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 3 GG ausgesprochene bundesstaatliche Verfassungsprinzip und zugleich gegen die in Art. 109 GG gewährleistete Selbständigkeit der Haushaltswirtschaft der Länder, weil es auf die Leistungsfähigkeit der gebenden Länder keine Rücksicht nehme und statt eines erlaubten Spitzenausgleichs eine völlige Nivellierung herbeiführe.627 Im Anschluss an die Darstellung des historischen Werdegangs der Konstitution des Art. 106 GG628 widmet sich die Entscheidung dem grundsätzlichen Einwand, dass ein voll ausgebautes System des Finanzausgleichs, wie es das angefochtene Gesetz enthalte, mit der bundesstaatlichen Struktur der Bundesrepublik unvereinbar sei. Zwar sei es zutreffend, so das Bundesverfassungsgericht, dass Art. 79 GG die Gliederung des Bundesstaates in Länder garantiere und Art. 109 GG die Selbständigkeit der Haushaltswirtschaft der Länder besonders gewährleiste. Die einseitigen Rückschlüsse der Antragstellerin träfen dennoch nicht zu. Zustimmung des Bundesrates bedarf, ist ein angemessener finanzieller Ausgleich zwischen leistungsfähigen und leistungsschwachen Ländern sicherzustellen; hierbei sind die Finanzkraft und der Finanzbedarf der Gemeinden (Gemeindeverbände) zu berücksichtigen. Dieses Gesetz bestimmt, daß aus Beiträgen leistungsfähiger Länder (Ausgleichsbeiträgen) leistungsschwachen Ländern Ausgleichszuweisungen gewährt werden.“ – Art. 107 Abs. 2 GG der aktuellen Fassung sieht ausdrücklich vor, dass per Gesetz „die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen ausgeglichen wird“ und spricht von den „Ausgleichsansprüchen der ausgleichsberechtigten Länder“ und den „Verbindlichkeiten der ausgleichspflichtigen Länder“. 626 Vgl. BVerfGE 1, 117 [122 f.]. 627 BVerfGE 1, 117 [123 f.] – Des Weiteren beklagte die Antragstellerin einen Verstoß gegen Art. 29 GG, da das FAG leistungsunfähige Länder künstlich am Leben erhalte und damit die vorgesehene Neugliederung des Bundesgebietes hemme. Ferner verstoße das FAG gegen den Gleichheitsgrundsatz, da es die gebenden Länder ungleich behandle, indem es ein reiches Land wie Nordrhein-Westfalen mit verhältnismäßig geringeren Beträgen heranziehe, während es die Vorbelastung Württemberg-Badens durch den Finanzausgleich im Jahre 1949 nicht berücksichtige. Zu weiteren Einzelheiten der Klagebegründung vgl. BVerfGE 1, 117 [124 f.]. 628 BVerfGE 1, 117 [127 ff.].

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

201

„Das bundesstaatliche Prinzip begründet seinem Wesen nach nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Eine dieser Pflichten besteht darin, daß die finanzstärkeren Länder den schwächeren Ländern in gewissen Grenzen Hilfe zu leisten haben. Diese Pflichtbeziehung führt nach der Natur der Sache zu einer gewissen Beschränkung der finanziellen Selbständigkeit der Länder.“629

Das Gericht weist an dieser Stelle dezidiert darauf hin, dass die Funktionstüchtigkeit des föderativen Systems der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich von der Solidarität der Bündnisglieder untereinander abhängt. Hinsichtlich der Finanzausstattung leitet das Gericht aus der bundesstaatlichen Gemeinschaft der Länder eine konkrete Verpflichtung zur Unterstützung der finanzschwachen Länder ab. Diese Beurteilung verdient in verschiedener Hinsicht besondere Beachtung. Einerseits ist darin die grundsätzliche Bestätigung des horizontalen Finanzausgleichs enthalten. Die durch ihn praktizierte Umverteilung zwischen den Gliedstaaten war zuvor in keinem anderen bundesstaatlichen System praktiziert worden. In Staaten wie den USA und der Schweiz erfolgt der Finanzausgleich bis zuletzt durch vertikale Zuweisungen des Zentralstaates.630 Umso beachtlicher erscheint die Selbstverständlichkeit, mit der das Gericht unmittelbare Hilfeleistungspflichten der Länder aus Art. 106 Abs. 4 GG ableitete und diese auf das Bundesstaatsprinzip des Grundgesetzes zurückführte. Rückblickend hat wohl diese eindeutige Haltung des Gerichts maßgeblich dazu beigetragen, dass die heute geläufige weitreichende Ausprägung des horizontalen Finanzausgleichs eine unangefochtene Position innerhalb des Systems der bundesstaatlichen Einnahmeverteilung einnimmt.631 Der im Hinblick auf den zugrunde liegenden Untersuchungsgegenstand bedeutsamste Beitrag des Bundesverfassungsgerichts besteht darin, dass es die Konzeption des horizontalen Finanzausgleichs nach Art. 106 Abs. 4 GG a.F. im Sinne einer Solidargemeinschaft der Länder interpretiert hat. Aus dem damaligen Text der Verfassung konnte das Gericht eine derartige solidarische Obliegenheit nicht unmittelbar ableiten. Art. 106 Abs. 4 Satz 1 GG a.F. enthielt, wie bereits erwähnt, lediglich die Vorgabe, dass der Bund Zuschüsse gewähren 629 BVerfGE 1, 117 [131], – In diesem Zusammenhang verweist das Gericht darauf, dass der Parl. Rat die in Art. 37 Herrenchiemseer Entwurf vorgeschlagene Fassung, wonach den Ländern eine selbständige Finanzwirtschaft gewährleistet werden sollte, gerade nicht angenommen hatte. Vielmehr habe er mit Art. 109 die heutige einschränkende Variante der Haushaltswirtschaft gewählt und diese Bestimmung, die ursprünglich vor den Artikeln 105 bis 108 gestanden habe, deshalb diesen Artikeln nachgestellt, um deutlich zu machen, dass sie den Bestimmungen der Artikel 105 bis 108 keinen Abbruch tue und die Länder, die in den vorangegangenen Artikeln ausgesprochenen Einschränkungen ihrer Finanzhoheit hinzunehmen hätten. 630 Korioth, Finanzausgleich, 1997, S. 538. 631 Vgl. Korioth, Finanzausgleich, 1997, S. 539, mit dem zutreffenden Hinweis, dass nach dieser ersten Finanzausgleichsentscheidung des Jahres 1952 die prinzipielle Zulässigkeit horizontaler Finanzzuweisungen auch von den zahlungspflichtigen Ländern nicht mehr in Zweifel gezogen worden sei. I.d.S. auch Geske, Der Staat 2007, S. 203 (205), der in der zitierten Passage zutreffend den „zentralen Leitsatz für den Finanzausgleich unter den Ländern“ erkennt und ihn als „Kernaussage aller nachfolgenden Entscheidungen“ ansieht.

202

5. Kap.: Die Finanzverfassung

könne, um die Leistungsfähigkeit auch der steuerschwachen Länder zu sichern und eine unterschiedliche Belastung der Länder mit Ausgaben auszugleichen. Die Rezeption des Verfassungswortlautes ist somit primär davon geprägt, dass die Gewährung dieser Zuschüsse in das Ermessen des Bundes gestellt ist.632 Ebenso lässt sich der Bestimmung, dass der Bund die für die Zuschüsse erforderlichen Mittel bestimmten Ländersteuern entnehmen könne, keine ausdrückliche Verpflichtung der finanzstarken gegenüber den schwachen Ländern entnehmen. Zwar offenbart die Bezugnahme auf die Ländersteuern, aus denen der Bund die Mittel für die Zuschüsse zu entnehmen hat, einen unweigerlichen Rückgriff auf die Verfügungsmasse der Länder. Dennoch vermittelt der Wortlaut nicht den Eindruck, als hätte der Verfassungsgeber den horizontalen Finanzausgleich im Sinne länderübergreifender Solidarität ausgestalten wollen. Vielmehr erscheint er als finanzpolitisches Instrument des Bundes, verbunden mit weitgehenden Zugriffsrechten hinsichtlich der Steuern der Länder. Angesichts des insoweit zumindest unspezifischen Wortlauts633 der Verfassungsnorm, die den Bund als maßgeblichen Akteur in den Mittelpunkt des Länderfinanzausgleichs stellt, ist die Interpretation des Gerichts eindeutig als föderalistisch zu bewerten. Schließlich erfährt der horizontale Finanzausgleich durch die Einschätzungen des Gerichts eine bedeutende ländersolidarische Aufwertung. Die Länder sind danach nicht abhängige Zuschussempfänger des Bundes, sondern eine finanzsolidarische Gemeinschaft, die ihren schwachen Gliedern mit eigenen Kräften und Mitteln unter die Arme greift. Dem Bund kommt insoweit nur eine fiduziarische Funktion bei der Abwicklung des Länderfinanzausgleichs zu. Das Bundesverfassungsgericht verleiht dem Länderfinanzausgleich also den Status eines föderativen Solidaritätsprinzips. Zugleich negiert es damit jene Tendenz des Wortlautes des Art. 106 Abs. 4 GG, die einen reinen Verteilungsmechanismus impliziert.

632 Bemerkenswert ist daher die fehlende Berücksichtigung der Position des Bundes im Rahmen der Urteilsbegründung. Ursächlich hierfür dürfte die Mitwirkung des Vorsitzenden des ersten Senates und damaligen Präsidenten des BVerfG Höpker-Aschoff gewesen sein. Dieser bemerkte bereits 1949 im Hinblick auf Art. 106 Abs. 4 GG: „Es ist leicht zu erkennen, daß es sich bei der in Absatz 4 vorgesehenen Regelung gar nicht um Zuschüsse des Bundes, sondern um eine Verrechnung unter den Ländern handelt.“, vgl. Höpker-Aschoff, AöR 75 (1949), S. 306 (326), sowie ders. bereits in DÖV 1949, S. 282 (284), mit dem zusätzlichen Hinweis, dass bestimmte Formulierungen des Art. 106 Abs. 4 GG „auf Wunsch der Besatzungsmächte“ erfolgten. Diesen Äußerungen lässt sich die Auffassung Höpker-Aschoffs entnehmen, die eigentliche Zielrichtung des Art. 106 Abs. 4 GG liege in einem vom Bund unabhängigen Finanzkraftausgleich der Länder, wie sie eben auch der gegenständlichen Entscheidung zugrunde liegt. I.d.S. auch Korioth, Finanzausgleich, 1997, S. 341, der auf die maßgebliche Rolle HöpkerAschoffs sowohl im Finanzausschuss des Parl. Rates (a.a.O. S. 337) als auch dessen Beteiligung bei der Abfassung des gegenständlichen Urteils (a.a.O. S. 341) verweist. 633 Selbst der Urteilstext spricht vom „dunklen Sinn dieser Bestimmung“, BVerfGE 1, 117 [127]; vgl. Korioth, Finanzausgleich, 1997, S. 340, der davon ausgeht, dass die Formulierung „bewusst etwas unklar“ ausfiel, um den von den Alliierten mit Befremden aufgenommenen Gedanken eines horizontalen Länderfinanzausgleichs nicht allzu offensichtlich werden zu lassen; ebenso Fischer-Menshausen, DÖV 1949, S. 401 (401).

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

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a) Schwächungs- und Nivellierungsverbot Im Anschluss an die Reklamation der Hilfeleistungspflicht der finanzstarken Länder weist das Gericht zutreffend darauf hin, dass damit eine gewisse Beschränkung ihrer finanziellen Selbständigkeit einhergehe. Sodann offenbart es, wann es die Grenze zur Verfassungswidrigkeit als überschritten ansieht. „Ein Verstoß gegen das bundesstaatliche Prinzip könnte dann in Betracht kommen, wenn der im FAG vorgesehene Ausgleich die Leistungsfähigkeit der gebenden Länder entscheidend schwächte oder zu einer Nivellierung der Länderfinanzen führte.“634

Eine entscheidende Schwächung der Leistungsfähigkeit verneinte das Gericht, mit der knappen Feststellung, dass die von Württemberg-Baden und Hamburg aufzubringenden Beträge in ihren Haushalten nicht mehr als 7,16 bzw. 4,08 Prozent der Gesamtausgaben ausmachten.635 Zwar lässt es offen, ab welchem prozentualen Abfluss von Finanzkraft die damit einhergehende Schwächung ein Maß erreicht, das als entscheidend anzusehen ist. Jedenfalls sieht es diese Grenze im Fall WürttembergBadens aber oberhalb von 7 Prozent der Gesamtausgaben. Selbst wenn man die Finanzkraft Württemberg-Badens mit 32,5 Prozent über dem Bundesdurchschnitt zugrunde legt636, führt ein derartiger Abzug zweifellos zu einer erheblichen Reduzierung der Finanzkraft des Landes. Vor allem ist darin ein elementarer Eingriff in die Finanzhoheit des Landes zu erkennen. Das Gericht bewertet demnach die Notwendigkeit des Ausgleichs von Unterschreitungen der durchschnittlichen Finanzkraft deutlich höher als entsprechende Eingriffe in die Finanzhoheit der Geberländer. Der offensichtlich föderalistischen Position des Gerichts liegt eine solidarisch-kooperative Vorstellung von der bundesstaatlichen Finanzgemeinschaft der Länder zugrunde. Die Finanzhilfe für die schwachen Länder generiert sich in erster Linie aus der überdurchschnittlichen Finanzkraft der Geberländer, die auf diese Weise den Fortbestand der Eigenständigkeit der Nehmerländer und letztlich des bundesstaatlichen Systems sichern. Hinsichtlich der Verneinung einer Nivellierung der Länderfinanzen – der zweiten vom Gericht benannten hypothetischen Konstellation eines Verstoßes gegen das Bundesstaatsprinzip durch den Länderfinanzausgleich – verweist das Gericht im Wesentlichen auf zwei Aspekte. Einerseits würden bei der Ermittlung der Landesfinanzkraft nur bestimmte typische Lasten von der Steuereinnahmesumme abgezogen und nicht sämtliche landesindividuellen Ausgaben berücksichtigt. Andererseits werde der festgestellte Fehlbetrag von insgesamt 670,3 Millionen DM nur bis zur Höhe von 286 Millionen DM ausgeglichen.637 Eine Nivellierung sah das Gericht zutreffend nicht als gegeben an. Dennoch verdient die Einführung dieses Kriteriums nachhaltige Beachtung. Dient der horizontale Finanzausgleich zwar dem Grunde nach einer Be634 635 636 637

BVerfGE 1, 117 [131]. BVerfGE 1, 117 [131]. BVerfGE 1, 117 [132]. BVerfGE 1, 117 [132].

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5. Kap.: Die Finanzverfassung

reinigung der unterschiedlichen finanziellen Leistungsfähigkeit der Länder, widerspräche aber eine absolute Angleichung nach Ansicht des Gerichts dem Bundesstaatsprinzip. Dem ist zuzustimmen. Ein absoluter Ausgleich würde die Balance zwischen dem Bedürfnis nach einer Bereinigung der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder einerseits und der Finanzhoheit als elementarem Bestandteil der Länderstaatlichkeit andererseits ungerechtfertigt zulasten der letzteren verschieben. Das System des horizontalen Finanzausgleichs dient der Beseitigung grober Ungleichheiten und ist dabei auf die Finanzkraft der Geberländer angewiesen. Keinesfalls aber darf der Transfer zu gravierenden Beeinträchtigungen der Finanzhoheit der finanzstarken Länder führen, denn damit würde der Status der Staatlichkeit der Länder in Frage gestellt. Seine grundgesetzliche Stütze findet das Nivellierungsverbot unmittelbar in Art. 107 Abs. 1 Satz 1 GG, wonach die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen auszugleichen ist. Durch die Verwendung des Kriteriums der Angemessenheit wird die Intention des Verfassungsgesetzgebers erkennbar, einen Ausgleich im Sinne der Beseitigung erheblicher Ungleichheiten herbeizuführen, aber eben keine Nivellierung. b) Keine Aufrechterhaltung existenzunfähiger Länder Unter Bezugnahme auf das Vorbringen der Antragsteller bestätigt das Gericht zunächst, dass der Finanzausgleich mit Rücksicht auf die in Art. 29 Abs. 1 GG638 normierte Neugliederungspflicht des Bundesgesetzgebers nicht zu dem Ergebnis führen dürfe, „lebensunfähige Länder künstlich am Leben zu erhalten“639. Es stellt jedoch klar, dass es den Bundesgesetzgeber bis zum Abschluss einer entsprechenden Länder-Neugliederung als verpflichtet betrachtet, zwischen den bestehenden Ländern einen Ausgleich herbeizuführen. Zudem seien die Zuschüsse nicht so bemessen, dass sie das Streben nach einer vernünftigen Neugliederung unterbinden würden.640 Jedenfalls teilt das Gericht die wichtige Erkenntnis, dass ein zu weitgehender Finanzausgleich das Risiko in sich birgt, zur Aufrechterhaltung von Ländern beizutragen, die ohne Finanztransfer ihre Aufgaben nicht wirksam erfüllen könnten. Auch an anderer Stelle zeigt sich das Gericht zunächst problembewusst. Es stimmt den Antragstellern insofern zu, als das FAG 1950 eine unvollständige Erhebung der Steuern durch die Nehmerländer zum Schaden der Geberländer nicht berücksichtige und auch keine Kontrolle der Ausgabenwirtschaft der Nehmerländer vorsehe. Die Mitglieder des Senates ahnten wohl bereits, dass die fehlende Kontrolle der Steuer638 Art. 29 Abs. 1 GG damaliger Fassung lautete: „Das Bundesgebiet ist unter Berücksichtigung der landsmannschaftlichen Verbundenheit, der geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit und des sozialen Gefüges durch Bundesgesetz neu zu gliedern. Die Neugliederung soll Länder schaffen, die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können.“, vgl. Grundgesetz vom 23. Mai 1949 (BGBl. S.1). 639 BVerfGE 1, 117 [134]. 640 BVerfGE 1, 117 [134].

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

205

einnahmepraxis und der Haushaltsdisziplin die Intensität der Bemühungen der Nehmerländer in dieser Hinsicht hemmen könnte. Gleichwohl – nicht ohne diesbezüglichen Widerspruch – begnügt es sich mit der Einschätzung, dass aufgrund der bundesgesetzlich bedingten weitgehenden Einheitlichkeit der Steuererhebungspraxis der Länder eine Verfälschung des Finanzausgleichs nicht zu besorgen sei.641 Das Gericht offenbart an dieser Stelle fehlendes Bewusstsein für den Umstand, dass die Verpflichtung der leistungsstarken Länder zum Ausgleich der Finanzschwäche der Nehmerländer zu enormen Spannungen innerhalb der Solidargemeinschaft der Länder führen kann und den Länderfinanzausgleich einem hohen Rechtfertigungsdruck auszusetzen vermag. Aus der Perspektive des heutigen Erfahrungsstandes erscheint es bedauerlich, dass das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle nicht näher auf die Schwächen seiner altruistisch geprägten Interpretation des horizontalen Finanzausgleichs eingegangen ist. Nach der nunmehr vorliegenden verfassungsgerichtlichen Exegese des Art. 106 Abs. 4 GG konnten die finanzschwachen Länder mit einem fortwährenden Ausgleich ihres Einnahmedefizits rechnen, ohne jemals erstattungspflichtig zu werden. Auch einer Rechtfertigungspflicht im Sinne des Nachweises einer wirtschaftlich verantwortungsvollen Ausgabenpolitik unterlagen die Nehmerländer aufgrund der Garantie haushaltswirtschaftlicher Eigenständigkeit gemäß Art. 109 GG nicht. Angesichts der Eingriffsintensität des horizontalen Finanzausgleichs hinsichtlich der Finanzhoheit der Geberländer hätte es nahe gelegen, auf das Bedürfnis einer entsprechenden Ergänzung hinzuweisen – etwa der Einführung einer Begrenzung der Neuverschuldung bis zu einer etwaigen Neugliederung. Der hierfür notwendige Eingriff in die Haushaltswirtschaft der Nehmerländer hätte sich mit dem deutlich intensiveren Eingriff in die Finanzhoheit der Geberländer rechtfertigen lassen. Die diesbezügliche Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich wohl in erster Linie darauf zurückführen, dass zum damaligen Zeitpunkt eine langfristige umfängliche Abhängigkeit der bestehenden Bundesländer vom Länderfinanzausgleich nicht absehbar war. Art. 29 Abs. 1 GG damaliger Fassung enthielt die Verpflichtung des Bundesgesetzgebers zur Neugliederung des Bundesgebietes mit dem Ziel der Schaffung leistungsfähiger Länder. Das Gericht durfte dementsprechend davon ausgehen, dass die Neugliederung zur Schaffung leistungsstarker Bundesländer führen und in der Folge die Relevanz der horizontalen Umverteilung abnehmen würde. Freilich nicht voraussehen konnte es, dass Art. 29 GG später geändert werden und statt der vorherigen Pflicht nur noch die Möglichkeit der Neugliederung bestehen sollte.642

641

BVerfGE 1, 117 [133]. Art. 29 Abs. 1 Satz 1 GG lautete seitdem: „Das Bundesgebiet kann neu gegliedert werden, um zu gewährleisten, dass die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können.“, vgl. 33. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 23. 8. 1976 (BGBl. I S. 2381). 642

206

5. Kap.: Die Finanzverfassung

c) Fazit Mit seiner Entscheidung über das FAG 1950 nimmt das Gericht erstmals eine umfassende Beurteilung der verfassungsrechtlichen Innovation des horizontalen Länderfinanzausgleichs und seiner gesetzlichen Ausgestaltung vor.643 Hierbei stellt es klar, dass weder das Konzept der horizontalen Umverteilung noch die Konkretisierung des FAG 1950 in Gestalt eines prozentual gestuften Länderfinanzkraftausgleichs im Widerspruch zum Bundesstaatsprinzip stehen. Es leitet sogar das dem Finanzausgleich zugrunde liegende Solidarprinzip expressis verbis aus dem Bundesstaatsprinzip ab und geht damit deutlich über den Wortlaut des Art. 106 Abs. 4 GG damaliger Fassung hinaus. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts stellen die Solidargemeinschaft der Länder und die daraus resultierenden finanziellen Hilfeleistungspflichten einen integralen Bestandteil des bundesstaatlichen Systems dar. Die damit einhergehende Einschränkung der finanziellen Eigenständigkeit der Geberländer betrachtet es als hinnehmbar. Das Gericht bewertet die Einstandspflicht der Länder an dieser Stelle demnach höher als ihre Finanzhoheit. Die Grenze zieht es dort, wo es zu einer entscheidenden Schwächung der Finanzkraft der Geberländer oder einer Nivellierung der Finanzkraft aller Länder kommt. Die Entscheidung trägt ausgeprägt föderalistische Züge, da sie die Gemeinschaft der Länder stärkt und ihr konkrete Konturen durch Hilfeleistungspflichten verleiht. Sie ist insbesondere auch deswegen föderalistisch, weil sie die Rolle des Bundes in Abweichung vom Text der Verfassung auf eine flankierende Funktion reduziert und damit zugleich die Rolle der Länder stärkt.

2. BVerfGE 72, 330 – Länderfinanzausgleich II (Urteil des Zweiten Senates vom 24. Juni 1986) Gegenstand der zugrunde liegenden Normenkontrollanträge waren die im Nachgang der Finanzverfassungsreform des Jahres 1969 neu gefassten und bis zum Jahr 1983 aktualisierten Bestimmungen des Finanzausgleichsgesetzes und des Zerlegungsgesetzes. Die vom Bundesverfassungsgericht zu einem Verfahren verbundenen Normenkontrollen der Länder Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Saarland richteten sich gegen die gesetzgeberische Umsetzung

643 In Übereinstimmung mit Korioth ist festzuhalten, dass die Bedeutung dieser frühen Entscheidung häufig unterschätzt wurde, ders., Finanzausgleich, 1997, S. 2, Fn.1. Exemplarisch hierfür steht die geringe Beachtung, die dem Urteil in der Festgabe zum 25jährigen Jubiläum des BVerfG zuteil wurde: Friauf, in: Starck, FG 25 Jahre BVerfG, Bd.2, 1976, S. 300 (327). Anders hingegen das BVerfG selbst, das noch in jüngerer und jüngster Zeit auf diese frühe Entscheidung Bezug nimmt, vgl. BVerfGE 72, 330 [398 ff.]; 101, 158 [220 ff.] sowie 116, 327 [380].

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

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der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 107 Abs. 1 und 2 GG.644 Im Zerlegungsgesetz hatte der Gesetzgeber für die Körperschaftssteuer und die Lohnsteuer Vorgaben zur Abgrenzung sowie über Art und Umfang der Zerlegung des örtlichen Aufkommens getroffen. Im Finanzausgleichsgesetz des Jahres 1969 fanden sich nähere Bestimmungen für den angemessenen Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder sowie über die Ergänzungszuweisungen des Bundes. Die verschiedenen Stufen der Steuervereinnahmung, Steuerzerlegung, Steuerverteilung und des Finanzausgleichs sowie der Ergänzungszuweisungen führten im Jahre 1984 in den einzelnen Bundesländern zu gravierend empfundenen Veränderungen bei der Relation der Einnahmen im Landesdurchschnitt je Einwohner. Die betroffenen Länder beantragten daraufhin, teilweise mit unterschiedlicher Begründung und Zielrichtung, die Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, um mehrere Vorschriften des Finanzausgleichsgesetzes und des Zerlegungsgesetzes wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz, insbesondere mit dessen Art. 107 Abs. 1 und 2, für verfassungswidrig und nichtig erklären zu lassen.645 Hinsichtlich der Bundesergänzungszuweisungen ist die Auffassung der Regierungen Nordrhein-Westfalens und Bayerns dokumentiert, dass es föderalistischen Erfordernissen widerspreche, wenn deren Gesamtvolumen zu einer übermäßigen Abhängigkeit einzelner Länder vom Bund führe.646 Die Gründe der Entscheidung beginnen mit einer Einleitung in das Steuerverteilungs- und Finanzausgleichssystem des Art. 107 GG. In der Aufteilung der Landessteuern und der Länderanteile an den Gemeinschaftssteuern durch Art. 107 Abs. 1 GG und der Regelung des horizontalen Finanzausgleichs in Art. 107 Abs. 2 GG erkennt das Gericht Teile eines mehrstufigen Systems zur Verteilung des Finanzaufkommens im Bundesstaat.647 Ziel dieser Verteilung sei es, Bund und Länder finanziell in die Lage zu versetzen, die ihnen verfassungsrechtlich zukommenden Aufgaben sachgerecht wahrnehmen zu können. Das Gericht weist darauf hin, dass erst dadurch die „staatliche Selbständigkeit von Bund und Ländern real werde“ und sich „Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung entfalten“ können.648 Diese Bezugnahme auf die Staatsqualität der Länder lässt bereits erkennen, dass sich das Gericht des zugrunde liegenden Verfassungsstreits nicht nur in finanzverfassungsrechtlicher Hinsicht angenommen hat. Es wird vielmehr bereits an dieser Stelle deutlich, dass es dem bundesstaatlichen Kontext des Art. 107 GG eine heraus644 Art. 107 GG wurde durch die Finanzverfassungsreform von 1969 neu gefasst und veranlasste seinerseits den Bundesgesetzgeber zu der Neufassung des FAG vom 28. 08. 1969 (BGBl. I S. 1432) sowie zum Erlass des Zerlegungsgesetzes vom 25. 02. 1971 (BGBl. I S. 145). 645 Die diversen Anträge richteten sich gegen § 7 Abs. 1 bis 4, § 9, § 10, § 11a FAG sowie gegen § 5 Abs.1 und 2 Zerlegungsgesetz, BVerfGE 72, 330 [339]. 646 BVerfGE 72, 330 [377]. 647 Mit seiner grundlegenden Darstellung der Regelungsinhalte hat das Gericht zweifellos einen bedeutenden Beitrag zum grundsätzlichen Verständnis des Finanzverteilungssystems geleistet. Vgl. etwa Gerske, Der Staat 2007, S. 203 (208). 648 BVerfGE 72, 330 [383].

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gehobene Bedeutung beimisst. Das Gericht begnügt sich dementsprechend nicht damit, die Finanzausstattung als notwendige Vorraussetzung für die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben zu benennen. Die kausale Anbindung der ,Realwerdung staatlicher Selbständigkeit an die verfassungsrechtliche Vorgabe der Aufteilung des gesamtstaatlichen Finanzaufkommens geht deutlich darüber hinaus. Nicht die allgemeine Abhängigkeit des Staates von seiner finanziellen Verfügungsmasse steht im Mittelpunkt der Aussage, sondern die finanzielle Eigenständigkeit der Länder im Sinne ihrer Unabhängigkeit vom Bund als unabdingbare Voraussetzung ihrer Eigenstaatlichkeit. Dahinter steht die Erkenntnis, dass erst die konstitutive Zuweisung eigenständiger Finanzmittel an die Länder durch Art. 107 GG die tatsächliche Wahrnehmung der Länderstaatlichkeit ermöglicht und somit eine der primären Voraussetzungen realer Eigenstaatlichkeit der Länder bildet. Durch diese Implikation weist das Gericht dem Art. 107 GG neben seinem rein normativen Gehalt eine Schlüsselstellung im Rahmen der Bundesstaatsverfassung zu. Zugleich bekräftigt das Gericht erneut sein Bekenntnis zur Eigenstaatlichkeit der Länder. In einem weiteren Schritt erläutert das Gericht die Mechanismen der Steuerertragsaufteilung zwischen den Ländern gemäß Art. 107 Abs. 1 GG. Dabei weist es darauf hin, dass diese primäre Aufteilung des Steueraufkommens als originäre Finanzausstattung der Länder sowohl vom Prinzip der örtlichen Vereinnahmung – korrigiert durch die Zerlegung – als auch von Bedarfsgesichtspunkten – abstrakt gemessen an der Einwohnerzahl – geprägt ist.649 Darin komme der von der Verfassung gefundene Kompromiss zum Ausdruck zwischen der auch auf finanzwirtschaftlichem Gebiet bestehenden Eigenstaatlichkeit der Länder und der sich aus dem bundesstaatlichen Prinzip ergebenden Gemeinschaft, in der Teilhabe an der finanziellen Leistungsfähigkeit des Gesamtstaates.650

a) Die bundesstaatliche Solidargemeinschaft der Länder Der horizontale Finanzausgleich gemäß Art. 107 Abs. 2 GG korrigiere nachfolgend „die Ergebnisse der primären Steuerverteilung, soweit diese unter Berücksichtigung der Eigenstaatlichkeit der Länder aus dem bundesstaatlichen Gedanken der Solidargemeinschaft heraus unangemessen“ seien.651 Es erfolge keine Fortsetzung der vertikalen Steuerverteilung, da bei diesem Ausgleich die Länder selbst mit ihrer eigenen Finanzausstattung in die Ausgleichsregelungen einbezogen seien und gegebenenfalls mit föderalen Ausgleichsleistungen belegt würden.652 Das Gericht verwendet hier erstmals den Begriff der bundesstaatlichen Solidargemeinschaft der Länder. Mit diesem Terminus konkretisiert es sein Verständnis des Bundesstaates und der kooperativen Verbundenheit der Länder. Diese sind danach 649 650 651 652

BVerfGE 72, 330 [385]. BVerfGE 72, 330 [386]. BVerfGE 72, 330 [386]. BVerfGE 72, 330 [386].

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

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nicht etwa nur zu gegenseitiger Rücksichtnahme verpflichtet, sondern stehen prinzipiell füreinander ein. Dieses Prinzip verpflichtet die einzelnen Länder ungeachtet ihrer Eigenstaatlichkeit und finanziellen Selbständigkeit zu gewissen Hilfeleistungen an andere finanziell leistungsschwache Länder. Mit dieser begrifflichen Pointierung nimmt das Gericht zugleich eine richtungweisende Charakterisierung des Verhältnisses der Länder vor. Es offenbart dabei die Überzeugung, dass es den Aspekt der Kooperation zumindest an dieser Stelle als elementare Prämisse des bundesstaatlichen Systems ansieht. Am Ende der eingehenden Vorbetrachtung steht folgende Erkenntnis: „Art. 107 GG bildet ebenso wie die übrigen finanzverfassungsrechtlichen Normen des Grundgesetzes einen der tragenden Pfeiler der bundesstaatlichen Ordnung.“ Insgesamt stellten sie eine Finanzordnung sicher, die den Gesamtstaat und die Gliedstaaten am Ertrag der Volkswirtschaft sachgerecht beteilige. Nur auf der Basis einer hinreichenden Finanzausstattung seien Länder und Bund in der Lage, die eigene Staatlichkeit zu entfalten. Insofern ist es unabdingbar, dass die bundesstaatliche Verfassung die finanziellen Positionen des Bundes und seiner Glieder bestimme und absichere.653 Nach diesen einleitenden Ausführungen widmet sich das Gericht der genaueren Betrachtung der einzelnen Bestimmungen des Art. 107 Abs. 2 GG. b) Das bündische Prinzip des Einstehens füreinander – Föderative Finanzhilfe Der horizontale Finanzausgleich bezweckt gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG den angemessenen Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Bundesländer. Mit Blick auf die von Teilen der Antragsteller vertretene Ansicht, dass damit das Ziel eines bloßen Steuerkraftausgleichs verfolgt werde654, weist das Gericht darauf hin, dass der Begriff Finanzkraft umfassend zu verstehen sei und nicht allein auf die Steuerkraft reduziert werden dürfe.655 Dies ergebe sich nicht nur aus dem Wortlaut der Vorschrift, sondern lasse sich auch ihrem Sinn und Zweck entnehmen. „Die Verpflichtung zum horizontalen Finanzausgleich folgt aus dem bündischen Prinzip des Einstehens füreinander. Das bündische Prinzip begründet seinem Wesen nach nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Eine dieser Pflichten besteht nach dem Grundgesetz darin, dass die finanzstärkeren Länder den schwächeren Ländern in gewissen Grenzen Hilfe zu leisten haben.“656

Der horizontale Finanzausgleich ist demnach eine konstitutive Ausprägung des aus dem Bundesstaatsprinzip abzuleitenden Prinzips des Einstehens füreinander. Aus diesem, vom Gericht an dieser Stelle erstmals als eigenständiges Unterprinzip 653 654 655 656

BVerfGE 72, 330 [388]. So insbesondere die niedersächsische Landesregierung, vgl. BVerfGE 72, 330 [355]. BVerfGE 72, 330 [397]. BVerfGE 72, 330 [398].

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formulierten Grundsatz, leitet das Gericht sodann die Pflicht der finanzstärkeren Länder ab, den finanzschwächeren finanzielle Hilfe zu leisten. Im Rahmen seiner ersten Entscheidung zum Finanzausgleichssystem entnahm das Gericht die Pflicht zu finanzieller Hilfeleistung noch unmittelbar dem Bundesstaatsprinzip.657 Indem das Gericht nun nicht mehr die konkrete Pflicht aus dem übergeordneten Staatsprinzip ableitet, sondern eine weitere dogmatische Figur als Zwischenglied einfügt, wird der Wille erkennbar, die Zielrichtung der zugrunde liegenden bundesstaatlichen Normen deutlich zu benennen und systematisch zu fassen. Mit dieser Konkretisierung verleiht das Gericht dem Bundesstaatsprinzip notwendige Struktur. Darüber hinaus ist die Proklamation des Einstehens füreinander die sinnbildliche Entsprechung des zuvor eingeführten Gedankens der Solidargemeinschaft der Länder. c) Spannungslage des Bundesstaatsprinzips Unter Bezugnahme auf seine frühe Rechtsprechung weist das Gericht auf die mit der Hilfeleistungspflicht der Länder notwendigerweise einhergehende Beschränkung der finanziellen Selbständigkeit hin. „Diese Pflichtbeziehung führt notwendigerweise zu einer gewissen Beschränkung der finanziellen Selbständigkeit der Länder. Es würde indes gegen das bundesstaatliche Prinzip verstoßen, wenn der horizontale Finanzausgleich die Leistungsfähigkeit der gebenden Länder entscheidend schwächte oder zu einer Nivellierung der Länderfinanzen führte (BVerfGE 1, 117 [131]). Der Länderfinanzausgleich teilt die dem Bundesstaatsprinzip innewohnende Spannungslage, die richtige Mitte zu finden zwischen der Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Bewahrung der Individualitäten der Länder auf der einen und der solidargemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Existenz und Eigenständigkeit der Bundesgenossen auf der anderen Seite.“658

Treffender lassen sich die vermeintlich widerstrebenden Zielrichtungen des Bundesstaatsprinzips kaum charakterisieren.659 Das Prinzip des horizontalen Finanzausgleichs ist insofern exemplarisch für das gesamte bundesstaatliche System. Der Bündnis-Gedanke und die damit einhergehende Verpflichtung zu solidarischen Leistungen stehen grundsätzlich gleichberechtigt neben der Eigenständigkeit der Staa-

657 Dort heißt es: „Das bundesstaatliche Prinzip begründet seinem Wesen nach nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Eine dieser Pflichten besteht darin, dass die finanzstärkeren Länder den schwächeren Ländern in gewissen Grenzen Hilfe zu leisten haben.“, vgl. BVerfGE 1, 117 [131]. 658 BVerfGE 72, 330 [398]. 659 I.d.S. Korioth, Finanzausgleich, 1997, S. 540; Wendt, in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 139 Rdnr. 95; ähnlich pointiert hinsichtlich des Finanzausgleichs bereits zuvor Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich, 1982, S.1, der angesichts des horizontalen Finanzausgleichs vom „Zielkonflikt zwischen autonomer Verschiedenheit und solidargemeinschaftlicher Annäherung“ spricht.

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ten.660 Einerseits gilt es, die Eigenstaatlichkeit der Länder zu wahren, und andererseits erfordert die bundesstaatliche Gemeinschaft die Wahrnehmung gemeinsamer Verantwortung für das Bündnis und die Bundesstaaten. Tritt, wie im Fall ungenügenden Finanzaufkommens, der Bewährungsfall bundesstaatlicher Solidarität ein, verschiebt sich die Balance zulasten der Finanzhoheit der ausgleichspflichtigen Länder. d) Finanzkraft als Maßstab des Finanzausgleichs Ein fundamentaler Eingriff in die Finanzhoheit der gebenden Länder, wie die Verpflichtung zu finanzieller Hilfeleistung, bedarf indes gewichtiger Gründe. Er kann jedenfalls nicht allein auf die unterdurchschnittliche Steuerkraft eines Landes gestützt werden, da dieser Aspekt keine abschließende Beurteilung der Finanzausstattung zulässt. Vielmehr, so das Bundesverfassungsgericht, bedarf es neben den Steuereinnahmen der Beachtung des Gesamteinnahmevolumens des Landes. Erst die Berücksichtigung sämtlicher Einnahmen eines Landes – wie etwa der bergrechtlichen Förderabgabe im Fall Niedersachsens – ermöglicht die Feststellung einer eventuellen Ausgleichsbedürftigkeit.661 Eine Orientierung der Ausgleichszahlungen allein an den Steuereinnahmen könnte zu dem paradoxen Ergebnis führen, dass ein Nehmerland aufgrund sonstiger Einnahmen letztendlich sogar besser gestellt wäre als die Geberländer. Mit der Diskussion der Bemessungsgrundlage der Ausgleichspflichten – Steuerkraft oder Finanzkraft – ist zugleich die Frage nach der Subsidiarität der Finanzsolidarität angesprochen. Ganz allgemein kann die Annahme der Voraussetzungen einer bundesstaatlichen Solidaritätspflicht nur auf einer umfassenden Tatsachengrundlage erfolgen, die alle relevanten Aspekte berücksichtigt. Die Stellung dieser Anforderungen versteht sich von selbst, da die Anerkennung jedweder Solidaritätspflicht stets mit dem Verzicht auf staatliche Selbstbestimmung einhergeht. Entsprechend dem hohen Stellenwert der Eigenstaatlichkeit der Länder, den das Bundesverfassungsgericht unmittelbar aus dem Grundgesetz ableitet, kann insbesondere eine Einschränkung der Finanzhoheit, die ein Kernelement der Eigenstaatlichkeit ist, nur unter Zugrundelegung einer umfassenden und detaillierten Bedarfsanalyse erfolgen. Die Bejahung einer Ausgleichspflicht unter Vernachlässigung relevanter Einnahmetypen neben den Steuern würde eine Verletzung der Eigenstaatlichkeit der ausgleichspflichtigen Länder nach sich ziehen, da es an einer Rechtfertigung für einen derartigen Eingriff in die Finanzhoheit fehlt.

660 I.d.S. Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd.3, 2. Aufl. 2008, Art. 107 Rdnrn. 8, 31; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 IV, Rdnr. 136; Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 29, Rdnr. 22. 661 I.d.S. BVerfGE 72, 330 [398], wonach Grund für Solidarleistungen der Bundesländer aus ihrer eigenen Finanzausstattung nur eine allgemeine Finanzschwäche anderer Länder sein könne, nicht dagegen ein unzulängliches Steueraufkommen, das möglicherweise durch andere Einkünfte aufgestockt werde.

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5. Kap.: Die Finanzverfassung

Im Anschluss an die Präzisierung des Begriffs der Finanzkraft stellt das Gericht es dem Gesetzgeber anheim zu bestimmen, welche Einnahmen der Länder im Einzelnen in die Berechnung ihrer Finanzkraft einzufließen haben. Das Grundgesetz verpflichte ihn lediglich, seine Regelung an der Ausgleichsrelevanz der Ländereinnahmen zu orientieren. Er könne eine Einnahme demgemäß bei der Ermittlung der Finanzkraft unberücksichtigt lassen, wenn sie ihrem Volumen nach nicht ausgleichsrelevant sei, wenn sie in allen Ländern verhältnismäßig gleich anfiele oder wenn der Aufwand für die Ermittlung der auszugleichenden Einnahmen zu dem möglichen Ausgleichseffekt außer Verhältnis stehe. Unberücksichtigt bleiben müssten bei der Ermittlung der Finanzkraft im Sinne des Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG jedoch Sonderbedarfe einzelner Länder. Finanzkraft sei primär als Finanzaufkommen zu verstehen, nicht als Relation von Aufkommen und besonderen Ausgabenlasten.662 Um das summenmäßige Finanzaufkommen im Hinblick auf die Erfüllung der den Ländern verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben zwischen diesen angemessen vergleichbar zu machen, seien daher die absoluten Erträge der Länder auf die jeweilige Einwohnerzahl der Länder umzurechnen. Es liege – mit der historisch begründeten Ausnahme der Seehäfen – im Sinne des Verfassungsgesetzgebers, die Bemessungsgrundlage Finanzkraft allein auf die objektiven, von politischen Bedarfs- und Dringlichkeitsentscheidungen unabhängigen Finanzaufgaben zu beziehen. Das aber sei nur möglich, wenn das benötigte Ausgabevolumen nach abstrakten Bedarfskriterien wie der Einwohnerzahl definiert werde.663 e) Das föderative Gleichbehandlungsgebot bei der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen Im Anschluss an die Ausführungen zum horizontalen Finanzausgleich widmet sich die Entscheidung der sogenannten vierten Stufe des Finanzausgleichs – den Bundesergänzungszuweisungen gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG. Voraussetzung für die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen an ein Land war und ist dessen Leistungsschwäche. In Anknüpfung an die vorherigen Ausführungen stellt das Gericht zunächst klar, dass – anders als der Begriff der Finanzkraft in Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG – der Begriff der Leistungsschwäche in Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG nicht aufkommensorientiert sei, sondern die Relation zwischen Finanzaufkommen und Ausgabenlasten der Länder bezeichne. Das bedeutet, dass der Bund auch durch die Berücksichtigung von Sonderlasten einzelner Länder zum Ergebnis der

662 BVerfGE 72, 330 [400 f.]; differenzierend: Wendt, in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 139, Rdnr. 107, wonach bei der Ermittlung der Finanzkraft besonders signifikante Abweichungen im Bedarf der einzelnen Länder einzubeziehen seien. Vgl. auch Korioth, Finanzausgleich, 1997, S. 580 m.w.N. 663 BVerfGE 72, 330 [400 f.]; insofern zustimmend Wendt, in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 139 Rdnr. 102.

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

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Leistungsschwäche kommen kann. Jedoch seien die Bundesergänzungszuweisungen als Ergänzung und nicht als Ersatz des Finanzausgleichs angelegt.664 Da das Grundgesetz keine entsprechenden Vorgaben enthalte, stehe es dem Bundesgesetzgeber frei, im Rahmen seiner Ergänzungszuweisungen entweder die Finanzkraft der leistungsschwachen Länder allgemein anzuheben, die Sonderlasten der Länder zu berücksichtigen oder beides miteinander zu verbinden.665 Für welche Variante sich der Bundesgesetzgeber auch entscheidet, jedenfalls ist er nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts insoweit an das föderale Gleichbehandlungsgebot gebunden. „Der Bundesgesetzgeber ist bei der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen, die das Ziel haben, die Finanzkraft der leistungsschwachen Länder allgemein anzuheben, darüber hinaus zur Gleichbehandlung der Länder verpflichtet. Aus dem Bundesstaatsprinzip und dem allgemeinen Gleichheitssatz folgt insoweit ein föderatives Gleichbehandlungsgebot für den Bund im Verhältnis zu den Ländern.“666

Die Anforderung an den Bund, alle Länder bei der Zuteilung von Ergänzungsleistungen gleich zu behandeln, stellt eine unabdingbare Voraussetzung für die bündnisgemäße Praktikabilität der vierten Stufe des Finanzausgleichs dar. Es widerspräche jedem vernunftgeleiteten Verständnis von Verteilungsgerechtigkeit, wenn der Bund bei der gesetzgeberisch veranlassten Zuteilung von Ergänzungsleistungen nicht die uneingeschränkte Gleichbehandlung der Länder zu gewährleisten hätte. Der Umstand, dass Ergänzungszuweisungen aus Bundesmitteln erbracht werden, vermag daran nichts zu ändern. Gerade weil diese Konstellation die Gefahr der unzulässigen Berücksichtigung politischer oder sonstiger sachfremder Aspekte birgt, ist das verfassungsgerichtliche Postulat von großer Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht bedient sich bei der Herleitung des föderativen Gleichbehandlungsgebotes des unmittelbaren Rückgriffs auf das Bundesstaatsprin664 BVerfGE 72, 303 [402] – In dieser Hinsicht betont das Gericht, dass das Grundgesetz in Art. 107 Abs. 2 Satz 3 davon ausgeht, dass die Ländergesamtheit in der vertikalen Steuerertragsaufteilung, insbesondere bei der Verteilung der Umsatzsteuer gemäß Art. 106 Abs. 3 Satz 4 GG, einen solchen Anteil an den verfügbaren Finanzmitteln erhält, dass die Länder ihre Aufgaben insgesamt hinreichend erfüllen können. Sei dies nicht möglich, bestehe aus der Bundestreue eine Pflicht zur Neuverhandlung über die Umsatzsteueranteile gemäß Art. 106 Abs. 4 Satz 1 GG. Im Fall unzureichender Finanzausstattung sind die Länder demnach nicht von vornherein auf Ergänzungsleistungen des Bundes angewiesen. Vielmehr können sie einen Diskurs über die Verteilung der Umsatzsteuer im vertikalen Finanzausgleich anstrengen. Aufgrund des hohen Stellenwertes der finanziellen Selbständigkeit der Länder als Voraussetzung ihrer Eigenstaatlichkeit wäre ein begründetes Vorbringen kaum abzulehnen. 665 BVerfGE 72, 330 [404]; zur gegenwärtigen Praxis des Bundesgesetzgebers vgl. die Aufzählung bei Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 107 Rdnr. 59. 666 BVerfGE 72, 330 [404]; bereits zu einem früheren Zeitpunkt hatte das Gericht ausgeführt: „Die Pflicht des Bundes, die Länder bei einer Finanzmittelverteilung nach gleichen Maßstäben zu behandeln, ist im föderalistischen Prinzip begründet, nach dem die Länder als Glieder des Gesamtstaates den gleichen Status besitzen und gleichberechtigt nebeneinander stehen.“, BVerfGE 39, 96[119].

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5. Kap.: Die Finanzverfassung

zip in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz. Zur Begründung hätte zweifellos auch die alleinige Bezugnahme auf das objektive Willkürverbot genügt.667 Die explizite Bezugnahme des Bundesverfassungsgerichts auf das Bundesstaatsprinzip in diesem Zusammenhang verdeutlicht die Relevanz, die es der spezifisch bundesstaatlichen Dimension der Bundesergänzungszuweisungen beimisst. Dies ist nicht zuletzt deswegen nachvollziehbar, weil die Verfassungsoption der Bundesergänzungszuweisung eine Einschränkung der finanziellen Unabhängigkeit der Länder darstellt, da sie angesichts des nicht unwesentlichen Umfangs eine gewisse Abhängigkeit vom Bund erzeugt, die dem bundesstaatlichen Ziel der Gewährleistung der Eigenstaatlichkeit der Länder zuwiderläuft. Ebenso wie der horizontale Finanzausgleich sind auch Ergänzungszuweisungen geeignet, die Konsolidierungsbemühungen der finanzschwachen Länder zu dämpfen. Hinzu kommt das immanente Risiko, dass der Bund durch mehr oder weniger großzügige Bemessung der Bundesergänzungszuweisungen auf die jeweilige Landespolitik oder sogar das Abstimmungsverhalten im Bundesrat Einfluss zu nehmen versucht. Indem das Bundesverfassungsgericht das föderative Gleichbehandlungsgebot bei der Zuteilung von Ergänzungszuweisungen auf das dogmatische Fundament des Bundesstaatsprinzips stellt, weist es ihm insoweit eine Schlüsselstellung zu. Dahinter ist der wichtige Gedanke erkennbar, dass bundesstaatliche Solidarität von Seiten des Bundes zugunsten der Länder nur im Rahmen eines streng auf Gleichbehandlung ausgerichteten Verfahrens vor sich gehen darf. Auf andere Weise lassen sich die beschriebenen Risiken nicht hinreichend beherrschen. Einer weitergehenden Konkretisierung des föderativen Gleichbehandlungsgebotes im Hinblick auf Ergänzungszuweisungen zur allgemeinen Anhebung der Finanzkraft enthält sich das Gericht sowohl an dieser Stelle als auch im weiteren Verlauf der Entscheidung.668 Insofern kann lediglich gefolgert werden, dass im Rahmen der allgemeinen Finanzkraftanhebung leistungsschwacher Länder, bei der Bestimmung der Leistungsschwäche sowie bei der anschließenden Entscheidung über die Höhe der Zuweisung gleiche Maßstäbe für alle in Frage kommenden Länder anzuwenden sind. Im Hinblick auf die Variante der Ergänzungszuweisungen unter Berücksichtigung länderspezifischer Sonderlasten führt es detaillierter aus: „Berücksichtigt der Gesetzgeber Sonderlasten, ist er aus dem föderativen Gleichbehandlungsgebot heraus verpflichtet, diese zu benennen und zu begründen. Damit ist sichergestellt, dass der Gesetzgeber seiner Pflicht zur Gleichbehandlung der Länder auch bei der Berücksichtigung von Sonderlasten nachkommt. Die Pflicht zur Gleichbehandlung führt unter diesen Umständen dazu, dass die ausgewiesenen und benannten Sonderlasten bei allen Ländern berücksichtigt werden müssen, bei denen sie vorliegen. Zudem ist der Bundesgesetzgeber verpflichtet, die berücksichtigten Sonderlasten in angemessenen Abständen auf ihren Fortbestand zu überprüfen. Andernfalls könnte die ursprüngliche Gleichbehandlung der Länder

667 668

Kritisch insoweit Korioth, Finanzausgleich, 1997, S. 118, Fn. 235. BVerfGE 72, 330 [404, 420].

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

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infolge einer Veränderung der tatsächlichen Gegebenheiten im Laufe der Zeit in eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung umschlagen.“669

Das Gericht erstreckt den Geltungsbereich des zuvor begründeten föderativen Gleichbehandlungsgebotes auch auf jene Ergänzungszuweisungen, die der Bund zur Deckung eines vorübergehenden Sonderbedarfs gewähren kann. Im Unterschied zu den zuvor angesprochenen Ergänzungszuweisungen zur allgemeinen Finanzkraftanhebung leitet das Gericht an dieser Stelle konkrete Pflichten aus dem Gleichbehandlungsgebot ab. Danach hat der Gesetzgeber die von ihm als berücksichtigungswürdig erachteten Sonderlasten konkret zu benennen und zu begründen sowie die Notwendigkeit ihres Ausgleichs zu überprüfen. Erstmals umgesetzt wurden diese Vorgaben in dem bis 2005 in Kraft befindlichen Finanzausgleichsgesetz vom 23. Juni 1993670, wo in § 11 Abs. 1 die Unterscheidung zwischen Zuweisungen an die Länder zur ergänzenden Deckung ihres allgemeinen Finanzbedarfs sowie zum Ausgleich von Sonderlasten vorgenommen wurde. Letztere wurden zusätzlich unterschieden in solche wegen überdurchschnittlich hoher Kosten politischer Führung und der zentralen Verwaltung (Abs. 3), solche zum Abbau teilungsbedingter Sonderbelastungen sowie zum Ausgleich unterproportionaler kommunaler Finanzkraft (Abs. 4), solche zum Ausgleich überproportionaler Belastungen durch die mit der Wiedervereinigung verbundenen Finanzkraftverschiebungen (Abs. 5) sowie in solche zum Zweck der Haushaltssanierung (Abs. 6). Obwohl diese Umsetzung der Vorstellung des Bundesverfassungsgerichts nur eingeschränkt entsprach671, ist der unmittelbare Einfluss seiner Rechtsprechung an dieser Stelle besonders deutlich nachvollziehbar, da er zu einer gesetzgeberischen Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben geführt hat.672 Das föderative Gleichbehandlungsgebot und die mit ihm einhergehenden Anforderungen an den Bundesergänzungsgesetzgeber wirken im Interesse der Länder. Sie unterstellen die Zuteilung von Bundesergänzungszuweisungen einem formalisierten Verfahren und gewährleisten durch Transparenz eine weitgehende Sicherstellung der Gleichbehandlung der Länder durch den Bund.

669

BVerfGE 72, 330 [406]. Das FAG 1988 – also die aufgrund von BVerfGE 72, 330 erfolgte Neufassung des FAG – sah weiterhin lediglich Ergänzungszuweisungen zur allgemeinen Finanzkraftanhebung vor. Bestimmungen über Sonderbedarfszuweisungen waren hingegen nicht enthalten. 671 Vgl. die kritische Auseinandersetzung des Gerichts mit dem FAG 1993 in BVerfGE 101, 158 [335] w.u. Gliederungpkt. II.4. 672 Das seit 2005 in Kraft befindliche aktuelle Finanzausgleichgesetz von 2001 sowie das auf BVerfGE 101, 158 zurückzuführende Maßstäbe-Gesetz von 2001 spiegeln die anhaltenden Bemühungen des Gesetzgebers wieder, den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts zu entsprechen. – Nicht nachvollziehbar erscheint indes, dass die aktualisierte Fassung des § 11 Abs. 4 FAG 2001 immer noch Sonderergänzungszuweisungen zum Ausgleich hoher Kosten politischer Führung vorsieht, ohne diese, wie in BVerfGE 101, 158 [335] unmissverständlich eingefordert, dem Gleichheitsgebot entsprechend zu benennen und zu begründen. 670

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5. Kap.: Die Finanzverfassung

Nachdem das Gericht bis zu diesem Punkt die allgemeine Bedeutung der unterschiedlichen Stufen des Finanzsystems eingehend dargestellt hat, gelangt es nun zur Anwendung der zuvor gewonnenen Erkenntnisse.673 Auf das aus dem Bundesstaatsprinzip hergeleitete föderative Gleichbehandlungsgebot bezieht sich der weitere Entscheidungstext lediglich im Rahmen der Kontrolle des § 11 a FAG. Dieser sei, soweit er in Absatz 1 der Vorschrift die Höhe der Bundesergänzungszuweisungen mit 1,5 v.H. des Umsatzsteueraufkommens festlege, nicht zu beanstanden, da das Grundgesetz keine volumenmäßige Begrenzung für die Bundesergänzungszuweisungen enthalte.674 Hingegen verstoße die Regelung des § 11 a Abs. 2 FAG gegen Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG, da der Gesetzgeber die verfassungsrechtlich vorgegebenen Kriterien für die Verteilung von Bundesergänzungszuweisungen nicht beachtet habe.675 Er sei bei der Vergabe der Bundesergänzungszuweisungen nicht den Weg gegangen, die Finanzkraft der leistungsschwachen Länder allgemein anzuheben, da in diesem Fall das im horizontalen Finanzausgleich empfangsberechtigte Land Bremen schon vor 1986 in den Kreis der Empfänger von Bundesergänzungszuweisungen hätte einbezogen werden müssen. Als rechtfertigende Grundlage für die von ihm festgelegten Bundesergänzungszuweisungen könne somit nur die Berücksichtigung von Sonderlasten einzelner Länder in Betracht kommen.676 Dies so zugrunde gelegt, kommt das Gericht zu dem Ergebnis eines Verstoßes gegen das föderative Gleichbehandlungsgebot, da weder Sonderlasten benannt noch begründet worden seien.677 Der Gesetzgeber hätte stattdessen pauschal Sonderlasten angenommen, ohne diese überhaupt zu nennen geschweige denn regelmäßig deren Angemessenheit zu überprüfen. Ein solches Verfahren begünstige die als Empfänger von Bundesergänzungszuweisungen in § 11 a Abs. 2 FAG genannten Länder ungerechtfertigt gegenüber den dort nicht genannten Ländern. Der Verstoß gegen 673 Von den Bestimmungen des Zerlegungsgesetzes beurteilt das Gericht lediglich § 5 Abs. 2 Satz 4 für verfassungswidrig, vgl. BVerfGE 72, 330 [407 ff.]. 674 BVerfGE 72, 330 [419]. 675 BVerfGE 72, 330 [420]. 676 Dieser Rückschluss erscheint zumindest zweifelhaft, da § 11a Abs. 1 FAG 1969 lautete: „Der Bund gewährt den in Absatz 2 genannten ausgleichsberechtigten Ländern in den Jahren 1981, 1982, 1983, 1984 und 1985 jährlich Zuweisungen in Höhe von insgesamt 1,5 vom Hundert des Umsatzsteueraufkommens zur ergänzenden Deckung ihres allgemeinen Finanzbedarfs (Ergänzungszuweisungen).“ – Angesichts der Formulierung ,zur Deckung ihres allgemeinen Finanzbedarfs und der fehlenden normativen Bezugnahme auf etwaige Sonderlasten ist es nicht nachvollziehbar, weshalb das Gericht zu der Einschätzung gelangt, als rechtfertigende Grundlage für die vom Bundesgesetzgeber festgelegten Bundesergänzungszuweisungen könne nur die Berücksichtigung von Sonderlasten einzelner Länder in Betracht kommen. Zumal es vorgibt, diese Erkenntnis dem Umstand zu entnehmen, dass Bremen nicht als Empfänger von Bundesergänzungszuweisungen in § 11a Abs. 2 FAG aufgeführt worden sei, obwohl es, wie die anderen dort aufgeführten Länder, im Rahmen des horizontalen Finanzausgleichs ausgleichsberechtigt war. Zutreffend wäre es wohl gewesen, davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die allgemeine Finanzkraft anheben wollte, das Land Bremen aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht als finanzschwach ansah und deshalb nicht berücksichtigte. 677 BVerfGE 72, 330 [420].

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

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Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG gewinne dadurch noch zusätzlich an Gewicht, da die Länderanteile ,durch die Bindung an das Umsatzsteueraufkommen dynamisiert gewesen und deshalb stetig und in erheblichem Umfang gewachsen seien. Auf diese Weise sei die Finanzkraft der empfangsberechtigten Länder Bayern und Saarland im Jahre 1984 sogar auf über 100 v.H. der durchschnittlichen Finanzkraft angewachsen.678 Neben § 11a Abs. 2 FAG befand das Gericht zahlreiche weitere Normen des FAG für verfassungswidrig und erklärte letztlich den gesamten zweiten Abschnitt des Gesetzes für nichtig.679 Besonders hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang die Begründung der Verfassungswidrigkeit des § 10 Abs 4 bis 7 FAG. Zwar gebiete das Grundgesetz, dass die finanzstärkeren Länder den finanzschwächeren Ländern in gewissen Grenzen Hilfe leisteten. Es sei aber mit dem bündischen Prinzip des Einstehens füreinander unvereinbar, einzelnen Ländern eine – sei es relative, sei es absolute – Garantie ihrer Finanzkraft zu gewähren und sie damit ein Stück weit aus der politischen Schicksalsgemeinschaft des Bundesstaates zu entlassen.680 An dieser Stelle wird erneut die stringente Position des Gerichts deutlich, wonach die Inanspruchnahme der Solidargemeinschaft unter dem Vorbehalt einer sachgerecht ermittelten aktuellen Bedarfssituation steht. Schließlich verpflichtet das Bundesverfassungsgericht den Bundesgesetzgeber zu einer Neuregelung des Länderfinanzausgleichs im Hinblick auf das Haushaltsjahr 1988 und in letzter Konsequenz zum Ausgleich der Nachteile der bisher unberücksichtigt gebliebenen Länder.681

678

BVerfGE 72, 330 [421]. Erwähnt sei an dieser Stelle § 7 Abs. 1 FAG, den das Gericht für verfassungswidrig befand, weil er bei der Ermittlung der Finanzkraft die Einnahmen aus der Grunderwerbssteuer, der Feuerschutzsteuer und der Spielbankabgabe außer Betracht ließ, ebenso § 7 Abs. 2 FAG, da dieser nicht die vollen Erträge aus der bergrechtlichen Förderabgabe einbezog sowie § 7 Abs. 4 FAG, wonach das Saarland und Schleswig-Holstein pauschale Sonderlasten von den Steuereinnahmen absetzen konnten. Bedeutsam ist weiterhin die positive Beurteilung des § 7 Abs. 3 FAG, wonach die Absetzbarkeit der Sonderbelastungen aus der Unterhaltung und Erneuerung von Seehäfen bei der Ermittlung der Finanzkraft im Einklang mit der Verfassung stehe. Diese halte sich im Rahmen der Gestaltungs- und Abgrenzungsbefugnis des Gesetzgebers, da sie traditioneller Bestandteil der Regelung des Finanzausgleichs zwischen den Ländern im deutschen Finanzverfassungsrecht sei. Vgl. BVerfGE 72, 330 [413 f.]. – Hinsichtlich des Pauschalabzugs der Seehafenlasten weist Korioth zutreffend darauf hin, dass die historische Argumentation allein zu kurz greift. Maßgeblich sei vielmehr die besondere Bedeutung für den Außenhandel der übrigen Bundesländer Korioth, Finanzausgleich, 1997, S. 598 f.; kritisch hierzu Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 107 Rdnr. 30. – Ebenfalls als verfassungsgemäß befand das Gericht die Einwohnerveredelung Bremens und Hamburgs gemäß § 9 Abs. 2 FAG, wonach zugunsten der Stadtstaaten 135 Prozent der tatsächlichen Einwohnerzahl und im Ergebnis eine geringere als die tatsächliche Finanzkraft zugrunde gelegt wurde. Das Bestehen von Stadtstaaten gehöre zum historischen Bestand der deutschen Staatsentwicklung. Es sei daher sachgerecht, die Andersartigkeit der Stadtstaaten gegenüber den Flächenstaaten im Länderfinanzausgleich zu berücksichtigen, vgl. BVerfGE 72, 330 [415 ff.]. 680 BVerfGE 72, 330 [419]. 681 BVerfGE 72, 330 [423]. 679

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5. Kap.: Die Finanzverfassung

f) Fazit 35 Jahre nach seiner ersten Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hatte das Bundesverfassungsgericht über die 1969 erfolgte gesetzgeberische Neufassung des Finanzausgleichs zu befinden. Die Quintessenz der allgemeinen Ausführungen zu Beginn der Entscheidung besteht in der Erkenntnis, dass der Länderfinanzausgleich nach Art. 107 GG zu den tragenden Pfeilern der bundesstaatlichen Ordnung gehört. Erst die konstitutionelle Zuweisung bestimmter Anteile der gesamtstaatlichen Einnahmen ermöglicht Bund und Ländern die Wahrnehmung ihrer staatlichen Aufgaben. Das Verhältnis der Bundesländer konkretisiert das Gericht durch das Prinzip des Einstehens füreinander, dass es aus dem Bundesstaatsprinzip ableitet. Im Hinblick auf den horizontalen Länderfinanzausgleich prägt es den Terminus der bundesstaatlichen Solidargemeinschaft der Länder. Die Aufnahme dieses Begriffs in das verfassungsgerichtliche Vokabular ist ein weiterer Beleg für die föderalistische Grundhaltung des Gerichts bei der Interpretation des Grundgesetzes. Ebenfalls aus dem Bundesstaatsprinzip, jedoch nur für den Bereich der Bundesergänzungszuweisungen, leitet das Gericht das föderative Gleichbehandlungsgebot ab und wirkt damit einer willkürlichen Benachteiligung einzelner Länder durch den Bund entgegen. Der Länderfinanzausgleich teilt nach Ansicht des Gerichts die dem Bundesstaatsprinzip innewohnende Spannungslage, die richtige Mitte zu finden zwischen der Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Bewahrung der Individualität der Länder auf der einen und der solidargemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Existenz und Eigenständigkeit der Bundesgenossen auf der anderen Seite. Mit diesem Leitsatz nimmt das Bundesverfassungsgericht eine weitere Konkretisierung der inneren Zusammenhänge des Bundesstaates vor. Das Bundesstaatsprinzip des Grundgesetzes gibt weder dem Solidaritätsgedanken des Bündnisses noch den Einzelinteressen der Länder den Vorrang, sondern verlangt stets die angemessene Berücksichtigung beider Positionen.

3. BVerfGE 86, 148 – Länderfinanzausgleich III (Urteil des Zweiten Senates vom 27. Mai 1992) Nachdem das Bundesverfassungsgericht in seiner zuvor analysierten Entscheidung vom 24. Juni 1986 die Vorschriften des Zweiten Abschnitts des FAG 1969 für grundgesetzwidrig erklärt hatte, wurden verschiedene dieser Vorschriften durch das Achte Änderungsgesetz vom 18. Dezember 1987 entsprechend angepasst und das Finanzausgleichsgesetz in der Fassung vom 28. Januar 1988 (BGBl. I S. 94) neu bekannt gemacht. Das Finanzausgleichsgesetz wurde dadurch zwar modifiziert, seine Grundstrukturen blieben aber erhalten.

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

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Die Senate der Freien Hansestadt Bremen und der Freien und Hansestadt Hamburg sowie die Regierungen des Saarlandes und Schleswig-Holsteins erhoben Normenkontrollanträge, um feststellen zu lassen, dass diverse Vorschriften des Finanzausgleichsgesetzes mit Art. 107 Abs. 2 GG unvereinbar und daher nichtig seien. So vertraten das Saarland und Schleswig-Holstein die Auffassung, dass die Gemeindefinanzen im horizontalen Finanzausgleich unzureichend berücksichtigt seien. Die Senate Bremens und Hamburgs rügten die ihrer Ansicht nach unzureichende Abgeltung ihrer Sonderbelastungen durch die Seehäfen sowie die zu geringe Einwohnerwertung der Stadtstaaten. Ebenfalls bemängelt wurde die fehlende Absetzbarkeit erbrachter Sozialhilfe. Die genannten Beanstandungen wurden jedoch zurückgewiesen. Als verfassungswidrig beurteilte das Bundesverfassungsgericht indes die Regelung der sogenannten Ländersteuergarantie des § 10 Abs. 3 FAG.682 Als Korrektiv des eigentlichen Finanzkraftausgleichs sollte diese Vorschrift bewirken, dass einerseits jedes ausgleichsberechtigte Land im Ergebnis mindestens 95 Prozent der durchschnittlichen Ländereinnahmen aus Steuern und bergrechtlicher Förderabgabe erreicht, andererseits aber kein ausgleichspflichtiges Land unter 100 Prozent des Länderdurchschnitts dieser Einnahmen fällt. Im Unterschied zur Berechnung der Finanzkraftmesszahl der Länder sollte bei der Berechnung dieser Ländersteuergarantie also die Finanzkraft der Gemeinden unberücksichtigt bleiben ebenso wie die Hafenlasten und die erhöhte Einwohnerwertung der Stadtstaaten. Das Gericht sah durch die fehlende Berücksichtigung der Hafenlasten und der Stadtstaaten-Einwohnerwertung das Willkürverbot verletzt, da „der Gesetzgeber selbstgesetzte Maßstäbe für die – stufenweise – Bewirkung des angemessenen Ausgleichs ohne irgendwie einleuchtenden Grund wieder verlässt und diese Ergebnisse hervorruft, die zu den selbstgesetzten Maßstäben und Ausgleichsschritten in Widerspruch stehen“.683 Ebenfalls verfassungswidrig beurteilte das Gericht § 11a Abs. 2 FAG 1988. Im Rahmen seiner Entscheidung zum FAG 1969 hatte das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass den Ländern Bremen und Nordrhein-Westfalen in den Haushaltsjahren 1983 bis 1986 Bundesergänzungszuweisungen vorenthalten worden waren. Es erteilte daher dem Bundesgesetzgeber den Auftrag, die dadurch entstandenen Nachteile auszugleichen.684 Im Zuge der gesetzgeberischen Umsetzung hatte der Gesetzgeber den Ausgleich auf lediglich 70 Prozent der Ausfälle beschränkt. Diesen Abschlag sah das Gericht als willkürlich an.685 682

BVerfGE 86, 148 [250]. BVerfGE 86, 148 [251]. 684 BVerfGE 72, 330 [423]. 685 BVerfGE 86, 148 [278]; weitere Verstöße des FAG 1988 gegen das Grundgesetz erkannte das Gericht in der Benachteiligung Bremens bei der Zuweisung für Kosten politischer Führung [274] sowie in der pauschalen Kürzung des Nachteilsausgleichs Bremens und Nordrhein-Westfalens [276], der diesen Ländern durch BVerfGE 72, 330 für Benachteiligungen bei der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen i.R. des FAG 1969 zuerkannt worden war. 683

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5. Kap.: Die Finanzverfassung

Das Hauptaugenmerk der vorliegenden Untersuchung gilt jenen Passagen des Urteils, die der Haushaltslage der Länder Saarland und Bremen gewidmet sind. Das Saarland erhielt seit 1987 wegen einer Notlage des Landeshaushaltes jährlich 75 Mio. DM Bundesergänzungszuweisungen, der Stadtstaat Bremen erst seit 1989 jährlich 50 Mio. DM. Die Regierungen beider Länder beantragten, § 11a Abs. 3 FAG (1988) wegen der als unzureichend empfundenen Höhe der Bundesergänzungszuweisungen als verfassungswidrig zu erklären. Bremen beanstandete zudem, in den Jahren 1987 und 1988 keine Zuweisungen erhalten zu haben. Beide Länder trugen vor, dass sie sich in einer extremen Haushaltsnotlage befänden, die ihre staatliche Existenz bedrohe. Diese Haushaltsnotlage sei unverschuldet eingetreten; um sie zu beheben, hätten sie alle erdenklichen Maßnahmen eingeleitet; aus eigener Kraft könnten sie sich aber nicht befreien. Die Haushaltsnotlage sei dadurch gekennzeichnet, dass beide Länder hinsichtlich aller finanzwirtschaftlichen Kennziffern wesentlich schlechter als alle anderen Bundesländer dastünden. Vor allem die finanzschwachen Länder seien gezwungen gewesen, ihren Ausgabenbedarf in immer höherem Maße mit Kreditaufnahmen zu finanzieren. Die daraus resultierende Zinslast steige immer weiter an und enge die Handlungsspielräume des Landes weiter ein. In Anbetracht des Staatsziels der Schaffung und Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse (Art. 72 Abs. 2 Nr. 3, 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 2 GG) könne diese Lage nicht hingenommen werden.686 Das Gericht stellt zunächst fest, dass sich das Saarland und Bremen in einer Haushaltsnotlage befinden.687 Als Indikator dienten dem Gericht die Finanzierungsquote des Länderhaushalts, die das Verhältnis zwischen Netto-Kreditaufnahme und den Einnahmen des Haushalts ausweist sowie die Zins-Steuer-Quote, welche die Zinsausgaben ins Verhältnis zu den Gesamtausgaben setzt. Welche einzelne Quote oder welche Kombination von Quoten ab welcher Größe eine Haushaltsnotsituation präzise definiert, ließ das Gericht offen. Jedenfalls liege eine Haushaltsnotlage vor, wenn, wie im Saarland, die Kreditfinanzierungsquote 1986 mit 14,1 Prozent gegenüber dem Durchschnitt der Bundesländer (6,9 Prozent) mehr als doppelt so hoch und die Zins-Steuer-Quote zur selben Zeit mit 19,8 Prozent weit über dem Durchschnitt der Bundesländer von 11,8 Prozent lag. Gleiches gelte für Bremen, dessen Kreditfinanzierungsquote 19,3 Prozent und dessen Zins-Steuer-Quote 26,3 Prozent betragen habe.688 Diese Haushaltsnotlage habe sich bis 1990, ungeachtet zwischenzeitlich gewährter Hilfen des Bundes, nicht gebessert. Die beiden Länder müssten etwa ein Viertel ihrer steuerlichen Einnahmen allein für Zinszahlungen aufwenden, ohne damit eine Mark ihrer Schulden getilgt und eine ihrer verfassungsrechtlichen Aufgaben erfüllt zu haben.689 Sie hätten durchaus Anstrengungen unternommen, ihre Netto-Kre686

BVerfGE 86, 148 [195]. BVerfGE 86, 148 [258]. 688 BVerfGE 86, 148 [258]. 689 Zum Vergleich verweist das Gericht auf die Kreditfinanzierungsquoten Baden-Württembergs und Bayerns, die 1990 (ohne Kommunen) 5,7 v.H. und 2,4 v.H. sowie die Zins-SteuerQuote, die 8,0 v.H. und 5,7 v.H. betragen haben. 687

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

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ditaufnahme zu verringern und insofern ihre Haushaltswirtschaft auf Stabilisierung ausgerichtet. Dennoch habe die Rückführung der Kreditaufnahme nur bewirken können, dass sich die Zins-Steuer-Quote für Bremen leicht verringert hätte, für das Saarland habe sie sich gleichwohl leicht erhöht. Der Grund dafür liege in der langjährig angestiegenen Schuldenlast, deren mittel- und längerfristige zinsmäßige Auswirkung zunehmend jeden haushaltswirtschaftlichen Handlungsspielraum einschnürte.690 Als extrem identifiziert das Gericht die Haushaltsnotlage, weil die Haushalte beider Länder seit etwa zehn Jahren eine erhebliche Unterdeckung aufwiesen und die zur Finanzierung des Haushalts getätigte Nettokreditaufnahme nahezu ununterbrochen die Höhe der Investitionsausgaben deutlich, zumeist um die beträchtliche Summe von weit über 200 Mio. DM, überschritten habe.691 a) Bundesergänzungszuweisungen – grundsätzlich nur als Hilfe zur Selbsthilfe Im Hinblick auf die Forderung des Saarlands nach höheren Bundesergänzungszuweisungen weist das Gericht erneut darauf hin, dass diese den verfassungsrechtlich bestimmten Zweck verfolgten, die Leistungsschwäche einzelner Länder auszugleichen. Bundesergänzungszuweisungen dürften sich der Sache und dem Umfang nach nur als vorübergehende Hilfe zur Selbsthilfe darstellen. Nicht mehr gedeckt von dieser Funktion der Bundesergänzungszuweisungen sei hingegen eine Unterstützung, die einer Haushaltssanierung durch den Bund anstelle des Landes gleichkomme, das dazu aus eigener Kraft nicht mehr fähig sei.692 Die Haushaltsnotlage des Saarlandes und Bremens habe im Vergleich zu den übrigen am Finanzausgleich beteiligten Ländern ein so extremes Ausmaß, dass ihr mit Bundesergänzungszuweisungen, die sich im Rahmen ihrer normalen Funktion halten, nicht wirksam abgeholfen werden könne. Der Umfang der Mittel, die für das Saarland und Bremen als angemessene Hilfe zur Überwindung ihrer Haushaltsnotlage erforderlich wären – das Gericht legt für eine Haushaltsstabilisierung des Saarlandes über 6 Mrd. DM, für Bremen über 8,5 Mrd. DM zugrunde – würde den Rahmen, der den Bundesergänzungszuweisungen nach ihrer ergänzenden Funktion als letztes Glied des bundesstaatlichen Finanzausgleichs gezogen ist, eindeutig sprengen.693

690

BVerfGE 86, 148 [260]. BVerfGE 86, 148 [262]. 692 BVerfGE 86, 148 [261]; die Berechtigung der dem Saarland insoweit funktionsfremd gewährten Bundesergänzungszuweisungen sieht das BVerfG dennoch nicht in Frage gestellt. 693 BVerfGE 86, 148 [263]. 691

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5. Kap.: Die Finanzverfassung

b) Hilfeleistungspflicht bei Haushaltsnotlagen Anschließend entwickelt das Gericht erstmals Richtlinien für den bundesstaatlichen Umgang mit derartigen Haushaltsnotlagen. „Im Fall der extremen Haushaltsnotlage eines Landes, wie sie gegenwärtig für das Saarland und Bremen besteht, ist das bundesstaatliche Prinzip als solches berührt. Aus ihm erwächst den anderen Gliedern der bundesstaatlichen Gemeinschaft die Pflicht, mit konzeptionell aufeinander abgestimmten Maßnahmen dem betroffenen Land beizustehen.“694

Das Gericht leitet in Ergänzung der geschriebenen Verfassung aus dem Bundesstaatsprinzip eine konkrete Hilfeleistungspflicht für den Fall der extremen Haushaltsnotlage ab. Hierbei stützt es sich auf die Intention der Finanzverfassung, durch sachgerechte Beteiligung am Finanzaufkommen die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass die staatliche Selbständigkeit von Bund und Ländern real werden und sich ihre Eigenständigkeit in der Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung und der Haushaltswirtschaft entfalten kann. Die finanzverfassungsrechtlichen Normen seien zugleich Ausdruck der im Bundesstaat bestehenden Solidargemeinschaft von Bund und Ländern und des bündischen Prinzips des Einstehens füreinander, das zur bundesstaatlichen Ordnung gehöre.695 Befindet sich der Bund oder ein Land in einer extremen Haushaltsnotlage, aus der es sich mit eigener Kraft nicht befreien kann, so erfährt das Bundesstaatsprinzip eine Konkretisierung in Gestalt einer Pflicht aller anderen Glieder der bundesstaatlichen Gemeinschaft, Hilfe zu leisten. Als Ziel formuliert das Gericht die ,haushaltswirtschaftliche Stabilisierung auf der Grundlage konzeptionell aufeinander abgestimmter Maßnahmen, damit das Land wieder zur Wahrung seiner politischen Autonomie und zur Beachtung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen befähigt wird.696 Hervorzuheben ist hierbei die konstruktive Ausrichtung der Hilfspflicht. Nicht allein zur Gewährung finanzieller Hilfe zum Abbau der Schuldenlast ist die bundesstaatliche Gemeinschaft verpflichtet, sondern zur gemeinsamen Aufstellung eines Konzeptes, dass der Ursache der Haushaltsnotlage entgegenwirkt. Erst aufgrund eines solchen Konzeptes ist die bundesstaatliche Gemeinschaft zu Hilfsmaßnahmen verpflichtet. Diese Anforderung verfolgt das Ziel einer möglichst hohen Effizienz der Solidarleistungen, die nicht nur zum Abbau der Schulden, sondern zu einer nachhaltigen Stärkung der Finanzkraft beitragen soll. Erst damit wird die Grundlage für die Konsolidierung der Landesfinanzen geschaffen, die letztlich wiederum unabdingbare Voraussetzung für den Erhalt der Eigenstaatlichkeit des Landes ist. Klarstellend ergänzt das Gericht, dass diese bundesstaatliche Hilfeleistungspflicht keine eigenständigen Regelungs- und Eingriffsbefugnisse neben denen des Grundge694 695 696

BVerfGE 86, 148 [263 f.]. BVerfGE 86, 148 [264]. BVerfGE 86, 148 [265].

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setzes begründet.697 Diese Einschränkung ist insofern von Bedeutung, als sie trotz der außergewöhnlich kritischen Lage eines extremen Haushaltsnotstandes eines Bundeslandes dessen vollumfängliche Autonomie garantiert. Trotz des beträchtlichen Umfangs der zu erbringenden Solidarleistungen erhält der Bund keine Zugriffsrechte auf die Finanzhoheit und die Haushaltswirtschaft des Not leidenden Landes. So selbstverständlich dies angesichts des hohen Stellenwertes der Staatlichkeit der Länder in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts erscheinen mag, so unschwer ist das Begehren des Bundes und der Länder vorstellbar, auf die Verwendung der eigens erbrachten Finanzhilfen bei der Haushaltssanierung des Empfängerlandes Einfluss nehmen zu wollen.698 Die Gewährleistung der Autonomie des Not leidenden Landes stellt daher eine Stärkung seiner Stellung dar. Die normative Wirkung der Hilfeleistungspflicht, so der Entscheidungstext, liege vielmehr darin, die Wahrnehmung bestehender Befugnisse nach Grund und Umfang zu dirigieren, bestehende Verpflichtungen zu intensivieren und als Interpretationsgesichtspunkt für die Auslegung von Art und Umfang bestehender Handlungsmöglichkeiten zu wirken. Für Bund und Länder ergebe sich daraus die Verpflichtung, die nach dem Grundgesetz eröffneten Handlungsmöglichkeiten, die zur Behebung oder Abwehr der Notlage in Betracht kommen, zu prüfen und je nach ihrer Eignung so einzusetzen, dass eine stabilisierende Abhilfe erreicht werde. Rühre die Haushaltsnotlage aus einer Kombination von wirtschaftlicher Strukturschwäche und hierdurch mit verursachter übermäßiger Verschuldung, sei zu berücksichtigen, dass in einer solchen Lage sowohl das Ineinandergreifen mittel- und längerfristig wirksamer Maßnahmen zur Verstärkung der Wirtschaftskraft als auch der Abbau der akuten, in der Schuldenlast sich manifestierenden Haushaltsnotlage erforderlich seien.699 Anschließend benennt das Gericht ,Handlungsmöglichkeiten wie die Schaffung von Verpflichtungen und Verfahrensregelungen mit dem Ziel der Verhinderung sowie dem Abbau von Haushaltsnotlagen. Weitere Möglichkeiten konkreter Hilfeleistungen eröffneten die verfassungsrechtlichen Instrumente der Gemeinschaftsaufgaben, der Investitionshilfen und der Standortentscheidungen, für die der Bund zuständig sei oder an denen er mitwirke.700 An dieser Stelle wird erneut der konstruktive Primäransatz der Entscheidung deutlich, nämlich Haushaltsnotlagen a priori zu vermeiden.

697

BVerfGE 86, 148 [265]. Vgl. in BVerfGE 86, 148 [204] die Antragsentgegnung der Bundesregierung und der Landesregierung Rheinland-Pfalz, wonach die Haushaltslage des Saarlandes keineswegs so aussichtslos sei, wie sie die Antragsschrift und das zugrunde liegende Gutachten darstelle. 699 BVerfGE 86, 148 [266]. 700 BVerfGE 86, 148 [268]. 698

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c) Bundesergänzungszuweisungen zur Bekämpfung von Haushaltsnotlagen Neben diesen mittel- und langfristig ausgerichteten Maßnahmen zur Verbesserung der Einnahmestruktur bedürfe es ebenso einer unmittelbaren Bekämpfung der akuten finanziellen Notlage. In dieser Sicht der bundesstaatlichen Hilfeleistungspflicht gewinne auch die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG eine über die zunächst gegebene Funktion hinausgehende Bedeutung. Die Vorschrift des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG schließe es nach ihrem Wortlaut nicht aus, in einer extremen Haushaltsnotlage eines Landes, aus der dieses sich nicht mehr befreien könne, zur Verwirklichung der bundesstaatlichen Hilfeleistungspflicht angewandt zu werden. „In einem solchen Ausnahmefall erweitert sich, von der verfassungsbegründeten bundesstaatlichen Hilfeleistungspflicht normativ dirigiert, ihr Sinn und Zweck. Der Umfang der Bundesergänzungszuweisungen kann dann das sonst zulässige Ausmaß vorübergehend überschreiten. Im Hinblick auf die im Prinzip bundesstaatlicher Hilfeleistung angelegte und in Art. 109 Abs. 2 GG ausdrücklich niedergelegte Kooperationspflicht von Bund und Ländern kann dabei die Gewährung der Bundesergänzungszuweisungen daran gebunden werden, daß das betreffende Land sich zur Aufstellung und Durchführung eines Sanierungsprogramms verpflichtet.“701

Das Gericht erstreckt also den Anwendungsbereich der Bundesergänzungszuweisungen auf umfangreiche finanzielle Hilfeleistungen zur Bekämpfung extremer Haushaltsnotlagen. Darin offenbart sich zunächst ein Widerspruch zu der zuvor proklamierten Erkenntnis, dass der Umfang der Mittel, die zur Überwindung einer extremen Haushaltsnotlage erforderlich wären, den Rahmen der ergänzenden Funktion der Bundesergänzungszuweisungen eindeutig sprengen würden. Die vermeintlich widersprüchlichen Ausführungen beziehen sich jedoch explizit auf die grundsätzliche funktionelle Ausrichtung der Zuweisungen. Den erweiterten, über den Wortlaut des Grundgesetzes hinausgehenden Anwendungsbereich der Bundesergänzungszuweisungen leitet das Gericht im Rahmen verfassungsergänzender Auslegung ab. Es betont zugleich, dass die Gewährung von Zuweisungen zum Zweck der Bekämpfung extremer Haushaltsnotlagen jedoch nur vorübergehend zulässig sei und die Entscheidung darüber im Ermessen des Bundesgesetzgebers liege. Zudem könne die Gewährung von der Aufstellung und Durchführung eines Sanierungsprogramms abhängig gemacht werden.702 Folglich gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass das Saarland keinen Anspruch auf erhöhte Zuweisungen hat und Bremen, aufgrund des Verstoßes gegen das föde701

BVerfGE 86, 148 [269]. BVerfGE 86, 148 [269]; erweise sich das vorhandene Finanzvolumen nicht als ausreichend, so bleibe nur der Ausweg größerer Sparsamkeit oder einer Erhöhung der Einnahmen. Schließlich bestehe auch die Möglichkeit, das Bundesgebiet neu zu gliedern, um Art. 29 Abs. 1 GG entsprechend zu gewährleisten, dass die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen könnten [270]. 702

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

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rative Gleichbehandlungsgebot, lediglich eine Gleichstellung mit dem Saarland zusteht. Das weitere Vorgehen, insbesondere die Entscheidung über die Gewährung von umfangreichen Ergänzungszuweisungen nach § 11a Abs. 3 FAG, liege im Ermessen des Gesetzgebers.703 d) Fazit Mit seinem dritten Urteil zum Länderfinanzausgleich nimmt das Bundesverfassungsgericht erstmals Stellung zur Frage des extremen Haushaltsnotstandes eines Landes. Aus dem Bundesstaatsprinzip und dem Prinzip des Einstehens füreinander leitet es die Pflicht der anderen Glieder der bundesstaatlichen Gemeinschaft ab, dem Not leidenden Land mit konzeptionell aufeinander abgestimmten Maßnahmen Hilfe zu leisten. Umfangreiche finanzielle Zuwendungen können primäre Maßnahmen zur strukturellen Verbesserung der Finanzkraft des Landes nur ergänzen. Hierfür bedient sich das Gericht des Institutes der Bundesergänzungszuweisungen, dessen ursprünglichen Anwendungsbereich es um den Einsatzzweck der vorübergehenden Bekämpfung extremer Haushaltsnotlagen erweitert. Mit dieser Entscheidung betont das Gericht erneut die Verantwortung der Solidargemeinschaft der Länder sowie des Bundes, der federführend die Gewährung umfangreicher Finanzhilfen gesetzlich umzusetzen hat. Mit seinem Konzept der gemeinschaftlichen Bewältigung extremer Haushaltsnotlagen schafft das Gericht geradezu ein Paradigma föderativer Kooperation. Selbst am Rande der finanziellen Handlungsfähigkeit lässt das Gericht die Autonomie der Länder unangetastet und verpflichtet sie lediglich zur Aufstellung und Umsetzung eines Sanierungsprogramms.

4. BVerfGE 101, 158 – Länderfinanzausgleich IV (Urteil des Zweiten Senates vom 11. November 1999) a) Maßstäbe für die Verteilung des Finanzaufkommens Gegenstand des Normenkontrollverfahrens waren zahlreiche Vorschriften des Finanzausgleichsgesetzes vom 23. Juni 1993. Die Anträge der Länder Bayern, BadenWürttemberg und Hessen zielten nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auf eine Prüfung des Gesamtsystems des Finanzausgleichsgesetzes unter den veränderten Bedingungen der Ausgleichsteilhabe der neuen Bundesländer. Eine materiell abschließende Würdigung einzelner Regelungen oder des Gesamtsystems des Finanzausgleichsgesetzes lehnte das Bundesverfassungsgericht jedoch mit der Begründung ab, dass die verfassungsgerechte Ausformung finanzausgleichsrechtlicher Maßstäbe dem Gesetzgeber zugewiesen sei. „Die verfassungsrechtliche Würdigung des Finanzausgleichsgesetzes hat ergeben, daß die unverzichtbare Ordnungsfunktion der Finanzverfassung nur durch eine maßstabgebende 703

BVerfGE 86, 148 [271 ff.].

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5. Kap.: Die Finanzverfassung

Konkretisierung und Ergänzung der offenen Tatbestände des Grundgesetzes gewahrt werden kann.“704

Im Begründungstext findet sich dementsprechend keine dezidierte Auseinandersetzung mit den Beanstandungen der einzelnen Vorschriften des FAG 1993. Das Bundesverfassungsgericht gelangte stattdessen zu der Einschätzung, dass das Finanzausgleichsgesetz die in Art. 106 und Art. 107 GG vorgegebenen Grundsätze nicht mit hinreichender Deutlichkeit konkretisiere und begrenzte seine Geltungsdauer bis Ende 2004.705 Zugleich erteilt es dem Gesetzgeber den Auftrag zur Konkretisierung und Ergänzung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe der Finanzverfassung bis Ende 2002. Die Verteilung des Finanzaufkommens im Bundesstaat werde durch die Finanzverfassung des Grundgesetzes lediglich in ihren Grundlinien festgelegt. Daraus ergebe sich ein verfassungsrechtlich normiertes Gefüge, das in sich durchaus beweglich und anpassungsfähig sei, dessen einzelne Stufen aber nicht beliebig ausgewechselt oder übersprungen werden könnten. Das Grundgesetz beauftrage den Gesetzgeber, die verfassungsrechtlichen Maßstäbe zu konkretisieren und zu ergänzen.706 Die Finanzverfassung verlange in Art. 106 Abs. 3 und 4 sowie Art. 107 Abs. 2 GG eine gesetzliche Maßstabgebung, die den rechtsstaatlichen Auftrag eines gesetzlichen Vorgriffs in die Zukunft in der Weise erfülle, dass die Maßstäbe der Steuerzuteilung und des Finanzausgleichs bereits gebildet sind, bevor deren spätere Wirkungen konkret bekannt werden.707 Die Herleitung eines solchen Verfassungsauftrages stieß im Schrifttum teilweise auf vehemente Kritik, die allerdings keinen direkten bundesstaatlichen Bezug aufwies, sondern sich schlicht an der fehlenden Existenz einer adäquaten Grundlage im Verfassungstext entzündete.708 Mag die Kritik an der unmittelbaren Herleitung eines gesonderten Verfassungsauftrages zur Maßstabprägung aus Art. 106 und 107 GG nachvollziehbar sein, das gerichtliche Plädoyer für die Notwendigkeit der Festlegung verbindlicher Maßstäbe für die Finanzverteilung ist es ebenfalls.709

704

BVerfGE 101, 158 [238]. BVerfGE 101, 158 [214]. 706 BVerfGE 101, 158 [214]. 707 BVerfGE 101, 158 [217]. 708 Da dieser Aspekt der Verfassungsinterpretation keine spezifische Frage der Bundesstaatsverfassung berührt, sei an dieser Stelle lediglich auf den umfassenden Diskurs verwiesen. Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, 5. Aufl. 2005, Art. 106 Rdnr. 29, Fn. 102. Positive Aufnahme fand das Urteil u. a. bei Ossenbühl, in: Kirchhof u. a., FS für Vogel, 2000, S. 227 (240); Degenhart, ZG 2000, S. 79 (80) sowie Waldhoff, ZG 2000, S. 193 (208): „Konkretisierungsbedürftigkeit als Gesetzgebungsauftrag“. Vgl. v. Münch, NJW 2000, S. 2644 (2644). 709 Hätte das Gericht sich darauf beschränkt, das Defizit zu benennen, das FAG zu Übergangsrecht erklärt und dem Gesetzgeber eine Frist zur Festlegung entsprechender Maßstäbe gesetzt ohne einen unmittelbaren Verfassungsauftrag zur Schaffung eines gesonderten Maßstäbegesetzes herzuleiten, hätte es seinen Kritikern keine vergleichbare Angriffsfläche geboten und dennoch den Gesetzgeber verpflichten können. 705

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

227

Dem Verfassungsauftrag zur langfristigen gesetzlichen Maßstabbildung und deren gegenwartsnaher Anwendung in den konkreten Finanzausgleichsbestimmungen liege der Gedanke zugrunde, eine rein interessenbestimmte Verständigung über Geldsummen auszuschließen oder zumindest zu erschweren.710 Deshalb müsse das maßstabgebende Gesetz in zeitlichem Abstand vor seiner konkreten Anwendung im Finanzausgleichsgesetz beschlossen und sodann in Kontinuitätsverpflichtungen gebunden werden, die seine Maßstäbe und Indikatoren gegen aktuelle Finanzierungsinteressen, Besitzstände und Privilegien abschirmen. Dies könne indes nur gelingen, wenn der Gesetzgeber das Maßstäbegesetz beschließe, bevor ihm die Finanzierungsinteressen des Bundes und der einzelnen Länder in den jährlich sich verändernden Aufkommen und Finanzbedürfnissen bekannt seien.711 Das Grundgesetz stelle seine behutsam aufeinander abgestimmten Regeln über Steueraufkommen und Finanzausgleich nicht am Ende eines abgestuften und aufeinander bezogenen Regelungssystems zur freien Disposition der betroffenen Körperschaften. Die Regelung des Finanzausgleichs dürfe nicht dem freien Spiel der politischen Kräfte überlassen bleiben.712 Das Gericht spricht damit den Kern des Problems an, den Korioth zutreffend wie folgt beschrieb: „Bislang setzte die Form des Gesetzes – die Art. 106 und 107 GG zwingend verlangt – den bundesstaatlichen Finanzausgleichsvertrag um“.713 Dahinter verbirgt sich die Erkenntnis, dass die Festlegung der Verteilung der Finanzmittel in den Finanzausgleichsgesetzen eben nicht anhand nachvollziehbarer Maßstäbe erfolgte, sondern „dem freien Spiel der politischen Kräfte“, genauer der Verhandlungsstärke der Vertreter der jeweiligen Bundes- und Landesregierungen, überlassen war. Bereits in BVerfGE 72, 330 hatte das Gericht explizit darauf hingewiesen, dass Art. 107 Abs. 2 GG den horizontalen Finanzausgleich und die Bundesergänzungszuweisungen dem freien Aushandeln der Beteiligten entziehe, sie gewissen normativen Vorgaben unterstelle und in die Verantwortung des Bundesgesetzgebers gebe.714 Exemplarisch für die zunehmende Entkoppelung von den Gesetzgebungsorganen und dem zunehmenden Einfluss der Exekutiven stehen die Bund-Länder-Verhandlungen des Jahres 1993 zum sogenannten ,Solidarpakt I. Völlig losgelöst von den Beratungswegen in den gesetzgebenden Organen handelten damals der Bundeskanzler und die Landesregierungen den ersten ab 1995 geltenden gesamtdeutschen Finanzausgleich aus – Bundestag und Bundesrat blieb die Rolle des ,beurkundenden Gesetzgebungsnotars.715

710

BVerfGE 101, 158 [217]. BVerfGE 101, 158 [218]. 712 BVerfGE 101, 158 [218]. 713 Korioth, ZG 2002, S. 335 (337). 714 BVerfGE 72, 330 [395] sowie 4.Ls. 715 So Korioth, ZG 2002, S. 335 (337), der diesen Vorgang zutreffend als Entfesselung exekutivischer Einflussnahme und Steuerung charakterisiert. 711

228

5. Kap.: Die Finanzverfassung

Dem Bundesverfassungsgericht ist ausdrücklich zuzustimmen, wenn es der Verteilung von Finanzmitteln im Bundesstaat rechtsstaatlich nachvollziehbare normative Maßstäbe zugrunde gelegt sehen will. Geradezu zwingend spricht dafür auch die Erfahrung mit den Bestimmungen der früheren Finanzausgleichsgesetze, die allein den Schluss zulässt, dass der Bemessung der Finanzkraft und der Ausgleichsanteile willkürliche Erwägungen zugrunde lagen. Zahlreiche Normen, bisweilen ganze Abschnitte mussten als verfassungswidrig verworfen werden.716 Exemplarisch sei § 11a Abs. III FAG 1988 angeführt, der dem Saarland Bundesergänzungszuweisungen in Höhe von 75 Mio. DM zugestand, wohingegen Bremen, dessen finanzwirtschaftliche Daten deutlich schlechter waren als die des Saarlandes, zwei Jahre überhaupt keine Bundesergänzungszuweisungen erhalten sollte und anschließend nur 66 Prozent der Zuweisungen an das Saarland. Die Weigerung des Gerichts ist vor allem insofern nachvollziehbar, als es zwischen 1986 und 1999 drei mal zur Überprüfung zahlreicher Normen des jeweils geltenden FAG angerufen wurde, obwohl die antragstellenden Länderregierungen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens beteiligt waren. Dieser Umstand drängt zu der Vermutung, dass die entsprechenden Landesregierungen bereits zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens den Normenkontrollantrag als Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen ins Kalkül gezogen haben könnten. Jedenfalls musste das Gericht aufgrund der gegenständlichen Normenkontrollanträge, die nahezu sämtliche Normen des FAG 1993 in Frage stellten, davon ausgehen, dass den betreffenden Normen der Finanzverfassung aufgrund ihrer Unbestimmtheit die Eignung fehlt, einen tragfähigen Konsens über die Finanzverteilung im Bundesstaat herbeizuführen.717 Das Gericht musste demzufolge auf dieses Defizit eingehen und den Gesetzgeber zum Handeln auffordern.718 Aus finanzökonomischer und politologischer Sicht wurde das Urteil dementsprechend begrüßt.719 Auch gewichtige po-

716 Vgl. BVerfGE 72, 330 [333] hinsichtlich des gesamten zweiten Abschnitts des FAG 1969. Exemplarisch auch BVerfGE 86, 148 [250 f.] hinsichtlich § 10 Abs. 3 FAG 1988, den das Gericht aufgrund fehlender einheitlicher Maßstäbe als willkürlich beurteilte. 717 Dies legt insbesondere der Umstand nahe, dass die antragstellenden Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen im Jahr 1993 den nunmehr angegriffenen Einzelregelungen zusammen mit den übrigen Bundesländern zugestimmt hatten. Vgl. Peffekoven, Wirtschaftsdienst 1999, S. 709 (709). 718 Angesichts der Notwendigkeit der Schaffung entsprechender Maßstäbe kann der These, wonach das Urteil für die föderative Finanzverfassung und den bundesstaatlichen Finanzausgleich keine Fortentwicklung gebracht habe, nicht ohne Weiteres zugestimmt werden. I.d.S. Geske, Der Staat 2007, S. 203 (224), der erwartet hatte, dass das Gericht die finanzwirtschaftlichen Probleme des Wiedervereinigungsprozesses aufbereiten würde. 719 Vgl. Peffekoven, Wirtschaftsdienst 1999, S. 709 (715); Rupp, JZ 2000, S. 269 (272); Renzsch, Wirtschaftsdienst 1999, S. 716 (716); Ossenbühl konstatiert gar, dass es im Umkreis der Politik niemanden gegeben habe, der auch nur leise Zweifel oder Skepsis an dem neu gewiesenen Weg des Bundesverfassungsgerichts geäußert hätte, vgl. dens., in: Kirchhof u. a., FS für Vogel, 2000, S. 227 (227).

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

229

litische Stimmen waren vernehmbar, die das Urteil sogar als Chance für die Revitalisierung der bundesstaatlichen Ordnung ansahen.720 Für das zu schaffende Maßstäbegesetz benennt es daher vier Hauptaufgaben: 1. Maßstäbe für die vertikale Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und Ländergesamtheit gemäß Art. 106 Abs. 3 S. 4 GG; 2. Kriterien für die Gewährung von Umsatzsteuerergänzungsanteilen gemäß Art. 107 Abs. 1, 2. Hs. GG; 3. Voraussetzungen für Ausgleichsansprüche und Ausgleichsverbindlichkeiten sowie die Maßstäbe für deren Höhe im horizontalen Länderfinanzausgleich nach Art. 107 Abs. 2 S. 2 GG; 4. Maßstäbe für die Benennung und Begründung der Bundesergänzungszuweisungen, Art. 107 Abs. 2 S. 3 GG.721 Der Gesetzgeber müsse – unabhängig von wechselnden Ausgleichsbedürfnissen und von konkreten Zuteilungs- und Ausgleichssummen – langfristig anwendbare Maßstäbe bestimmen, aus denen dann die konkreten, in Zahlen gefassten Zuteilungsund Ausgleichsfolgen abgeleitet werden könnten. Im Hinblick auf den Auftrag zur Umsatzsteuerverteilung fordert das Gericht die verfassungsrechtlich vorgegebenen Grundsätze des Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 und 2 GG inhaltlich zu verdeutlichen und insbesondere den Tatbestand der ,laufenden Einnahmen und der ,notwendigen Ausgaben so zu bestimmen und berechenbar zu formen, dass daraus Verteilungsschlüssel abgeleitet werden können. Auf der zweiten Stufe sei der Gesetzgeber ermächtigt, die Unterdurchschnittlichkeit der Einnahmen gemäß Art. 107 Abs. 1 Satz 4, 2. Hs. GG berechenbar zu definieren und das Gesamtvolumen der Ergänzungsanteile näher zu bestimmen. Die dritte Stufe, der horizontale Finanzausgleich, verlange vom Gesetzgeber ebenfalls zunächst eine Maßstabgebung, aus der dann die konkreten Ansprüche und Verbindlichkeiten abzuleiten seien. Nach Art. 107 Abs. 2 Satz 2 GG genüge es nicht, dass das Finanzausgleichsgesetz die Ausgleichsansprüche und die Ausgleichsverbindlichkeiten regelte; vielmehr seien die Voraussetzungen für Ausgleichsansprüche und Ausgleichsverbindlichkeiten sowie die Maßstäbe für die Höhe der Ausgleichsleistungen im Gesetz zu bestimmen. Auf der vierten Stufe schließlich werde der Gesetzgeber ermächtigt, für benannte und begründete Sonderlasten Ergänzungszuweisungen vorzusehen.722 Soweit das Gericht einzelne Regelungsgegenstände gesondert betrachtet, bezieht es sich auf seine frühere Rechtsprechung zum Finanzausgleich, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung bereits analysiert wurde. An dieser Stelle wird daher nur exemplarisch auf einige Passagen hingewiesen, die inhaltliche Abweichungen zu früVgl. v. Münch, NJW 2000, S. 2644 (2644), der entsprechende Äußerungen der damaligen Ministerpräsidenten Biedenkopf und Teufel zitiert. 721 BVerfGE 101, 158 [219 ff.]. 722 BVerfGE 101, 158 [215 f.]. 720

230

5. Kap.: Die Finanzverfassung

heren Judikaten enthalten oder auf wiedervereinigungsbedingte Veränderungen zurückgehen. Hinsichtlich des horizontalen Länderfinanzausgleichs fordert das Gericht, den Begriff der Finanzkraft in Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG durch die Bestimmung praktikabler und ökonomisch rationaler Indikatoren näher auszuformen, um die Einnahmen der Länder vergleichbar zu machen.723 Sollten weiterhin Sonderbelastungen aus der Unterhaltung und Erneuerung von Seehäfen in die Berechnung der Finanzkraft einbezogen werden, bedürfe dies einer Rechtfertigung. Sofern nur dem abstrakten Mehrbedarf Rechnung getragen werde, habe der Gesetzgeber zu prüfen, ob ähnliche Mehrbedarfe in anderen Ländern existierten, die dann ebenfalls berücksichtigt werden müssten.724 Auch bei der Ermittlung der Finanzkraft der Gemeinden sei es Aufgabe des Gesetzgebers, allgemeine Maßstäbe auszuformen und festzulegen, um dann entscheiden zu können, welche der kommunalen Einnahmen bei der Ermittlung der kommunalen Finanzkraft außer Betracht bleiben dürften.725 Als überprüfungsbedürftig bewertete das Gericht auch die variable Einwohnergewichtung. Ein Maßstäbegesetz habe eine Gleichbehandlung aller Länder sicherzustellen. Umfang und Höhe eines Mehrbedarfs sowie die Art seiner Berücksichtigung dürften vom Gesetzgeber nicht frei gegriffen werden. Sie müssten sich nach Maßgabe verlässlicher und objektivierbarer Indikatoren als angemessen erweisen. Die Einbeziehung der neuen Länder in den Länderfinanzausgleich mache es zudem erforderlich, die Finanzkraft der Stadtstaaten der Finanzkraft dünn besiedelter Flächenstaaten gegenüberzustellen und zu prüfen, ob eine Ballung der Bevölkerung in einem Land oder eine unterdurchschnittliche Bevölkerungszahl einen abstrakten Mehrbedarf pro Einwohner rechtfertigen könne. Soweit der Einwohnermaßstab auch in Zukunft modifiziert werden solle, sei dieser Prüfungsauftrag umso dringlicher, als der Bedarf der neuen Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen durch die gegenwärtige Einwohnerwertung weniger Gewicht erhalte, die Kosten vieler öffentlicher Leistungen in dünn besiedelten Gebieten aber deutlich höher liegen könnten als in den Städten, zumal die Gemeinkosten auf eine geringere Kopfzahl umgelegt werden müssten.726 723

BVerfGE 101, 158 [228]; vgl. zur Umsetzung durch den Gesetzgeber § 7 MaßstäbeG. BVerfGE 101, 158 [229]. Das 2001 in Kraft getretene Maßstäbegesetz und das daraufhin erlassene FAG berücksichtigen nunmehr keine Sonderlasten aus der Unterhaltung und Erneuerung von Seehäfen. 725 BVerfGE 101, 158 [229]. Ausgehend von § 8 Abs. 4 MaßstäbeG bestimmt § 8 Abs. 1 und 3 FAG 2001, dass bei der Bestimmung der Finanzkraft die Steuereinnahmen der Gemeinden eines Landes lediglich mit 64 v.H. angesetzt werden, um so den Finanzbedarf zur Erfüllung kommunaler Aufgaben zu berücksichtigen. Konkrete Sonderlasten werden vom FAG nicht anerkannt. 726 BVerfGE 101, 158 [230]. § 8 Abs. 3 MaßstäbeG lautet dementsprechend: „Um die Finanzkraft der Stadtstaaten einerseits und die der Flächenländer andererseits vergleichen zu können, ist den abstrakten Mehrbedarfen der Stadtstaaten durch eine Modifizierung der Einwohnerzahl Rechnung zu tragen. Ferner kann die Berücksichtigung abstrakter Mehrbedarfe 724

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

231

Hinsichtlich der Bundesergänzungszuweisungen verweist das Urteil darauf, dass im Jahr 1998 das Volumen des Finanzausgleichs etwa 13,52 Milliarden DM betrug, das der Bundesergänzungszuweisungen 25,65 Milliarden DM. Dieses Verhältnis vermochte das Gericht mit Rücksicht auf den Sonderbedarf der neuen Länder als wiedervereinigungsbedingte Ausgleichsregelung vorübergehend zu rechtfertigen.727 Angesichts der Ergänzungsfunktion von Bundeszuweisungen bedürfe diese Entwicklung jedoch auf längere Sicht auch im Hinblick auf die neuen Länder der Korrektur. Zukünftig habe der maßstabgebende Gesetzgeber nachvollziehbare und widerspruchsfreie Regelungen zu schaffen. Insbesondere habe er das Tatbestandsmerkmal der Leistungsschwäche in Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG näher zu bestimmen, ebenso wie die Funktion der Bundesergänzungszuweisungen als abschließendes vertikales, dem horizontalen Finanzausgleich nachgeschaltetes Ausgleichselement.728 b) Fazit Nachdem das Gericht in den vorhergehenden Entscheidungen zum Finanzausgleich den Bundesgesetzgeber wiederholt auf das Fehlen allgemeingültiger und verbindlicher Maßstäbe für die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens und für den Finanzausgleich einschließlich der Bundesergänzungszuweisungen hingewiesen hat, hielt es den Zeitpunkt für gekommen, sich einer erneuten Prüfung der Einzelvorschriften des Finanzausgleichsgesetzes 1993 zu verweigern und den Gesetzgeber ultimativ zur Schaffung konkreter Maßstäbe für die Finanzverteilung aufzufordern. Dieser Aufforderung hat der Gesetzgeber grundsätzlich entsprochen. Wenngleich die Umsetzung teilweise hinter den Vorgaben des Gerichts zurückblieb, wie etwa hinsichtlich der Konkretisierung der Tatbestände der ,laufenden Einnahmen und der ,notwendigen Ausgaben des Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 GG, so wurde dennoch der erste Schritt in die richtige Richtung getan. Die Entscheidung ist ein weiteres deutliches Bekenntnis zum Bundesstaat, aber mehr noch zum Rechtsstaat, da sie dem drängenden Willen des Gerichts Ausdruck verleiht, die Finanzverteilung im deutschen Bundesstaat einem transparenten, nachvollziehbaren Regime zu unterstellen, das rechtsstaatlichen Anforderungen genügt und die Legitimation des Bundesstaates nicht unnötig in Frage stellt.

besonders dünn besiedelter Flächenländer notwendig werden.“ – In § 9 Abs. 3 FAG 2001 werden dementsprechend für die Berechnung des Aufkommens der Gemeindesteuern die Einwohner der Länder Mecklenburg-Vorpommern mit 105 v.H., die Einwohnerzahl des Landes Brandenburg mit 103 v.H., die Einwohnerzahl des Landes Sachsen-Anhalt mit 102 v.H. und die Einwohnerzahlen der übrigen Länder mit 100 v.H. gewertet. Die Einwohner der Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg werden hinsichtlich des Länderaufkommens gemäß § 9 Abs. 2 und 3 FAG 2001 mit 135 v.H. gewertet. 727 Das Volumen der Sonderergänzungszuweisungen nach § 11 Abs. 4 FAG betrug allein 14 Milliarden DM. 728 BVerfGE 101, 158 [233].

232

5. Kap.: Die Finanzverfassung

5. BVerfGE 116, 327 – Haushaltsnotlage Berlin (Urteil des Zweiten Senates vom 19. Oktober 2006) Der Normenkontrollantrag der Landesregierung Berlin aus dem Jahr 2003 richtete sich im Kern darauf, feststellen zu lassen, dass § 11 Abs. 6 des Finanzausgleichsgesetzes vom 23. Juni 1993 im Widerspruch zu Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG steht, soweit Berlin für die Jahre seit 2002 keine Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zum Zweck der Haushaltssanierung gewährt wurden. Den Hintergrund bildet die immense Verschuldung Berlins, die 2003 den Stand von 48,72 Mrd. E erreichte729 und im Jahr der Urteilsverkündung 58,99 Mrd. E betrug730. Die Landesregierung erhoffte mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts, die Gewährung von Sanierungszuweisungen des Bundes wegen einer extremen Haushaltsnotlage erzwingen zu können, so wie dies in ähnlicher Weise zuvor bereits Bremen und dem Saarland 1992 gelungen war. Beide Länder hatten in Folge von BVerfGE 86, 148 zwischen 1995 und 2004 insgesamt ca. 15 Mrd. E als Sanierungshilfe erhalten. a) Sanierungshilfen – Fremdkörper innerhalb der Finanzverfassung Nach einer einleitenden Rekapitulation der unterschiedlichen Stufen des Finanzverteilungssystems des Grundgesetzes äußert das Gericht grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber dem Einsatz des Instruments der Bundesergänzungszuweisungen zum Zweck der Sanierung eines Not leidenden Landeshaushalts.731 Das Unbehagen des Gerichts bei der Zuordnung einer Haushaltsnotlage zum Tatbestand der Leistungsschwäche im Sinne des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG war bereits in der bisherigen Senatsrechtsprechung angeklungen.732 Grundsätzlich erwiesen sich Sanierungspflichten des Bundes im Verbund mit den übrigen Ländern und korrespondierende Ansprüche eines Not leidenden Landes als Fremdkörper innerhalb des geltenden bundesstaatlichen Finanzausgleichs.733 Die gegenwärtige Lage, so das Gericht, gebe Anlass, die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine bundesstaatliche Überdehnung der Befugnisse und Pflichten 729

Statistisches Jahrbuch 2004, S. 679. Statistisches Jahrbuch 2007, S. 593. 731 BVerfGE 116, 327 [382]. 732 BVerfGE 116, 327 [383], unter Verweis auf die BVerfGE 72, 330 [405]; 86, 148 [262 f.] und 101, 158 [235]. 733 BVerfGE 116, 327 [384]. Diese Einordnung erfährt zu Recht breite Zustimmung: vgl.: Korioth, ZG 2007, S.1 (9) – Bereits anlässlich BVerfGE 86, 148 hatte Korioth die normative Anknüpfung derartiger Sanierungshilfen als bedenkliche Interpretation des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG bezeichnet, vgl.: dens., Finanzausgleich, 1997, S. 669; ebenso Rossi, JZ 2007, S. 394 (396); Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 107 Rdnr. 54.; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 107 Rdnr. 2a.; ebenso Ekardt/Buscher, NJ 2008, S. 102 (103), die der Entscheidung jedoch grundsätzlich kritisch gegenüber stehen. 730

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

233

des Bundes gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG zu verdeutlichen. Den Tatbestand der Leistungsschwäche im Sinne des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG interpretiert es aufgabenbezogen. Er beschreibe die mangelnde Fähigkeit eines Landes mit den nach dem horizontalen Finanzausgleich vorhandenen Mitteln, die von der Verfassung zugewiesenen Aufgaben wahrzunehmen. Bundesergänzungszuweisungen dienten dementsprechend der Kompensation allgemeiner unterdurchschnittlicher Finanzkraft oder landesspezifischer Sonderlasten. Dagegen dienten Bundesergänzungszuweisungen grundsätzlich nicht dazu, finanziellen Schwächen abzuhelfen, die eine unmittelbare und voraussehbare Folge von politischen Entscheidungen sind, die von einem Land in Wahrnehmung seiner Aufgaben selbst getroffen wurden. Eigenständigkeit und politische Autonomie würden es mit sich bringen, dass die Länder für die haushaltspolitischen Folgen solcher Entscheidungen selbst einzustehen hätten.734 Bundesergänzungszuweisungen zum Zweck der Sanierung eines Not leidenden Haushalts gerieten mit diesem Grundsatz autonomer Landespolitik in Konflikt. Unbeschadet aller prognostischen Unsicherheiten von Steuerschätzungen seien Haushaltsnotlagen grundsätzlich auch voraussehbare Folge vorangegangener Politik, denn es gehe stets um übermäßige Belastungen infolge der Kreditfinanzierung vorangegangener Haushalte. Selbst wenn die Kreditaufnahmen der Vergangenheit Folge unzureichender Finanzausstattung des Landes gewesen seien oder verschiedene Ursachen gehabt hätten, ändere dies nichts am Ergebnis der Zweck- und Systemfremdheit von Sanierungshilfen des Bundes in Gestalt von Ergänzungszuweisungen.735 Das Gericht weist zutreffend darauf hin, dass die Anerkennung von Bundesergänzungszuweisungen als Sanierungsinstrument entweder die Gefahr berge, notwendige durchgreifende Lösungen, etwa durch Änderung des Schlüssels der Umsatzsteuerverteilung aufzuschieben oder aber eine nicht durch objektive Aufgaben erzwungene übermäßige Ausgabenpolitik eines Landes honoriere, und zwar nicht nur auf Kosten des Bundes, sondern mittelbar auch auf Kosten anderer Länder mit einer disziplinierteren Ausgabenpolitik.736 Die Quintessenz dieser Überlegungen besteht in der Erkenntnis, dass der Einsatz der Bundesergänzungszuweisungen zum Zweck der Haushaltssanierungen ein ,spezifisches Dilemma begründet. Einerseits existiert kein anderes Instrument zur Ausübung der bundesstaatlich begründeten Hilfeleistungspflicht, andererseits blockiert es die Reform der bundesstaatlichen Finanzverteilung bzw. trägt sogar zur Diskreditierung des Systems bei, indem es die Folgen mangelnder Haushaltsdisziplin einzelner Länder von der Solidargemeinschaft tragen lässt. Letztlich steht es sogar im Widerspruch zu dem Primärziel weitgehender Eigenständigkeit der Bundesstaatsglieder737, da die Gewissheit bundesstaatlicher Sanierungshilfen den 734

BVerfGE 116, 327 [385]. BVerfGE 116, 327 [386]. 736 BVerfGE 116, 158 [385 f.]. 737 Vor diesem Hintergrund wird das Urteil zutreffend als Bekenntnis zum Prinzip der Eigenverantwortlichkeit der Länder bewertet. So etwa Korioth, ZG 2007, S. 1 (17); ausdrücklich begrüßt dies Rossi, JZ 2007, S. 394 (395); skeptisch: Ekardt/Buscher, NJ 2008, S. 102 (107). 735

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5. Kap.: Die Finanzverfassung

erforderlichen Umfang der ländereigenen Anstrengungen bei der Konsolidierung des Haushaltes verschleiert. Die Einschätzungen des Gerichts können sowohl als selbstkritische Infragestellung seiner bisherigen Akzeptanz der Sanierungshilfen verstanden werden, als auch im Sinne eines Appells an den Bundesgesetzgeber. Der Bedarf eines verfassungsrechtlichen Instrumentes für den solidargemeinschaftlichen Umgang mit Haushaltsnotlagen ist damit jedenfalls unmissverständlich benannt.

b) Ultima-Ratio-Prinzip – bis zur Neugliederung des Bundesgebietes Obwohl nach den dargestellten Erkenntnissen jede Bundesergänzungszuweisung zum Zweck der Haushaltssanierung außerhalb ihres originären verfassungsrechtlichen Zwecks steht, sieht das Gericht die zentrale Begründung für die Zulässigkeit und Notwendigkeit bundesstaatlicher Hilfe im Fall einer extremen Haushaltsnotlage nicht in Frage gestellt. Unter Bezugnahme auf die frühere Rechtsprechung führt der Urteilstext fort: „Weil und soweit Situationen eintreten, in denen die verfassungsrechtlich gebotene Handlungsfähigkeit eines Landes anders nicht aufrecht zu erhalten ist, ist bundesstaatliche Hilfeleistung durch Mittel zur Sanierung als ultima ratio erlaubt und dann auch bundesstaatlich geboten. Solange der verfassungsrechtlich eröffnete Weg einer Neugliederung des Bundesgebiets nicht beschritten worden ist, ist es bundesstaatliches Gebot, die Existenz des Not leidenden Landes als eines handlungsfähigen Adressaten verfassungsrechtlicher Pflichten und als eines Trägers verfassungsrechtlicher Aufgaben auch finanziell zu gewährleisten.“738

Wie das Gericht expressis verbis klarstellt, kommen Sanierungshilfen der bundesstaatlichen Gemeinschaft nur als ultima ratio in Betracht. Im Hinblick auf seine bisherige Rechtsprechung betont es durch diese terminologische Steigerung den absoluten Ausnahmecharakter bundesstaatlicher Sanierungshilfen. Zugleich bekräftigt es jedoch auch die aus der Bundesstaatsverfassung folgende finanzielle Hilfeleistungspflicht gegenüber einem Not leidenden Land. Mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer Neugliederung des Bundesgebietes deutet es den tragenden Grund seiner Toleranz gegenüber derartigen Hilfeleistungen an. Der Urteilstext ist an dieser Stelle dahingehend zu interpretieren, dass das Bundesverfassungsgericht die gegenwärtige finanzielle Notlage einzelner Länder als unumgängliche Folge der kleinteiligen Gliederung bestimmter Teile des Bundesgebietes ansieht. Erst die Schaffung von Ländern im Sinne des Art. 29 Abs. 1 GG, die nach territorialem Umfang und Leistungskraft die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können, stellt nach dieser Sichtweise einen Ausweg dar. Das Gericht erblickt demnach die territoriale Perspektive des deutschen Föderalismus in einer reduzierten Anzahl von Bundesländern, deren Gliederung sich am Maßstab der Effektivität hinsichtlich der Bewältigung der anstehenden öffentlichen Aufgaben orientiert.739 Diese zutreffende Einschätzung lässt sich 738 739

BVerfGE 116, 158 [386]. Diese Einschätzung teilen auch Ekardt/Buscher, NJ 2008, S. 102 (107).

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

235

bis auf die Urfassung des Art. 29 Abs. 1 GG zurückführen, der eine Neugliederung mit dem Ziel der Schaffung von Ländern anordnete, die ,nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können740 sollten. Bereits zum Zeitpunkt der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde demnach eine gewisse Größe der Bundesländer als unabdingbare Voraussetzung finanzieller Eigenständigkeit und Unabhängigkeit angesehen.741 Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt der Schaffung leistungsfähiger Länder bleibt die bundesstaatliche Solidargemeinschaft zur Gewährung von Haushaltshilfen verpflichtet, als deren äußerstes Mittel auch die Gewährung entsprechender Sanierungszuweisungen in Frage komme. Im Ergebnis sieht das Gericht also auch zukünftig – bis zu eben jenem Zeitpunkt einer Neugliederung – die Bundesgemeinschaft grundsätzlich dazu verpflichtet, Bundesergänzungszuweisungen zur Haushaltssanierung zu gewähren. c) Relative und absolute Haushaltsnotlage – Ausschöpfung der eigenen Handlungsmöglichkeiten Soweit bis dahin nur eine eindringliche Darlegung der grundlegenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber dem Einsatz von Bundesergänzungszuweisungen zur Haushaltssanierung zu konstatieren ist, gelangt das Gericht anschließend zu einer grundlegenden Revision der Voraussetzungen sanierungsbezogener Bundesergänzungszuweisungen. Aus der fehlenden Kongruenz zwischen dem eigentlichen Zweck der Bundesergänzungszuweisungen einerseits und dem bundesstaatlich begründeten Zweck der Notstandshilfe andererseits folgert das Gericht strengere Anforderungen an das Vorliegen einer extremen Haushaltsnotlage. Danach müssen kumulativ die Voraussetzungen einer relativen, auf das Verhältnis zu den anderen Ländern bezogenen, und einer absoluten, die Fähigkeit zur Aufgabenerfüllung in Frage stellenden Haushaltsnotlage erfüllt sein.742 „Sanierungshilfen des Bundes in Gestalt von Bundesergänzungszuweisungen […] unterliegen einem strengen Ultima-Ratio-Prinzip und sind nur dann verfassungsrechtlich zulässig und geboten, wenn die Haushaltsnotlage eines Landes nicht nur relativ – im Verhältnis zu den übrigen Ländern – als extrem zu werten ist, sondern wenn sie auch absolut – nach dem Maßstab der dem Land verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben – ein so extremes Ausmaß erreicht hat, dass ein bundesstaatlicher Notstand im Sinne einer nicht ohne fremde Hilfe abzuwehrenden Existenzbedrohung des Landes als verfassungsgerecht handlungsfähigen Trägers staatlicher Aufgaben eingetreten ist. Dies setzt voraus, dass das Land alle

740

Grundgesetz vom 23. 05. 1949 (BGBl. 1949 S.1). Der Änderung des Art. 29 durch das 25. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 19. 08. 1969 (BGBl. I S. 1241), wonach das Bundesgebiet neu gegliedert werden kann, liegt weniger die Überwindung dieser Einsicht zugrunde, als vielmehr das Interesse der Länder, ihren damaligen Gebietsbestand dem bis dahin zwingenden Neugliederungsauftrag zu entziehen. 742 BVerfGE 116, 327 [387] sowie 2.Ls.a). 741

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5. Kap.: Die Finanzverfassung

ihm verfügbaren Möglichkeiten der Abhilfe erschöpft hat, so dass sich eine Bundeshilfe als einzig verbliebener Ausweg darstellt.“743

Was im Einzelnen unter einer relativen Haushaltsnotlage zu verstehen sei, müsse stets anhand einer vergleichenden Gesamtbewertung der Finanzlage der anderen Länder bestimmt werden. Einfache quantitative Relationen könne es für die Bestimmung der Schwelle zu einem bundesstaatlichen Notstand schon deshalb nicht geben, weil immer die Frage zu beantworten sei, wieweit das Land selbst noch über eigene Potenziale zur Verhinderung oder Behebung eines solchen Notstands verfüge. Dies – so das Gericht selbstkritisch – „müsse dazu führen, dass die quantitativen Elemente, die der Senat in seiner Entscheidung im Jahr 1992 für die Bestimmung sogenannter einfacher und sogenannter extremer Haushaltsnotlagen herangezogen hat (vgl. BVerfGE 86, 148 ), nicht mehr ohne Weiteres fortzuschreiben, sondern verschärfend zu ergänzen sind.“744 Dementsprechend bedarf es neben der Betrachtung des Länderdurchschnitts und des Zeitraumes der Haushaltsnotlage nunmehr eines zusätzlichen Vergleichs mit den entsprechenden Quoten der einzelnen Länder und hier insbesondere der finanzschwachen. Diese Präzisierung der Maßstäbe für die Bewertung der Haushaltsnotlage in Relation zu den anderen Bundesländern verdient ausdrückliche Zustimmung.745 Die sachgerechte Einordnung einer Haushaltsnotlage in das Spektrum sämtlicher Haushalte der Länder bedarf unweigerlich eines Vergleichs mit der Haushaltssituation der schwachen Länder. Die alleinige Orientierung am Länderdurchschnitt differenziert hingegen nicht hinreichend genau, da dieser Wert maßgeblich von der überdurchschnittlichen Finanzstärke einzelner Länder geprägt sein kann. Um die Intensität der Haushaltsnotlage eines Landes zutreffend als extrem qualifizieren zu können, bedarf es hingegen einer vorrangigen Orientierung an den sonstigen prekären Haushaltslagen.746 Neben der Konkretisierung der finanzwirtschaftlichen Bezugswerte für die Bestimmung einer extremen Haushaltsnotlage gegenüber den sonstigen Ländern verlangt das Gericht auch in absoluter Hinsicht eine extreme Haushaltnotlage. Statt 743

BVerfGE 116, 327 [377]. BVerfGE 116, 327 [389]. 745 Ebenfalls zustimmend: Rossi, JZ 2007, S. 394 (396) sowie Korioth, Bund-Länder-Finanzbeziehungen, ZG 2007, S. 1 (9), der zudem die verfassungssystematische Tendenz begrüßt, Voraussetzungen und Folgen einer Haushaltsnotlage außerhalb des Finanzausgleichs anzusiedeln. 746 Im Hinblick auf das Erfordernis der Parallelität von relativer und absoluter Extremität der Haushaltsnotlage erteilt das BVerfG folgenden wichtigen Hinweis: Im Fall einer größeren Zahl von Haushaltsnotlagen von existenzbedrohendem Ausmaß „sinkt automatisch der Durchschnitt der Haushalte auf ein geringeres Niveau, so dass es trotz Existenzbedrohung an einer (relativen) Haushaltsnotlage der Länder fehlen kann.“ und richtungsweisend weiter: „In einer solchen Situation kämen Sanierungshilfen durch Bundesergänzungszuweisungen nicht in Betracht, sondern nur durchgreifendere Lösungen wie eine Veränderung der Umsatzsteueranteile von Bund und Ländergesamtheit oder auch eine Erhöhung staatlicher Einnahmen oder die Verminderung kostenträchtiger staatlicher Aufgaben.“, vgl. BVerfGE 116, 327 [388]. 744

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den Verlust der finanziellen Handlungsfähigkeit hinsichtlich der Landesaufgaben zum unmittelbaren Maßstab zu erklären, geht das Gericht zunächst den Umweg über die terminologische Zwischenstufe des ,bundesstaatlichen Notstandes, allerdings nicht ohne unverzüglich zu präzisieren, in welcher Hinsicht dieser Notstand vorliegen müsse.747 Danach liegt eine extreme absolute Haushaltsnotlage vor, wenn die Haushaltslage „ein so extremes Ausmaß erreicht hat, dass ein bundesstaatlicher Notstand im Sinne einer nicht ohne fremde Hilfe abzuwehrenden Existenzbedrohung des Landes als verfassungsgerecht handlungsfähigen Trägers staatlicher Aufgaben eingetreten ist.“748 Der hier apostrophierte ,bundesstaatliche Notstand im Sinne einer Existenzbedrohung des Landes versteht sich also ebenfalls aufgabenbezogen, im Sinne finanziellen Unvermögens, die obligatorischen Landesaufgaben zu erfüllen. Im Übrigen – so ausdrücklich der zweite Leitsatz der Entscheidung – setzte ein bundesstaatlicher Notstand im gegenständlichen Sinne voraus, „dass das Land alle ihm verfügbaren Möglichkeiten der Abhilfe erschöpft hat, so dass sich eine Bundeshilfe als einzig verbliebener Ausweg darstellt“.749 Führe die Betrachtung vergangenen Verhaltens des Landes zu dem Ergebnis, dass erhebliche Handlungs-, insbesondere Veräußerungs- und Sparmöglichkeiten in der Vergangenheit nicht ausgeschöpft wurden, so indiziere dies, dass solche Möglichkeiten noch vorhanden und mit Erfolg zu mobilisieren seien und ein bundesstaatlicher Notstand also noch nicht eingetreten sei.750 Das Gericht leitet diese Voraussetzung unmittelbar aus dem für Sanierungszuweisungen gültig erklärten strengen Ultima-Ratio-Prinzip ab und weist dem Land die Darlegungs- und Begründungslast zu.751 Die verfassungsgerichtlichen Restriktionen bei der Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen zu Sanierungszwecken verdienen ausdrückliche Zustimmung. Begnügte sich der Senat in seiner ersten Entscheidung über die Zulässigkeit von Sanierungszuweisungen primär mit dem Vorliegen bedeutend höherer Kreditfinanzierungs- und Zins-Steuer-Quoten im Vergleich zum Länderdurchschnitt sowie dem 747

Der Implementierung des Begriffs ,bundesstaatlicher Notstand wird zu Recht besondere Aufmerksamkeit zu teil; vgl. Rossi, JZ 2007, S. 394 (397). Der Einschätzung ,fehlender Definition bzw. unzureichender Umschreibung kann mit Blick auf die semantische Klarstellung im 2. Leitsatz der Entscheidung jedoch nur eingeschränkt gefolgt werden; vgl. BVerfGE 116, 327 [2.Ls.b.)]: „Ein bundesstaatlicher Notstand im Sinne einer nicht ohne fremde Hilfe abzuwehrenden Existenzbedrohung des Landes als verfassungsgerecht handlungsfähigen Trägers staatlicher Aufgaben setzt voraus, dass das Land alle ihm verfügbaren Möglichkeiten der Abhilfe erschöpft hat, so dass sich eine Bundeshilfe als einzig verbliebener Ausweg darstellt.“ a.A.: Rossi, (a.a.O.), der mehrere mögliche Gründe für die seiner Ansicht nach bestehende Unschärfe des Begriffs anführt. 748 Die Formulierungen im Urteilstext unterscheiden sich hinsichtlich des Satzbaues geringfügig von denen der Leitsätze; vgl. BVerfGE 116, 327 – einerseits [2.Ls.a) und b)] sowie anderseits [377]. 749 BVerfGE 116, 327 [2.Ls.]. 750 BVerfGE 116, 327 [391]. 751 BVerfGE 116, 327 [390].

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langjährigen Andauern hoher Überschuldung und entsprechender Investitionsdefizite752, treten nun weitere Faktoren hinzu, die für eine sachgerechte qualitative Beurteilung der Haushaltslage unerlässlich sind. Qualitativ ist diese ,verschärfende Ergänzung zweifellos als gravierend einzuordnen.753 Dennoch ist darin nicht die Aufgabe des Paradigmas der bundesstaatlichen Hilfeleistungspflicht bei extremen Haushaltsnotlagen zu erkennen754, zumal derartigen Notlagen primär durch andere Mittel als dem Instrument der Sanierungszuweisungen zu entsprechen ist.755 Soweit das Urteil als Zeichen der Entsolidarisierung der bundesstaatlichen Finanzgemeinschaft bewertet wird756, kann dem nicht gefolgt werden. Die Entscheidung bezieht sich lediglich auf die Voraussetzungen des Anspruchs auf Sanierungshilfe durch den Bund und die Frage der normativen Anknüpfung an Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG. Betrachtet man die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, handelt es sich lediglich um den notwendigen Schritt inhaltlicher Reduktion des Kriteriums der ,extremen Haushaltsnotlage, um den reflexartigen Begehrlichkeiten einer zunehmenden Anzahl finanzschwacher Länder zu begegnen.757 Die Beurteilung der Bedeutung der Entscheidung hinsichtlich föderaler Solidarität im Rahmen der Finanzgemeinschaft erfordert eine eingehende Betrachtung, die am Ende der Entscheidungsanalyse erfolgt. Die Berücksichtigung des absoluten Ausmaßes der Haushaltsnotlage bei der Entscheidung über das Vorliegen einer solidaritätspflichtigen extremen Haushaltsnotlage ist unverzichtbar. Selbst wenn in Relation zu den anderen Ländern eine extreme Haushaltsnotlage vorliegt, ist daraus noch nicht zwingend die Notwendigkeit bundesstaatlicher Sanierungshilfe ableitbar. Erst der Verlust der Fähigkeit, die ländereigenen Aufgaben zu erfüllen, jener Zustand, den das Gericht als bundesstaatlichen Notstand postuliert, stellt ein Ausmaß dar, das die Notwendigkeit bundesstaatlicher Sanierungshilfe evident werden lässt. Die drastischen Begriffe ,bundesstaatlicher Notstand und ,Existenzbedrohung wählt das Gericht, um das strenge Ultima-RatioPrinzip terminologisch zu manifestieren. Die Kernaussage lautet: Eine Haushaltsnotlage erreicht in absoluter Hinsicht erst dann jenes solidaritätspflichtige extreme Aus752

BVerfGE 116, 327 [359]. So auch: Rossi, JZ 2007, S. 394 (395); Ekardt/Buscher, NJ 2008, S. 102 (103); i.d.S. auch Korioth, ZG 2007, S. 1 (9) sowie Geske, Der Staat 2007, S. 203 (221). 754 Dem Urteilstext selbst ist an anderer Stelle expressis verbis zu entnehmen, dass „die Gewährleistungsfunktionen des Bundesstaatsprinzips dafür sprechen, von der Erweiterung des Anwendungsbereichs des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG auf Sanierungshilfen im Fall eines bundesstaatlichen Notstandes nicht Abschied zu nehmen“, vgl. BVerfGE 116, 327 [392]. 755 Vgl. BVerfGE 86, 148 [266], wo das Gericht diverse vorrangige Handlungsmöglichkeiten anführt. 756 So etwa Korioth, ZG 2007, S.1 (17): „deutliche Zurückstufung bundesstaatlicher Solidarität“; Ekardt/Buscher, NJ 2008, S. 102 (102): „markantes Signal für einen weniger solidarischen Föderalismus“. 757 Als entscheidender Beweggrund ist die Erfolglosigkeit des durch BVerfGE 86, 148 veranlassten ,Sanierungsprogramms 1995 – 2004 in Betracht zu ziehen. Vgl. hierzu die Ausführungen am Ende der Entscheidungsanalyse, unter Gliederungspkt. I.5.e). 753

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maß, wenn das Land seine verfassungsrechtlichen Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Konsequent am Gedanken der ultima ratio orientiert fordert das Gericht zusätzlich, dass das Land alle ihm verfügbaren Möglichkeiten der Abhilfe erschöpft hat, so dass sich die Bundeshilfe als einzig verbliebener Ausweg darstellt. Praktisch bedeutet diese Forderung, dass das Land sämtliche Potenziale zur Aktivierung von Finanzmitteln ausgenutzt haben muss, bevor es Sanierungshilfe im Wege von Bundesergänzungszuweisungen erwarten kann. So selbstverständlich insbesondere die zuletzt erwähnte Anforderung erscheint, so bedeutsam ist ihre Determinierung durch das Verfassungsgericht an dieser Stelle. Die Gewährung finanzieller Hilfe bei der Sanierung defizitärer Haushalte stellt eine außergewöhnlich intensive Form bundesstaatlicher Solidarität dar. Im Interesse des Ausschlusses einer unberechtigten Inanspruchnahme dieser bundesstaatlichen Gewährleistungsmechanismen758 und somit letztlich im Interesse der Akzeptanz des bundesstaatlichen Systems bedurfte es einer expliziten Klarstellung durch das Bundesverfassungsgericht. Dementsprechend konsequent ist es auch, wenn das Gericht die Begründungs- und Beweislast für die Ausschöpfung der eigenen Potenziale der anspruchstellenden Landesregierung auferlegt. d) Erneute Aufforderung des Bundesgesetzgebers Im Anschluss an die Festlegung der verschärften Voraussetzungen für die Gewährung von Sanierungszuweisungen beurteilt das Gericht die Erweiterung des Anwendungsbereiches des Art. 107 Abs. 2 Satz 2 GG auf Sanierungshilfen im Fall eines bundesstaatlichen Notstandes als „eine äußerst unbefriedigende Lösung“759. Die Instrumentarien des geltenden Finanzausgleichsrechts seien auf die Bewältigung von Haushaltsnotlagen der Länder nicht angelegt und daher überfordert, wie die langjährige negative Entwicklung einer Mehrzahl der öffentlichen Haushalte zeige. Zur Bewältigung dieser gravierenden Schwäche des geltenden Rechts sei es „zuvörderst nötig und besonders dringlich […], Bund und Ländern gemeinsam treffende Verpflichtungen und Verfahrensregelungen aufzuerlegen, die der Entstehung einer Haushaltsnotlage entgegenwirken und zum Abbau einer eingetretenen Haushaltsnotlage beizutragen geeignet sind“.760 Dem Bundesgesetzgeber biete hierzu Art. 109 Abs. 3 GG die Regelungskompetenz. Unter Bezugnahme auf die ausstehende zweite Stufe der Föderalismusreform mit dem Ziel der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern for758 I.d.S. auch Korioth, der die Entscheidung als finanzpolitisches Signal an die Länder interpretiert, „dass sie die Folgen ihrer Verschuldungspolitik nicht auf den Bund überwälzen können“, ders., ZG 2007, S.1 (9). 759 BVerfGE 116, 327 [392]. 760 BVerfGE 116, 327 [393], unter Verweis auf die Entscheidung vom 27. Mai 1992, in der es bereits die Notwendigkeit entsprechender Bestimmungen angemahnt hatte, vgl. BVerfGE 86, 148 [266].

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dert der Senat grundlegend neue Lösungskonzepte zur Vorbeugung von Haushaltskrisen und deren Bewältigung. Die Beachtung des Bundesstaatsprinzips selbst erfordere solche Reformen angesichts der defizitären Rechtslage.761 Das Gericht stellt also abschließend klar, dass es Sanierungszuweisungen selbst im Rahmen des strengen Ultima-Ratio-Prinzips nur notgedrungen akzeptiert. Es sieht den Gesetzgeber in anhaltendem Verzug und bekräftigt seine Forderung nach entsprechenden Bestimmungen eindringlich durch Bezugnahme auf die anstehende Finanzverfassungsreform und die explizite Vorgabe der Kompetenznorm.762 Die Forderung des Gerichts verdient ausdrückliche Zustimmung. Seit 1992 – dem Zeitpunkt der ersten Entscheidung zu der Problematik der Sanierungszuweisungen – hat sich die Haushaltsituation zahlreicher Bundesländer gravierend verschlechtert. Mochten aus damaliger Perspektive die Haushaltsnotlagen des Saarlands und Bremens noch als vorübergehende, mittelfristig lösbare Probleme erscheinen, hat sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass neben den beiden genannten eine Vielzahl weiterer Bundesländer – ostdeutscher wie westdeutscher – von einer negativen Entwicklung erfasst wurde, die durch zunehmende Verschuldung und damit einhergehendem Verlust der Handlungsfähigkeit gekennzeichnet ist. Ungeachtet der Ursachen im Einzelfall drängt das Gericht zu Recht auf ein allgemeinverbindliches Regime zur Vermeidung und Beseitigung von Haushaltsnotlagen.763 Im Ergebnis verneint das Bundesverfassungsgericht den Antrag der Landesregierung Berlin. Es sei lediglich eine angespannte Haushaltsnotlage erkennbar, die mit großer Wahrscheinlichkeit aus eigener Kraft überwunden werden könne.764 Zwar überschreite der Anteil der Kreditfinanzierung an den Gesamtausgaben Berlins in dem Zeitraum von 1995 bis 2004 kontinuierlich den Länderdurchschnitt. Die ZinsSteuer-Quoten erreichten jedoch erst ab 2002 jenes Niveau von 170 % des Länderdurchschnitts, den der Senat bei der Annahme einer extremen Haushaltsnotlage in BVerfGE 86, 148 zugrunde legte. Nicht allein die Quote, so das Gericht, sei aber damals ausschlaggebend gewesen, sondern der lange Zeitraum, über den dieser Zustand bereits angehalten habe. Im Fall Berlins bestand eine vergleichbare Überzeichnung zum Zeitpunkt der Antragstellung seit lediglich einem Jahr. Bereits nach den früheren Maßstäben des Senats war demzufolge eine extreme Haushaltsnotlage zu verneinen.765 761

BVerfGE 116, 327 [393 f.]. Vgl. Korioth, ZG 2007, S. 1 (19); Rossi, JZ 2007, S. 394 (400); Ekardt/Buscher, NJ 2008, S. 102 (106 f.), die jedoch einer nationalstaatlichen Lösung skeptisch gegenüber stehen. 763 I.d.S. Korioth, ZG 2007, S. 1 (9), der Verfahrensregeln zur Verschuldungsprävention als vorrangig betrachtet; Geske, Der Staat 2007, S. 203 (229); skeptisch: Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 107 Rdnr. 56 sowie Ekardt/Buscher, NJ 2008, S. 102 (107). 764 BVerfGE 116, 327 [394]. An der finanzwissenschaftlichen Methodik des Gerichts wurde teilweise heftige Kritik geübt, vgl.: Kerber, Der Staat 2007, S. 229 (235 f.) sowie Homburg/Röhrbein, Der Staat 2007, S. 183 (192). 765 Vgl. den entsprechenden Hinweis an anderer Stelle des Urteilstextes: BVerfGE 116, 327 [389]. 762

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Mit Blick auf die zuvor konkretisierten Voraussetzungen für die Annahme einer relativen extremen Haushaltsnotlage verweist das Gericht auf die Notwendigkeit eines Vergleichs der Werte Berlins mit den anderen leistungsschwachen Bundesländern.766 Der Kreis der Länder, deren Zins-Steuer-Quoten in den Jahren 1995 bis 2004 nahe an den Berliner Werten lagen, umfasse im größeren Teil des Betrachtungszeitraumes mehr als die Hälfte aller Länder. Insbesondere die Zins-Steuer-Quoten der leistungsschwachen Länder Saarland und Bremen lagen fast durchgängig über den Werten Berlins, die Schleswig-Holsteins und Hamburgs auf ähnlich hohem Niveau. Bei einer solchen Häufung prekärer Haushaltslagen sei eine extreme Haushaltsnotlage Berlins bereits aufgrund der Relation zu den anderen Ländern ausgeschlossen.767 Das Gericht belässt es freilich nicht bei dieser rein rationalen Betrachtung. Die schwierige Lage einer Vielzahl von Haushaltswirtschaften streite dafür, andere bundesstaatliche Finanzströme zu aktivieren, damit das ohnehin problematische Notinstrument der Sanierungshilfen nicht zu einem Regelinstrument werde.768 Bereits im Rahmen seiner allgemeinen Erwägungen hatte das Gericht auf die Möglichkeit der Erhöhung der Umsatzsteueranteile der Länder hingewiesen.769 Zur Prüfung des absoluten Ausmaßes der Haushaltsnotlage gelangt das Gericht dementsprechend nicht mehr. Es weist jedoch diesbezüglich ergänzend darauf hin, dass erfolgversprechende Möglichkeiten bestünden, aus eigener Kraft die vorhandenen Haushaltsengpässe zu bewältigen.770 – „Die Grobbetrachtung der Einnahmen und Ausgaben Berlins führt insgesamt zu dem Schluss, dass die Haushaltsprobleme Berlins im Schwerpunkt nicht auf der Einnahmenseite, sondern auf der Ausgabenseite liegen.“771 Trotz der guten bis überdurchschnittlichen Höhe der Einnahmen hätten etwaige Konsolidierungsbemühungen es jedenfalls in dem Zeitraum zwischen 1995 und 2004 nicht vermocht, die hohen Ausgaben zu reduzieren. Bereits auf Grund dieser globalen Betrachtung seien noch nicht ausgeschöpfte Einsparpotenziale in erheblichem Umfang zu vermuten.772 Insbesondere der Vergleich der Pro-Kopf-Ausgaben zwischen den Stadtstaaten Berlin und Hamburg offenbare ,Mehrausgaben Berlins von eindrucksvollen Ausmaßen. So ergäben sich auf Grundlage saldierter ProKopf-Ausgaben, hochgerechnet auf die Einwohnerzahl Berlins, bereinigte Mehrausgaben im Bereich Hochschulen und Wissenschaft von 112 Mio. E im Jahr 2003, im Bereich Kulturelle Angelegenheiten von 362 Mio. E für 2001 und 132 Mio. E im Jahr 2003, 47,5 Mio. E für den Unterbereich Sport und Erholung sowie 400 Mio. E im Bereich Wohnungswesen. Hinsichtlich der Einnahmeseite verweist das Gericht auf Potenziale durch die Erhöhung des Gewerbesteuersatzes auf Hamburger Niveau sowie 766 767 768 769 770 771 772

BVerfGE 116, 327 [403]. BVerfGE 116, 327 [404]. BVerfGE 116, 327 [404]. BVerfGE 116, 327 [388]. BVerfGE 116, 327 [405]. BVerfGE 116, 327 [407]. BVerfGE 116, 327 [407].

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die Möglichkeit der Erzielung erheblicher Privatisierungserlöse, die Berlin selbst allein für den landeseigenen Wohnungsbestand mit 5 Mrd. E angebe.773 Trotz der dramatischen Verschuldung Berlins verdient die Beurteilung durch das Gericht Zustimmung. Finanzsolidarität durch Sanierungshilfen kann nur das Land erwarten, das seine Einnahmen optimiert, seine Ausgaben auf das absolut Notwendige reduziert hat und dennoch essentielle Aufgaben nicht erfüllen kann. Wenn, wie im Fall Berlins, trotz der Verschuldung in Höhe von ca. 60 Mrd. E höhere bereinigte Ausgaben pro Einwohner zu Buche schlagen als die entsprechenden Werte vergleichsweise solider Länderhaushalte, fehlt es erkennbar an den notwendigen Einsparmaßnahmen. Einem Land, das seine Ausgaben nicht wenigstens dem Niveau anderer Länder anpasst, bevor es nach Solidarleistungen der bundesstaatlichen Gemeinschaft verlangt, kann keine Solidarität in Form von Finanzzuweisungen zuteil werden. Die Inkaufnahme einer Sanierung auf Kosten der Solidargemeinschaft ist damit offensichtlich und wurde zu Recht zurückgewiesen.774 e) Signal für einen weniger solidarischen Föderalismus? Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand ist schließlich die Frage zu beantworten, ob die verfassungsgerichtliche Begrenzung der Sanierungshilfe einer Bewertung in föderalistischer oder zentralistischer Hinsicht zugänglich ist. Eine bundesfreundliche oder gar zentralistische Tendenz ist der Entscheidung nicht zu entnehmen. Den einzigen Anhaltspunkt für eine derartige Interpretation bietet die weitestgehende Freistellung des Bundes von der Pflicht zu Sanierungsleistungen zugunsten der Länder. Ungeachtet des Umstandes, dass damit auch der Verlust von Kompetenz einhergeht, bildet den juristischen Hintergrund dieser Entscheidung keine zentralistische Interpretation von Verfassungsnormen, sondern das formale Defizit einer entsprechenden Rechtsgrundlage. Insbesondere die normative Anknüpfung an den Tatbestand des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG steht nach Ansicht des Gerichts im Widerspruch zur Finanzverfassung. Hingegen betont es ausdrücklich die Freiheit des Gesetzgebers, auf der Grundlage des Art. 109 Abs. 3 GG ein Haushaltsregime zu entwerfen, das derartige Instrumente zum Abbau eingetretener Hauhaltsnotlagen vorsieht775. Es steht dem Gesetzgeber demnach durchaus frei, Sanierungshilfen auch für Fälle von Haushaltsnotlagen vorzusehen, die nicht jenes Ausmaß erreichen, wie es für die notstandsweise Inanspruchnahme des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG vorliegen muss. Die Finanzverfassung zieht einer solidarischen Ausprägung des Bundesstaatsprinzips insoweit keine Grenze. Das Bundesstaatsprinzip allein verlangt die Wahrung

773

BVerfGE 116, 327 [409 ff.]. Hinsichtlich der vom Senat der Stadt Berlin angeführten Hauptstadtlasten beschränkt sich das Urteil freilich nur auf die Klarstellung, dass speziell Bundesergänzungszuweisungen kein zulässiges Mittel zu deren Ausgleich darstellen. 775 BVerfGE 116, 327 [393]. 774

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der Balance zwischen der Eigenständigkeit der Länder und bundesstaatlicher Solidarität. Eine unmittelbar föderalistische oder länderfreundliche Tendenz ist freilich ebenfalls nicht erkennbar. Allenfalls ist die Betonung der Eigenständigkeit der Bundesländer im Hinblick auf die Gestaltung der Haushaltspolitik als Bekenntnis zu einem Föderalismus der starken Länder zu werten. Dies gilt, obwohl die Unterstreichung der Länderautonomie hier in erster Linie mit der Hervorhebung der grundsätzlichen Alleinverantwortung für die Kreditaufnahme und die Schuldentilgung des Landes einhergeht. Unbeschadet der zutreffenden Beweggründe verweigert das Urteil finanzschwachen Ländern, die sich in einer Haushaltsnotlage befinden, grundsätzlich die Sanierungshilfe durch Bundesergänzungszuweisungen gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG. Zwar kann sich dies im Ergebnis zugunsten der Länder auswirken, da diese zu einer soliden Haushaltspolitik geradezu gezwungen werden und nicht in eine Abhängigkeit von Bundessanierungshilfen geraten können. Jedoch ist darin ein wohl eher beiläufiger, wenn auch beabsichtigter Effekt zu erkennen, aber keine länderfreundliche Tendenz des Gerichts. In Teilen des Schrifttums wurde dem Bundesverfassungsgericht die Entsolidarisierung des Bundesstaates vorgeworfen.776 Zu dieser Erkenntnis gelangt man freilich nur, wenn man die Verschärfung der Anforderungen im Hinblick auf Sanierungspflichten isoliert und losgelöst von den Beweggründen des Senates betrachtet. Zwar haben die restriktiv definierten Voraussetzungen eine deutliche tatbestandliche Einschränkung der Bundeshilfe zur Folge. Darin aber die Bestätigung für eine tendenzielle Neuausrichtung der Rechtsprechung des Gerichts zu erblicken, weg von einem solidarischen Föderalismus gar hin zu einem wettbewerbsorientierten Föderalismus, erscheint zumindest fragwürdig.777 Das Bundesverfassungsgericht stellt an keiner Stelle des Entscheidungstextes in Frage, dass Sanierungshilfen des Bundes ein zulässiges Instrument im Rahmen eines bundesstaatlichen Konzeptes zur Bekämpfung von Haushaltsnotlagen der Länder sein können.778 Zutreffend ist viel eher die Einschätzung, das Bundesverfassungs776 So betrachten Ekardt/Buscher das Urteil als „markantes Signal für einen weniger solidarischen Föderalismus“, dies., NJ 2008, S. 102 (102); Korioth spricht von einer „deutlichen Zurückstufung der bundesstaatlichen Solidarität“, ders., Bund-Länder-Finanzbeziehungen, ZG 2007, S. 1 (17). 777 So aber: Ekardt/Buscher, NJ 2008, S. 102 (107): „Das bündische Prinzip des Einstehens füreinander ist durch das neue BVerfG-Urteil nun etwas stärker gegenüber der Idee eines auf Eigenverantwortung und Wettbewerb der Länder basierenden Föderalismuskonzepts zurückgenommen worden.“; Rossi geht insofern differenzierter vor, wenn er mit Blick auf die Verfassungsreform 1994 und die erste Stufe der Föderalismusreform anmerkt, dass „der zweite Senat den Wandel vom eher kooperativen zum auch kompetitiven, jedenfalls aber den die Eigenständigkeit der einzelnen Glieder betonenden Bundesstaat nur nachvollzogen“ habe., ders., JZ 2007, S. 394 (396). 778 Ebenso Rossi, JZ 2007, S. 394 (396).

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gericht habe nur geprüft, ob die vom Finanzverfassungsrecht explizit vorgesehenen Instrumente des Finanzausgleichs, namentlich die von Art. 107 Abs. 3 und 2 GG vorgesehenen Bundesergänzungszuweisungen, ausnahmsweise auch zweckwidrig oder jedenfalls zweckentfremdend für Sanierungszuweisungen verwendet werden können.779 Abgesehen von dieser allein sachgerechten Sichtweise hatte das Gericht zudem die schwierige Aufgabe zu bewältigen, seine frühere Rechtsprechung zu korrigieren, nachdem es erkennen musste, dass es mit seiner großzügigen verfassungsergänzenden Interpretation des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG die Möglichkeit geschaffen hatte, milliardenschwere Sanierungshilfen in Gestalt von Bundesergänzungszuweisungen zu gewähren; Transfers, für welche die ausdifferenzierte Finanzverfassung keine Ermächtigungsgrundlage vorsieht. Das Gericht hatte zu berücksichtigen, dass sich der Bundesgesetzgeber zu einer unvergleichlich extensiven Inanspruchnahme jener vom Senat aufgezeigten Möglichkeiten veranlasst sah, ohne jedoch für eine grundlegende Lösung zu sorgen. Hatte das Bundesverfassungsgericht die Gesamtlast für eine Haushaltsstabilisierung des Saarlandes auf 6 Mrd. DM und für Bremen auf 8,5 Mrd. DM beziffert780, erhielten zwischen 1995 und 2004 das Saarland ca. 13 Mrd. DM (6,6 Mrd. E) und Bremen 16, 7 Mrd. DM (8,5 Mrd. E)781. Die Vorstellungen des Gerichts wurden demnach um jeweils 100 % überschritten. Hingegen versäumte es der Gesetzgeber, der primären Aufforderung des Gerichts zu entsprechen und allgemeinverbindliche Vorschriften für die Vermeidung und den Umgang mit Haushaltsnotlagen zu schaffen. Die Missachtung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben kumuliert in einem weiteren Punkt. Das Gericht hatte den Einsatz von Bundesergänzungszuweisungen über das verfassungsrechtlich vorgegebene Maß explizit von ihrer Eignung abhängig gemacht, im Rahmen eines Programms zur Haushaltssanierung zur Behebung der Haushaltsnotlage beizutragen. Aber selbst diese Maßgabe wurde offensichtlich nicht umgesetzt. Angesichts des Einsatzes der enorm hohen Beträge wäre zu erwarten gewesen, dass es den Ländern gelingen würde, sich vom größten Teil ihrer Schulden zu befreien, jedenfalls war aber zu erwarten, dass es gelingen würde, die maßgeblichen Finanzparameter deutlich zu verbessern. Diese Erwartungen wurden enttäuscht. Bei einer Gesamtverschuldung in Höhe von 17,23 Mrd. DM zu Beginn des Jahres 1995 gelang es dem Saarland trotz der Zuflüsse in Höhe von 13 Mrd. DM (6,6 Mrd. E) nicht, seine Schulden nennenswert zu verringern, so dass es Ende 2004 einen Stand von 8,26 Mrd. E zu verzeichnen hatte.782 Die Absenkung der Zins-Steuer-Quote von 24,28 % auf 16,88 % kann angesichts des kontinuierlichen Länderdurchschnitts um 11 % und der enormen Möglichkeiten des Schuldenabbaus ebenfalls nicht als Erfolg angesehen werden.783 Geradezu desaströs liest 779

Vgl. Rossi, JZ 2007, S. 394 (395). BVerfGE 86, 148 [263]. 781 Vgl.: Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 107 Rdnr. 60, Weiß/Hofmann/ Damm, Wirtschaftsdienst 2003, S. 251 (256). 782 Statistisches Jahrbuch 1996, S. 513; 2005, S. 590. 783 Vgl. BVerfGE 116, 327 [366 f.]. 780

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sich die Bilanz Bremens. Betrugen die Schulden zu Beginn des Jahres 1995 16,89 Mrd. DM, erhöhte sich der Schuldenstand trotz Zuweisungen in Höhe von 16,7 Mrd. DM (8,5 Mrd. E) bis 2005 auf 11,27 Mrd. E und haben sich bis Ende 2006 nahezu verdoppelt auf 13,38 Mrd. E.784 Die vergleichsweise geringe Senkung der Zins-Steuer-Quote von 28,19 % im Jahr 1995 auf 22,47 % im Jahr 2004 muss angesichts der immensen Zuschüsse zur Haushaltssanierung als Bestätigung des Misslingens angesehen werden. Das Scheitern des Haushaltsnotlagenprogramms 1995 – 2004 ist somit evident.785 Das musste auch das Bundesverfassungsgericht erkennen. Zwar trägt es nicht die Verantwortung für die mangelhafte Umsetzung, dennoch hat es mit der Ausweitung des Anwendungsbereichs des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG auf Sanierungshilfen dem Gesetzgeber den entscheidenden Impuls gegeben. Um die eingetretene Entwicklung zu vermeiden, hätte das Gericht die Gewährung von Sanierungshilfen nicht lediglich von ihrer abstrakten Eignung zur Behebung der Haushaltsnotlage abhängig machen dürfen786, sondern von der Unterwerfung der hilfesuchenden Länder unter ein restriktives Sanierungsregime mit festen Zielparametern. Dass allerdings der Bund und insbesondere die übrigen Länder die Verfügungsmacht über ihre enormen Solidarleistungen ohne Einwirkungsmöglichkeit aus der Hand gaben, und die Empfängerländer derart ineffektiv handelten, kann ,wie gesagt, dem Gericht nicht angelastet werden. Angesichts der misslichen Überdehnung des Anwendungsbereiches des Art. 107 GG als Ausgangspunkt dieser katastrophalen Bilanz blieb dem Gericht letztlich keine andere Wahl, als seine frühere Rechtsprechung partiell zu revidieren, nämlich die Gewährung von Sanierungshilfen auf der Grundlage von Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG auf den ,bundesstaatlichen Notstand zu begrenzen und seine Forderung nach einer gesetzgeberischen Lösung im Rahmen eines umfassenden Haushaltsnotlagenregimes eindringlich zu wiederholen. Ein Festhalten des Gerichts an seiner früheren Interpretation des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG hätte angesichts des Sanierungsprogramms zugunsten Bremens und des Saarlands sowie im Hinblick auf das föderale Gleichbehandlungsgebot, Sanierungsansprüche in nicht zu bewältigendem Umfang ermöglicht. Vor dem Hintergrund dieser Zwänge kann die Rechtsprechung nicht als markantes Signal eines weniger solidarischen Föderalismus angesehen werden, sondern – wenn auch gezwungenermaßen – als notwendige Rückbesinnung auf die abschließende Verbindlichkeit des Textes der Finanzverfassung. Die Alternative, die sich dem Gericht geboten hätte – eine Präzisierung seiner Vorstellungen von einer sachgerechten Umsetzung seines erweiterten Verständnisses von Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG – hätte die notwendige gesetzgeberische Aktivität möglicherweise wiederum nur verzögert. Letztlich steht das Urteil auch für die Einsicht, dass das Gericht den Gesetzgeber zwar gegebenenfalls zu einem gesetzgeberischen Tun auffordern muss und ihm dabei 784 785 786

Statistisches Jahrbuch 1996, S. 513; 2005, S. 590; 2007, S. 593. Vgl. Rossi, JZ 2007, S. 394 (395). BVerfGE 86, 148 [150] sowie 6.Ls.c).

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5. Kap.: Die Finanzverfassung

auch konkrete Vorgaben erteilen kann, ihm aber nicht die eigentliche konzeptionelle Arbeit abnehmen sollte. Dies ist in gewisser Weise bedauerlich, da die damaligen Überlegungen des Gerichts durchaus konstruktiv waren und, ungeachtet ihres vorläufigen Scheiterns, einer effektiven Umsetzung durchaus zugänglich erscheinen. Die Neigung des Gesetzgebers, sich auf die schlagwortartige Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben zu beschränken, ohne selbst ein detailliertes tragfähiges Gesamtkonzept zu entwickeln, spielte wohl die ausschlaggebende Rolle für den bisherigen Misserfolg. Insbesondere vor dem Hintergrund der Zunahme prekärer Haushaltslagen wird der Bundesgesetzgeber nicht umhinkommen, sich dieser Herausforderung zeitnah zu stellen. Im Hinblick auf jene Stimmen, die eine Tendenz hin zu einem weniger solidarischen Bundesstaat zu erkennen glauben, ist abschließend auf den begrenzten materiellen Geltungsbereich des Urteils hinzuweisen. Gegenstand des Verfahrens war ausschließlich die Frage nach einem Anspruch Berlins auf Sanierungshilfe des Bundes aus Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG. Die grundlegende erste vorausgehende Entscheidung des Gerichts zu dieser Problematik – BVerfGE 86, 148 – umfasste aber die Proklamation eines breiten Spektrums bundesstaatlicher Solidarität, dessen Inhalte durch die gegenständliche Entscheidung nicht in Frage gestellt werden. Zu unterscheiden sind die weite allgemeine Pflicht zu bundesstaatlicher Solidarität und die hier allein gegenständliche spezielle Pflicht zur Gewährung von Sanierungsleistungen. Der sechste Leitsatz der BVerfGE 86, 148 lautet: „Befindet sich ein Glied der bundesstaatlichen Gemeinschaft – sei es der Bund, sei es ein Land – in einer extremen Haushaltsnotlage, so erfährt das bundesstaatliche Prinzip seine Konkretisierung in der Pflicht aller anderen Glieder der bundesstaatlichen Gemeinschaft, dem betroffenen Glied mit dem Ziel der haushaltswirtschaftlichen Stabilisierung auf der Grundlage konzeptionell aufeinander abgestimmter Maßnahmen Hilfe zu leisten.“787 Das Bundesverfassungsgericht hat die Voraussetzungen einer extremen Haushaltsnotlage mit seiner Folgeentscheidung lediglich im Hinblick auf Sanierungshilfen enger gefasst788. Die allgemeine Hilfeleistungspflicht aus dem Bundesstaatsprinzip im Falle extremer Haushaltsnotlagen wird dadurch keineswegs in Frage gestellt. Für die Bewertung des Ausmaßes der Haushaltsnotlagen gelten insofern nicht dieselben 787

BVerfGE 86, 148 [150], 6.Ls.a); weiter heißt es dort unter b): „Demnach besteht für den Bund im Zusammenwirken mit den Ländern die Verpflichtung, die nach dem Grundgesetz eröffneten Handlungsmöglichkeiten, die zur Behebung oder Abwehr der Notlage in Betracht kommen, zu prüfen und je nach ihrer Eignung einzeln, nebeneinander oder in Verbindung miteinander so einzusetzen, daß eine stabilisierende Abhilfe erreicht wird. Dabei hat der Bund seinerseits – im Blick auf seine eigene und die Belastung der übrigen Länder – Art. 109 Abs. 2 GG zu beachten.“ und erst unter c): „Im Fall einer extremen Haushaltsnotlage dürfen Bundesergänzungszuweisungen nach Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG auch in einem über das normale Maß hinausgehenden Umfang geleistet werden, wenn sie im Rahmen eines Programms zur Haushaltssanierung geeignet sind, zur Behebung der Haushaltsnotlage beizutragen“. 788 Vgl. BVerfGE 116, 327 [2.Ls.]: „Bundesergänzungszuweisungen zum Zwecke der Sanierung eines Not leidenden Landeshaushaltes unterliegen einem strengen Ultima-RatioPrinzip“. – Sonstige Hilfeleistungspflichten werden demnach nicht davon erfasst.

I. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Länderfinanzausgleich

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Maßstäbe. Lediglich im Hinblick auf Sanierungshilfen muss zusätzlich der Grad eines ,bundesstaatlichen Notstandes erreicht sein. In diesem Sinne formuliert das Gericht: „Unter dem Gesichtspunkt der Ultima-Ratio-Funktion von Sanierungszuweisungen gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG in Verbindung mit dem Bundesstaatsprinzip muss jedoch gesichert sein, dass alle anderen Möglichkeiten, dem Land zu einer aufgabengerechten Finanzausstattung zu verhelfen, Vorrang besitzen und zunächst voll auszuschöpfen sind.“789 Diese aktuelle Maßgabe setzt zwingend voraus, dass auch diesseits der ultimativen Sanierungshilfen im äußersten Falle eines bundesstaatlichen Notstandes Solidaritätspflichten bestehen.

f) Fazit Das Gericht unterstellt die Gewährung von bundesstaatlichen Sanierungshilfen zugunsten der Länder einem strengen Ultima-Ratio-Prinzip. Es reduziert den tatbestandlichen Anwendungsbereich auf Haushaltsnotlagen, die sowohl in relativer als auch in absoluter Hinsicht ein derart extremes Ausmaß aufweisen müssen, dass ein bundesstaatlicher Notstand vorliegt. In absoluter Hinsicht bedeutet dies den Verlust der Fähigkeit, aus den Mitteln des laufenden Haushalts die obligatorischen Landesaufgaben erfüllen zu können. Als zusätzliche unabdingbare Voraussetzung reklamiert das Gericht die Ausschöpfung sämtlicher ländereigener Potenziale zur Verbesserung der Einnahmen- und Ausgabenseite. Dieser Schritt war einerseits notwendig, um der eigens vom Gericht initiierten Überdehnung des Anwendungsbereiches des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG zu begegnen. Die Entscheidung ist daher in erster Linie Ausdruck des Gedankens, dass solidarische Transfers, selbst wenn das Bundesstaatsprinzip sie fordert, einer normativen Grundlage bedürfen. Zum anderen reagierte das Gericht damit angemessen auf die zunehmenden und verstärkt zu erwartenden Begehrlichkeiten hochverschuldeter Länder, die sich – wie das Saarland und Bremen ermutigt durch die BVerfGE 86, 148 – nach eigener Einschätzung in einer solidaritätspflichtigen Haushaltsnotlage wähnten. Eine uneingeschränkte Weiterführung der von 1995 bis 2004 zugunsten von Bremen und Saarland praktizierten Bundeshilfe hätte das bundesstaatliche Solidarsystem der Bundesergänzungszuweisungen zweckwidrig überfordert. Das Gericht drängt den Gesetzgeber daher zu Recht zu einer umgehenden Implementierung eines verbindlichen Haushaltsregimes, das primär der Vorbeugung und zugleich der Bekämpfung von Notlagen dient. Seiner diesbezüglichen Forderung verleiht es eindringlich Nachdruck, indem es auf die Reform der Finanzbeziehungen im Rahmen der zweiten Stufe der Föderalismusreform Bezug nimmt. Die teilweise vorgefundene Interpretation des Urteils als Zeichen einer Reduzierung bundesstaatlicher Solidarität verkennt, dass die Entscheidung lediglich eine dringend notwendige Restriktion des Solidarinstrumentes der Sanierungszuweisungen vornimmt. Die sonstigen Ableitungen aus dem bundesstaatlichen Prinzip des Ein789

Vgl. BVerfGE 116, 327 [390].

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5. Kap.: Die Finanzverfassung

stehens füreinander anlässlich der BVerfGE 86, 148 bleiben davon unberührt. Die partielle Begrenzung der bundesstaatlichen Finanzsolidarität in Gestalt der Sanierungshilfe findet die richtige Balance zwischen bundesstaatlicher Solidarität und der Eigenverantwortlichkeit der Länder.

II. Zusammenfassung Der horizontale Länderfinanzausgleich nach Art. 107 GG stellt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts einen der tragenden Pfeiler der bundesstaatlichen Ordnung dar. Bereits in einer seiner ersten Entscheidungen betonte das Gericht den engen Zusammenhang zwischen Bundesstaat und Finanzausgleich. Es begegnete der grundsätzlichen Infragestellung eines weitreichenden Länderfinanzausgleichs mit dem Wesen des bundesstaatlichen Prinzips, aus dem sich die Pflicht der finanzstärkeren Länder ergebe, den schwächeren Ländern Hilfe zu leisten, ohne jedoch zu einer entscheidenden Schwächung der Finanzkraft der Geberländer oder einer Nivellierung der Finanzkraft der Länder zu führen. Aus dem Bundesstaatsprinzip leitet es das Prinzip des Einstehens füreinander ab und proklamiert die bundesstaatliche Solidargemeinschaft der Länder, ohne die finanzielle Eigenständigkeit der Länder in Frage zu stellen. Der Länderfinanzausgleich – so das Gericht – teilt die dem Bundesstaatsprinzip innewohnende Spannungslage, die richtige Mitte zu finden zwischen der Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Bewahrung der Individualitäten der Länder auf der einen und der solidargemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Existenz und Eigenständigkeit der Bundesgenossen auf der anderen Seite. Ebenfalls aus dem Prinzip des Einstehens füreinander leitet es die Pflicht der anderen Glieder der bundesstaatlichen Gemeinschaft ab, einem Not leidenden Land mit konzeptionell aufeinander abgestimmten Maßnahmen Hilfe zu leisten. Zum Zweck der Bekämpfung extremer Haushaltsnotlagen durch Sanierungshilfen erweitert das Gericht den Anwendungsbereich des Instituts der Bundesergänzungszuweisungen gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG. Wiederum aus dem Bundesstaatsprinzip leitet es das föderative Gleichbehandlungsgebot ab und wirkt damit einer willkürlichen Handhabe der Bundesergänzungszuweisungen durch den Bund entgegen. In Anbetracht des gescheiterten Sanierungsprogramms zugunsten des Saarlandes und Bremens sowie der Zunahme prekärer Länderhaushalte sah sich das Gericht zuletzt gezwungen, die Gewährung von bundesstaatlichen Sanierungshilfen einem strengen Ultima-Ratio-Prinzip zu unterstellen. Es begrenzt hierzu deren tatbestandlichen Anwendungsbereich auf den Extremfall des Verlustes der finanziellen Handlungsfähigkeit der Länder zur Erfüllung der verfassungsrechtlich vorgegebenen Landesaufgaben und verlangt zudem den Nachweis umfassender Eigenanstrengungen. Die langfristige Lösung der Haushaltsprobleme finanzschwacher Länder erblickt das Bundes-

II. Zusammenfassung

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verfassungsgericht jedoch in einer Neugliederung des Bundesgebietes mit dem Ergebnis der Schaffung leistungsfähiger Länder. Zunächst mahnte es den Gesetzgeber, später forderte es ultimativ die Konkretisierung der Finanzverfassung durch die Implementierung rechtsstaatlicher Maßstäbe für die Verteilung des Finanzaufkommens, dem durch den Erlass des Maßstäbegesetzes zumindest teilweise entsprochen wurde. Seine Forderung nach einem Haushaltsnotlagenregime mit präventivem Schwerpunkt blieb indes bisher erfolglos. Im Hinblick auf die in Aussicht gestellte Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern kann davon ausgegangen werden, dass die anhaltende Kritik des Bundesverfassungsgerichts an der Unzulänglichkeit der Finanzverfassung bzw. ihrer einfachgesetzlichen Umsetzung einen bedeutenden Beitrag dazu geleistet hat, dass es letztendlich zu einem derart breiten Konsens über die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform gekommen ist. Das Bundesverfassungsgericht stellt die verfassungsrechtlichen Fragestellungen des Finanzausgleichs von Anfang an in den Kontext der Bundesstaatsverfassung. Ausgehend von dieser Verknüpfung entwickelt es das Konzept eines solidarisch fundierten Finanzföderalismus. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellen die Solidargemeinschaft der Länder und die daraus resultierenden finanziellen Hilfeleistungspflichten einen integralen Bestandteil des bundesstaatlichen Systems dar. Hierbei gibt das Gericht weder dem Solidaritätsgedanken noch dem Schutzgut der Länderstaatlichkeit eindeutigen Vorrang, sondern verlangt stets die angemessene Berücksichtigung beider Positionen. Dennoch oder gerade deswegen lässt sich ohne Einschränkung festhalten, dass die verfassungsgerichtliche Interpretation des grundgesetzlichen Finanzausgleichs eine betont solidarische Ausprägung erfahren hat.

Resümee Die Ergebnisse der Untersuchung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den unterschiedlichen Materien der Bundesstaatsverfassung lassen sich nicht in der Weise vereinheitlichen, dass ein allgemeingültiger Obersatz formuliert werden könnte. Dies liegt in erster Linie in der Verschiedenartigkeit der föderativen Regelungsgegenstände des Grundgesetzes begründet, die naturgemäß zu sehr unterschiedlichen Fragestellungen an das Gericht führen musste, die es wiederum aus unterschiedlichen Perspektiven zu beantworten hatte. Eine weitere Ursache ist der stetige Wandel des Föderalismusverständnisses, der sich zuallererst in den diversen Änderungen der Bundesstaatsverfassung widerspiegelt. Aber auch abseits konkreter Reformen der geschriebenen Verfassung wird der Föderalismus durch Politik und Wissenschaft permanent auf den Prüfstand gestellt und befindet sich durch die an ihn gestellten Anforderungen in einem andauernden Bewährungs- und Entwicklungsprozess, dem sich auch das Bundesverfassungsgericht nicht verschließen kann. Teilweise treibt das Gericht selbst die Entwicklung der Bundesstaatsverfassung rasant voran, wie etwa durch die Bundestreuerechtsprechung zu Beginn seiner Tätigkeit. Schließlich ist das Bundesverfassungsgericht selbstverständlich auch auf dem Gebiet der Bundesstaatsverfassung nicht vor Fehlurteilen gefeit, die ihrerseits zu Widersprüchen innerhalb dieses Bereichs der Judikatur führen können. Eine aussagekräftige verallgemeinernde Charakterisierung der Bundesstaatsrechtsprechung kann daher nicht vorgenommen werden. Selbst die zunächst unproblematisch erscheinende Einschätzung eines allgegenwärtigen Problembewusstseins für die Fragestellungen der Bundesstaatsverfassung kann nur unter Vorbehalt abgegeben werden: Im Hinblick auf eine der bedeutendsten föderativen Konfliktkonstellationen – die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund – hat das Gericht seinen Verfassungsauftrag zunächst aus verfassungspolitischen Motiven nicht wahrgenommen und – was ungleich schwerer wiegt – trotz immer lauter werdender Kritik sich dieses Problems auch später nie in angemessener Weise angenommen. Der überwiegende Teil der Rechtsprechung zeugt jedoch von dem ausgeprägten Verständnis des Gerichts für die Bedeutung der föderativen Beziehungen zwischen Bund und Ländern. Keineswegs selten verschafft das Gericht dem betont föderativen Geist des Grundgesetzes nachhaltig Geltung, indem es die Position der Länder gegenüber dem Bund stärkt und die gemeinschaftliche Intention des Bundesstaates betont.

Resümee

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Die Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel geben die wichtigen Linien und die bedeutendsten Aussagen der jeweiligen Rechtsprechungsbereiche wieder ebenso wie die notwendige Kritik und münden in eine abschließende Bewertung der entsprechenden Judikatur. Gleichwohl soll an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, einen kurzen Überblick über die einzelnen Bereiche zu erstellen, um davon ausgehend eine abschließende Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Erwähnenswert, wenn auch ohne unmittelbare Auswirkung auf die Bundesstaatspraxis, ist die frühe Klarstellung der konstruktiven Zweigliedrigkeit des Bundesstaates durch das Bundesverfassungsgericht. Unter Bezugnahme auf die duale Kompetenzverteilung des Grundgesetzes stellte es zutreffend fest, dass neben dem Bund und den Ländern keine weitere übergeordnete staatliche Ebene existiert. Durch die Ablehnung des dreigliedrigen Bundesstaatsbegriffs hat das Gericht zumindest auf die wissenschaftliche Diskussion der Bundesstaatstheorie bestimmenden Einfluss genommen. Die Rechtsprechung zur Staatsqualität der Länder fällt eindeutig zugunsten der Länder aus. Zwar gelangte das Gericht in anfänglicher Unsicherheit im Umgang mit der neu geschaffenen Bundesstaatsverfassung vorübergehend zu der unzutreffenden Einschätzung, die Bundesrepublik Deutschland sei ein ,labiler Bundesstaat. Aber bereits seit seinem ersten Urteil überhaupt gehört die Eigenstaatlichkeit der Länder zu den festen Konstanten der Bundesstaatsjudikatur. Die Prinzipien der Verfassungshoheit und der Verfassungsautonomie der Länder bilden hierfür die konstitutive Basis. Den Inbegriff verfassungsgerichtlicher Gewährleistung der Länderstaatlichkeit bildet das sogenannte ,Hausgut der Länder, mit dem das Gericht den Ländern einen Kernbestand unentziehbarer Aufgaben garantiert. Sowohl die Staatlichkeit als auch ihre Essentialien unterstellt es der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG. Das Bundesstaatsprinzip selbst dient dem Gericht als Bezugspunkt für sämtliche Bereiche seiner Bundesstaatsjudikatur. Dabei dient es gleichermaßen als Auslegungsmaßstab, Argumentationstopos sowie als Quelle für die Herleitung föderativer Unterprinzipien und Grundsätze. Die Rechtsprechung zum Bundesstaatsprinzip fällt naturgemäß im Sinne einer Ausdifferenzierung und Konkretisierung der Bundesstaatsverfassung aus. Prägnantes Beispiel für die verfassungsgerichtliche Ergänzung der Bundesstaatsverfassung durch die Ableitung von Unterprinzipien aus dem Bundesstaatsprinzip ist der Grundsatz der Bundestreue. Der ungeschriebene Verfassungsgrundsatz, den das Gericht auch als ,Rechtspflicht zu bundesfreundlichem Verhalten bezeichnet, dient seinerseits der Ableitung konkreter föderaler Verhaltensmaßstäbe. So hat es für diverse, vom Grundgesetz nicht näher geregelte, föderative Konfliktfelder etwa Verständigungs-, Rücksichtnahme- und Mitwirkungspflichten entwickelt. Die grundsätzliche Aufgabe der Bundestreue sieht das Gericht in einer stärkeren Bindung von Bund und Ländern unter die gemeinsame Verfassungsordnung und betont hierbei von Anbeginn die Gleichordnung von Bund und Ländern. Das Gericht interpretiert

252

Resümee

die Bundestreue somit im Sinne eines föderativen Integrationsinstrumentes und verschafft damit dem gemeinschaftlichen Anspruch des Bundesstaatsprinzips auch jenseits des geschriebenen Verfassungstextes nachhaltig Geltung. Die Analyse der Rechtsprechung zur Gesetzgebung im Bundesstaat lässt zwei Schwerpunkte erkennen: Einerseits die Frage der Justiziabilität der Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bundesgesetzgeber gemäß Art. 72 GG sowie andererseits die Interpretation des Zustimmungs- bzw. Vetorechts des Bundesrates gemäß Art. 84 Abs. 1 GG a.F.. Im Rahmen der Rechtssprechung zur sogenannten Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. hat das Gericht die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung als weitestgehend injustiziable politische Ermessensentscheidung des Bundesgesetzgebers eingeordnet und diesem damit nahezu ungebremsten Zugriff auf die Gegenstände des Art. 74 GG verschafft. Hierbei hat es sich erkennbar von verfassungspolitischen Motiven leiten lassen und in deutlichen Widerspruch zu dem Subsidiaritätsappell des Art. 72 GG gesetzt. In der Folge kam es zu einer extensiven Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund, wodurch sich der Gestaltungsspielraum der Länderparlamente entgegen der Intention der Bundesstaatsverfassung deutlich verkleinerte. Dieser Teil der Rechtsprechung, der offenkundig zulasten der Länder ausfällt, kann daher nur als verfehlt kritisiert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser negativen Einschätzung mittlerweile durchaus selbstkritisch angenähert, nachdem der verfassungsändernde Gesetzgeber den Bedürfnisvorbehalt des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. im Jahr 1994 durch die sogenannte Erforderlichkeitsklausel ersetzt hat. In seiner jüngeren Rechtssprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG stellt das Gericht entsprechend hohe Anforderungen an die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund und unterstellt diese nahezu uneingeschränkt seiner Justiziabilität. Das Gericht wird seiner Funktion als Garant der föderativen Gewaltenbalance nunmehr auch in dieser Hinsicht gerecht. Die Untersuchung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. führt zu einem gänzlich unbefriedigenden Ergebnis. Die vom Gericht bis zuletzt vertretene Position eines auch in materiell-rechtlicher Hinsicht umfassenden Vetorechts des Bundesrates gegen zustimmungsbedürftige Gesetzesvorhaben des Bundestages ging weit über die systematische Funktion des lediglich verfahrensbezogenen Ingerenzrechts aus Art. 84 Abs. 1 GG a.F. hinaus. Indem durch vereinzelte verfahrensrechtliche Vorschriften in einem Bundestagsbeschluss sämtliche materiellen Regelungen ebenfalls zum Gegenstand des Vermittlungsverfahrens wurden, erhielt der Bundesrat maßgeblichen Einfluss auf die materielle Gesetzgebung des Bundes. Ausgehend von der sogenannten Einheitsthese vernachlässigte das Gericht die demokratisch legitimierte materielle Gesetzgebungshoheit des Bundestages. In letzter Konsequenz gab das Gericht durch seine Interpretation des Zustimmungsrechts die Vorlage für dessen politische Instrumentalisierung im Rahmen der sogenannten Blockade im Bundesrat. Zudem lastet auf der gesamten Rechtsprechung zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. der Makel fehlender Konsistenz.

Resümee

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Die Rechtsprechung zur Finanzverfassung findet ihre bundesstaatsrechtlichen Schwerpunkte in den Bereichen des horizontalen Länderfinanzausgleichs und der Bundesergänzungszuweisungen. Von Anbeginn betont das Gericht die enge Beziehung zwischen dem Länderfinanzausgleich und dem Bundesstaatsprinzip, aus dem es die Pflicht der finanzstarken gegenüber den finanzschwachen Ländern zur Finanzhilfe ableitet. Den Schwerpunkt seiner Tätigkeit sieht das Gericht zu Recht in der Überprüfung, ob der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung und Entwicklung des Länderfinanzausgleichs die richtige Balance findet zwischen der finanziellen Selbständigkeit der Länder als Ausdruck ihrer Eigenstaatlichkeit auf der einen und der solidargemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Existenz und Eigenständigkeit der Bundesgenossen auf der anderen Seite. Die Schaffung der hierfür unerlässlichen einfachgesetzlichen Maßstäbe musste das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber regelrecht abringen. Für den Fall der finanziellen Notlage eines Landes sieht es die Glieder des Bündnisses verpflichtet, füreinander einzustehen. In der Konstellation einer extremen Haushaltsnotlage, an die es zuletzt deutlich erhöhte Anforderungen stellt, gestattet es als ultima ratio den Einsatz von Sanierungshilfen. Das hierfür eingesetzte Instrument der Bundesergänzungszuweisungen akzeptiert das Gericht jedoch nur als vorübergehenden Notbehelf und fordert eindringlich die Implementierung wirksamer Präventionsmechanismen. Auch insofern gilt: Die finanzverfassungsrechtliche Bundesstaatsrechtsprechung ist zunehmend von dem erfolgreichen Bemühen um die Ausgewogenheit von Eigenverantwortung und Solidarität gekennzeichnet. Die Gesamtbetrachtung der Bundesstaatsjudikatur ergibt einen ambivalenten Eindruck. Überwiegend zeigt sich das Bundesverfassungsgericht offen, der bundesstaatlichen Intention des Grundgesetzes angemessen Geltung zu verschaffen. Hierfür steht vor allem die kontinuierliche Betonung der Eigenstaatlichkeit der Länder und deren Einbeziehung in den Gewährleistungsbereich des Art. 79 Abs. 3 GG. Besonderes Gespür für die Anforderungen des Bundesstaates hat das Gericht auch insofern bewiesen, als es die Bundesstaatsverfassung um den ungeschriebenen Grundsatz der Bundestreue ergänzt hat und diesen im Sinne eines Bund und Länder gleichermaßen bindenden Verhaltenskodexes entwickelt hat. Eine ebenfalls konsequente Anwendung des Bündnisgedankens findet sich auch in der solidarischen Interpretation des horizontalen Länderfinanzausgleichs und der Akzeptanz von Sanierungshilfen. In seinem Bemühen um eine angemessene Beteiligung der Länder an der Bundesgesetzgebung ging das Gericht jedoch insofern zu weit, als es durch die extensive Auslegung des Zustimmungsrechts des Bundesrates gemäß Art. 84 Abs. 1 GG a.F. den Einfluss der Länder auf die Gesetzgebung des Bundes gestärkt sehen wollte. In deutlichem Widerspruch zu dem föderativen Geist des Grundgesetzes steht indes die Judikatur zur früheren Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. Die Gewährung eines injustiziablen politischen Ermessensspielraumes zugunsten des Bundesgesetzgebers bei der Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungsmaterien widersprach vor allem dem auch damals offensichtlichen Subsidiaritätsappell

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Resümee

der Vorschrift. Aber auch mit dem verfassungsgerichtlich postulierten hohen Stellenwert der Eigenstaatlichkeit der Länder sowie dem aus dem Grundsatz der Bundestreue abgeleiteten Gedanken der Rücksichtnahme bei der Ausübung von Gesetzgebungsbefugnissen ist diese Rechtsprechung nicht zu vereinbaren. Die negativen Folgen der Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F. und jener zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. trugen erheblich zu dem sich stetig erhöhenden Legitimationsdruck auf den deutschen Föderalismus bei. Die Blockade im Bundesrat und die Handlungsunfähigkeit der Länderparlamente wurden nicht zu Unrecht als wesentliche Ursachen des ebenfalls zunehmenden Reformstaus wahrgenommen. Mit den Verfassungsreformen 1994 und 2006 setzte der verfassungsändernde Gesetzgeber genau dort an, wo sich die Schwachpunkte der Bundesstaatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts befanden. Die Problematik der Bundesratszustimmung nach Art. 84 Abs. 1 GG a.F. wurde durch die erste Stufe der Föderalismusreform beseitigt. Mit der Rechtsprechung zum Erforderlichkeitsvorbehalt des Art. 72 Abs. 2 GG i.F. von 1994 hat sich das Gericht deutlich von seiner früheren Rechtsprechung distanziert und zugunsten eines wirkungsvollen Schutzes der Länder vor einem voranschreitenden Kompetenzentzug durch den Bundesgesetzgeber ausgesprochen. Der Weg für eine konsistente Bundesstaatsrechtsprechung scheint damit vorerst geebnet. Die weitere Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere zu den Änderungen im Zuge der Föderalismusreform 2006 darf mit Spannung erwartet werden.

Übersicht der Rechtsprechung 1. Kapitel: Der Bundesstaat – Begriff und theoretisch-konstruktive Erfassung 1. BVerfGE 6, 309 – Reichskonkordat, Urt. v. 26.03.1957 – 2 BvG 1/55 2. BVerfGE 13, 54 – Neugliederung, Urt. v. 11.07.1958 – 2 BvG 2/58 . 2. Kapitel: Die Staatlichkeit der Länder 1. BVerfGE 1, 14 – Südweststaat, Urt. v. 23.10.1951 – 2 BvG 1/51 2. BVerfGE 4, 178 – Landesverwaltungsgerichtsgesetz, Beschl. v. 11.05.1955 – 1 BvO 1/54 3. BVerfGE 34, 9 – Hausgut der Länder, Urt. v. 26.07.1972 – 2 BvF 1/71 4. BVerfGE 103, 332 – Naturschutzgesetz Schleswig-Hst., Beschl. v. 7.05.2001 – 2 BvK 1/00 . 3. Kapitel: Bundesstaatsprinzip und Bundestreue 1. BVerfGE 1, 299 – Wohnungsbauförderung, Urt. v. 21.05.1952 – 2 BvH 2/52 2. BVerfGE 4, 115 – Beamtenbesoldung, Urt. v. 1.12.1954 – 2 BvG 1/54 3. BVerfGE 8, 122 – Volksbefragung Hessen, Urt. v. 30.07.1958 – 2 BvH 1/58 4. BVerfGE 12, 205 – Fernsehurteil, Urt. v. 28.02.1961 – 2 BvG 1, 2/60 5. BVerfGE 13, 54 – Neugliederungsurteil, Urt. v. 11.07.1961 – 2 BvG 2/58 . 4. Kapitel: Die Gesetzgebung im Bundesstaat I. Art. 72 Abs. 2 GG 1. BVerfGE 2, 213 – Straffreiheitsgesetz 1949, Beschl. v. 22.04.1953 – 1 BvL 18/52 2. BVerfGE 106, 62 – Altenpflegegesetz, Urt. v. 24.10.2002 – 2 BvF 1/01 II. Art. 84 Abs. 1 GG a.F. 1. BVerfGE 8, 274 – Preisgesetz 1948, Beschl. v. 12.11.1958 – 2 BvL 4, 26, 40/56 u. a. 2. BVerfGE 37, 363 – Bundesrat, Beschl. v. 25.06.1974 – 2 BvF 2, 3/73 3. BVerfGE 55, 274 – Ausbildungsplatzförderungsgesetz 1976, Urt. v. 10.12.1980–2 BvF 3/77 4. BVerfGE 105, 313 – Lebenspartnerschaftsgesetz, Urt. v. 17.07.2002 – 1 BvF 1, 2/01 . 5. Kapitel: Die Finanzverfassung 1. BVerfGE 1, 117 – Länderfinanzausgleich I, Urt. v. 20.09.1952 – 1 BvF 2/51 2. BVerfGE 72, 330 – Länderfinanzausgleich II, Urt. v. 24.06.1986 – 2 BvF 1, 5, 6/83 u. a. 3. BVerfGE 86, 148 – Länderfinanzausgleich III, Urt. v. 27.05.1992 – 2 BvF 1, 2/88 u. a. 4. BVerfGE 101, 158 – Länderfinanzausgleich IV, Urt. v. 11.11.1999 – 2 BvF 2, 3/98 u. a. 5. BVerfGE 116, 327 – Haushaltsnotlage Berlin, Urt. v. 19.10.2006 – BvF 3/03

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Sachregister Altenpflegegesetz (BVerfGE 106, 62) 133 ff. Art. 72 Abs. 2 GG i. d. F. 1949 118 f. – Entstehungsgeschichte 123 f. – Injustiziabilität der Bedürfnisentscheidung 121 f. – Rechtsprechung 119 f., 127 ff., 131 ff. – Straffreiheitsgesetz 1949 (BVerfGE 2, 213) 121 ff. Art. 72 Abs. 2 GG i. d. F. 1994 133 ff. – Altenpflegegesetz (BVerfGE 106, 62) 133 ff. – Einheitlichkeit der Berufsausbildung 147 f. – Erforderlichkeit des Altenpflegegesetzes 146 f. – Erforderlichkeitsklausel 135 ff. – Gesetzgeberischer Entscheidungsprozess 146 f. – Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse 139 f. – Konkretisierung 139 ff. – Kontrolldichte 154 f. – Kritik an der Altenpflegeentscheidung 148 f. – Rechtsprechung 133 f., 152 f. – umfassende Justiziabilität 136 f. – Wahrung der Rechtseinheit 142 f. – Wahrung der Wirtschaftseinheit 144 f. Ausbildungsplatzförderungsgesetz 1976 (BVerfGE 55, 274) 183 ff.

Beamtenbesoldung (BVerfGE 4, 115) 86 ff. Blockade im Bundesrat 170 f. Bündisches Prinzip des Einstehens füreinander 209 f. Bundesergänzungszuweisungen 198 ff., 212 ff., 221 f., 224 f., 232 ff. – Ausschöpfung der Handlungsmöglichkeiten 235 f. – Bekämpfung von Haushaltsnotlagen 224 f.

– Föderatives Gleichbehandlungsgebot 212 f. – Haushaltsnotlage Berlin (BVerfGE 116, 327) 232 f. – Hilfe zur Selbsthilfe 221 f. – Hilfeleistungspflicht 222 f. – Neugliederung des Bundesgebietes 234 f. – relative und absolute Haushaltsnotlage 235 f. – Sanierungshilfen 232 ff. – Ultima-Ratio-Prinzip 234 ff. Bundesrat 159 ff. – Blockade im Bundesrat 170 ff. – Bundesrat (BVerfGE 37, 363) 187 ff. – Funktion des Art. 84 Abs. 1 GG a.F 163 f. – Keine zweite Kammer 174 ff. – Materielles Zustimmungsrecht 162 f. – Zustimmungsgesetze 175 ff. Bundesrat (BVerfGE 37, 363) 173 ff. Bundesstaat 22 ff. – Begriff des labilen Bundesstaates 46 ff. – Begriff und theoretisch-konstruktive Erfassung 22 ff. Bundesstaatsbegriff 23 f. – Dreigliedrigkeitstheorem 23 f., 27 f. – Gesamtstaat 22 ff., 34 ff. – Hans Kelsen 23 f. – Hans Nawiasky 25 f. – Neugliederungsurteil (BVerfGE 13, 54) 32 f. – Oberstaat 24, 36 f. – Reichskonkordatsurteil (BVerfGE 6, 309) 28 f. – Staatsrechtswissenschaft 23 f. – Theodor Maunz 26 f. Bundesstaatsprinzip 68 ff. – Auslegungsmaßstab 72 f. – Funktionen 72 ff. – Normative Anbindung 69 f. – Quelle von Unterprinzipien 75 f. – Stützungsfunktion 73 f.

Sachregister – Terminologie 71 f. Bundestreue 68, 76 ff. – Akzessorietät der Bundestreue 109 f. – Anwendungsbereich 93 f. – Beamtenbesoldung (BVerfGE 4,115) 86 ff. – clausula rebus sic stantibus 111 – dogmatische Einordnung 88 f. – dreidimensionale Bindungswirkung 85 f. – EG-Fernsehrichtlinie (BVerfGE 92, 203) 113 – Fernsehurteil (BVerfGE 12, 205) 98 ff. – funktionale Deutung 84 f. – generelle Bindungswirkung 97 f. – grundsätzliche Funktionsbestimmung 96 f. – Herleitung 81 f. – Herleitungsdefizite 96 f. – Justiziabilität der Bundestreue 90 f. – Kalkar II (BVerfGE 81, 310) 112 f. – Konkordatsurteil (BVerfGE 6, 309) 111 f. – Kompetenzausübungsschranke 88 f., 112 f. – Kritik an der Rechtsprechung 104 f. – Mitwirkungspflicht der Länder 94 f., 110 f. – Neugliederungsurteil (BVerfGE 13, 54) 108 ff. – Oberfinanzdirektion (BVerfGE 106, 1) 114 – Rechtsmissbrauch 90 f. – Rücksichtnahmepflicht 89 f., 110 f. – Stil und Procedere 101 f. – Terminus Bundestreue 88 f. – Tun und Unterlassen 93 f. – ungeschriebener Verfassungsgrundsatz 88 f. – Volksbefragung Hessen (BVerfGE 8, 122) 92 f. – Wohnungsbauförderung (BVerfGE 1, 299) 77 f. – Zwang zur Verständigung 84 f. Doppelgesichtigkeit materieller Normen 188 f. EG-Fernsehrichtlinie (BVerfGE 92, 203) 113 ff. Fernsehurteil (BVerfGE 12, 205) 98 ff. Finanzverfassung 198 ff.

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Föderatives Gleichbehandlungsgebot 212 ff. Gesamtstaat 22 ff., 34 ff. Gesetzgebung im Bundesstaat 117 ff. Hausgut der Länder 51 ff., 67 f. Hausgut der Länder (BVerfGE 34, 19) 53 ff. Haushaltsnotlage 222 ff., 232 ff. – Ausschöpfung eigener Handlungsmöglichkeiten 235 f. – Bekämpfung 224 f. – Bundesergänzungszuweisungen 224 ff. – Haushaltsnotlage Berlin (BVerfGE 116, 327) 232 ff. – Hilfeleistungspflicht bei Haushaltsnotlagen 222 ff. – Neugliederung des Bundesgebietes 234 f. – relative und absolute Haushaltsnotlage 235 ff. – Sanierungshilfen 232 f. – solidarischer Föderalismus 242 f. – Ultima-Ratio-Prinzip 234 f. Haushaltsnotlage Berlin (BVerfGE 116, 327) 232 ff. Hilfeleistungspflicht 222 f. Kalkar II (BVerfGE 81, 310) 112 ff. Konkurrierende Gesetzgebung des Bundes 118 ff. Labiler Bundesstaat 46 f. Länder 40 ff. – Hausgut 51 ff., 67 – Staatlichkeit 40 ff., 51 ff., – Staatsqualität 41 ff.; 52 ff., 64, 207 – Verfassungshoheit 41, 44 ff., 50, 61 Länderfinanzausgleich 198 ff. – bündische Prinzip des Einstehens füreinander 209 f. – existenzunfähige Länder 204 f. – Finanzkraft als Maßstab des Finanzausgleichs 211 f. – föderative Finanzhilfe 209 f. – Haushaltsnotlage Berlin (BVerfGE 116, 327) 232 ff. – Horizontaler Länderfinanzausgleich 198 ff.

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Sachregister

– Länderfinanzausgleich I (BVerfGE 1, 117) 199 ff. – Länderfinanzausgleich II (BVerfGE 72, 330) 206 ff. – Länderfinanzausgleich III (BVerfGE 86, 148) 218 ff. – Länderfinanzausgleich IV (BVerfGE 101, 158) 250 ff. – Maßstäbe für die Verteilung des Finanzaufkommens 225 f. – Schwächungs- und Nivellierungsverbot 203 f. – Spannungslage des Bundesstaatsprinzips 210 f. Länderfinanzausgleich I (BVerfGE 1, 117) 199 ff. Länderfinanzausgleich II (BVerfGE 72, 330) 206 ff. Länderfinanzausgleich III (BVerfGE 86, 148) 218 ff. Länderfinanzausgleich IV (BVerfGE 101, 158) 250 ff. Lebenspartnerschaftsgesetz (BVerfGE 105, 313) 190 ff. Naturschutzgesetz Schleswig-Holstein (BVerfGE 102, 332) 58 ff. Neugliederungsurteil (BVerfGE 13, 54) 32 f. Oberfinanzdirektion (BVerfGE 106, 1) 114 Oberstaat 24 ff., 36 ff. Preisgesetz 1948 – BVerfGE 8, 274) 160 ff. Prinzip der getrennten Verfassungsräume 59 ff. Reichskonkordatsurteil (BVerfGE 6, 309) 28 f. Solidargemeinschaft der Länder 208 f. Staatlichkeit der Länder 40 ff. – betont föderativ gestalteter Staat 51 f. – Grundsatz getrennter Verfassungsräume 50 f. – Hausgut der Länder (BVerfGE 34, 19) 53 ff. – Indisponibilität von Gesetzgebungskompetenzen 45 f.

– Kernaufgaben als Bedingung 53 f. – Naturschutzgesetz Schleswig-Holstein (BVerfGE 102, 332) 58 ff. – Prinzips der getrennten Verfassungsräume 59 ff. – Staaten eigener staatlich anerkannter Hoheitsmacht 43 ff. – Staatsqualität 43 f. – Südweststaat (BVerfGE 1, 14) 41 ff. – Unabänderlichkeit 52 f. – Verfassungshoheit der Länder 44 f. – Verfassungsräume 50 f. Südweststaat (BVerfGE 1, 14) 41 ff. Verfassungshoheit der Länder 44 ff. Volksbefragung Hessen (BVerfGE 8, 122) 92 ff. Wohnungsbauförderung (BVerfGE 1, 299) 77 ff. Zustimmungsrecht des Bundesrates (Art. 84 Abs. 1 GG a.F.) 159 ff. – Aufteilung in materielle und verfahrensrechtliche Vorschriften 191 f. – Ausbildungsplatzförderungsgesetz 1976 (BVerfGE 55, 274) 183 ff. – Blockade im Bundesrat 170 f. – Bundesrat (BVerfGE 37, 363) 173 ff. – Doppelgesichtigkeit materieller Normen 188 f. – Funktion des Art. 84 Abs. 1 GG a.F 163 f. – Kompetenzverteilung im Bundesstaat 184 f. – Lebenspartnerschaftsgesetz (BVerfGE 105, 313) 190 ff. – Materielles Zustimmungsrecht 162 f. – Notwendigkeit erneuter Zustimmung 181 f. – Preisgesetz 1948 – BVerfGE 8, 274) 160 ff. – Schutzvorrichtung gegen Systemverschiebungen 177 f. – Teilung von Gesetzesvorhaben 181 f. – Zustimmung zu Änderungsgesetzen 179 f. – Zustimmungsgesetze als konzeptionelle Ausnahme 175 f.