Britisch-deutscher Literaturtransfer 1756–1832
 9783110498141, 9783110500042

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Philipp Erasmus Reich und die Verbreitung britischer Literatur in Deutschland
Gotthold Ephraim Lessing und Johann Joachim Eschenburg als Leser und Vermittler Samuel RichardsonsWege der deutschen Anglophilie im achtzehnten Jahrhundert
Britische Ästhetiker in der frühen Prager Universitätsästhetik 1763–1848
Johann Joachim Eschenburgs Theorie und Literatur der schönen WissenschaftenBezüge zu Henry Home und Hugh Blair
Eine „Geschichte des Menschen im Kleinen“Johann Karl Wezels Neubearbeitung des Robinson Krusoe (1779/80) und die Vierstufentheorie Adam Smiths
Lenz, Pope and Satire
Georg Forsters Positionen zu James CookVom Konkurrenten zum Nachlassverwalter
Lavaters physiognomische Apodemik in Reisebeschreibungen deutscher Englandreisender im späten achtzehnten Jahrhundert
Die kreative Aneignung Shakespeares im Werk von Karl Philipp Moritz
„Durch Wunderkraft erschienen“ – Affinitäten zwischen Goethes Faust II und Shakespeares The Tempest
Lord Byron und Deutschland
Literarische Anglophilie und deutscher NationalstaatWalter Scott bei Willibald Alexis, Hermann von Pückler-Muskau und Gustav Freytag
Autoren
Register

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Britisch-deutscher Literaturtransfer 1756–1832

WeltLiteraturen/ World Literatures

Schriftenreihe der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien Herausgegeben von Jutta Müller-Tamm, Andrew James Johnston, Anne Eusterschulte, Susanne Frank, Stefan Keppler-Tasaki und Georg Witte Wissenschaftlicher Beirat Nicholas Boyle (University of Cambridge), Elisabeth Bronfen (Universität Zürich), Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University), Renate Lachmann (Universität Konstanz), Ken’ichi Mishima (Osaka University), Glenn W. Most (Scuola Normale Superiore Pisa), Jean-Marie Schaeffer (EHESS Paris), Janet A. Walker (Rutgers University), David Wellbery (University of Chicago), Christopher Young (University of Cambridge)

Band 11

Britisch-deutscher Literaturtransfer 1756–1832 Herausgegeben von Lore Knapp und Eike Kronshage

Das Panel „Britisch-deutscher Literaturtransfer 1709–1832“, die Konferenz „Studientage 2014“ sowie der Druck des Tagungsbandes wurden gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin.

ISBN 978-3-11-050004-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049814-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049750-2 ISSN 2198-9370 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Gestaltet von Jürgen Brinckmann, Berlin, unter Verwendung einer Graphik von Anne Eusterschulte Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Lore Knapp und Eike Kronshage Einleitung   1 Martin Munke Philipp Erasmus Reich und die Verbreitung britischer Literatur in Deutschland. Import und Übersetzung   21 Till Kinzel Gotthold Ephraim Lessing und Johann Joachim Eschenburg als Leser und Vermittler Samuel Richardsons. Wege der deutschen Anglophilie im achtzehnten Jahrhundert   39 Tomáš Hlobil Britische Ästhetiker in der frühen Prager Universitätsästhetik 1763–1848 

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Lore Knapp Johann Joachim Eschenburgs Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Bezüge zu Henry Home und Hugh Blair   71 Nicholas Enright Eine „Geschichte des Menschen im Kleinen“. Johann Karl Wezels Neubearbeitung des Robinson Krusoe ( 1779 / 80 ) und die Vierstufentheorie Adam Smiths   93 John Guthrie Lenz, Pope and Satire 

 113

Johannes Görbert und Helmut Peitsch Georg Forsters Positionen zu James Cook. Vom Konkurrenten zum Nachlassverwalter   127 Eike Kronshage Lavaters physiognomische Apodemik in Reisebeschreibungen deutscher Englandreisender im späten achtzehnten Jahrhundert   153 Kira Liebert Die kreative Aneignung Shakespeares im Werk von Karl Philipp Moritz 

 171

VI 

 Inhalt

Charlotte Lee „Durch Wunderkraft erschienen“ – Affinitäten zwischen Goethes Faust II und Shakespeares The Tempest   193 Ralf Haekel Lord Byron und Deutschland 

 201

Stefan Keppler-Tasaki Literarische Anglophilie und deutscher Nationalstaat. Walter Scott bei Willibald Alexis, Hermann von Pückler-Muskau und Gustav Freytag   217 Autoren  Register 

 237  239

Lore Knapp und Eike Kronshage

Einleitung

Großbritannien entfaltete im Jahrhundert der Aufklärung eine kulturelle Ausstrahlungskraft , welche die meisten europäischen Länder ergriff und in Deutschland zu einer wahren Anglophilie führte. Das mächtige Königreich interessierte als Alternative zu absolutistischen Herrschaftsordnungen und als Vorreiter des Protestantismus. Nachdem in der Frühaufklärung die ersten moralischen Wochenschriften nach englischem Vorbild gegründet worden waren, entstand ein Interesse an religiöser Literatur und an ihren Säkularisierungen sowie an vorromantischen Strömungen. War die Kenntnis des Englischen in Deutschland zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts noch eine Seltenheit , so wurde die Sprache in den siebziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts bereits an den meisten Universitäten gelehrt. Wesentlich für die Verbreitung des Englischen war das Erblühen der angelsächsischen Literatur im augusteischen Zeitalter. Leser in den deutschen Provinzen begeisterten sich für die Romane von Daniel Defoe , Samuel Richardson und Henry Fielding , nachdem sie über die Schriften von Joseph Addison, Richard Steele und Alexander Pope auf die britischen Inseln aufmerksam gemacht worden waren. Während die englischsprachigen Schriften auf den Wegen des europäischen Netzwerkes zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts häufig über französische Übersetzungen nach Deutschland kamen, nimmt der vorliegende Band direkte Verbindungen des britisch-deutschen Literaturtransfers in den Blick. Dafür stehen auch die Berichte ausgiebiger England- und Schottlandreisen von anglophilen Gelehrten wie Albrecht von Haller , Friedrich von Hagedorn, Justus Möser , Johann Georg Hamann, Johann Wilhelm von Archenholz , Helfrich Peter Sturz , Georg Christoph Lichtenberg , Gebhard Friedrich August Wendeborn, Karl Philipp Moritz oder Sophie von La Roche ( 155–167, 172–175 ).1 Bereits seit Beginn des Jahrhunderts reiste man auf den Spuren der bewunderten britischen Schriftsteller und auf der Suche nach der britischen Nation, die für Einheit und Zusammenhalt ebenso wie für Bildung , Freiheit und bürgerliche Mündigkeit stand. Dabei erfolgten nicht alle Reisen in Form realer Exkursionen ; viele Leser in den deutschen Territorien nutzten die ins Deutsche übersetzte britische Literatur als Vehikel ihrer literarisch-imaginativen Ausflüge. Der Literatur und ihren verschiedenen, sich im Wandel befindlichen Gattungen kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung für die Beförderung von Sehnsucht nach dem ideologisch und kulturell Anderen zu. Im achtzehnten Jahrhundert führte dieser Transfer noch vorwiegend von Großbritannien nach Deutschland , selten jedoch umgekehrt. So beklagte Friedrich II. von Preußen noch im Jahr 1780 die mangelnde Qualität der deutschsprachigen Litera-

1 Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf die entsprechenden Passagen in den Aufsätzen dieses Bandes.

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tur. Insbesondere im direkten Vergleich mit den Nachbarn – gemeint ist neben England vor allem Frankreich – erscheine die heimische Literaturproduktion als minderwertig : Wir schämen uns , unseren Nachbarn in manchem nicht gleichzustehen. Mit unermüdlicher Arbeit streben wir danach , die Zeit wieder einzuholen, die wir durch unser Mißgeschick verloren haben. Im allgemeinen ist der nationale Geschmack entschieden für alles , was unserem Vaterlande zum Ruhm gereichen kann. Bei solcher Gesinnung liegt es fast auf der Hand , daß die Musen auch uns in den Tempel des Ruhmes einführen werden.2

Mit dem Lösungsvorschlag des Königs , einer genauen Untersuchung , „welchen Weg unsere Nachbarn gegangen sind“,3 ist das Programm einer Orientierung an den großen literarischen Vorbildern deutlich skizziert. Derartigen Empfehlungen kommt fraglos nicht das streng Vorschriftsmäßige eines Kartoffelbefehls zu ; Literatur lässt sich nicht per Dekret regieren. Dennoch taten die deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller bereits seit der Mitte des Jahrhunderts genau das , was Friedrich II. in seiner Schrift Über die deutsche Literatur empfahl : Sie orientierten sich an den literarisch weiter entwickelten Nachbarn und insbesondere , so eine zentrale These des vorliegenden Bandes , an Großbritannien. Es ist nicht zuletzt eine Folge dieser Auseinandersetzung , dass die deutschsprachige Literatur in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts langsam aber sicher zu ihrer Geltung gelangt – und schließlich auch auf die britische zurückzustrahlen beginnt. In der Forschung zur Anglophilie im achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhundert sind verschiedene Ansätze entwickelt worden, die vielfältigen britischdeutschen Bezüge und Verhältnisse nach Personen,4 Orten,5 Phasen,6 Gattungen und Themen zu ordnen, um sie überblickshaft darzustellen. Darüber hinaus liegen komparatistische Einzeluntersuchungen zu Übersetzungen, intertextuellen Bezügen, äs-

2 Friedrich II.: „Über die deutsche Literatur. Die Mängel , die man ihr vorwerfen kann, ihre Ursachen und die Mittel zu ihrer Verbesserung“ [ 1780 ], in : Die Werke Friedrichs des Großen, hg. v. Gustav Berthold Volz , Berlin : Hobbing , 1913 f., Bd. 8 , 74–100 , hier 78 f. 3 Ebd., 82. 4 Vgl. neben zahlreichen Einzelstudien Michael Maurer : Aufklärung und Anglophilie in Deutschland , Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht , 1987. 5 Horst Oppelt : Der Einfluß der englischen Literatur auf die deutsche , Berlin : Erich Schmidt , 1966 [ 1954 ], 32 ff. 6 Lawrence Marsden Price unterscheidet drei Phasen der Rezeption britischer Schriften. Zuerst seien Addison, Pope und Thomson rezipiert worden und mit ihnen ein klarer , aus dem Französischen beeinflusster Stil ( 1720–1740 ), dann seien die emotionaleren Texte von Milton und Young gelesen worden ( 1740–1760 ) und sodann ( 1760–1780 ) hätten sich mit der Lektüre Ossians und Shakespeares Werte wie Genie , Originalität und Spontaneität vermittelt. Mit seiner nachvollziehbaren und hilfreichen, aber stark vereinfachenden Darstellung geht Price noch einen Schritt weiter , indem er die Reihenfolge der Rezeptionswellen, die sich umgekehrt zur Entstehungsreihenfolge der Texte in England verhalte , jeweils mit Gottsched , Klopstock und Goethe engführt ( The Reception of English Literature in Germany , New York : Blom , 1968 [ 1932 ], 28–31 ).

Einleitung 

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thetikgeschichtlichen Fragen und Reiseschilderungen vor. Zu solchen eingehenderen Untersuchungen der tatsächlichen Bezüge und ihrer ideengeschichtlichen Dimensionen trägt der vorliegende Band mit zwölf Fragestellungen bei , die sich auf die Rezeption, Übersetzung und Verarbeitung britischer Schriften im deutschsprachigen Raum sowie auf Berichte von Englandreisen beziehen.

Britisch-deutscher Literaturtransfer 1756–1832 Historisch wird durch die Jahre 1756 und 1832 ein Rahmen für die Untersuchung gesteckt. Im Juli 1756 , als der Siebenjährige Krieg bereits einige Monate im Gange war und Gotthold Ephraim Lessing seine geplante Reise nach England wegen der kriegerischen Unruhen in Amsterdam abbrach , ließ sich der Leipziger Verleger Philipp Erasmus Reich nicht davon abhalten, zu Samuel Richardson nach Derbyshire zu fahren ( 21–22 ). Mit seinem persönlichen Besuch stellte Reich die Weichen für wichtige buchhändlerische Schritte im Zuge der Verbreitung des britischen Schrifttums im deutschsprachigen Raum. Seine zweimonatige Reise kann auch symbolisch als Beginn der Hochzeit der Anglophilie gelten, die über die folgenden Jahrzehnte ihre Wirkung entfaltete. Der Schwerpunkt des Bandes fällt folglich in die Spätaufklärung der siebziger , achtziger und neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts, die durch Ausblicke auf die weitere Entwicklung ergänzt werden. So deutet das Todesjahr von Walter Scott und Johann Wolfgang von Goethe das Ende des hier betrachteten Zeitraums von der Aufklärung bis zum beginnenden neunzehnten Jahrhundert an. Willkürlich wie derartige Setzungen zwangsläufig sind , lassen sie sich vor dem Hintergrund des britisch-deutschen Literaturtransfers rechtfertigen. Die wirkungsvollen und nachhaltigen Impulse , die Goethe der deutschsprachigen Literatur gab , waren nicht unerheblich von der britischen beeinflusst : Neben seiner gut dokumentierten Shakespeare-Verehrung befasste er sich immer wieder auch mit zeitgenössischen britischen Schriftstellern. Er las die Gedichte James Thomsons , die Romane Richardsons , die Schriften Samuel Johnsons , und er setzte dem von ihm hoch verehrten Dichter Byron in seinem Faust II – uraufgeführt im Sommer 1832 – ein literarisches Denkmal in der Figur des Euphorion ( 202–207 ).7 Ebenfalls rezipierte Goethe ausgiebig die

7 Zu Goethes Kenntnissen der britischen Literatur siehe John Hennig : Goethes Europakunde : Goethes Kenntnisse des nichtdeutschsprachigen Europas , Amsterdam : Rodopi , 1987. Über Goethes Vertrautheit mit den Werken einzelner britischer Schriftsteller gibt Eckermann detailliert Auskunft , siehe Johann Peter Eckermann : Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens , hg. v. Christoph Michel , in : Johann Wolfgang von Goethe : Sämtliche Werke. Briefe , Tagebücher und Gespräche , hg. v. Karl Eibl , Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag , 1999 ( FA ), Abt. II, Bd. 12. Die Einträge zu Thomson sind vom März 1832 ( 493 ), zu Richardson vom 31. Januar 1827 ( 223 ), zu Samuel Johnson vom 5. Juli 1827 ( 249 ). Wiederholt nahm Goethe Bezug auf Byron, den er bereits am 19. Oktober 1823 , also unmittelbar nach ihrem Kennenlernen, Eckermann gegenüber erwähnte ( 56 ).

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Werke Walter Scotts , des ersten britischen Bestsellerautoren, der auf dem Kontinent zahllose Nachahmer fand und so die Entwicklung auch der deutschsprachigen Literatur nachhaltig beeinflusste ( 201; 217–236 ). Eckermann berichtet , dass Goethe stets „mit der höchsten Anerkennung über Walter Scott zu reden“ pflegte und wiederholt seine Bewunderung für den Romancier zum Ausdruck brachte : „Da ist freilich Alles groß , Stoff , Gehalt , Charaktere , Behandlung , und dann der unendliche Fleiß in den Vorstudien, sowie in der Ausführung die große Wahrheit des Details !“8 Angesichts Goethes fundierter Kenntnis und tiefer Bewunderung der britischen Literatur ist es nicht überraschend , dass er Eckermann bereits in einem ihrer ersten Gespräche den Ratschlag erteilte , dieser solle dringend Englisch lernen, „besonders des Lord Byron wegen“9 und zudem „in der Literatur einer so tüchtigen Nation wie die [ der ] Engländer einen Halt“ suchen.10 Auch Scott war mit den Werken seines deutschen Schriftstellerkollegen bestens vertraut und nannte sich dessen „Bewunderer“.11 Er hatte seine literarische Karriere als Übersetzer aus dem Deutschen begonnen und seine Translations and Imitations from German Ballads aus dem Jahr 1796 enthielten auch eine Übersetzung von Goethes „Erlkönig“, auf die drei Jahre später , 1799 , eine Übersetzung des Götz von Berlichingen folgte. Dass der Einfluss Goethes in Scotts eigenen Romanen spürbar sei , bleibt eine fragliche Behauptung , wenngleich häufig konzediert wurde und wird , dass Scotts 1821 veröffentlichter Roman Kenilworth Szenen von Goethes Egmont übernommen habe. Goethe , der Kenilworth im November 1821 zu lesen begonnen hatte , blieben die Ähnlichkeiten keinesfalls verborgen. Er schien dabei jedoch Genugtuung statt Empörung empfunden zu haben und äußerte später : „Walter Scott benutzte eine Szene meines Egmonts und er hatte ein Recht dazu , und weil es mit Verstand geschah , so ist er zu loben.“12 Auch innerhalb des Zeitraums zwischen 1756 und 1832 lässt sich in den deutschen Ländern keineswegs ein über 75 Jahre andauernder und ungebrochener England-Enthusiasmus beobachten. Die Einflussnahme britischer Kultur und Literatur auf die Entwicklung des deutschen Geisteslebens verlief nicht so konstant , wie insbesondere die frühen anglophilen Schriften Glauben machen könnten. Michael Maurer verweist in seinen Untersuchungen zur Entwicklung der Anglophilie in Deutschland darauf , dass

8 Ebd., 459 f., 9. März 1831. 9 Ebd., 56 , 19. Oktober 1823. 10 Ebd., 128 , 3. Dezember 1824. Im selben Gespräch mit Eckermann konzediert Goethe die große Schuld , welche die deutsche Literatur der englischen gegenüber habe : „Zudem ist ja unsere eigene Literatur größtenteils aus der ihrigen hergekommen. Unsere Romane , unsere Trauerspiele , woher haben wir sie denn als von Goldsmith , Fielding und Shakespeare ? Und noch heutzutage , wo wollen Sie denn in Deutschland drei literarische Helden finden, die dem Lord Byron, Moore und Walter Scott an die Seite zu setzen wären ?“ ( ebd. ) 11 Siehe dazu den von Scott an Goethe gesandten Brief , den Eckermann vollständig wiedergibt : Eckermann : Gespräche mit Goethe , 617–619 , 25. Juli 1827. 12 Ebd., 139 , 18. Januar 1825.

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auf eine frühe und tatsächlich weitgehend unkritische Hochphase eine vorübergehende Periode der Englandkritik in Deutschland folgte ( ungefähr zwischen 1789 und 1800 ).13 Berichte anglophiler Reisender wie Archenholz wurden zum erklärten Ziel englandkritischer Reisender wie Friedrich Wilhelm von Schütz ( 164–168 ); die Frühphase der Französischen Revolution begeisterte deutsche Bewunderer britischer Parlamentsstrukturen und überschattete für eine kurze Zeit sogar deren Englandbegeisterung – zumindest bis 1793 , als die Schreckensherrschaft die Frankreich-Euphorie rasch in ihr Gegenteil umschlagen ließ. Und nicht zuletzt ermöglichte der Qualitätssprung , den die deutsche Literatur zur Zeit von Frühromantik und Weimarer Klassik erlebte , einen erstmaligen Blick auf Augenhöhe über den Ärmelkanal. Denn bei aller Bewunderung der Deutschen für englischsprachige Literatur blieb eine grundsätzliche ( wenn auch zunächst eher einseitig wahrgenommene ) Rivalität bestehen ; Deutschland und Großbritannien waren wachsende Machtparteien, die sowohl auf politischer als auch auf kultureller Ebene die französische Hegemonie herauszufordern suchten, wie Pascale Casanova in ihrer Studie La République mondiale des lettres erläutert.14 Casanova argumentiert zudem , dass sich Literaturen immer auf der Basis derartiger Rivalitäten entwickeln, welche gleichwohl von den beteiligten Nationen selten als solche anerkannt würden ( und sich möglicherweise unter dem Deckmantel einer offen ausgesprochenen Bewunderung wie der Anglophilie erst herausbildeten ): „Literatures are therefore not a pure emanation of national identity ; they are constructed through literary rivalries , which are always denied , and struggles , which are always international.“15 Die Befunde der vorliegenden Beiträge legen den Schluss nahe , dass sich die rivalisierende Beziehung auf dem Gebiete der Literatur zunächst vorwiegend im Modus einer imitatio auctorum vollzog , sich im weiteren Verlauf jedoch zunehmend als aemulatio fortsetzte. Die Grenze dieser literarischen Verfahren scheint den Ergebnissen einiger der hier versammelten Untersuchungen zufolge in etwa parallel zum Einschnitt durch die kurze Phase der Englandkritik verlaufen zu sein ( 61–63 , 79 , 164–167 ). Die vorübergehende Abgrenzung vom englischen Vorbild ab den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts würde sich demzufolge zu einem Zeitpunkt der zunehmenden Stabilisierung der eigenen, deutschsprachigen Literatur ereignet haben, und das imitierende Nacheifern einem selbstbewussten Wetteifern gewichen sein – mit Weimar als kulturellem Zentrum , dem

13 Michael Maurer ( Hg. ): O Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll. Deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts , Frankfurt a. M.: Büchergilde Gutenberg , 1992 , 25. Die von Maurer genannten Daten zeigen bereits , dass der temporäre Blickwechsel von England nach Frankreich politisch motiviert war , mit der Revolution einsetzte und nach dem Staatsstreich des 18. Brumaire VIII enttäuscht endete und sich , so Maurer , wieder England als „Muster eines organisch gewachsenen Staates“ zuwendete , das den „Brüchen der französischen Aufklärung entgegengestellt wurde“ ( ebd., 25 ). 14 Pascale Casanova : La République mondiale des lettres , Paris : Edition du Seuil , 1999 , 58. Im Folgenden zitiert nach : dies.: The World Republic of Letters , aus dem Französischen übersetzt von M. B. DeBevoise , Cambridge : MA, London : Harvard University Press , 2004 , 36. 15 Ebd.

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ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts schließlich Städte wie Wien, Berlin und München den Rang ablaufen sollten. Beobachten lassen sich im angegebenen Zeitraum daher zwei Phasen des britischdeutschen Literaturtransfers. Mit der literarischen Selbstbehauptung Deutschlands nach 1790 gingen die intertextuellen Bezüge , persönlichen Verbindungen und die allgemeine Vertrautheit mit dem Britischen weder qualitativ noch quantitativ zurück. Vielmehr intensivierte sich die Verwandtschaft zwischen zahlreichen Schriften beider Sprachräume. Dafür sprechen die andauernde Shakespeare-Begeisterung ( 171–173 , 193–200 ), der Byronismus ( 201–215 ) oder – exemplarisch – die Verwandtschaft zwischen kanonischen Texten wie Novalis’ Hymnen an die Nacht und Edward Youngs NightThoughts. Was sich in dieser zweiten Phase des britisch-deutschen Literaturtransfers allerdings änderte , war das geistige Klima in den deutschen Städten, in denen eine virtuose Aneignung britischer Literatur und ein zunehmend professionalisierter Verlags- und Übersetzungsbetrieb die sehnsüchtige Bewunderung ablösten. Die erste Phase des britisch-deutschen Transfers , in der die deutschen Erstübersetzungen von Shakespeare entstanden und in der sich Autoren wie Johann Gottfried Schnabel , Christian Fürchtegott Gellert oder Christoph Martin Wieland von britischen Romanen inspirieren ließen, war Teil eines europäischen Netzwerks der Aufklärung , in dem die Gelehrten sich auch ohne gezielte politische Interessen mit anderen Sprachen, Kulturen und Literaturen beschäftigten. In diese Phase fallen auch die ersten Weltreisen durch Samuel Wallis , Louis Antoine de Bougainville oder James Cook ; und die ersten deutschen Übersetzungen der Reiseberichte aus dem Englischen und Französischen erschienen bereits in den siebziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts ( 127–151 ). An die beschriebenen Umbrüche am Ende des achtzehnten Jahrhunderts schloss sich eine zweite Phase an, die zunehmend vom nationalen Denken geprägt war. Deutsche Gelehrte orientierten sich gezielt am britischen Weg zur Einheit. Das spiegelt sich in der Auseinandersetzung mit Scotts Waverley Novels , deren Imitationen von Willibald Alexis oder dem Fürsten Pückler von Preußen zum Teil des nationalen Verständigungsprozesses wurden ( 217–235 ). Das spiegelt sich auch im neuen kulturellen Zentrum Weimar und dem sich dort formierenden Konzept von Nationalliteratur. So stehen beide Phasen, vor und nach 1789 , auch für zwei verschiedene Konzepte von Weltliteratur. Sowohl in seiner ersten Verwendung bei Wieland um 1810 als auch in den verschiedenen Erwähnungen von Goethe ,16 fällt der Begriff in die zweite , erkennbar vom nationalliterarischen Konkurrenzdenken geprägte Phase des britisch-deutschen Literaturtrans-

16 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe : Tagebücher , Weimar : Hermann Böhlaus Nachfolger , 1900 ( WA ), Abt. III, Bd. 11 , 8 , 15. Januar 1827 und den Aufsatz „Le Tasse , drame historique en cinq actes , par Monsieur Alexandre Duval“ ( FA I 22 , 353–357 , hier 356 f. ), den Brief an Adolph Friedrich Carl Streckfuß , ( 27. Januar 1827 , Konzept ; WA IV 42 , 28–32 , hier 28 ) sowie das Gespräch mit Eckermann am 31. Januar 1827 ( FA II, 12 , 223 ); Hendrik Birus : „Goethes Idee der Weltliteratur : Eine historische Vergegenwärtigung“, in : Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, hg. v. Manfred Schmeling , Würzburg : Königshausen und Neumann , 1995 , 5–28.

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fers. Wenn Goethes vieldeutige Verwendung des Begriffs von 1827 auch nicht direkt die Auffassung der deutschen Nationalliteratur als Weltliteratur verkündet , so basiert seine Idee einer sich bildenden Literatur der Welt doch auf der Vorstellung einer Verbindung „aller Nationen“,17 die als solche zunächst einmal existieren müssen. Seine Rede von der Weltliteratur dient damit so wie seine Bewunderung für die britischen Autoren nicht zuletzt der Selbstbehauptung einer deutschsprachigen Literatur und Nation. Ganz im Gegensatz dazu speist sich Wielands Begriffsprägung noch aus dem Denken einer europäischen Aufklärung und bezieht sich auf die Lektüre von Texten aus den Nachbarländern sowie aus der griechischen und römischen Antike. Wieland hatte noch nicht im Sinn, die Gedanken ‚Welt‘ und ‚Nation‘ könnten sich gegenseitig stützen. Weder strebt er an, die Qualität des Eigenen durch dessen Verbreitung in der Welt zu bekräftigen, noch sucht er die Begrenzung auf eine Nation durch Transkulturalität zu kompensieren.18 Seine Verwendung des Wortes „Weltlitteratur“ ist als handschriftliche Ergänzung einer Zueignungsschrift zur ersten Ausgabe seiner Übersetzung der Briefe von Horaz erhalten, die seine Vorstellung einer Gelehrsamkeit und Weltkenntnis zur Zeit des römischen Kaiserreichs skizziert. An diesen handschriftlichen Streichungen und Verbesserungen lässt sich Wielands Denkprozess gut ablesen.19 Weltliteratur steht hier für „Gelehrsamkeit , Weltkenntniß und Politesse“, welche die „besten Schriftsteller“ vermittelten.20 In dieser Bedeutung steht sie ebenso für das Ideal eines anglophilen Gelehrten und seiner Schriften in der europäischen Aufklärung , der sich zusätzlich zu den ohnehin prominenten lateinischen, italienischen und französischen Schriften der englischen Sprache und Kultur zuwendet. Als ein solcher verstand sich Wieland , der seinen größten Beitrag zum britisch-deutschen Literaturtransfer „mit der Übersetzung Shakes­peares“ in den sechziger Jahren – und damit in der frühen Phase des britischdeutschen Literaturtransfers – leistete , bevor August Wilhelm Schlegel ab 1797 eine Neuübersetzung in Angriff nahm. Wielands Übertragung steht für die emphatische Hinwendung zu Shakespeare in einer Phase deutscher Anglophilie , Schlegels Neuübersetzung für den verfeinerten und professionalisierten Umgang mit Literatur zur Jahrhundertwende , und damit in der zweiten Phase des britisch-deutschen Literaturtransfers , die dieser Band beschreibt. Die Wende von einem Interesse und Engagement für den britisch-deutschen Literaturtransfer , das sich seiner eigenen Motive und Antriebe kaum bewusst ist , hin zum Denken in Nationen lässt sich auch in der Familie Schiller beobachten. Während Johann Friedrich Schiller , Übersetzer u. a. des wirkungsvollen, von John Hawkesworth

17 Im Brief vom 20. Juli 1827 an Thomas Carlyle FA II 10 , 497 ; vgl. FA I 22 , 433. 18 Vgl. Carsten Zelle : „Eschenburgs ‚Beispielsammlung‘ – ein norddeutsch-protestantischer Kanon ?“, in : Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung. Beiträge zur historischen Kanonforschung , hg. v. Anett Lütteken, Matthias Weishaupt und Carsten Zelle , Göttingen : Wallstein , 2009 , 89–111 , hier 110. 19 Hans J. Weitz : „Miszelle. ,Weltliteratur‘ zuerst bei Wieland“, in : Arcadia 22 ( 1987 ), 206–208 , hier 207. 20 Ebd.

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frei zusammengestellten Berichtes verschiedener Weltreisen, selbst in London lebte und so zu einer Verflechtung des mehrsprachigen Intellektuellennetzwerkes beitrug , knüpfte sein Neffe Friedrich Schiller mit seiner ästhetischen Theoriebildung , seinen Dramen und Balladen an die deutsche , idealistische Wende an, die dem internationalen Austausch in der Folge neue Vorzeichen gab.

Zentren der Anglophilie Anders als im Falle des deutschen Zentrums kultureller Selbstbehauptung , in Weimar und später in Berlin, gestaltet sich die kulturelle Landschaft der Anglophilie im deutschsprachigen Raum des achtzehnten Jahrhunderts weitaus vielfältiger und dezentraler , so dass von Zentren in der Mehrzahl die Rede sein muss. Als solche lassen sich mit Braunschweig , Göttingen, Leipzig , Hamburg , Zürich und Weimar sechs Ballungsräume identifizieren. Im Zuge der Personalunion zwischen dem Kurfürstentum Hannover und dem Königreich Großbritannien von 1714 bis 1837 entstanden in der Gegend des Gesamthauses Braunschweig-Lüneburg rege Verbindungen zu den britischen Inseln.21 Im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel , das zunächst anders als das Kurfürstentum Hannover keine direkten Beziehungen nach London hatte ( das änderte erst 1764 die Hochzeit des Braunschweiger Herzogs Carl Wilhelm Ferdinand mit der Schwester Georgs III. ), wurde 1746 von Herzog Carl I. das für den britisch-deutschen Literaturtransfer so wichtige Collegium Carolinum gegründet. Als Universität für eine Art studium generale in den ersten Studienjahren, orientierte sich das Collegium Carolinum , dessen Leiter Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem mehrfach nach England gereist war , am englischen College-System. Jerusalem rief eine der ersten Professuren für Anglistik ins Leben, die ab 1753 mit dem Bremer Beiträger Johann Arnold Ebert besetzt wurde , der in Braunschweig – wie John Tompson seit 1735 in Göttingen – bereits seit 1748 die englische Sprache unterrichtete. Um Ebert , den Übersetzer von Edward Youngs Night-Thoughts , bildete sich ein Kreis englandaffiner Gelehrter , zu dem neben dem Übersetzer Johann Nicolaus Meinhard auch der Lyriker Friedrich Wilhelm Zachariae gehörte , der nach Johann Jakob Bodmer in Zürich eine Prosa-Übersetzung von John Miltons Paradise Lost anfertigte.22 Beispielhaft für intertextuelle Bezüge zur englischen Literatur seien

21 Die Personalunion liegt in der ehelichen Verbindung des Herzogs Ernst August von Braunschweig mit der letzten protestantischen Enkelin des Stuart-Königs Jakob I. begründet , die damit zur Thronfolgerin ernannt wurde. Sieben Jahre nachdem sich die Parlamente von England und Schottland vereinigt hatten, folgte der Amtsantritt ihres Sohnes Georg. Im Jahr 1756 verständigten sich das britische Königreich und Preußen über die Neutralität des von Georg II. regierten Hannover. Vgl. dazu Ronald G. Asch ( Hg. ): Hannover , Großbritannien und Europa. Erfahrungsraum Personalunion 1714–1837 , Göttingen : Wallstein , 2015. 22 Vgl. dazu Till Kinzel : „Paratexte und Literaturtransfer in der Aufklärung : Johann Arnold Ebert und Friedrich Wilhelm Zachariä als kommentierende Übersetzer von Edward Young und John Milton“, in :

Einleitung 

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Zachariaes eigene satirisch-komische Versepen genannt. Diese orientierten sich an den Werken Alexander Popes , was sich rein formal an der Verwendung der heroic couplets erkennen lässt , die Pope bevorzugt gebrauchte und die in Deutschland bis dahin weitgehend ungebräuchlich gewesen waren, wo Alexandriner und Blankvers vorherrschten.23 So war auch Lessings und Mendelssohns Streitschrift Pope ein Metaphysiker ! ( 1755 ) den Braunschweigern bereits bekannt , bevor Lessing nach Wolfenbüttel und Johann Joachim Eschenburg nach Braunschweig zogen und sich mit philosophischen und poetischen Schriften aus dem Englischen, darunter auch mit den Romanen und Fabeln Samuel Richardsons , auseinandersetzten ( 39–52 ). Im Hannoveraner Umfeld waren die dynastischen Beziehungen durch zahlreiche englische Gäste sowie die Aufführung von Shakespeares Dramen spürbar. So berichtet August Wilhelm Schlegel , dessen Eltern mit den Eschenburgs befreundet waren, begeistert von Aufführungen mit Friedrich Ludwig Schröder als Shylock , Hamlet oder King Lear.24 Von der Nähe zum Raum Braunschweig , Wolfenbüttel und Hannover profitierte Göttingen. Denn hier gründete Georg II. 1734 die Göttinger Universität , die nach dem Siebenjährigen Krieg „der wichtigste Anlaufpunkt britischer Studierender außerhalb der britischen Inseln“ wurde.25 Göttingen kommt eine besondere Rolle im britischdeutschen Kulturtransfer zu , da hier nicht nur kulturelle Güter von der Insel importiert , sondern auch dorthin exportiert wurden. Während der hegemoniale Konflikt zwischen Großbritannien und Frankreich weiter schwelte , wurde Göttingen auch von London aus strategisch in die englische Gelehrtenwelt integriert.26 Die Göttinger Universitätsbibliothek baute zu dieser Zeit die größte Sammlung englischsprachiger Bücher außerhalb Großbritanniens auf. Besonders aktiv in der Auseinandersetzung mit dem Englischen war Lichtenberg , zeitweise wirkten auch Georg Forster und Heinrich Christian Boie in Göttingen. Mehrere Mitglieder der 1772 gegründeten literarischen Gruppe des Göttinger Hainbundes wirkten als Sprachlehrer sowohl für britische als auch für deutsche Studenten , und zwei der Professoren, Haller und Johann David Michaelis , lehrten und forschten auf der Basis ihrer Englandreisen. Zu den Besuchern der Universität zählten

Johann Arnold Ebert. Dichtung , Übersetzung und Kulturtransfer im Zeitalter der Aufklärung , hg. v. CordFriedrich Berghahn, Gerd Biegel , Till Kinzel , Heidelberg : Winter , 2016 , 255–270. 23 Zur geschichtlichen Entwicklung der Versmaße in der deutschen Dichtung , siehe Christian Wagenknecht : Deutsche Metrik. Eine historische Einführung , 5. erweiterte Auflage , München : Beck , 2007 , 82–101. 24 August Wilhelm Schlegel : „Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit Wilhelm Meisters“, in : Die Horen. Eine Monatsschrift , hg. v. Friedrich Schiller , Bd. 6 , Jg. 1796 , 4. Stück , Tübingen : Cotta , 1796 , 57–112 , hier 78. 25 Thomas Biskup : „Das Haus Hannover , das britische Empire und die Naturgeschichte. Gelehrte Praktiken zwischen Universität Göttingen, Weltreich und Dynastie“, in : Hannover , Großbritannien und Europa. Erfahrungsraum Personalunion 1714–1837 , hg. v. Ronald G. Asch , Göttingen : Wallstein , 2015 , 353–381 , 361. 26 Ebd., 374.

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später Samuel Taylor Coleridge sowie Dorothy und William Wordsworth , die wesentlich für die Verbreitung der deutschsprachigen Philosophie nach 1800 in England verantwortlich waren. Und auch die klassische Philologie , in der Deutschland im neunzehnten Jahrhundert einige Bedeutung erlangen sollte , nahm ihren Anfang in Göttingen mit der Gründung des Philologischen Seminars durch Johann Matthias Gesner , das später vom Vergil-Übersetzer Christian Gottlob Heyne fortgeführt wurde. Von hier aus erreichte die Disziplin rasch eine große Ausstrahlungskraft nach Großbritannien, wie die Bibliothekskataloge junger britischer Gentlemen belegen, in denen Heynes Übersetzungen von Vergil , Pindar und Tibull häufig zu finden waren.27 Der Weg eines jungen Briten in die griechische und römische Antike führte nicht selten durch Deutschland. Waren die Universitätsstadt wie auch der benachbarte Braunschweiger Raum Stätten der Erforschung sowie der intertextuellen und pädagogischen Weitergabe der britischen Kultur , so kam Leipzig mit seinen Verlagen und kaufmännischen Innovationen eine führende Stellung in den englandorientierten Sektionen des Buchmarktes zu ( 21–38 ), die durch das Wirken von Luise und Johann Christoph Gottsched noch gefördert wurde. Mehrere Dichter aus Sachsen wurden zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in einer 1744 von Karl Christian Gärtner gegründeten Zeitschrift vereint , den Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes. Wenn auch im Bremer Norden publiziert , handelte es sich um ein Organ der sächsischen Dichterschule , die sich mit ihren freieren poetischen Idealen von Gottscheds Leipziger Vorgängerschrift löste. In den Bremer Beiträgen verbindet sich die dichterische Freiheit , die man an Großbritannien bewunderte , mit einer aufklärerisch moralischen Lehrdichtung. Hier veröffentlichte Friedrich Gottlieb Klopstock die ersten seiner von Miltons Paradise Lost beeinflussten Gesänge des Messias und auch die Englandliebhaber Zachariae , Ebert und Gellert publizierten hier , bevor sie in den Folgejahren eine Anstellung in Braunschweig bekamen. Über Eberts Lehrer Friedrich von Hagedorn, einem mit dem Englischen durch Reisen und Hochzeit eng verbundenen Dichter , der als Kenner der Sprache auch von Klopstock , Bodmer und Lessing konsultiert wurde , tritt Hamburg als ein frühes Zentrum des britisch-deutschen Literaturtransfers in den Blick. Durch die geographische Nähe und günstige Verbindung auf dem Wasserweg zur Insel jenseits des Ärmelkanals waren in Hamburg im Umfeld frühaufklärischer ( Handels- )Beziehungen bereits am Ende des siebzehnten Jahrhunderts drei verschiedene Lehrbücher für die englische Sprache erschienen.28 Sodann wirkten dort der Übersetzer Johann Mattheson, der einige der

27 Siehe Heather Ellis : „Enligthened Networks : Anglo-German Collaboration in Classical Scholarship“, in : Anglo-German Scholarly Networks in the Long Nineteenth Century , hg. v. Heather Ellis und Ulrike Kirchberger , Leiden : Brill , 2014 , 23–38 , 28. 28 Für genauere Angaben auch zu den Lehrbüchern siehe Konrad Schröder : „The Pre-history of English Studies in Germany , 1554 to 1813“, in : Towards a History of English Studies in Europe , hg. v. Thomas Finkenstaedt und Konrad Schröder , Augsburg : Schadel , 1983 , 49–67 , hier 53 f.

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ersten moralischen Wochenschriften nach englischem Vorbild herausgab , indem er sie frei übersetzte ,29 und Barthold Heinrich Brockes , der neben Popes Essay on Man eine Übersetzung von James Thomsons The Seasons anfertigte. Später verdeutschten hier Johann Joachim Christoph Bode Sternes Sentimental Journey und Ludwig Vischer Defoes Robinson Crusoe. Neben den Orten im überwiegend protestantischen Norden Deutschlands bildet die protestantische , schweizerische Universitätsstadt Zürich einen fünften Knotenpunkt im britisch-deutschen Transfer , so dass sich die konfessionelle Prägung für die Entwicklung einer englandaffinen Ausrichtung als entscheidender erweist als die geographische Nähe zu den britischen Inseln. Der in Zürich wirkende Bodmer steckte Wieland und Klopstock mit seiner Begeisterung für die britischen Schriften an und stand in Kontakt zu einer Reihe von Übersetzern. In seinem Umfeld wurden neben einer auffallend hohen Zahl theologischer Abhandlungen auch Thomson, Swift , und Gray übersetzt. Neben Bodmers eigener aufwändiger Milton-Übersetzung war auch seine Beschäftigung mit Addisons Imaginationstheorie folgenreich für die in Zürich entstehenden Passagen über das Wunderbare in der Dichtkunst.30 Übrigens wurde die konfessionelle Dimension in der Englandrezeption um 1800 von neuen politischen Erwägungen abgelöst , etwa der Konkurrenz zwischen Preußen und Habsburg ( 66–69 , 217–236 ). Zwar war Berlin bis 1810 keine Universitätsstadt , doch die Hauptstadt des Königreichs Preußen war sowohl zur Zeit Friedrich Nicolais als auch zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts relevant für die politische Dimension des britisch-deutschen Literaturtransfers. In Weimar schließlich setzte Wieland mit seiner Shakespeare-Übersetzung ein Zeichen, das Johann Gottfried Herder und Goethe , aber ebenso die Frühromantiker Schlegel und Tieck in Jena zur intensiven Auseinandersetzung mit dem englischen Dichter anregte.31 Bereits bevor die Weimarer Bibliothek und ihre Sammlung englischsprachiger Bücher durch Goethes Kontakte nach London einen beachtlichen Umfang erreichte , notierte Herder : Von den Engländern selbst [ sind ] ihre treflichsten Schriftsteller kaum mit so reger treuer Wärme aufgenommen worden, als von uns Shakespeare , Milton, Addison, Swift , Thomson, Sterne , Hume , Robertson, Gibbon, aufgenommen sind. Richardson’s drei Romane haben in Deutschland ihre goldene Zeit erlebet ; Young’s Nachtgedanken, Tom Jones , Der Landpriester , haben in

29 Dirk Hempel : „Der Vernünfftler – Johann Mattheson und der britisch-deutsche Kulturtransfer in der Frühaufklärung“, in : Johann Mattheson als Vermittler und Initiator , hg. v. Wolfgang Hirschmann und Bernhard Jahn, Hildesheim : Olms , 2010 , 99–113 , 104 ff. 30 Vgl. Price : The Reception of English Literature , 32. 31 Die besondere Beziehung Weimars zu Shakespeare gipfelte 1864 in der Gründung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft , der weltweit ältesten Gesellschaft dieser Art , die bis auf den heutigen Tag besteht und ihren Sitz in Weimar hat.

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Deutschland Sekten gestiftet. [ … ] Und wer wäre es , der die Schotten Ferguson, Smith , Stewart , Millar , Blair nicht ehrte ?32

Ob sich in einer derartigen Vereinnahmung britischer Literatur lediglich reine Bewunderung äußert , bleibt jedoch fraglich. In seiner auf Freuds Schriften zur Massenpsychologie basierenden Analyse gesellschaftlicher Neidstrukturen hat der österreichische Philosoph Robert Pfaller darauf hingewiesen, dass es beim Neid „nicht darum [ gehe ], dass wir etwas haben, sondern darum , dass der Andere es nicht hat.“33 Herders Behauptung , dass Shakespeare und andere britische Schriftsteller nur in Deutschland richtig hätten wirken können, erscheint vor dem Hintergrund von Pfallers Analyse als Beleg für das sich ausbildende Rivalitätsdenken im aufstrebenden deutschen Kulturraum. Denn, so Pfaller weiter , es werde „[ n ]icht der ganz Andere [ … ] von mir beneidet , sondern [ … ] der Nachbar , der Verwandte oder der Berufskollege – also derjenige , der in einer ähnlichen [ … ] Situation lebt wie ich.“34 Und tatsächlich schreibt Herder im gleichen Brief , die Briten seien „die auf eine Insel verpflanzten Deutschen“.35 Der sich in derartig begeisterter Aneignung bekundende Neid bezeugt also nicht , wie vielleicht anzunehmen wäre , ein mangelndes Selbstvertrauen, sondern im Gegenteil ein starkes Selbstbewusstsein, das sich der eigenen Ähnlichkeit mit dem Beneideten sicher wähnt ; es ist , mit Freud gesprochen, der „Narzissmus der kleinen Differenzen.“36 Herders Formulierungen erscheinen auch hier entlarvend , wenn er angesichts des britischen Nationalruhms schreibt : „Wir streben aber und wollen werden.“37

Dynamisches und weit verzweigtes Netzwerk Über diese sechs Zentren verdichteter Kommunikation hinaus ergab sich im Austausch der Gelehrten ein weit verzweigtes Netz britischer Bezüge , das die literarische Landschaft im betrachteten Zeitraum prägt. Reisen und Reiseberichte , Briefwechsel und Tagebuchnotizen, Übersetzungen sowie intertextuelle Bezugnahmen bestimmen das breite Feld des britisch-deutschen, aber auch des deutsch-britischen Transfers. Die

32 Johann Gottfried von Herder : Sämmtliche Werke , hg. v. Bernhard Suphan, Berlin : Weidmann , 1877– 1913 , Bd. 18 , Briefe zu Beförderung der Humanität [ 1793–1797 ], 9. Sammlung , Nr. 114 , 204–208 , hier 208. 33 Robert Pfaller : Wofür es sich zu leben lohnt : Elemente materialistischer Philosophie , Frankfurt a. M.: Fischer , 2012 , 103. Bei der von Pfaller in diesem Zusammenhang erwähnten Schrift Freuds handelt es sich um den Essay „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ von 1921. 34 Ebd., 102. 35 Herder : Briefe zu Beförderung der Humanität , 208. 36 Sigmund Freud : Das Unbehagen in der Kultur , in : ders., Studienausgabe. Bd. IX. Frankfurt a. M.: Fischer , 1993 , 191–270 , hier 243. Diese Stelle wird auch von Pfaller zitiert , siehe Pfaller : Wofür es sich zu leben lohnt , 102. 37 Herder : Briefe zu Beförderung der Humanität , 208.

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Herstellung persönlicher Bekanntschaften erforderte Ortswechsel , die ähnlich wie der Transport der Schriften über den Kanal ein sich ständig in Bewegung befindliches System des Austausches zwischen beiden Sprachräumen bildeten, von dem jeweils nur Momentaufnahmen gemacht und verbunden werden können. Dabei spielten Personen eine ebensogroße Rolle wie – häufig anonyme – Schriften, Gegenstände und Konzepte , die sich gegenseitig anstießen und Reaktionen provozierten.38 Insbesondere wenn Rezensionen ohne Angabe des Verfassers veröffentlicht wurden, war die Bedeutung der Person des Autors ungeachtet eventueller Autorschaftsspekulationen gering , während die formulierten Inhalte und Auffassungen durchaus große Breitenwirkung haben konnten. Die Netzwerke , die sich durch den Transfer der Schriften ergaben, entfalteten von den Landes- und Sprachgrenzen unabhängige Dynamiken. Einblicke in diese Dynamiken gewähren die Vergleiche verschiedener Druckfassungen mit nachgetragenen Verweisen und Ergänzungen ( 71–92 ), das Nachverfolgen von Bekanntschaften und Gesprächen innerhalb der Welt der Gelehrten (  21–38 , 71–92  ) sowie die Rekonstruktion strategischer Überlegungen von Schriftstellern (128–136 ). Auf diese Weise entstehen Bilder von Wissensströmen, die den Austausch zwischen Großbritannien und den deutschen Kleinstaaten von Hamburg bis nach Zürich – und auch nach Königsberg und Prag ( 53–70 ) – ebenso zeigen, wie sie durch signifikante Unterschiede auf die Pluralität philosophischer , ästhetischer , lebenspraktischer und wissenschaftlicher Kulturen im Europa des langen achtzehnten Jahrhunderts aufmerksam machen. Die Aufsätze des Bandes beschreiben verschiedene , zum Teil ineinandergreifende Handlungszusammenhänge , Entwicklungen und Einflussnahmen des Literaturtransfers. So ist es anhand von Briefen möglich , die Vielzahl der Übersetzer zu ermitteln, die manchmal parallel an einer Übersetzung arbeiteten , ohne namentlich genannt zu werden ( 30–36 ). Nicht selten waren im achtzehnten Jahrhundert Übertragungen oder Imitationen wirkmächtiger als die Schriften in der Originalsprache , ein Umstand , der belegt , dass die Flexibilität der nachfolgenden Hypertexte ein wesentlicher Faktor für die Kanonisierung des Hypotextes ist. Ohne den Gedanken an einen intrinsischen ästhetischen Wert der Hypotexte vollends aufgeben zu wollen, ist für die in diesem Band angestellten Überlegungen der Gedanke zentral , dass der Hypotext seinen kanonischen Status zu einem Großteil seiner Qualität verdankt , eine hohe Quantität an Hypertexten auszulösen. Der heutige Stellenwert der Höhenkammliteratur spiegelt , wie Walter Benjamin gezeigt hat ,39 selten die tatsächliche Beliebtheit viel gelesener Schriften der Zeit , die jedoch relevant wird , wenn es um eine adäquate Geschichtsschreibung

38 Vgl. Bruno Latour : „On Actor Network Theory. A Few Clarifications“, in : Soziale Welt 47 ( 1996 ), 369–381. 39 Walter Benjamin : „Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben“ [ 1932 ], in : ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser , Band IV. 2 , Frankfurt a. M.: Suhrkamp , 1972 , 641–670.

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britisch-deutschen Literaturtransfers geht. Den großen Netzwerkern der Aufklärung wie Friedrich Nicolai oder Goethe kommt nicht nur wegen ihrer Autorschaft oder dem nachträglichen Anlegen autonomieästhetischer Wertmaßstäbe an ihre Schriften, sondern auch wegen ihrer Korrespondenzen und Gespräche eine wesentliche Stellung zu. Der im achtzehnten Jahrhundert ohnehin sehr breite Literaturbegriff , der neben poetischen auch wissenschaftliche Schriften umfasste ( 72–75 ),40 wird durch editorische und übersetzerische Vorgänge sowie Konversationen und Reisen zu einem heterogenen Netz von Beziehungen und Reaktionen erweitert.

Wechselseitiger Austausch Aus der Komplexität der Transfersituationen, wie sie in den Beiträgen dieses Bandes dargestellt werden, ergibt sich notwendig die Betrachtung der Wechselseitigkeit im Austausch von Schriften, Ideen, Gegenständen und Moden zwischen dem deutsch- und dem englischsprachigen Raum. Diese Gegenseitigkeit zu zeigen ist umso wichtiger , wenn man den Argwohn beobachtet , der dem aufstrebenden britischen Weltreich gegenüber im achtzehnten Jahrhundert gelegentlich aufscheint. So bezeichnet im Jahr 1764 ein anonymer Rezensent in Königsberg die Briten etwa als „jene stolze Insulaner“, „die sich gern für die einzige kluge Völkerschaft auf der Welt möchten gehalten wißen“ und empfiehlt ihnen Impulse von den „systematischen Köpfen der Deutschen“.41 Ohne ähnliche Vorurteile bestätigen und Stereotypen fortschreiben zu wollen, lässt sich bezogen auf literarische , theologische und philosophische Schriften der frühen Aufklärung beobachten, dass der Literaturtransfer , wie bereits erwähnt , relativ unidirektional von West nach Ost verlief. Unter den Gelehrten im deutschen Sprachraum war das Interesse an Großbritannien deutlich größer als das britische Interesse an den deutschsprachigen Schriften.42 Eher und trotz der konfessionellen Diskrepanz orientierte man sich dort an Frankreich und Italien.43

40 Vgl. David Damrosch : How to Read World Literature. Oxford : Wiley-Blackwell , 2009 ; Mark-Georg Dehrmann : „Das Unbehagen des Universalhistorikers an der Historie. Eschenburg und die Geschichte der Poesie“, in : Johann Joachim Eschenburg und die Künste und Wissenschaften zwischen Aufklärung und Romantik , hg. v. Cord-Friedrich Berghahn und Till Kinzel , Heidelberg : Winter , 2013 , 75–94 , hier 80. 41 Rezension zu Henry Homes Elements of Criticism , 5. 5.  1764 , Königsbergsche Gelehrte und Politische Zeitungen, 10. Stück , 38 f. 42 Dass die Geschichte der Germanistik in Großbritannien erst über ein Jahrhundert nach der Einrichtung der ersten anglistischen Lehrstühle an deutschsprachigen Universitäten beginnt , spricht jedoch lediglich für die deutlich frühere akademische Ausdifferenzierung der Philologien im deutschsprachigen Raum. 43 Auch hier gab es prominente Gegendiskurse , wie etwa die Ressentiments gegen den MacaroniClub in England ab den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts. Vgl. Amelia Rauser : „Hair , Authenticity , and the Self-Made Macaroni“, in : Eighteenth-Century Studies 38 :1 ( 2004 ), 101–117 , insbesondere 105–107.

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Erst gegen Ende des Jahrhunderts , mit der Blüte der deutschsprachigen Literatur und Philosophie um 1800 und dem Wirken Samuel Taylor Coleridges ( 203–206 ) kam es zu einem mehr als bloß akzidentellen gegenseitigen Transfer und Wettstreit , und im Jahre 1825 konnte ein englischer Besucher in Weimar Goethe vermelden : „Das Interesse für die deutsche Sprache [ … ] ist jetzt in England groß und wird täglich allgemeiner , so daß jetzt fast kein junger Engländer von guter Familie ist , der nicht deutsch lernte.“44 Diese Feststellung nahm Goethe freudig auf , nicht ohne jedoch dem Besucher zu berichten, dass die Bewunderung der Deutschen für Großbritannien sehr viel älter sei : „Wir Deutschen, versetzte Goethe freundlich , haben es jedoch Ihrer Nation in dieser Hinsicht um ein halbes Jahrhundert zuvorgethan. Ich beschäftige mich seit fünfzig Jahren mit der englischen Sprache und Literatur , so daß ich Ihre Schriftsteller und das Leben und die Einrichtung Ihres Landes sehr gut kenne.“45 Dennoch lässt sich auch ein deutsch-britischer Kulturtransfer beschreiben, wenngleich die Literatur darin bloß eine Nebenrolle spielt ; er vollzog sich primär in den Bereichen der Musik , der Philosophie , den Naturwissenschaften und der Wirtschaft. Bereits 1709 , im Jahr , in dem Popes Essay on Criticism entstand , zwei Jahre nach der Vereinigung von England und Schottland und in Reaktion auf eine neue , liberalere Gesetzgebung in Großbritannien,46 waren Tausende Deutsche aus dem von Frankreich eingenommenen Würzburg und der Kurpfalz nach England geflüchtet. Drei Jahre später ging Georg Friedrich Händel nach England , um dort bis zu seinem Lebensende zu wirken. 1756 fertigte der englische Maler Thomas Hudson ein Ölportrait an, das den 71-jährigen Komponisten im Glanz seiner britischen Karriere zeigt. Zu dieser Zeit geschah auch der Transfer naturwissenschaftlicher Schriften : So reiste beispielsweise Lichtenberg im Oktober 1774 nach England , um König Georg III. das von ihm herausgegebene Buch der Schriften und Karten des deutschen Astronomen Tobias Mayer zu übergeben. Ebenso fanden philosophische Schriften aus den deutschen Territorien den Weg auf die britischen Inseln, etwa das Pufendorf’sche Naturrecht oder die Leibniz’sche Kritik an John Lockes Werk An Essay Concerning Human Understanding , wenngleich diese Werke zu einem großen Teil auf Latein und nicht auf Deutsch verfasst waren.47 Leibniz hatte seine Schrift Nouveaux essais sur l’entendement humain, mit der er die empiristische Denkweise Lockes nachdrücklich in Frage stellte , bereits

44 FA II; 12 , 132 , 10. Januar 1825. 45 Ebd. 46 Vgl. Margrit Schulte Beerbühl : „Commercial Networks , Transfer and Innovation. The Migration of German Merchants to England 1660–1800“, in : Migration and Transfer from Germany to Britain 1660–1914 , hg. v. Stefan Manz , Margrit Schulte Beerbühl und John R. Davis , München : Saur , 2007 , 19–36 , hier 22. 47 Auch umgekehrt wurden englische Schriften ins Lateinische übersetzt und im deutschen Sprachraum auf Latein kommentiert , um sodann ins Englische rückübersetzt zu werden. Ein Beispiel dafür ist Johann Lorenz von Mosheims Übersetzung von Ralph Cudworths True Intellectual System of the Universe.

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1703 geschrieben, sie jedoch nicht veröffentlicht. Als Rudolf Erich Raspe ankündigte , die Schrift nun herauszugeben, nachdem sie 60 Jahre lang in einer Hannoverschen Bibliothek verborgen geblieben war , zeigten sich Vertreter des englischen Königshauses um Georg III. besorgt um den guten Ruf der Philosophie ihres Landsmannes und ließen sich nur durch diplomatische Schritte auf deutscher Seite beruhigen.48 Der Herausgeber Raspe war eine schillernde Figur im wechselseitigen Austausch zwischen beiden Sprachräumen. In Hannover geboren, studierte er in Göttingen ( 1756 auch in Leipzig ) und knüpfte bereits früh Kontakte zu englischen Reisenden, so etwa zum Präsidenten der Royal Society , Sir John Pringle , der König Georg III. in einem Brief berichtete , das umfangreiche Wissen des deutschen Forschers über Bergbau könne Großbritannien von Nutzen sein.49 Schon bevor Raspe 1775 nach London floh ( man hatte herausgefunden, dass er Münzen gestohlen hatte ), übertrug er den Ossian sowie Thomas Percys Volksliedersammlung ins Deutsche und lehrte die englische Literatur als Professor in Kassel.50 Von England aus übersetzte er Lessings Nathan der Weise , beteiligte sich an der Übersetzung von Forsters A Voyage Round the World ins Deutsche und verfasste einen Reisebericht über den englischen Bergbau. In seinen Schriften präsentiert er sich als ein Bewunderer des des besonderen Freiheit der Menschen im Königreich und als überzeugter Verfechter des Fortschritts ( seine Hauptarbeitgeber in Großbritannien waren Boulton und Watt , die im Zuge der industriellen Revolution die erste Dampfmaschine auf den Markt gebracht hatten ).51 Er verfasste schließlich in englischer Sprache und noch vor Gottfried August Bürgers bekannter deutscher Bearbeitung den Roman des Lügenbarons Münchhausen. An der schnellen Verbreitung der erweiterten Übertragungen des Romans ins Deutsche durch Bürger zeigt sich die Schwierigkeit , den britischen und den deutschen Buchmarkt zu trennen. Ähnlich wie bei Raspes anonym veröffentlichtem Erfolgsbuch ist es auch in Fällen wie Cooks Reisebericht schwer zu entscheiden, ob die deutschen Gelehrten, welche die jeweiligen Schriften im Original lasen, noch zum Radius des englischen Buchmarktes gehörten ( 128–130 ), oder ob nicht beide Märkte bereits zur in diesem Band umrissenen Zeit zusammenzuwachsen begannen.

48 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik : „Ein Fund von weltgeschichtlicher Bedeutung. Raspes Edition von Leibniz’ Nouveaux Eassais“, in : Der Münchhausen-Autor Rudolf Erich Raspe. Wissenschaft – Kunst – Abenteuer , hg. v. Andrea Linnebach , Kassel : Euregio , 2005 , 56–65. 49 Briefwechsel zwischen Raspe und Sir John Pringle 1766–1768 , Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel , zitiert nach Ulrich Schnakenberg : Raspe und die Anfänge der industriellen Revolution in Großbritannien, in : Der Münchhausen-Autor Rudolf Erich Raspe , 46–55 , hier 48. 50 Vgl. Eberhard Mey : „Rudolf Erich Raspe als Professor am Collegium Carolinum“, in : Der Münchhausen-Autor Rudolf Erich Raspe , 98–108 , hier 99. 51 Rudolf Erich Raspe : Vorwort. Übersetzung , in : Baron Inigo Born : Travels Through the Bannat of Temeswar , Transylvania , and Hungary ; John Ferber’s Mineralogical History of Bohemia. Aus dem Deutschen übersetzt von Rudolf Erich Raspe , London : Miller , 1777 , i–xxxix, hier xiii.

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Schließlich formierte sich das deutsch-britische Netzwerk in seiner Wechselseitigkeit auch um den Züricher reformierten Theologen und Physiognomiker Johann Kaspar Lavater. Bereits in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts existierten in Großbritannien zwölf unterschiedliche Übersetzungen von Lavaters Physiognomischen Fragmenten.52 Auch die englische Königin zählte zu Lavaters Bewunderern und überreichte 1785 dem zu Besuch in London weilenden Lichtenberg eine Kopie der Fragmente : ein folgenschweres Ereignis , das kurz darauf den mit großer polemischer Schärfe geführten Physiognomik-Streit zwischen Lavater und Lichtenberg auslöste. Die allgemeine Bewunderung , die Lavater zuteilwurde , führte zahlreiche britische Besucher nach Zürich , darunter auch Prinz Edward , Vater der späteren Königin Viktoria , den Historiker William Coxe oder die Dichterin und Übersetzerin Helen Maria Williams. Zahlreiche weitere Briten korrespondierten mit dem Schweizer Physiognomiker , seien es Verehrer wie der Dichter William Cowper oder Kritiker wie die Schriftstellerin Hannah More.53 Nicht nur als zentrale Figur im Netzwerk des hier beschriebenen Kulturtransfers kommt Lavater Bedeutung zu , sondern auch als Impulsgeber literarischer Techniken der Wirklichkeitsdarstellung , die in der englischen Literatur bis ins späte neunzehnte Jahrhundert nachweisbar sind. Entscheidend an den hier skizzierten Überlegungen ist jedoch der Umstand , dass sich spätestens um das Jahr 1800 der bis dahin tendenziell einseitige Literaturtransfer zu einem bilateralen Netzwerk entwickelte und die eingangs erwähnte kulturelle Ausstrahlungskraft Großbritanniens von Deutschland aus auf die Insel zurückzustrahlen begann.

Beschreibung des britisch-deutschen Transfers Die Beiträge dieses Bandes entsprechen jeweils einer von vier Methoden der Annäherung an den britisch-deutschen Transfer. Das sind erstens die Analyse von Reiseberichten ( 127–169 ), zweitens die Beschreibung und Analyse von Übersetzungen ( 21–52 ; 71–92 ; 113–125 ), drittens der Vergleich der ästhetischen Diskurse in beiden Sprachräumen ( 53–92 ) und viertens die Beschreibung intertextueller Bezugnahmen auf Werke aus dem englischen Sprachraum ( 93–112 ; 127–151 ; 171–235 ). Zunächst wurde die britische Kultur durch die zunehmende Reisefreudigkeit der Deutschen bekannt. Es entstanden zahlreiche Reiseberichte , zu deren Auswertung die Beiträge dieses Bandes beitragen. Von besonderer Anziehungskraft war die Hauptstadt Großbritanniens. Denn London hatte hinsichtlich seiner Größe , seiner kulturellen Vielfalt und der Geschwindigkeit neuer Entwicklungen auch in den Bereichen des Lesens , Schreibens und Verlegens sowie des Museumswesens kein Pendant im

52 John Graham : „Lavater’s Physiognomy in England“, Journal of the History of Ideas 22.4 ( 1961 ), 561–572 , hier 562. 53 Graham : „Lavater’s Physiognomy in England“, 565–566.

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deutschsprachigen Raum.54 Londonreisen stellten ein besonderes Erlebnis dar , und die britische Hauptstadt zog die unterschiedlichsten Reisenden aus aller Welt an : Großstadttouristen, Freiheitsuchende , Kulturinteressierte und solche , die die britischen Gesellschaftsstrukturen beobachten wollten, zumal das vergleichsweise gut ausgebaute Verkehrsnetz in Großbritannien ein bequemes Reisen ermöglichte. Die deutschen Englandtouristen bereisten ein Land , das ihnen durch die literarischen Vermittlungen bereits bekannt zu sein schien, sei es durch deutschsprachige Übersetzungen englischer Werke oder durch deutsche Literatur , deren Handlung in Großbritannien angesiedelt war ( 159–163 ). Die stetig wachsende Zahl deutschsprachiger Englandreisender konnte auf ihren Touren das literarische mit dem tatsächlichen England vergleichen – und nicht selten erwies sich die literarische Vorprägung als derart stark , dass das fiktive England die Wahrnehmung des realen beeinflusste. Unterschiede zwischen den Ländern werden auch an Übersetzungsproblemen deutlich. Denn Übertragungen englischsprachiger Texte ins Deutsche sind nicht bloß eine Frage der adäquaten Wortwahl. Mit Worten wie beispielsweise ‚Seele‘ oder mind sind kulturelle Konzepte und Traditionen verbunden, die sich in beiden Sprachräumen unterscheiden ( 79–83 ). Zwischen 1756 und 1832 vollzog sich ein Wandel von der wörtlichen hin zur sinngemäßen Übersetzung , wie sie Johann Arnold Ebert in seiner aufwendigen Übersetzung der Night-Thoughts anstrebte. Dennoch lassen sich an Übertragungen für den eigenen Gebrauch , wie in Lenz’ Beschäftigung mit Alexander Pope , die Grenzen des Verständnisses nachvollziehen, vor allem , weil sich die Hürden nicht nur im Sprachlichen, sondern auch im Bereich des fehlenden Wissens um die parteipolitischen Ereignisse in London aufstellten ( 122–123 ). Anknüpfend an die oben genannten Zentren des Transfers lassen sich in den Städten Leipzig , Göttingen und Hamburg für den hier betrachteten Zeitraum kleine Gruppen von Übersetzern ausmachen, die zum Teil gemeinsam arbeiteten.55 Die beiden Sprachräume gingen auch unterschiedliche Wege in der ästhetischen Theoriebildung. Zwar sprach man in Großbritannien über Kants Kritik der Urteilskraft , sie wurde allerdings erst 1892 ins Englische übersetzt. Als einer der ersten schlug Cole-

54 Auch wenn sich die Entwicklung hin zu sechs Millionen erst im neunzehnten Jahrhundert vollzog , überschritt London die Millionengrenze bereits im späten achtzehnten Jahrhundert. Der erste in Großbritannien durchgeführte Zensus von 1801 zählte für das als Greater London bekannte Gebiet bereits 1. 011. 157 Einwohner , während mit Ausnahme Wiens keine der Städte in den deutschen Territorien über 180. 000 Einwohner reichte. Wien wuchs bis 1800 auf 231. 000 an und erreichte auch 1849 nur 426. 000 Einwohner. London zählte zu diesem Zeitpunkt bereits zweieinhalb Millionen und sollte sich in kurzer Zeit zur größten Metropole der Welt entwickeln. Für die Bevölkerungsentwicklung Londons siehe GB Historical GIS / University of Portsmouth , London GovOf through time | Population Statistics | Total Population, A Vision of Britain through Time , http ://www.visionofbritain.org.uk/unit/10097836/ cube/TOT_POP, letzter Zugriff 3. Juli 2015. 55 Vgl. Jacob N. Beam : Die ersten deutschen Übersetzungen englischer Lustspiele im 18. Jahrhundert. Hamburg / Leipzig : Voss , 1904 , 12 ff.

Einleitung 

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ridge eine dem deutschsprachigen Gebrauch entsprechende Verwendung von aesthetic vor , da die englische Sprache kein anderes Adjektiv biete , welches das Zusammenfallen von „form , feeling , and intellect“ auszudrücken vermöge.56 Noch 1832 wird der Begriff Ästhetik und mit ihm die philosophische Denkweise auf den britischen Inseln skeptisch besprochen, denn auch innerhalb der deutschen Verwendung , so der scharfsinnige , aber anonym bleibende Kritiker , schwanke die Bezeichnung ,ästhetisch‘ zwischen metaphysischen und wahrnehmungstheoretischen Beobachtungen und sei keineswegs im allgemeinverständlichen Sinne etabliert.57 Die deutschsprachige Ästhetik orientierte sich über den gesamten Zeitraum des Jahrhunderts hinweg an den britischen Vordenkern, während der Begriff dort kaum existierte. Das ist beispielhaft für die kulturellen Differenzen und unterschiedlichen Praktiken der Disziplinbildung. Die Perspektive des britisch-deutschen Netzwerks leistet einen Beitrag zur Literaturgeschichtsschreibung , indem sie ideen- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge ins Bewusstsein rückt , die im Rahmen national begrenzter Historiographien verborgen bleiben und auch unter einem gesamteuropäischen Blickwinkel weniger deutlich zu Tage treten. Beispielhaft für das Verfolgen von größeren literarhistorischen Zusammenhängen ist die Ausrichtung der Universitätsästhetik in Prag , an der sich ablesen lässt , dass die Bildungspolitik des Habsburgerreiches bis 1822 britisch beeinflusste Lehrbücher im Bereich der schönen Künste und Wissenschaften vorschrieb , wohl um sich von idealistischen Einflüssen aus Königsberg und Weimar freizuhalten ( 53–70 ). Diese Beobachtung steht im Spannungsverhältnis dazu , dass die Kaiserin Maria Theresia noch im Jahr 1778 aus Sorge vor religions- und sittenverderblichen Prinzipien bestimmt hatte , dass die englische Sprache an Universitäten ihres Königreiches nicht gelehrt werden sollte.58 Verwendet wurde dort jedoch das ästhetiktheoretische Überblickswerk und Lehrbuch von Eschenburg , anhand von dessen Verarbeitung empiristischer und rhetorischer Theorien von Henry Home und Hugh Blair sich ein deutlicher Einfluss aus dem schottischen Raum zeigen lässt ( 71–92 ). So wird das bekannte Verbot vom österreichischen Hof durch die Auswertung des Archivmaterials aus der Prager Universität in seiner Wirkung relativiert. Selbst autonomieästhetische Konzepte um den prometheischen Künstler , um das Erhabene , das Klassische oder das Romantische , die zum Ende des Jahrhunderts besonders relevant werden, erhalten im Vergleich mit den britischen Schriften neue Kontur. Der Diskurs um die ästhetischen Theorien wird durch die frühe Erwähnung des Prometheus in Shaftesburys poetischen Schriften, die neoklassizistische Essayistik

56 Samuel Taylor Coleridge : „Selection from Mr Coleridge’s Literary Correspondence“ ( 1821 ), in : The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge , Vol. 11 : Shorter Works and Fragments , hg. v. H. J. Jackson und J. R. de J. Jackson, Routledge : Princeton University Press , 1995 , 938. 57 W. [ Anonymus ]: „On English Adjectives“, in : The Philological Museum 1 ( 1832 ), 369. 58 Konrad Schröder : Die Entwicklung des Englischunterrichts an den deutschsprachigen Universitäten bis zum Jahre 1850 , Ratingen : Henn, 1969 , 28 , 204.

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 Lore Knapp und Eike Kronshage

Alexander Popes (116–119 ), den Vergleich der Konzepte des Erhabenen bei Edmund Burke und Kant oder die differierenden Verständnisweisen des Romantischen in beiden Sprachräumen (201–216 ) in Bewegung gebracht. Die komparatistische Perspektive bewirkt ein Umdenken im Verständnis der poetischen Konzepte und ordnet auch solche Literaturgeschichtsauffassungen neu , die sich auf den deutschen Sprachraum konzentrieren. Eine besondere Rolle im englandaffinen Netzwerk und bei der Verbreitung britischer Schriften spielten neben den Reisen, Übersetzungen, Übersetzungsverhandlungen und -verträgen, Buchbestellungen ( 21–38 ) und Lektüren die zahlreichen Imitationen englischer Romane. Angesprochen ist damit viertens die Rolle der intertextuellen Bezugnahmen im Transfer des britischen Gedankengutes in den deutschen Sprachraum. Zu dieser Bewegung trugen das Pastiche von Wieland und Bodmer zu Richardsons Grandison bei oder auch Romane wie Christoph Friedrich Nicolais Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Selbaldus Nothanker , Johann Karl Wezels Lebensgeschichte Tobias Knauts oder August von Kotzebues Die Geschichte meines Vaters , oder wie es zuging , daß ich geboren wurde ,59 die von Tristram Shandy inspiriert sind. Johann Karl Wezels Bearbeitung des Robinson Crusoe ist zudem an der Vierstufentheorie von Adam Smith orientiert und knüpft damit an die schottische Philosophie an ( 101–104 ). In manchen Fällen führte der Literaturtransfer auch zu Verlagerungen in der Rezeption. Etwa war Popes Epilog zu den Satiren, den Jakob Michael Reinhold Lenz in den siebziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts zu übersetzen begann, in England weniger im Gespräch als Lenz’ Beschäftigung mit dem Versgedicht vermuten lässt ( 121–122 ). So öffnen die verschiedenen Bereiche der Analyse des britisch-deutschen Literaturtransfers den Blick für kulturelle Diskrepanzen ebenso wie für die bereits im ausgehenden achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhundert bestehenden Verflechtungen des Denkens und Schreibens zwischen beiden Sprachräumen.

59 Duncan Large : „ ‚Sterne-Bilder‘: Sterne in the German-Speaking World“, in : The Reception of Laurence Sterne in Europe , hg. v. Peter de Voogd und John Neubauer , New York : Thoemmes , 2004 , 68–84 , hier 73.

Martin Munke

Philipp Erasmus Reich und die Verbreitung britischer Literatur in Deutschland Import und Übersetzung Einen „göttlichen Mann“ habe er in England getroffen, der Abschied sei von Tränen und Umarmungen geprägt gewesen : Eine „gegenseitige Zärtlichkeit beraubte uns der Sprache.“1 Nur wenige Wochen hatte der Leipziger Verleger Philipp Erasmus Reich ( 1717–1787 ) in den Monaten Juli und August des Jahres 1756 den englischen Schriftsteller Samuel Richardson ( 1689–1761 ) auf dessen Landsitz besucht. Gleichwohl schienen sie eine intensive Beziehung aufgebaut zu haben, die brieflich bereits einige Jahre zurückreichte. Und allein die Tatsache , dass er diese Reise zu einem der Autoren, die er in Übersetzung auf den deutschen Markt brachte , auf sich nahm , zeigt die Bedeutung , welche die britische Literatur im Allgemeinen und die Werke Richardsons im Besonderen für das unternehmerische Wirken Reichs als „einem der großen Vermittler zwischen Deutschland und seinen intellektuell und literarisch interessanten Nachbarn“2 aufweisen. Ein wichtiger Teil des Verlagsprogrammes der von Reich in Leipzig geleiteten Weidmannschen Buchhandlung bestand nämlich aus Übersetzungen aus dem Englischen. Das Unternehmen bildete damit eine wichtige Vermittlungsinstanz für die Rezeption der angelsächsischen Literatur im deutschsprachigen Raum in einer Zeit , da Englischkenntnisse noch wenig verbreitet waren, auch wenn sie in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zunahmen.3 Außerdem war Reich , der die Sprache wohl selber beherrschte ,4 auch einer derjenigen deutschen Buchhändler auf dem Kontinent , die englische

1 Reich zit. nach [ Mark Lehmstedt : ] Philipp Erasmus Reich. 1717–1787. Verleger der Aufklärung und Reformer des deutschen Buchhandels , Leipzig : Kustodie d. Karl-Marx-Universität , 1989 , 66. 2 Horst Fabian : „Philipp Erasmus Reich“, in : Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 39 : 3 ( 1990 ), 348–455 , hier 355. Vgl. zum Themenfeld ‚Reich und England‘ Martin Munke : „Deutsche Verleger des Aufklärungszeitalters in und über England – Archenholz , Campe , Reich“, in : Deutsche Englandreisen /  German Travels to England , 1550–1900 , hg. v. Frank-Lothar Kroll und Martin Munke , Berlin : Duncker und Humblot , 2014 , 237–260 , hier 241–247. 3 Vgl. Eva Maria Inbar : „Zum Englischstudium im Deutschland des XVIII. Jahrhunderts“, in : Arcadia 15 ( 1980 ), 14–28 ; Friederike Klippel : Englischlernen im 18. und 19. Jahrhundert. Die Geschichte der Lehrbücher und Unterrichtsmethoden, Münster : Nodus , 1994 , 39–43. 4 Vgl. neben den älteren Studien des Horst Oppel-Schülers Bernhard Fabian ( The English Book in Eighteenth-Century Germany , London : The British Library , 1992 ; „Die Meßkataloge und der Import englischer Bücher nach Deutschland im achtzehnten Jahrhundert“, in : ders.: Selecta Anglicana. Buchgeschichtliche Studien zur Aufnahme der englischen Literatur in Deutschland im achtzehnten Jahrhundert , Wiesbaden : Harrassowitz , 1994 , 141–153 ; „English Books and Their Eighteenth-Century German Readers“, in : ebd.,

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 Martin Munke

Literatur in Originalsprache importierten. Diese Rolle und die Bedeutung Reichs für den Literaturtransfer von den britischen Inseln in die deutschen Staaten sollen im Folgenden genauer dargestellt werden. Dabei ist zunächst Reichs Tätigkeit im Kontext des deutschen Buchhandels- und Verlagswesens des achtzehnten Jahrhunderts zu skizzieren, denn die Reich’schen Reformen auf diesem Sektor weisen mehrere Englandbezüge auf. Anschließend soll das „britische Segment“ seines Hauses in den Ausprägungen Import und Übersetzung genauer untersucht werden. Es steht sinnbildlich für eine komplizierte Entwicklung , in der England und die englische Kultur im Verlauf des Jahrhunderts zumindest für einen kleinen Teil der Bevölkerung des deutschsprachigen Raums von einer terra incognita zu einer vorbildhaften Größe familiärer Vertrautheit wurden.5

Reich und die Weidmannsche Buchhandlung in Leipzig Als Philipp Erasmus Reich 1756 zu Richardson reiste , war er bereits seit zehn Jahren als Leiter der Weidmannschen Buchhandlung in Leipzig tätig.6 Diese Position hatte er geschäftsführend erst neunundzwanzigjährig von Moritz Georg Weidmann dem Jüngeren ( 1686–1743 ) übernommen, dem Sohn des gleichnamigen Gründers der Einrichtung , die 1680 noch in Frankfurt am Main eröffnet worden war. In der hessischen Metropole hatte auch Reich seine Buchhändlerausbildung absolviert – bei Franz Varrentrapp ( 1706–1786 ), einem angeheirateten Verwandten Weidmanns.7 Anschließend folgten

11–94 ; mit Marie Luise Spieckermann : „The House of Weidmann in Leipzig and the Eighteenth-Century Importation of English Books into Germany“, in : The German Book 1450–1750. Studies Presented to David L. Paisley , hg. v. John L. Flood and William Kelly , London : The British Library , 1995 , 299–317 ) die grundlegende Arbeit von Jennifer Willenberg : Distribution und Übersetzung englischen Schrifttums im Deutschland des 18. Jahrhunderts , München : Saur , 2008 , 102 f. Für Leben und Wirken von Reich einschlägig sind immer noch die Arbeiten von Mark Lehmstedt ( Struktur und Arbeitsweise eines Verlages der deutschen Aufklärung. Die Weidmannsche Buchhandlung in Leipzig unter der Leitung von Philipp Erasmus Reich zwischen 1745 und 1787 , Leipzig , Univ., Diss. A , 1990 ) und Hazel Rosenstrauch ( „Der Buchhandelsreformer Philipp Erasmus Reich. Ein aufgeklärter Unternehmer des 18. Jahrhunderts“, in : Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 15 ( 1986 ), 19–44 ; Buchhandelsmanufaktur und Aufklärung. Die Reformen des Buchhändlers und Verlegers Ph. E. Reich ( 1717–1787 ). Sozialgeschichtliche Studie zur Entwicklung des literarischen Marktes , Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung , 1986 ). Für Reichs Kenntnisse der englischen Sprache ( vgl. Willenberg : Distribution und Übersetzung , 102 f. ) sprechen seine beiden Aufenthalte im Land , die durch ihn selbst betriebenen intensiven Geschäftsbeziehungen mit London und die zentrale Bedeutung , die dieses Handelssegment für den Verlag aufwies. 5 Vgl. das Fazit und die Charakterisierung von Fabian : The English Book in Eighteenth-Century Germany , 110 und ders.: English Books and Their Eighteenth-Century German Readers , 69. 6 Vgl. Lehmstedt : Struktur und Arbeitsweise ; Adalbert Brauer : Weidmann 1680–1980. 300 Jahre aus der Geschichte eines der ältesten Verlage der Welt , [ Zürich : ] Weidmann , 1980 , bes. 47–54. 7 Von einer Lehre bei Varrentrap sprechen u. a. Fabian : Philipp Erasmus Reich , 349 und Rosenstrauch : Der Buchhandelsreformer Philipp Erasmus Reich , 24 sowie der Artikel in : Allgemeine Deutsche Biographie 27 ( 1888 ), 611–614 , hier 612. Andere Angaben weisen eine Lehre bei Johann Benjamin Andrae



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eine erste Reise nach London und wohl ein längerer Aufenthalt in Stockholm zur Weiterbildung.8 Unter der Führung Reichs entwickelten sich Buchhandlung und Verlag in Leipzig ab den fünfziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts zu einem der führenden deutschen Häuser , was sowohl die Qualität der Veröffentlichungen9 als auch deren Quantität betraf – ein Umstand , den sein Konkurrent Friedrich Nicolai in einem Brief an Gotthold Ephraim Lessing ( 1729–1781 ) einmal süffisant kommentierte : „Er [ Reich ] sollte nur den dritten Theil drucken, von dem was er druckt , so hätte er ruhigere Tage , und käme weiter als jetzt.“10 Nachdem Reich 1762 zum Teilhaber wurde , firmierte das Haus bis zu seinem Tod als Weidmanns Erben und Reich. Während seiner 43-jährigen Geschäftstätigkeit wurden um die 700 Titel in über 1600 Bänden verlegt.11 In ähnliche Dimensionen stießen noch etwa 20 andere Einrichtungen im deutschsprachigen Raum vor , etwa Orell , Gessner , Füssli & Co. in Zürich und die Nicolaische Buchhandlung in Berlin.12 Sie trugen damit bei zu einem massiven Anstieg der Buchproduktion in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts im Kontext des tintenklecksenden Säkulums13 der Aufklärung : In den Jahren 1763 bis 1805 hatte sie sich gegenüber dem Zeitraum 1721 bis 1763 verzehnfacht , insgesamt betrug sie im achtzehnten etwa das Doppelte des

( 1705–1778 ) aus , so etwa [ Lehmstedt : ] Philipp Erasmus Reich , 33 und Gerhard Kurtze : „Philipp Erasmus Reich. ,Erster Buchhändler der Nation‘ “, in : Die großen Leipziger. 26 Annäherungen , hg. v. Vera Hauschild , Frankfurt a. M. /  Leipzig : Insel Verlag , 1996 , 144–154 , hier 144 sowie der Artikel in : Neue Deutsche Biographie 21 ( 2003 ), 289–290 , hier 289. 8 Die Leitung einer Stockholmer Buchhandlung , die im Brockhaus des Jahres 1825 erwähnt wird , war laut [ Lehmstedt : ] Philipp Erasmus Reich , 35 lange archivalisch nicht nachzuweisen. Ein entsprechender Vermerk fand sich dann jedoch in einem in Abschrift überlieferten , kurzen , autobiographischen Fragment von Reich ; vgl. Auszug aus dem Leben des Buchhändlers Philipp Erasmus Reich anno 1782 von ihm selbst aufgesetzt , Hildesheim / Zürich , Weidmann, 1989. 9 Positiv erwähnt wurde von Rezensenten der Zeit neben dem klaren Schriftbild und der Güte des Papiers vor allem die Ausschmückung mit buchkünstlerischen Elementen wie hochwertigen Kupferstichen. Vgl. Lehmstedt : Struktur und Arbeitsweise , 22 f., 32 , 88 f. Von vielen der bei Reich verlegten Bücher erschienen aber auch günstigere Zweitausgaben, bei denen Abstriche bei der Ausstattung gemacht wurden, um den Nachdruckern ein eigenes Konkurrenzangebot entgegensetzen zu können. 10 Zit. nach Fabian : Philipp Erasmus Reich , 348. In ihrer England-Erfahrung und -Rezeption sind Nicolai und Reich dabei in vielen Punkten vergleichbar. Zu Nicolai siehe in diesem Zusammenhang Stefanie Stockhorst : „Englischer Geschmack auf dem Kontinent. Friedrich Nicolai als Vermittler ästhetisch-kritischer Diskurse in der Berliner Aufklärung“, in : Göttinger Händel-Beiträge 15 ( 2014 ), 179–195 , bes. 180 f. 11 Zahlen nach Lehmstedt : Struktur und Arbeitsweise , 7 ; Kurtze : Philipp Erasmus Reich , 151. 12 Vgl. Horst Möller : Aufklärung in Preußen. Der Verleger , Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai , Berlin : Colloquium-Verlag , 1974 ; Pamela E. Selwyn : Everyday life in the German book trade. Friedrich Nicolai as Bookseller and Publisher in the Age of Enlightenment 1750–1810 , Philadelphia , PA: Pennsylvania State University Press , 2000 ; Thomas Bürger : Aufklärung in Zürich. Die Verlagsbuchhandlung Orell , Gessner , Füssli & Comp. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie der Verlagswerke 1761–1798 , Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung , 1997. 13 Vgl. Friedrich Schiller : „Die Räuber“, in : Werke. Nationalausgabe , Bd. 3 , hg. v. Herbert Stubenrauch , Weimar : Böhlau , 1953 , 20.

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 Martin Munke

vorhergehenden Jahrhunderts.14 Zugleich stieg allmählich die Zahl der Lesefähigen an : Konnten 1770 etwa fünfzehn Prozent der erwachsenen Deutschen lesen, war es dreißig Jahre später bereits ein Viertel der Bevölkerung. Bis 1830 sollte diese Zahl auf vierzig Prozent steigen.15 Der Name Reichs ist in erster Linie mit einigen buchhändlerischen Reformen verbunden, vor allem dem Kampf gegen den Nachdruck , also gegen den Neudruck eines erfolgreichen Titels ohne Einwilligung des Originalverlegers – ein massenhaftes Phänomen im achtzehnten Jahrhundert. Gerade in Deutschland und Österreich gab es noch kein Urheberrecht , während in England und Frankreich bereits erste Ansätze in die Richtung existierten.16 Bei den Nachdrucken wurde häufig an der Ausstattung gespart , so dass diese günstiger angeboten werden konnten als das Original. Der Gewinn war daraufhin im Zusammenspiel mit der bereits feststehenden Verkäuflichkeit des Werkes und den nicht anfallenden Honoraren für den Autor ( und gegebenenfalls den Übersetzer ) deutlich höher. Hier geriet Reich u. a. in Konflikt mit seinem Lehrmeister Varrentrapp , einem der bekanntesten deutschen Nachdrucker , was bereits 1746 zu einer juristischen Auseinandersetzung führte.17 Ein zweiter wichtiger Punkt war das Bemühen, vom dominierenden Tauschhandel zum Kauf gegen Bargeld oder gegen Kredit , also zum Nettohandel überzugehen. Solche Bargeschäfte waren bereits an der Tagesordnung gewesen, bevor man in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts aufgrund der schwierigen Währungssituation in und zwischen den deutschen Staaten zum Tauschhandel überging. Im Buchhandel wurden zunächst analoge Mengen bedruckten Papiers in Form ungebundener Bögen ausgetauscht. Später bildeten komplette Bücher das Tauschobjekt , bevor ab Beginn des achtzehnten Jahrhunderts die Abgabe gegen Geldzahlung wieder zunahm.18 Im Zeitalter der Aufklärung wollten vor allem Buchhändler außerhalb Leipzigs und Sachsens , besonders im süddeutsch-österreichischen Raum , an anderen Geschäftsmodellen festhalten. Die Vorhaben Reichs wurden stellenweise als „Kriegserklärung“ und übertriebenes Ausnutzen der Leipziger Standortvorteile aufgefasst19 und

14 Zahlen nach Rosenstrauch : Buchhandelsmanufaktur und Aufklärung , 65 f. 15 Zahlen nach Horst Möller : Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert , Frankfurt a. M.: Suhrkamp , 1986 , 269. 16 Vgl. Fabia Oz-Salzberger : „The Enlightenment in Translation : Regional and European Aspects“, in : European Review of History – Revue européene d’Histoire 13 : 3 ( 2006 ), 385–409 , hier 400. 17 Vgl. Brauer : Weidmann 1680–1980 , 47 f. Zu Varrentrapp vgl. Thomas Bauer : „Varrentrapp , Franz“, in : Frankfurter Personenlexikon ( Onlinefassung ), http ://frankfurter-personenlexikon.de/node/1583 , letzter Zugriff 2. April  2015. 18 Vgl. Rosenstrauch : Buchhandelsmanufaktur und Aufklärung , 34 f. Die verschiedenen Formen existierten durchaus auch nebeneinander , allerdings in unterschiedlich intensiver Ausprägung. 19 Vgl. Reinhard Wittmann : „Der gerechtfertigte Nachdrucker ? Nachdruck und literarisches Leben im achtzehnten Jahrhundert“, in : ders.: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750–1880 , Tübingen : Niemeyer , 1982 , 69–92 , hier 74–77 ( Zitat 74 ).



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hatten zunächst nur in einem begrenzten geographischen Raum Erfolg , gleichwohl sie auch für die anderen deutschen Territorien Vorbildwirkung entfalteten.20 In gewisser Weise kann sein Engagement in diesen Angelegenheiten auch als Transferleistung mit Bezug auf Großbritannien gedeutet werden. Die Verhältnisse auf dem britischen Buchmarkt dienten Reich nämlich als Argumentationshilfe für seine Reformbemühungen, auch wenn er sie nach deutschen Erfordernissen modifizierte. Seine Prinzipien begründete er mit Formeln und Begriffen aus der englischen Nationalökonomie wie „Markt“, „Eigentum“ und „Ware“. Der Konflikt im Buchhandelssektor kann vor diesem Hintergrund auch als ein Streit zwischen neuen kapitalistischen und alten merkantilistisch-kameralistischen Prinzipien gedeutet werden.21 Jenseits des Ärmelkanals existierte bereits seit 1712 ein Verlagsgesetz ; in den deutschen Ländern trat ein solches unter maßgeblichem Einfluss von Reich erst 1765 mit dem „Ersten Grundgesetz der neuerrichteten Buchhandlungs-Gesellschaft in Deutschland“ in Kraft. Neben dem Kampf gegen zu niedrige Preise war es hier wiederum das Phänomen des Nachdrucks , dem sich die Buchhändler widersetzen. Mehr als fünfzig Handelshäuser aus dem deutschsprachigen Raum schlossen sich der „Buchhandelsocietät“ an, die als Vorgängereinrichtung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler von 1825 gelten kann. Reich persönlich wurde deren Sekretär und mit seinem Tod stellte sie ihre Aktivitäten ein.22 Politische Unterstützung erhielt er bei diesen Unternehmungen im Kurfürstentum Sachsen durch verschiedene Protagonisten des Rétablissement ,23 jener Gruppe von Staats- und Verwaltungsreformern um den kurfürstlichen Administrator Franz Xaver von Sachsen ( 1730–1806 ), die sich in den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts um den Wiederaufbau des zerstörten Landes nach dem Ende des Siebenjähriges

20 Vgl. zusammenfassend Rosenstrauch : Der Buchhandelsreformer Philipp Erasmus Reich , 37–43 ; dies.: Buchhandelsmanufaktur und Aufklärung , 49–65 ; ausführlich mit dem Abdruck zahlreicher Quellen Mark Lehmstedt : „,Ein Strohm der alles überschwemmet‘. Dokumente zum Verhältnis von Philipp Erasmus Reich und Johann Thomas von Trattner. Ein Beitrag zur Geschichte des Nachdrucks in Deutschland im 18. Jahrhundert“, in : Bibliothek und Wissenschaft 25 ( 1991 ), 176–267. 21 Vgl. Lehmstedt : Ein Strohm der alles überschwemmet , 265. Bezugnahmen finden sich in Reichs etwa dreißigseitigen Schriften Der Bücher-Verlag in allen Absichten genauer bestimmt ( 1773 ) und Zufällige Gedanken eines Buchhändlers über Herrn Klopstocks Anzeige einer gelehrten Republik ( 1773 ), jeweils passim. Hinweise auf seine diesbezüglichen Positionen liefert darüber hinaus der umfangreiche Briefverkehr , der leider nicht in einer Gesamtedition vorliegt. Vgl. für die hier skizzierten Zusammenhänge als ein besonders eindrückliches Beispiel Lehmstedt : Ein Strohm der alles überschwemmet , 245–249. Als Einführung zur Nationalökonomie vgl. Joachim Starbatty : Die englischen Klassiker der Nationalökonomie. Lehre und Wirkung , Darmstadt : Wiss. Buchgesellschaft , 1985. 22 Vgl. Hazel Rosenstrauch : „Philipp Erasmus Reich – Bourgeois und Citoyen“, in : Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 38 : 1 ( 1989 ), 96–107 , hier 99 f. 23 Vgl. zuletzt Frank-Lothar Kroll : Geschichte Sachsens , München : Beck , 2014 , 69–74 und Winfried Müller : „Das sächsische Rétablissement nach 1763. Ziele und Grenzen einer Staatsreform“, in : Dresdner Hefte. Beiträge zur Kulturgeschichte 31 : 114 ( 2013 ), 14–24 , mit weiterführender Literatur.

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 Martin Munke

Krieges ( 1756–1763 ) bemühten : Thomas von Fritsch ( 1700–1775 ), der selber einer Buchhändlerfamilie entstammte ,24 Peter von Hohenthal ( 1754–1825 ), Christian Gotthelf von Gutschmid ( 1721–1798 ), Friedrich Ludwig von Wurmb ( 1723–1800 ) und anderen. Nach der Kriegsniederlage und massiven Zerstörungen durch preußische Truppen wurde besonders die Wirtschaftspolitik Sachsens im Sinn weitgehend liberaler Prinzipien durch die zu diesem Zweck gegründete Kommerziendeputation auf eine neue Grundlage gestellt. Reich diente der Deputation als Ansprechpartner für den Bereich des Buchhandels. Das Verhältnis war keinesfalls konfliktfrei , aber doch zum beiderseitigen Nutzen, ging mit den Reich’schen Aktivitäten doch auch die zeitweilige Verdrängung der Frankfurter Buchmesse , der „Nachdruckermesse“,25 durch ihr Leipziger Pendant einher. 1769 wurde schließlich die vier Jahre zuvor gegründete „Buchhandelsocietät“ kurfürstlich anerkannt und vier Jahre später das kursächsische „Mandat über den Buchhandel“ verabschiedet. Das Eigentumsrecht des Originalverlegers eines Buches war damit prinzipiell anerkannt , wobei Übersetzungen wie Originalwerke behandelt wurden.26 Im Kurfürstentum Sachsen war damit im Bereich des Buchhandels eine gewisse Rechtssicherheit geschaffen, die Reich in mehreren Prozessen durchzusetzen suchte. Besonders seine sich über fast zehn Jahre hinziehende Auseinandersetzung mit dem Wiener Verleger und Buchhändler Johann Thomas von Trattner ( 1717–1798 ) steht paradigmatisch für Reichs Kampf gegen den Nachdruck und für den Nettohandel , in dessen Kontext Leipzig seinen Aufschwung als Zentrum des deutschen Buchhandels nahm.27

Reich , Weidmann und der Import englischsprachiger Literatur Die sächsische Metropole war neben Göttingen als „Hauptumschlagsplatz für englische Kultur , Literatur und Gelehrsamkeit“28 auch der zentrale Ort für den Handel mit

24 Vgl. Rosenstrauch : Buchhandelsmanufaktur und Aufklärung , 30. 25 Rosenstrauch : Philipp Erasmus Reich – Bourgeois und Citoyen, 102. 26 Vgl. Rosenstrauch : Der Buchhandelsreformer Philipp Erasmus Reich , 32–43. Erst 1794 verabschiedete mit Preußen ein zweiter deutscher Staat eine entsprechende Regelung , Verträge von Hannover und Preußen mit Großbritannien über den Schutz von Urheberrechten wurden gar erst in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts unterzeichnet. Vgl. Fabian : English Books and Their EighteenthCentury German Readers , 28. 27 Vgl. Lehmstedt : Ein Strohm der alles überschwemmet , bes. 254–267 ; Wittmann : Der gerechtfertigte Nachdrucker ?, 81–90. 28 Klippel : Englischlernen im 18. und 19. Jahrhundert , 53. Die Universitätsstadt des Kurfürstentums Hannover ( eigentlich Braunschweig-Lüneburg ) war aufgrund der dynastischen Verbindung der regierenden welfischen Dynastie mit dem britischen Königreich infolge des Act of Settlement von 1701 zu diesem ‚Hauptumschlagplatz‘ geworden. Vgl. Willenberg : Distribution und Übersetzung , 26–28 , 82 f. ; Michael Maurer : Aufklärung und Anglophilie in Deutschland , Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht , 1987 , 44–51 ; ausführlich zuletzt Frank-Lothar Kroll und Martin Munke ( Hg. ): Hannover – Coburg-Gotha – Windsor. Probleme und Perspektiven einer vergleichenden deutsch-britischen Dynastiegeschichte vom 18.



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britischer Literatur in Originalsprache. Dieser bildete im achtzehnten Jahrhundert ein zwar sehr kleines , aber besonders in der zweiten Jahrhunderthälfte doch wachsendes Segment.29 Verschiedene Gründe lassen sich für die zentrale Stellung Leipzigs in diesem Bereich heranziehen : einerseits die in den deutschen Staaten führende Position der örtlichen Buchhändler allgemein, die mit Reichs Wirken zusammenhing , andererseits gewisse Besonderheiten des deutsch-britischen Bücherhandels. Da für Titel in der Originalsprache nur ein kleiner Markt bestand , waren es nur große Häuser wie die Leipziger , die sich hier erfolgreich engagieren konnten, und im Gegenzug gefragte deutschsprachige Titel auf die britischen Inseln verschickten – ein dort noch randständigeres Segment.30 Die ersten umfangreicheren Sortimentsverzeichnisse mit englischsprachigen Werken legte in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts die auf Henning Grosse ( 1553–1621 ) zurückgehende gleichnamige Firma vor.31 Um die Jahrhundertmitte ist es dann die Weidmannsche Buchhandlung , die – noch unter der Geschäftsführung von Johann Wendler ( 1713–1799 ) – zum führenden Importeur aufsteigt. Ein Messkatalog des Jahres 1755 verzeichnet unter den verfügbaren Titeln beispielsweise Richardsons Grandison, der zwei Jahre zuvor erschienen war , aber auch John Miltons ( 1608–1674 ) Klassiker Paradise Lost und Paradise Regained sowie eine zehnbändige Gesamtausgabe der Werke von Alexander Pope ( 1688–1744 ). Letzterer war in den vierziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts zudem der erste englische Autor gewesen, von dem Werke in einer zweisprachigen, deutsch-englischen Ausgabe erschienen. Ihre Rezeption geht einher mit der Entdeckung der englischen Dichter um die Jahrhundertmitte.32 1756 verlegte Wendler dann die erste Ausgabe seiner Englischen Bibliothek , einem Rezensionsorgan für englischsprachige Bücher , die bis 1767 erschien, und die in ihrer letzten Ausgabe eine mehr als 500 Titel umfassende Übersicht englischer Bücher lieferte. Ab 1765 ist zudem das Angebot eines Englischunterrichts an der Leipziger Universität belegt , die Nicolaischule folgte 1773.33 In diesen Jahren erarbeiteten sich

bis in das 20. Jahrhundert /  Problems and Perspectives of a Comparative Anglo German Dynastic History from the 18th to the 20th Century , Berlin : Duncker und Humblot , 2015. 29 Vgl. Fabian : Die Meßkataloge und der Import englischer Bücher , 144–146 ; Jennifer Willenberg : „London – Leipzig. Das Centrum des Buchhandels in Teutschland‘ als Umschlagplatz für englisches Schrifttum im 18. Jahrhundert“, in : Neues Archiv für sächsische Geschichte , 76 ( 2005 ), 125–153 , hier 130–132. 30 Vgl. Willenberg : London – Leipzig , 137 f. Die britische Rezeption deutschsprachiger Literatur sollte erst im neunzehnten Jahrhundert intensiver werden. 31 Vgl. Fabian : The English Book in Eighteenth-Century Germany , 14–17 ; Willenberg : Distribution und Übersetzung , 110–113. 32 Vgl. Fabian : The English Book in Eighteenth-Century Germany , 18 f., 59–61. 33 Vgl. Willenberg : London – Leipzig , 129. Zuvor war hier der Erwerb von Englischkenntnissen u. a. über Privatgelehrte möglich ( vgl. Willenberg : Distribution und Übersetzung , 79 f. ). Der Unterricht der Zeit war dabei hauptsächlich auf das Erreichen von Lese- und Übersetzungskompetenzen ausgerichtet , erst in zweiter Linie auf Schreib- und Sprechfähigkeiten ( vgl. Klippel : Englischlernen im 18. und 19. Jahrhundert , 50 f., 85 ).

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Weidmanns Erben und Reich eine führende Stellung im Bereich des Imports englischsprachiger Bücher , die sie bis Ende der achtziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts , also bis zum Tod Reichs , hielten.34 Beide Jahrzehnte bildeten im deutschsprachigen Raum quantitativ den Höhepunkt des Imports aus Großbritannien ; zugleich wurden nun aus Kostengründen vermehrt Nachdrucke englischsprachiger Titel direkt durch die deutschen Häuser produziert. 35 Reichs Haus bot ausweislich der Messkataloge – die seit 1759 von Weidmanns Erben und Reich zusammengestellt und gedruckt wurden, nachdem zuvor Grosse sie besorgt hatte – hauptsächlich wissenschaftliche und Fachbücher aus verschiedenen Bereichen als Importware an : Philologie und Landwirtschaft , Technik und Geographie waren die führenden Segmente.36 So waren etwa die Philological inquiries von James Harris ( 1709– 1780 ) oder James Cooks ( 1728–1779 ) A Voyage towards the South Pole verfügbar. Doch auch literarische Werke fanden sich im Angebot , etwa von Pope oder Oliver Goldsmith ( 1728–1774 ). Für 1770 wurden zur Michaelismesse im Oktober zehn Titel verzeichnet , 1778 gar 29 , jeweils in Editionen der wichtigsten Londoner Verleger. Darüber hinaus hatte das Haus die umfangreichsten Bestände von englisch-sprachiger Originalliteratur für den Sortimentshandel vorzuweisen.37 Zuvor war bereits Reichs Vorvorgänger Weidmann der Jüngere in diesem Bereich aktiv gewesen. Wie Reich hatte er sich in jungen Jahren jenseits des Ärmelkanals aufgehalten und bot in den dreißiger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts , zeitgleich mit Grosse , erste Importtitel an, wobei es im schmalen fremdsprachigen Segment mehr lateinische , französische und italienische als englische Bücher gab. Unabhängig von den drei jährlichen Leipziger Messen begann Weidmann im April 1733 mit der Veröffentlichung eines wöchentlichen Verzeichnisses „Alter und Neuer , Frembd- [ sic ! ] und Einheimischer Bücher“, das in mehr als 100 Ausgaben bis Mai 1735 erschien und neben Arbeiten in den führenden Fremdsprachen der Zeit dann auch englische in größerer Menge enthielt. Diese gelangten meistens über niederländische Mittelsmänner nach Leipzig und wurden über die sächsische Metropole auch nach Mittel- und

34 Vgl. Fabian : Die Meßkataloge und der Import englischer Bücher , 146–149 ; Willenberg : Distribution und Übersetzung , 113 f. Daneben war die Firma auch auf dem Gebiet des Imports italienischsprachiger Literatur führend. Vgl. Kurtze : Philipp Erasmus Reich , 151. 35 Zwar gab es kaum Nachdrucke von Übersetzungen und fremdsprachigen Originalausgaben. Reich ließ jedoch in sehr geringem Umfang Nachdrucke französischsprachiger Werke herstellen. Vgl. Lehm­ stedt : Struktur und Arbeitsweise , 11–13. sowie Willenberg : Distribution und Übersetzung , 120–131. 36 Gemeinsam mit dem weiten Bereich der Belles Lettres bildeten diese Segmente über das achtzehnte Jahrhundert hinweg auch allgemein die Schwerpunkte der Verfügbarkeit englischer Bücher. Vgl. Fabian : The English Book in Eighteenth-Century Germany , 30. 37 Vgl. Fabian /  Spieckermann : The House of Weidmann in Leipzig , 315–317. Für die weiteren Jahre ist die Zahl geringer , gelegentlich wird im Messkatalog auch gar kein englischsprachiger Titel verzeichnet. Daraus ist allerdings nicht zwangsläufig zu schließen , dass auf den Messen keine fremdsprachige Literatur verfügbar war , da die Kataloge in der Hauptsache Neuerscheinungen verzeichneten. Ältere Titel wurden so häufig nicht erfasst.



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Osteuropa weitergehandelt. Während anfangs vor allem anlässlich der in Frankfurt halbjährlich stattfindenden Messen Nachschub organisiert wurde , stieg die Frequenz in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts stark an, bis ein regelmäßiger Bezug hergestellt war.38 Die von Weidmann angebotenen Titel aus Großbritannien lassen sich in zwei Bereiche einteilen. Zum einen handelt es sich hier um Bücher in lateinischer Sprache , die nicht notwendiger Weise von britischen Autoren stammten, aber auf den Inseln verlegt wurden. Über 200 solcher Titel führten die wöchentlichen Verzeichnisse insgesamt auf , mehr als die Hälfte von ihnen stammte aus dem siebzehnten Jahrhundert. Hauptsächlich waren sie in London und Oxford erschienen, aber auch in Cambridge , Edinburgh und Dublin. Schon zu dieser Zeit legte die Weidmann’sche Buchhandlung Wert darauf , möglichst hochwertige Editionen dieser Werke anzubieten – auch Reich sollte später daran anknüpfen. So wurde etwa John Lockes Essay Concerning Human Understanding ( 1690 ) in einer in London gedruckten lateinischen Übersetzung angeboten, nicht in ihrem in Deutschland erschienenen Nachdruck.39 Zum anderen sind hier natürlich die englischsprachigen Titel britischer Autoren zu nennen, von denen um die 180 verzeichnet sind. Insgesamt machten beide Bereiche zusammen ca. fünf Prozent des aufgeführten Gesamtbestandes aus. Die ersten Bände wurden im Mai 1733 annonciert , schon hier finden sich die späteren Schwerpunkte : historische Werke wie Samuel Daniels ( 1562–1619 ) Collection of the History of England in einer Fassung aus dem Jahr 1653 oder Reiseberichte wie Alexander Gordons ( 1692–1755 ) Itinerarium septentrionale über Schottland und Nordengland von 1726. Daneben waren es in dieser Phase vor allem Dramentexte von William Shakespeare , Ben Jonson, James Thomson und Edward Young , welche das Programm der Londoner Bühnen besonders der zwanziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts abbildeten und die aufgrund ihrer relativen Kürze auch für den Englischunterricht herangezogen werden konnten.40 Insgesamt stellte dieser Bereich etwa zwei Fünftel des englischsprachigen Bestandes bei Weidmann. Im Unterschied zu den anderen Titeln handelte es sich hierbei jedoch hauptsächlich um niederländische Nachdrucke , keine Originalausgaben von den britischen Inseln.41 Bereits unter der Ägide von Reich veröffentlichte die Buchhandlung 1745 / 46 einen zweibändigen Katalog , der die Bestände zur Zeit des Todes des jüngeren Weidmann abbildete , und deren erfolgreicher Verkauf die Grundlage für den Aufstieg des Hauses unter dem neuen Geschäftsführer bildete. Hierin sind fast 500 Titel aus Großbritannien

38 Vgl. Willenberg : London – Leipzig , 132 f.; Fabian / Spieckermann : The House of Weidmann in Leipzig , 300–305. 39 Vgl. Fabian / Spieckermann : The House of Weidmann in Leipzig , 305–307. 40 Vgl. Inbar : Zum Englischstudium im Deutschland des XVIII. Jahrhunderts , 16 f., 21 f. 41 Vgl. ebd., 307–309. Zur Vermittlerfunktion der Niederlande vgl. Fabian : The English Book in Eighteenth-Century Germany , 42 f., 73.

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verzeichnet , was etwa sieben Prozent des Gesamtbestands ausmachte. Auch hier finden sich wieder ein Schwerpunkt auf Dramentexten sowie eine Mischung aus Büchern auf Latein und Englisch. Dabei scheinen sich die erstgenannten besser verkauft zu haben als die letztgenannten – ein Indiz für die nach wie vor noch wenig verbreiteten englischen Lesekompetenzen. Allerdings handelte es sich bei den meisten dieser Titel um antiquarische Bücher , keine Neuerscheinungen. Auf den britischen Inseln wurden immer weniger Übersetzungen aus dem Lateinischen veröffentlicht , so dass die Händler auf dem Kontinent mehr und mehr auf eigene Übertragungen zurückgreifen mussten – ein Bereich , den wiederum Leipziger Händler dominieren sollten.42

Reich und die Publikation englischer Literatur in Übersetzung Von weit größerer Bedeutung als der Import war für die Weidmannsche Buchhandlung unter der Ägide von Reich demnach die Veröffentlichung wichtiger Titel der britischen Literatur in deutschsprachiger Übersetzung , wie überhaupt die Rezeption des entsprechenden Schrifttums aufgrund der allgemein geringen Größe des Importsegmentes zumeist über den Weg der Übersetzung verlief. Zu den von Reich veröffentlichten Werken gehörten Romane wie Oliver Goldsmiths Der Dorfprediger von Wakefield43 – das „im deutschen Raum am häufigsten nachgedruckte englische Werk des achtzehnten Jahrhunderts“44 –, Reiseberichte wie Richard Chandlers ( 1738–1810 ) Reise durch Kleinasien45 und Fachtitel wie Adam Smith’ ( 1723–1790 ) Natur und Ursachen des Volkswohlstandes ( 1776 ). Angesichts der Verortung der Reich’schen Reformbemühungen im Umfeld des kursächsischen Rétablissement war es sicher kein Zufall , dass das Gründungswerk der klassischen Nationalökonomie in seiner ersten kompletten deutschsprachigen Übersetzung – besorgt von Johann Friedrich Schiller ( 1731–1815 ) – zur Herbstmesse 1776 gerade vom ihm vorgelegt wurde. In diesem wie in anderen Fällen ließ er gar die Druckbögen des englischen Originals aufkaufen, um die Übertragung noch schneller anfertigen lassen zu können und sie dann noch vor der französischen Übersetzung erscheinen zu lassen.46 Ähnlich wie im Bereich der Importe können hier

42 Vgl. Fabian / Spieckermann : The House of Weidmann in Leipzig , 310–314 ; Fabian : The English Book in Eighteenth-Century Germany , 45–52. 43 Das Original ist aus dem Jahr 1766 ; die erste Übersetzung von Johann Gottfried Gellius ( 1732–1781 ) erschien noch als „Landpriester von Wakefield“ 1767 , der geläufigere Titel dann 1776 in einer neuen Übersetzung von Johann Joachim Christoph Bode ( 1731–1793 ). 44 Willenberg : Distribution und Übersetzung , 123. Im deutschen Sprachraum dürfte das Werk nach Fabian : The English Book in Eighteenth-Century Germany , 64 f. so um einiges beliebter gewesen sein als auf den britischen Inseln selbst. 45 Das 1775 erschienene Original wurde im Folgejahr von Heinrich Christian Boie ( 1744–1806 ) übersetzt. 46 Vgl. Willenberg : Distribution und Übersetzung , 204 ; Rosenstrauch : Buchhandelsmanufaktur und Aufklärung , 71. Es handelte sich dabei um eine äußert kostspielige Angelegenheit , die nur in Erwar-



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die siebziger und achtziger Jahre als Höhepunkt gelten, wobei fast die Hälfte der auf den Leipziger Messen angebotenen Titel in Übersetzungen auch von Leipziger Verlegern stammten.47 Diese Entwicklung lässt sich einordnen in die generelle Bedeutung , die dem Konzept „Übersetzung“ und seiner Praxis im Kontext der Aufklärung zukommt. Es steht für den Versuch , eine internationale Kommunikation jenseits einer Universalsprache zu ermöglichen, wie sie das Lateinische lange gewesen war. Der Austausch aufgeklärten Gedankengutes erfolgte eben nicht in einer Sprache , sondern hauptsächlich auf dem Weg der Übersetzung.48 Dieser Prozess geht einher mit dem Aufstieg verschiedener „Nationalkulturen“ – und damit auch Nationalsprachen – jenseits der althergebrachten Einheitsvorstellungen, wie sie etwa mit dem Gedanken einer christlichen Universalmonarchie im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit transportiert wurden. Gleichzeitig symbolisierte das Phänomen „Übersetzung“ zentrale Wertansprüche der Aufklärung : die Ausbreitung von Wissen, Gedankenfreiheit und den Fortschrittsgedanken. 49 Obwohl dem Französischen hier eine wichtige Mittlerrolle zufiel , ermöglichte die Übersetzung , dass die Aufklärung neben Paris auch andere Zentren und so ein weitverzweigtes Netzwerk ausbildete , in dem Wissen zirkulierte. An die Seite von Paris traten London, Dublin und Edinburgh , Berlin, Hamburg und Leipzig , aber auch Amsterdam , Zürich , Stockholm und Kopenhagen. Besonders die deutsche Literatur- und Gedankenwelt wurde hierbei stark von den hauptsächlichen Übersetzungssprachen Französisch und mit zunehmender Dauer des achtzehnten Jahrhunderts Englisch beeinflusst und von umfangreichen Transferleistungen geprägt.50 Weidmanns Erben und Reich kam für die deutschen Territorien auf dem Feld der Übersetzungen aus dem Englischen eine herausragende Stellung zu , die von keinem anderen Verleger übertroffen wurde. Katalysator dafür war die Veröffentlichung von

tung eines „Bestsellers“ auf sich genommen wurde. Ähnlich ging Reich u. a. bei den Übersetzungen von Jean-Jacques Rousseaus ( 1712–1778 ) Nouvelle Héloïse und Émile vor , die 1761 bzw. 1762 ebenfalls noch im Jahr der Veröffentlichung des Originals erschienen. Vgl. Mark Lehmstedt : „Die Geschichte einer Übersetzung. William Robertsons ‚Geschichte von Amerika‘ ( 1777 )“, in : Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte , 1 ( 1991 ), 265–297 , hier 273 f. Zu Personen und Praktiken des Übersetzungswesens der Zeit aus dem Englischen vgl. umfassend Willenberg : Distribution und Übersetzung , 215–310. 47 Vgl. Willenberg : London – Leipzig , 141 f. Hier liegt einer der Unterschiede von Reich und Friedrich Nicolai , da letzterer der Übersetzungsliteratur recht kritisch und eher zurückhaltend gegenüberstand. Vgl. Stockhorst : Englischer Geschmack auf dem Kontinent , 183–188. 48 Vgl. Stefanie Stockhorst : „Introduction. Cultural Transfer Through Translation : A Current Perspective in Enlightenment Studies“, in : Cultural Transfer Through Translation. The Circulation of Enlightened Thought in Europe by Means of Translation, hg. v. Stefanie Stockhorst , Amsterdam / New York : Editions Rodopi , 2010 , 7–26 , hier 7–9. 49 Vgl. Oz-Salzberger : The Enlightenment in Translation, 386–389. 50 Vgl. ebd., 392–397 ; Stockhorst : Introduction, 22–26. Lange Zeit war angelsächsische Literatur so in französischer Übersetzung in den deutschsprachigen Raum gelangt. Vgl. Fabian : English Books and Their Eighteenth-Century German Readers , 31 f.

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Richardsons The History of Sir Charles Grandison, die 1753 im englischen Original und ein Jahr später in der deutschen Übersetzung bei Reich erschien. Die Urheberschaft der Übersetzung ist nicht eindeutig geklärt. Verschiedentlich wird der Hamburger Komponist und Schriftsteller Johann Mattheson ( 1681–1764 ) genannt , der u. a. auch eine Übersetzung von Richardsons Pamela vorgelegt hatte.51 Andere Quellen sprechen vom Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis ( 1717–1791 ), der wiederum Richardsons Clarissa ins Deutsche übertragen hatte und 1741 / 42 ein Jahr durch England gereist war.52 Verschiedene Briefe Christian Fürchtegott Gellerts lassen demgegenüber den Schluss zu , dass mehrere Personen zum Teil parallel , zum Teil nacheinander an der Übersetzung gearbeitet haben, die zunächst von Gellert beaufsichtigt wurde. In einem Schreiben an Johann Adolf Schlegel ( 1721–1793 ) – den er selbst als Übersetzer bevorzugt hätte , „[ w ]enn Du so gut Englisch , als Französisch , verstündest“ – vom 25. Januar 1754 verweist Gellert auf die Übersetzungstätigkeit eines Kästner , die er für „starr u[ nd ] unbiegsam“ halte , da jener „zu viel u[ nd ] zu flüchtig“ arbeite.53 In einem Schreiben an Reich vom 23. März des Jahres vermeldet Gellert dann, dass er die „Aufsicht über den Grandison satt“ sei. Kästner habe nun „zwar die Durchsicht übernommen ; aber der so vortreffliche Mann hat zu viel Arbeiten, als daß er seinen Übersetzer sollte verschönern können.“54 Dies spricht dafür , dass mindestens eine weitere , hier nicht namentlich genannte Person beteiligt war. Als potentielle weitere Übersetzer nennt Gellert einen M. Steineln, der jedoch schon abgesagt habe , außerdem einen Herrn v. Böhmen – dieser habe „gut Englisch gelernet ; er hat ein gut Gefühl und einen guten Ausdruck“, und außerdem schon seine Bereitschaft zur Mitarbeit erklärt , so er anonym bleiben könne.55 Im Brief an Reich wird Kästner mit einem Professorentitel versehen. Dies dürfte auf den Gottsched-Schüler Abraham Gotthelf Kästner ( 1719–1800 ) verweisen, der als Mathematiker in Leipzig und Göttingen lehrte , aber auch als Dichter sowie als Übersetzer „englische[ r ] Zeitromane u. v. a. ins Deutsche“

51 Vgl. etwa Karl Goedeke : Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. Bd. IV / 1 , Sechstes Buch : „Vom siebenjährigen bis zum Weltkriege. Nationale Dichtung“, Teil 1 , fortgef. von Edmund Goetze , 3., neu bearb. Aufl., Nachdruck Berlin : Akademie Verlag , 2011 , 576 ; zur PamelaÜbersetzung siehe Dirk Rose : „Exemplarische Aktualität. Zum Transfer neuer Romanmodelle aus England durch Matthesons Übersetzungen ( Defoe , Richardson )“, in : Johann Mattheson als Vermittler und Initiator. Wissenstransfer und die Etablierung neuer Diskurse in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts , hg. v. Wolfgang Hirschmann und Bernhard Jahn, Hildesheim / Zürich / New York : Olms , 2010 , 114–136 , hier 129–134. 52 Vgl. etwa Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 14 , hg. v. Walter Jens , München : Kindler , 1991 , 99 ; zur Clarissa-Übersetzung siehe Astrid Krake : „,Translating to the Moment‘ – Marketing and Anglomania. The First German Translation of Richardson’s ,Clarissa‘ ( 1747 / 1748 )“, in : Stockhorst : Cultural Transfer Through Translation, 103–119 , bes. 112–119. 53 Vgl. C. F. Gellerts Briefwechsel , Bd. 1 : 1740–1755 , hg. v. John F. Reynolds , Berlin / New York : De Gruyter , 1983 , Nr. 142 , 168–170 , hier 170. 54 Vgl. ebd., Nr. 151 , 175. 55 Vgl. ebd.



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hervortrat.56 Zumindest an einer Stelle wird auch direkt auf eine Beteiligung Kästners am Grandison verwiesen : „Er fertigte Uebersetzungsarbeiten der verschiedensten Art [ … ]; bald waren es die englischen Zeitromane Grandison, Pamela , welche er für deutsche Leser bearbeitete [ … ].“57 Der Titel stellte den ersten großen verlegerischen Erfolg von Reich dar. Die Erstauf­ lage umfasste beachtliche 2. 500 Exemplare , weitere Auflagen folgten, zeitgleich erschien eine Ausgabe in französischer Sprache. Die von Richardson mit seinen Briefromanen Pamela ( 1740 ) und Clarissa ( 1748 ) begründete Schule der Empfindsamkeit fand auch in Deutschland zahlreiche Anhänger , wovon Reich nun stark profitierte , nachdem etwa die erste Übersetzung der Clarissa noch in Göttingen bei Abraham Vandenhoeck ( um 1700–1750 ) erschienen war.58 Dagegen wurde nun etwa Sophie von La Roches ( 1730–1807 ) empfindsamer Roman Geschichte des Fräuleins von Sternheim ( 1771 ) unter der Herausgeberschaft von Christoph Martin Wieland ( 1733–1813 ) in der Weidmannschen Buchhandlung publiziert und fand ebenfalls viele Abnehmer : Schon im ersten Jahr gab es drei Auflagen, fünf weitere folgten bis 1786. Eine wichtige Rolle kam hierbei auch den Werken von Laurence Sterne ( 1713–1768 ) zu , dessen Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien ( 1768 ) u. a. von Bode – einem der wichtigsten Übersetzer der deutschen Aufklärung – ins Deutsche übertragen und ebenfalls von Reich in Deutschland verlegt wurde. Auch dieser Titel entfaltete einige Vorbildwirkung und zog im Umfeld der Literatur der Empfindsamkeit eine Reihe ähnlich angelegter Reisebeschreibungen nach sich.59 Der Erfolg des Grandison bestimmte also in Vielem die weitere Ausrichtung des Verlages , der damit prominente Autoren wie Christian Fürchtegott Gellert ( 1715–1769 ) anlockte.60 Der zu seinen Lebzeiten als einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller geltende Dichter und Philosoph war überhaupt eine prägende Figur für Reich. Nach seiner Ankunft 1744 in Leipzig gelangte dieser sehr schnell in den Kreis um Gellert , Lessing , Klopstock ( 1724–1803 ) und andere , die sich um die just in diesem Jahr begründete literarische Zeitschrift Neue Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes verdient machten. Gemeinsam mit dem aus der Schweiz stammenden Philosophen Johann

56 Vgl. Joseph Ehrenfried Hofmann und Franz Menges : „Kästner , Abraham Gotthelf“, in : Neue Deutsche Biographie 10 ( 1974 ), 734–736 , Zitat 735. 57 Vgl. Moritz Cantor und Jakob Minor : „Kästner , Abraham Gotthelf“, in : Allgemeine Deutsche Biographie 15 ( 1882 ), 439–451 , hier 442. 58 Vgl. Krake : „The First German Translation of Richardson’s ,Clarissa‘ ( 1747 / 1748 )“. 59 Zur Vorbildwirkung von Richardson und Sterne , aber auch von Goldsmith vgl. Horst Oppel : Englisch-deutsche Literaturbeziehungen. Bd. I: Von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts , Berlin : Schmidt , 1971 , 126–136. Bode hatte für Reich auch Goldsmith’ Vicar of Wakefield übersetzt und gehörte zu den ersten seiner Zunft , deren Arbeiten von ähnlichem literarischen Wert waren wie die Originale ( Fabian : The English Book in Eighteenth-Century Germany , 57 ). Zur Rolle der Reiseberichte in diesem Kontext vgl. Munke : Deutsche Verleger des Aufklärungszeitalters , 248–260. 60 Vgl. [ Lehmstedt : ] Philipp Erasmus Reich , 42–47.

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Georg Sulzer ( 1729–1779 ) wurde Gellert zu einem engen Freund Reichs. Er beeinflusste v. a. dessen Ansichten in Bezug auf Lebensphilosophie und Berufsethik , wie die Briefwechsel der beiden zeigen. Diese Vorstellungen manifestierten sich für Reich literarisch in der Figur des „ideal gentleman“61 Carl Grandison, Richardsons Romanhelden. Die Vermittlung des Werkes und des späteren Besuchs bei Richardson erfolgte dann auch über Gellert. Die enge Beziehung zwischen Autor und Verleger ermöglichte Reich weitere Kontakte zu englischen Schriftstellern und half ihm sein entsprechendes Übersetzungsgeschäft ausbauen. Bald nach seiner Rückkehr aus England erschienen zudem weitere Titel aus Richardsons Feder : eine Sittenlehre für die Jugend in den auserlesensten Aesopischen Fabeln, übersetzt von Lessing ,62 und die Gemeinnützigen Lehren der Tugend und der guten Sitten, übertragen von einem der wichtigsten Vertreter der Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung , Christian Felix Weiße ( 1726–1804 ).63 Letzterer profierte in seiner Übersetzertätigkeit umgekehrt von den Kontakten zu Reich , die ihm zumindest halbwegs aktuelle Wörterbücher und Grammatiken verschafften.64 Die französische Übersetzung des Grandison ließ Reich gemeinsam mit Elie Luzac ( 1721–1798 ) in Leiden, einem der wichtigsten Verleger des Aufklärungszeitalters in den Niederlanden, vornehmen. Meist jedoch organisierte er solche Leistungen allein im Rahmen seines Hauses. Er verfügte über ein europaweites Netz von Agenten, die Kontakte zu Autoren pflegten, neue Titel einwarben, Korrektur lasen, Rezensionen verfassten und Übersetzungen organisierten bzw. selber als Übersetzer tätig wurden. In London übernahm diese Funktion zwischen 1776 und 1784 Johann Friedrich Schiller , ein Cousin des Vaters des berühmten Schriftstellers , der über sein Englisch „seine Muttersprache schon fast verlernt zu haben“ schien65. Er informierte Reich über geplante Neuerscheinungen und führte in dessen Auftrag Verhandlungen über die Übersetzung , die er meist direkt an den letzten Korrekturbögen des Originals vornahm.66 Außerdem kann man wohl davon ausgehen, dass er an der Auswahl und Lieferung der Importwaren beteiligt war.67 Mit ähnlichen Agenten in anderen Städten war Reich so in der Lage , ausländische Literatur schneller als nahezu jeder andere deutsche Verleger auf den einheimischen Markt zu bringen.

61 A. D. McKillop : „On Sir Charles Grandison‘ “, in : Samuel Richardson. A Collection of Critical Essays , hg. v. John Carroll , Englewood Cliffs , NJ: Prentice-Hall , 1969 , 124–138 , hier 124. 62 Siehe auch den Beitrag von Till Kinzel in diesem Band. 63 [ Lehmstedt : ] Philipp Erasmus Reich , 48 , 65–67. 64 Vgl. Willenberg : Distribution und Übersetzung , 306. Zu den im achtzehnten Jahrhundert zur Verfügung stehenden Lehr- und Lernmaterialien siehe ausführlich Klippel : Englischlernen im 18. und 19. Jahrhundert , 59–73 , 93–99. 65 Willenberg : Distribution und Übersetzung , 92. 66 Vgl. Lehmstedt : Struktur und Arbeitsweise , 130–132 ; Willenberg : Distribution und Übersetzung , 203–205 , 238–245. 67 So die Vermutung von Fabian /  Spieckermann : The House of Weidmann in Leipzig , 316 f.



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In der zweiten Hälfte des achtzehnten  Jahrhunderts erlangte die Weidmannsche Buchhandlung damit eine „marktbeherrschende Stellung auf dem Gebiet des Übersetzungswesens“68. Nur selten zog Reich hier den Kürzeren, wie etwa im Fall der Übersetzung von Edward Gibbons ( 1737–1794 ) mehrbändigem monumentalen Geschichtswerk The History of the Decline and Fall of the Roman Empire ( ab 1776 ), um die er bereits mehr als zwei Monate vor dem Erscheinen des ersten Bandes des Originals mit seinem Leipziger Mitbewerber Johann Friedrich Weygand ( 1743–1806 ) – einem weiteren führenden Verleger englischer Literatur – wetteiferte.69 Sein Engagement in diesem Bereich ließ sich Reich einiges kosten, wie am Beispiel der fünf Monate nach dem Original erscheinenden Übertragung von William Robertsons ( 1721–1793 ) History of America ( 1777 ) deutlich wird , wobei er sich gegen vier Konkurrenten durchsetzte : 200 Pfund Sterling ( 900 Thaler ) erhielt der englische Verleger für die Übermittlung der Druckbögen des Originals , das Übersetzerhonorar von Johann Friedrich Schiller lag mit sechs Thalern pro übersetztem Bogen beim Doppelten des bis in die achtziger Jahre üblichen Durchschnittshonorars70 von um die drei Thaler. Zudem erhielt Reichs Londoner Korrespondent für seine Tätigkeit noch anteilige Zahlungen, die jährlich bei mehr als 50 Pfund gelegen haben dürften. Bevor das Werk in 1500 Exemplaren überhaupt in Druck gehen konnte , hatte Reich bereits fast 1500 Thaler investiert – eine Summe , die sich u. a. nur rechnen konnte , weil fast die Hälfte der Titel im Sortiment von Weidmanns Erben und Reich Übersetzungen waren und die Honorare dafür ( wenn man von gefragten Männern wie Schiller absieht ) zumeist deutlich günstiger als die für Originalautoren waren.71 Zwischen 1747 und 1787 ließ Reich 205 Titel bzw. 394 Bände aus dem Englischen übersetzen. Das entsprach 63 bzw. 61 Prozent aller Übersetzungen im Verlagsprogramm. Dass Übersetzungen aus dem Französischen mit 31 bzw. 34 Prozent folgten, bedeutete eine umgekehrte Relation zum zu dieser Zeit sonst Üblichen, die sich durch die anwachsende „Modewelle der Anglophilie“ im Allgemeinen und die hohe Eng-

68 Lehmstedt : Struktur und Arbeitsweise , 17. 69 Sowohl Reich als auch Weygand brachten in den späteren siebziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts jeweils jährlich durchschnittlich zwischen vier und sieben Titel britischer Literatur heraus und standen damit im deutschsprachigen Raum gemeinsam an der Spitze. Wiederholt kam es zwischen beiden auch zu Diskussionen über eventuelle Absprachen, um etwa das zeitgleiche Erscheinen zweier unterschiedlicher Übersetzungen desselben Originalwerkes zu vermeiden. Vgl. Fabian : English Books and Their Eighteenth-Century German Readers , 24 f. 70 Für die Übersetzung des Grandison hatte Reich 1754 ein Übersetzerhonorar von zwei Thalern bis zwei Thaler und 12 Groschen je Bogen gezahlt. 71 Vgl. Willenberg : Distribution und Übersetzung , 200 f., 203–206 ; ausführlich Lehmstedt : Die Geschichte einer Übersetzung , 269–292 mit dem Abdruck umfangreichen Briefmaterials. Die Werke von Gibbon und Robertson stehen zugleich sinnbildlich für die wachsende Bedeutung historiographischer Literatur im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts. Vgl. Fabian : The English Book in EighteenthCentury Germany , 34 f.

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land-Affinität des Verlegers im Besonderen erklärte.72 Überhaupt machten in diesem Zeitraum die aus dem Englischen übersetzten Titel fast ein Drittel des gesamten Verlagsprogramms aus. In beiden Segmenten war das Haus damit ein wichtiger Vermittler , vor allem angesichts der Tatsache , dass die Übersetzungen sehr schnell auf die Veröffentlichung der Originale folgten. Zunächst etwa in Jahresfrist besorgt , gelang es Reich , den Abstand oft auf wenige Wochen zu verringern. Insgesamt waren so drei Viertel der übersetzten Titel im Original nicht älter als zwei Jahre.73 Stellenweise erschien die Übersetzung gar zeitgleich zum fremdsprachigen Original , was freilich allzu häufig – gerade beim „Vielübersetzer“ Schiller – auf Kosten der Qualität ging.74 Zusätzlich zur Nachwirkung der eigenen England-Erfahrung war Reich hierbei auch von anderen Anglophilen der Zeit beeinflusst , etwa dem Geheimen Kanzleisekretär des Kurfürstentums Hannover und bedeutenden Privatsammler Georg Friedrich Brandes ( 1709–1791 ), der ihn zur Übertragung englischsprachiger Werke anregte und ihm nicht für die Universitätsbibliothek benötigte Importtitel überließ.75

Fazit War in der ersten Hälfte des „Jahrhunderts der Aufklärung“76 der Zugriff auf die literarischen Erzeugnisse des Inselreiches in den deutschen Staaten also noch sehr schwierig

72 Zahlen nach Lehmstedt : Struktur und Arbeitsweise , 17–20 ( Zitat : 20 ); vgl. auch Willenberg : Distribution und Übersetzung , 191 f. Die Übersetzungspraxis unter Reich steht dabei auch für den zeittypischen Abschluss eines Übergangsprozesses im Übersetzungswesen, bei dem nun direkt auf die englischsprachigen Originaltexte zurückgegriffen wurde. In der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts waren Übertragungen in der Mehrzahl der Fälle , wie erwähnt , unter Nutzung einer französischsprachigen Übersetzung , also mit einem Zwischenschritt erfolgt ( vgl. ebd., 164–174 ; Stockhorst : Introduction, 14–18 ; Oz-Salzberger : The Enlightenment in Translation, 394 f. ), wie überhaupt zunächst Frankreich „Umschlagplatz und Drehscheibe des von England kommenden geistigen Verkehrs war [ … ]“ ( Maurer : Aufklärung und Anglophilie , 28 ; dazu auch Willenberg : Distribution und Übersetzung , 151–164 ). 73 Vgl. Lehmstedt : Struktur und Arbeitsweise , 20–22 ; ders.: Die Geschichte einer Übersetzung , 267 f. 74 Vgl. Willenberg : Distribution und Übersetzung , 310–319 ; Lehmstedt : Struktur und Arbeitsweise , 119–123. Neben dem häufigen Zeitdruck und der nicht systematischen Ausbildung der Übersetzer dürfte hierzu auch beigetragen haben, dass Rücksprachen mit dem Autor die absolute Ausnahme bildeten ( vgl. Fabian : The English Book in Eighteenth-Century Germany , 98 f ). Die buchästhetische Qualität der von Reich verlegten Titel lag demgegenüber auch international mit an der Spitze. Parallel wurden häufig gleichwohl günstigere Ausgaben auf billigerem Papier veröffentlicht , was einige Vorbildwirkung entfalten sollte ( vgl. ebd., 22 f.; [ ders. ]: Philipp Erasmus Reich , 109–111 ). 75 Vgl. Maurer : Aufklärung und Anglophilie , 49 ; Willenberg : Distribution und Übersetzung , 26 , 205. Zur Bedeutung der Göttinger Bibliothek bei der Vermittlung britischer Literatur in den deutschsprachigen Raum vgl. Fabian : English Books and Their Eighteenth-Century German Readers , 33 f., 58 f. 76 Vgl. Möller : Vernunft und Kritik , 11–19.



Philipp Erasmus Reich und die Verbreitung britischer Literatur in Deutschland 

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bis fast unmöglich gewesen, hatte sich zum Jahrhundertende hin einiges verändert.77 Einrichtungen wie die Göttinger Universitätsbibliothek oder Sammler wie Lessing sorgten jenseits des preisintensiven privaten Erwerbs für eine allmählich wachsende Verfügbarkeit von Titeln aller Genres. Reisende gaben ihre Eindrücke einem interessierten Publikum weiter und formten das England- bzw. Britannienbild der Zeit.78 Zeitschriften informierten ab der Jahrhundertmitte mit Rezensionen, Inhaltsangaben und Dichterbiographien über das kulturelle und wissenschaftliche Leben jenseits des Ärmelkanals. Seit den sechziger Jahren entstanden Lese- und Sprachgesellschaften, in denen die englische Kultur gepflegt wurde. Deutsche Autoren bedienten sich zunehmend englischer Zitate und Fachbegriffe. Ein Angehöriger des Bildungsbürgertums dürfte zum Ende des Jahrhunderts hin durchschnittlich um die einhundert englische Bücher in seiner Bibliothek besessen haben. Bei alledem handelte es sich um Prozesse , zu denen Phillip Erasmus Reich als Lieferant und Multiplikator mit beitrug.79 In besonderer Weise dürfte er zur Verbreitung fiktionaler Texte und dabei besonders aufstrebender Gattungen wie dem Roman beigetragen haben : Fast die Hälfte der gesamten Verlagsproduktion unter der Ägide von Reich entstammte dem Bereich der schönen Literatur , was weit über dem Durchschnitt der Zeit lag. Besonders hoch war der Anteil von Romanen und Erzählungen, der allein mehr als 20 Prozent der Gesamtproduktion umfasste. Im Jahrfünft nach Reichs Übernahme der Buchhandlung hatte er bei 15 ,5 Prozent gelegen, um dann zwischen 1533 und 1772 konstant mehr als 30 Prozent zu erreichen – mit einem Höhepunkt von 38 Prozent im Zeitraum zwischen 1763 und 1767. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang mit Blick auf die Übersetzungen ( sowohl aus dem Englischen als auch dem Französischen ): Hier lag der Anteil der belles lettres an der Gesamtproduktion ebenfalls bei rund 50 Prozent , von denen Roman­ übersetzungen allein 95 Prozent ausmachten. Führt man beide Bereiche zusammen, gelangt man zu folgendem Ergebnis : Bei knapp drei Viertel bzw. zwei Drittel aller von Weidmanns Erben und Reich veröffentlichten belletristischen Texte handelte es sich um Übersetzungen – „die Spezialisierung des Verlages auf Belletristik und die Spezialisierung auf Übersetzungen waren nur zwei Seiten ein und derselben Medaille“.80 Dieses Segment spiegelt für Deutschland mithin jenen „Aufstieg des Romans“ wider , wie ihn Ian Watt u. a. am Beispiel von Richardsons Pamela und Clarissa für England dargestellt hat.81

77 Vgl. Inbar : Zum Englischstudium im Deutschland des XVIII. Jahrhunderts , 22–28 ; Willenberg : Distribution und Übersetzung , 95–101. 78 Zu diesem Aspekt Maurer : Aufklärung und Anglophilie , 22–26 ; Willenberg : Distribution und Übersetzung , 31–43. 79 So erhielten Privatgelehrte wohl einen Nachlass von zehn Prozent bei Käufen. 80 Zahlen nach Lehmstedt : Struktur und Arbeitsweise , 14–16 , 20 f. ( Zitat 21 ). 81 Vgl. Ian Watt : Der bürgerliche Roman. Aufstieg einer Gattung. Defoe , Richardson, Fielding , aus dem Englischen von Kurt Wölfel , Frankfurt a. M.: Suhrkamp , 1974 ( englisches Original 1957 ), 157–201 ( Pamela ), 243–279 ( Clarissa ).

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 Martin Munke

Daneben gibt es noch weitere Gründe für die hohe Bedeutung des Hauses. Zugleich nämlich war das Weidmannsche Verlagsprogramm ein Programm der deutschen und westeuropäischen Hochaufklärung. Zahlreiche Werke , die den Gang der Emanzipation des europäischen Bürgertums begleitet und nachhaltig beeinflusst haben, erschienen im Original oder in Übersetzungen unter dem Firmennamen der W[ eidmannschen ] B[ uchhandlung ], das Personenregister zur Verlagsbibliografie liest sich wie ein kleiner Who is who der deutschen, englischen und französischen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.82

Die von Reich angestoßen Reformen auf dem Buchmarkt trugen zur Entfaltung der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ im achtzehnten Jahrhundert bei. Es handelte sich dabei zwar um „keine Reformen im Sinne einer projektierten Neuerung“ – die modernen Handels-, Organisations- und Rechtsformen wurden gleichsam in „Erledigung seiner Geschäfte“83 von Reich mit eingeführt. Aber „als deutschsprachige Autoren noch händeringend nach Publikationsmöglichkeiten suchten“, ihre Teilnahme am entstehenden Umfeld dieser Öffentlichkeit also noch eingeschränkt war , ermöglichten Reichs vielfältige Kontakte bereits eine Ausweitung des Kommunikationsfeldes. Sein Verlag wurde „zum Umschlagplatz der Nachrichten aus den literarischen Zentren, in denen er seine Informanten hatte. Solche Formen der Öffentlichkeit sind , auch wenn sie nicht als solche intendiert waren, ein radikaler Bruch mit den Prinzipien der ständischen Gesellschaft.“84 Die literarische Kommunikation in den deutschen Einzelstaaten wurde so allmählich verbessert , wenn auch das Problem der Zensur85 noch weiter bestehen blieb. Bei alledem war es auch das Vorbild England bzw. Großbritannien, das Reich in seinen Aktivitäten beeinflusste , zumal der Aufstieg des Englischen als Fremdsprache eng mit der Ausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit zusammenhing.86 Diese Prägung vermittelte der Verleger durch Import und Übersetzung in die entstehende deutsche Öffentlichkeit weiter , womit er als „Grandison unter den Buchhändlern“87 zu einem wichtigen Protagonisten des Zeitalters der Anglophilie wurde.

82 Lehmstedt : Struktur und Arbeitsweise , 32. 83 Rosenstrauch : Philipp Erasmus Reich – Bourgeois und Citoyen, 98 f. 84 Ebd., 101. 85 Zum Thema Zensur im achtzehnten Jahrhundert vgl. ausführlich Wilhelm Haefs und York-Gothart Mix ( Hg. ): Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Göttingen : Wallstein, 2006. 86 Vgl. Klippel : Englischlernen im 18. und 19. Jahrhundert , 40–43. 87 Das zeitgenössische Zitat zuletzt bei Jennifer Willenberg : „Reich , Philipp Erasmus“, in : Sächsische Biografie , hg. v. Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V., bearb. v. Martina Schattowsky , http://saebi.isgv.de/biografie/Philipp_Erasmus_Reich_(1717–1787), letzter Zugriff 22. Juni 2016.

Till Kinzel

Gotthold Ephraim Lessing und Johann Joachim Eschenburg als Leser und Vermittler Samuel Richardsons Wege der deutschen Anglophilie im achtzehnten Jahrhundert Deutsche Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts haben sich intensiv mit Texten ihrer englischen Zeitgenossen auseinandergesetzt – literaturkritisch , übersetzerisch , literarisch , philosophisch. Im allgemeinen sind solche Prozesse des Kulturtransfers recht gut bekannt , haben doch schon frühere Studien ein oft beeindruckendes Datenmaterial zutage gefördert , das die Breite jener Rezeptionsprozesse spiegelt , die sich ( zumindest ) zwischen England und Deutschland abspielten.1 „Zumindest“ muss es deshalb heißen, weil oft der Umweg über Frankreich begleitend , unterstützend , aber verzerrend hinzukommt , wovon nicht zuletzt deutsche Übersetzungen aus dem Französischen von ursprünglich englischen Werken zeugen, die manchmal zudem wahrheitswidrig als Übersetzungen aus dem Englischen präsentiert wurden.2 Prototypisch mag für die Bedeutung des hier anvisierten Kulturtransfers ein Satz des Braunschweiger Philosophen und Philosophiehistorikers Willy Moog stehen, der in diesem Zusammenhang bemerkte : „Für die geistige Kultur Deutschlands im achtzehnten Jahrhundert ist außer der Leibnizschen Philosophie auch die englische Philosophie der Zeit von Bedeutung geworden, zum Teil durch Vermittlung der auch von der englischen abhängigen französischen Philosophie.“3 Philosophie , Theologie und Literatur waren damals zudem in vielfacher Weise miteinander verbunden, wie klar wird , wenn man etwa an das intensiv rezipierte Werk Shaftesburys in thematischer und stilistischer Hinsicht denkt.4 Dies gilt

1 Siehe etwa Lawrence Marsden Price : Die Aufnahme englischer Literatur in Deutschland 1500–1960 , Bern / München : Francke , 1961 ; Horst Oppel : Englisch-deutsche Literaturbeziehungen I: Von den Anfängen bis zum Ausgang 18. Jahrhunderts , Berlin : Schmidt , 1971 ; Bernhard Fabian : Selecta Anglicana. Buchgeschichtliche Studien zur Aufnahme der englischen Literatur in Deutschland im achtzehnten Jahrhundert , Wiesbaden : Harrassowitz , 1994 ; Norbert Bachleitner und Murray G. Hall ( Hg. ): „Die Bienen fremder Literaturen“. Der literarische Transfer zwischen Großbritannien, Frankreich und dem deutschsprachigen Raum im Zeitalter der Weltliteratur ( 1770–1850 ), Wiesbaden : Harrassowitz , 2012. 2 Siehe dazu die grundlegende Studie von Jennifer Willenberg : Distribution und Übersetzung englischen Schrifttums im Deutschland des 18. Jahrhunderts , München : Saur , 2008. 3 Willy Moog : Das Leben der Philosophen, Berlin : Junker und Dünnhaupt , 1932 , 159. Moog ist selbst eine interessante Figur der Braunschweiger Geistesgeschichte. Siehe dazu jetzt Nicole C. Karafyllis : Willy Moog ( 1888–1935 ). Ein Philosophenleben, Freiburg : Alber , 2015. 4 Zur Shaftesbury-Rezeption siehe Mark-Georg Dehrmann : Das „Orakel der Deisten“. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung , Göttingen : Wallstein, 2008 sowie jetzt auch zur Shaftesbury-Rezeption in der Theologie Georg Raatz : Aufklärung als Selbstdeutung. Eine genetisch-systematische Rekonstruktion

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 Till Kinzel

auch für die literarischen Werke von Samuel Richardson, die in engen Beziehungen zu den philosophischen und theologischen Diskussionen ihrer Zeit stehen und nur vor diesem Hintergrund angemessen verstanden werden können, wie etwa Bezüge auf Bernard Mandevilles Fable of the Bees zeigen, um nur ein Beispiel zu nennen.5 Alle Rezeptionswege in bestimmten Einzelfällen zu sichten, ist in vielen Fällen immer noch ein wichtiges Desiderat , um über oft kursorische und allzu knappe Angaben in der einschlägigen Literatur hinauszukommen. Vielfach sind zudem Rezeptionszeugnisse nicht im eigentlichen schriftstellerischen Werk eines Autors zu finden, sondern in Briefwechseln oder auch in Rezensionen, die sich teilweise nur schwer oder gar nicht einem bestimmten Verfasser zuordnen lassen. Im Folgenden soll es darum gehen, einen Eindruck von der Vielschichtigkeit der Rezeption zu gewinnen, welche die Schriften Samuel Richardsons im Zeitalter der Aufklärung in Deutschland erfahren haben. Dabei soll die Aufmerksamkeit exemplarisch vor allem auf Gotthold Ephraim Lessing und seinen ( späteren ) Braunschweiger Freund Johann Joachim Eschenburg gelenkt werden, die sich in ganz unterschiedlicher Weise mit dem Werk des englischen Verlegers und Autors befasst haben. Dabei fällt der Blick am Rande auch auf einige andere Zeitgenossen, die demselben Diskursfeld wie Lessing und Eschenburg angehörten. Die Geschichte der Übersetzungen von Richardsons Romanen ins Deutsche ist bereits gründlich aufgearbeitet worden und soll daher hier nicht weiter repetiert werden.6 Indes kann es aufgrund der heute eher verblassten Kenntnis von Richardsons Texten nicht schaden, einen Satz Erich Schmidts von 1875 zu wiederholen, der eine damals verbreitete Einschätzung widerspiegelt : „Richardson gehört so gut in die Geschichte des deutschen, wie in die des englischen Romans.“ In Deutschland habe Richardson Epoche gemacht , doch gelte dies nicht im eigentliche Sinne für England , weil Richardson dort „keine tiefer greifende Nachwirkung und fast keinen Genossen auf der von ihm betretenen Bahn“ fand. In England hätten seine Romane den „Höhepunkt einer langsam erfolgten Entwicklung“ bedeutet , während sie in Deutschland

von Johann Joachim Spaldings „Bestimmung des Menschen“ ( 1748 ), Tübingen : Mohr Siebeck , 2014 , 104–222 , 269–334. Shaftesbury kann im Kontext der Diskussion um das Geschmackskonzept kaum in seiner Bedeutung überschätzt werden. 5 Siehe in diesem Zusammenhang auch Till Kinzel : „Fiktionale Diskurse der Verbindlichkeit in der britischen Literatur des 18. Jahrhunderts von Daniel Defoe bis William Godwin“, in : Das Band der Gesellschaft. Verbindlichkeitsdiskurse im 18. Jahrhundert , hg. v. Simon Bunke , Katerina Mihaylova und Daniela Ringkamp , Tübingen : Mohr Siebeck , 2015. 6 Astrid Krake : „How art produces art“. Samuel Richardsons „Clarissa“ im Spiegel ihrer deutschen Übersetzungen, Frankfurt a.  M.: Lang , 2000 ; siehe auch Astrid Krake : „‚Translating to the moment‘ – Marketing and Anglomania : The First German Translation of Richardson’s Clarissa ( 1747 / 1748 )“, in : Cultural Transfer Through Translation. The Circulation of Enlightened Thought in Europe by Means of Translation, hg. v. Stefanie Stockhorst , Amsterdam : Rodopi , 2010 , 103–119.



Lessing und Eschenburg als Leser Richardsons 

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neue Wege eröffneten.7 Indem Richardson dem Briefroman eine zuvor nicht gekannte psychologische Tiefe gab , gestaltete er eine besondere Form der literarisch vermittelten Innerlichkeit , die auch für die Geschichte des Liebesbriefes von Bedeutung war.8 Richardson wirkte auf englische , französische und deutsche Leser sehr unterschiedlich , auch in Abhängigkeit von einer Generationszugehörigkeit. Man hat daher von einer Verlagerung des Interesses an Richardson „vom lehrhaften zum emotionalen Aspekt“ gesprochen.9 Auch sprachlich fand eine Anpassung der Richardson-Rezeption statt , da einer späteren Generation die erste Clarissa-Übersetzung von Johann David Michaelis aus den Jahren 1748–1749 sprachlich schon nicht mehr zeitgemäß erschien.10

Lessing liest und übersetzt Richardson Lessing gehört schon früh zu den Lesern Richardsons , dessen Romane er kennt , wie er überhaupt eine große Menge von verschiedensten Autoren las und auch übersetzte , darunter in großer Zahl englische Texte.11 Richardsons Romane können als eine literarische Vorlage für das Drama Miss Sara Sampson gelten, was deshalb naheliegt , weil sowohl Lessings Drama , als auch die Romane Richardsons in der „Inszenierung bürgerlicher Tugend bei gleichzeitiger Psychologisierung“ ihren Vergleichspunkt haben.12 Lessings Lektüren sind im Einzelnen jedoch nur zum Teil dokumentiert , auch wenn es gerade in Bezug auf Richardsons außerordentlich populäre Romane naheliegt , dass Lessing sie wenigstens angelesen und durchgeblättert hat. In wohl von Lessing stammenden Rezensionen zu den einzelnen Bänden der deutschen Grandison-Übersetzung von Johann Mattheson aus dem Jahre 1754 äußert sich Lessing in aller Kürze aus Anlass der deutschen Übersetzung der „Geschichte des Herrn Carl Grandison, ein Roman des Verfassers

7 Erich Schmidt : Richardson, Rousseau und Goethe. Ein Beitrag zur Geschichte des Romans im 18. Jahrhundert , Jena : Frommannsche Buchhandlung , 1924 , 6. 8 Detailliert wird dies unter dekonstruktivistischen Vorzeichen analysiert von Franz Meier : „Die Verschriftlichung des Gefühls im Briefroman des 18. Jahrhunderts : Richardsons Pamela“, in : Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart , hg. v. Renate Stauf , Annette Simonis und Jörg Paulus , Berlin / New York : De Gruyter , 2008 , 273–291. 9 Zu Richardson und seiner europäischen Rezeption siehe die konzisen Bemerkungen bei Peter Uwe Hohendahl : Der europäische Roman der Empfindsamkeit. Wiesbaden : Athenaion, 1977 , 32–45 , insbesondere 41–45 , hier 45. 10 Siehe dazu Thomas O. Beebee : „Clarissa“ on the Continent : Translation and Seduction, University Park : Pennsylvania State University Press , 1990 , 182–183. Beebee zitiert hier auch aus dem Vorwort der Clarissa-Version von Friedrich Schulz aus dem Jahr 1788 , der dieser den Titel Albertine gab. 11 Siehe zu Lessings englischer Lektüre Meise , Lessings Anglophilie , Frankfurt a. M.: Lang , 2007 , passim. Zu den Übersetzungen siehe die Volltextausgaben in : http ://lessing-portal.hab.de/index. php?id=142 , letzter Zugriff 29. April 2015. 12 So Monika Fick : Lessing-Handbuch. Leben, Werk , Wirkung , Dritte , neu bearbeitete und erweiterte Auflage , Stuttgart : Metzler , 2010 , 150.

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der Pamela und der Clarissa“. Lessing lobt den Roman in den höchsten Tönen. Die von Lessing verwendeten Worte zur Charakterisierung Richardsons sind vielsagend. Einmal wird dieser mit dem Epitheton „unterrichtend“ versehen, weil man es ihm zu danken habe , „daß man die schärfste Moral in seinen Schriften mit so viel reizenden Blumen ausgeschmückt findet“, was Lessing an sich zu begrüßen scheint. Er gibt gleichsam einen kurzgefassten Lehrgang der unterschiedlichen Ausprägung dieser unterrichtenden Schreibart bei Richardson, indem Pamela , Clarissa und Grandison vor allem hinsichtlich ihrer moralischen Implikationen gewürdigt werden. Erst am Schluss der ersten Rezension wird nach der inhaltlichen Dimension auch die formale berührt , indem Lessing die Wirkung der Art der Darstellung betont , die nämlich darin bestehe , „daß der Leser überall fortgerissen wird , und sich für nichts als dem Beschluß fürchtet , den man in tausend andern Romanen schon auf der ersten Seite zu wünschen anfängt.“13 Richardson wird allein mit diesem Schlusssatz weit über die Menge der zeitgenössischen Romanproduktion gehoben, eine Einschätzung , die Lessing in seiner folgenden sehr kurzen Rezension weiterführt , wenn er bemerkt : „Das Meisterstück des Richardson sollte billig allen anderen Büchern dieser Art die Leser entziehen ; und wir hoffen auch , daß es geschehen werde , wenn anders die in allen ihren Reizungen geschilderte Tugend noch fähig ist , die Menschen für sich einzunehmen.“14 Die programmatische Orientierung an der Tugend , die auch für Lessings Poetologie von großer Bedeutung ist , wird von ihm prominent exponiert , auch wenn hier schon ein gewisser Zweifel anklingen mag , ob nicht die Orientierung der Leserwelt an einer reizvoll geschilderten Tugend nur ein vorübergehendes Phänomen sein wird. Immerhin wird man es aber als Ausdruck der eigenen Leseerfahrung Lessings verstehen dürfen, wenn er in der letzten seiner Rezensionen zum Grandison betont , wie begierig „man“ auf jeden Band des Romans sei. Dass er in diesem Zusammenhang nicht nur als Rezensent , sondern auch als Übersetzer und Herausgeber Samuel Richardsons tätig wurde , ist zwar gut bekannt , aber bisher wenig analysiert worden.15 Im Rahmen dieses Beitrags ist es gleichfalls nicht möglich , Lessings Richardson-Übersetzung der Äsopischen Fabeln in der gebotenen Ausführlichkeit , d. h. mit gründlicher Berücksichtigung des Originaltextes von

13 Gotthold Ephraim Lessing : Werke 1754–1757 , hg. v. Conrad Wiedemann, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag , 2003 , 40–41. 14 Lessing : Werke 1754–1757 , 78. 15 Im Lessing-Handbuch findet sich dazu wenig ; Jutta Meise : Lessings Anglophilie , Frankfurt a. M.: Lang , 2007 , geht wegen des Überblickscharakters ihres Buches nur kurz auf die Richardson-Übersetzung ein ( 81–82 ). Sie erwähnt jedoch , dass es sich um die erfolgreichste Übersetzung Lessings zu Lebzeiten handelte , dass die Verknappung der Fabel bei Richardson Lessings eigener Fabelpoetik entsprach und dass Richardson gleichsam als englischer Alliierter „bei der Emanzipation vom französischen Klassizismus“ in der Gestalt des Fabeldichters La Fontaine fungiert habe ( 82 ). Damit bekommt Richardson auch eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Lessing poetologischer Politik zugesprochen.



Lessing und Eschenburg als Leser Richardsons 

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Richardson,16 zu diskutieren, doch soll hier wenigstens nachdrücklich auf die Notwendigkeit einer solchen Analyse hingewiesen werden, die das Original ebenso wie Lessings Übersetzung genauer in der Geschichte der Fabeladaptationen vor allem im englischen Kontext , aber auch mit Blick auf die französischen Fabeldichter situiert.17 Exemplarisch kann hier nur kurz durch eine Gegenüberstellung von Richardsons Original und Lessings Übersetzung veranschaulicht werden, wie sich Lessing begrifflich mit dem englischen Text auseinandersetzt. In der Fabel Der Esel in der Löwenhaut ( An Ass in a Lion’s Skin ) wird , wie üblich , eine dreiteilige Darstellung gewählt , die aus der Fabel selbst , einer Lehre bzw. moral sowie einer Betrachtung ( reflection ) besteht.18 Richardsons „An Ass having found a Lion’s Skin, threw it about him , and masqueraded it up and down the Woods“ wird von Lessing sachgerecht so übertragen : „Ein Esel fand eine Löwenhaut und bekam den Einfall , sich in dieselbe zu hüllen und in dieser Verkleidung den Wald durchzustreichen.“ Doch im Folgenden muss Lessing das englische Original etwas ausführlicher umschreiben. Heißt es bei Richardson über den Esel , „taking it into his Head to imitate the Lion’s Roar , he fell a Braying“, so wird der letzte Satzteil von Lessing mit „Doch dieses Brüllen war das deutliche Geschrei eines Esels“ erklärend verstärkt. Auch heißt es im Englischen, die Waldtiere hätten „his Ears too“ erblickt , nachdem sie das Geschrei als das des Esels identifiziert hatten, was bei Lessing mit einer leichten Tendenz zur Ergänzung zu „langen Ohren“ wird. Dieses Verfahren der Ergänzung scheint Lessing durchgängig anzuwenden, so dass er die Lakonie des Originals durchaus etwas zurücknimmt , etwa auch in der Moral , in der es über den sich verkleidenden Narren heißt , „the arranter Sot he makes himself“, was Lessing zu „desto verächtlicher und lächerlicher wird er“ erweitert. In der abschließenden Betrachtung , die der expliziten Übertragung der Fabel auf das menschliche Leben dient , folgt Lessing dem Original wieder enger. „Fops“ erscheinen als „Narren“, Pretenders“ sind „Prahler“, „Quacks , Juglers , and Plagiaries“ sind „Quacksalber , Taschenspieler und Gaukler“, der Philosoph ist ein Weltweiser und der „Coxcomb“ ein Dummkopf. Ein kleiner Unterschied besteht gegenüber dem Original bei Lessing nur darin, dass er im letzten Satz „[ … ] he meets with the Contempt which he so justly deserves“ ein verstärkendes „gewiß“ einfügt : „alsdann wird er der so wohl verdienten Verachtung gewiß nicht entgehen.“19 Ein gründlicherer Blick in Lessings Äsop-Übersetzung könnte neben einer Analyse der sprachlichen Muster auch Aufschlüsse darüber ermöglichen, inwie-

16 Dieser liegt seit kurzem erstmals in einer kritischen Ausgabe vor. Siehe Samuel Richardson : Early Works , hg. v. Alexander Pettit , Cambridge : Cambridge University Press , 2012 , 101–320. 17 Siehe für einen größeren Überblick , in dem jedoch Richardson nur am Rande Erwähnung findet , die Studie von Harold J. Blackham : The Fable as Literature , London : Athlone , 1985 , 86–87. 18 Samuel Richardson: Early Works , hg. v. Alexander Pettit , Cambridge : Cambridge University Press , 2012 , 262–263 ; Samuel Richardson : Äsopische Fabeln mit moralischen Lehren und Betrachtungen, hg. v. Walter Pape , Berlin : Henssel , 1987 , 250–252. Auf der jeweils ersten angegebenen Seite auch die folgenden Zitate. 19 Richardson: Early Works, 263.

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fern die moralischen Tendenzen der Vorlage auch die Zustimmung Lessings bezüglich seiner eigenen Positionierung in der Gelehrtenwelt fanden.. Im vorliegenden Zusammenhang muss es im weiteren aber genügen, Lessings eigene Kontextualisierung von Richardsons Umdichtung der Äsopischen Fabeln als Kommentar zu verstehen, der sich einerseits zu den anderen Fabeldichtern seiner Zeit kritisch verhält , andererseits auch der Ausdeutung der Fabeln selbst eine Tendenz gibt , die sich von bestimmten Fabellesarten entschieden distanziert , womit vor allem die politischen Auslegungen gemeint sind. Die intensivste Richardson-Rezeption Lessings findet sich demnach im bis heute noch allzu sehr marginalisierten Übersetzungswerk , dessen Bedeutung jedoch immer mehr erkannt wird.20 Davon zeugt nicht zuletzt das Bestreben, eine digitale Edition von Lessings Übersetzungen vorzulegen.21 Des Weiteren kann hier zumindest andeutungsweise erwähnt werden, dass sich Lessings intensive Auseinandersetzung mit Äsop und damit dem äsopischen Schreiben als eine Hinführung erwiesen haben mag , die ihn später die philosophische Exoterik als die spezifische Weise erkennen ließen, der sich „alle alten Philosophen“ bedienten.22 Lessing zeigt in seinem Vorwort des Übersetzers bereits selbst jene Konzision, die auch den Richardson’schen Fabelstil auszeichnet , beginnt er doch damit , zu sagen, was er nicht sagen wird , andere aber sagen würden, die „ein Vergnügen daran fände[ n ], die allerbekanntesten Dinge zu sagen.“23 Lessing führt sich als Vorredner ein, der eben dies nicht tut , die allerbekanntesten Dinge zu sagen, die er damit aber voraussetzt. Er spricht somit zu Lesern, zu denen man gleichsam elliptisch reden kann – denn er wen-

20 Zu Lessings Übersetzungen siehe vor allem „und ihrem Originale nachzudenken“. Zu Lessings Übersetzungen, hg. v. Helmut Berthold , Tübingen : Niemeyer , 2008 ; sowie die Dissertation von Jutta Golawski-Braungart : Die Schule der Franzosen. Zur Bedeutung von Lessings Übersetzungen aus dem Französischen für die Theorie und Praxis seines Theaters , Tübingen : Francke , 2005. 21 Die bisher vorliegende elektronische Ausgabe der Übersetzungen Lessings erfüllt jedoch noch nicht das Desiderat einer zuverlässigen Textgestalt , da sich zahlreiche Lesefehler im Scan-Verfahren eingeschlichen haben. Siehe dazu den Hinweis in Denis Diderot : Das Theater des Herrn Diderot. Zweisprachige , synoptische Edition von Denis Diderots „Le fils naturel“ ( 1757 ) und „Le père de famille“ ( 1758 ) sowie der „Entretiens sur Le fils naturel“ und dem Essay „De la poésie dramatique“ in der Übersetzung Gotthold Ephraim Lessings ( 1760 ), hg. und kommentiert v. Nikolas Immer und Olaf Müller , St. Ingbert : Röhrig , 2014 , 640 Anm. 7. 22 Gotthold Ephraim Lessing : Leibnitz von den ewigen Strafen, in : FA 7 , 483. Siehe dazu Till Kinzel : Lessing und die englische Aufklärung. Bibelkritik und Deismus zwischen Esoterik und Exoterik , Wolfenbüttel 2011 ; zum Komplex der Esoterik und Exoterik siehe weiterhin die konzise Darstellung von Cord-Friedrich Berghahn : „ ‚Wahrheiten, die man besser verschweigt‘. Exoterik und Esoterik bei Lessing und Mendelssohn“, in : Lessing Yearbook / Jahrbuch XXXIX ( 2010 / 2011 ) [=Lessing und die jüdische Aufklärung , hg. v. Stephan Braese und Monika Fick ], 159–181. 23 Siehe Lessings Vorrede des Übersetzers in Samuel Richardson : Äsopische Fabeln mit moralischen Lehren und Betrachtungen, hg. v. Walter Pape , Berlin : Henssel , 1987 , 5–7 , hier 5. Es gibt auch einen Faksimile-Druck des Originals von Lessings Übersetzung unter dem damaligen Titel : Sittenlehre für die Jugend in den auserlesensten äsopischen Fabeln, aus dem Englischen übertragen und mit einer Vorrede von Gotthold Ephraim Lessing , Leipzig : Insel , 1977.



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det sich an jene , die in diesem Vorwort nicht suchen werden, „was man überall finden kann“.24 Deshalb ist in Lessings Ausgabe auch die Darstellung des Lebens von Äsop fortgelassen. Lessing gibt im Weiteren eine kurzgefasste Geschichte der Entstehung des Buches von Richardson, der damit auf die englische Fabeldichtung eines gewissen S. Croxall reagiert , der wiederum den bei den Engländern berühmten Roger L’Estrange angeschwärzt hatte. Der Vorwurf hatte darin bestanden, dass der Franzose „ein Feind der Freiheit und ein gedungener Sachwalter des Papsttums“25 sowie des Absolutismus sei. Ein solches Buch aber sei nichts für eine „freigeborne Jugend“26 wie die Englands. Richardson nun habe eine Bearbeitung vorgenommen, die einerseits die angeblich gewaltsamen politischen Deutungen des Franzosen zurücknahm , andererseits aber solche Deutungen, die „keine andre als politische Anwendung litten, mit aller möglichen Lauterkeit der Absichten“ adaptierte.27 Man bekommt mithin diesem Plan Richardsons zufolge einen stärker ethisch als politisch gedeuteten Äsop geboten, doch vor allem einen gegenüber den Vorlagen stark bearbeiteten Äsop , der nach Lessing nicht mehr eine bloße Adaption war , sondern eine „eigne Geburt“.28 Den Rang Richardsons kennzeichnet Lessing ebenfalls in einer sehr verkürzten Form , weil es unnötig sei , „sich in eine weitläuftigere Anpreisung einzulassen.“29 Im Grunde belässt es Lessing bei drei Fragen, die offensichtlich rhetorisch gemeint sind. Es könne nämlich nicht mittelmäßig sein, so suggeriert Lessing in seiner ersten Frage , was der Verfasser der Pamela , der Clarissa und des Grandison verfertigt habe. Dazu kommen zwei Fragen, die sich erstens auf die Herzensbildung und Beförderung der Tugend beziehen, also auf den moralischen Zweck der Fabeldichtung , sowie zweitens auf die Vermittlung der Wahrheit im Gewande einer „gefälligen Erdichtung.“30 Aufgrund der Autorität , die sich Samuel Richardson als Autor der genannten Romane in der Menschenkenntnis erschrieben habe , könnten auch die Fabeln als das Werk eines Kenners der menschlichen Natur gelten. Und zugleich mit der großen Menschenkenntnis Richardsons wird auch seine Einsicht in den Vermittlungsvorgang selbst gepriesen, denn er wisse besser als jeder andere , „wieviel die Wahrheit über menschliche Gemüter vermag , wenn sie sich , die bezaubernden Reize einer gefälligen Erdichtung zu borgen, herabläßt“.31 Die dichterische Hülle erscheint hier als ein Hilfsmittel der an sich höherwertigen Wahrheit , die sich erst zu den Menschen herablassen müsse , die aber andererseits zu ihrer Verwirklichung im Leben auf Bezauberung und Gefälligkeit achten müsse , ohne die sich keine Wahrheiten und schon gar keine Tugend vermitteln ließen. Das Interesse Lessings an

24 Lessing : „Vorrede des Übersetzers“, 5. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd., 6. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd., 7.

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 Till Kinzel

der Tugend ist sicher , auf das Werkganze und insbesondere die Rettungen bezogen, differenziert zu würdigen ; im Blick auf seine Richardson-Rezeption aber bejaht Lessing die enge Verknüpfung von Moralität und dichterischer Gestaltung.

Eschenburg liest Richardson Der Braunschweiger Gelehrte , Professor , Übersetzer und Netzwerker Johann Joachim Eschenburg gehörte zu den wichtigsten Vertretern der Anglophilie in der deutschen Aufklärung und kann als Pionier der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der englischen Literatur und Kultur gelten.32 Er hat sich über die Jahre immer wieder mit Richardson beschäftigt. Zwar hat er selbst keine ausführliche Abhandlung über den englischen Autor vorgelegt , aber doch ausreichend literarische Spuren hinterlassen, die von der beachtenswerten Bedeutung der Richardson-Lektüren für Eschenburg zeugen. Zentral ist hier die Würdigung , die Eschenburg über Richardson im Rahmen seiner Beispielsammlung verfasst hat und aus der einige aufschlussreiche Passagen hier zitiert seien, weil in diesem Text exemplarisch die Form von Eschenburgs lexikonartiger Literaturkritik sichtbar wird. An der Eschenburgischen Kurzcharakteristik Richardsons lässt sich so auch ablesen, was ein gebildeter Leser der Zeit mindestens von Richardson gewusst haben wird. Eschenburg gibt zunächst eine Charakteristik von Richardson als Person, indem er auf dessen Werdegang eingeht und darin schon die Keime des späteren Schriftstellers erblickt. Richardson habe sich dann erst im reiferen Alter entschlossen, größere Werke zu schreiben : Und diesem Entschlusse verdankt die Schreibart der Romane überhaupt eine ganz neue Epoche. Nicht bloß die Form der Briefe , die so viel zur völligern Entwicklung der Gesinnungen, Charaktere und Leidenschaften, zur Auseinandersetzung der Umstände und Situationen, und zur Mannigfaltigkeit des Tons und Vortrags beiträgt ; sondern der ganze innere Gehalt der Darstellung gewann durch Richardson’s Bearbeitung eine vorhin nie erreichte , musterhafte Würde.33

Eschenburg sieht also das literaturgeschichtlich Neue , das in aller Knappheit charakterisiert wird. Überall verrate Richardsons planvolles Vorgehen in der Erzählung den Meister , doch genüge es nicht , Richardsons Werke als literarische Leistungen zu würdigen. Vielmehr hätten dessen Werke „auch von Seiten der Belehrung und Bereicherung

32 Siehe grundlegend Michael Maurer : Aufklärung und Anglophilie in Deutschland , Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht , 1987 ; Till Kinzel : „Eschenburg als Pionier der Anglistik : Interkulturelle Vermittlungsarbeit am Beispiel seiner Jahresberichte für die Annalen der Brittischen Geschichte in den 1790er Jahren“, in : Cord-Friedrich Berghahn / Till Kinzel ( Hg. ): Johann Joachim Eschenburg und die Künste und Wissenschaften zwischen Aufklärung und Romantik. Netzwerke und Kulturen des Wissens , Heidelberg : Winter , 2013 , 141–157. 33 Johann Joachim Eschenburg : Beispielsammlung zur Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, Bd. VIII 2 , Berlin / Stettin : Nicolai , 1795 , 236–237.



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der Welt- und Herzenskunde“ große Bedeutung. Bevor Eschenburg im Weiteren zur Besprechung der einzelnen Werke Richardsons übergeht , rundet er den Einleitungsteil seines Textes mit der folgenden Charakteristik ab , die trotz seines im weiteren Verlauf auch kritischen Urteils vor allem über den Grandison überaus positiv ausfällt : „Mit Recht bewundert man das feine Gefühl , welches diesem edeln Schriftsteller immer getreu blieb , über jeden Zug seiner Feder wachte , und auf sein Genie , seinen Witz , seine Gesinnungen und Sittengemälde so vortheilhaft wirkte.“34 Sein erstes Werk dieser Art war Pamela , or , Virtue Rewarded , wovon die erste Ausgabe im J. 1740 erschien. Diesen Titel hat man nicht ganz ohne Grund getadelt. Das Glück , welches Pamela macht , ist immer mehr äusseres als ein inneres und ächtes Glück ; sie wird an einen reichen und vornehmen Mann verheirathet , dessen Grundsätze aber nichts weniger als groß und edel sind ; hier ist also mehr scheinbare , als wahre Belohnung der Tugend. Es war indeß des Verfassers Absicht gewiß nicht , die Würdigung moralischer Vorzüge irgend in ein falsches , oder nur zweifelhaftes Licht zu stellen. Vielmehr gieng sie , wie er es auf dem weitläuftigen Titel der ersten Ausgabe , und in der Vorrede noch umständlicher angiebt , dahin, der Jugend beiderlei Geschlechts die Grundsätze der Tugend und Religion tief ins Herz zu prägen, die Pflichten der Eltern und Kinder , und der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt , in ein helleres Licht zu setzen ; das Laster mit verhassten, und die Tugend mit reizenden Farben zu schildern ; wahre und treu beibehaltene Charaktere zu entwerfen ; widrige Vorfälle aus natürlichen Ursachen herzuleiten, warnende und abschreckende Beispiele des Verhaltens aufzustellen. Und diese Absichten hat er gewiß auch bei vielen Lesern erreicht. Gleich nach seiner ersten Erscheinung erhielt dieser Roman ausserordentlichen Beifall , und wurde selbst von verschiednen Geistlichen, besonders von Dr. Slocock , auf der Kanzel empfohlen. Verglichen mit den beiden folgenden, ist indeß dieser Roman gewiß wohl der schwächste , wegen mancher zu einförmigen und handlungsleeren Briefe , und eines nicht immer gleich thätig und rege gehaltenen Interesse[ s ]. R. scheint dieß selbst gefühlt zu haben ; er hatte in seinen letzten Jahren vieles geändert , weggestrichen, und das Ganze völlig umgearbeitet ; er starb aber , ehe er diese neue Ausgabe ins Publikum brachte ; und bisher ist von seiner Handschrift noch nicht öffentlicher Gebrauch gemacht. Der zweite , und nach dem einstimmigen Urtheile der Kenner , der vorzüglichste Roman dieses Verfassers ist : The History of Miss Clarissa Harlowe , in a Series of Letters. „Mich setzte immer , sagt Diderot mit Recht , das Genie in Erstaunen, das dazu gehörte , sich ein junges Frauenzimmer zu bilden, welches voller Klugheit und Vorsicht ist , welches keinen einzigen Schritt thut , der kein Fehltritt ist , ohne daß man ihr darüber Vorwürfe machen könnte ; denn sie hat grausame Eltern und Verwandte , und einen abscheulichen Menschen zum Liebhaber. Welch ein Genie also , dieser kleinen Spröden die munterste und flatterhafteste Freundin zu geben, welche nichts sagt und thut , als was vernünftig ist , ohne daß die Wahrscheinlichkeit dadurch beleidigt würde ; dieser wieder einen rechtschaffenen Menschen zum Liebhaber zu geben, der aber schwerfällig und lächerlich ist , dem seine Geliebte nicht die geringste Hoffnung erlaubt , ob er gleich die Einwilligung und den Beistand ihrer Mutter hat ; im Lovelace die seltensten guten Eigenschaften und die hassenswürdigsten Laster zu vereinigen, die Niederträchtigkeit mit der Großmuth , eine ernste und kindische Denkart , Hitze und Kaltblütigkeit , Vernunft und Thorheit ; einen Bösewicht

34 Ebd., 237.

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aus ihm zu machen, den man hasst , den man liebt , den man bewundert , den man verachtet , der uns in Erstaunen setzt , er zeige sich in welcher Gestalt er wolle , und der keinen Augenblick einerlei Gestalt behält ! Und jene Menge Nebenpersonen, wie schön sind sie nicht charakterisirt ! Wie viele sind ihrer nicht ! Belford mit seinen Freunden, und Mistreß Howe , und ihr Hickman, und Frau Norton ; und in dem Harlowischen Hause Vater , Mutter , Bruder , Schwestern, Vetter und Tanten, und alle die Geschöpfe , welche sich an jenem Ort der Verführung aufhalten. Wie vielfachen Kontrast machen nicht das Interesse und die Gemüthsstimmungen ! Wie handeln wie reden alle ! Wie hätte ein junges Mädchen, die allein wider so viele vereinte Feinde zu kämpfen hatte , nicht erliegen, nicht fallen sollen ? Und doch , welch ein Fall !“ – Man hat oft dieser Geschichte eine zu lange Ausspinnung des Stofs , und dadurch entstandne Langweiligkeit der erstern Theile vorgeworfen, und daher noch unlängst eine deutsche abkürzende Umarbeitung für nöthig gehalten. Und freilich ist das Interesse der ersten Bände mit dem der folgenden, und besonders des letzten, nicht in Vergleich zu bringen. Aber nahrungslos für Geist und Herz sind doch auch jene ersten Theile gewiß nicht ; und wer die Clarissa zum zweitenmale liest , überschlage ja die erste Hälfte nicht ; denn nun wird er sie erst schätzen lernen, und in ihr so vieles angelegt und mit der feinsten Kunst vorbereitet sehen, was durch diese Anlage und Vorbereitung in der Folge , und da , wo alle Triebfedern der großen Maschine in volle Bewegung und Arbeit gerathen, desto wirksamer wird. Auch wider den Charakter des Lovelace hat man manche Einwürfe gemacht ; aber nicht bloß als poetischer Charakter , auch selbst von der moralischen Seite genommen, bleibt seine Zeichnung und Haltung immer höchst bewundernswürdig. „Richardson allein, sagt Dr. Johnson, hatte es in seiner Gewalt , uns zugleich Hochachtung und Abscheu zu lehren ; durch tugendhafte Gesinnung alles das Wohlwollen zu überwältigen, welches Witz , Weltton und Muth gewöhnlich erregen, und am Ende den Helden sich in einen Bösewicht verlieren zu lassen.“ Im Jahre 1753 erschien seine History of Sir Charles Grandison, in sechs Bänden. In England wurde dieser Roman bei weiten nicht mit so allgemeinem Beifall , wie seine Uebersetzung in Deutschland , aufgenommen. Theils war die Uebertreibung der Vollkommenheiten des Hauptcharakters zu auffallend ; man war durch R. selbst , und noch mehr durch Fielding, an Natur zu sehr gewöhnt , um sich für bloßes Ideal lebhaft zu interessiren ; theils glaubte man sich nun durch Handlung und Interese nicht genug für die langwierige Ausdehnung der Geschichte und den abermaligen großen Wortaufwand , vornehmlich in den ersten Bänden, entschädigt zu finden. Und so viel einzelne Schönheiten auch dieser Roman hat , die immer noch den Meister verrathen, so möchte doch diese Kritik wohl nicht ganz ungegründet seyn, und vollends mit dem Gefühl derer einstimmen, die nach der Lesung der Clarissa den Grandison zur Hand nehmen. Was indeß auch diesen Roman immer schätzbar machen wird , ist die so herrlich bearbeitete episodische Geschichte der Clementine von Poretta , für die man sich so innig , so tief interessirt. Die Schilderung ihres Wahnsinns ist , nach dem Urtheil eines der feinsten Kenner , ( S. Dr. Warton’s Essay on Pope , Vol. I. p. 283. ) die herrlichste in ihrer Art , und an kleinen Zügen der Natur und wahrer Leidenschaft vielleicht selbst der Darstellung des Wahnsinns im K. Lear vorzuziehen.35

Eschenburg bespricht also in diesem kurzen Essay alle wichtigen Romane Richardsons , und wie er sie bespricht , zeigt schon die generelle Einschätzung dieser Romane durch die Zeitgenossen, unabhängig davon, wie intensiv er selbst die Texte wirklich gelesen

35 Johann Joachim Eschenburg : Kleine Geschichte des Romans von der Antike bis zur Aufklärung , hg. v. Till Kinzel , Hannover : Wehrhahn, 2015 , 57–62.



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hat ( worüber ein Urteil allerdings schwer möglich ist ).36 Denn neben dem großen Lob , das bereits darin liegt , die Geschichte des englischen Romans im Wesentlichen mit Richardson beginnen zu lassen,37 spiegelt sich in Eschenburgs lexikalischem Lemma auch die differenzierte Einschätzung der zeitgenössischen Literaturkritik , welche Stärken und Schwächen der Texte Richardsons gleichermaßen erfasste. Diese Einschätzung wiederholt sich in Eschenburgs Beispielsammlung. Auch hier beginnt die Reihe der englischen Romanautoren, die Eschenburg einzeln würdigt , mit Richardson, während etwa Jonathan Swift nur kurz lobend erwähnt , Daniel Defoe dagegen vollkommen übergangen wird.38 Die Perspektive auf die englische Romanliteratur ist also noch eine entschieden zeitgenössische , insofern Swift und Defoe einer früheren Generation der Romanschriftstellerei angehören. Eschenburg skizziert in aller Kürze das , was ihm als wesentliche Neuerung der Richardson’schen Romankunst erscheint , nämlich einerseits die radikal durchgeführte Briefstruktur , aber auch die intensive psychologische Gestaltung der Figuren, so dass der Leser von Eschenburgs Beispielsammlung sowohl die formale , als auch die inhaltliche Dimension dieser Neuerung erfassen kann. Zugleich scheut sich Eschenburg aber auch nicht , zur Abrundung immer wieder auf Autoritäten zu verweisen, die den literarischen und literaturgeschichtlichen Ausnahmestatus Richardsons bezeugen, so etwa wenn er abschließend anführt , auch Edward Young ( dessen Hauptwerk Eschenburgs Braunschweiger Kollege Johann Arnold Ebert übersetzt hatte ) erkenne „Richardson für ein wahrhaftig großes Originalgenie ; so groß und überschwenglich in seiner Art , als es Shakspeare und Milton in der ihrigen waren.“39 Indem Eschenburg dieses Urteil abschließend zitiert , macht er es sich selbst zu eigen, denn irgendwelche Einschränkungen oder Bedenken äußert er nicht. Über Shakespeare und Milton ging damals nichts , was Richardson für das achtzehnte Jahrhundert eine kanonische Stellung einräumt , die er seither nicht wieder erlangen konnte. Eine weitere wichtige Würdigung Richardsons , die mit Eschenburg verbunden ist , hat dieser nicht selbst verfasst , aber durch seine Übersetzung einem deutschsprachigen Publikum zur Kenntnis gebracht und damit doch auch in seine eigenen Worte

36 So hat Ina Schabert bei Lessings und Eschenburgs Ausführungen über Sir Charles Grandison den Verdacht , „dass der Text kaum gelesen wurde.“ Siehe „Ersehnter Geliebter oder ‚erztugendhafte Marionette‘: Geschlechtsspezifische Reaktionen auf Sir Charles Grandison“, in : Empathie , Sympathie und Narration. Strategien der Rezeptionslenkung in Prosa , Drama und Film , hg. v. Caroline Lusin. Heidelberg : Winter , 2015 , 25–39 , hier 32. Leider fehlt es , so weit ich sehe , an anderen Zeugnissen etwa in den Briefwechseln, die es erlauben würden, hier zu einem sicheren Urteil zu gelangen. 37 Eschenburg nennt von den Vorläufern lediglich Jonathan Swift , nicht jedoch Defoe , der in einer späteren berühmten Studie am Anfang des modernen englischen Romans steht. Siehe Ian Watt : The Rise of the Novel. Studies in Defoe , Richardson and Fielding , Harmondsworth : Penguin, 1983. 38 Eschenburg : Beispielsammlung , VIII 2 , 236. 39 Ebd., 241.

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gefasst , nämlich Denis Diderots Richardson-Éloge aus dem Jahr 1762.40 Dies ist ein bemerkenswertes Zeugnis des transnationalen Kulturtransfers. Dass es ein Philosoph wie Diderot war , der Richardson enthusiastisch lobt , versteht sich nicht von selbst. Diderot war schließlich in vieler Hinsicht ein Denker , dessen Positionen sich kaum mit denen Richardsons vereinbaren ließen. Während Richardson eine mehr oder weniger orthodoxe christliche Moral vertrat , die sich gegen moralphilosophische Konzeptionen wie etwa bei Bernard de Mandeville richtete , hatte Diderot starke materialistische bzw. naturalistische Sympathien, die sich mit einer traditionellen Moral kaum vereinbaren ließen. Darüber kann auch der großzügige Gebrauch des Begriffs der Tugend bei Aufklärern wie Diderot nicht hinwegtäuschen, auch wenn man etwa Diderots ( und auch Lessings ) massive Kritik etwa an Julien Offray de La Mettrie bedenkt , den er aus letztlich moralischen Gründen aus der Gruppe der Philosophen ausgrenzen wollte.41 Eschenburg kannte selbstverständlich auch die an Richardson in der einen oder anderen Weise anknüpfende Literatur , wie sie vor allem Johann Karl August Musäus mit seinem deutschen Grandison vorgelegt hatte.42 Doch können wir seiner Charakterisierung von Musäus in der Beispielsammlung entnehmen, dass Eschenburg dieses Werk nicht eben zu den besten Arbeiten des Autors zählte , da er anderen einen größeren literarischen Wert zusprach.43 Musäus selbst hat sich ersichtlich intensiv mit englischer Literatur beschäftigt , wovon hier exemplarisch nur genannt sein soll , dass er Johann Joachim Christoph Bodes Übersetzung von Tobias Smolletts Expedition of Humphry Clinker ( 1771 ) rezensiert hat.44 Zwar wird man feststellen müssen, dass das Interesse an Richardsons Roman trotz einiger Neuübersetzungen in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts bald abklang , doch folgten zumindest in der literaturgeschichtlichen Perspektive Eschenburgs in der Nachfolge Richardsons einige Briefromane auch gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts , die er noch zur Kenntnis genommen hat , so etwa Evelina von Frances Burney ( 1778 ), einer Autorin, der Eschenburg zuschrieb , sie habe in ihrem Roman Cecilia „die Würde und die lei-

40 Diderot : „Ehrengedächtniß Richardsons“, in : Unterhaltungen 1766 , 118–140. 41 In diesem Kontext siehe auch die Studie von Roman Lach : „Das Skandalon des Zufalls : Lessing und La Mettrie“, in : Lessings Skandale ( Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung , 29 ), hg. v. Jürgen Stenzel und Roman Lach , Tübingen : Niemeyer , 2005 , 129–44 ; sowie Kevin Hilliard : „ ‚Ein Hogarthisches unsinniges Tollhauslächeln‘: The Portrait of La Mettrie and the Problem of the Laughing Philosopher in Eighteenth-Century Germany“, in : Publications of the English Goethe Society 74 : 3 ( 2010 ), 129–146 , hier vor allem 132–141. 42 Siehe dazu etwa Ina Schabert : „Grandisonische Händel in Kargfeld. Musäus’ Fortsetzung von Richardsons Roman The History of Sir Charles Grandison“, in : Gastlichkeit und Ökonomie. Wirtschaften im deutschen und englischen Drama des 18. Jahrhunderts , hg. v. Sigrid Nieberle und Claudia Nitschke , Berlin : De Gruyter , 2014 , 247–266. Zu rezeptionsästhetischen Aspekten der Grandison-Lektüre mit Bezug auf die Geschlecherdimension siehe weiterhin die sehr instruktiven Ausführungen von Ina Schabert in „Geschlechtsspezifische Reaktionen auf Sir Charles Grandison“. 43 Eschenburg : Kleine Geschichte des Romans , 87 ; Beispielsammlung VIII 2 , 267. 44 Rezension in : Allgemeine deutsche Bibliothek 22.2 ( 1774 ), 535–537.



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denschaftliche Manier Richardson’s mit Fielding’s Scharfsinn und Witz zu vereinigen gewusst“,45 was nur als großes Lob verstanden werden kann und Richardsons Leistung als normativen Maßstab aufruft. Auch kann dieses Urteil als ein weiterer Beweis für die von Eschenburg gepflegte „Selbstverständlichkeit und Großzügigkeit“ gelten, mit der in seinem Lektürekanon auch schreibende Frauen berücksichtigt werden.46 Weiterhin erwähnt Eschenburg in der Nachfolge Richardsons den von Thomas Holcroft verfassten Briefroman Anna St. Ives , der aus deutscher Sicht deswegen von einigem Interesse ist , weil er von dem mit Eschenburg bekannten Karl Philipp Moritz zumindest teilübersetzt wurde.47

Konklusion : Lessing und Eschenburg als Leser Richardsons – und eine Hinführung zu Diderot Rezeptionsgeschichtlich wird man festhalten müssen, dass die Werke Richardsons den Höhepunkt ihrer deutschen Aufnahme bereits im achtzehnten Jahrhundert erlebten und später nie wieder in gleicher Intensität gelesen wurden. Das legt nahe , im Schwinden des Renommees von Richardson als Romancier den Ausdruck eines Geschmackswandels zu sehen, wie er auch die Rezeptionsgeschichte anderer Schriftsteller aus den verschiedensten Gründen bestimmt hat. Dieser Geschmackswandel mag mit dem Niedergang des Briefromans als einer Leitgattung der Zeit schon gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts ebenso zu tun haben wie mit der außerordentlichen Länge der beiden Romane Clarissa und Charles Grandison, die ein erhebliches Maß an konzentrierter Lektüre verlangen und daher heute weithin als unlesbar gelten. Im zwanzigsten Jahrhundert ist es so nur noch zu Teilausgaben deutscher Übersetzungen von Richardsons Werken gekommen ;48 die frühe Fabelsammlung dürfte in Deutschland vor allem deswegen noch nachgedruckt worden sein, weil ihr deutscher Übersetzer Lessing selbst Klassikerstatus besitzt. Doch spielt gerade dieser Aspekt von Lessings Werk , nämlich sein Übersetzungswerk , in der gegenwärtigen Forschung eine bisher nur untergeordnete Rolle. Dies gilt , obwohl es zunehmend deutlicher wird , dass es nicht möglich ist , sich ohne ein genaueres Studium auch des Übersetzungswerkes ein angemessenes Bild vom Wirken eines Autors wie Lessing zu machen. Wenn Lessing

45 Eschenburg : Kleine Geschichte des Romans , 71 ; Beispielsammlung VIII 2 , 251. 46 Ina Schabert : „Zwischen Wissenslust und Ordnungszwang. Eschenburgs Dilemma“, in : Johann Joachim Eschenburg und die Künste und Wissenschaften zwischen Aufklärung und Romantik. Netzwerke und Kulturen des Wissens , hg. v. Cord-Friedrich Berghahn und Till Kinzel , Heidelberg : Winter , 2013 , 17–30 , 28. 47 Eschenburg : Kleine Geschichte des Romans , 18. Siehe dazu auch Till Kinzel : „Karl Philipp Moritz’ Übersetzungen aus dem Englischen ( Holcroft , Beattie , Milton )“, in : Berliner Aufklärung 5 , hg. v. Ursula Goldenbaum und Alexander Košenina , Hannover : Wehrhahn, 2013 , 115–137. 48 Vgl. Samuel Richardson : Clarissa Harlowe. Übersetzt und bearbeitet von Ruth Schirmer. Zürich : Manesse , 1966.

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auch aus naheliegenden Gründen von der Germanistik vor allem als kreativer Künstler , erst in zweiter Linie als theologisierender Philosoph und als literaturkritischer Polemiker ,49 kaum aber , wenn überhaupt , als Übersetzer studiert wird , so gälte es doch , im Sinne einer integrierenden Deutung Lessings die Bedeutung des Übersetzers nicht nur für den Schriftsteller und Theatermann, sondern auch für den Philosophen Lessing genauer herauszuarbeiten. Auch das übersetzende Ausschreiben der Gedanken eines anderen ist eine Form der denkerischen Rezeption. Bei einer Persönlichkeit wie Eschenburg , die noch in weit höherem Maße als Lessing der Typus des Vermittlers ist , ohne selbst ein künstlerisches , ästhetisch bedeutsames Werk hervorgebracht zu haben, ist dies noch weit mehr mit den Händen zu greifen. Denn bei Eschenburg stellen Übersetzungen und einleitende oder erläuternde Texte neben den Lehrbuchtexten wie dem Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften oder dem Lehrbuch der Wissenschaftskunde einen gleichrangigen Teil des Werkes dar. Eigenständig sind hier vor allem die Vermittlungsentscheidungen, denn auch wenn Eschenburg nicht zu den großen Denkern und Gründervätern neuer Diskurse gehört , so sollte nicht unterschätzt werden, welche literarästhetische Programmierung damit verbunden ist , einen in seiner Art inkommensurablen Text wie Denis Diderots Éloge de Richardson für das deutsche Publikum zu übersetzen. Dass sich Eschenburg als Übersetzer der Richardson-Eloge Diderots an die Seite Lessings stellt , der Das Theater des Herrn Diderot übersetzt hat , sollte zu denken geben. Es wäre interessant zu erfahren, ob und wie sich Eschenburg und Lessing über die Funktionen Richardsons und Diderots für die deutsche Aufklärung verständigten, doch leider schweigen die Quellen darüber. Es ist aber auch unabhängig von dieser lückenhaften Überlieferung signifikant für die komplexen Kulturvermittlungsprozesse in der deutschen Aufklärung , dass eine Erörterung über die Richardson-Rezeption schließlich in die der Diderot-Rezeption mündet – und damit auch schon wieder neu beginnen müsste.

49 Siehe dazu aber jüngst z. B. Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt ( Hg. ): Lessings Religions­ philosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata , Berlin / New York : De Gruyter , 2011 ; sowie Michael Multhammers wichtige Studie Lessings „Rettungen“. Geschichte und Genese eines Denkstils , Berlin / Boston : De Gruyter 2013.

Tomáš Hlobil

Britische Ästhetiker in der frühen Prager Universitätsästhetik 1763–1848 Der Nachhall der britischen Ästhetiker in der frühen böhmischen Ästhetik während des letzten Drittels des achtzehnten und in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ist bislang sowohl bezogen auf den tschechisch- sowie auf den deutschsprachigen Zweig nur in Einzelstudien betrachtet worden.1 Diese zielten insbesondere auf František Palacký und August Gottlieb Meißner ab.2 Die gründlichere , im Laufe der letzten zwanzig Jahre gewonnene Einsicht in den Inhalt der an der Prager Universität in den Jahren 1763–1848 gehaltenen Ästhetik-Vorlesungszyklen3 erlaubt es nun, diesen Nachhall erstmalig summierend in einem längeren Zeitquerschnitt darzustellen. Der vorliegende , chronologisch geordnete Artikel zeigt , welche der britischen Ästhetiker von den Prager Ordinarien für Ästhetik Karl Heinrich Seibt , August Gottlieb Meißner , Joseph Georg Meinert , Johann Heinrich Dambeck und Anton Müller genannt worden sind , welche Stellen sie aus deren Werken ausgewählt und welche Haltung sie zu diesen eingenommen haben. Anschließend wird der universitäre Zugang zur britischen Ästhetik in Prag in die zeitbedingten, bildungspolitischen und ästhetikgeschichtlichen Zusammenhänge eingeordnet. Die Studie setzt sich nicht zum Ziel – und das muss gleich eingangs betont werden – exakte Quellen für die angeführten Standpunkte der britischen Ästhetik ausfindig zu machen, ebenso wenig , diese Standpunkte systematisch mit den Ansichten der Prager Seite zu vergleichen. Beides scheitert an der Beschaffenheit der frühen Prager Univer-

1 Die Studie entstand dank der freundlichen Unterstützung der GA ČR ( Grant Prager Universitätsästhetik der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in den mitteleuropäischen Zusammenhängen, Nr. P409 / 11 / 2083 ). 2 Über die Beziehung František Palackýs zur britischen Ästhetik siehe Mirko Novák : „Osvícenství v české estetice“ [ Die Aufklärung in der tschechischen Ästhetik ], in : ders.: Česká estetika [ Tschechische Ästhetik ], Praha : Borový , 1941 , 9–24. Tomáš Hlobil : „Introduction“, in : František Palacký : An Historical Survey of the Science of Beauty and the Literature on the Subject , hg. v. Tomáš Hlobil , Olomouc : Palacký University , 2002 , v–liv , xliii–xlix ( britisches Kapitel ). Über die britische Ästhetik in Meißners Ästhetikvorlesungen siehe Tomáš Hlobil : Geschmacksbildung im Nationalinteresse. Die Anfänge der Prager Universitätsästhetik im mitteleuropäischen Kulturraum 1763–1805 , Hannover : Wehrhahn, 2012 , 314–330 ( Burke ), 331–342 ( Ossian ). 3 Hlobil : Geschmacksbildung im Nationalinteresse. Die Teilstudien für den Zeitabschnitt nach 1805 führe ich bei den einzelnen Ästhetikern an. Vgl. auch Eva Foglarová : „Od krásných věd ke krásovědě ( příspěvek k počátkům české estetiky )“ [ Von schönen Wissenschaften zu Schönheitslehre. Ein Beitrag zu den Anfängen der böhmischen Ästhetik ], in : Estetika na křižovatce humanitních disciplin [ Ästhetik auf der Kreuzung der Geisteswissenschaften ], hg. v. Vlastimil Zuska , Praha : Karolinum , 1997 , 161–192. Helena Lorenzová : Hra na krásný život. Estetika v českých zemích mezi lety 1760–1860 [ Das schöne Leben spielen. Ästhetik in den böhmischen Ländern 1760–1860 ], Praha : KLP, 2005.

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 Tomáš Hlobil

sitätsästhetik : Keiner der Prager Ästhetiker hat seinen Vorlesungszyklus gedruckt herausgegeben ; über deren Inhalt informieren uns heute , abgesehen von einer einzigen posthum erschienenen und vom Herausgeber beträchtlich umgearbeiteten Ausgabe , ausschließlich von Studentenhand angefertigte Vorlesungsmit- und -abschriften. Da die Handschriften in den meisten Fällen die Werkangaben nicht verzeichnen, ist die Rekonstruktion der Quellen erschwert , wobei ihre genaue Identifikation für die vorliegende Studie nicht zielführend wäre. Auch ein Vergleich der Prager und der britischen Standpunkte ist nicht Gegenstand dieses Aufsatzes. Denn die Hauptabsicht der Prager Vorlesungszyklen war informations- und bildungsorientiert , nicht forschungsorientiert. Die Vorlesungen sollten den Hörern, die das zwanzigste Lebensjahr noch nicht überschritten hatten, ausländische Theorien näherbringen, ohne diese jedoch voll zu entfalten oder tiefergehend zu behandeln. Die nachstehende Studie konzentriert sich daher ausschließlich auf eine Erfassung der formulierten Haltungen der einzelnen Prager Ästhetiker zu den angeführten Ansichten, Positionen und Theorien.

Auswertung der Quellen der Prager Universitätsästhetik 1763–1848 Karl Heinrich Seibt ( Professor der schönen Wissenschaften und Moral 1763–1785 ) hat in den Jahren 1757 bis 1762 die schönen Wissenschaften an der Universität Leipzig studiert. Ein Prager Kollegium der schönen Wissenschaften ( Ästhetik ) hat Seibt nur zu Beginn seiner Hochschullehrerlaufbahn in den sechziger Jahren regelmäßig ausgeschrieben, wobei mir derzeit keine direkte Quelle bekannt ist. Die kompakteste Vorstellung von seinen Ästhetikansichten gewinnt man durch Exzerpte aus Vorlesungsmit- und -abschriften zu seinen weiteren Fächern, aus seiner im Druck erschienenen Antrittsvorlesung sowie aus den Kommentaren zu Studentenarbeiten im Rhetorikpraktikum.4 Außerdem aufschlussreich ist ein Gesuch um die Einrichtung des Prager Lehrstuhls für schöne Wissenschaften, das Seibt im Januar 1763 an Maria Theresia geschickt hat. In diesen Quellen spiegelt sich insbesondere der Einfluss von Seibts Leipziger Lehrern Johann Christoph Gottsched und Christian Fürchtegott Gellert , einschließlich der von diesen geschätzten antiken und französischen Autoritäten Horaz , Cicero , Charles Rollin und Charles Batteux. In späteren Charakteristiken des Geschmacks ließ sich Seibt überdies von zwei zeitgenössischen Empfindungsästhetikern – von Moses Mendelssohn und Johann Joachim Winckelmann – inspirieren.

4 Eine detaillierte Übersicht von Seibts Quellen findet sich in Tomáš Hlobil : „Einführung in die Geschichte der frühen Prager Universitätsästhetik. 1763–1848“, in : Zugänge. Handbuch der literatur- und kulturwissenschaftlichen Bohemistik , hg. v. Wolfgang Schwarz , im Druck.



Britische Ästhetiker in der frühen Prager Universitätsästhetik 1763–1848 

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Im Vergleich zu Zahl und Wichtigkeit der genannten Ästhetiker sind in den erhaltenen Quellen Hinweise auf britische Ästhetikarbeiten5 seltener und minder gewichtig , aber keinesfalls bedeutungslos. Der größte Anklang der britischen Ästhetiker ist in den Rhetorik-Kollegs zu finden. Die älteste Erwähnung taucht im Vorwort zu den Akademischen Vorübungen ( 1769 ) auf.6 Darin rechnet Seibt mit einer Rezension in den Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen7 ab , die seine vorausgehende Abhandlung Von dem Unterschiede des zierlichen, des Hof- und Curialstils ( 1768 ) kritisiert hatte.8 Seibt macht dem Rezensenten zum Vorwurf , den Gelegenheitscharakter seiner ausschließlich Studenten zugedachten Schrift nicht respektiert und unberechtigterweise am Ideal einer für die Öffentlichkeit bestimmten Schrift gemessen zu haben.9 Seine Verteidigung gegenüber weiteren Vorwürfen ( unter anderem der Beschuldigung des Plagiats protestantischer Autoren durch Katholiken ohne Angabe der Quelle )10 beendet er mit

5 Seibt hat seine Aufmerksamkeit nicht nur britischen Arbeiten über Ästhetik , sondern auch über Ethik gewidmet. Im zweiten Band seiner Klugheitslehre hat er einige Literaturverzeichnisse aufgestellt , in die er folgende britische Arbeiten aufgenommen hat : „Richardsons gemeinnützige Lehren der Tugend und der guten Sitten, aus seinen gesammten Werken, unter ihre gehörigen Hauptitel gebracht. Aus dem Englischen, Berlin 1763. The Roule of Life , in select sentences collected from the greatest Authors ancient and modern. London 1742. Des Grafen Shaftesbury Charakteristiks , oder Schilderungen von Menschen, Sitten etc. aus dem Englischen. Barclaji Icon animorum.“ ( Karl Heinrich Seibt : Klugheitslehre , praktisch abgehandelt , in akademischen Vorlesungen, Zweyter Band , zweyte Auflage , Prag : Neureutter , 1815 , 189–190. ) Eine umfangreiche Auflistung britischer Werke kann man ferner in einer nach Seibts Vorlesungen über praktische Philosophie erstellten Handschrift finden. Darin finden sich folgende Titel : „Hutchoesons [ sic ! ] Untersuchungder ersten Gründe der Sittlichkeit , und der natürlichen Religion. Schafftesburg , Characteristics , und Abhandlungen über die Tugend. Home , Grundsätze der Kritik. Hume , Uiber die Untersuchung der Grundsätze der Sittlichkeit. Home , Geschichte der Menschheit. / … / Garve , Übersetzung von Fergusons Moral.“ ( [ Anonym ]: Praktische Philosophie vorgetragen von Karl Heinrich Seibt , MS, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Sign. 522521-A. ) Eine Mitschrift von Hand aus den Vorlesungen über Moral verzeichnete zudem David Humes Vermischte Philosophische Schriften. ( [ Anonym ]: Karl Heinrich Seibt , Vorlesungen über die Moral , MS, Nationalbücherei Prag , Sign. XIX C 4. ) Die deutsche Übersetzung in vier Bänden ist 1754–1756 in Hamburg bei Grund erschienen. Seibt gilt als erster Verbreiter von Humes Gedanken in Böhmen, keine frühere Darlegung konnte aber Seibts Spitzenposition mit konkreten Quellen untermauern. Vgl. Josef Moural : „The Reception of David Hume in Czech Thought“, in : The Reception of David Hume in Europe , hg. v. Peter Jones , London / New York : Thoemmes Continuum , 2005 , 268–279. 6 Karl Heinrich Seibt : Akademische Vorübungen aus den von Karl Heinrich Seibt gehaltenen Vorlesungen über die deutsche Schreibart , Prag : Elsenwanger , 1769. 7 [ Anonym ]: „Prag“, in : Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, 3. August 1769 , Stück lxii , 489–491. Seibt spricht davon, der Autor habe die Rezension unter der Initiale R. verfasst. Diese habe ich nicht gefunden. 8 Karl Heinrich Seibt : Von dem Unterschiede des zierlichen, des Hof- und Curialstils. Eine akademische Abhandlung nebst der Einladung zu seiner Vorlesungen über die deutsche Schreibart , Prag : Elsenwanger , 1768. 9 Seibt : Akademische Vorübungen, iv. 10 Ebd., viii–ix.

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einem Zitat aus Popes Epistle to Dr. Arbuthnot , being the Prologue to the Satires ( 1735 )11 in der deutschen Übersetzung von Johann Jacob Dusch : „Trat eine bescheidenere Critik ans Licht , so lachte ich , wenn sie falsch , und küßte die Ruthe , wenn sie richtig war.“12 Daraus ist die Hochachtung und Bewunderung für den englischen Dichter ersichtlich , den Seibt „den grossen Pope“ nennt.13 Seibts Bewunderung hielt an. Davon zeugt seine Rede Von den Hülfsmitteln einer guten deutschen Schreibart ( 1773 ),14 in der er Pope sogar als den „brittischen Horaz“ feiert. Der preisende Vergleich mit Horaz war nicht neu. Dazu konnte Seibt von Gottfried Ephraim Müller inspiriert worden sein, der im „Vorbericht“ zur deutschen Übersetzung15 von An Essay on Criticism ( 1711 ) Pope bereits den „Horaz der Britten“ genannt hatte.16 Die anschließenden Zitate hat Seibt aber nicht dieser 1745 herausgegebenen und von Gottsched geschätzten Übersetzung entnommen,17 sondern genau wie im Fall der Epistel an Arbuthnot der späteren anonymen Übersetzung von Johann Jacob Dusch.18 Seibt zitiert hier Popes Charakteristik des richtigen Ausdrucks : „Der richtige Ausdruck [ … ] erleuchtet und verschönert , wie die unveränderliche Sonne , alles worauf sein Licht fällt : sie vergoldet alle Gegenstände , und verändert keinen.“19 Ferner stützt er sich auf Pope bei seinen Erwägungen über das Schöne. Laut Seibt seien nur wenige Menschen befähigt , das Schöne unmittelbar in der Natur zu erblicken, die Mehrheit bedürfe dabei

11 The Poetical Works of Alexander Pope , vol. III, London : Pickering , 1835 , 8 : „Did some more sober critic come abroad ; / If wrong , I smilʼd , if right , I kissed the rod.“ Über die Aufnahme von Popes Poesie in Deutschland siehe J.H. Heinzelmann : „Pope in Germany in the Eighteenth Century“, in : Modern Philology 10 : 3 , 1913 , 317–364. John Guthrie : „Eighteenth-Century German Translations of Popeʼs Poetry“, in : Publications of the English Goethe Society 82 : 2 , 2013 , 67–84. 12 Das Zitat ist in einer Fußnote angeführt. Es ist nachzulesen in : Seibt : Akademische Vorübungen, xi. Des Alexander Pope , Esq. sämmtliche Werke mit Wilh. Warburtons Commentar und Anmerkungen, Vierter Band , Strasburg : Heitz etc. 1778 , 245–329 , 280. 13 Seibt : Akademische Vorübungen, xi. 14 Karl Heinrich Seibt : Von den Hülfsmitteln einer guten deutschen Schreibart , eine Rede zum Eingange seiner öffentlichen Vorlesungen über die deutsche Schreibart gehalten. Nebst einigen dahin gehörigen Ausarbeitungen, Prag : Mangold , 1773. 15 Über verschiedene Übersetzungen von Popes Essay einschließlich der deutschen siehe Karl Graner : Die Übersetzungen von Popes Essay on Criticism und ihr Verhältnis zum Original , Dissertation Universität München, Aschaffenburg : Werbrun, 1910. 16 Gottfried Ephraim Müller : „Vorbericht“, in : Versuch über die Critik aus dem Englischen des Herrn Pope. Nebst einem Versuche einer Critik über die deutschen Dichter , auch einer Zugabe einiger , kleineren Schriften, von M. Gottfried Ephraim Müller , Dreßden : Walther , 1745 , unpaginiert. 17 Zu Gottscheds Entgegenkommen für Müllers Übersetzung siehe Heinzelmann : „Pope in Germany in the Eighteenth Century“, 335–337. 18 Alexander Pope : Versuch von der Kritik , in : Des Alexander Pope , Esq. sämmtliche Werke mit Wilh. Warburtons Commentar und Anmerkungen, Erster Band , Strasburg : Heitz etc. 1778 , 161–284 , 226 ( dieselbe Fassung ), 194 ( „Hieraus lernet eine gerechte Hochachtung für die alten Regeln ; die Natur copiren, heißt sie copiren.“ ). 19 Seibt : Von den Hülfsmitteln, 29–30.



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der Hilfe durch Kunstwerke , welche die nachgeahmte Natur an Schönheit überträfen. Seine Überzeugung , dass man an Kunstwerken am besten den Geschmack üben könne , untermauert er mit Popes Versen : „Hieraus lerne man eine gerechte Hochachtung für die alten Regeln ; die Natur kopiren, heißt sie [ d. h. die alten Regeln ] kopiren.“20 Man darf annehmen, dass sich Seibts Begeisterung für die im Essay on Criticism enthaltenen ästhetischen Ideale und Theorien Alexander Popes nicht nur auf die beiden angeführten Stellen beschränkt hat , sondern sich wiederholt und in größerem Umfang bemerkbar machte. Dafür sprechen die Arbeiten zwei seiner Hörer. Franz Sales Würnitzer , Ordensbruder der Prämonstratenser und Klostersekretär in Tepel , hat während seines Studiums unter Seibts Einfluss21 umfangreiche Exzerpte aus seiner Lektüre angelegt , darunter auch die Anmerkungen aus dem Versuche über die Kritik aus dem Pope.22 Ein weiterer Seibt-Hörer , der spätere Professor für Ästhetik an der Prager Universität Johann Heinrich Dambeck hat dieses Werk von Pope sogar ins Deutsche übertragen. 23 Neben Pope hat Seibt auch Shaftesbury zitiert.24 Als er in seiner Rede Von den Hülfsmitteln einer guten deutschen Schreibart im Sinne Gellerts zu erläutern suchte , was in der Rhetorik mit guter Denkweise gemeint ist , bezeichnete Seibt als Beispiel für eine falsche Denkweise das Denken in Definitionen und Disjunktionen. Eine solche scholastische Denkweise laufe dem gesunden Menschenverstand zuwider , unterdrücke Gefühl , guten Geschmack und guten Stil. Dieser künstlichen Denkweise stellte Seibt Shaftesburys Naturideal entgegen : „Die ungeübte Natur – merkt Shaftesbury sehr richtig an – ist in ihrer ursprünglichen Einfalt eine bessere Anführerinn zum gesunden Urtheil , als die hochgetriebene Sophisterey und schulfüchsische Gelehrsamkeit.“25 Mit Pope und Shaftesbury sind Seibts britische Ästhetikautoritäten erschöpft. Von den späteren berühmten aufklärerischen Ästhetikern hat er , soweit ich in der Lage war , die erhaltenen Quellen durchzusehen, niemanden zitiert oder erwähnt , obwohl er in die Verzeichnisse zur praktischen Philosophie die Ethikarbeiten von Francis Hutcheson und David Hume aufgenommen hat.26

20 Ebd., 37. The Works of Alexander Pope , Esq. With Notes and Illustrations , vol. III, London : Rivington etc., 1824 , 69–70 : „Nature and Homer were [ … ] the same. [ … ] Learn hence for ancient rules a just esteem ; To copy nature is to copy them.“ 21 Eduard Winter : Der Josefinismus. Die Geschichte des österreichischen Reformkatholizismus 1740– 1848 , Berlin : Rütten, 1962 , 72. 22 Franciscus Salesius Würnitzer : Auszüge aus der Fachliteratur , MS, Klosterbibilothek Teplá ( Tepl ), Sign. Nr. 217 , Band I. Pope taucht auch in Band II im Teil „Komische und satirische Historien und Fabeln“ auf. 23 Auf diese Übersetzung gehe ich weiter unten ein. Pope war auch im tschecho-slowakischen Erweckermilieu populär. Vgl. z. B. Tablicʼ Übersetzung von An Essay on Man ( 1734 ): Anglické múzy w českoslowenském oděwu. Wydal Bohuslaw Tablic [ Englische Musen in tschecho-slowakischem Gewand. Hg. v. Bohuslav Tablic ], Budin : Král. universická tiskárna , 1831. 24 Über die deutsche Rezeption von Shaftesbury siehe Mark-Georg Dehrmann : Das „Orakel der Deisten“. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung , Göttingen : Wallstein, 2008. 25 Seibt : Von den Hülfsmitteln, 16. Die Quelle habe ich nicht gefunden. 26 Siehe die Fn. 5.

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Seibts Nachfolger August Gottlieb Meißner ( Professor der Ästhetik und klassischen Literatur 1785–1804 ) hat in den Jahren 1772 bis 1776 Jura an der Universität Wittenberg und ab 1774 in Leipzig studiert. Meißners Anglophilie lässt sich auf seine Leipziger Zeit und insbesondere den Umgang mit Lehrern und Freunden, die mit Christian Felix Weißes Zeitschrift Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften verbunden waren ( darunter Johann Jacob Engel und Ernst Platner ) zurückführen.27 Sie schlug sich auch in seinem , laut Anordnung des Wiener Hofs aus Ästhetik , Poetik und Rhetorik bestehenden Prager Vorlesungszyklus nieder. Über den Zyklusinhalt informieren sechs studentische Mitschriften aus verschiedenen Studienjahren und von verschiedener Länge. In der vorliegenden Studie schöpfe ich aus der Mitschrift , die der später führende tschechische nationale Erwecker Josef Jungmann im Studienjahr 1794 / 95 anfertigte.28 Meißner hat sein Interesse an den Briten nicht nur auf die Ästhetik beschränkt , sondern der gesamten englischen Literatur zugewandt. Für nahezu jedes in dem Poetikteil behandelte Genre hat er Beispiele aus der englischen Literatur angeführt und eine Übersicht verschiedener englischer Literaturgeschichten ( Warton, Johnson, Meusel u. a. – JP 38 ) sowie bedeutender englischer Abhandlungen über Literatur ( JP 35 ) geboten. Zahlreiche Erkenntnisse über die wichtigsten britischen Literaten ( Shakespeare , Milton, Swift und Ossian ) streute er auch in den Ästhetikteil seiner Vorlesungen ein. Wie Seibt erwähnte Meißner Pope , präsentierte ihn jedoch nicht mehr als Ästhetik-Autorität , sondern nur als Autor von Idyllen ( JP 82 ). Er hat Popes zurückhaltende Beziehung zur Musik verzeichnet , die dieser mit Gotthold Ephraim Lessing gemeinsam gehabt habe ( JA I, 33 ). In deutscher Übersetzung zitierte er zudem die letzen beiden Verse aus dem Epitaph auf den Hofmaler Godfrey Kneller , um den Stil von dessen Malerei zu vermitteln ( JA II, 53 ). Außerdem wies er Popes Behauptung zurück , Lamechs Rede ( 1. Mose 4 , 23–24 ) sei das älteste Gedicht ( JP 27 ). Mehr Hingabe als für Pope hat Meißner für Shaftesbury aufgebracht. Er verteidigte dessen berühmte Theorie vom Lächerlichen als Test der Wahrhaftigkeit ( Characteristics I, 1, 2 A Letter concerning Enthusiasm ; 1711 ; deutsch 1776–1779 ) gegen Leibniz’ Vorbehalte , um sie anschließend sogar einen „Pro-

27 Vgl. z. B. Geschichte England Nach Hume. Von A.G. Meißner , Theil 1 , Leipzig : Dyk 1777. Theil 2 , 1780. 28 Jungmanns Mitschrift von Meißners Vorlesungen wird im Literaturarchiv der Gedenkstätte für Nationales Schrifttum im Kloster Strahov in Prag aufbewahrt. Sie besteht aus zwei Teilen. Der erste stellt Mitschriften von Meißners Vorlesungen über Ästhetik dar , der zweite über Poetik. Der Ästhetikzyklus wurde in fünf selbständige Hefte unter der Bezeichnung Aesthetik ( ferner nur JA I–V ) eingetragen, die zusammen knapp 120 beidseitig beschriebene Blätter umfassen. Geführt werden sie im Bestand Josef Jungmann, Abt. Rukopisy vlastní [ Eigene Manuskripte ] unter der Bezeichnung „Meissner , A. G., Aesthetik … 1794 ( Zápis z přednášek )“. Der gleichfalls aus 120 beidseitig beschriebenen Blättern bestehende Poetikzyklus besteht aus dreißig dünnen Heften von je vier Blättern, die unter der irreführenden Bezeichnung „Von der komischen Epopée aj. ( Zápis z přednášek )“ hinterlegt sind , ohne Meißner zugeordnet zu sein. Wie die erste Seite zeigt , sollte der Zyklus richtigerweise die Bezeichnung Poetik ( ferner nur JP ) führen. Aus der ersten Seite geht auch hervor , dass Meißner wirklich der Vorlesende war. Die Benennung , unter der die Mitschrift heute geführt wird , ergab sich aus einer falschen Einordnung des erhaltenen Materials.



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bierstein der Aesthetik“ zu nennen ( JA V, 34 ).29 Von den englischen Neoklassizisten erwähnte er außerdem die Ansichten John Drydens über die persönlich gezielte Satire , wobei die Quelle – A Discourse Concerning the Original and Progress of Satire ( 1693 ) – in Jungmanns Mitschrift nicht genannt ist ( JP 103 ). Einen beträchtlich größeren Raum als den Autoren des ausgehenden siebzehnten und der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts hat Meißner den britischen Ästhetikern aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zugestanden, insbesondere den an John Locke anknüpfenden Empiristen.30 Jeweils nur einmalig und größtenteils in zusammenfassenden Übersichten verzeichnete er Richard Hurds Kommentar zum Brief des Horaz an die Pisonen,31 Beschreibungen der Kunstwerke in Persepolis von William Francklin,32 die deutsche Übersetzung der Vorlesungen über Rhetorik und schöne Literatur von Hugh Blair , angefertigt von Karl Gottfried Schreiter33 sowie die Theorie des Schönen von William Hogarth ( The Analysis of Beauty : Written With a View of Fixing the Fluctuating Ideas of Taste , 1753 ; deutsch 1754 – JA V, 18 ). Auf drei britische Ästhetiker kam Meißner wiederholt zurück : auf Alexander Gerard , Henry Home , Lord Kames und Edmund Burke. Von Alexander Gerard stellte er die Versuche über den Geschmack ( An Essay on Taste , 1756 ; deutsch 1766 ) und über das Genie vor ( An Essay on Genius , 1771 ; deutsch 1776 ). Laut Meißner begriff Gerard den Geschmack als „nach der Aussage der Empfindungen eine Art Gefühl“ sowie als „Urteilskraft“. In diesem Zusammenhang kritisierte Meißner , Gerard sei nicht bis zu den einfachsten Prinzipien des Geschmacks vorgedrungen und habe nicht genau angeführt , ob Geschmack ein Werk des Verstands oder ein innerer Sinn sei ( JA III, 4 ). Von Gerards Versuch über das Genie hob er als entscheidende Fähigkeit die Erfindungsgabe hervor und stellte diese Charakteristik wiederholt der Theorie des Claude Adrien Helvétius gegenüber , um schließlich beiden vorzuhalten, dass Erfindungsgabe zwar unentbehrlich zum Genie gehöre , sie selbst jedoch erst die Folge der Genialität sei , die er als eine Kombination von vielerlei Vermögen ansah ( JA III, 17–18 , 23 ). Noch mehr Aufmerksamkeit hat Meißner den Elements of Criticism ( 1762 ; deutsch 1763–1766 ) von Henry Home , dem Lord Kames , zukommen lassen. Zu Homes Ansichten hat er sowohl in dem Ästhetik- als auch in dem Poetikteil Stellung genommen. In

29 Diese Shaftesbury-Theorie wurde in Deutschland breit diskutiert. Meißner konnte da vor allem an Flögel anknüpfen. Vgl. Carl Friedrich Flögel : Geschichte der komischen Litteratur , Erster Band , Liegnitz und Leipzig : Siegert , 1784 , 104–113. 30 In Jungmanns Mitschrift ist auch John Locke selbst erwähnt. Meißner verwarf dessen Charakteristik des Genies ( JA III, 17 ) und stellte die Theorie des von Mangel an Schmerz abgeleiteten Angenehmen und des Unangenehmen als Anwesenheit von Schmerz vor ( JA IV, 14 ). 31 Q. Horatii Flacci Ars Poetica Epistola ad Pisone With an English Commentary and Note To Which is Added a Discourse Concerning Poetical Imitation, 1751 ; deutsch 1772 – JP 35. 32 Observations Made on Tour from Bengal to Persia : In the Years 1786–7 ; With a Short Account of the Remains of the Celebrated Palace of Persepolis and Other Interesting Events , 1788 ; deutsch 1790 – JA II, 7. 33 Vorlesungen über Rhetorik und schöne Wissenschaften, 4 Theile , 1785–1789 – JP 35.

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der Ästhetik wusste er zu schätzen, dass Home in den Grundsätzen der Critik34 auf den Umstand verwies , dass der ästhetischen „Empfindnis“ als Ergebnis komplizierter Gemütsoperationen angenehme und unangenehme „Empfindungen“ vorausgehen ( JA I, 5 ). Gleichwohl kritisierte er die Ansicht des Schotten, dass die „ästhetische Rührung“ ausschließlich auf Gesichts- und Gehörsinn beruhe , denn er hegte die Überzeugung , dass nicht alle Elemente , die ästhetische Rührung hervorrufen, Teil dieser beiden Sinne seien. Er selbst betonte , dass beispielsweise darüber , was gut sei , nicht die Sinne , sondern das Herz entscheide ( JA I, 11 ). Auf Homes Erwägungen über den Gesichtssinn kam Meißner auch später zurück , als er zu klären suchte , warum optische Wahrnehmungen die größten „Vergnügungen“ und stärksten „Reize“ hervorrufen. Laut Home war der Grund , dass die Seele optische Impulse unmittelbar empfinde. Demgegenüber wanderten die Impulse aller übrigen Sinne zunächst über die Nerven ins Gehirn und gelangten erst danach in die Seele. Das Vorrecht der Unmittelbarkeit teile mit dem Blick nur das Gehör ( JA IV, 21–22 ).35 Jungmanns Mitschrift erwähnt Home auch bezogen auf das Erhabene. Meißner reihte ihn zunächst neben Burke in seine Aufzählung von Autoren ein, die sich mit dieser ästhetischen Erscheinung befassen ( JA IV, 30 ). Ferner äußerte er sich gegen Homes These , dass Rache nichts Erhabenes hervorrufe , da sie den Zuschauer abstoße. Er selbst war überzeugt , dass einige Arten von Rache Erhabenes wecken ( JA IV, 32 ). Neben Burke und Gerard nannte er Home auch in seiner Übersicht der britischen Geschmackstheorien ( JA III, 4 ). Den größten Raum gewährte er Home im Poetikteil. Er erwähnt dessen Postulat , dass die Leidenschaft in gehöriger Weise mit dem sprachlichen Ausdruck abzustimmen sei ( JP 10 ) sowie dessenVergleich der Prosaperiode mit dem Rezitativ und der Poesieperiode mit der Arie ( JP 12 ). Er verwies auf Homes Übersicht der metrischen Versfüße ( JP 15 ), die Theorie vom Hauptton der Dichtung ( JP 18–19 ) und polemisierte mit seiner Ansicht über eine Beziehung zwischen Gedanken- und Verspause ( JP 19 ). Außerdem stellte er Homes Auffassung von der Allegorie vor , der er die Auffassung Quintilians entgegensetzte. Der Schotte verstand die Allegorie als Hieroglyphenmalerei , denn die Grundlage beider bestehe aus zwei Bildern. Meißner hielt diese Auffassung für irreführend , da sie die Allegorie mit der Metapher verwechsele ( JP 67–68 ). Der letzte der britischen Ästhetiker der Aufklärung , dem Meißner systematische Aufmerksamkeit zukommen ließ , war Edmund Burke. A Philosophical Enquiry into the Origin of Our ideas of the Sublime and Beautiful ( 1757; deutsch 1773 ) kommentierte er ausschließlich im Ästhetikteil , und zwar in den dem Geschmack ( JA III, 4 ), der Schönheit ( JA V, 11–23 ) und dem Erhabenen ( JA IV, 30 ) gewidmeten Passagen. Meißner schwächte Burkes These ab , der zufolge das Erhabene von Grauen und Furcht bedingt

34 Welche von den fünf , bis zum Jahr 1793 erschienenen deutschen Ausgaben Meißner im Sinn hatte , verrät die Mitschrift nicht. Die drei deutschen Übersetzungen von Homes Elements erschienen in Leipzig 1763–1766 und 1772 , in Frankfurt 1775 , wieder in Leipzig 1790–1791 und in Wien 1790–1791. 35 Siehe dazu auch S. 75–79 im Beitrag Lore Knapp in diesem Band.



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sei. In Übereinstimmung mit der deutschen nichtkantianischen Ästhetiktradition36 sah er das Einsetzen des „schrecklich Erhabenen“ durch das Bewusstsein von der eigenen Sicherheit bedingt und verwies sogar auf Beispiele , die kein Grauen, dafür aber Erhabenes erwecken ( z. B. zitiert Meißner das biblische „Es werde Licht ; und es ward Licht“; 1. Mose 1 , 3 ). Die umfangreichsten Auszüge aus Burkes Enquiry reihte er in seine Erwägungen über das Schöne ein. Darin rekapitulierte er weitschweifig die Vorbehalte des Briten gegenüber den auf Proportionen, Geschicklichkeit , Nutzen und Vollkommenheit fußenden Schönheitstheorien. Anschließend stellte er noch dessen auf Selbsterhaltungs- und Geschlechtstrieb basierende Ästhetiktheorie vor. Er verband das Schöne mit „mäßiger Form“, „Glätte“, „allmählicher Abwechslung in gehörigen Abstufungen“ und „Feinheit“. Genau wie Burke untermauerte er die vorgelegte Theorie mit William Hogarth. Schließlich nahm er nach Burkes Vorbild die Beziehung des Schönen zu den einzelnen Sinnen ( insbesondere zum Sehen und Hören ) durch und führte die Hauptarten des Schönen an. Burkes kausal-emotionalistische Wirkungsästhetik stand Meißners Rührungsästhetik nahe. Daher überrascht es nicht , dass er diesen von allen britischen Ästhetikern am höchsten schätzte. Jungmann notierte wörtlich , laut Meißner „kam [ Burke ] am weitesten“ bei der Erforschung des Schönen, obwohl nicht einmal er diesen Zentralbegriff der Ästhetik voll erschöpft habe. Die Prager Begeisterung für Burke sollte Meißners Weggang nach Fulda im Januar 1805 nicht überleben. Das beweisen die sich auf seinen Amtsnachfolger Joseph Georg Meinert beziehenden Quellen. Meinert lehrte Ästhetik von 1805 bis 1811 , zunächst als Supplent , seit 1806 als Professor der Ästhetik , Geschichte der schönen Künste und Wissenschaften und Geschichte der Philosophie. Er hatte nicht nur an der Universität in Prag studiert , sondern im Jahr 1795 / 96 auch in Jena , dem damaligen Bollwerk des deutschen Idealismus. Im Jenenser philosophischen Curriculum wurde in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts Kants Kritiken große Aufmerksamkeit geschenkt. In beiden Semestern von Meinerts dortigem Aufenthalt hielt zudem der von Kant eingenommene Friedrich Schiller Ästhetik-Vorlesungen.37 Dass der deutsche philosophische Idealismus Meinert nicht fremd war , deutet auch der Ästhetikteil seiner Antrittsvorlesung an.38 Ästhetik war für ihn keine Brotwissenschaft , sondern eine Disziplin, die „Aufschlüsse‟ gibt „über „wunderbare Vermögen des menschlichen Geistes auf dem oft so dürftigen Grund und Boden der Erfahrung eine höhere Welt aufzubauen, deren Frieden der Wirklichkeit ungestümme [ sic ! ] Wellen mit ihrem Schlage nicht berühren, wo , von des Bedürfnisses Kette losgebunden, der Mensch nach Gesetzen der Schönheit

36 Vgl. Hlobil : Geschmacksbildung im Nationalinteresse , 314–330. 37 Horst Neuper ( Hg. ): Das Vorlesungsangebot an der Universität Jena von 1749 bis 1854 , Teil I, Weimar : VDG, 2003 , 289–297. 38 Joseph Georg Meinert : Rede über das Interesse der Aesthetik , Pädagogik , Geschichte der Gelahrheit und Filosofie für Gebildete Menschen bei seiner öffentlichen Einführung am 10ten December 1806 vorgetragen, Prag : Widtmann, 1807 , 19–27.

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handelt , dem eigensinnigen Zufall kein Eingriff in seine Angelegenheiten, nur einem poetischen Schicksal sein Recht , und selbst der Leidenschaft nicht gestattet wird , anders als in harmonischem Sturm zu verhallen“.39 Ob Meinert in der Tat in seinem Vorlesungszyklus die ästhetischen Ideen des deutschen Idealismus oder sogar der Frühromantik dargelegt hat , wissen wir allerdings nicht mit Sicherheit , denn mit Ausnahme eines kleinen Bruchstücks von einer Studentenreinschrift40 ist dessen Inhalt unbekannt.41 Mit Gewissheit kann man nur sagen, dass Meinert die emotionalistische Ästhetik seines Vorgängers und Ästhetiklehrers Meißner samt dem von diesem anerkannten Burke eindeutig abgelehnt hat. Meinert zögerte in der Antrittsvorlesung ( vorgetragen 1806 , publiziert 1807 ) nicht – in verhohlenem Widerspruch zu Meißner – die lediglich auf das Hervorrufen von Rührungen verengte Wirkung der Kunst ( „alle Seiten des Herzens berühren“; „unsere Gefühle in Bewegung zu setzen“ ) als einen „zweideutigen Nutzen“ zu bezeichnen.42 In der früheren Bewerbung um den Prager Ästhetik-Lehrstuhl ( 1805 ) hatte er überdies ausdrücklich die von Meißner verbreitete Schönheitstheorie Burkes verworfen, der zufolge „schön ist , was die feineren Geschlechtsempfindungen anregt und gelinde Aufwallungen hervorbringt“. Diese Theorie bezeichnete er als seicht und bedenklich. Er selbst verstand Schönheit als „Gefälligkeit eines Ganzen, durch formale Ähnlichkeit mannigfaltiger Teile“.43 Meinerts Verwerfung von Burkes emotionalistischer Theorie44 entspricht der Weise , in der die deutsche idealistische Ästhetik mit der Enquiry umgegangen ist. Immanuel Kant fasste Burkes Enquiry in der Kritik der Urteilskraft ( 1790 ; § 29 ) nicht als Vorlage

39 Ebd., 20. 40 [ Anonym ]: Vorlesungen über Aesthetik. Von Herrn Profes. Meinert. Im Winter 1805–1806  – 1807. 2. Heft , MS, Bibliothek des Nationalmuseums Prag , Sign. X C 40. 41 Das Bruchstück deutet jedoch auch an, dass Meinerts Ästhetik wirklich idealistisch geprägt sein könnte , denn die aufgezeichnete Klassifikation der Künste knüpft an den Kantianer Wilhelm Traugott Krug an ( ders.: Versuch einer systematischen Enzyklopädie der schönen Künste , Leipzig : Hempel , 1802 , 52–54 ). Gerade aufgrund von Krugs Werken sollen laut Winter in Böhmen Kants Kritiken verbreitet worden sein. Vgl. Eduard Winter : Bernard Bolzano und sein Kreis. Dargestellt mit erstmaliger Heranziehung der Nachlässe Bolzanos und seiner Freunde , Leipzig : Hegner , 1933 , 137–138. 42 Meinert war der Überzeugung , Kunst solle als „Mittlerin zweier Welten, den ganzen Menschen ergreifen, und , indem sie Herz und Fantasie , Verstand und Vernunft zu harmonischer Thätigkeit anregt , durch das schöne Gleichmaß der Kräfte beglücken“ ( Rede über das Interesse , 21–22 ). 43 Die Angabe über Meinerts Abgrenzung des eigenen Schönheitsbegriffs vor dem Hintergrund ­Burkes habe ich von Lemberg übernommen. Das entsprechende Archivmaterial konnte ich bislang nicht ausfindig machen. Eugen Lemberg : Grundlagen des nationalen Erwachens in Böhmen : Geistesgeschichtliche Studie , am Lebensgang Josef Georg Meinerts ( 1773–1844 ), Reichenberg : Stiepel , 1932 , 95 , Fn. 74. 44 Meinerts Verwerfung von Burkes Ästhetik ist nicht als Ablehnung britischer Literatur im Allgemeinen zu verstehen. Das belegen Meinerts in der Zeitschrift Libussa publizierten Übersetzungen. Vgl. „Erläuternde Winke über die außerordentliche Erfindung der HH. Ackermann, Suardy und Comp., Tücher und andere Stoffe wasserdicht zu machen. Aus dem Englischen der Unternehmer. Von J.G. Meinert“, in : Libussa. Eine vaterländische Vierteljahrschrift 1802 , Erster Band , 86–110 sowie „Lady Both­wells Klage : Ein altschottischer Sang. Von Ebendems. [ d. h. J.G. Meinert ]“, in : ebd. 1804 , Zweiter Band , S. 309–312.



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oder Inspiration auf , sondern als überholtes Kontrastmaterial , vor dessen Hintergrund er die eigene , sich vom Empirismus unterscheidende Transzendentaltheorie von Erhabenheit näherbrachte. In der Folge betrachteten die postkantianischen Idealisten einschließlich Schiller die britische empiristische Ästhetik als eine vom Idealismus überholte Denkweise.45 Eine deutlich stärkere Hinwendung zur britischen Ästhetik als bei Meinert geht aus dem einzigen in Buchform herausgegeben Kompendium von Prager Ästhetikvorlesungen hervor. Die zweibändigen Vorlesungen über Aesthetik ( 1822 , 1823 )46 von Johann Heinrich Dambeck ( Professor der Ästhetik , Geschichte der schönen Künste und Wissenschaften und Geschichte der Philosophie 1812–1820 ) nennen Joseph Addison, Archibald Alison, Hugh Blair , Edmund Burke , John Campbell , John Dryden, Alexander Gerard , William H ­ ogarth , Henry Home , Richard Hurd , Francis Hutcheson, William Jones , John Locke , Robert Lowth , Henry Pemberton, Alexander Pope , Joseph Priestley , Shaftesbury , T ­ homas Sheridan, Jonathan Swift und Ernst Young.47 Dem enormen Umfang dieser Auflistung tut auch die Tatsache keinen Abbruch , dass die meisten Angaben über britische Ästhetiker aus den Bibliographien und Fußnoten stammen. Die Vielzahl der erfassten Autoren berechtigt zu der Behauptung , dass in der Buchversion der Dambeck-Vorlesungen der Anklang der britischen Ästhetik in der frühen Prager Universitätsästhetik ihren Kulminationspunkt erreicht hat. Dieser Eindruck ist aber insofern irreführend , als in der früheren Handschriftversion der Vorlesungen ( 1819 )48 überhaupt kein britischer Ästhetiker genannt wird. Man kann praktisch alle Stellen, an denen in der Buchversion Namen, Werke und Ansichten britischer Ästhetiker auftauchen, zu Ergänzungen des Herausgebers Joseph Adolf Hanslik erklären, der für seine geradezu besessenen Recherchen und das lebenslange Verfassen aller erdenklichen Bibliographien bekannt war.49

45 Über Kants und die postkantianische , idealistische Umgangsweise mit Burkes Enquiry einschließlich der umfangreichen Literatur siehe Hlobil : Geschmacksbildung im Nationalinteresse , 314–330. 46 [ Johann Heinrich Dambeck ]: Vorlesungen über Aesthetik von Johann Heinrich Dambeck. Herausgegeben von Joseph Adolf Hanslik , Erster Theil. Prag : Enders , 1822. Zweiter Theil , 1823. 47 Die Buchversion von Dambecks Vorlesungen schätzte von den britischen Autoren die auf der Erforschung der menschlichen Natur fußende Theorie von Henry Home , Lord Kames am höchsten. [ Dambeck ]: Vorlesungen über Aesthetik von Johann Heinrich Dambeck I, 23 : „Unter den Britten ist als der vorzüglichste merkwürdig : Heinr. Home ( Lord Kaimes ), der die Elements of Criticism ( Grundsätze der Kritik ) lieferte , mit welchem Werke gewissermaßen auch in Deutschland für die Theorie der schönen Künste eine neue Epoche begann, indem es zwar , einerseits eben nicht auf allgemeine Prinzipien gegründet , dennoch andrerseits mehr auf die menschliche Natur aufmerksam machte , die man nach und nach allzusehr aus dem Gesichte verloren hatte.“ 48 Die Handschriftversion hat gleichfalls Hanslik angefertigt. [ Joseph Adolf Hanslik ]: Dambeckʼs Vorlesungen über Aesthetik im Auszuge. Prag 1819 , MS, Nationalbücherei Prag , Sign. XVI E 46. 49 Über die Beziehungen zwischen beiden Versionen der Dambeck-Vorlesungen und über Hanslik selbst einschließlich der Verweise auf Quellen und Literatur siehe Tomáš Hlobil : „Pražské univerzitní přednášky z estetiky Johanna Heinricha Dambecka ( Hledání jejich autentické podoby )“ [ Die Prager

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Der schroffe Gegensatz zwischen der Stellung der britischen Ästhetik in der Handschrift und der Buchversion von Dambecks Vorlesungen besagt aber noch nicht , dass in dem zweiten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts an der Prager Universität von den britischen Ästhetikern überhaupt nicht die Rede war. Gerade Joseph Adolf Hanslik hat nämlich vertretungsweise für Dambeck im Jahre 1816 Ästhetik gelehrt. Johann Heinrich Dambeck selbst war überdies für seine exzellenten Kenntnisse der englischen Sprache und Literatur berühmt. Vor dem Antritt an der Universität hatte er „das Amt eines landrechtlichen Translators englischer Urkunden“50 bekleidet und mit Erfolg nicht nur Popes Essay on Criticism ,51 sondern auch Shakespeares Dichtung Venus and Adonis52 ins Deutsche übersetzt. Auch das entscheidende Buch , von dem er sich zu seiner eigenen Ästhetiktheorie inspirieren ließ – Ideen zur psychologischen Aesthetik ( 1793 ) von Heinrich Zschokke53 – zeigt sich gegenüber der britischen Ästhetik wohlwollend. Das anthropologische , gezielt unidealistische Gepräge dieser für Dambeck richtungweisenden Ästhetik führte Zschokke dazu , Briten wie z. B. Hogarth , Home , Hutcheson und Jones anzuführen. Diese Umstände lassen darauf schließen, dass Dambeck die britischen Ästhetiker ( zumindest Pope ) in den Vorlesungen behandelte.54 Wenn man in Dambecks Fall immerhin voraussetzen kann, dass in seinen Vorlesungen Namen, Werke und Standpunkte britischer Ästhetiker angeklungen sind , taucht in den Quellen zu den Vorlesungen seines Nachfolgers Anton Müller ( 1822 Professor

Ästhetikvorlesungen von Johann Heinrich Dambeck ( Die Suche ihrer authentischen Gestalt )], in : Hudební věda 49 , 2012 , 123–130. 50 Constant von Wurzbach : Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich , Dritter Theil , Wien : Typographisch-literarisch-artistische Anstalt , 1858 , 137 ( Dambeck , Johann Heinrich Mathias ). 51 Alexander Popeʼs Versuch über die Kritik. Freie metrische Übersetzung mit des Dichters Anmerkungen und Warburtons Erläuterungen, Prag : Barth , 1807. Dambecks Übersetzung war auch jenseits der Grenzen Österreichs hoch geschätzt. Die Rezensionen dieser Übersetzung fasste Graner zusammen : Die Übersetzungen, 89–93. 52 William Shakespeare : Venus und Adonis. Tarquin und Lukrezia. Mit gegenüber gedrucktem Original , übersetzt von Johann Heinrich Dambeck , Leipzig : Brockhaus , 1856. 53 Heinrich Zschokke : Ideen zur psychologischen Aesthetik , Berlin, Frankfurt O.: Kunze , 1793. Über Zschokkes Lehrbuch als Vorlage zu Dambecks Vorlesungen siehe Tomáš Hlobil : „Johann Heinrich Dambeckʼs Prague University Lectures on Aesthetics. An Unknown Chapter in the History of the Anthropological Aesthetics“, in : Estetika. The Central European Journal of Aesthetics 50 , 2013 , 212–231. Beide Versionen der Dambeck-Vorlesungen schweigen über die entscheidende Rolle von Zschokkes Ideen. Die einzige Erwähnung Zschokkes taucht in der Buchversion von Dambecks Vorlesungen in einer Auflistung der sich mit Schönheit befassenden Werke auf ( Dambeck : Vorlesungen über Aesthetik I, 311 ). 54 Dambecks Antrittsvorlesung , in der er Popes Essay on Man zitiert und auch weitere Briten wie Newton und Johnson würdigt , deutet auch an, dass er sich in dem Vorlesungszyklus mit den britischen Ästhetikern beschäftigen konnte. Vgl. Johann Heinrich Dambeck : Uiber Werth und Wichtigkeit der Aesthetik , Geschichte der Künste und Wissenschaften, und Geschichte der Philosophie. Ein Wort an seine Zuhörer gesprochen bei seiner öffentlichen Einführung am 8ten August 1812 , Prag : Widtmann, o. J.



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der Ästhetik , Geschichte der schönen Künste und Geschichte der Philosophie , von 1833 bis 1844 Professor der Ästhetik und klassischen Philologie ) kein einziger britischer Ästhetiker mehr auf.55 Anton Müller ließ in sein idealistisches Ästhetiksystem , das auf unerschütterlichem christlichen Glauben an die ewige Güte Gottes , die Vorsehung und die Theorie von der besten aller möglichen Welten begründet war ,56 nur noch britische Dichter , Dramatiker und Romanciers eintreten. In seinen Vorlesungen behandelte er Byron, Shakespeare , Milton, Ossian, Sterne und Walter Scott.57 Mit Anton Müller muss die Übersicht des Nachhalls der britischen Ästhetik in der frühen Prager Universitätsästhetik abgeschlossen werden, obwohl der Ästhetikunterricht an der Prager Universität in unveränderter institutionalisierter Form auch nach seinem Tod im Jahr 1844 bis zum Revolutionsjahr 1848 fortgesetzt wurde. Über den Unterricht von Müllers Nachfolger Michael Franz von Canaval ( Professor der Ästhetik und klassischen Philologie 1844–1848 ) sind mir keine Quellen bekannt , anhand derer man feststellen könnte , welche Stellung er gegenüber der britischen Ästhetik einnahm.

55 Über die einzelnen Quellen zu Müllers Ästhetikvorlesungen : Tomáš Hlobil : „Die Quellen der Prager Ästhetikvorlesungen von Anton Müller“, in : Germanoslavica , im Druck. Vgl. insbesondere die umfangreichste erhaltene Quelle zu Müller Ästhetikvorlesungen : [ Karl Holzinger ]: Anton Müllers öffentliche Vorlesungen über Ästhetik an der Prager Universität im Jahre 1831. theils aus des Verfassers eignem Manuscripte , theils aus den ersten Copien abgeschrieben von Karl Holzinger , MS, Bibliothek des Nationalmuseums Prag , Sign. XVIII A 23. 56 Müllers Ästhetik knüpfte an die österreichische , religiös verankerte philosophisch-ästhetische Tradition an, die gezielt dem hochgespannten Subjektivismus des deutschen Idealismus trotzte. Über das österreichische Gepräge von Müllers Ästhetik siehe Tomáš Hlobil : „ ‚ Sám o sobě existuje jen dobrý osud.‘ Teorie dramatu Antona Müllera v kontextu středoevropské estetiky“ [ „ An sich gibt es nur ein gutes Schicksal.“ Anton Müllers Theorie des Dramas im Kontext der mitteleuropäischen Ästhetik ], in : Bohemica litteraria 17 : 2 ( 2014 ), 53–84. Über das antikantianische Gepräge dieser österreichischen Ästhetikströmung vgl. die Arbeiten von Roger Bauer „ ‚Das gemißhandelte Schicksal.‘ Zur Theorie des Tragischen im deutschen Idealismus“, in : Euphorion 58 , 1964 , 243–259. La Réalité – Royaume de Dieu. Études sur lʼoriginalité du théâtre viennois dans la première moitié du XIXe siècle , München : Hueber , 1965. Der Idealismus und seine Gegner in Österreich , Heidelberg : Winter , 1966. Die Welt als Reich Gottes. Grundlagen und Wandlungen einer österreichischen Lebensform , Wien : Europaverlag , 1974. „Grillparzers ‚Ahnfrau‘: ihre Kritiker und ihr Publikum“, in : Grillparzer-Forum Forchtenstein. Vorträge – Forschungen – Berichte. 1973 , Eisenstadt : Rötzer , 1974 , 141–163. „Das stoisch-josephinische Tugendideal in der österreichischen dramatischen Literatur der Grillparzerzeit“, in : Roger Bauer , Laßt sie koaxen, Die kritischen Fröschʼ in Preußen und Sachsen ! Zwei Jahrhunderte Literatur in Österreich , Wien : Europaver­lag , 1977 , 47–60. Über die Beziehung der österreichischen und böhmischen Philosophie allgemein Jaromír Loužil : „Nakolik bylo české myšlení rakouské ?“ [ In wie weit war das tschechische Denken österreichisch ? ], in : Český lev a rakouský orel v 19. století [ Böhmischer Löwe und österreichischer Adler im 19. Jahrhundert ], hg. v. Zdeněk Hojda und Roman Prahl , Praha : KLP, 1996 , 77–83. 57 [ Holzinger ]: Anton Müllers öffentliche Vorlesungen.

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 Tomáš Hlobil

Prager Umgang mit der britischen Ästhetik zwischen deutscher Ästhetikgeschichte und österreichischer Bildungspolitik Die aufgestellte Übersicht zeigt , dass die britische Ästhetik für die frühe Prager Universitätsästhetik keine entscheidende Quelle darstellte , aber auch nicht bedeutungslos war. In der Prager Rezeption der britischen Standpunkte kann man zwei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase , die bis Ende des zweiten Jahrzehnts des neunzehnten Jahrhunderts dauerte , wurden die britischen Ästhetiker , Neoklassizisten sowie späteren Aufklärer , stets als Autoritäten wahrgenommen, deren Ansichten kommentiert werden mussten, gleich , ob positiv , kritisch oder ablehnend ( Seibt , Meißner , Meinert , Dambeck ); in der zweiten Phase nach 1820 verschwanden die britischen Ästhetiker aus den Prager Vorlesungen ( Müller ). Will man diesen Bruch begreifen, so muss man die Rezeption der britischen Ästhetik im Sinne zweier , einander ergänzender Aspekte betrachten : nach dem Ideenaspekt , den die Geschichte der Ästhetik bietet , und nach dem Fachaspekt , der von den Reskripten des Wiener Hofs zur Regelung des österreichischen Universitätsbetriebs ausgeht. Der Verlauf der Rezeption der britischen Ästhetik in der Prager Universitätsästhetik spiegelt zum größten Teil das Vorgehen der deutschen Ästhetik. Seibt folgte Gottsched58 in der Hochschätzung Popes und Gellert in der Hochschätzung Shaftesburys. Auch Meißners Zuneigung zu den späteren britischen Ästhetikern der Aufklärung hing mit seiner Studienzeit in Leipzig zusammen, insbesondere mit den anglophilen Literaten, die sich um die Zeitschrift Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften von Christian Felix Weiße zusammengefunden hatten. Der vom deutschen Idealismus geprägte Meinert verwarf die britische empiristische und emotionalistische Ästhetik , soweit man das dem vorhandenen Quellentorso entnehmen kann. In Dambecks Vorlesungen lässt sich zwar kein Nachhall der britischen Ästhetik ( weder der neoklassizistischen noch der aufklärerischen ) nachweisen, doch kann man von einem solchen Nachhall , unter anderem deshalb ausgehen, weil die anthropologische Strömung der deutschen Ästhetik , auf die er sich in seinen Vorlesungen stützte , gegenüber den Briten wohlwollender war als die auf Kant fußende idealistische Strömung. Müllers religiöse Ästhetik widersetzte sich der Kantschen Tradition und tendierte auch nicht zum seinerzeit einflussreichen Hegelianismus. Ungeachtet dieser Differenzen verbindet die Haltung gegenüber den britischen Ästhetikern Müllers österreichischen Idealismus mit beiden deutschen idealistischen Strömungen : Die Briten waren für ihre ästhetischen Nachfolger bedeutungslos geworden. Die frühe Prager Universitätsästhetik war integraler Bestandteil der deutschen – besser deutschsprachigen – Ästhetik , zugleich aber auch ein an einer österreichischen Universität unterrichtetes Fach. Die Aufnahme der britischen Ästhetiker in Prag wurde also nicht nur vom deutschen ästhetischen Gedankengut beeinflusst , sondern auch

58 Über Gottscheds innige Beziehung zu Popes Essay on Criticism siehe Heinzelmann : „Pope in Germany in the Eighteenth Century“, 335–337.



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von den Anordnungen des Wiener Hofs , die den Gang der österreichischen Universitäten und deren philosophischen Fakultäten dirigierten. Die Universitäten der österreichischen Monarchie waren im Beobachtungszeitraum vom Staat gelenkte Institutionen. Die philosophischen Fakultäten nahmen in deren Rahmen einen festen Platz ein – als propädeutische Lehranstalten, die jeder absolvieren musste , der auf einer höheren professionsorientierten Fakultät wie Theologie , Jura und Medizin weiterstudieren wollte. Für die Stellung der Ästhetik im Rahmen der propädeutischen philosophischen Fakultät war der Grundsatzentscheid des Kaisers Franz I. aus dem Jahr 1805 richtungweisend , der die Ästhetik aus den Pflichtfächern der philosophischen Studien ausgliederte , in die sie von den Reformen Josephs II. um die Mitte der achtziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts eingereiht worden war. In der Folge blieb die Ästhetik bis zum Jahr 1848 ein freiwilliges Wahlfach.59 Die Stellung der Fächer im Curriculum als Pflicht- oder Wahlfach hatte Einfluss auf den Vorlesungsinhalt. Die Dozenten der Wahlfächer mussten nicht nach vorgeschriebenen Lehrbüchern lesen, sondern durften diese nach amtlicher Zulassung selbst auswählen oder sogar selbst verfassen. Ungeachtet dieser Möglichkeit wurden den gesamten Beobachtungszeitraum über Hofanordnungen ausgegeben, die Lehrbücher für Ästhetikunterricht vorschrieben oder wenigstens empfahlen. Mit Blick auf die Rezeption der britischen Ästhetik in den Prager Vorlesungen ist von den erlassenen Hofreskripten Maria Theresiens Anordnung Entwurf zur Philosophischen Fakultät vom 3. Oktober 1774 wichtig. Diese legte für den Ästhetikunterricht neben den Texten von Charles Batteux und Johann Georg Sulzer auch die Grundsätze der Critik von Henry Home , Lord Kames , fest. Das spätere Reskript aus dem Jahr 1785 – Nachtrag zu der besonderen Anleitung , wie der Entwurf für das philosophische Studium auszuführen ist – schrieb als gesamtstaatlich verbindliches Ästhetiklehrbuch den Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften ( 1783 ) von Johann Joachim Eschenburg vor. Die Reform von 1791 setzte neben Eschenburgs Entwurf noch die Theorie der schönen Künste und Wissenschaften ( 3. Ausg. 1790 ) von Johann August Eberhard. Beide deutschsprachigen außerösterreichischen Lehrbücher , von denen Eschenburgs Entwurf in den Prager Vorlesungsverzeichnissen noch in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts geführt wurde ,60 gingen vorsätzlich nicht von Kants Kritiken aus und waren gegenüber den britischen Impulsen sichtlich offener als die an die Kritiken anknüpfenden idealistischen

59 Eingehender über die einzelnen Reformen, Reskripte und ihren Einfluss auf die Ästhetik einschließlich deren Lehrbücher bis zum Jahr 1805 siehe Hlobil : Geschmacksbildung im Nationalinteresse , 19–68. Über die Reformen von 1805 bis zum Jahr 1848 siehe Tomáš Hlobil : „Estetika podle studijních plánů vídeňského dvora a seznamů přednášek rakouských univerzit a lyceí v letech 1805 až 1848 ( Vídeň , Praha , Lvov , Štýrský Hradec , Innsbruck , Olomouc )“ [ Ästhetik laut den Studienplänen des Wiener Hofs und den Vorlesungsverzeichnissen der österreichischen Universitäten und Lyceen in den Jahren 1805 bis 1848 ( Wien, Prag , Lemberg , Graz , Innsbruck , Olmütz )], in : Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis , im Druck. 60 Hlobil : Geschmacksbildung im Nationalinteresse , 269–286.

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 Tomáš Hlobil

Abhandlungen. Im nicht umgesetzten Reformplan des Grafen Rottenhan, der in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts vorbereitet wurde , wurde dann sogar wieder Ästhetikunterricht nach einem britischen Lehrbuch vorgesehen – diesmal nach den Lectures on Rhetoric and Belles Lettres ( 1783 ; deutsch 1785–1789 ) von Hugh Blair.61 Die Auflistung zeigt , dass der Wiener Hof für den größten Teil des Beobachtungszeitraums die Ästhetiklehrbücher nicht nach ihrem Entstehungsort , sondern nach ihrem Inhalt ausgewählt hat – gezielt wurde zu Texten gegriffen, die sich nicht an die idealistische Philosophie Immanuel Kants und dessen Nachfolger hielten und die außerdem die theoretischen Darlegungen über Kunst als eine praktische , d. h. zur kritischen Beurteilung von Kunstwerken nutzbare und die Sittlichkeit hebende Angelegenheit betrachteten. Der Wiener Hof ließ keine Auffassung von Ästhetik als spekulativer philosophischer Disziplin zu , sondern begriff die Ästhetik stets als ein praktisches Fach , das die Erfahrungen mit konkreten Kunstwerken ( insbesondere aus der Lektüre literarischer Werke ) zu verbindlichen Regeln verallgemeinern und zugleich schädliche menschliche Leidenschaften zügeln sollte. Die österreichischen Ästhetikprofessuren wurden daher bis 1848 meist mit klassischer Philologie , jedoch niemals und nirgendwo mit Philosophie verknüpft. Das beschriebene Ideal hat ganz grundsätzlich auch die Haltung gegenüber der britischen Ästhetik geprägt. Der Wiener Hof hat die britische Ästhetik bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ( ungeachtet der von Kaiserin Maria Theresia vorgebrachten Zweifel gegenüber der englischen Sprache )62 nicht verworfen, sondern für sie gewissermaßen Wohlwollen gehegt , wie die Lehrbuchauswahl zeigt. Die britische Ästhetik kam den österreichischen Idealen eines nicht spekulativen, praxisorientierten und sittlichen Gehalts der Ästhetik entgegen und konnte so als ein Schutzwall gegen die Fallstricke des „schwärmerischen“ deutschen philosophischen Idealismus herhalten.63 Die Notwendigkeit eines solchen Schutzwalls entfiel natürlich , als allmählich eine eigenständige , nach dem Wiener Kongress ( 1814–1815 ) vom neu enstandenen österreichischen Kaisertum

61 Die beschriebene Entwicklung zeugt von einer umwälzenden Veränderung in der Benutzung von Vorlagen. Der Wiener Hof hat zunächst als Vorlagen ins Deutsche übersetzte Texte ausländischer Provenienz ( französische und englische ), danach auf Deutsch verfasste außerösterreichische Lehrbücher und letztlich ab den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts einheimische österreichische ausgewählt ( siehe unten ). Seibt , Meißner , Meinert und Dambeck mussten sich anders als Müller und Canaval noch auf deutsch geschriebene nichtösterreichische Lehrbücher stützen, da die Machwerke der einheimischen österreichischen Ästhetiker und Kunsttheoretiker noch zu dürftig waren, als dass sich auf ihren Gedankengängen ein zweisemestriger , fünf Stunden wöchentlich zu haltender Vorlesungszyklus aufbauen ließ. 62 Vgl. Rudolf Kink : Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, Erster Band , Erster Theil , Wien : Gerold , 1854 , 516 , Fn. 690 : „Dagegen als im J. 1778 auch die Lehre der englischen Sprache beantragt war , resolvirte die Kaiserin : „Wäre niemals ein englischer Professor in keiner Universität anzustellen, auch nicht in Akademien ; es wäre besser , dass die Sprachen ; die in mein Landen Gang haben, als eine fremde so gefährliche Sprache wegen religions- und sittenverderblichen Principiis gelehret wurde“. 63 Zu den Vorstellungen des österreichischen Hofs über den Zweck der Ästhetik Hlobil : Geschmacksbildung im Nationalinteresse , 19–68.



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( 1804 ) geförderte , einheimische idealistische Philosophie­tradition aufkam , die sich zu den Axiomen der katholischen Religion, Sittlichkeit und des ontologischen Realismus bekannte.64 Die idealistische , religiös geprägte Strömung der österreichischen Philosophie ist in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts mit Müllers Vorlesungen in die Prager Universitätsästhetik vorgedrungen, hat diese beherrscht und die britische Ästhetik daraus verdrängt. Die britischen Theorien wurden aber außerhalb der Universität dank August Gottlieb Meißners ehemaligen Hörern in Böhmen weiter rezipiert. Als Beleg können nicht nur die Vermehrung von Dambecks Vorlesungen in Buchform mit den umfangreichen Ergänzungen Joseph Adolf Hansliks , sondern auch Bernard Bolzanos spätere Auseinandersetzung mit Hutcheson, Burke , Locke und Hogarth in der Abhandlung Über den Begriff des Schönen ( 1843 )65 gelten.

Quellenverzeichnis Handschriftliche Quellen [ Anonym ]: Praktische Philosophie vorgetragen von Karl Heinrich Seibt , MS, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Sign. 522521-A. [ Anonym ]: Karl Heinrich Seibt , Vorlesungen über die Moral , MS, Nationalbibliothek in Prag , Sign. XIX C 4. [ Anonym ]: Vorlesungen über Aesthetik Von Herrn Profes Meinert. Im Winter 1805–1806 – 1807. 2. Heft , MS, Bibliothek des Nationalmuseums Prag , Sign. X C 40. [ Hanslik , Joseph Adolf ]: Dambeckʼs Vorlesungen über Aesthetik im Auszuge. Prag 1819 , MS, Nationalbibliothek Prag , Sign. XVI E 46. [ Holzinger , Karl ]: Anton Müllers öffentliche Vorlesungen über Ästhetik an der Prager Universität im Jahre 1831. theils aus des Verfassers eignem Manuscripte , theils aus den ersten Copien abgeschrieben von Karl Holzinger , MS, Bibliothek des Nationalmuseums Prag , Signatur XVIII A 23. Jungmann, Josef : Meissner , A. G., Aesthetik 1794 ( Zápis z přednášek ), MS, Památník národního písemnictví Prag. Jungmann, Josef : Von der komischen Epopée aj. ( Zápis z přednášek ), MS, Památník národního písemnictví Prag.

64 Das Streben nach einer österreichischen Unabhängigkeit von fremden Vorbildern einschließlich von deutschen schlug sich seit den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts auch auf die Auswahl von Ästhetiklehrbüchern nieder. Als verbindlich wurde erstmalig das einheimische Lehrbuch des Wiener Ordinarius für Ästhetik Franz Ficker Aesthetik oder Lehre vom Schönen und der Kunst in ihrem ganzen Umfange ( 1. Ausg. 1830 , 2. 1840 ) ausgewählt. 65 Bernard Bolzano : „Über den Begriff des Schönen. Eine philosophische Abhandlung ( Prag 1843 )“, in : ders.: Mathematisch-physikalische und philosophische Schriften 1842–1843 , hg. v. Gottfried Gabriel , Matthias Gatzemeier und Friedrich Kambartel , Bernard Bolzano-Gesamtausgabe Reihe I , Schriften, Band 18 , Stuttgart-Bad Cannstatt : Fromman, 1989 , 87–217 , 150–151 ( Hutcheson ), 154–155 ( Locke , Home ), 160 ( Burke ), 210 ( Hogarth ).

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 Tomáš Hlobil

Würnitzer , Franciscus Salesius : Auszüge aus der Fachliteratur , MS, Bibliothek des Stifts Tepl , Sign. Nr. 217.

Gedruckte Quellen [ Anonym ]: „Prag“, in : Neue Zeitungen von gelehrten Sachen 1769 , Stück lxii , 489–491. Bolzano , Bernard : „Über den Begriff des Schönen. Eine philosophische Abhandlung ( Prag 1843 )“, in : ders.: Mathematisch-physikalische und philosophische Schriften 1842–1843 , hg. v. Gottfried Gabriel , Matthias Gatzemeier und Friedrich Kambartel , Bernard Bolzano-Gesamtausgabe Reihe I, Schriften, Bd. 18 , Stuttgart-Bad Cannstatt : Fromman, 1989 , 87–217. [ Dambeck , Johann Heinrich ]: Vorlesungen über Aesthetik von Johann Heinrich Dambeck. Herausgegeben von Joseph Adolf Hanslik , Erster Theil. Prag : Enders 1822 ; Zweiter Theil , 1823. Flögel , Carl Friedrich : Geschichte der komischen Litteratur , Erster Band , Liegnitz und Leipzig : Siegert , 1784. [ Hume , David ]: Geschichte Englands. Nach Hume. Von A.G. Meißner , Theil 1 , Leipzig : Dyk 1777. Theil 2 , 1780. Kink , Rudolf : Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, Erster Band , Theil 1 , Wien : Gerold , 1854. Krug , Wilhelm Traugott : Versuch einer systematischen Enzyklopädie der schönen Künste , Leipzig : Hempel , 1802. Meinert , Joseph Georg ( Hg. ): Libussa. Eine vaterländische Vierteljahrschrift 1802 , Erster Band ; 1804 , Zweiter Band. Meinert , Joseph Georg : Rede über das Interesse der Aesthetik , Pädagogik , Geschichte der Gelahrheit und Filosofie für Gebildete Menschen bei seiner öffentlichen Einführung am 10ten December 1806 vorgetragen, Prag : Widtmann, 1807. Müller , Gottfried Ephraim : „Vorbericht“, in : Versuch über die Critik aus dem Englischen des Herrn Pope. Nebst einem Versuche einer Critik über die deutschen Dichter , auch einer Zugabe einiger , kleineren Schriften, von M. Gottfried Ephraim Müller , Dreszden : Walther , 1745 , unpaginiert. [ Pope , Alexander ]: Des Alexander Pope , Esq. sämmtliche Werke mit Wilh. Warburtons Commentar und Anmerkungen, Erster und Vierter Band , Strasburg : Heitz etc. 1778. [ Pope , Alexander ]: Alexander Popeʼs Versuch über die Kritik. Freie metrische Übersetzung mit des Dichters Anmerkungen und Warburtons Erläuterungen, Prag : Barth , 1807. [ Pope , Alexander ]: The Poetical Works of Alexander Pope , vol. III, London : Pickering , 1835. [ Pope , Alexander ]: The Works of Alexander Pope , Esq. With Notes and Illustrations , vol. III, London : Rivington etc., 1824. [ Seibt Karl Heinrich ]: Akademische Vorübungen aus den von Karl Heinrich Seibt gehaltenen Vorlesungen über die deutsche Schreibart , Prag : Elsenwanger , 1769. Seibt , Karl Heinrich : Von den Hülfsmitteln einer guten deutschen Schreibart , eine Rede zum Eingange seiner öffentlichen Vorlesungen über die deutsche Schreibart gehalten. Nebst einigen dahin gehörigen Ausarbeitungen, Prag : Mangold , 1773. Seibt , Karl Heinrich : Klugheitslehre , praktisch abgehandelt , in akademischen Vorlesungen, Zweyter Band , zweyte Auflage , Prag : Neureutter , 1815. Shakespeare , William : Venus und Adoni Tarquin und Lukrezia. Mit gegenüber gedrucktem Original. Übersetzt von Johann Heinrich Dambeck. Leipzig : Brockhaus , 1856. [ Tablic , Bohuslaw ]: Anglické múzy w česko-slowenském oděwu. Wydal Bohuslaw Tablic. Budjn : Kral. universická tiskárna , 1831. Wurzbach , Constant von : Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich , Dritter Theil , Wien : Typogr.-liter.artist. Anstalt , 1858. Zschokke , Heinrich : Ideen zur psychologischen Aesthetik , Berlin, Frankfurt O.: Kunze , 1793.

Lore Knapp

Johann Joachim Eschenburgs Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften Bezüge zu Henry Home und Hugh Blair Johann Joachim Eschenburg ( 1743–1820 ) gehörte zusammen mit Johann Arnold Ebert , Friedrich Wilhelm Zachariae , Johann Nicolaus Meinhard und Lessing zu einer Reihe von Gelehrten, die in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Braunschweig und Wolfenbüttel als Übersetzer und Vermittler englischsprachiger Schriften wirkten.1 Eschenburg schrieb die erste deutschsprachige Monographie über Shakespeare und kann als Hauptvertreter der Anglophilie seiner Zeit im norddeutschen Raum gelten.2 Sein Ästhetik-Lehrbuch , dessen erste Druckfassungen den Titel Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften tragen, entstand Anfang der achtziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts nach langer intensiver Auseinandersetzung mit englischsprachigen Texten und deren Verbreitung in den Annalen der britischen Literatur vom ganzen Jahre 1780 sowie im eigens gegründeten Magazin Brittisches Museum für die Deutschen. Dessen sechs Bände mit insgesamt über 2000 Seiten, die zwischen 1777 und 1780 erschienen, enthalten fast ausschließlich Eschenburgs eigene Rezensionen und Übersetzungen englischsprachiger Neuerscheinungen. Dieser Beitrag verfolgt die Spuren, die Eschenburgs Anglophilie in der Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften hinterlassen hat , sowie deren Relevanz für die Herausbildung einer eigenständigen ästhetischen Disziplin im achtzehnten Jahrhundert.

Spiegel der Begriffsgeschichten von Literatur und Wissenschaft Eschenburg hatte den Anspruch , den ästhetischen Erkenntnisstand seiner Zeit in enzyklopädischer Form für den Unterricht an Schulen und Universitäten verfügbar zu

1 Für die Ermöglichung eines zweimonatigen Aufenthalts an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel ( HAB ) danke ich der Dr. Fritz Wiedemann-Stiftung für Aufklärungsforschung. 2 Vgl. ausführlicher dazu Till Kinzel : „Eschenburg als Pionier der Anglistik : Interkulturelle Vermittlungsarbeit am Beispiel seiner Jahresberichte für die Annalen der Brittischen Geschichte in den 1790er Jahren“, in : Johann Joachim Eschenburg und die Künste und Wissenschaften zwischen Aufklärung und Romantik , hg. v. Cord-Friedrich Berghahn und Till Kinzel , Heidelberg , Winter 2013 , 141–158 ; Roger Paulin : The Critical Reception of Shakespeare in Germany 1682–1914. Native Literature and Foreign Genius , Hildesheim : Olms 2003 , 96–132 sowie Bernhard Fabian : Selecta Anglicana. Buchgeschichtliche Studien zur Aufnahme der englischen Literatur in Deutschland im achtzehnten Jahrhundert , Wiesbaden : Harrassowitz , 1994 , 243 ; Manfred Pirscher : Johann Joachim Eschenburg. Ein Beitrag zur Literatur- und Wissenschaftsgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts , Dissertation Universität Münster , 1960 , 198–275.

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 Lore Knapp

machen. Sein Anfang der siebziger Jahre entstandenes Vorlesungsmanuskript arbeitete er zu diesem Zweck Schritt für Schritt zu einem Lehrbuch aus. Die Schrift beschäftigte ihn über 45 Jahre lang , vom Anfang der siebziger Jahre des achtzehnten bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein. Bereits der Ankündigungstext zu seiner ersten Vorlesung am Collegium Carolinum im Wintersemester 1769 / 70 mit dem Titel Allgemeine Gelehrtengeschichte sieht einen Schwerpunkt bei der „Geschichte der schönen Literatur“ vor , worunter , wie es dort heißt , „die Philosophie und Historie mit begriffen sind“.3 Im akademischen Jahr 1773 / 74 hielt er zum ersten Mal eine zweiteilige Vorlesung zum Thema Theorie und Geschichte der schönen Literatur , im Sommersemester 1777 lautete die Ankündigung Geschichte der schönen Literatur , der Poesie und Beredsamkeit I, bevor sich ab dem Wintersemester 1777 / 78 der Titel Theorie der schönen Wissenschaften und ab 1782 / 83 etwas erweitert Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften etablierte.4 Ich konzentriere mich auf die ersten beiden Druckfassungen von Eschenburgs ästhetischer Theorie aus den Jahren 1783 und 1789 , auf die noch drei weitere überarbeitete und ergänzte Auflagen folgten.5 Beide Auflagen sind in drei Teile gegliedert : in einen allgemeinen Teil , eine Poetik und eine Rhetorik. Die Poetik unterscheidet poetische und dramatische Dichtungsarten im Anschluss an eine allgemeine Abhandlung über die Poesie ; die Rhetorik differenziert fünf prosaisch genannte Schreibarten. Dass Eschenburg die Oper und die Kantate zu den dramatischen Dichtungsarten zählt , rührt zum Teil aus seinen frühen Übersetzungen der Abhandlungen über Poesie und Musik des Iren Daniel Webb und des Engländers John Brown.6 Der jeweils ganz zu Beginn der Schrift

3 Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen 1769 zitiert nach Fritz Meyen : Johann Jo­achim Eschenburg 1743–1820. Professor am Collegium Carolinum zu Braunschweig. Kurzer Abriss seines Lebens und Schaffens , Braunschweig : Waisenhaus , 1957 , 22. 4 Ebd., 56–65. 5 Johann Joachim Eschenburg : Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Zur Grundlage bei Vorlesungen. Berlin / Stettin : Nicolai , 1783. Neue umgearbeitete Aufl. 1789 ; Nachdruck 1790. In den Jahren 1805 und 1817 erschienen unter dem Titel Theorie und Literatur der schönen Redekünste , unter dem Eschenburg ab Wintersemester 1798 / 99 auch seine Vorlesung hielt , weitere überarbeitete Auflagen. Noch 1836 verfasste Moritz Pinder , den Wert der Arbeit einerseits schätzend , andererseits die historische Gebundenheit der sogenannten Kunstregeln betonend , eine aktualisierte Version ( 3. Aufl. 1805 ; Nachdruck 1805 , 1812 ; 4. Aufl. 1817 ; 5. Aufl. 1836. Reprint Hildesheim : Olms 1976 ). Siehe zu den französischen und holländischen Übersetzungen ( 1789 , 1828 und 1833 ) Till Kinzel : „Bibliographie der Schriften Eschenburgs“, in : Berghahn / Kinzel : Johann Joachim Eschenburg , 401–447. Zeitgenössische Reaktionen und Rezensionen verzeichnet Meyen : Eschenburg , 25–29. Zudem ist eine Handschrift der ersten 30 Einleitungsparagraphen erhalten ( HAB Nov. 575 ). Es handelt sich dabei um die Version von 1789 in einer Variante , in der die einzelnen Paragraphen gekürzt und umformuliert sind. Ohne Fußnoten und mit Unterstreichungen wirkt die Fassung , als sei sie zu Zwecken der Memorierung oder für einen mündlichen Vortrag geschrieben worden. Auch die Formulierungen sind dem mündlichen Sprachgebrauch angeglichen. 6 John Brown : Betrachtungen über die Poesie und Musik , Leipzig : Weidmanns Erben und Reich , 1769 ; Daniel Webb : Betrachtungen über die Verwandtschaft der Poesie und Musik nebst einem Auszuge aus eben dieses Verfassers Anmerkungen über die Schönheiten der Poesie , Leipzig : Schwickert , 1771.

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stehende allgemeine Teil unterscheidet sich in beiden Fassungen. Während er 1783 mit Aesthetik überschrieben ist und mit einer allgemeinen Definition des Gegenstandes und Umfangs der Ästhetik ansetzt , heißt er 1789 Einleitung , oder allgemeine Grundsätze der schönen Literatur. Die Abschnitte zur allgemeinen Definition der Ästhetik wie auch zur Geschichte der schönen Wissenschaften und Künste sind hier gestrichen und die Reihenfolge der folgenden 40 Paragraphen ist komplett neu geordnet. Sie befassen sich mit den Eigenschaften und Wirkungen der schönen Wissenschaften und Künste sowie mit ihrer Rezeption. Der Vergleich beider Fassungen verdeutlicht die Gründlichkeit , mit der Eschenburg seine Schrift überarbeitet hat. Dabei hat , so die These dieses Aufsatzes , gerade die Auseinandersetzung mit den schottischen Ästhetikern Henry Home und Hugh Blair eine entscheidende Rolle gespielt. Eschenburg sammelte und ordnete alles , was ihm begegnete und spiegelte damit den ästhetischen Erkenntnisstand seiner Zeit. Es ging ihm darum , das ästhetische Wissen übersichtlich zu bündeln und verlässlich zu formulieren. Daher dient die Forschung um die englischsprachigen Vorbilder des Braunschweiger Theoretikers auch dazu , den sich in Rezeptionsvorgängen ergebenden ideengeschichtlichen Prozess der Vermittlung , Sicherung und Verbreitung von Wissen nachzuzeichnen. Die Entstehungs- und Wandlungsvorgänge ästhetischen Wissens im achtzehnten Jahrhundert , die durch nationale Beschränkungen in der Geschichtsschreibung verzerrt würden, lassen sich anhand der Schriften eines fleißigen Wissenschaftlers wie Eschenburg besser nachzeichnen als ausgehend von berühmten Einzelstudien. Gedanken über die bildende Nachahmung aus dem Empfinden von Ganzheit heraus ,7 über den zwischen dem rein Geistigen und dem rein Sinnlichen ausgleichenden ästhetischen Weg8 oder über das Verhältnis der

7 Eschenburg ( 1789 ): Theorie , 6 , § 6. 8 Obwohl Eschenburg nicht ausdrücklich darauf verweist , hat er diesen Gedanken bei Home gelesen, der einleitend schreibt : „Indem [ … ] die Ergetzungen des Auges und des Ohres über die Ergetzungen der andern äußerlichen Sinnen erhöht werden, so erlangen sie eine Würde , welche sie zu einem löblichen Zeitvertreibe macht. Gleichwohl werden sie noch nicht in gleichen Rang mit denjenigen gesetzt , die der Verstand allein genießet ; indem sie an Würde nicht weniger unter den Ergetzungen des Verstandes , als über den körperlichen oder sinnlichen Ergetzungen sind. Sie gleichen, in der That , den letztern, in so fern sie von äusserlichen Gegenständen erzeugt werden ; aber sie gleichen auch den ersten, da sie ohn eine merkliche Berührung des sinnlichen Werkzeuges hervorgebracht werden. Ihre vermischte Natur , und ihr Mittelrang zwischen den Ergetzungen der Sinnen und des Verstandes , machen sie geschickt , sich mit beyden zu gatten. Die Schönheit erhöht sowohl die sinnlichen, als die bloß geistigen Empfindungen ; und wenn sich die Harmonie bis zur Entzündung der Andacht schwingt , so verachtet sie nicht , den Geschmack eines Banketes zu heben.“ ( Heinrich Home : Grundsätze der Critik , aus dem Englischen übersetzt , Erster Theil , Leipzig : Dyck , 1763 , 2 ; Zweiter Theil , 1763 ; Dritter Theil , 1766 ). Eschenburgs Auktionskatalog verzeichnet diese drei Bände ( Einträge 109–111 im Verzeichnis derjenigen Bücher aus dem Nachlasse weil. Herrn Geheime Justizraths und Professors Johann Joachim Eschenburg , Braunschweig : Waisenhaus Buchdruckerei , 1822 , 32 ). In der Theorie ( 1783 , 32 ) verweist Eschenburg auf eine Leipziger Ausgabe von 1771 in zwei Bänden. Heute stärker verbreitet ist die zweite , von Johann Jakob Engel und Christian Garve ergänzte Auflage ( Leipzig : Trattnern, 1772 ), die sich auf die vierte überarbeitete Auflage von Home bezieht. Eine dritte ,

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Ästhetik zu den Wissenschaften, für die jeweils Karl Philipp Moritz , Friedrich Schiller und Immanuel Kant berühmt geworden sind , finden sich in Eschenburgs Auseinandersetzung mit Henry Home bereits vorgedacht , jedoch so spröde formuliert , dass das ästhetische Wissen vom wissenschaftlichen Anspruch gewissermaßen verdeckt wird. In diesem Dilemma spiegelt sich die Grundfrage nach dem Verständnis der sogenannten ‚Kritik‘ als Wissenschaft , als eigene Schreibart , Kunst oder Philosophie. Obwohl Eschenburg im Jahr 1795 , zwischen der zweiten und der dritten Druckfassung seiner Ästhetik , Popes Essay on Criticism9 übersetzte und obwohl er auch in der Vorrede zu Homes Elements of Criticism las , eine Kritik sei gegenüber einer strengen Untersuchung die gefälligere Art zu schreiben, übernahm er in keine dieser Fassungen den Terminus der Kritik. Vielmehr verfolgte er seinen an Sulzer geschulten, auf die Klärung von Begriffen und die Ordnung von ästhetischem Wissen fokussierten Anspruch. Dem Sprachgebrauch der Frühaufklärung entsprechend nannte er das Begriffspaar der schönen Künste und Wissenschaften häufig in einem Atemzug. Erzählte er zunächst die Geschichte der schönen Literatur, so hatte er ebenso wie die epischen und dramatischen Gattungen die Philosophiegeschichte im Sinn. Verortete er die Literatur später auf der Seite der Theorie ( Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften ), so meinte er noch allgemeiner das gesamte Schrifttum.10 Noch 1789 sieht Eschenburg die schönen Künste und Wissenschaften ineinander verwoben. Unter Rückgriff auf Mendelssohns Unterscheidung nennt er bildliche Zeichen und Gestalten, die eine Ähnlichkeit mit der Form des Dargestellten haben, natürliche Zeichen und symbolische Notationsformen willkürliche Zeichen.11 Während die schönen Künste Bilder und Gestalten als natürliche Zeichen verwendeten, seien Worte und Töne , also willkürliche Zeichen, die Grundlage der schönen Wissenschaften.12 Dass auf diese Weise Bilder von musikalischen und literarischen Kompositionen, nicht jedoch ästhetische von außerästhetischen Texten unterschieden werden, ist bezeichnend für Eschenburgs Ordnung. Ihm kommt es auf den gemeinsamen Zweck aller Künste und Wissenschaften an, nicht etwa das Wissen zu erweitern, sondern sinnliche Vollkommenheit darzustellen, weswegen sie auch schön

stilitisch , sachlich und hinsichtlich der Beispiele veränderte Auflage unternahm Georg Schatz nach der siebten und letzten Auflage von Home ( Leipzig : Dyck , 1790–1791 ); vgl. Robert Zimmermann : Geschichte der Ästhetik als philosophischer Wissenschaft , Bd. 1 , Wien 1858–1865 , 224 . 9 Alexander Pope : „Versuch über die Kritik“ [ „Essay on Criticism“, Auszug ] verdeutscht von J[ ohann ] J[ oachim ] Eschenburg , in : Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks , Jg. 1795 , Bd. 2 , 189–194 ; 270–282 ; 384–390. 10 „Wenn Eschenburg von Literatur spricht , dann meint er Schrifttum insgesamt. Literaturgeschichte , historia literaria , bedeutet dementsprechend die Geschichte des gesamten Schrifttums.“ Mark-Georg Dehrmann : Das Unbehagen des Universalhistorikers an der Historie. Eschenburg und die Geschichte der Poesie , in : Berghahn / Kinzel : Johann Joachim Eschenburg , 75–94 , hier 80. 11 Eschenburg verweist 1783 auf Moses Mendelssohn : Philosophische Schriften, Theil II, Abhandlung II, Berlin : Voß , 1761 , 87 ff., der die Unterscheidung bereits von Jean-Baptiste Dubos und James Harris übernimmt. 12 Eschenburg ( 1783 ): Theorie , 6 , § 5 ; ( 1789 ), 4 , § 3.

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genannt würden.13 Die verschiedenen Wissenschaften sind dem Schönen und insofern Ästhetischen damit untergeordnet. Dass Eschenburg seinen Gegenstandsbereich schöne Wissenschaften später durch schöne Redekünste ersetzt , ist zwar als Reaktion auf Kants Äußerung in der Kritik der Urteilskraft zu verstehen, wo es heißt „Es gibt weder eine Wissenschaft des Schönen, sondern nur Kritik , noch schöne Wissenschaften, sondern nur schöne Kunst.“14 Dennoch arbeitete Eschenburg wie kaum ein anderer daran, die Ästhetik als systematische Wissenschaft zu etablieren. Der zweiten überarbeiteten Fassung seiner Ästhetik stellte er eine achtbändige , internationale und daher komparatistische Beispielsammlung mit Textauszügen an die Seite.15 Jeweils am häufigsten genannt ist Alexander Pope. Doch neben Beattie , Blair , Gibbon, Home und vielen weiteren zitiert Eschenburg auch italienische , französische und spanische Schriftsteller. Auch an seinem vielsprachigen Buchbestand lässt sich ablesen, „dass die Gelehrtenkultur , der Eschenburg angehörte , noch europäisch orientiert und noch nicht national verengt , und das heißt : auch noch nicht auf sekundäre weltliterarische Kompensation angewiesen war“16.

Henry Homes Wahrnehmungsästhetik Eine der Hauptquellen von Eschenburgs Ästhetik ist Henry Homes Schrift Elements of Criticism. Die Kritik des schottischen Philosophen erschien zuerst im Jahr 1762 , drei Jahre nach Alexander Gerards Essay on Taste , fünf Jahre nach Edmund Burkes Enquiry about the Beauty and the Sublime und zwölf Jahre nach Baumgartens Aesthetica. Sie beginnt mit einer anschaulichen Passage über die sinnliche Wahrnehmung , die Eschenburg in der Übersetzung von Johann Nicolaus Meinhard ( 1727–1767 ) las : Unsere Sinnen stimmen darinn überein, daß sie nichts Aeußerliches wahrnehmen, das nicht zuerst das sinnliche Werkzeug berührt ; wie , zum Beyspiel , ein Stein die Hand , der Zucker den Gaumen, eine Rose die Nase. Aber sie unterscheiden sich hier wieder , in so fern wir uns dieser Berührung bewußt , oder nicht bewußt sind. Beym Fühlen, Schmecken, Riechen, sind wir uns

13 Jeweils ebd. 14 Immanuel Kant : Critik der Urteilskraft , Berlin / Libau : Lagarde und Friederich , 1790 , A 175 f., § 44 ; Carsten Zelle : „Eschenburgs Ästhetik – zur Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften“, in : Berghahn / Kinzel : Johann Joachim Eschenburg , 31–52 , hier 39. Schon vorher hatte Eschenburg in einem Paragraphen den Ausdruck „schöne Künste und Wissenschaften“ durch „bildende“ und „redende Künstler“ ersetzt ( Theorie [ 1783 ], 23 , § 38 ; [ 1789 ], 22 f., § 31 ). 15 Vgl. dazu Rainer Baasner : „Zur Formation eines englischen Kanons für die Deutschen im 18. Jahrhundert“, in : Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung , hg. v. Anett Lütteken, Matthias Weishaupt und Carsten Zelle , Göttingen : Wallstein, 2014 , 46–62. 16 Carsten Zelle : „Eschenburgs ‚Beispielsammlung‘ – ein norddeutsch-protestantischer Kanon ?“, in : Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung. Beiträge zur historischen Kanonforschung , hg. v. Anett Lütteken, Matthias Weishaupt und Carsten Zelle , Göttingen : Wallstein, 2009 , 89–111 , hier 110.

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der Berührung des sinnlichen Werkzeugs bewußt , aber nicht beym Sehen und Hören. Ich merke nicht , daß mein Auge berührt wird , wenn ich einen Baum sehe , noch mein Ohr , wenn ich einen Gesang höre. Diese Verschiedenheit in der Art , Dinge wahrzunehmen, unterscheidet das Hören und Sehen auf eine merkliche Weise von den andern Sinnen, und noch weit merklicher die Empfindungen, welche durch diese , und durch jene erregt werden. Eine Empfindung , sie mag angenehm oder schmerzhaft seyn, kann nur der Seele zukommen ; gleichwohl da wir uns beym Schmecken, Fühlen und Riechen einer Berührung des sinnlichen Werkzeuges bewußt sind , setzen wir auch natürlicher Weise die angenehme oder verdrüßliche Empfindung dahin, die durch diese Berührung verursacht wird. Und weil dergleichen Empfindungen ihren Sitz äußerlich , in dem sinnlichen Werkzeuge , zu haben scheinen, so glauben wir aus eben dieser Ursache , daß sie bloß körperlich sind. Ganz anders stellen wir uns die angenehmen und verdrüßlichen Empfindungen vor , die durch das Sehen und Hören erzeugt werden. Da wir hier keine Berührung des sinnlichen Werkzeuges merken, so werden wir nicht verführt , diesen Empfindungen einen unrechten Platz anzuweisen, und setzen sie deswegen natürlicher Weise dahin, wo sie wirklich ihren Sitz haben, in die Seele. In Ansehung dessen stellen wir sie uns feiner und geistiger vor , als diejenigen, die aus dem Geschmacke , dem Gefühl und dem Geruch entspringen.17

Home geht es um Empfindungen, die mehr sind als Sinneseindrücke. Der besondere Wein ist genausowenig eine reine Gaumenfreude wie das Empfinden des Schönen in den Augen selbst entsteht , kann ein Mensch doch gute Augen und trotzdem keine Freude an schöner Inneneinrichtung haben. Vielmehr werden Sinneseindrücke , sobald sie ins Bewusstsein treten, bereits empfunden oder gedeutet und wirken mit anderen Teilen des Körpers und Gehirns zusammen. So sehr Home die sinnliche Wahrnehmung betont , indem er sie am Anfang seiner umfangreichen Theorie diskutiert , so sehr betont er auch deren Verknüpfung mit dem Empfinden, Fühlen und Denken. Auf diese Verbindung kommt es ihm bei seiner Unterscheidung der Sinne an. Es geht ihm darum , die Wirkung aller sinnlichen Wahrnehmungen auf die geistigen, psychischen und emotionalen Vorgänge im Menschen hervorzuheben und das Sinnliche auf diese Weise aufzuwerten. Bevor es um Eschenburgs Auseinandersetzung mit dieser Passage geht , seien hier zwei kurze Exkurse zu Georg Christoph Lichtenberg und zu Friedrich Just Riedel eingefügt , die Home bereits vor Eschenburg rezipierten. Lichtenberg zeigt sich in seinen Sudelbüchern als einer der ersten von Homes Sätzen zu den fünf Sinnen beeindruckt18 und denkt sie bereits Ende des Jahres 1766 ( oder Anfang 1767 ) mit eigenen Worten weiter : Wir empfinden nicht die unmittelbare Berührung äußerer Körper beim Sehen und Hören, sagt Home , wie bei den übrigen Sinnen. ( Wenn wir keine Augen hätten, so würde vielleicht die Empfindung des Gefühls eben so innerhalb uns vorzugehen scheinen ; allein unsere Augen machen, daß wir die Empfindung dahin versetzen, wo wir sehen daß der Grund liegt p.m. )19

17 Home : Grundsätze der Critik , Bd. I , 1 f. 18 Zu den ersten Rezensionen siehe Norbert Bachleitner : „Die Rezeption von Henry Homes Elements of Criticism in Deutschland 1763–1793“, in : Arcadia 20 ( 1985 ), 113–133 , hier 114–118. 19 Georg Christoph Lichtenberg : Schriften und Briefe , hg. v. Wolfgang Promies , München : Hanser , 1968 , I , 26.

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Hier ist der Gedanke so zugespitzt , dass die Empfindungen nicht einmal an die Sinneswahrnehmungen gebunden seien, sondern sich , sobald ein Gefühl im Menschen entstanden sei , schon von dem gelöst hätten, was es ausgelöst habe. Eventuell habe das gleiche Gefühl auch auf andere Weise entstehen können. An die Stelle des Nachdenkens über die Verschiedenheit der Sinne tritt bei Lichtenberg die Infragestellung der Objektgebundenheit und sinnlichen Vermittlung von Empfindungen. Auch Friedrich Just Riedel knüpft an Home an, den er an anderer Stelle einen „Psycholog“ nennt , womit er nicht nur das Wort als einer der ersten verwendet , sondern auch den gemeinsamen Anfang der sich später ausdifferenzierenden Wissensgebiete Psychologie und Ästhetik markiert.20 Die Vorreiterschaft in der Rezeption Homes zeigt Riedels individuelle Denk- und Arbeitsweise. Ein Jahr nach Erscheinen des letzten Bandes der Elements of Criticism hat Riedel diese verinnerlicht und in seiner Theorie der schönen Künste und Wissenschaften ( 1767 ) in beinahe hundert Zitaten und Verweisen aufgegriffen21 und mit zeitgenössischen Theorien von Baumgarten, Bodmer , Johann Jakob Breitinger , Gerard , Lessing , Mendelssohn, Ramler , Johann Adolf Schlegel , Sulzer und weiteren verbunden.22 Die Eingangspassage des Lord Kames exzerpiert er folgendermaßen: Unsere Sinnen stimmen darin überein, daß sie nichts äusserliches wahrnehmen, was nicht zuerst das sinnliche Werkzeug berühret. – Aber sie unterscheiden sich hier wieder , in so fern wir uns dieser Berührung bewust , oder nicht bewust sind. Beym Fühlen, Schmecken, Riechen sind wir uns der Berührung des sinnlichen Werkzeugs bewust , aber nicht beym Sehen und Hören. – In Anlehnung dessen stellen wir uns diese letztern Empfindungen feiner und geistiger vor , als diejenigen, die aus dem Geschmacke , dem Gefühle und dem Geruche entspringen.23

Diese Kurzfassung der oben zitierten Passage , die größtenteils wörtlich übernommen ist , steht bei Riedel in einer Fußnote im Kapitel über die Schönheit , in dem er ausgehend von der Frage , was das Schöne anderes sei als das , was gefalle , auf die Sinnlichkeit schöner Objekte zu sprechen kommt. Das Objekt , was gefallen soll , mus sinnlich seyn ; man mus es von der Seite vorstellen, wo es kan empfunden werden. Unter den äusserlichen Sinnen stehen in Beziehung auf die Schönheit diejenigen oben an, bey welchen wir uns der äusserlichen Berührung nicht bewust sind. [ hier

20 Friedrich Just Riedel : Sämmtliche Schriften, Bd. 3 , Philosophische Schriften. Wien : Kurzbeck , 1787 , 278–298 : Über das Genie und über den Geschmack , hier 283. 21 Dietmar Till : „Friedrich Just Riedels Philosophie des Geschmacks“, in : Kunst und Empfindung. Zur Genealogie einer kunsttheoretischen Fragestellung in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert , hg. v. Elisabeth Décultot und Gerhard Lauer , Heidelberg : Winter , 2012 , 103–114. 22 Seiner Theorie fügt er zehn Briefe an Weiße , Flögel , Mendelssohn, Wieland , Johann Georg Jacobi , Klotz , Kästner , Nicolai , Gleim und Moritz August von Thümmel hinzu. 23 Friedrich Just Riedel : Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, Wien / Jena : Christian Henrich Cuno , 1774 , 20. Eschenburg besaß eine Ausgabe aus Jena von 1776 ( Eintrag 98 im Verzeichnis aus dem Nachlasse , 31 ), die sich von dieser nicht unterscheidet.

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steht der Buchstabe f als Fußnote zum Zitat ] Die innere Empfindung , wodurch wir uns dessen bewust werden, was in unserer Seele vorgehet , ist in die imaginative und intellectuale abzutheilen.24

Wie sich hier ablesen lässt , hat Riedel Homes Ansätze auch in seine eigenen Unterscheidungen integriert. Er hebt die unbewussten Vermittlungsleistungen der Augen und Ohren hervor und beschreibt sie für die Wahrnehmung des Schönen als wesentlich.25 Während es Riedel allgemein um die Erforschung des Schönen geht und Lichtenberg die Entstehung von Empfindungen hinterfragt , ist Eschenburg an Homes Unterscheidung der Sinne interessiert , weil er eine Klassifizierung der Künste im Sinn hat. Eschenburg fasst die bei Home anschaulich entwickelte Unterscheidung kurz und prägnant zusammen : Die äußern Sinne , auf welche die schönen Künste und Wissenschaften zunächst ihre Wirkungen äußern, sind Gesicht und Gehör. Jenes wird durch die bildenden, dieses durch die redenden Künste , und durch Musik , am meisten beschäftigt. Beyde Sinne haben vor den drey übrigen einen merklichen Vorzug der Feinheit und Geistigkeit , indem wir uns dabey ihrer äußern, körperlichen Berührung fast gar nicht bewußt sind.26

Die geraffte Darstellung ist direkt auf die Unterscheidung zwischen bildenden und redenden Künsten bezogen. Während Meinhard den sich empirisch vortastenden Duktus übersetzt , wir stellten uns die durch das Sehen und Hören ausgelösten Empfindungen „feiner und geistiger vor“,27 hält Eschenburg diese von Home erforschte Eigenschaft der beiden Sinne in seinem Lehrbuch als Tatsache fest : „Sie haben einen merklichen Vorzug der Feinheit und Geistigkeit.“ Zudem knüpft Eschenburg an den Gedanken an, die eigentliche Sinneswirkung gehe tiefer , wobei durch die vom Hören und Sehen „abhängigen Empfindungen“ „die Wirksamkeit und Selbstthätigkeit der Seele am meisten rege gemacht“ werde.28 Dabei übernimmt er , ohne Meinhard direkt zu zitieren, dessen Wahl des Wortes ‚Seele‘ und imaginiert diese als wirksam und selbsttätig.

24 Riedel : Theorie , 20. 25 Bachleitner : „Die Rezeption von Homes Elements“, 117. Vgl. für die ältere Forschung zum Thema auch Josef Wohlgemut : Henry Homes Aesthetik und ihr Einfluß auf deutsche Aesthetiker. Rostocker Dissertation, Berlin, 1893 ; Wilhelm Neumann : Die Bedeutung Home’s für die Ästhetik und sein Einfluß auf die deutschen Ästhetiker , Hallische Dissertation, 1894 ; Karl Viёtor : „De Sublimitate“, in : Harvard Studies and Notes in Philology and Literature 19 ( 1937 ), 255–289. 26 Eschenburg : Theorie ( 1789 ), 10 , § 12. Bereits 1783 hatte Eschenburg sich auf Homes Einleitung bezogen, indem er schrieb , die Unterscheidung der Künste von den Wissenschaften liege im Gegenstand , aber auch in ihrer Wirkungsart auf die unterschiedlichen Sinne begründet ( Eschenburg : Theorie [ 1783 ], 6 , § 5 ; [ 1789 ], 4 , § 3 ; vgl. Home : Grundsätze der Critik , I , 7 ). 27 Ebd., 2. 28 Eschenburg : Theorie ( 1789 ), 10 , § 12.

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Home macht das Nachdenken über die Sinne in Verbindung mit dem Geschmack zum Aufhänger seiner umfangreichen Abhandlung.29 Für Eschenburg ist es dagegen nur ein zusätzlicher Einleitungsparagraph an zwölfter Stelle , der nach einer Beschreibung der Darstellungsformen die Fragen nach den Erkenntnisformen des Ästhetischen ergänzt. Ein Vergleich der beiden Fassungen zeigt zudem , dass Eschenburg diesen Aspekt erst 1789 hinzufügt.30 Im Laufe der achtziger Jahre scheint für Eschenburg nicht nur die Relevanz Riedels zugenommen zu haben, auf den er nun an zwölf statt an zwei Stellen des einführenden Teils seiner Ästhetik verweist. Auch anhand einer Relektüre der Elements , zu der ihn Riedels Schrift vermutlich motivierte , hat er die zweite Druckfassung seiner Ästhetik überarbeitet. Eindrucksvoll lässt sich daran ablesen, wie die Anglophilie in Braunschweig und im norddeutschen Raum im Laufe der achtziger Jahre ihren Höhepunkt erreichte , bevor die Französische Revolution und Kants Kritik der Urteilskraft neue Impulse mit sich brachten.31

Seele und mind in Meinhards Übersetzung Eschenburgs Affinität zu Homes ästhetischer Schrift mag damit zusammenhängen, dass deren Übersetzer Johann Nicolaus Meinhard Anfang der sechziger Jahre in freundschaftlichem Kontakt mit den beiden anglophilen Gelehrten Zachariae und Ebert in Braunschweig lebte. Er war dort beliebt , und ihm wurde eine Professur am Collegium Carolinum angeboten, wo wegen der dynastischen Beziehungen Braunschweigs zu Großbritannien zahlreiche Engländer unterrichtet wurden. Die akademische Position konnte er jedoch aus gesundheitlichen Gründen nicht annehmen. Die ersten beiden Bände seiner Übersetzung Grundsätze der Critik von Heinrich Home , in die er auch Passagen aus Zachariaes Milton-Übersetzung übernahm , erschienen 1763 im Anschluss an seine Braunschweiger Zeit.32 Bald nachdem er von einer Englandreise ( 1763–1765 ) kommend noch einmal in Braunschweig geweilt hatte , erschien 1766 der dritte Teil seiner Übersetzung , so dass man sich lebendig vorstellen kann, wie seine deutsche Fassung der Elements of Criticism dort nach seiner Abreise von Ebert , Zachariae und ab Herbst 1767 auch von Eschenburg aufgenommen, gelesen und diskutiert wurde.33

29 Vgl. dazu Timothy M. Costelloe : The British Aesthetic Tradition. From Shaftesbury to Wittgenstein, Cambridge : Cambridge University Press , 2013 , besonders 94–104. 30 In der Fassung von 1783 ist in einer Fußnote die sehr kurze Zusammenfassung „Alle sch. K. und W. wirken nur auf die feinern Sinne des Gesichts und Gehörs.“ enthalten : Eschenburg : Theorie , 6 , § 5. 31 Anfang der neunziger Jahre wurde die dritte , veränderte Auflage von Meinhards Übersetzung bereits wesentlich kritischer aufgenommen ( vgl. Bachleitner : „Die Rezeption von Homes Elements“, hier 128 ff. ). 32 Im Erscheinungsjahr der Elements 1762 wohnte Meinhard für einige Monate bei seinem Freund Gellert in Leipzig ( Helmut Rehder : „Johann Nicolaus Meinhard und seine Übersetzungen“, in : Illinois Studies in Language and Literature , 37 : 2 ( 1953 ), 1–95 , hier 5 , 35 ). 33 Zudem hatte Lessings Vetter Christlob Mylius im Jahr 1751 Homes Essays on Morality and Natural

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Meinhard starb im Sommer des Jahres 1767 , in dem Eschenburg ans Collegium Carolinum berufen wurde.34 Zwar finden sich im mit Poetik überschriebenen Teil in der zweiten Druckfassung vereinzelt Verweise auf die englische Originalfassung der Elements , diese Ausnahmen ändern jedoch nichts daran, dass Eschenburg wie vor ihm Friedrich Just Riedel , Christian Heinrich Schmid35, Herder36, Sulzer37 und Christian Friedrich von Blanckenburg38 mit der Meinhardschen Übersetzung arbeitete , die sein Verständnis von Homes Schrift beeinflusste. Meinhard mechanisiert und abstrahiert die Körperlichkeit der Sinnesorgane , indem er gleich zu Beginn „the organ of sense“ mit „das sinnliche Werkzeug“ übersetzt.39 Für das englische mind dagegen, das doch im Sinne eines Gegenbegriffs zum Körper mit ‚Geist‘ übersetzt werden könnte , wählt er im Deutschen grundsätzlich ‚Seele‘.40 Ob mind bei Home als Ort der Empfindungen ( feelings ) 41, der Vorstellungen

Religion übersetzt ( Rehder : „Meinhard und seine Übersetzungen“, hier 29 ). 34 Ein Nachruf auf den Übersetzer , geschrieben von Riedel , befand sich in Eberts Bibliothek ( Friedrich Just Riedel : Denkmal des Herrn Johann Nicol. Gemeinhard , an den Herrn Geh. Rath Klotz , Jena 1768 , 3–53 , vgl. den 3073. Eintrag im Verzeichnis der Büchersammlung des Herrn Johann Arnold Ebert , Braunschweig 1795 ). 35 Christian Heinrich Schmid : Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen und Nachricht von den besten Dichtern nach den angenommenen Urtheilen, Leipzig : Siegfried Lebrecht Crusius , 1767 , 21. 36 Herder setzt sich im vierten Kritischen Wäldchen sowohl mit Riedel als auch mit Home auseinander. Vgl. dazu Bachleitner : „Die Rezeption von Homes Elements“, 123. 37 Johann Georg Sulzer : Allgemeine Theorie der schönen Künste. Lexikon der Künste und der Ästhetik , Leipzig : Weidmann, 1792 , I, 52. An anderer Stelle nennt Sulzer auch den englischen Titel Elements of Criticism. 38 Blanckenburg verweist besonders im Zusammenhang mit dem Humor auf Home , denn in England sei der Humor schließlich zu Hause ( Christian Friedrich von Blanckenburg : Versuch über den Roman, Leipzig : Wittwe , 1774 , 190 , 193 ). Zwar zitiert er wörtlich , liefert jedoch abgesehen von der Nennung des Autornamens an keiner Stelle eine Quellenangabe. Auf Home bezieht Blanckenburg sich auch im Zusammenhang mit der Erhabenheit ( 148 f., 469 f. ), mit dem Geschmack ( 33 ) sowie mit der Beobachtung , Leser würden sich im Allgemeinen leicht für Helden begeistern und darüber moralische Bedenken an die Seite drängen ( 35 ). Neben Erwähnungen Shakespeares , Addisons und Burkes gibt Blanckenburg auf folgenden Seiten Homes Positionen wieder : 33 , 35 , 39 , 81 , 90 , 148 f., 175 , 190 , 193 , 469 f., 503 f., 509 , so dass er auch wegen der beide verbindenden moralisch-didaktischen Intention als der „deutsche Home“ bezeichnet wurde ( Wieland in einem Brief an Staatsrat Freiherrn von Gebler vom 19. 5.  1774 , in : Auswahl Denkwürdiger Briefe von C. M. Wieland , hg. v. Ludwig Wieland , Wien : Gerold , 1815 , Bd. 2 , 34 ). 39 Henry Home : Elements of Criticism , in three volumes , Edinburgh : Millar / K incaid & Bell , 1762 , Bd. 1 ; Home : Grundsätze der Critik , I , 1. 40 Vgl. Rehder : „Meinhard und seine Übersetzungen“, 33. Rehder beschreibt als weitere grundlegende Übersetzungsentscheidungen die Begriffspaare : „ ‚emotions‘ – ‚Bewegungen‘, ‚operations‘ – ‚Wirkungen‘, ‚morality‘ – ‚Tugend‘. Den Unterschied zwischen Empfindungen und Ideen erklärt Meinhard , nach Baumgarten, in einer Anmerkung zum zweiten Kapitel wie folgt : ‚Empfindungen : Vorstellungen von Dingen, die uns gegenwärtig sind. Ideen : Vorstellungen von abwesenden Dingen und abstrakte Begriffe“ ( ebd. ). 41 Home : Elements of Criticism , I, 1 ; Home : Grundsätze der Critik , I , 1.

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( ideas ) 42 oder der Gedanken ( thoughts ) 43 vorkommt , macht in Meinhards Übersetzung keinen Unterschied.44 Sie unterstreicht Homes Annahme einer Verbindung von Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Empfinden. In den fünfziger und sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts verzeichnet das gängige englisch-deutsche Wörterbuch , das auch Meinhard vermutlich nutzte , als erste Wortbedeutung für mind das „Gemüthe“ und an zweiter Stelle „die Seele“, gefolgt von „Verstand , Gedächtnis , Neigung , Sinn, Meynung , Wille , Entschluß , Vorsatze“.45 So ist es beispielsweise angemessen, „the present tone of mind“46 – Meinhard spricht vom „gegenwärtigen Ton der Seele“47 – mit Gemütszustand zu übersetzen. Generell wird in verschiedenen Redewendungen wie ‚he has his mind‘ ( ‚er hat , was er verlangt‘ ) deutlich , dass mind als der Ort angesehen wird , in dem ein eigener Wille situiert ist. Dieser Wille entsteht – was für die breite Bedeutung von mind bezeichnend ist – nicht allein rational , sondern auch emotional und intuitiv. Erst ab Mitte der neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts kommt im Deutschen die Bedeutung ‚Geist‘ dazu und drängt – gemeinsam mit ‚Verstand‘ – die Übersetzung ‚Seele‘ in den Hintergrund ,48 wobei „Gemüth“ in allen Jahrzehnten die erstgenannte Bedeutung bleibt ( to put in mind – zu Gemüthe führen ). Mind in den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts prinzipiell mit ‚Seele‘ zu übersetzen, ist also keineswegs falsch und spiegelt , dass die Rede vom Geistigen, Rationalen in dieser Zeit noch nicht so präsent ist , wie im idealistischen, nachkantischen Denken. Da die Entwicklungslinien der philosophy of mind in beiden Ländern jedoch verschiedene Wege gehen, steht Meinhards Übersetzungsentscheidung beispielhaft für größere Zusammenhänge im kulturellen und philosophischen Ideentransfer der europäischen Aufklärung. Meinhards Wahl des Wortes Seele bewirkt unvermeidlich eine Verallgemeinerung und zugleich eine Verschiebung der Bedeutungsnuance aus dem geistigen in den empfindsamen und psychischen Bereich. Denn ein gängiges Begriffsverständnis von mind im englischen Sprachraum betrifft als „the Reason, or rational Part of the Soul“ einen Teil des weiter gefassten Konzeptes soul.49 Indem dieser Teil

42 Home : Elements of Criticism , I, 23 ; Home : Grundsätze der Critik , I , 24. 43 Home : Elements of Criticism , I, 26 ; Home : Grundsätze der Critik , I , 27. 44 Die Anregung zur Darstellung dieser Übersetzungsproblematik verdanke ich einem Kommentar von Mark-Georg Dehrmann. 45 Theodor Arnold / Nathan Bailey : A Compleat English Dictionary oder vollständiges Englisch-Deutsches Wörter-Buch , Leipzig : Große , 1752 , 423. 46 Home : Elements of Criticism , I, 25. 47 Home : Grundsätze der Critik , I , 25. 48 Nathan Bailey / Anton Ernst Klausing : Nathan Bailey dictionary English-German and German-English oder englisch-deutsches und deutsch-englisches Wörterbuch. Erster Theil , Leipzig : Friedrich Frommann, 1796 / 1797. 49 Nathan Bailey : An universal etymological English dictionary ; Comprehending The Derivations of the Generality of Words in the English Tongue , London : Osborne , 1761.

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( „particle of the soul“ ) – etwa von Walter Raleigh im siebzehnten Jahrhundert – als unsterblich beschrieben wurde ,50 ähnelte mind dem geistigen Seelenvermögen im Konzept der aristotelischen anima , das im Gegensatz zu den anderen vegetativen und sinnlichen Teilen der Seele bzw. des menschlichen Inneren einzig als unsterblich imaginiert wurde.51 Da die Auffassung des deutschen Wortes Seele im christlichen Verständnis zunehmend auf diesen Teil bzw. auf dieses Verständnis von mind eingegrenzt wurde , scheint die Übersetzung weiterhin treffend zu sein. Nur stammt Henry Home gerade aus einer Tradition, die dabei war , sich vom christlichen Denken und vor allem von der Vorstellung einer Unsterblichkeit zu lösen. Etwa sah sein entfernter Cousin David Hume mind in der Nachfolge John Lockes als ein Bündel von Wahrnehmungen, Eindrücken und Vorstellungen. Der erste Satz seines Treatise of Human Nature lautet : „All the perceptions of the human mind resolve themselves into two distinct kinds , which I shall call IMPRESSIONS and IDEAS“.52 Hier wird mind seit dem neunzehnten Jahrhundert wie selbstverständlich mit ‚Geist‘ übersetzt – nicht jedoch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Humes Schrift , die in Großbritannien bereits ab 1738 anonym veröffentlicht worden war , wurde überhaupt erst 1790 ins Deutsche übersetzt. Das ist schon an sich bezeichnend für den Vorsprung , den die englische philosophy of mind vor der deutschen Rede von Körper , Geist und Seele hatte. Noch dazu ist diese erste Übertragung von Ludwig Heinrich Jakob sehr frei gestaltet , so dass sie mit den Worten beginnt : „Jedermann wird leicht zugeben, dass ein wichtiger Unterschied zwischen den Wahrnehmungen der Seele ist [ … ]“.53 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich , dass auch Meinhard David Humes Philosophie , die bei Henry Home mitschwingt , außen vorlässt , indem er mind – statt im Einzelfall zu entscheiden – grundsätzlich mit ‚Seele‘ übersetzt. Seine Übersetzung signalisiert , dass die britische Diskussion um den moral sense im deutschsprachigen Raum so wenig bekannt und etabliert war , wie die entsprechende schottische Philosophie von Hutcheson, Hume und Home.54 Statt Hinweise auf die britischen Nu-

50 Zitiert nach ebd., Eintrag mind. 51 Aristoteles unterscheidet den Intellectus agens , den wirkenden und leidensunfähigen Intellekt , der unsterblich und göttlich , aber auch niemals wirklich mit der Seele wesenhaft verbunden ist , vom Intellectus possibilis , der mit dem Rest der Seele stirbt ( Aristoteles : De anima 408b18–44 , 430a22–25 ). Eine individuelle Unsterblichkeit findet sich bei Aristoteles also nicht. Erst durch die christliche Interpretation von Aristoteles im dreizehnten Jahrhundert , insbesondere durch Thomas von Aquin, wurde dieses Konzept umgeformt. Der Intellectus agens tritt zwar immer noch von außen zur Seele hinzu , durchtränkt sie aber so , dass die Seele in allen Teilen unsterblich wird. ( Für diese Erklärung danke ich Marc Bergermann. ) 52 David Hume : A Treatise of Human Nature , Oxford : Oxford University Press , 2000 , 7. 53 David Hume : Über die menschliche Natur , aus dem Englischen nebst kritischen Versuchen zur Beurtheilung dieses Werks von Ludwig Heinrich Jakob , Halle : Hemmerde und Schwetschke , 1790 , Bd. 1 , 21. 54 Manfred Kuehn : „The Reception of Hume in Germany“, in : The Reception of David Hume in E ­ urope , hg. v. Peter Jones , London : Thoemmes Continuum , 2005 , 98–138 ; Günter Gawlick : Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte , Stuttgart : Frommann-Holzboog , 1987 ; Jan Eng-

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ancen der Erkenntnisse über das Denken, Verstehen und Empfinden zu erhalten, auf denen Homes Philosophie basiert , mussten sich die Leser von Meinhards Übersetzung an anthropologische Konzepte der seelischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen von Leibniz , Christian Wolff und anderen erinnert fühlen. Meinhard rief mit dem Begriff der Seele eine ganze Reihe an philosophischen Assoziationen auf , die im deutschen Sprachraum im Gespräch waren, sich zur schottischen Moral- und Geschmacksphilosophie jedoch eher gegenläufig verhielten. In manchen Fällen waren sie dem Begriff mind hinsichtlich seiner um das Gemüt und die Empfindung kreisenden Bedeutungsdimension näher als die Übersetzung mit ‚Geist‘, die im Fall von David Humes Treatise seit dem neunzehnten Jahrhundert üblich ist.

Bezüge zu Homes Elements of Criticism Meinhard leistete , so viel bleibt festzuhalten, einen wesentlichen Beitrag zum britischdeutschen Ideentransfer , an dem die deutschen Gelehrten anknüpften. Wie gut Eschenburg Meinhards Übersetzung von Homes etwa 1500 Seiten starker Ästhetik kannte , geht aus der Menge seiner Verweise mit genauen Kapitelangaben hervor. In der Fassung von 1783 wird 20 Mal , in der Fassung von 1789 27 Mal auf bestimmte Kapitel in Meinhards Home verwiesen.55 Wie Riedel , aber im Gegensatz zu Home , erwähnt Eschenburg auch Baumgarten und seinen Schüler Meier , die er als Begründer der Ästhetik vorstellt.56 Mit beiden scheint er sich jedoch bei weitem nicht so ausführlich beschäftigt zu haben wie mit Home , auf den der sensualistische Anteil seiner Einleitung in erster Linie zurückzuführen ist.57 Da der Verweis auf Baumgarten in der überarbeiteten Auflage vom

bers : Der „Moral-Sense“ bei Gellert , Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland , Heidelberg : Winter , 2001. Lewis White Beck führt Verweise Kants auf Humes Enquiry Concerning Human Understanding darauf zurück , dass Kant in den frühen Siebzigern Humes Treatise über eine deutsche Übersetzung von James Beatties Essay on the Nature and Immutability of Truth kennengelernt habe ( „ A Prussian Hume and a Scottish Kant“, in : Essays on Kant & Hume , hg. v. Lewis White Beck , New Haven / London : Yale University Press , 1978 , 111 ). 55 In der Fassung von 1783 nennt Eschenburg an entsprechenden Stellen die Einleitung sowie ­Homes / Meinhards Kapitel 1–4 , 6–8 , 12 , 13 , 18–20 und 22. Trotz vollkommen geänderter Reihenfolge tauchen mit Ausnahme des 19. Kapitels alle Verweise auch 1789 wieder auf. Im 22. Kapitel der Poetik kommen 1789 mehrere Verweise auf Homes Behandlung des Epischen und Dramatischen hinzu. 56 Eschenburg ( 1783 ): Theorie , 3 , § 1 ; ( 1789 ), 6 f., § 7. 57 Auch ohne auf die englischen Quellen einzugehen, beschreibt Manfred Pirscher , wie Eschenburg sich durch die Betonung des Gefühls von Baumgartens Vorstellung rein sinnlicher Erkenntnis und Vollkommenheit löst ( Eschenburg , 83–85 ). Morgan H. Pritchett geht bisher als einziger auf Eschenburgs Auseinandersetzung mit Home , besonders mit dessen erstem Kapitel zur Ideenassoziation, ein ( Johann Joachim Eschenburg’s Aesthetics and Poetics. Sources and Developments , Dissertationsschrift Johns Hopkins University , 1964 [ unveröffentlicht ], 72 f. ).

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ersten in den siebten Paragraphen und damit etwas in den Hintergrund rückt , lässt sich beobachten, wie Baumgarten zugunsten des Schotten Home an Popularität einbüßte. Auf Home bezieht Eschenburg sich auch in Auseinandersetzung mit dem Neuen und Unerwarteten58 sowie mit dem assoziativen Denken bzw. dem Einfluss einer seelischen Ideenverknüpfung auf unsere Vorstellungskraft.59 Indem er Homes verschlungene Beschreibung des Vorgangs assoziativer Ideenentwicklung stark gerafft wiedergibt , macht er dessen Gedanken zugänglicher. Er übernimmt auch die Annahme vom angeborenen Sinn für Ordnung60 sowie den Gedanken, der Gemütszustand beeinflusse die Art der Ideen und Vorstellungen, dem Menschen kämen also bei guter Stimmung andere Ideen in den Kopf als im traurigen Zustand.61 Während Home seinem Ganzheitsideal entsprechend schlecht nachvollziehbare Übergänge in literarischen Werken kritisiert ,62 betont Eschenburg das Potential assoziativer Vorgänge für die künstlerische Arbeit und verlagert den Fokus hier auf die Produktionsperspektive.63 Aus dem Königsberger Raum , wo Kant als Privatdozent wirkte und wo sich in diesen Jahren auch Herder als Student aufhielt , kam gleich nach Erscheinen des zweiten Bandes von Homes Elements die Kritik , die vielfältigen Einteilungen seien einander wenig untergeordnet , was „die systematischen Köpfe der Deutschen“ vielleicht verbessern könnten.64 So stereotyp diese Gegenüberstellung der erzählenden englischen und der gliedernden deutschen Schriften klingt , so bezeichnend ist sie doch für Home und Eschenburg. Home entfaltet seine empirischen, psychologischen und phänomenologischen Beoachtungen in Kapiteln von mehreren hundert Seiten, wohingegen Eschenburg an einzelnen Worten feilt und Paragraphen von wenigen Sätzen mehrfach umformuliert. Seine enzyklopädische Intention unterscheidet sich vom britischen Nachdenken über die empfindsam denkende Natur des Menschen. Dennoch übernimmt er mit sei-

58 Home : Grundsätze der Critik , I, Kap. 6 : Vom Neuen und Unerwarteten, 392–410. Eschenburg ( 1789 ): Theorie , 21 f., § 29 ; ( 1783 ), 22 , § 36. 59 Vgl. Eschenburg ( 1789 ): Theorie , 11 , § 14 mit Verweis auf Home : Grundsätze der Critik , I, Kap. 1 : Von Ideen und Empfindungen, wie sie aufeinander folgen. In Eschenburgs erster Fassung ( 1783 ) findet sich hier noch kein Verweis , was die Beobachtung unterstreicht , dass er seine Schrift mit Home überarbeitet hat. 60 Die Seele sei „von der Natur dazu eingerichtet , an Ordnung und Verbindung Geschmack zu finden“ ( Home : Grundsätze der Critik , I, 34 ). „[ I ]ndem sie [ die Ordnung ] uns von dem Ganzen zu den Theilen, und von der Hauptsache zu den Verzierungen führt , macht sie uns den Weg leichter und angenehmer , als uns der entgegen gesetzte seyn kann.“ ( Ebd. 34 f. ) Vgl. zur Einordnung Homes in die Gruppe der „Association Theorists“ Costelloe : The British Aesthetic Tradition 94–104. 61 „Unser Wille ist nicht die einzige Ursache , die eine Reihe von Gedanken verhindert , durch die genausten Verbindungen fortzugehn. Viel kömmt auf den gegenwärtigen Ton der Seele dabey an ; denn ein Gegenstand ist allemal willkommen, der mit diesem Tone zusammenstimmt“ ( Home : Grundsätze der Critik , I, 24 ). 62 Home : Grundsätze der Critik , I, Kap. 1 , 21–44. 63 Eschenburg ( 1789 ): Theorie , 11 , § 14. 64 Rezension in : Königsbergsche Gelehrte und Politische Zeitungen, 5. März 1764 , 10. Stück , 38 f.

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nen Bezügen auf Homes Elements eine Reihe von Überlegungen zu den Vorgängen des Denkens und Empfindens und teilt mit Home auch den Blick auf die moralischen und sozialen Wirkungen der Künste. Liest man Homes Ausführungen in Meinhards Übersetzung zuerst und anschließend Eschenburgs kurze Zusammenfassungen, so überzeugt deren Prägnanz. Liest man die dichten, lexikonartigen Darstellungen von Eschenburg jedoch für sich , so sind sie nicht leicht zugänglich. Während Home mit anschaulichen Beispielen erklärt , dass ein Hund neben einem Haus keine besondere Wirkung habe , ein Schoßhund neben einem großen Kettenhund jedoch sehr klein und schutzbedürftig wirke und Ähnlichkeiten daher die Voraussetzung für Vergleiche seien,65 sind Eschenburgs Abschnitte über die Stilmittel Vergleich und Kontrast reichlich abstrakt.66 Die mangelnde Anschaulichkeit erklärt , warum sein Lehrbuch heute kaum noch erwähnt wird. Dabei offenbaren sich gerade wegen der Nähe zu seinen englischsprachigen Quellen originelle und eigenwillige Anteile seines ästhetischen Denkens. Sein Festhalten am Ineinander von wissenschaftlicher Methode und künstlerischer Schreibart , von Wissensgenerierung und stilvoller Lebensart , von Genie , Geschmack und Fleiß begründet eine eigene Form von autonomer Ästhetik , die zwar ab den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts unpopulärer wird , zunächst jedoch großen Anklang findet und sich im europäischen Raum bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein hält. Eschenburgs Unterscheidung von Witz und Scharfsinn67 ist durch die Worte „Fertigkeit“ und „Seelenfähigkeit“ auch sprachlich sehr von Meinhards Home-Übersetzung geprägt.68 Während Home zwischen dem Witz in Gedanken, also in der Vorstellung und Betrachtung von Bildern sowie von ungewöhnlichen Kombinationen vom Witz in Wortspielen oder im Sprachklang differenziert ,69 hebt Eschenburg die Unterscheidung auf , indem er schlicht resümiert , man fände den Witz sowohl als Eigenschaft des Künstlers selbst sowie seiner Werke.70 In der Ausgabe von 1783 existiert dieser Abschnitt

65 Home : Grundsätze der Critik , I , Kap. 8 : Von der Ähnlichkeit und dem Kontrast , 426 , 440. 66 Vgl. Eschenburg ( 1789 ): Theorie , 23 , § 32. 67 Der Witz bemerke Ähnlichkeiten in den Eigenschaften der Gegenstände und der Scharfsinn erkenne dagegen Verschiedenheiten, wobei der Witz besonders durch verschiedene Gegenstände , der Scharfsinn besonders durch zusammenstimmende Gegenstände herausgefordert würde ( Eschenburg [ 1789 ]: Theorie , 14 f., § 19 ). Eschenburg verweist nicht ausdrücklich auf diese Unterscheidung im achten Kapitel „Von der Ähnlichkeit und dem Kontrast“ in Home : Grundsätze der Critik , I, 421. Die Rede von der „Scharfsinnigkeit“ und die Vorstellung der Vereinigung entgegengesetzter Dinge in Gedanken kommen bei Home vor , werden von Eschenburg jedoch pointiert ( Home : Grundsätze der Critik , II , Kap. 13 : „Vom Witz“, 62–90 , besonders 67 , 81 ). 68 Von Fertigkeit ist bei Home in der Überschrift des Folgekapitels Nr. 14 , Von Gewohnheit und Fertigkeit die Rede ( Home : Grundsätze der Critik , II , 91 ). 69 Ebd., Kap. 13 : „Vom Witz“, 62–90. 70 „Übrigens pflegt man die bisher bemerkten Seelenfähigkeiten bald , im subjektiven Sinne , dem Künstler selbst ; bald , als Eigenschaften, im objektiven Sinne , seinen Kunstwerken beizulegen“ ( Eschenburg [ 1789 ]: Theorie , 15 , § 19 ). Vgl. auch Eschenburg ( 1783 ): Theorie , 28 , § 49 ; ( 1789 ), 29 , § 42.

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noch nicht ,71 was einmal mehr darauf hinweist , dass Eschenburg den ersten Teil seiner Untersuchung unter Verwendung von Home überarbeitet hat. Er hat die Paragraphen um Einschübe und Erklärungen erweitert und zahlreiche Literaturangaben ergänzt. Beispielsweise kommen im Abschnitt über das Unregelmäßige , Widersinnige , Unschickliche , Lächerliche und Launische Verweise auf fünf weitere Schriften hinzu.72 Ein Satz zu den Stimmungen des Künstlers ist gestrichen, stattdessen wird das Launische durch Gegensätze im Kunstwerk erklärt , worin sich eine Entwicklung fort von produktionsund hin zu formalästhetischen Überlegungen äußert. Während Eschenburgs bibliographische Anmerkungen meistens Quellen seiner Darstellung nennen und Traditionen andeuten, verweisen sie gelegentlich auch auf weiterführende Literatur , wenn etwa auf Eschenburgs kurzen Paragraphen zu den „Begehrungskräften“ ein Verweis auf Homes zweites , sich in sieben Teilen über 241 Seiten erstreckendes Kapitel „Von Bewegungen und Leidenschaften“ folgt.73 Verglichen mit den wesentlich ungenaueren Literaturangaben bei Lichtenberg , Blanckenburg , Riedel und Sulzer spiegelt sich hierin Eschenburgs Verständnis wissenschaftlicher Praxis.

Von der schottischen Aufklärung zur Autonomieästhetik Zieht man Verbindungslinien von Eschenburgs Zeitschrift Brittisches Museum für die Deutschen und den dort behandelten Schriften zu den ersten beiden Druckfassungen seiner Ästhetik , so fällt ein Schwerpunkt bei der Rezeption der Autoren der schottischen Aufklärung auf.74 In seiner Zeitschrift übersetzt Eschenburg gleich im ersten Band David Humes Lebensbeschreibung , Auszüge aus einem Brief Adam Smiths sowie ein Schreiben aus der Diskussion um Humes Religionskritik. Außerdem verweist er auf eine vorliegende Übersetzung von Smiths Wohlstand der Nationen und deren Rezension.75 Möglicherweise verleitet Eschenburg die Begeisterung über Homes Vorlesungen zur Ästhetik dazu , auch dessen Schrift zur Agrarkultur ausführlich wiederzugeben.76 Mit seinen Referenzen auf die schottischen Aufklärer befindet sich Eschenburg am Puls der Zeit. Am 25. August 1776 war David Hume gestorben, am 11. März 1777 veröf-

71 Eschenburg : Theorie ( 1783 ), 23 , § 38 ; ( 1789 ), 22 , § 31. 72 Eschenburg : Theorie ( 1789 ), 22 , § 30. 73 1783 nennt Eschenburg Homes zweites Kapitel im Anschluss an den Paragraphen über die Begehrungskräfte ( Theorie , 20 , § 31 ). Im beinahe wörtlich übernommenen Paragraphen 20 ( 1789 , 15 ) ist dieser Verweis auf Home durch den Hinweis auf Feders Untersuchungen über den menschlichen Willen ersetzt. Der Verweis auf Homes zweites Kapitel findet sich hier im neu dazu gekommenen Folgeparagraphen 21 über die Charakterkenntnis ( 1789 , 15 f. ) und ergänzt durch einen Verweis auf Sulzer. 74 Für eine Auflistung der Rezensionen zu Eschenburgs Journal siehe Meyen : Eschenburg , 35. 75 Eschenburg : Brittisches Museum , I, 126. 76 Ebd., 83–107 ( Humes Lebensbeschreibung und die Dokumentation einer sich anschließenden Diskussion ), 126 ( Brief Thomas Pownalls an Adam Smith ); Bd. 3 , 72–78 ( Lord Kaims’s Gentleman Farmer ).

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fentlichte Adam Smith dessen Autobiographie in der Zeitschrift Monthly Review ,77 die Eschenburg regelmäßig las , und im gleichen Jahr erschien Eschenburgs Übersetzung des Textes im ersten Teil des ersten Bandes seines Brittischen Museums. Ebenso zeitnah reagierte Eschenburg bei der Veröffentlichung der Dialoge über natürliche Religion, die Humes Neffe im Frühjahr 1779 publiziert hatte und die Eschenburg in Auszügen übersetzte und in Verbindung mit einer ausführlichen Inhaltsangabe im letzten Band seines Brittischen Museums druckte ,78 bevor erst ein Jahr später eine vollständige deutsche Übersetzung erschien. In den einleitenden Worten zu Humes Dialogen über den Gottesbegriff gibt er sich als ein Kenner auch der vorangegangenen religionskritischen Schriften Humes zu erkennen, von denen sich die vorliegende nur wenig unterscheide.79 Seine Rezension beendet er mit der Einschätzung , den vernünftigen Denkern würde die Lektüre sicherlich nicht schaden, während sie „den Mann ohne Grundsätze“ leicht in seinen Vorurteilen gegen Tugend und Religion bestärken könnten.80 Dem kritischen und vorsichtigen Tenor folgend , den man Hume gegenüber in Deutschland auch Ende der siebziger Jahre noch anschlug ,81 trug Eschenburg dennoch entscheidend zur Bekanntmachung von dessen Schriften bei.

77 David Hume : „The Life of David Hume“, Monthly Review , 56 ( Januar bis Juni 1777 ), 206–212. In einer Handschrift mit der Überschrift Erster Abschnitt. Von dem Ursprunge und Anfange der Gelehrsamkeit überhaupt nennt Eschenburg 31 Zeitschriften, von denen die ersten 17 französische Titel haben. Darunter sind die Bibliothèque Britannique ( 1733 ) und das Journal Britannique ( 1751–57 ) sowie The Monthly Review ( von 1749 ) und The Critical Review ( 1731 ). Einleitend schreibt Eschenburg : „Zur Kenntnis des neueren Zustands der Gelehrsamkeit sind die gelehrten Monatsschriften und Tagebücher Journale uns das brauchbarste Hülfsmittel.“ ( HAB, Nov. 575 ; Streichung im Original ) 78 Eschenburg : Brittisches Museum , VI, 41–72. 79 Im Auktionskatalog von Eschenburg sind von David Hume folgende Schriften gelistet : Discours politiques ( Amsterdam 1754 ), Essays and Treatises on Several Subjects ( London 1758 ), Dialogues sur la Religion Naturelle ( Edinburgh 1779 ) ( Verzeichnis aus dem Nachlasse , 243 , 248 ). Außerdem besaß er das Gesamtwerk von John Locke , von Francis Hutcheson die Texte Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue ( London 1726 ), Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections ( London 1726 ), Alexander Gerards Gedanken von der Ordnung der philosophischen Wissenschaften ( Riga 1770 ), Adam Smiths Theorie der moralischen Empfindungen, übers. v. E. G. Rautenberg ( Braunschweig 1770 ), dessen Versuch über die Ursachen der ungleichen Farben und Gestalt des Menschengeschlechts ( Braunschweig 1790 ), die Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations ( Basil 1791 ) und die Theory of Moral Sentiments ( Basil 1793 ) sowie von Henry Home den Versuch über die ersten Gründe der Sittlichkeit u. Der natürl. Religion ; übers. v. E. G. Rautenberg ( Braunschweig 1786 ), den Versuch über die Geschichte des Menschen ( Leipzig 1775 ) und die Untersuchungen über die moralischen Gesetze der Gesellschaft , a. d. Englischen ( Leipzig 1778 ) ( Verzeichnis aus dem Nachlasse , 241 , 250 , 252 , 255 , 259 , 264 , 269 , 274 ). 80 Ebd., 72. 81 Zur Darstellung der Auseinandersetzungen mit Hume in Deutschland seit den fünfziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts bei Mendelssohn, Sulzer und anderen siehe Kuehn : „The Reception of Hume in Germany“, hier 100–114.

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Zum Kreis der untereinander befreundeten und einander wohlwollend kritisierenden schottischen Skeptiker gehörte neben Hume und Home ( Hume hatte den Familiennamen Home als erster geändert ) auch Hugh Blair. Eschenburg hatte im zweiten Band seines Brittischen Museums dessen Predigten rezensiert82 und nannte ihn in der ersten Druckfassung seiner Ästhetik einen hervorragenden Kanzelredner.83 Nun traf es sich so , dass Blairs Lectures on Rhetoric and Belles Lettres , die in Europa schnell berühmt wurden , im gleichen Jahr 1783 erschienen wie Eschenburgs Ästhetik. Das Kennenlernen von Blairs Vorlesungen motivierte Eschenburg zur Überarbeitung seines Entwurfs , wie sich an zahlreichen Verweisen auf Blairs Lectures in der zweiten Druckfassung feststellen lässt.84 Vor allem Darüber hinaus öffnet die Gleichzeitigkeit des Erscheinens beider Schriften den Blick auf eine eindrucksvolle Parallele. Denn beide Theoretiker , Eschenburg und Blair , unterscheiden in rhetorischer Tradition verschiedene Schreibarten. Dabei ist Eschenburgs Unterteilung wesentlich differenzierter und mindestens so originell , nur auch hierin schwieriger zugänglich. Er unterscheidet nicht nur wie Blair zwischen der figürlichen , der historischen , der philosophischen und der brieflichen Schreibart ,85 sondern stattdessen zwischen dialogischen , dogmatischen , rednerischen und historischen Schreibarten und einer Schreibart der Briefe , wobei er die historische Schreibart zudem in Biographie , Romane und die eigentliche Historie unterteilt , die eigene enzyklopädisch-begriffsbestimmende Schreibweise allerdings übergeht. In den Folgejahren übersetzte Eschenburg an anderer Stelle Auszüge aus Blairs Theorie.86 Die Tatsache , dass ihm Blair in diesen Jahren nur auf Englisch zugänglich war , scheint ihn auf den Geschmack der Originallektüre gebracht zu haben, denn gerade in der Nähe zu Blairs Lectures finden sich in der „Poetik“ und der „Rhetorik“ seiner Theorie von 1789 auch vier Verweise auf Kapitel in der Originalausgabe von Homes Elements.87 Darunter fällt eine Stelle besonders auf , in der er bezogen auf die Entstehung

82 144 f. 83 Eschenburg : Theorie ( 1983 ), 295 , § 28. 84 Der Vergleich der ersten beiden Druckfassungen ermöglicht es damit , die in der Forschung bisher vertretene Auffassung zu revidieren , erst Moritz Pinder habe in seiner Neubearbeitung von Eschenburgs Schrift Verweise auf Blair ergänzt ( vgl. Sandra Richter : A History of Poetics , Berlin : De Gruyter , 2010 , 55 ). 85 Hugh Blair : Lectures on Rhetoric and Belles Lettres , Vol. III, Basil : Tourneisen, 1788 , 47–96. 86 „Hugo Blair über die Kanzelberedsamkeit“. Erste Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen ( 1784 ), 149–186 sowie Journal für Prediger ( 1785 ), 1–28 ( Wiederabdruck ). Vgl. Pritchett : Eschenburg’s Aesthetics and Poetics , 22. 87 In der Rhetorik findet sich in einer Auflistung der wichtigsten ästhetischen Schriften jeweils der Verweis auf die englische Ausgabe ( Henry Home / Lord Kaimes : Elements of Criticism , London 1770. 2 Bde. ), während im ersten Teil jeweils die deutsche Ausgabe genannt wird. Dass der Auktionskatalog von Blairs Vorlesungen über Rhetorik und schöne Wissenschaften, Theil 1–4 wiederum eine Leipziger Ausgabe von 1785–89 nennt ( Verzeichnis aus dem Nachlasse , 31 ), spricht für einen späteren Erwerb und demonstriert , dass dort längst nicht alle Bücher , die Eschenburg las , gelistet sind.

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der Dramenformen aus dem Gesang des Chors sowohl bei Home als auch bei Blair die genaue Seitenzahl in der jeweiligen englischen Ausgabe angibt. Die Verweise auf Home und Blair regen wie auch Eschenburgs Begeisterung über Humes scharfsinnige Seitenbemerkungen zum Zustand der Wissenschaften und Künste in der Geschichte Englands88 dazu an, der Rolle der schottischen Skeptiker im Prozess der sich allmählich herausbildenden autonomen Ästhetik nachzugehen. Generell verbindet der schottische Sensualismus das Nachdenken über äußere Sinneseindrücke und psychische sowie geistige Vermögen mit der Feststellung eines moralischen Empfindens. Skeptisch ist er weniger den sinnlichen Wahrnehmungen und subjektiv empfundenen Urteilen, als den rational erstellten Gedankengebäuden gegenüber.89 Entwickeln Hume , Smith , Hutcheson und Blair ihre ästhetischen Schriften jeweils auf der Basis einer primär verfolgten Religions-, Rechts-, Wirtschafts- oder Moralphilosophie , so sammelt Eschenburg emsig das ästhetische Wissen seiner Zeit. Er integriert einerseits skeptische und sinnesphysiologische Impulse der schottischen Empiriker , andererseits steuert er bereits auf einen romantischen Begriff von Kunst zu , wobei er seine bevorzugten Künste Literatur und Musik hier noch genauso wenig von den Wissenschaften trennt wie empirische von traditionell rhetorischen und gattungstheoretischen Ansätzen. Seine Unterscheidung epischer und dramatischer Dichtungsarten sowie verschiedener Schreibarten einleitend , nennt Eschenburg den ersten Teil 1789 Allgemeine Grundsätze der schönen Literatur , die er hier mit den anderen Künsten so eng zusammen denkt , dass es zunächst um die fünf Sinne geht , die durch literarische Texte gar nicht primär angesprochen werden. Dass ‚schön‘ zudem durch ‚reizend‘ ersetzt wird , signalisiert die Entstehung eines Bewusstseins für die Abhängigkeit des Ästhetischen von empirischen Reizen.90 So wie sich der Einfluss der schottischen Ästhetiker auf die Entwicklung der Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung auswirkt , hat auch der Skeptizismus der schottischen Aufklärung Auswirkungen auf die Herausbildung der Autonomieästhetik im deutschsprachigen Raum. Gerade die Religionskritik , die im schottischen Kreis von den beiden Hu( o )mes geübt worden ist , spielte eine entscheidende Rolle im Zuge der Loslösung der Kunst von der Religion sowie der Ästhetik von der Theologie. Während sich die ästhetischen Formen von institutionellen Vermittlungsfunktionen lösen, verbindet sich das ästhetische Denken stattdessen mit der Physiologie und der Psychologie. Parallel übernehmen die autonom gewordenen Künste Funktionen der Religion im kontemplativen, andächtigen, emotionalen und sozialen Bereich , die in der auf Vernunft und Beweise konzentrierten Theologie der Aufklärung in den Hintergrund treten.

88 Eschenburg : Theorie , ( 1789 ), 39 , § 56 ( 1783 noch nicht enthalten ). 89 Sandra Richter : „Unsichere Schönheit ? Die Geburt der Ästhetik aus der Kritik des Skeptizismus“, in : Unsicheres Wissen. Skeptizimus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850 , hg. v. Carlos Spoerhase , Dirk Werle und Markus Wild , Berlin / New York : De Gruyter , 2009 , 159–178. 90 Eschenburg : Theorie ( 1783 ), 23 , § 38 ; ( 1789 ), 22 , § 31.

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Manches spricht dafür , Eschenburgs Lehrbuch anschließend an Sulzer und gemeinsam mit Riedel , Mendelssohn, Johann August Eberhard und anderen Ästhetikern der Aufklärung in eine Linie der ästhetischen Theoriebildung einzuordnen, die – beeinflusst von sensualistischen Fragestellungen, aber in strenger und kompakter Form – über Begriffe nachdenkt und diese ordnet , statt große Systeme und Gedankengänge zu entwerfen. Statt Vorstellungen vom Schönen, Ganzen, Erhabenen oder Universalen mit den Mitteln sprachlicher Überzeugungskraft als besonders relevant herauszustellen, bringt Eschenburg die Vielfalt ästhetischer Aspekte zur Geltung. Seine Darstellung geht von der Neuheit über das Lächerliche zur Ordnung , von der Grazie , über Wahrheit , Klarheit und Deutlichkeit zur Natürlichkeit oder von der Empfindung über Begeisterung und Geschmack zum Genie und zu den Begehrungskräften des Menschen.91 Idealistischen Ansätzen von Moritz , Kant oder Schiller gegenüber wirkt seine Schrift zwar karg , doch bei genauer Beschäftigung mit seinen Formulierungen enthalten diese bereits wesentliche autonomieästhetische Postulate , die auch seinen britischen Vorbildern keineswegs entgegenstehen. Vielmehr stehen die Prämissen von Originalität , Genialität und Natürlichkeit , die den autonomieästhetischen Entwürfen zugrunde liegen, seit Shaftesbury , der Kunstwerke als „complete in itself“92 beschrieb , in enger Verbindung mit dem britischen Raum. Shaftesburys Wendung kann als früher Vorläufer des Moritzschen Ausdrucks von der Zurückwälzung des Zweckes „in das in sich selbst vollendete Werk“ gelten.93 Auch wenn Eschenburg die „Schönheit“ als gemeinsamen „Zweck“ aller Künste beschreibt ,94 klingt es , als habe er sich mit Moritz ausgetauscht , der seit seiner Hutmacherlehre von Berlin aus gelegentlich in Braunschweig war und so auch den Kontakt zu Eschenburg pflegte.95 Die Parallele zur Zweckfreiheit in der bildenden Nachahmung des Schönen wird noch deutlicher , wenn Eschenburg die „schöne , einnehmende Nachbildung“ als das Ideal des ästhetischen Schaffens beschreibt.96 Obwohl er auf Moritz’ Schriften aus den achtziger Jahren nicht verweist , fügt er beide Formulierungen bezeichnenderweise erst 1789 ein, während er die Schönheit 1783 noch mit frühromantisch anmutender Wortwahl als die „sinnlich erkannte Einheit

91 Diese Stichworte sind Teil des Inhaltsverzeichnisses in Eschenburg ( 1783 ): Theorie , ohne Seitenzahl. 92 Anthony Ashely Cooper , Third Earl of Shaftesbury : „The Philosophical Regimen“, in : The Life , Unpublished Letters , and Philosophical Regimen of Anthony , Earl of Shaftesbury , hg. v. Benjamin Rand , London / New York : Routledge , 1900 , 173. 93 Vgl. Michael Einfalt : „Autonomie“, in : Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden, Bd. 1 , hg. v. Karlheinz Barck , Stuttgart : Metzler , 1990 , 431–479 ; Sebastian W. D. Krauss : Die Genese der autonomen Kunst : Eine historische Soziologie der Ausdifferenzierung des Kunstsystems , Bielefeld : transcript , 2012. 94 Eschenburg ( 1789 ): Theorie , 4 , § 6. 95 Johann Anton Leisewitz : Tagebücher. Nach den Handschriften herausgegeben von Heinrich Mack und Johannes Lochner , Bd. I, Hildesheim : Olms , 1976 , 132. 96 Eschenburg ( 1789 ): Theorie , 6 , § 6.

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des Mannichfaltigen“ bezeichnet.97 Ideale der Schönheit , Wahrheit und Größe sind in Eschenburgs Auflistungen mit dem Nachdenken über die Physiologie der Sinne und die Vermögen der Seele verbunden. Seine gründliche , an sich wenig originelle , aber europäisch weitgreifende Darstellung führt zu der Tradierung gesicherten ästhetischen Wissens , das verlässlich zwischen den Beobachtungen der schottischen Sensualisten und den Konzepten der deutschen Idealisten positioniert , ohne beiden an faktischem Gehalt in etwas nachzustehen. Auf seine Weise arbeitet er an der Herausbildung einer Ästhetik , die weniger das autonome Subjekt als die wissenschaftlichen Ideale der Nachvollziehbarkeit , Komplexität , Übersichtlichkeit und Angemessenheit in den Blick nimmt. Sein Kompendium zur Vermittlung verschiedener ästhetikgeschichtlicher Ansätze an den Universitäten und Schulen dient auch zur Stärkung der Relevanz und Eigenständigkeit der Ästhetik als Forschungsgebiet und Unterrichtsfach. Mit diesem pädagogischen und zugleich wissenschaftlichen Anspruch gelingt ihm die Verbindung von räumlich , historisch und gedanklich weit voneinander entfernten Ansätzen, wobei er eine Brücke von den schottischen Sensualisten zur deutschsprachigen Ästhetik im achtzehnten Jahrhundert baut.

Nachsatz zur Relevanz der schottischen Geschmackstheorien Während Eschenburgs Orientierung an Gefühl , Geschmack und Empfindung bisher auf das vom Theologen Jerusalem begründete Programm des Collegium Carolinums als „Akademie du bon sens“98 zurückgeführt wurde ,99 an dem Eschenburg lehrte , lässt sich ausgehend von Eschenburgs Bezügen auf den schottischen Sensualismus und besonders auf Henry Home der Einfluss einer englischsprachigen Wahrnehmungsästhetik nachweisen, die sich von theologischen und metaphysischen Zusammenhängen löst. Gerade zum Geschmack nennt Eschenburg neben Johann Adolf Schlegel zunächst nur Alexander Gerards Essay on Taste , ergänzt aber 1789 , sich der Relevanz der britischen Vorreiter bewusst geworden, auch „Hume’s Abhandlungen : on the Standard of Taste , und on the delicacy of Taste , in seinen Essays“100 sowie einen Verweis auf den zweiten Band von Blairs Vorlesungen. Er dokumentiert damit das neu entstandene Bewusstsein für die Relevanz der schottischen Geschmackstheorien und trägt durch die weite Verbreitung seines Lehrbuchs101 zur Bekanntmachung der genannten ästhetischen Positionen bei.

97 Eschenburg ( 1783 ): Theorie , 22 , § 35. 98 Johann Joachim Eschenburg : Entwurf einer Geschichte des Collegii Carolini in Braunschweig , Berlin / Stettin : Friedrich Nicolai , 1812 , 10. 99 Vgl. Zelle : „Eschenburgs Ästhetik“, 34. 100 Eschenburg : Theorie ( 1783 ), 18 , § 28 ; ( 1789 ), 17 f., § 24. 101 Vgl. zur Verwendung von Eschenburgs Lehrbuch an der Prager Universität zwischen 1763 und 1820 den Beitrag von Tomáš Hlobil in diesem Band.

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Als Eschenburg zu Vorlesungszwecken im Sommersemester 1798 schließlich selbst eine Kritik des Geschmacks schreibt , da hat ihn Kants Kritik der Urteilskraft erreicht. Das signalisiert er durch zahlreiche Verweise auf den Königsberger Philosophen,102 denen die schottischen Geschmackstheorien weichen. Diese Wende – wenn nicht in Eschenburgs Denken, so doch in seiner Darstellung der Lehrmeinung – bestätigt sich durch einen Blick in die dritte Fassung seiner Theorie von 1805.103 Konsequenterweise streicht er auch hier die Verweise auf Humes und Gerards Geschmackstheorien, ersetzt sie durch Verweise auf Herders Kalligone und Schillers Briefe über die Erziehung des Menschen,104 ohne jedoch seinen Haupttext über das Gefühl des Schönen wesentlich zu ändern. Er spiegelt damit die ästhetikgeschichtlichen Entwicklungen seiner Zeit und passt sich ihnen vorübergehend an, bevor er den Verweis auf Schiller in der letzten Ausgabe von 1817 aber doch wieder durch die Schotten Gerard und Hume ersetzt.105 Der mittlerweile dreiundsiebzigjährige Gelehrte kehrt zu dem zurück , wovon er sich in der anfänglichen Entwicklung seiner Begründung der Ästhetik als Wissenschaft hatte leiten lassen. Letzten Endes bewirkt seine am schottischen Empirismus orientierte Auffassung der Künste und Wissenschaften, dass die Ästhetik für ihn auch nach der gründlichen Auseinandersetzung mit Kant und auch nachdem er den Titel seiner ästhetischen Theorie entsprechend angeglichen hat , Gegenstand seiner systematischen Ordnung der Wissenschaften bleibt.106

102 In der unpublizierten Handschrift finden sich zwar Verweise auf Edmund Burke , jedoch keine Verweise mehr auf die Schotten, während Kant umso häufiger genannt wird ( HAB Nov. 572 ). Vgl. zur Auswertung von Eschenburgs Kant-Lektüre Pirscher : Eschenburg , 95–102. 103 Bevor er diese dritte Fassung erstellt und parallel auch die reguläre Vorlesung darüber wieder aufnimmt , hält er drei Vorlesungen über die ( kritischen ) Anfangsgründe des Geschmacks oder die Anleitung zur Bildung desselben ( vgl. Meyen : Eschenburg , 62 f. ). 104 Johann Joachim Eschenburg : Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Redekünste , Dritte abgeänderte und vermehrte Ausgabe , Berlin / Stettin : Nicolai , 1805 , 20 , § 29. 105 Johann Joachim Eschenburg : Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Redekünste , Vierte abgeänderte und vermehrte Ausgabe , Berlin / Stettin : Nicolai , 1817 , 20 f., § 28. 106 Vgl. Johann Joachim Eschenburg : Lehrbuch der Wissenschaftskunde. Ein Grundriß encyclopädischer Vorlesungen. Berlin / Stettin : Nicolai [ 1792 ] 1809 , 110 ff., §§ 22 , 23.

Nicholas Enright

Eine „Geschichte des Menschen im Kleinen“ Johann Karl Wezels Neubearbeitung des Robinson Krusoe ( 1779 / 80 ) und die Vierstufentheorie Adam Smiths Johann Karl Wezels Bearbeitung von Daniel Defoes Klassiker Robinson Crusoe , erschienen 1779 / 1780 unter dem Titel Robinson Krusoe. Neu bearbeitet ,1 ist kein eindeutiger Fall eines britisch-deutschen Literaturtransfers. Zwar in der Überzeugung begonnen, eine Übersetzung von Defoes Werk könne das deutsche Publikum durchaus „belustigen“ ( RK 5 ), weigert sich Wezel in seiner Autorenrolle schließlich , eine treue und buchstäbliche Übertragung des englischen Originals zu liefern. Nicht nur weil Defoes Abenteuererzählung „durch gottesfürchtige , gutgemeinte , aber unschickliche und nicht selten einfältige Betrachtungen oft Langeweile“ verursache ( RK 131 ), scheint Wezel zu einer Umarbeitung des Robinson-Stoffes motiviert gewesen zu sein. Im Rahmen seiner Mitarbeit an den Philanthropischen Unterhandlungen, der Zeitschrift des Philanthropinums in Dessau , hatte sich Wezel erklärtermaßen vorgenommen, „die jungen Leser mit der Geschichte des Menschen bekannt zu machen [ … ]“ ( RK 132 ). Als die zu diesem Zwecke von ihm verfassten kleinen Dramen nicht zu genügen schienen, soll Wezel Defoes Buch in die Hand genommen haben. „Doch wie erstaunte ich“, so teilt er seinen Lesern seine darauffolgende Enttäuschung mit , „als ich im zweiten Teil , den ich niemals gelesen hatte , auch nicht das mindeste für meine Absicht brauchbar fand !“ ( RK 133 ) Wezel stellte also einen grundsätzlichen Mangel in Defoes Text fest – und zwar vor allem vor dem Hintergrund seines persönlichen Interesses daran, die jungen Menschen mit der Geschichte des „menschlichen Geschlechts“ ( RK 132 f. ) bekannt zu machen. Diese „philosophische Idee“ ( RK 10 ) hatte er , ähnlich Rousseaus Empfehlung des Robinson Crusoe zwecks einer éducation naturelle ,2 dem von ihm nun studierten Roman irrtümlicherweise unterstellt. Sie trotzdem zu realisieren – diesem Ziel gilt nun Wezels ausdrückliche „Absicht“. Das Resultat ist „Zusammendrängung der Geschichte , ihre Richtung auf den vorhin genannten Zweck , Erfindung , Anordnung und Kolorit einiger

1 Johann Karl Wezel : Robinson Krusoe , Berlin : Rütten & Loening , 1990. Zitatnachweise nachfolgend im laufenden Text unter der Sigel RK mit Seitenzahl. 2 Jean-Jacques Rousseau : Émile ou de l’éducation, Paris : Classiques Garnier , 1992 , 210 f.: „Puisqu’il nous faut absolument des livres , il en existe un qui fournit , à mon gré , le plus heureux traité d’éducation naturelle. [ … ] Est-ce Aristote ? Est-ce Pline ? Est-ce Buffon ? Non ; c’est Robinson Crusoé.“ In der zweiten Vorrede zu seinem Robinson geht Wezel auf Rousseaus Begeisterung für Defoes Werk kritisch ein : „Indem er [ Rousseau ] für seinen Emile ein Buch suchte , worinnen diese Idee ausgeführt wäre [ … ], überredete ihm seine Imagination, daß die Idee dort wirklich so ausgeführt sei , wie er sie dachte – eine Verwechselung , die in menschlichen Köpfen sehr häufig vorgeht !“ ( RK 132 )

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Naturszenen, Umbildung einiger Begebenheiten, Ton und Gang der Erzählung“ ( RK 10 ) – eine beinahe komplette Überarbeitung des Originals. Im Mittelpunkt des vorliegenden Aufsatzes sollen nicht so sehr Wezels Abweichungen von Defoes Vorlage stehen. Vielmehr soll es hier darum gehen, zur Kontextualisierung von Wezels „Zweck“, nämlich eine „Geschichte des Menschen“ zu schreiben, einen anderen britischen Kultureinfluss in den Blick zu nehmen. Meine These betrifft vor allem einen Aspekt der bereits umrissenen Problematik von Wezels Bearbeitung : Wenn es die Planlosigkeit des Defoeschen Originals ist bzw. dessen Mangel an „philosophischer“ Reflexion, der den Nutzen des Buches in Wezels Augen schmälert , so stellt dies weniger eine Schuldzuweisung oder einen Vorwurf , als vielmehr die produktive Folge seiner eigenen Lektüre und Forschung dar. In der Zeit vor der Entstehung von Wezels Robinson bilden sich im Umfeld der schottischen Aufklärung unterschiedliche Ansätze zu einer soziokulturellen Deutung der Geschichte aus , zu denen auch Adam Smiths sogenannte Vierstufentheorie ( four stages theory ) der Menschheitsentwicklung gehört. Als freier Schriftsteller im damaligen „Übersetzungszentrum“3 Leipzig hatte Wezel nicht nur einen verhältnismäßig leichten Zugang zu den schottischen Texten, in denen auf diese Theorie mehrfach rekurriert wird4 – er hatte als bereits begeisterter Rezipient britischer Schriften5 und

3 Der Verlag britischer Autoren war eine „gesamtdeutsche Unternehmung“, allerdings galt Leipzig als „Zentrum“. Vgl. Marie-Luise Spieckermann : „ ‚Die Engländer mit ihrem großen praktischen Verstande‘. Nützliches Wissen aus Britannien auf dem deutschen Buchmarkt des achtzehnten Jahrhunderts“, in : Mitteilungen, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz 10 ( 2001 ), 113–121 , hier 114. Allgemein zur Rezeption schottischer Werke in Verbindung mit Leipzig vgl. Mark Lehm­stedt : „Die Geschichte einer Übersetzung. William Robertsons „Geschichte von Amerika“ ( 1777 )“, in : Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 1 ( 1991 ), 265–297 ; Fania Oz-Salzburger : Translating the Enlightenment. Scottish Civic Discourse in Eighteenth-Century Germany , Oxford : Oxford University Press , 1995 ; John H. Zammito : „Die Rezeption der schottischen Aufklärung in Deutschland. Herders entscheidende Einsicht“, in : Europäischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert , hg. v. Barbara Schmidt-Haberkamp , Uwe Steiner , Brunhilde Wehinger , Berlin : Berliner Wissenschafts-Verlag , 2003 , 113–138. 4 Die Übersetzungen der Hauptwerke von Adam Ferguson, Henry Home , Adam Smith und William Robertson, in denen die Vierstufentheorie vorkommt , sind alle jeweils in Leipzig erschienen – und zwar ziemlich genau vor dem Erscheinen von Wezels Robinson-Bearbeitung im Jahr 1779 / 80. Vgl. Adam Ferguson : An Essay on the History of Civil Society ( 1767 ). Dt.: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. a. d. E. von Christian Friedrich Jünger , Leipzig : Junius , 1768 ; Henry Home , Lord Kames : Sketches of the History of Man ( 1774 ). Dt.: Versuch über die Geschichte des Menschen I-II a. d. E. von Anton Ernst Klausing , Leipzig : Junius ( Gleditsch ), 1774–1775 ; Adam Smith : An Inquiry Into the Nature and Causes of Wealth of Nations ( 1775 ). Dt.: Untersuchung der Natur und Ursachen von Nationalreichthümern a. d. E. von Johann Fr. Schiller I-II, Leipzig : Weidmann, 1776–1778 ; William Robertson : The History of America ( 1777 ). Dt.: Geschichte von Amerika. Aus dem Englischen übersetzt von Johann Friedrich Schiller , 2 Bde., Leipzig : Weidmann, 1777. 5 In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Bedeutung Laurence Sternes , Jonathan Swifts und Henry Fieldings für Wezels Romanpoetik , sowie Thomas Hobbesʼ und John Lockes für seine Philosophie zu betonen. Eingehender dazu vgl. Albert R. Schmitt : „Englische Einflüsse in den Schriften Johann Karl



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britischen Kulturguts6 überdies einen stärkeren Grund , das dort zu findende Modell einzustudieren und es literarisch zu verarbeiten. Im Folgenden möchte ich nach Rezeptionsspuren der Vierstufentheorie in Wezels Robinson-Bearbeitung suchen. Da dieses Beispiel eines britisch-deutschen Literaturtransfers trotz der von mir angenommenen Bekanntschaft des Autors mit den schottischen Werken mehr eine Frage der konkreten Rezeption als eine seiner Biographie ist , beschränke ich mich dabei auf eine Analyse des literarischen Textes. Dennoch soll zunächst ein Einblick in Smiths Variante der Theorie gegeben werden, bevor ich mich Wezels Text zuwende und anschließend die Bedeutung dieses Transfers für die britischdeutschen Kulturbeziehungen im achtzehnten Jahrhundert bewerte.

Die Vierstufentheorie Adam Smiths Adam Smith ist mehr für seine Moralphilosophie und seine Wirtschaftstheorie als für seine Geschichtsphilosophie und Kulturanthropologie bekannt. Doch als Autor einer Variante der Vierstufentheorie präfigurierte der Schotte eine Form der Sozialforschung , die bekanntlich erst viel später Fuß fassen sollte.7 Das zentrale Merkmal dieser Theorie ist ihre Fokussierung auf den Aspekt der Gesellschaftsentwicklung bei Beschreibung und Erklärung kultureller Divergenzen und Gemeinsamkeiten.8 Insbesondere sind es die unterschiedlichen Arten der Subsistenz und Ernährung , die bei Smith im Mittelpunkt

Wezels“, in : Neues aus der Wezel-Forschung , hg. v. Arbeitskreis Johann Karl Wezel des Kulturbundes der DDR, H. 2 , Sondershausen, 1984 , 31–40. 6 In einer Rezension zu Johann Georg Schlossers Politische Fragmente gilt Wezels Interesse beispielsweise dem Zusammenhang zwischen der liberalen politischen Verfassung Englands und der dortigen, in seinen Augen blühenden intellektuellen Kultur : „Dieß ist einer von den hauptsächlichsten Vorzügen der englischen Verfassung , daß sie auch eine Laufbahn für die Helden in der Toga hat“. Diesem positiven Vorbild einer Nationalkultur stellt Wezel die „Verfassung , die Deutschland in solche Menge Städte und Städtchen zerstückelte“, und die damit einhergehende deutsche „Vielschreiberey“ entgegen. Vgl. Johann Karl Wezel : Rezension zu Johann Georg Schlossers Politische Fragmente ( Deutsches Museum , 1777. Erster Band ), in : Gesamtausgabe in acht Bänden. Bd. 7 : Versuch über die Kenntniß des Menschen. Rezensionen. Schriften zur Pädagogik , hg. v. Jutta Heinz und Cathrin Blöss , Heidelberg : Mattes Verlag , 2001 , 360–369 , hier 367–369. Klaus Rek hat Wezels Enttäuschung angesichts der deutschen Verhältnisse mit der Idee von England als „Wunschbild“ in Verbindung gebracht. Vgl. Klaus Rek : „Englandrezeption und Aufklärungskonzeption in der ‚Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste‘“ in : Sächsische Aufklärung , hg. v. Anneliese Klingenberg , Katharina Middell , Matthias Middell et al. Leipzig : Leipziger Universitäts-Verlag , 2001 , 197–210 , hier 210 ; spezifisch zu Wezel 200–202. 7 Vgl. Simon J. Cook : „From Ancients and Moderns to Geography and Anthropology : The Meaning of History in the Thought of Adam Smith , Karl Marx , and Alfred Marshall“, in : History of Political Economy 45 : 2 ( 2013 ), 311–343. 8 Als Alternative zur britischen Gesellschaftstheorie bilden sich bekanntlich seit Mitte der siebzieger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts unter deutschen Namen wie Kant , Meiners und Blumenbach Ansätze zu einer Rassentheorie als Denk- und Ordnungsmodell kultureller Differenz aus.

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stehen und seinen Blick auf zeitlich wie auch geographisch entfernte Völker und Kulturen prägen.9 Ihrem Bewusstsein für kulturelle Varietät zum Trotz ist Smiths Theorie von einer großen Uniformität durchzogen : das ihr zugrunde liegende Deutungs- und Beschreibungsraster , das vier historische Stadien ( Jägerei , Hirtentum , Ackerbau und Handel ) postuliert , repräsentiert den Versuch , den Gang der Menschheitsgeschichte auf ein übergeordnetes Prinzip zurückzuführen, das eine – und nur eine – mögliche Entwicklungslogik zulässt. Ganz gleich , ob es sich um die indigenen Völker Amerikas , die asiatischen Völker , die Menschen der Antike oder der Moderne handelt : das Ziel der Kulturentwicklung , der nationale Wohlstand im Zustand der kommerziellen Markt- und Handelsgesellschaft , gilt als vorbestimmt. Für Smith folgt die Menschheitsentwicklung überall der gleichen Logik , nur die Geschwindigkeit , mit der sich die Lebensumstände zu diesem Ziel hin verändern, ist nicht gleich. Dass Smith eine solche Gleichheit trotz aller Disparatheit im Zustand der Völker annimmt , ist wohl weniger einem menschenfreundlichen Kosmopolitismus seinerseits , als der stark anthropologischen Basis seiner Geschichtstheorie zu verdanken. Wie Rousseau begründet Smith die menschliche Anthropologie aus der Perfektibilität , das heißt jegliche Kultur und ihre Errungenschaften entstehen aus dem uniformen Interesse des Menschen, seinen Zustand stetig zu verbessern. Doch mehr noch als Rousseau möchte Smith das Perfektibilitätsstreben des Menschen, wie beispielsweise aus dem Wealth of Nations klar hervorgeht , materialistisch-ökonomisch verstanden wissen : The uniform , constant , und uninterrupted effort of every man to better his condition, the principle from which public and national , as well as private opulence is originally derived , is frequently powerful enough to maintain the natural progress of things toward improvement [ … ].10

Überall dort , wo es ihm die jeweiligen spezifischen historischen Bedingungen ermöglichen, ersinnt der Mensch Tätigkeiten, die seine Natur optimal bedienen – in dieser anthropologischen Maxime , die auch in Wezels Inselgeschichte eine beträchtliche Rolle spielen wird , erkennt Smith gewissermaßen den Motor , die wesentliche Triebkraft der Geschichte. Gleichzeitig heben Smiths Worte das besondere Moment des Kollektivs hervor : Nicht in der Abgeschiedenheit , sondern erst im Zuge zwischenmenschlicher Beziehungen sei der größtmögliche Wohlstand ( „opulence“ ) sowohl privater als auch öffentlicher Art ermöglicht worden. Wie auch an anderen Stellen des Wealth of Nations und in seiner Theory of Moral Sentiments gleicht hier Smiths Konzeption der Geschichte

9 Paradigmatisch formulierte Smiths Landsmann William Robertson im seinerzeit sehr berühmten Geschichtsbuch , The History of America ( 1777 ), 4 Bde., 10. Aufl., London : Strahan, Cadell and Davies , 1803 , hier Bd. 2 , 105 f., das Primat der Subsistenzforschung : „In every inquiry concerning the operations of men when united together in society , the first object of attention should be their mode of subsistence. According as that varies , their laws and policy must be different.“ 10 Adam Smith : An Inquiry Into the Nature and Causes of Wealth of Nations , in : The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith , Bd. 1 , Nachdruck , Oxford : Clarendon Press , 1997 , 343.



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einem allmählichen Prozess der Aggregation und Kooperation – einer Konkretisierung jener „Sympathie“, die alle Menschen seit Anbeginn der Gattungsgeschichte unaufhaltsam miteinander verbindet.11 So wie schon Smiths Jäger Formen der Reziprozität , wie u. a. eine minimale Arbeitsteilung und den Tausch einfacher Gegenstände , kennen, so erweisen sich Verhandeln, Tauschen und Kaufen in der kommerziellen Handelsgesellschaft als Fortgang dieses Prinzips der Interdependenz hin „zum Besseren“ ( „toward improvement“ ).12 An dieser Stelle , am Übergang von einer ontogenetischen zu einer phylogenetischen Begründung des menschlichen Fortschritts , ist man bei der sogenannten Vierstufentheorie angelangt. Auch wenn Smith nicht als Urheber dieser Theorie gelten kann ( denn Ansätze dazu finden sich bereits bei Denkern wie Turgot und Kames ), spricht ihm Meek eine zentrale Rolle bei ihrer Ausformulierung zu.13 Entsprechend der Annahme von einem natürlichen und uniformen Streben des Menschen „nach besseren Lebensbedingungen“ ( the „effort of every man to better his condition“ ), geht Smiths Theorie davon aus , dass die Menschheit eine fortschreitende Entwicklung mit mehreren Stufen, die er „states“ oder „ages“ nennt , durchläuft. Insgesamt identifiziert Smith vier Stadien, die die Menschheit sukzessiv durchwandert habe. Dabei richtet sich das Augenmerk , wie bereits erwähnt wurde , allen voran auf die Art der ökonomischen Tätigkeit und damit einhergehend die Subsistenzweisen, die in bestimmten Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeitpunkten vorgeherrscht hätten : Nachdem die Menschen zunächst als Jäger und Fischer existiert hätten, seien sie zum Hirtenleben, dann zum Ackerbau und schließlich zum Handel und Gewerbe übergegangen. So ist es Smiths Ziel im Hinblick auf die Menschheitsgeschichte , den kollektiven Entwicklungsprozess als eine stufenweise Steigerung der technischen und ökonomischen Kapazitäten zugunsten der besseren materiellen Versorgung aufzuzeigen. Doch verfolgt man seine Theorie weiter , so ergibt sich ein weit komplexeres Bild der damit umrissenen Kulturgenese. Smith nimmt nämlich eine Verbindung zwischen dem ökonomischen Stadium eines Gemeinwesens einerseits und dem soziopolitischen Zustand

11 Die Kategorie der sympathy ( Mitleid ) deutet Smith ebenfalls ökonomisch. Vgl. Adam Smith : The Theory of Moral Sentiments , in : The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith , Oxford : Clarendon Press , 1976 , 50 : „It is because mankind are disposed to sympathize more entirely with our joy than with our sorrow that we make parade of our riches and conceal our poverty. [ … ] [ I ]t is chiefly from this regard to the sentiments of mankind , that we pursue riches and avoid poverty.“ 12 Vgl. Smith : Wealth of Nations , Bd. 1 , 27 f. 13 Ronald L. Meek : Social Science and the Ignoble Savage , Cambridge : Cambridge University Press , 1976 , 99. Speziell zu Turgot vgl. 68–76 ; zu Kames , 102–107. Insgesamt bietet Meeks Studie dem Leser einen instruktiven Überblick über die Geschichte der Vierstufentheorie einschließlich ihrer unterschiedlichen Varianten an. Thomas Nutz wirft Meek jedoch vor , durch die „Verknüpfung“ der Theorie „mit einer Handvoll Autoren ( vor allem Adam Smith )“ eine Reduktion ihrer Tragweite und Vielfalt im Sinne einer epistemologischen „Black-Box“ bewirkt zu haben, siehe Thomas Nutz : „Varietäten des Menschengeschlechts“. Die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung , Köln u. a.: Böhlau Verlag , 2009 , 151.

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andererseits an, in dem sich dieses Gemeinwesen jeweils befindet. Das Ökonomische und das Soziopolitische stehen bei Smith somit in einem Entsprechungsverhältnis , was bedeutet , dass die Logik , der die Entwicklung des sozialen und politischen Lebens folgt , eng damit zusammenhängt , in welcher Weise der Mensch jeweils produktiv tätig wird.14 Bereits im Rahmen seiner Lectures on Jurisprudence aus den Jahren 1762–1763 denkt Smith daran, die sich verändernden Gesellschaftsstrukturen als Faktor des ökonomischen Fortschritts aufzuzeigen. Diesen Zusammenhang erläutert er hier in einem Abschnitt mit der Überschrift Of Occupation ( Zur Erwerbstätigkeit ) am Beispiel des Eigentumsrechts. Smith beginnt den Abschnitt mit einer kurzen Nennung seiner These einer inhärenten Verbindung zwischen dem ökonomischen und dem soziopolitischen Zustand eines Gemeinwesens , gefolgt von einer kurzen Rekapitulation der vier Stadien der Gesellschaft : Before we consider exactly this or any of the other methods by which property is acquired , it will be proper to observe that the regulations concerning them must vary considerably according to the state or age society is in at that time. There are four distinct states which mankind pass thro : first , the Age of Hunters ; secondly , the Age of Shepherds ; thirdly , the Age of Agriculture ; and fourthly , the Age of Commerce.15 [ Hervorhebungen N. E. ]

Ähnlich wie bei einem Gedankenexperiment beschreibt Smith dann in einer Passage , die in ihrer Berufung auf die Geschichte einer Insel augenfällige Gemeinsamkeiten mit Wezels Robinson aufweist , etwas ausführlicher die ökonomischen Fortschritte , die die Menschheit durchlebt haben soll. Bemerkenswert dabei ist , wie die sonst so analytischerklärende Schreibweise des Autors im erzählerischen Gestus eines Mikronarrativs aufgeht , das in seinem modellhaften Möglichkeitscharakter wohl eher den Ansprüchen eines literarischen als eines rein historischen Textes entspricht : If we should suppose 10 or 12 persons of different sexes settled in an uninhabited island , the first method they would fall upon for their sustenance would be to support themselves by the wild fruits and wild animalls which the country afforded. [ … ] This is the age of hunters. In process of

14 Bekanntlich war dies kein besonders neuer Ansatz , denn schon Montesquieu und Voltaire hatten sich mit einem derartigen sozioökonomischen Konnex befasst , wie er von Nation zu Nation variieren und den jeweils eigentümlichen geistigen Charakter ( frz. ‚esprit‘ ) eines Volkes ausdrücken sollte. So schreibt Montesquieu in De l’Esprit des lois. Introduction, chronologie , bibliographie , relevé de variantes et notes par Robert Derathé , 2 Bde., Paris : Garnier , 1973 , hier Bd. 1 , Buch XVIII, 307 : „Les lois ont un très grand rapport avec la façon dont les divers peuples se procurent la subsistance. Il faut un code de lois plus étendu pour un peuple qui s’attache au commerce et à la mer , que pour un people qui se contente de cultiver ses terres.“ Was Smiths Geschichtstheorie von der Montesquieus und Voltaires jedoch unterscheidet , ist die weit systematischere Art und Weise , wie sie die jeweiligen Übergänge von einem Stadium in das nächste verhandelt. Zudem scheint Smith das Verhältnis zwischen Subsistenzweise und Gesellschaftsstruktur weit kausaler zu denken als seine französischen Vorgänger. 15 Adam Smith : Lectures on Jurisprudence , in : The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith , Bd. 5 , Oxford : Clarendon Press , 1978 , 14.



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time , as their numbers multiplied , they would find the chase too precarious for their support. They would be necessitated to contrive some other method whereby to support themselves. [ … ] The most naturally contrivance they would most naturally think of , would be to tame some of those wild animalls they caught [ … ]. Hence would arise the age of shepherds. [ … ] But when a society becomes numerous they would find a difficulty in supporting themselves by herds and flocks. Then they would naturally turn themselves to the cultivation of land and the raising of such plants and trees as produced nourishment fit for them. [ … ] And by this means they would gradually advance in to the age of agriculture. As society was farther improved , the severall arts , which at first would be exercised by each individual as far as was necessary for his welfare , would be separated ; some persons would cultivate one and others others , as they severally inclined. They would exchange with one an other [ … ]. Thus at last the age of commerce arises.16

Hier wird sozusagen die Menschheitsgeschichte im Kleinen geschildert : die Protagonisten der Erzählung , die zehn bis zwölf Versuchspersonen „unterschiedlichen Geschlechts“, müssen die wichtigsten Errungenschaften ihrer Gattung allein auf einer öden Insel noch einmal von vorn wiederholen. Die postulierte Spontanität und „Natürlichkeit“ der Entwicklung , die immerhin mit großer Finalität ( „Thus at last“ ) im kommerziellen Zeitalter kulminiert , erklärt sich nicht etwa aus der weisen Lenkung durch eine übergeordnete Instanz , sondern vor allem aus dem Umstand einer wachsenden Bevölkerungszahl ( „as their numbers multiplied“ ), die neue Techniken der Versorgung ( „sustenance“ ) erfordert. So ermöglicht das Szenario einer fiktiven Inselgesellschaft dem Autor die sonst so disparat erscheinenden Elemente und Daten der Weltgeschichte ( etwa die historisch wie geographisch entfernten Völkerschaften, die im Text jeweils für die unterschiedlichen Stadien der Entwicklung stehen )17 zu einer – zumindest in ihrer Chronologie – plausiblen und instruktiven Kulturerzählung zu verknüpfen. Doch mit dieser Mikrogeschichte , so frappierend die Ähnlichkeit mit Wezels Robinson auch erscheinen mag , ist noch nicht das Wichtigste über Smiths Text gesagt. Smith ist an der Frage nach dem Ursprung unserer Eigentumsverhältnisse interessiert , seine These besagt , dass diese variieren müssen – je nachdem , in welchem ökonomischen Stadium sich ein Gemeinwesen befindet ( „vary considerably according to the state or age society is in at that time“ ). So würde ein Stamm von Jägern bis auf die Jagdbeute und wenige Gegenstände praktisch kein Eigentum und folglich auch kein komplexes Rechtssystem kennen : „In North America ,“ so folgert Smith , „where the age of hunters subsists , theft is not much regarded“.18 Mit der Entstehung der Viehzucht als einer Form von Eigentum unter pastoralen Nomaden wie den Tartaren, gingen die Errichtung der ersten Tribunale und die Verabschiedung der ersten Eigentumsgesetze einher. Die

16 Ebd., 14 ff. 17 Vgl. ebd. Als paradigmatische nomadisierende Hirtenvölker stuft Smith zeittypisch die Tartaren und Araber ( „Tartars and Arabians“ ) ein. Die nordamerikanischen Ureinwohner ( „North American Indians“ ) hingegen gelten für ihn als typische Jägervölker , auch wenn sie im Gegensatz zu den Tartaren und Arabern bereits einen Begriff von der Landwirtschaft ( „some notion of agriculture“ ) haben. 18 Ebd., 16.

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Gesetze und die damit verbundenen Institutionen eines Staates würden komplexer , sobald Landwirtschaft praktiziert werde und die Menschen begännen, das Land aufzuteilen. Und diese Komplexität werde laut Smith nur weiter steigen, da die Zuschüsse der Landarbeit zu neuen Formen des Eigentums und der aufkommenden Formierung einer kommerzialisierten Tausch- und Handelswirtschaft mit einer entsprechend breit gefächerten Arbeitsteilung führten. Angesichts der fortwährenden Entwicklung der juristischen Institutionen lautet Smiths Schlussfolgerung : The more improved any society is and the greater length the severall means of supporting the inhabitants are carried , the greater will be the number of their laws and regulations necessary to maintain justice , and prevent infringements of the right of property.19

Liest man diesen Fortschrittsprozess entsprechend dem Vernunftsgedanken der Aufklärung als Zeichen einer ihr inhärenten geistig-sittlichen Entwicklung , ergibt sich folgende Annahme : Mit seiner Vierstufentheorie hat Smith eine wirkungsmächtige Logik entwickelt , die sich auf eine Vielzahl weiterer kulturgeschichtlicher Phänomene anwenden lässt. Nicht von ungefähr taucht das vierstufige Schema etwa dreizehn Jahre später an einer Stelle des Wealth of Nations erneut auf , bei der es sich um die historische Entwicklung des Kriegswesens und der Landesverteidigung handelt. Auch dort postuliert Smith ein Entsprechungsverhältnis zwischen Subsistenzweise und Stand der Gesellschaftsentwicklung , auch dort deutet der aufwärtsgerichtete Stufengang in der Kriegstechnik auf eine Maximierung der technischen und organisatorischen Kapazitäten angesichts der zunehmenden Komplexität der Lebensform hin : „The number of those who can go to war , in proportion to the whole number of the people , is necessarily much smaller in a civilised society , than in a rude state of society.“20 Doch Smiths Kulturtheorie ist bruchstückhaft , fragmentarisch , kurzum : „ein Torso“21 geblieben. Die vielen möglichen Zusammenhänge , die dieser Theorie innewohnen, sind von Smith nicht konsequent herausgearbeitet bzw. hinreichend zu Ende geführt worden.

„Sonach war Robinson alle Stände der Menschheit nunmehr durchwandert“ – Die Vierstufentheorie in Wezels Robinson-Bearbeitung Ob Wezels Bearbeitung des Robinson Crusoe einen Versuch darstellt , die Vierstufentheorie und die ihr zugrundeliegende Kultursystematik literarisch auszugestalten, ist

19 Ebd. 20 Adam Smith : An Inquiry Into the Nature and Causes of Wealth of Nations , in : The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith , Bd. 2 , Nachdruck , Oxford : Clarendon Press , 1976 , 695. 21 Horst Claus Recktenwald : „Würdigung“, in : Adam Smith : Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Neu aus d. Engl. übertr. und mit e. Würdigung von Horst Claus Recktenwald. München : Beck , 1974 , XVIII.



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nicht ohne Weiteres der Forschungsliteratur zu diesem Werk zu entnehmen. Obwohl die meisten Interpretationen nicht daran zweifeln, dass Wezels Robinson-Nachdichtung als selbstpostulierte „Geschichte des Menschen im Kleinen“ ( RK 9 ) einen herausragenden Beitrag zum geschichtsphilosophischen Diskurs der Zeit liefere , hat die das ganze Werk durchdringende Stufenlogik bisher nur wenig Beachtung gefunden.22 Sogar Phillip McKnight , der die Parallelen zwischen Wezel und Smith für so weitreichend hält , dass er diesen ein gesondertes Kapitel in seiner Studie zum Romanwerk Wezels widmet ,23 ist der Rekurs auf die Vierstufentheorie vollständig entgangen. Thesenhaft zeigt McKnight , wie einzelne Ideen Smiths , zum Beispiel zur Arbeitsteilung , bei Wezel wiederkehren, ohne auf das dahinterstehende Geschichtsbild und -verständnis der Autoren näher einzugehen. Diese Tatsache mag vor allem verwunderlich erscheinen, wenn man bedenkt , dass die geschichtsphilosophische Anlage des Werkes im Unterschied etwa zum Belphegor24 recht eindeutig angegeben ist. Wezel teilt in der ersten Vorrede seines Robinson mit , er wolle eine „Geschichte des Menschen“ schreiben, die „von den verschiedenen Ständen“ und den „Stufen“ handele , die „die Menschheit nach und nach durchwandert ist“ ( R K 9 f. ). In der zweiten Vorrede heißt es , aus seinem Werk solle „wegen der allzu großen Mannigfaltigkeit des Gegenstandes“ weiterhin eine „zusammenhängende Erzählung“ werden, die „alle hauptsächlichste Veränderungen in dem Zustande des menschlichen Geschlechts“ zur Darstellung bringe ( R K 132 f. ). So wie die Erzählerkommentare an dieser Stelle dazu dienen, den diskursiven Rahmen des Textes klar vorzugeben, ruft die Rede von einer „Durchwanderung“ von „Ständen“ und „Stufen“ der Menschheit auf unmissverständliche Weise den Grundgedanken der Stufentheorie hervor. Dadurch , dass Wezels Robinson zudem auf eine trennscharfe und zweckmäßige Darstellung ( eine „Zusammendrängung der Geschichte“ ) abzielt , gewinnt der Text eine dynamische zeitliche Dimension, die dem fortlaufenden Charakter des Stufenmodells gleichkommt. Im ersten Teil des Werks fällt dann der verstärkte Bezug zur Vierstufenlehre auf , wenn der Gang der Menschheit von ihren ‚primitiven‘ Anfängen hin zu einem höheren Stadium der Zivilisation zuallererst am Leitfaden des Individuums vorgeführt wird. In seinem Handlungsverlauf , der sich von Krusoes Abfahrt über seinen Inselaufenthalt

22 In der Forschung zu Wezels Robinson geht die Aufmerksamkeit für die dem Werk zugrundeliegende Stufenlogik selten über einzelne Hinweise oder eine kurze Zusammenfassung des dargestellten Stufengangs hinaus. Vgl. zum Beispiel Hans Heino Evers : „Johann Karl Wezel ( 1747–1819 ): Robinson Krusoe. Neu bearbeitet. 2 Bde. Leipzig 1779 / 80“, in : Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur von 1750–1800 , hg. v. Fritz Brüggemann, Stuttgart : J. B. Metzlerische Verlagsbuchhandlung , 1982 , Sp. 238–255 , hier Sp. 250 ; Anneliese Klingenberg : „Nachwort“, in : Wezel : Robinson Krusoe , 267–301 , hier 291. 23 Vgl. Phillip S. McKnight : The Novels of Johann Karl Wezel. Satire , Realism and Social Criticism in Late 18th Century Literature , Bern u. a.: Peter Lang , 1981 , 225–239. 24 Mehr dazu vgl. Stefanie Stockhorst : „Geschichte( n ) der Menschheit : Zur Narrativität der historischen Kulturanthropologie in der Spätaufklärung“, in : KulturPoetik 8 : 1 ( 2008 ), 1–17 ; insb. 10 f.

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bis zu seiner Heimreise erstreckt , orientiert sich dieser Teil zwar noch stark an Defoe , dennoch sind bedeutende Abweichungen vom englischen Original ( wie etwa das Weglassen der Tagebucheinträge Crusoes und seiner Reflexionen über Religion und Gott ) auszumachen. Indes war Defoes Roman offensichtlich doch noch reichlich Stoff zu einer Nacherzählung abzugewinnen : Im Rahmen des Domestizierungsprozesses nämlich , den die Figur Robinson auf der Insel durchmacht , kann man beispielsweise lesen, wie der Schiffbrüchige mithilfe der Werkzeuge , die er noch dem Schiff entnehmen konnte , die Jagd , den Reis-, Gersten- und Traubenanbau und nicht zuletzt auch die Ziegenzucht – unterschiedliche Arten der Subsistenzgewinnung also – meistert.25 Immer da , wo Defoes Schilderungen von Crusoes Erziehungsstadien ganz und gar auf die Kleinigkeiten seiner Inselexistenz bedacht sind , ist Wezel gemäß der seiner Bearbeitung zugrundeliegenden „philosophischen Idee“ an einer Verallgemeinerung der Fortschritte seines „Krusoes“ interessiert. Und wo Defoe es unterlässt , die Entwicklung seines Helden philosophisch zu explizieren, weist eine Reihe sprachlicher und stilistischer Merkmale in Wezels Text , wie zum Beispiel das Kursivsetzen einzelner Schlüsselbegriffe ,26 auf den ‚Zweck‘ der genauen Erläuterung der jeweiligen Stufe der Menschheitsentwicklung Robinsons hin. So korrespondiert das Zeitalter der Jäger und Sammler mit demjenigen Abschnitt , in dem Krusoe und der „Mohr“ ( RK, 25 ) Xuri aus der türkischen Gefangenschaft fliehen : Ausschließlich mit „Flinte und ein Paar Kugeln“ ausgestattet ( RK 29 ) und ziellos umherirrend an Orten, die „von niemanden besucht“ werden, „als von den Mohren, die heerweise zu Tausenden wider die Ungeheuer , die ihn besitzen, auf die Jagd ausziehen“ ( ebd. ), sind die Figuren zunächst zwangsläufig auf die wildbeuterische Lebensweise angewiesen. Eine primitive Form des Ackerbaus kann erst dann entstehen, wenn der auf der Insel einmal sesshaft gewordene Krusoe zufällig Samen entdeckt , deren Anbau ihm eine Form von Vorratshaltung ermöglicht. So wie ein glücklicher Zufall die Anfänge einer Form des Ackerbaus auf der Insel erkennen lässt , so ist es nun ein Mangel und damit einhergehend eine Situation der Not , die Krusoe ins Zeitalter der Hirten hinüberführen : [ S ]ein Pulver nahm so gewaltig ab , daß bald seine ganze Jägerei ein Ende haben mußte. Was war zu tun ? Er mußte auf Listen sinnen, wie er Ziegen und andre eßbare Tiere fangen konnte ; er mußte sie zähmen und aus dem herumschwärmenden Jäger zum wirtschaftlichen weidenden Hirten werden. ( RK 81 ) [ Hervorhebungen im Original ]

Wie in Adam Smiths Mikroversion der Menschheitsgeschichte , in der von „contrivance“ ( „Erfindung“ ) die Rede ist , muss Krusoe „auf Listen sinnen“, um neue ertragreichere Subsistenzmöglichkeiten zu entwickeln. Der Übergang ins Hirtenleben erscheint sowohl

25 Vgl. Daniel Defoe : Robinson Crusoe. An Authoritative Text , Contents , Criticism , hg. v. Michael Shinagel , New York u. a.: Norton, 1994 , insb. 84–90. 26 Den Hinweis verdanke ich Brent Orlyn Peterson : „Wezel and the Genre of ‚Robinson Crusoe‘ “, in : Lessing Yearbook 20 ( 1988 ), 183–204 , hier 189.



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bei Wezel als auch bei Smith mit einer notgedrungenen Naturbeherrschung einerseits und einem entsprechend wachsenden technischen und geistigen Können seitens der Menschen andererseits verbunden. So kann Wezels Erzähler im Sinne des erklärten didaktischen Anspruchs die Entwicklung Krusoes folgendermaßen zusammenfassen : „Sonach war Robinson alle Stände der Menschheit nunmehr durchwandert : er war Jäger , Fischer , Ackersmann, Hirte gewesen ; er hatte Handwerke , Künste und Schiffahrt erfunden [ … ].“ ( RK 85 ) Mit seinem Übergang ins Hirtenleben tritt Krusoe „in einen der ruhigsten Stände , worinne sich die Menschheit jemals befunden hat“ ( R K 82 ). Auch wenn Smiths vierstufiges Modell , insofern hier lediglich drei der von Smith dargelegten Zeitalter – der Jäger , der Ackermänner und der Hirten – wiederkehren, nicht in Erfüllung geht , so fällt Wezels Robinson-Bearbeitung damit keineswegs aus dem Rahmen der Vierstufentheorie heraus : Zum einen gilt eine kaufmännische Tätigkeit Robinsons hier nach wie vor als bestimmende Charaktereigenschaft der Figur. Im Ausgang des ersten Teils der Erzählung wird nämlich geschildert , wie Krusoe seinen Weg in die Zivilisation zurückfindet – und zwar entsprechend Defoes Vorlage über eine „Plantage in Brasilien“, die er sich schon vor seinem Inselaufenthalt angelegt hatte und wo inzwischen ein „ziemlich ansehnliche[ s ] Vermögen“ auf ihn wartet ( R K 127 ). Zum anderen nimmt Wezel Krusoes Rettung durch Europäer als Anlass zu einer Fortsetzung der Erzählung , in der die zwei letzten Kulturformen des Vierstufenmodells , der Ackerbau und der Handel , in der Geschichte einer fiktiven Inselgesellschaft zur Darstellung kommen. Galt Wezels Interesse im ersten Teil den Veränderungen, zu denen das aus aller Zivilisation entfernte Individuum seiner Natur nach genötigt sein mag , so sind es hier die „Veränderungen in dem Zustande der Gesellschaft“, wie zum Beispiel „die verschiedenen Arten der Subordination“, „die Einführung richterlicher Gewalt“, „verschiedene politische Verfassungen“ sowie „Handel , Geld und die Verarbeitung der Naturprodukte“ ( R K 134 ), denen das Augenmerk gilt. Sicherlich kann der zweite Teil des Romans mit seiner spannungsreichen Schilderung der Inselwelt im Zustand der Gesellschaft als das eigentlich Originäre an Wezels Robinson-Bearbeitung angesehen werden. Nicht zufällig lässt der Autor seine Insel bevölkern und zu einer „Kolonie“ wachsen, die den Namen Robinsonia trägt : Diese Namensgebung dient nicht nur als Anspielung auf Robinson als den rechtmäßigen Besitzer der Insel ( RK 195 ), sondern vor allem als Verweis auf seinen Einfluss auf die ökonomische Entwicklung , die dort in der Zeit nach seiner Heimkehr stattfindet. Am Ende des ersten Teils wird beispielsweise berichtet , wie Robinson den nun verlassenen Inselbewohnern einen „umständlichen schriftlichen Unterrich[ t ] über die Art der Haushaltung“ übergibt , die er dort praktiziert habe und in dem stehe , „wie und wenn“ man zu „säen, ernten“ ( R K 152 ) habe. Zum „Wachstum“ ( R K 222 ) der Insel trägt Robinson dann erneut bei , wenn er nach seiner zweiten Abreise diverse domestizierbare Tiere auf die Insel bringen lässt. Das von Robinson angehäufte ökonomische Wissen und sein „Geschenk“ ( R K 227 ) sind das Testament , das eine fortwährende Entwicklung der Inselkultur , beginnend mit dem Ackerbau und kulminierend „in einem eingerichteten Staate“ ( R K 134 ), in Gang setzt.

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„Das eingeschläferte Gefühl der Menschheit erwachte allenthalben“ – die Kulturstufen des Ackerbaus und des Handels in Wezels Robinson-Bearbeitung Wezels Robinson-Nacherzählung beruht , wie Michael Dominik Hagel zu Recht festgestellt hat , auf einer spannenden „Kopplung der Geschichte des Individuums und der des Kollektivs“.27 Als Prototyp des ökonomischen Menschen ist die Robinson-Figur bereits in Defoes Roman durch ihren Erwerbsfleiß und Verbesserungsgeist gekennzeichnet.28 Doch in Wezels Bearbeitung wird das Bild eines Menschen, dessen größte Sorge die „Annehmlichkeit , Ordnung und Reinlichkeit“ ( RK 84 ) ist , in seiner immanenten Anthropologie verallgemeinert und in die Logik der Gesellschaft und deren historischer Entwicklung überführt. Bereits die Eingangsszene des zweiten Teils weist augenfällige Parallelen mit Smiths experimentell angelegtem Menschheitsnarrativ auf : „Ein kleiner Menschenhaufen“ ( RK 134 ), bestehend aus „Spaniern“, „Engländern“ und später „Wilden“, wird sich selbst überlassen, um die nun wieder menschenlose Insel mithilfe von Krusoes Urkunde gemeinschaftlich zu bewohnen. Die Szene ist als skeptische Umkehrung der klassischen Gesellschaftsutopie zu lesen, insofern der Topos einer harmonischen Vereinigung fröhlicher Menschen sogleich als Illusion entlarvt wird : „Schon die Verschiedenheit der Sprache , der Religion und des Vaterlands machte keine sonderliche Einigkeit unter uns möglich [ … ]“ ( RK 152 ). Dennoch erweisen sich die kulturellen Unterschiede als wenig bestimmend für die darauffolgende Spaltung , die das Inselvolk bald in „Fleißige“ einerseits , in „Müßiggänger“ andererseits ( RK 152 ) teilt. Liest man Wezels Inselgeschichte als literarische Modellierung der Menschheitsentwicklung , so erscheint diese mehr als Ort diverser Tätigkeiten, denn als Szene unterschiedlicher kultureller Praktiken und Bräuche im Sinne der frühen ethnographischen Forschung : Wir borgten von unsern Nachbarn, den Wilden, so viele Kanots , als wir brauchten, unter dem Vorwande , als wenn wir auf den Fischfang ausfahren wollten, und versprachen zur Erkenntlichkeit , unsre Beute mit ihnen zu teilen ; die faulen Wilden, die gerne in Ruhe zu Hause blieben und sich pflegten, gingen einen solchen Vorschlag mit Freuden ein, weil sie etwas zu essen bekommen sollten, ohne daß sie sich darum bemühen durften. ( RK 151 )

Es handelt sich also um ein wahrhaftes Primat der materiellen Versorgung , wie das andauernde Kämpfen und Ringen der Insulaner um Ressourcen und Lebensmittel

27 Michael Dominik Hagel : „Inselgeschichte. Johann Karl Wezels Robinson Krusoe“, in : Das Mögliche regieren. Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse , hg. v. Roland Innenhofer , Katja Rothe und Karin Harrasser , Bielefeld : transcript , 2011 , 195–208 , hier 204. 28 Zur Figur Robinson Crusoe als Urbild des homo oeconomicus vgl. Ian Watt : „Robinson Crusoe as a Myth“, in : Essays in Criticism 1 : 2 ( 1951 ), 95–119 ; Maximilian Novak : „Robinson Crusoe and Economic Utopia“, in : The Kenyon Review 25 : 3 ( 1963 ), 474–490 ; Jan Kott : „Kapitalismus auf einer öden Insel“, in : Marxistische Literaturkritik , hg. v. Viktor Žmegač , Bad Homburg : Athenäum Verlag , 1970 , 259–273.



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verdeutlicht. Nicht von ungefähr ist diese Szene zeitlich am Ende der „ruhigen“ Hirtenepoche angesiedelt – eines Stadiums , das bereits für den geschäftigen und unternehmerischen Krusoe bloß „Langeweile“ ( RK 85 ) bedeutete. Die damit einsetzende Handlung rekapituliert in ihren wesentlichen Zügen die massive Veränderung der Gesellschaftsstrukturen, die sich im Zeitalter des Ackerbaus hätten ereignen sollen. Für Menschheitshistoriker wie Adam Ferguson oder Adam Smith unterscheiden sich pastorale Völker von Jägervölkern dadurch , dass sie infolge ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeit und der Aufteilung des Landes als erste das Privateigentum und die Anfänge der Subordination kennen : [ S ]ome intrust their subsistence chiefly to hunting , fishing , or the natural produce of the soil. They have little attention to property and scarcely any beginnings of subordination or government. Others , having possessed themselves of herds , and depending for their provision on pasture , know what it is to be poor and rich. They know the relations of patron and client , of servant and master , and by the measures of fortune determine their station.29

Auch Rousseau verortet die Entstehung des Privateigentums und eine Form von Regierung im Zeitalter der Agrarwirtschaft.30 So erfährt Krusoe durch den Bericht eines Spaniers , wie in seiner Abwesenheit eine feudale Ordnung bestehend aus „Knechtschaft“ ( RK 155 ) und „Frondiensten“ ( RK 163 ) errichtet wurde , wie ein „abgeteiltes Eigentum“ ( RK 160 ) und juristische Strukturen wie eine „richterliche Gewalt“ ( RK 161 ) zum Schutz der Eigentumsordnung entstanden sind. Die auch in der Folge kursiv gesetzten Worte des Textes markieren die Stationen eines für die Gattung der „Menschheitsgeschichte“ exemplarischen – und nicht zuletzt mit Adam Smiths Juravorlesung direkt korrespondierenden – Entwicklungsvorgangs. Bei dieser , in ihrer ästhetischen Eigenart zu erschließenden „Geschichte des Menschen im Kleinen“ beschränkt sich der Autor Wezel allerdings nicht nur auf die schottischen Referenten , sondern er spielt mit der ganzen Reichweite an Positionen , die  einem so spekulativen und subjektiven  Unterfangen wie der Historie einer ganzen Gattung logisch anhängt. So kann der spanische Erzähler ( der der Ausdruck dieser Subjektivität ist ) die sich rasch entwickelnden Vermögensungleichheiten auf der Insel einerseits ganz im gleichen kulturkritischen Duktus wie Rousseau31 als einen Prozess der willkürlichen Inbesitznahme der Macht durch Wenige deuten : Die vier Mächtigsten, die die meisten Ländereien, die meisten Sklaven und das größte Verkehr hatten, vereinigten sich , befahlen, verordneten, machten verschiedene Veränderungen, ohne jemand darum zu fragen [ … ]. ( RK 186 )

29 Adam Ferguson : An Essay on the History of Civil Society , New York : Garland Publishing , 1971 , 123 f. 30 Jean-Jacques Rousseau : Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l’inégalité , hg. u. komm. v. Heinrich Meier , Paderborn u. a.: Schöningh , 1984 , 200 : „De la culture des terres s’ensuivit nécessairement leur partage ; et de la propriété une fois reconnüe les premières régles de justice [ … ].“ 31 Vgl. ebd., 208–218.

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Andererseits fallen der Eigennutz und die Ungleichheit unter den Menschen gar nicht so negativ aus , etwa wenn es auf den allgemeinen „Fortgang“ ( RK 194 ) der Inselkultur ankommt. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich die Arbeitsverhältnisse auf der Insel , menschheitsgeschichtlich eng mit der Frage des Bevölkerungswachstums verknüpft , erklären. Für Smith ist das Anwachsen der Population absolut zentral für den Fortschritt einer Gesellschaft hin zu den höheren Stadien der Zivilisation : „But when a society becomes numerous they would find a difficulty in supporting themselves by herds and flocks. Then they would naturally turn themselves to the cultivation of land [ … ].“32 Das Bevölkerungswachstum und der damit einhergehende erhöhte Bedarf an Ressourcen sind bei Smith konkreter mit Fortschritten im Bereich der Technik und der mechanischen Künste , in erster Linie jedoch mit der Notwendigkeit einer komplexeren Arbeitsteilung verbunden. In Wezels Robinson erweist sich der Faktor einer wachsenden Bevölkerungszahl als nicht weniger ausschlaggebend für den ökonomischen Fortschritt hin zur Agrarwirtschaft. In der Tat beruht der „Fortgang in dem Ackerbaue“ ( RK 183 ) in seiner Erzählung durchgehend auf der Arbeit , die die aus den benachbarten Inseln stammenden „Wilden“ für ihre europäischen „Herren“ ( RK 165 ) verrichten. So wird geschildert , wie die eingangs von einer Handvoll Europäer dünnbesiedelte Insel nach und nach mit den besagten „Wilden“ bevölkert wird , wie ein Handel aus geraubten indigenen Mädchen und ein „inländischer und auswärtiger Tauschhandel“ ( RK 173 ) mit einheimischen Waren entstehen. In dem Moment , als ein „feindliches Heer“ ( RK 176 ) die Insel überfällt , teilen die Europäer die besiegten „Wilden“ unter sich auf ( RK 183 ). Kurz darauf geraten auf ähnliche Art noch mehr „Wilde“ in die Hände der Europäer : „Man zog daher auf alle Weise Wilde von den benachbarten Inseln herüber , um mehr Raum auf der unsrigen einnehmen zu können, und der Krieg , der uns allen anfangs den Tod drohte , machte sie volkreich , bewohnt , angebaut.“ ( RK 194 ) In ihrer kriegerischen Rohheit ( RK 176 ) und mit ihrer Ernährung bestehend aus „Wurzeln, Fischen, Schildkröten, Früchten“ ( RK 172 ) korrespondieren die Wilden in Wezels Robinson nicht etwa mit dem Idealbild des ‚edlen Wilden‘, sondern vielmehr mit der in Reiseliteratur und Philosophie verbreiteten Sicht auf die indigenen Völker Amerikas und Afrikas als primitive Jäger und Sammler. Und eben aus dieser Position der kulturellen Überlegenheit können die Europäer in Wezels Erzählung ihren Herrschaftsanspruch rechtfertigen : „Wir machten die Einrichtung , daß diese neuen Sklaven unsrer ganzen Gesellschaft angehören und bei einem jeden unter uns nach der Reihe und tagweise arbeiten sollten [ … ].“ ( RK 165 ) Wichtig ist zudem , wie Wezel den Übergang zur jeweils nächsthöheren Entwicklungsebene , die Arbeitsteilung und die Ausbildung der Berufe , erklärt. Es ist vor allem der durch die Sklavenarbeit erwirtschaftete Überschuss an Nahrungsmitteln, der es den Europäern erlaubt , sich entwickelteren Formen der Tätigkeit zu widmen : „Die beschwerlichsten Arbeiten mußten die Wilden für uns

32 Adam Smith : Lectures on Jurisprudence , 15.



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verrichten ; wir hatten Muße und konnten unsre Aufmerksamkeit auf die Verbesserung der Künste wenden [ … ].“ ( RK 171 ) Als selbstpostulierte Geschichte einer Kolonie ist der zweite Teil von Wezels Roman besonders ernst zu nehmen – gewiss sind die Anspielungen auf den Prozess der Kolonisierung und letztendlichen Ausbeutung der Neuen Welt durch die Alte zahlreich genug. Gleichzeitig lässt Wezels Darstellung ebenso wohl an Aspekte der antiken Welt denken : Die Errichtung einer „Aristokratie“ ( RK 183 ) auf den Schultern der versklavten Wilden kann sicherlich als Echo der griechischen und römischen Geschichte verstanden werden, ebenso wie bestimmte ‚Erfindungen‘ der Insulaner wie beispielsweise das „Geld“ ( RK 189 ) ganz deutlich auf historische Ereignisse in der Antike ( hier : die Münzprägung ) zurückführen. Sogar eins der von Wezel herangezogenen Deutungsmuster hat ihren Hintergrund in der klassischen Welt : die Themen Gerechtigkeit , Freiheit und Luxus sind nicht nur bekannte Topoi der antiken Historiographie , sondern bilden auch zentrale Bezugspunkte in Wezels Robinson. Durchgehend zieht Wezel Rückschlüsse auf alle drei , um den jeweiligen zivilisatorischen Stand der Inselgesellschaft zu messen – oder um zu allgemeinen kulturtheoretischen Aussagen über sie zu gelangen : „Die Bedürfnisse des Luxus und ihre Kostbarkeit beruhen so sehr auf der Einbildung und der Seltenheit der Dinge [ … ].“ ( RK 246 ) Ein weiteres , dieses Mal aus dem Zeitalter der Aufklärung stammendes Erklärungsschema drückt den kulturanthropologischen Anspruch des Textes und die ihm zugrundeliegende Idee von einer periodischen Wiederkehr der Geschichte noch deutlicher aus : Montesquieus Theorie der drei Regierungsarten ( Despotie , Republik und Monarchie ). Dessen epochemachendes Werk De l’esprit des lois ( Vom Geist der Gesetze , 1748 ) prägt ein neues Wissensgebiet , das die nun infolge der Entdeckungsreisen beobachtbaren Gemeinsamkeiten und Divergenzen der Völker zu erklären versucht33 und an das Wezel hier ebenfalls anknüpfen will. Wie Montesquieu verbindet Wezel jede Verfassungsart zunächst mit konkreten Beispielen aus der wirklichen Geschichte : Nach der Verfassung des kleinen Fleckens , den der Mensch kennt , formte er auch die Regierungsverfassung der ganzen Welt : der Grieche und Römer republikanisch , der Morgenländer despotisch mit Vasallen und Sklaven, der Europäer monarchisch. ( RK 255 )

Wezel geht dann zu einer Analyse der sechs kleinen Gesellschaften über , die Robinson bei seiner Rückkehr auf die Insel wiederfindet und die sozusagen unterschiedliche Abstufungen der von Montesquieu geprägten Verfassungsarten verkörpern. Die Vielfalt und Mannigfaltigkeit , die sich in den unterschiedlichen Herrschaftsbeziehungen der Insulaner ausdrücken, leitet der Autor ähnlich Montesquieus Klimatheorie aus den jeweils individuellen und natürlichen „Neigungen und Geschicklichkeiten“ ( RK 224 ) der Insulaner ab : „Die Wilden, welche unter den beiden despotischen Engländern

33 Vgl. Nutz : „Varietäten des Menschengeschlechts“, insb. 7–28.

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stunden, mußten gerade so dumme , träge , fühllose Tiere und ihre Oberherren solche sinnliche Müßiggänger sein, wenn sie die despotische Verfassung bekommen sollten [ … ]“ ( RK 224 ). Diesem Bild der Faulheit und Unterdrückung im Zustand des Despotismus setzt Wezel die Geschäftigkeit und ( verhältnismäßig größere ) Gerechtigkeit in der Republik entgegen : „[ D ]ie Wilden, welche der handelnde Engländer unter sich bekam , mußten so eine folgsame , tätige , anschlägige Gattung und ihr Befehlshaber so ein herumschweifender geschäftiger betriebsamer Mann sein, wenn eine Handlungsgesellschaft aus ihnen entstehen sollte.“ ( RK 224 ) Wie der Mensch und sein Land , so auch der Charakter seiner Tätigkeit und seiner politischen Verfassung : auf diese Weise begründet Wezel nämlich die menschliche Vielfalt und Diversität in Anlehnung an Montesquieu. Nichtsdestotrotz spitzt sich seine Argumentation im letzten Teil der Erzählung zu , sodass zunehmend geistige Faktoren bei der Erklärung des menschlichen Fortschritts ins Blickfeld geraten. Hier heißt es : So vielfache Veränderungen in dem Zustande der Menschen und der Gesellschaft wirkten wieder auf die Menschen zurück : die Verfassung , der Handel , die Industrie eines Volks floß freilich ursprünglich aus seinem natürlichen Charakter und der natürlichen Beschaffenheit des Landes , das es bewohnt ; aber wenn diese Verfassung einmal Festigkeit erlangt hat , wenn sein Handel , seine Beschäftigungsart und sein Reichtum einmal bestimmt ist , dann erwachsen daher Veränderungen in der Denkungsart , den Sitten, Neigungen und selbst in den Verstandeskräften, und vorzüglich von diesen Wirkungen wird die folgende Geschichte der Kolonie Beispiele enthalten. ( R K 224 f. )

Nicht nur für Montesquieu , sondern auch für Wezel folgt die Menschheitsentwicklung in ihren höheren Stufen in nichts dem reinen Zufall , im Gegenteil setzt der Fortschritt und der Wohlstand eines Gemeinwesens eine immer größere Eigenverantwortung des Menschen voraus. Wie dieses kulturanthropologische Konzept wirkt , zeigt der Übergang der Inselgesellschaft ins Handelsstadium am Schluss der Erzählung. Wenngleich Robinsons Plan, die sechs kleinen Gesellschaften der Insel „zu einem großen eingerichteten festen Staate“ ( RK 222 ) zu vereinigen, scheitert , so kann er vor seiner endgültigen Abreise doch noch etwas zur Kultur der Insel beitragen : Durch die Gabe diverser Tiere wie Ochsen und Pferde , die zu einer temporären Abschaffung der Sklaverei führt , kann er nämlich ( wenngleich unabsichtlich ) „die nachfolgende allgemeine Freiheit in seinem kleinen Staate“ vorbereiten ( RK 226 ). Bei dieser neolithischen Revolution avant la lettre hat man es wohl mit einem der klassischen Grundgedanken der schottischen Geschichtsphilosophie , der Idee von „unintended consequences“ ( „unbeabsichtigte Folgen“ ), zu tun. In einem berühmten Satz seines Essay on the History of Civil Society aus dem Jahre 1767 formuliert Adam Ferguson diese Idee folgendermaßen : „[ N ]ations stumble upon establishments , which are indeed the result of human action, but not the execution of any human design.“34 Fergusons

34 Adam Ferguson : An Essay on the History of Civil Society , hg. v. Fania Oz-Salzberger , Cambridge :



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Überlegung muss jedoch als Teil einer viel globaleren Wissensverschiebung verstanden werden : Schon bei seinem Vorgänger David Hume lässt sich im Rahmen einer neu entstehenden Science of Man eine wachsende Skepsis gegenüber den althergebrachten Ideen eines ‚Great Legislator‘ oder einer ‚Great Chain of Being‘ als letztgültiger Begründung für soziale Ordnung erkennen. Dem setzen die Schotten nun die Vorstellung vom Menschen als wahrem und ultimativem Urheber und Verwalter seines Glücks entgegen. Parallel dazu entwickelt Hume eine ‚experimentelle‘ Methode , die das Augenmerk auf das bloß Beobachtbare und Erfahrbare , nämlich das Verhältnis von Ursache und Wirkung , als alternatives Erklärungsraster zum göttlichen Schöpfungsplan oder gar zum „human design“ im Sinne von Ferguson richtet.35 Es mag als Gradmesser für den ‚britischen‘ Anteil an seinem Denken gelten, dass Wezel dieses experimentelle Schema nicht nur hier , sondern auch an zahlreichen anderen Stellen seines Oeuvres zur Herstellung und Konstituierung poetischer wie epistemologischer „Wahrscheinlichkeit“36 heranzieht. Auch seine Betonung , dass Krusoe „soviel Gutes nicht davon voraussah“ ( RK 226 ) – dass sogar dieser den nachfolgenden Effekt seines eigenen Einfalls sich nicht gewahr sein bzw. steuern konnte –, kann als Anspielung auf Fergusons kontingentes , antilegislatorisches Geschichtskonzept verstanden werden. Krusoe konnte nicht wissen, dass seine Gabe von Ochsen und Pferden eine so nachhaltige Wirkung auf die Insel und ihre Kultur , vor allem auf die erhöhte Produktivität und politische Freiheit der Insulaner , ausüben würde. Er konnte auch nicht wissen, dass seine Gabe die vormals „Wilden“ dazu treiben würde , aus ihrer ursprünglichen Subsistenzweise , der Jägerei , in die höchste Stufe der Zivilisation, den Handel und das Gewerbe , aufzusteigen : Die Wilden, welche den beiden despotischen Engländern unterworfen waren, fielen nach dem Tode ihrer Herren ganz in ihre vorige Lebensart zurück : sie lebten von Wurzeln, von Baumfrüchten, von ihren Ziegenherden, ohne Ackerbau , Gewerbe und Handel ; in den langen Kriegen, die die Insel zerrütteten, bekamen sie Pferde und Ochsen in ihre Gewalt ; ihre Baumpflanzungen waren verwüstet , und der Mangel zwang sie , von diesen Tieren einen Gebrauch zu machen, der sie zu einer ganz andern Lebensart führte ; der Ackerbau lenkte sie vom Kriege ab , sie fingen an zu handeln, Gewerbe zu treiben ; die Entwickelung der Geisteskräfte wurde dadurch unmittelbar befördert , und von dieser Reihe von Wirkungen waren Ochsen und Pferde die erste Ursache. ( R K 226 )

Cambridge University Press , 1995 , 119. 35 Vgl. ebd., 120 : „An author and a work , like cause and effect , are perpetually coupled together. This is the simplest form under which we can consider the establishment of nations : and we ascribe to previous design, what came to be known only by experience.“ 36 Am ausführlichsten setzt sich Wezel mit diesem Thema in seiner Rezension von Johann Timotheus Hermesʼ Briefroman Sophiens Reise von Memel nach Sachsen auseinander , in : Gesamtausgabe in acht Bänden. Bd. 7 : Versuch über die Kenntniß des Menschen. Rezensionen. Schriften zur Pädagogik , hg. v. Jutta Heinz und Cathrin Blöss , Heidelberg : Mattes , 2001 , 285–299 , hier 292. Hier habe der Leser „die Wahrscheinlichkeit einer Begebenheit als ein bloßes Faktum , das die Wirkung einer vorhergehenden Ursache , und die Ursache einer folgenden Wirkung ist“ zu betrachten.

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Bei den Europäern erweist sich dieses Ereignis als nicht weniger revolutionär. Der Übergang zu einer hauptsächlich vom Handel geprägten Gesellschaft scheint hier jedoch enger mit der für die neuzeitliche Staatskunst so zentralen Frage der guten Regierung zusammenzuhängen, wie der letzte Abschnitt der Erzählung mit dem Untertitel Geschichte der Kolonie nahelegt. Hierbei lässt Wezel auf der Grundlage von Montesquieus Theorie der drei Regierungsarten jeweils drei Herrscher versuchen, Krusoes Plan von einem „fest eingerichteten Staate“ zu realisieren. Von besonderem Interesse dabei ist die republikanische Regierung eines gewissen Ludwig Mortimer : Dieser setzt sich sowohl für die „Erneuerung des Handels und der Gewerbe“ ( RK 234 ) als auch für die „Erbauung fester Städter“ ( RK 237 ) ein und fördert damit die allgemeine politische Freiheit auf der Insel am meisten. Auch in Adam Smiths Wealth of Nations stehen die Verbesserung der Manufakturen und die Entstehung von Städten in der frühen Neuzeit nicht nur für erheblich mehr Wohlstand und Luxus , sondern vor allem für die Einräumung größerer Freiheiten – und zwar vor allem für die in Knechtschaft lebenden Landbewohner. Smith hält fest : [ C ]ommerce and manufactures gradually introduced order and good government , and with them , the liberty and security of individuals , among the inhabitants of the country , who had before lived almost in a continual state of war with their neighbours , and of servile dependency upon their superiors.37

Hier wird Smiths These von einer der Subsistenzweise innewohnenden Totalität und Gesetzmäßigkeit noch einmal Ausdruck verliehen. Bemerkenswert ist dabei , wie der Schotte den damit bezeichneten Fortschritt sowohl ökonomischer als auch politischer Art einer ganz besonderen Klasse von Menschen zuspricht. Nicht etwa die großen Planer und Gesetzgeber dieser Welt , sondern allen voran die „merchants and artificers“ ( „Kaufmänner und Erfinder“ ) – Leute , die nie vorhatten, etwas Gutes zu tun ( „who had not the least intention to serve the publick“ ) – sind es , denen die Revolution im Handel und das öffentliche Wohl ( „publick happiness“ ) am meisten zu verdanken haben.38 So lautet die entsprechende Stelle in Wezels Robinson : Die Städte fühlten sehr bald den belebenden Einfluß der Freiheit , besonders da die Oberhäupter der Insel ihr Emporkommen sehr begünstigten, um dem zügellosen Adel durch ihre Beihülfe zu widerstehen. Sie fingen mancherlei Gewerbe unter sich an [ … ]; ihr Kopf wurde durch Rechnung , Handelsgeschäfte und Spekulation auf neue Vorteile mehr geübt , als es bei dem Adel geschehen konnte [ … ]. Die Städte erhielten also eine große Überlegenheit an Verstand , Einsicht , Reichtum [ … ]. Die Leibeigenen nützten die Streitigkeiten ihrer Herren und ihre öftern Abwesenheiten und verschafften sich mit gewaffneter Hand bessere Umstände , Eigentum und mehr Freiheit , andre bekamen sie von ihren Herren selbst. Wie vorhin alles strebte , sich zu

37 Adam Smith : Wealth of Nations , Bd. 1 , 412. 38 Ebd., 422. Hierbei handelt es sich wohl um eine Spielart von Smiths berühmter Denkfigur der invisible hand ( „unsichtbaren Hand“ ).



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unterdrücken, so strebte itzt alles zur Freiheit empor. Das eingeschläferte Gefühl der Menschheit erwachte allenthalben, und es war schon viel gewonnen, daß die Unterdrückten den Druck zu fühlen anfingen. ( R K 238 ff. )

Dass diese neuzeitliche Utopie des freien Handels und Gewerbes nicht lange währen kann und der Untergang der Inselgesellschaft die notwendige Folge der monarchischen Herrschaft sind , mit der die Erzählung schließt , ist sicherlich nicht nur auf Wezels ( an Montesquieu geschulte ) These von einer veranlagungsgemäßen Basis menschlicher Regierung und Gesellschaft zurückzuführen. Im Umschlag von einer Geschichte des Fortschritts in eine des Verfalls in Wezels Robinson spiegelt sich auf ebenso prägnante Weise der hier bisher lediglich angedeutete Erziehungsgedanke der Aufklärung wider. Nicht von ungefähr heißt es in Bezug auf die nun einsetzende „Untätigkeit“ ( RK 248 ), dass „der Handel den höchsten Punkt erreicht habe , den er erreichen konnte“ ( RK 249 ). Gewiss kann man hier jenen weisen Geist der Geschichte annehmen, dessen Recht und Befugnis es immer war , dem ungezügelten Luxus- und Besitzstreben des Menschen Grenzen zu setzen. „Great empires , great cities , great commerce , all of them receive a check , not from accidental events , but necessary principles ,“ so etwa lautet der entsprechende Gedanke bei David Hume.39 Mehr noch ist dies als Ausdruck eines Geschichtsverständnisses anzusehen, das dem Menschen eine immer größere Handlungsmacht bei der Gestaltung seines materiellen, wie auch soziopolitischen und kulturellen Zustands zuerkennt : „[ W ]o die Verfassung kein Talent und keine hohe Leidenschaft erweckt , da können die Leute nichts Besseres tun als essen, trinken, spielen und was diesem anhängt.“ ( RK 249 )

Konklusion Ob Optimismus oder Pessimismus die jeweilige Sicht Wezels auf die Menschheitsgeschichte bestimmt , kann man auch und gerade in Bezug auf die Schlussszene seines Robinson nicht eindeutig erschließen. Im fiktiven Bild der künftigen nordamerikanischen Gesellschaften, die die Artefakte einer einst blühenden robinsonischen Kultur entdecken, sammeln und nicht zuletzt in ihren Geschichtsbüchern ( teils auch widersprüchlich ) auslegen, kommt die für den Autor charakteristische Skepsis – nicht zuletzt auch gegenüber dem aufklärerischen Interesse an der Geschichte der Menschheit – zum Ausdruck. In der abschließenden Projektion einer Zukunft , in der das nicht einmal fertiggeschriebene Werk in „Küchen, Kellern, Kramläden“ weitgelegener Erdteile nur noch „zu beliebiger Konsumtion“ ( R K 264 ) verbraucht wird , kündigt sich das Selbstverständnis einer Literatur an, die sich ihres Konstruktionscharakters

39 „Brief von David Hume an Lord Kames , 4. März , 1758“, in : The Letters of David Hume , hg. v. John Young Thomson Greig , Oxford : Clarendon Press , 1931 , Bd. 1 , 270–272.

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vollkommen bewusst zu sein scheint. Weist dieses Bild einer nordamerikanischen Konsumgesellschaft auf eine Wiederherstellung oder doch eher auf eine Auflösung des dem Buch zugrundeliegenden Fortschrittsgedanken – etwa in einem Modell der Zirkularität oder gar in einem Modell der Degeneration – hin ? Auch wenn der vorliegende Aufsatz gezeigt hat , dass die Vierstufentheorie die gedankliche Leitlinie und das eigentlich Innovative an dieser Robinson-Bearbeitung repräsentiert , hat Brent Orlyn Peterson Recht , die im Sinne von Michail Bachtins Konzept der heteroglossia charakteristische „Mehrstimmigkeit“ des Werks zu betonen.40 Wezels Robinson ist weder als philosophischer Thesenroman, noch als inhaltliches Versatzstück einer Theorie zu lesen, viel eher bringt das Werk eine Vielzahl diskursiver Stimmen ins Gespräch , um für die derzeit zentrale Frage der Selbst- und Fremdwahrnehmung Europas Anregungen zu liefern. Der hier durch Literaturtransfer und kulturellen Austausch erzeugte Grad an ( Über- )Produktivität steht wohl nicht zufällig in einem Zusammenhang mit dem Versuch , das Verhältnis des europäischen Kontinents zur außereuropäischen Welt ( neu ) zu definieren.

40 Peterson : „Wezel and the Genre of ‚Robinson Crusoe‘ “, 184 f.

John Guthrie

Lenz, Pope and Satire A mutual commerce makes poetry flourish.1

While Lenz was a student of theology in Königsberg from the winter of 1768–1769 to the winter of 1770–1771 , deciding on whether to become a religious poet or a socially engaged writer , he read widely : in German, in French and Italian, in ancient literature as well as English. We know that he read works by Shakespeare , Milton, Alexander Pope , Matthew Prior , and James Thomson.2 Whereas Lenz the translator and advocate of Shakespeare has often been the focus of scholarly attention, his relationship with these other English writers has not been much discussed. In particular , his relationship to Pope deserves more scrutiny for what it tells us about the kind of writer Lenz was to become and desired to be. Until now , Lenz’s translation of a long poem by Pope , the Epilogue to the Satires. Dialogue I, has remained unknown. An edition of it which I undertook recently will shed some new light on why Lenz in the 1770s was drawn to the English tradition of satire embodied by Pope.3 This is a question not merely of biographical or psychological interest but of the dynamics of cultural transfer and in particular of the migration of traditions of satire from one culture to another. Before I discuss the translation, I want to look at what drew Lenz so strongly to Pope from his early days as a student in Königsberg and throughout his most productive period as a writer. By the time Lenz began reading Pope’s poetry , the heyday of the English poet’s popularity in Europe had passed. This popularity had been based mainly on the impact of his philosophical poetry , particularly of An Essay on Man, translations of which had first appeared in French , then into German ( at first via the French ) and finally from English into German ( over twenty times in the course of the century ). Pope was seen as the philosopher-poet who presented the image of an ordered world that was

1 Alexander Pope : “Letter to Walsh July 2 , 1702”. The Twickenham Edition of the Poems of Alexander Pope , 11 vols., ed. by John Butt. London : Methuen, 1961–69. Reprinted London : Routledge , 1993 , abbreviated as T, here T 1 , 223. 2 Lenz probably read Goldsmith , Fielding and Sterne later. A Letter to Salzmann of 31 August 1772 has a reference to the first two writers. Jakob Michael Reinhold Lenz : Werke und Briefe , ed. by Sigrid Damm , 3 vols , München : Hanser , 1987. Abreviated as WuB, followed by volume and page number. Here WuB 3 , 265–267. Lenz’s Der Landprediger , which has echoes of The Vicar of Wakefield , was written in 1777. The Anmerkungen übers Theater ( begun in Winter 1771–1772 ) has references to Bunyan, Milton, Richardson, Fielding , Shakespeare and Addison. 3 Alexander Pope : Epilog zu den Satiren. Dialog I. In der ungedruckten Übertragung von Jacob Michael Reinhold Lenz , mit der ersten deutschen Übersetzung von Johann Jakob Dusch und einem Nachwort herausgegeben von John Guthrie ( K leines Archiv des 18. Jahrhunderts , Bd. 46 ), St. Ingbert : Röhrig , 2015.

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pre-ordained by God , or as a deist , or as something more of a fatalist , given that the much discussed key-line , ‘Whatever is , is right’ ( l. 294 ) could , if taken out of context , be thus construed. Although Pope’s satirical works , especially the Rape of the Lock , had its admirers on the continent , it was not the element of the criticism of society that gave his œuvre its great attractiveness there. I turn firstly to one of Lenz’s earliest works. His first published poem , Die Landplagen, written at the age of 19 and dedicated to Catherine II of Russia , is based on events in his native Livonia. It depicts war , famine , plague , flood , fire , and earthquake.4 As a critic pointed out at the time , Lenz did not experience all these events at first hand ; they are re-imagined biblical events and presented in his poem as God’s punishment. Though the poem itself owes nothing to Pope ( rather one finds echoes of Thomson and Young as well as Klopstock ), criticism of it establishes a connection. The Rector of the Cathedral School in Riga , Gottlieb Schlegel , handed down a verdict on the poem that was harsh. It was conveyed to Lenz in a letter from his former teacher Johann Martin Hehn. Lenz is reported to have stated in reaction to the criticism : “daß er [ i. e. Lenz ] sich bald zur kritischen oder antikritischen Parthey schlagen werde”.5 Schlegel thought that if Lenz did get involved in the critical disputes it would be the end of his theology.6 Heinrich Bosse suggests that this remark and other comments in Hehn’s letter are allusions to the critical war that had begun to rage in the literary journals , initiated by Christian Adolf Klotz ( 1738–1771 ), who set out to “criticise the critics”,7 followed by contributors to the journal Der Antikritikus ( 1768–1769 ) who attacked Lessing , Nicolai , and writers of the Berlin Enlightenment. One of the contributors to the Antikritikus was Friedrich Just Riedel ( 1742–1785 ), who corresponded with Hehn, the author of the critical remarks on Lenz’s poem.8 In this debate , satire was defined as a form of literary polemics that were “sinnreich geschrieben”.9 Riedel criticised the Antikritikus for its biting personal satires.10 Its contributors did not have the skill of a Pope or a Swift to mock other writers.11 For Riedel , the spirit of satire resided in the ability to be critic or anti-critic :

4 “Die Landplagen, ein Gedicht in sechs Büchern : nebst einem Anhang einiger Fragmente” ( 1769 ). WuB 3 , 32–82. 5 Heinrich Bosse : “Lenz in Köngsberg”, in : Die Wunde Lenz. J. M. R. Lenz. Leben, Werk und Rezeption, ed. by Inge Stephan und Hans-Gerd Winter , Bern : Lang , 2003 , 208–239 , here 222. 6 See Herbert Kraft : Lenz. Eine Biographie , Göttingen : Wallstein, 2015 , p. 39 , who quotes Schlegel : “Ist das wahr , so bedauere ich seine Theologie.” See Peter Müller : J. M. R. Lenz im Urteil dreier Jahrhunderte , Bern : Lang , 1995–2005 , 4 , 35–36. 7 Bosse , “Lenz in Königsberg”, 223. 8 See Bosse : “Lenz in Köngsberg”, 223–224. 9 Friedrich Just Riedel : Briefe über das Publikum ( 1768 ), ed. by H. Zeman, Vienna 1973 , letter no. 6 , p. 66. Quoted by Bosse , “Lenz in Köngsberg”, 224. 10 “Der Antikritikus”, in : Philosophische Bibliothek , ed. by Friedrich Just Riedel. Erstes Stück , Halle : Gebauer , 1768 , 84–91. 11 “Der Antikritikus”, 88.



Lenz, Pope and Satire 

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Oft spielt er den Antikritikus Und ( mit Erlaubniß ) auch manchmal den Kritikus.12

By saying that he might join either the critical or anti-critical party , Lenz is indicating that he wanted to become a critic of society , for which satire was to be the most appropriate vehicle. One of the key issues of satire that had erupted earlier and which is reflected in the entry in Zedler’s Universal-Lexikon is whether or not satire should name and shame individuals.13 In the critical debate on this matter Pope’s satire was to offer an unequivocal answer. Furthermore , by embracing satire , Lenz was rejecting the kind of descriptive poetry based on biblical themes that he had written with Die Landplagen. This change of strategy is reminiscent of Pope’s rejection of his juvenilia , which consisted largely of pastoral poetry , as he describes this process in the Epistle to Dr. Arbuthnot ( Prologue to the Satires ): who could take offence , While pure description held the place of sense ? ( v. 148–149 )

Lessing refers to this passage in Chapter XVII of his Laokoon ( 1766 ) in his review of contemporary descriptive poetry in Germany. Lessing therefore , in the decade before Lenz wrote his major works , was embracing Pope as a satirist and well aware that satire was capable of giving offence. In his early period Lenz was not only reading Pope but also imitating and translating his works as he formulated his views on writing. In 1770 he wrote Belinde und der Tod , the model for which is clearly Pope’s Rape of the Lock ( 1712 ).14 The situation in Lenz’s Belinde und der Tod is similar to that in Pope’s Rape of the Lock : we find ourselves in the bedroom of a fashionable young lady ( Belinde ) as she is visited by supernatural spirits. The action is transferred to somewhere in mid-eighteenth-century Germany ; contemporary German writers are alluded to and form the target of satire. Thus Gerstenberg’s Tändeleyen are to be found on Belinde’s bedside table. Lenz’s satire embraces the cult of imitations of Pope. He uses the Popean technique of footnotes as part of the satire , but unlike Pope , he changes perspective ( Chorus and Amor interrupt the narrator ) and switches from prose to verse. Lenz gives more prominence to , and personifies , Death

12 Friedrich Just Riedel : Briefe über das Publikum , 66. Quoted by Bosse , “Lenz in Köngsberg”, 224. 13 See Bosse , “Lenz in Köngsberg”, 224 , who quotes from Johann Heinrich Zedler’s Grosses vollständiges Universal-Lexikon, vol. 34 , Leipzig , Halle 1742 , col. 23 : Ancient satire is criticized which “die Personen, die sie durch die Hechel gezogen, mit Namen genennet”, but satirists are praised “wenn sie bey Durchhechelung einer groben Narrheit , auch zuweilen den groben Narren ein wenig mitgetroffen [ haben ]” ( col. 238 ). 14 The work remained unpublished until 1988. [ Jakob Michael Reinhold Lenz ]: Belinde und der Tod. Carrikatur eine[ r ] Prosepopee , Faks. der Hs. mit Transkription, ed. by Verena Tammann-Bertholet and Adolf Seebass , Basel : Erasmushaus , 1988.

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( alluded to briefly at the end of Pope’s poem ), but Death is conquered in Lenz’s poem by the poet ( with the help of Amor ), who himself is in love with Belinde. Even with Amor’s help , the poet cannot win Belinde , and awakes to find it has all been a dream. Lenz has shifted the focus of Pope’s satire from an indictment of fashionable high society to the locus of the poet’s imagination, creating a poetological poem , in which ambition is at odds with reality ( “noch schallte nie auf dem Parnaß dein Name”, p. 21 ). In his first satirical poem Lenz is attempting to situate himself as a writer in relation to his own time and exploring his inner world. The close connection between his own situation as a writer and his satirical aims is a recurring feature of his writings and one for which he will find further inspiration to explore in Pope’s works. Lenz’s reference to joining the critical or anti-critical party can also be taken as a reference to another work of Pope’s , the Essay on Criticism , which had proved controversial when it appeared in 1711. According to Herbert Kraft , it was Kant quoting Pope in his lectures to demonstrate his opposition to contemporary metaphysics that stimulated Lenz to translate the English poet’s work.15 Lenz translated the Essay on Criticism while in Königsberg and presented his translation to Friedrich Nicolai and Karl Wilhelm Ramler in Berlin on his way to Straßburg.16 Nicolai was not impressed with the translation, it was never published and the manuscript is lost. The translation was apparently into alexandrines , which ( one must say speculatively ) would hardly have been appropriate , given the elevated nature of the metre , and which would probably have failed to convey the succinctness and directness of the heroic couplets. Indeed , Pope himself had satirised the alexandrine in his poem.17 It brings into focus the problem of which metre to use to translate poetry which in its native country had been superseded. There was also the fact that the neo-classical principles which Pope presents in this “treatise” as he called it , which were such that “not one gentleman in three score even of a liberal education can understand”,18 were beginning to be superseded by the aesthetics of the Geniezeit. Erich Schmidt stated baldly in 1878 that Lenz’s taste in undertaking the translation of the Essay on Criticism was antediluvian.19 He may not however have appreciated what attracted Lenz to the work. It is not a satire , though it includes satiric verses. It can be seen as a work of criticism directed against the critics. These are important aspects of it that Lenz found congenial and which connect to his developing views on writing.

15 Kraft : Lenz. Eine Biographie , 50–53. 16 Friedrich Nicolai : “Berichtigung einer Anekdote den Dichter J. M. R. Lenz betreffend.” ( Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks Vol. 2 / 1 , 1796 ). Quoted in : Matthias Luserke ( Ed. ): Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung , Hildesheim : Olms , 1995 , 12–13. 17 “A needless Alexandrine ends the Song , / That like a wounded Snake , drags its slow length along.” ( ll. 356–357 ; T 1 , 280 ). 18 T 1961 , 203. A prose translation had been penned by Dusch in 1750s , one in verse by Eschenburg appeared in 1795. 19 Erich Schmidt : Lenz und Klinger. Zwei Dichter der Geniezeit , Berlin : Weidmann, 1878 , 6.



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Pope argued in the Essay on Criticism that despite the eternal and immutable laws of nature , the circumstances which produced the classics of Greece and Rome did not exist in England , but that works of art which reflect English society are possible ( T 1 , 211 ). “Against French influences there are posed the special features of English character and the native literary tradition : if Pope pretends to despise the ‘brave Britons’ who reject the ‘Rules’, he contrives still more to despise the French for keeping them’ ( T 1 , 211 ).20 Pope articulates here ideas that are taken up by Lenz , Herder and others in the 1770s : It is a form of historical thinking which sees literature as the expression of a nation’s spirit in a particular age. In the creation of this literature it is not only rea­son and the rules which dictate what that literature should be as much as the poet’s personality and feeling. As Pope states “Some Beauties yet , no Precepts can declare , For there’s a Happiness as well as Care.” ( ll. 141–142 ).21 The second point emerging from the Essay on Criticism is that although it does not mainly present a theological argument , it is clear that belonging to Pope’s view of Nature is the conception of a cosmos which , in its order and regularity , reflects the order and harmony in the Divine Mind of its Creator ( see T 1 , 219 ). Though Pope was Catholic and Lenz Protestant , they shared this belief. Behind it is the Leibnizian notion that the world was created by God the way it was meant to be. Both were also convinced that the world as it is in need of improvement and that it is the writer’s task to voice criticism. The mode of criticism is satire , which is dependent on wit. Religious belief and the writer’s task of criticism are not at odds. Thus the Essay on Criticism , which begins as a poetics , develops more and more into a satirical work. Pope is critical of contemporary poetry , of taste generally , of the Church and of politics. He does not hesitate at all to allude directly to individuals. To give an example : one of his contemporaries , John Dennis , felt attacked and wrote a pamphlet in response.22 The allusions to real events and real people is one of the distinguishing hallmarks of Pope’s satire and became increasingly important as his career proceeded. It made him many enemies , but that was a risk he was more than prepared to take , and he verbalizes this idea in the Essay on Criticism when he states “Make use of ev’ry Friend – and ev’ry Foe” ( l. 214 ). Pope saw no point in what was called ‘general satire’; his satire gained its force from the energy with which individuals were attacked. He , as satirist , was the self-appointed scourge of a living society.

20 See William Empson : “Wit in the Essay on Criticism”, in : Hudson Review 2 : 4 ( 1950 ), 559–577 , here 577. 21 The editors of the Twickenham edition further note echoes of Bacon and Rapin, and of Boileau ( “brave Disorder” ). 22 The full title of Dennis’s pamphlet is : Reflections Critical and Satyrical , upon a late Rhapsody , call’d an Essay on Criticism. Having been “attack’d” in his “Person”, in a “clandestine manner with the utmost Falshood and Calumny”, and “without any manner of ‘Provocation’”, Dennis states in his Preface that he feels justified in hitting back , making amends , he adds , for “the ill-nature of my Criticism , by the Allurements of my Satyr.” ( T 1 , 206 ).

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These are , I believe , the main reasons why Lenz was so strongly attracted to Pope. In the period before Lenz began to write , general satire had continued to be popular. Gottlieb Wilhelm Rabener , for example , had defended it at length.23 To a writer like Lenz it must have appeared inoffensive , innocuous and ineffective. Thus Rabener is satirised in Lenz’s Pandämonium Germanikum. For Lenz , there was no contradiction between religious belief and open criticism which shamed individuals. In one of his sermons of 1773 he writes : Wir finden unter keiner Sekte in der Welt größere Verbrecher , größere Scheusale , als unter den Christen. Und das wird alles ganz treuherzig nicht den Individuen, nicht den Ursurpateurs des christlichen Namens zugeschrieben, sondern der Religion und ihrem Urheber. ( WuB 2 , 567 )

One can imagine in the light of this statement that Lenz would not have hesitated to make enemies. Indeed , as we know from the reception of some of his works , he did. I will return to this question below. Although Pope is not mentioned explicitly in Lenz’s Anmerkungen übers Theater , his ideas are ever-present. Behind Lenz’s advocacy of Shakespeare , which occupies considerable space in the Anmerkungen, lie Pope’s veneration of the English dramatist and Pope’s own poetics. Lenz attacks over-reliance on the rules , particularly as he saw this in French neo-classical drama and argues that there is but one of Aristotle’s principles that should remain paramount for the modern dramatist : the imitation of reality. The reflection of social reality is the dramatist’s first task. Lenz however quotes another writer closer to his time in order to substantiate this claim , the novelist Laurence Sterne. The passage quoted is from Tristram Shandy , in which Sterne talks of the superhuman capability of intuition ( Lenz’s term is “Anschauen”, WuB 648 or 649 ). Lenz is endorsing here the concept of the writer’s Genie that was gaining currency. For Lenz , the dramatist as Genie is impelled by inspiration and passion and by his own point of view : “Er nimmt Standpunkt – und dann muß er so verbinden” ( WuB 2 , 648 ). Writing of Shakespeare’s Hamlet , Lenz states that it is the dramatist’s interest , that is to say , his personal attitude towards real-life characters , which it is the poet’s main task to uphold.24 Lenz moves on to argue that comedy is an essential ingredient in the writer’s depiction of society and that the dramatist must himself be an actor : “[ ein ] geschickter Nachahmer [ ist ] ein guter Komödiant” ( WuB 2 , 650 ). He jibes at the “schöner Geist” who has recourse to wit for its own sake and is not able to reproduce that reality since he does not possess the capability of “Anschauen” ( 648–649 ). Overall , Lenz can be seen in the Anmerkungen applying principles from the Essay on Criticism to drama. Pope attacks over-reliance on the rules derived from the ancients , derides pedantry and ­false , “pretending Wit”

23 Gottlieb Wilhelm Rabener : Sammlung satyrischer Schriften, Erster Theil , Leipzig : Dyck , 1751. Vorbericht. 24 Lenz : Von Shakespeares Hamlet ( WuB 2 , 739 ): “das Interesse ist der große Hauptzweck des Dichters dem all übrigen untergeordnet sein müssen.”



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( l. 53 ). For Pope too , imitation is the key : “First follow NATURE , and your Judgment frame” ( l. 68 ), and poetic intuition cannot be learned : “true Genius is but rare”, it is derived “from Heav’n” ( ll. 11 , 13 ), and the passion and bias of the writer are the wellsprings of his creation, since his own character enters into his writing ( “Make use of ev’ry Friend – and ev’ry Foe” ). In Pope’s satire the theatrical element is ever-present. The poet himself is always there , in person, engaged in dialogue with the reader or interlocutor. Indeed , in some of his works Pope has been described as a heroic clown, a description that would be apt for Lenz too.25 At the time when he was working on his translation of Pope , Lenz was lecturing to the Deutsche Gesellschaft in Straßburg about language. He believed that the German language had strengths and weaknesses. It needed to be refined : it had rich resources but was poor in other respects ; it had been little worked with ( bearbeitet : used as a tool of expression ); as a language of the people it should draw on all dialects , not just one ( this being an attack on the Gottsched school , which claimed the Upper Saxon-Meissen dialect as the yardstick ); it also had much to gain from other languages : from the roundness of Greek , the strength of Latin, the depth of English , the lightness of touch of French. It is interesting that he singles out depth as a quality of English , bringing to mind the line from the Essay on Criticism : A little Learning is a dangerous Thing ; Drink deep , or taste not the Pierian Spring ( ll. 215–216 )

The qualities that Lenz wished to cultivate in German were brevity and succinctness ( WuB 2 , 772 ), laconicism and economy as opposed to garrulousness , and a natural language as opposed to one that paraded as erudite. In another lecture ( Über die Vorzüge der deutschen Sprache , 1775 ; WuB 2 , 777–782 ) Lenz emphasised the advantages of the German language over French : he saw that the flexibility of syntax in German was conducive to the quality of brevity he admired. In the Anmerkungen übers Theater Lenz expresses his admiration for the succinctness of Shakespeare’s dramatic language , which he contrasts with the language of Voltaire’s characters , who constantly bubble like champagne ( WuB 2 , 655 ). At another point Lenz contrasts the long-windedness of Voltaire’s style with the pithiness of Pope’s poetic language. It was this ideal of succinctness that Lenz aimed for in his translations. He translated Shakespeare’s early comedy Love’s Labour’s Lost ( as Amor vincit omnia ), a play that Wieland had not engaged with. It is a play brimming with satire : of courtly life and of pretentious learning generally , full of wordplay and wit. He translated Coriolanus , abridging the play so as to focus mainly on the roughness and authenticity of its hero , rather than emphasize the fall from heights which the Aristotelian tragedy

25 Thomas R. Edwards : “Heroic Folly : Pope’s Satiric Identity”, in : Pope : Recent Essays , ed. by Maynard Mack and James A. Winn, Brighton : Harvester , 1980 , 565–584 , here 571–572.

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encapsulated.26 He was keener to convey the roughness and authenticity of the hero rather than the fall from heights which the Aristotelian tragedy encapsulates. Another of Lenz’s essays on language Über die Bearbeitung der deutschen Sprache culminates in comments about satire ( WuB 2 , 775 ). Socrates had despised comic writers who had taken revenge on him by using natural language. In mid-eighteenthcentury Germany a learned , philosophical language had gained the upper hand , which meant that the heart had gone out of the language. Only revivifying it through wit ( Witz ) could help to save it. Lenz introduces a historical perspective with a view to the future course of satire in German. False satire is the product of a language on its last legs , a language without true poets. After Boileau in France and Pope in England , satire declined. By contrast , true satire , which was needed for the present had to remain true to reality , used natural language in order to attack vice and immorality. Behind Lenz’s comments on the language of satire there is an attack on Wieland , whom he considered to have stolen Socrates’ cloak , manipulated language and perverted morality. Wieland’s style of satire gave too much leeway to hedonism and not enough to the idea of the perfectibility of man. That basic Enlightenment tenet grounded in firm Christian principles Lenz shared with Pope , whom he contrasted with Wieland , endorsing him as the ideal satirist. Pope possessed English depth , moral seriousness , used language assisted by wit and a style that was direct and succinct ( WuB 2 , 775 ). In Lenz’s eyes Pope was a realist and a patriot who had given expression to the English national character. Lenz’s comments on the decline of satire in the Bearbeitung essay deserve closer scrutiny.27 If satire , as he states , tends to be the last shoot ( Nachschößling ) of a dying language , a language which no longer has poets , and if after Boileau and Pope poetry in England and France could scarcely revive itself , what is the future for satire ? Satire reduces the imagination to reason and introduces , if it is exaggerated , a false shame which inhibits the free rein of language. Happy the land , he concludes , where satire only targets depraved morals and false taste is only brought to recognition of itself through the solemn silence of wisdom. Lenz here locates the paradox of the satirist’s art which is that if his work achieves its moral aim , it will become in a sense redundant. Lenz was therefore ahead of his contemporaries in recognising that Pope’s satires carried the form to great heights. As Ruben Quintero has recently written : Pope , setting aside his collaborative works as a Scriblerian author , as a poet attains such a highwater mark in the quality and the scope of his verse satire that one may justifiably wonder if such

26 In a letter to Herder , 28 August 1776 , WuB 3 , 333 , Lenz refers to himself as “den stinkenden Atem des Volks” , thus identifying himself with the plebeians whom Coriolanus despises. Cf. Junius Brutus’s description of Coriolanus ( Coriolanus , 2. 1.  232 ): “Nor , showing ( as the manner is ) his wounds /  To th’ people , beg their stinking breaths.” 27 WuB 2 , 775. This point was made in discussion by Mark-Georg Dehrmann.



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individual achievement – and , with his contemporaries , such collective achievement – in satire will ever be repeated within another span of a half-century.28

By the same token, verse satire continued to thrive in England after the death of Pope. For , “by the middle of the eighteenth century satire had become a literary habit.”29 Satirists also turned their talents to other genres : Fielding in his novels , or Swift in his faux-travel book , Gulliver’s Travels ( 1726 , 1735 ) or John Gay , in The Beggar’s Opera ( 1728 ). Lenz was surely aware that though one type of satire had declined , another could grow in its place , appropriate to his own age. His realistic dramas would be the proof of this. This form of satire succeeds in revivifying the language by unmasking dead language and decaying morals and by promoting social justice. When he speaks of the over-reliance of satire on reason, Lenz may be referring to the element of reason in Pope’s satires and a theodicy that was reliant upon reason. The element of reason can be seen as determining the formal quality of satire since it always led the reader by poetic means towards the right conclusion ( “Whatever is , is right” ). Pope however also “satirizes more than any excesses of particular contemporaries in mathematical or abstract reasoning”,30 and without the element of reason and reasonableness he injects into his own satire , it would have been far less memorable and effective. Lenz may also be thinking of the German satire of the Enlightenment which was far narrower and which he rejected for an over-reliance on reason. The element of feeling and the poet’s point of view , which he defends so vociferously , had become more justifiable and important in Lenz’s time , though Lenz is far from rejecting reason and normative stance outright , which satire can never do. It will be clear from this why Lenz wanted to translate Pope into German. He chose to translate one of Pope’s lesser-known satirical works. It was a late poem , one of the two Epilogues to the Satires , the importance of which was not generally seen in England until much later. In it , Pope is at the height of his satirical and poetic powers , he stands up against corruption and vice in public life and does not hesitate to attack individuals. It is a searing indictment of decline of morality and combines this with self-defence and reflection on the art of the satirist. There had been only one translation previous to Lenz’s , two decades before , in the vein of a routine and literal translation, by Johann Jakob Dusch , who had translated all Pope’s works into prose ( including the footnotes and thus not reader-friendly ; there are errors of translation, e.g.“Rollenmeister” for “Master of the Rolls” ).31 Lenz also translates into prose , but aims to convey more the spirit of the original than Dusch was able to do. He no doubt felt that it would have been

28 Ruben Quintero : “Pope and Augustan Satire”, in : A Companion to Satire , ed. by Ruben Quintero , Oxford : Blackwell , 2007 , 215. 29 James Sutherland : English Satire , Cambridge : Cambridge University Press , 1958 , 68. 30 Ruben Quintero : “Pope and Augustan Satire”, 227. 31 See Alexander Pope. Epilog zu den Satiren , ed. Guthrie , 75–76.

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pointless to imitate the heroic couplet in German. The use of the alexandrine too , would have been regressive , and the native German Knittelvers , often employed for satire in the 1770s , would have Germanized the content too obviously. So prose was the obvious choice if the import of the satirical message was to be conveyed effectively. And indeed because he is able to do this , aiming for naturalness , the prose of his translation acquires a rhythmic intensity which conveys something of the energy as well as the bright and social tone of easy conversation that has been seen as the hallmark of Pope’s style.32 Lenz is particularly good at translating metaphors which capture Pope’s meaning in a compressed way , for example , “spanische Wand” ( 11 , 19 , 85 )33 for “screen” to convey duplicity in the world of politics , or “ganz mit auswärtigem Gold überschmiert” ( 15 , 64 ) for “all liv’ry’d o’er with foreign Gold”; “well-whipt cream of courtly Sense” becomes “ganze geschäumte Milchkreme von Hofwitz” ( the culinary metaphor is retained , the translation is rhythmically striking , using alliteration ; 13 , 21 , 85 ). The translation is at its best where strong emotions are in play and personal energy is conveyed. Lenz’s translation has some weaknesses. His English was self-taught and derived mainly from books ; he has missed some of the subtleties of Pope’s conversational tone. He omits certain passages which may have been too difficult for him or where a dictionary may have been of limited use ; he mistranslates certain words and passages , which disturbs the flow of the argument. In some cases the translation is ingenious in skirting around problems of cultural transfer. Although he will have found , for example , the meaning of the word “Metropolitans” as “Erzbischoff” and “Oberpriester” in a mid eighteenth-century English to German dictionary , to use the German would not have given no sense of the role of the Christian Church in London life which Pope was attacking.34 For Pope’s “Metropolitans”, Lenz uses the English word ( which Dusch translates as “Metropolitane” ),35 thereby resorting to an Anglicism , on the plausible grounds that there was no equivalent for the concept of the capital city as a metropolis in the German-speaking lands ( 14 , 24 , 25 , 42 , 62 , 63 ). At the same time , this particular word illustrates the complexity of translation in cultural transfer. The society of Augustan England was a rapidly advancing metropolitan society in which middle-class readers were fashioning a new identity. The society in which Lenz lived in eighteenth-century Germany was backward and absolutistic and the satirical reference to “Metropolitans” would have have been difficult to contextualise. It illustrates the problem of transferring satire from one culture to another.

32 Empson : “Wit”, passim. 33 For a more detailed analysis of Lenz’s translation, see the “Nachwort” to my edition of Lenz’s translation : Alexander Pope. Epilog zu den Satiren, ed. Guthrie , 49–97. The page numbers in brackets here refer to this edition. 34 Nathan Bailey und Theodor Arnold : A compleat English dictionary , oder vollständiges EnglischDeutsches Wörterbuch : nebst einem Anhang , Leipzig : Frommann, 1761 , 416. This is a quadro-lingual dictionary , which gives first the English , followed by the French , Latin, then German equivalents. 35 See Alexander Pope. Epilog zu den Satiren, ed. Guthrie , 62–63.



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This is perhaps one reason why Lenz decided not to publish his translation. He may well have been dissatisfied with it or felt that its appeal was too restricted or that he needed to play along with the political system rather than attack it. His enthusiasm for Pope’s satire however lasted throughout his most productive period ( up until the end of 1776 ). He was keen that there should be a writer who could lash like Pope in German-speaking lands. Pope’s scourge , his whip , was hanging on the wall : “Wer weiß , wer sie einmal in Deutschland schwingt” ( WuB 2 , 701 ). Lenz tried to use this whip in some of his own works , to depict conditions – social , political and cultural – openly , unashamedly and from his own point of view in his native country ( both Livonia and other parts of the German-speaking territories ). This evidently seemed more produc­ tive to him than following the tradition of satire associated with Plautus with which he experimented by translating Plautus’s comedy. His most successful social dramas are based on events that he experienced himself.36 Thus in Der Hofmeister the fate of the private tutor and of the von Berg family resemble what Lenz experienced in Livonia. So much so in fact , that the play caused outrage because an aristocratic family saw itself attacked.37 The same is true of Die Soldaten, the play he sent to Herder on 23 July 1775 with the comment that it “mein halbes Dasein mitnimmt”,38 in which various persons from Lenz’s circle of acquaintances , including his employer , the elder Baron von Kleist and the Duchess Sophie de la Roche are thinly disguised as characters in the play. It appeared anonymously and Lenz tried to persuade the reading public that Klinger was the author. Although Lenz’s depiction of the aristocracy is ambivalent and sometimes careful ( thus he revised the final scene in order not to cast too negative light on the Duchess de la Roche ), there can be no doubt about the import of the sharply satirical scenes castigating its members and revealing their arrogance and narrow-mindedness. Lenz also directs his satirical weapons at the middle classes. Nicolai complained to Eschenburg about how Lenz had depicted the poet Karl Wilhelm Ramler as one of the soldiers in Die Soldaten which forced Ramler to turn to the publisher.39 The play is an attack on individual as well as social conditions. In his satirical depiction of contemporary German literary life , Pandämonium Germanikum , he and Goethe climb the mountain ( Goethe with much greater ease ) and pelt the insects below with dung. It is a paying off of scores and an attempt on Lenz’s part to position himself as writer. Scatological abuse was one of Pope’s favourite weapons , and as he said to Swift , “this poem [ The

36 See Egon Menz , who argues that Lenz was attempting modernize the ancient tradition of comedy. “Der verwundete Bräutigam. Über den Anfang von Lenzens Komödienkunst”, in : Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk , ed. by David Hill , Opladen : Westdeutscher Verlag , 1994 , 97–109. 37 “Den Stoff gab eine , in Livland vorgefallene scandalöse Begebenheit. Die Personen sind Liv- und Kurländer , von den ich Pätus und Bollwerk gekannt habe.” Georg Friedrich Dumpf , letter to Tieck of 20 April – 12 May 1821. Quoted in Müller , Lenz im Urteil dreier Jahrhunderte , 53. 38 WuB 3 , 329. 39 See Kraft : Lenz. Eine Biographie , 159.

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Dunciad ] will rid me of those insects”.40 The Pandämonium can be seen as Lenz’s Dunciad. As a preface to his dramolet he quotes the line from Juvenal that Pope often used : “difficulum est satyram non scriber”,41 and states : Ein Dunciadisch Spottgedicht Lohnt da weiß Gott der Mühe nicht.42

This is self-irony. Like Pope , he pretends to satirize satire before setting about writing it. But whereas Pope was sometimes accused of lashing out too much and from too great a height ,43 Lenz is more self-deprecating. He lacked the greater self-confidence of the English writer and this , added to the fact of political conditions in the German-speaking territories , especially the dependence on patronage – meant that there was not the same fertile ground for a sustained attack on the society in which he lived. Nevertheless , his most successful works are those in which he has adapted the aims of Pope’s satire to the literary conventions of his own age. After 1776 , Lenz was unable to further fulfil his ambitions as a writer of realistic dramas with satirical scenes. Mental illness intervened and he was unable to establish himself as a writer , though he expressed his ideas for social reform in a number of writings.44 In what is possibly the last poem he wrote , “Was ist Satyre” ( 1788–1792 , in Moscow ), he returns to the question of the definition of satire.45 This poem has been called a social satire in the vein of the Russian writers Novikov and Čulkov , in contrast to the type of satire approved of by Catherine II, which was not permitted to include personal attack ( “Satyren ohne Personenstachel” ).46 The poem’s argument is that satire distorts reality but such that it can be recognised ( “vorsätzlich gelogen … ein solcher Spiegel” ), it involves the person of the writer ( “von einem launigten Genie”, “Leidenschaft” ), to whom no blame can be attached ( “Ists denn des Messers Schuld , wenn ichs zum Mordschwerdt mache ?” ), it mixes both comedy and tragedy , attack and insult in the services of wisdom ( “diese Pflicht , die kränkt … zur Weisheit Pfade zeigen” ). Reason has not spread ; Lenz attacks the Freemasons and the Christians who are concerned with education of the young without knowing what passion is ; instead their minds are drilled for military service and they are sapped of humanity. In this poem , which is

40 T 2 , 481 ( March 23 , 1728 ). 41 Juvenalis : Satura I, V. 30. 42 Jakob Michael Reinhold Lenz : Pandämonikum Germanikum. Eine Skizze. Synoptische Ausgabe beider Handschriften, ed. by Matthias Luserke and Christoph Weiß , St. Ingbert : Röhrig , 1993 , 9. 43 The Dunciad “affords perhaps the best specimen that has yet appeared of personal satire ludicrously pompous” (  Samuel Johnson : The Life of Pope , New Haven : Yale , 1958 , 399 ). 44 See Jakob Michael Reinhold Lenz : Schriften zur Sozialreform. Das Berkaer Projekt , ed. by Elystan Griffiths and David Hill , Frankfurt a. M.: Lang , 2007 , and Jakob Michael Reinhold Lenz : Moskauer Schriften, ed. by Heribert Tommek , Berlin : Weidler , 2007. 45 WuB 1 , 234–239. 46 See Kraft : Lenz. Eine Biographie , 354 , 407. See Lenz , Moskauer Schriften 1 , 24 ; 2 , 240.



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incomplete and disjointed , a potpourri of spontaneous reflections , one senses the despair of a writer in adverse political circumstances ( which existed in Russia as they did in Germany ) in conflict with his determination to continue writing satire. Surprisingly perhaps , it is written in verse. But it is not so surprising if one considers Lenz’s debt to Pope. Indeed , the verses are occasionally the kind of short rhyming iambic verses that are reminiscent of Pope’s couplets : Ein solcher Spiegel ist die Poesie Von einem launigten Genie.

Johannes Görbert und Helmut Peitsch

Georg Forsters Positionen zu James Cook Vom Konkurrenten zum Nachlassverwalter Pacific Experts im späten achtzehnten Jahrhundert Georg Forsters ( 1754–1794 ) Werkbiographie fügt sich in einem ganz wortwörtlichen Sinne in das Thema des britisch-deutschen Literaturtransfers im Zeitalter der Aufklärung ein.1 Forsters Anfänge als Schriftsteller liegen in London, seine ersten Veröffentlichungen erscheinen auf Englisch. Erst im Alter von 24 Jahren verlässt Forster Großbritannien und beginnt damit , von Ausnahmen abgesehen, ausschließlich auf Deutsch zu publizieren.2 Als ein, wenn nicht das Schlüsselerlebnis seines Werdegangs , das seine Karriere als gelehrter Autor sowohl initiiert als sie auch bis zum Schluss maßgeblich prägt , kann die zweite Weltumsegelung unter der Leitung des britischen Kapitäns James Cook ( 1728–1779 ) gelten.3 An dieser Forschungsexpedition beteiligt sich der junge Georg Forster von 1772 bis 1775 gemeinsam mit seinem Vater Johann Reinhold ( 1729–1798 ) als Naturwissenschaftler. Nachdem sich Forsters Vater nach der Rückkehr von der Reise mit der britischen Admiralität über die Gestaltung des Expeditionsberichts überwirft , entscheiden sich die beiden Autoren dazu , ihren Bericht über die Reise nunmehr in Eigenregie zu veröffentlichen und unter dem Namen des rechtlich ungebundenen Georg Forster erscheinen zu lassen.4 Mit diesem reiseliterarischen Debüt , das in ganz Europa Furore macht , begibt sich der jüngere Forster somit in Konkurrenz zur offiziellen

1 Dieser Beitrag führt Überlegungen fort , die zuerst in Johannes Görbert : Die Vertextung der Welt. Forschungsreisen als Literatur bei Georg Forster , Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso , Berlin et al.: De Gruyter , 2014 , veröffentlicht und anlässlich des Panels zum „Britisch-Deutschen Literaturtransfer“ bei den Studientagen der Friedrich Schlegel Graduiertenschule seit Oktober 2014 gemeinsam weiterdiskutiert wurden. Der Epilog stammt von Helmut Peitsch , der vorgängige Text von Johannes Görbert , wobei zahlreiche Anregungen eingearbeitet wurden. 2 Zitate aus den nachfolgend untersuchten Texten Georg Forsters richten sich nach der Werkausgabe des Akademie-Verlags ( 1958 ff. ) und werden mit der gängigen Sigle „AA“ sowie der Bandzahl in römischen und der Seitenzahl in arabischen Ziffern im laufenden Text zitiert. 3 Vgl. unter den Monographien zu Forsters Lebenslauf zuletzt Ludwig Uhlig : Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers ( 1754–1794 ), Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht , 2004. Überblicke über die reichhaltige Forschungslandschaft zu Forster verschaffen die jährlich erscheinenden Beiträge der Georg-Forster-Studien ( 1997 ff. ) sowie Helmut Peitsch : Georg Forster. A History of His Critical Reception, New York et al.: Lang , 2001. 4 Vgl. aus der Forschung zu Forsters Reisebericht zuletzt die umfangreichen Qualifikationsschriften von Yomb May : Georg Forsters literarische Weltreise. Dialektik der Kulturbegegnung in der Aufklärung , Berlin et al.: De Gryuter , 2011 und Takashi Mori : Klassifizierung der Welt. Georg Forsters Reise um die Welt , Freiburg : Rombach , 2011.

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Darstellung der Weltumsegelung , die Cook fast zur selben Zeit unter seinem eigenen Namen publiziert.5 Als der erhoffte durchschlagende Erfolg mit diesem Werk für sie ausbleibt , kehren beide Forsters nacheinander London den Rücken, um stattdessen als Gelehrte im deutschsprachigen Raum Fuß zu fassen. Hier gelingt es ihnen, anders als zuletzt in Großbritannien, sich als wissenschaftliche Ansprechpartner allerersten Ranges für das Thema der europäischen Entdeckungsreisen im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert zu etablieren. Besonders der jüngere Forster avanciert ( mit den Worten Leslie Bodis ) zum „Pacific Expert“ für ein deutschsprachiges Lesepublikum , welches gebannt die Expeditionen der europäischen Kolonialmächte in fernen Weltgegenden verfolgt.6 Spätestens im Anschluss an den tragischen Tod Cooks während seiner dritten und letzten Ausfahrt im Jahre 1779 verändert sich folglich die Strategie des einstigen schriftstellerischen Rivalen. Wo Forster zunächst alles daran setzt , seinen eigenen Reisebericht vorteilhaft von der Version Cooks abzuheben, profiliert er sich nunmehr als Nachlassverwalter , der das Erbe des britischen Navigators wie kaum ein anderer Autor neben ihm angemessen zu würdigen versteht. Mehr als auf historische Faktentreue richten sich Forsters Anstrengungen in diesem Zusammenhang darauf , die Figur des Kapitäns ganz im Sinne der eigenen schriftstellerischen Interessen zu modellieren.7

Forsters Rekurse auf Cook In diesem Beitrag soll der skizzierte Übergang von der schriftstellerischen Konkurrenz Georg Forsters zu James Cook zur prestigeträchtigen Pflege von dessen Erbe in seinen Details genauer betrachtet werden. Wir analysieren hierbei vor allem zwei Texte Georg Forsters , durch welche der angezeigte Paradigmenwechsel besonders deutlich sichtbar wird : Erstens die Vorrede zu „Johann Reinhold Forster’s [ … ] Reise um die Welt“ von 1778 ( AAII, 7–18 ), und zweitens die „Einleitung des Uebersetzers“ zu „Des ­Capitain Jacob Cook’s dritte Entdeckungsreise“ von 1787 ( AAV, 184–301 ). Bereits die Titel signalisieren, wie unterschiedlich die beiden schriftstellerischen Projekte ausfallen : Während der jüngere Forster mit dem ersten Text die Darstellung seiner Teilnahme an Cooks zweiter Weltumsegelung eröffnet , schaltet er den zweiten, weit umfangreiche-

5 Detaillierte Darstellungen dieser Streitigkeiten, die sich direkt an die Rückkehr von Cooks zweiter Weltumsegelung anschlossen, liefern etwa Robert L. Kahn in seinem Nachwort in AAI, 676–700 , Michael E. Hoare : The Tactless Philosopher. Johann Reinhold Forster ( 1729–98 ), Melbourne : Hawthorn Press , 1975 , 151–203 und Joseph S. Gordon : Reinhold and Georg Forster in England , 1766–1780 , Diss. masch., Duke University , NC, 1975 , 188 –264. 6 Vgl. Leslie Bodi : „Georg Forster : The ‚Pacific Expert’ of Eighteenth-Century Germany“, in : ders.: Literatur , Politik , Identität – Literature , Politics , Cultural Identity , St. Ingbert : Röhrig , 2002 , 29–54 [ zuerst 1959 ]. 7 Angaben über die Forschungsliteratur speziell zum Verhältnis Forsters zu Cook befinden sich im Einzelnen auf den nachfolgenden Seiten.



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ren Beitrag vor seine Übertragung der englischen Dokumentation von Cooks letzter Reise ins Deutsche. Im ersten Fall spricht er somit aus einer Position des mitreisenden Augenzeugen, im zweiten aus der Rolle des daheimgebliebenen „Experten“, der für ein deutschsprachiges Publikum nachfolgende Forschungsexpeditionen bzw. deren Protagonisten evaluiert. Diese Texte , bzw. ihre jeweils unterschiedlichen Rekurse auf die Figur Cooks , sollen nachfolgend auf die unterschiedlichen Strategien hin untersucht werden, mithilfe derer sich Forster als Reiseautor profiliert , positioniert und distinguiert. Im Anschluss an Prämissen etwa der Theorie des literarischen Feldes begreifen unsere Überlegungen daher Schriftsteller grundsätzlich als Rivalen auf einem hart umkämpften literarischen Markt , auf dem die Akkumulation von verschiedenen Formen von „Kapital“ ( ökonomisch , kulturell , sozial und symbolisch ) entscheidende Wettbewerbsvorteile sichert. Der Rückgriff auf eine entsprechende Metaphorik mit kämpferischen bzw. gar militärischen Begriffen soll jedoch nicht dazu verleiten, die Konkurrenz zwischen Forster und Cook etwa als eine Art „Duell auf Leben und Tod“ zu beurteilen. Vielmehr stellt sich , wie im Detail zu zeigen sein wird , für Forster stets die Doppelaufgabe , die eigenen schriftstellerischen Arbeiten gegenüber denen des Konkurrenten hervorzuheben, ohne dadurch die navigatorischen Leistungen Cooks zu schmälern : ein strategisches Wechselspiel zwischen Distanzierung und Annäherung.8 Da die Reiseschriften jedoch , wie Forster in seinen Briefen berichtet , besonders am Anfang seiner Karriere unter anderem seinen Lebensunterhalt zu sichern hatten, beinhaltet seine Auseinandersetzung mit dem britischen Kapitän durchaus auch eine gewisse existenzielle Dimension.9 Im Vordergrund steht jedoch der ( nachvollziehbare ) Wunsch Forsters , im Anschluss an seine Expedition mit Cook als Reiseberichterstatter bzw. -experte in der europäischen Gelehrtenrepublik des späten achtzehnten Jahrhunderts zu reüssieren. Mit der Annahme eines literarischen Marktes , der sich zwar in den verschiedenen Sprachräumen unterschiedlich gestaltet , aber dennoch einen gemeinsamen Rahmen für beide Reiseautoren bietet , grenzen sich die Überlegungen dieses Beitrags außerdem von einer Tendenz in einigen früheren Beiträgen zum Verhältnis zwischen James Cook und Georg Forster ab. Anders als die Forster-Studien etwa von Russell Berman oder Birgit Tautz kommen wir nicht zu dem Ergebnis , dass sich mit dem Kapitän in Diensten Großbritanniens und dem letztendlich in deutschsprachigen Regionen ansässigen Naturwissenschaftler ein nationaler Gegensatz manifestiert. Während für Berman Forster deutsche emancipatory reason verkörpert und Cook englische instrumental rationality , wird von Tautz eine These von Susanne Zantops Kolonialphantasien im vorkolonialen

8 Vgl. dazu ähnlich mit Bezug auch auf Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso Görbert : Die Vertextung der Welt , bes. 277–280 und 339–341. 9 Vgl. dazu zum Beispiel eine Stelle aus einem Brief Forsters an Friedrich Adolf Vollpracht vom 31. Dezember 1776 , in der Forster davon berichtet , wie ihn die Arbeit am Reisebericht und der damit verbundene Erfolgsdruck physisch und psychisch belasten ( AAXIII, 77 ).

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Deutschland ( 1999 ) auf den Übersetzer Forster und alle anderen deutschen Übersetzer außereuropäischer Reisen des späten achtzehnten Jahrhunderts so angewandt , dass sie ihm und ihnen zuschreibt : „[ They ] create images of non-Western cultures that lent themselves to setting Germans apart from their European counterparts“ [ … ] „Translators [ … ] expose the British imperial ideology as such and make Germans the guardians of humanity , Enlightenment , and [ … ] knowledge.“10 In beiden Fällen zeigt sich die Gefahr einer nationalen Homogenisierung , die den weitaus breiteren geteilten intellektuellen Horizont von Autoren und Lesern im Zeitalter der Aufklärung ausblendet. Zwar bleibt zu konzedieren, dass sich natürlich für den englischen und den deutschen Buchmarkt jeweils unterschiedliche Herausforderungen stellen, die Forster in seinen Texten auch reflektiert. Dazu zählt zuallererst die historische Konstellation, dass die deutschen Länder im Zeitalter der Aufklärung selbst keine Weltumsegelungen zu organisieren imstande sind , während Großbritannien auf dem Gebiet derartiger Aktivitäten eine Führungsrolle einnimmt.11 Dennoch schreibt Forster seinen Reisebericht zunächst auf Englisch für ein englischsprachiges Publikum ; und dennoch feiern die offiziellen Berichte von Cooks Reisen im Original und in ihrer Übersetzung auch im deutschen Sprachraum beachtliche Erfolge. Von getrennten, ja einander antagonistisch gegenüberstehenden Literaturen kann im Europa des späten achtzehnten Jahrhunderts von daher kaum eine Rede sein. Vielmehr finden Forster und Cook , wie zu zeigen sein wird , jeweils auf ihre Weise Resonanzböden in wechselnden kulturellen Umfeldern Europas , und zwar ohne als Repräsentanten einer restlos „deutschen“ bzw. „englischen“ Denk- und Schreibtradition aufzutreten.

Im Wettbewerb zwischen London und Portsmouth Ungeachtet aller oben geäußerten Kritik schätzt Berman die historische Grundkonstellation zwischen den beiden Reiseschriftstellern nach ihrer Rückkehr von der gemeinsam unternommenen Weltreise durchaus zutreffend ein. Er schreibt :

10 Birgit Tautz : „Cutting , Pasting , Fabricating : Late 18th-Century Travelogues and Their German Translators between Legitimacy and Imaginary Nations“, in : The German Quarterly 79 :2 ( 2006 ), 155–174 , hier 156 , 170. Russell Bermans Auseinandersetzung mit Cook und Forster findet sich im Kapitel „The Enlightenment Travelogue and the Colonial Text“ in seinem Buch Enlightenment or Empire. Colonial Discourse in German Culture , Lincoln, NE: University of Nebraska Press , 1998 , 21–64. Vgl. zur Kritik an Bermans Thesen auch die Rezension von Robert J.C. Young : „What was the German Empire ?“, in : Radical Philosophy 95 ( 1999 ), 48–51. Ähnlich dichotomisch argumentiert auch der Beitrag von Metin Toprak / Berna Köseoğlu : „Captain Cook’s Voyage Around the World. The First Steps of Globalization and the First Problems“, in : Globalization – Approaches to Diversity. Ed. by Hector Cuadra-Montiel. Online unter http ://dx.doi.org/10.5772/45836 , letzter Zugriff 15. Januar 2015. 11 Vgl. dazu grundlegend Urs Bitterli : Die „Wilden“ und die „Zivilisierten.“ Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung , München : Beck , 2004.



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So soon after their return from their years together at sea , we have to imagine Cook in Portsmouth and Forster in London, each seated before piles of white paper [ … ], scribbling hastily and copying out of diaries , each frantically hoping to be the first to publish an account of the sensational voyage. It appears that Forster won the race ; his text was probably published on 17 March 1777 , and Cook’s not until a month or so later. Nevertheless , the Admiralty had granted Cook all of Hodges’s illustrations at no cost , which of course rendered this text much more attractive and the profits presumably more handsome.12

Damit sind die publizistischen Rahmenbedingungen für die beiden Reiseberichte präzise benannt : Obwohl Forsters Reisebericht zuerst erscheint , ist Cooks Version seiner zweiten Weltumsegelung letztendlich auf dem Buchmarkt erfolgreicher , was maßgeblich an den beigefügten Kupferplatten des Expeditionsmalers Hodges liegt. Die entscheidende Frage , die auch Berman im Anschluss stellt , liegt darin, inwiefern die äußeren Rahmenbedingungen ihre Spuren in Forsters schriftstellerischer Auseinandersetzung mit Cook im Reisebericht hinterlassen haben. Ein genauerer Blick auf die Vorrede gibt dazu mehrere Aufschlüsse.13 Zunächst geht Georg Forster allein an dieser Stelle seines Reiseberichts genauer auf die erwähnte Kontroverse mit den Auftraggebern der Weltumsegelung ein, welche die Niederschrift des Texts an erster Stelle veranlasst hat. Es liegt dabei einerseits im strategischen Interesse der Forsters , Nutzen aus ihrer ( wenn auch letztlich konfliktreichen ) Affiliation mit der prestigeträchtigen britischen Admiralität zu ziehen. Andererseits ergibt sich für sie aber auch die Notwendigkeit , das eigene Schreibvorhaben vorteilhaft gegenüber dem Konkurrenzprodukt von Seiten der offiziellen Stellen abzuheben. Am Beginn der Vorrede entscheidet sich Forster zunächst für den Modus einer Lobrede auf die Leistungen Großbritanniens für die europäische Seefahrt , in denen er „die Wissenschaft als Siegerinn“ ( AAII, 7 ) personifiziert sieht.14 Als nächsten Schritt unternimmt es der Text , die zweite Reise Cooks , die „aus der edlen Absicht Entdeckungen zu machen [ … ] auf Befehl eines erleuchteten Monarchen, nach einem vollkommenen Plan“ und unter der Leitung des „erfahrenste[ n ] Seemann[ s ]

12 Berman : Enlightenment or Empire , 57–58. 13 Da sich dieser Aufsatz auf die James-Cook-Rezeption durch Georg Forster konzentriert , klammern wir die Frage aus , inwiefern auch Cooks Texte durch das schriftstellerische Wettrennen mit Forster beeinflusst wurden. Bermann vertritt dazu die wiederum diskussionswürdige Position, dass Cook sich darin als „simple Englishman“ im Unterschied zu den „intellectual foreigners“ Johann Reinhold und Georg Forster präsentiert , „who just happened to be his competitors in the business of producing literary travelogues for sale“ ( Enlightenment or Empire , 60–61 ). 14 In der englischen Version : „the triumph of science“ ( AAI, 9 ). Helmut Peitsch : „Zum Verhältnis von Text und Instruktionen in Georg Forsters ‚Reise um die Welt‘“, in : Georg-Forster-Studien 10 ( 2005 ), 77–123 , hier 80 , zeigt , dass in der Vorrede diese „Harmonie von Gemeinnutz / Wissenschaft und Ruhm / Regierung im selben Maße zweifelhaft [ wird ], wie der Text sie durch Enkomiastik zu überspielen sucht“: Agieren doch die Verantwortlichen der britischen Regierung durchaus nicht einheitlich bzw. ausschließlich im Sinne einer nicht profitorientierten Förderung der Wissenschaften durch Cooks Weltumsegelung.

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dieser Zeiten“ ( AAII, 7 ) durchgeführt wurde , als die Krönung dieser Aktivitäten auszuweisen.15 Die restlichen, „auf Kosten der Nation auserlesen[ en ]“ Protagonisten der Schiffsbesatzung erfahren als „zween geschickte Sternkundige ein Gelehrter , der die Natur in ihrem Heiligthum studiren, und ein Mahler , der die schönsten Formen derselben nachahmen sollte“ ebenfalls eine ausdrückliche Würdigung , die für einen kurzen Moment beinahe eine kollektive Autorschaft für den von Forster vorgelegten Bericht erwarten lässt : „Sie vollbrachten ihre Reise und sind jetzt im Begrif Rechenschaft von ihren verschiednen Entdeckungen zu geben“ ( AAII, 7 ).16 Auch der skizzierte Auftrag des Staates an Johann Reinhold Forster „eine philosophische Geschichte der Reise , [ … ] worinn er seine Entdeckungen [ … ] nach allgemeinen menschenfreundlichen Grundsätzen“ und ohne „besondere Maaßregeln“ darzustellen habe , lobt sein Sohn als adäquaten Ausdruck der „Geistes-Größe [ … ] durch welche sich alle Rathschläge der brittischen Nation auszuzeichnen pflegen“ ( AAII, 8 , Hervorhebung im Original ).17 Sämtliche Ausrüster und Protagonisten der zweiten Weltumsegelung Cooks rückt Forster an dieser Stelle rhetorisch ins hellste Licht ; schließlich soll , wie erwähnt , dieser Glanz auch auf ihn als Berichterstatter der Reise abstrahlen. Ebendiese wenig zuvor gerühmten Planer und Auftraggeber geraten im weiteren Verlauf der Vorrede jedoch arg in die Kritik , angefangen bei den offiziellen Stellen.18 Zunächst setzt Georg Forster alles daran, seinen Vater als einen über alle Zweifel erhabenen Wissenschaftler bzw. als unschuldiges Opfer von undurchsichtigen Intrigen zu porträtieren. Johann Reinhold Forster erscheint als rastloser Feldforscher und zügiger Publizist seiner Ergebnisse , der den ständig wechselnden Plänen der Admiralität für den Expeditionsbericht eifrig Genüge zu leisten sucht , sich an getroffene Absprachen hält – und doch am Ende mit leeren Händen dasteht. Als mögliche Gründe für die Ablehnung der Textproben seines Vaters lässt Georg Forster einzig fadenscheinige Vorwände gelten : „Vielleicht wollte man ihm [ … ] fühlen lassen, daß er ein Ausländer sey ; vielleicht fand man [ … ] seine Denkart zu philosophisch-frey , vielleicht ist es auch das

15 In der englischen Version : „from the most liberal motives [ … ], by order of an enlightened monarch , upon a more enlarged and majestic plan than ever was put in execution before“; „the greatest navigator of his time“ ( AAI, 9 ). 16 In der englischen Version : „selected at the expence of the nation“; „two able astronomers , a man of science to study nature in all her recesses , and a painter to copy some of her most curious productions“; „After completing their voyage , they have prepared to give an account of their respective discoveries , which cannot fail of crowning , their employers at least , with immortal honour“ ( AAI, 9 ). 17 In der englischen Version : „a philosophical history of the voyage [ … ] where human nature should be represented [ … ] upon the principles of general philanthropy“; „that superior wisdom which guides the counsels of this nation“ ( AA I, 9–10 ). 18 Vgl. dazu ähnlich Peitsch : „Zum Verhältnis von Text und Instruktionen“, 113 –114 : „Das Lob Großbritanniens [ … ] steht in einem gewissen Kontrast zu der Vielzahl von polemischen Passagen gegen England [ … ]. In Georg Forsters polemischen Seitenhieben schlagen sich [ … ] die negativen Erfahrungen der beiden Forster mit der Admiralität wieder , als Johann Reinhold versuchte , sich als Autor der offiziellen Beschreibung der zweiten Reise Cooks durchzusetzen.“



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Interesse eines dritten gewesen, ihm das Geschenk des Admiralitäts-Collegii völlig zu entziehen“ ( AAII, 9 ).19 Kein Wort verliert Georg Forster hingegen über Motive , die im Urteil der historischen Forschung recht eigentlich den Ausschlag für die Ablehnung Johann Reinholds gaben : die Ambitionen Cooks auf eine selbständige Autorschaft des Berichts der von ihm geführten Reise , die stilistischen Mängel des älteren Forster im Englischen oder allgemein sein ungelenkes publikationsstrategisches Agieren selbst in Konsultationen mit seinen Fürsprechern.20 Bei einem Text , welcher aller Wahrscheinlichkeit nach durchgehend der Redaktion des Vaters unterlegen hat , ist mit solchen Passagen schließlich auch nicht zu rechnen. Weiterhin polemisiert Forster , ohne an dieser Stelle explizit Namen zu nennen, gegen den Reisebericht über Cooks erste Reise von John Hawkesworth , auf den er als „einen Stoppler , der [ … ] bestochen worden, die Nachrichten andrer zu verstümmeln“ anspielt ; ebenso rügt er an den unautorisierten Reiseberichten des Matrosen John Marra sowie eines unbekannten, nicht an der Expedition beteiligten Autors über Cooks zweite Weltumsegelung jeweils „Mährchen [ … ] die nach der romantischen Einbildungskraft unsrer Vorfahren schmecken“ ( AAII, 10 ).21 Dagegen treten die Forsters in der Vorrede als zentrale Akteure , nicht als nachträglich hinzugezogene Kompilatoren der Expedition auf , die nichts hinzudichten müssen, sondern noch aus den ereignislosesten Reiseepisoden anregende Erkenntnisse abzuleiten in der Lage sind.22 Nachdem diese drei konkurrierenden Reiseberichte als stilistisch und konzeptionell verzerrte Produkte von ahnungslosen Autoren diskreditiert wurden, greift Forster nun den Bericht von Cook selbst an, der als der wohl mächtigste und gleichzeitig am schwersten zu treffende Kontrahent für sein eigenes Debüt als Reiseschriftsteller gelten kann.23 Hierbei entscheidet er sich in aller Regel zu indirekten Attacken, etwa durch den Verweis , dass es sich bei den Kupferplatten des offiziellen Berichts eigentlich um Eigentum der Forsters handele bzw. dass Cook brisante Episoden unterschlage , die erst

19 In der englischen Version fehlt dieser Angriff auf die staatlichen Autoritäten bezeichnenderweise. Vgl. direkt dazu auch Alison E. Martin : „Rerouting the Self. Georg Forster’s ‚Reise um die Welt‘“, in : Translating Selves. Experiences and Identity Between Languages and Literatures , hg. v. Maria-Venetia Kyritsi und Paschalis Nikolaou , London : Continuum , 2008 , 155–168 , hier 160. 20 Vgl. die konzise Darstellung bei Nicholas Thomas in der Einleitung zu seiner Forster-Edition : „In­ troduction“, in : George Forster : A Voyage Round the World , hg. v. Nicholas Thomas and Oliver Berghof. 2 Vols. Vol. 1. Honolulu , HI: University of Hawai’i Press , 2000 , XIX–XLV, here XXI–XXIX. 21 In der englischen Version : „[ a ] compiler that was ever bribed to mutilate a narrative“; „marvellous histories which would have disgusted even the romantic disposition of our ancestors“ ( AAI, 11 ). Weitere abschätzige Kommentare dieser Art finden sich in AAII, 11 bzw. AAI, 12–13 und in einem Brief Forsters an Philipp Jacob Spener vom 22. Dezember 1775 , vgl. AAXIII, 58. 22 Vgl. AAII, 9 bzw. AAI, 11. 23 Dafür , dass Cook überhaupt selbst als Reiseautor tätig wurde , spricht nach Thomas vor allem die Unzufriedenheit des Kapitäns mit dem Bericht von Hawkesworth. Mit dessen Unzulänglichkeiten wurde Cook anscheinend zuerst durch Leser auf St. Helena unterrichtet , die ihn über Ungenauigkeiten in Hawkesworths Darstellung ihrer Insel informierten. Vgl. Thomas : „Introduction“, XXXVII.

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der eigene Reisebericht an die Öffentlichkeit bringe.24 Aus Letzterem , so schlussfolgert Forster , sei „genugsam abzunehmen, wie die Authenticität einer Reisebeschreibung beschaffen sein muß , die vor dem Abdruck Censur und Verstümmelung über sich ergehen lassen muß“ ( AAII, 12 , Hervorhebung im Original ).25 Die großartige britische Nation, die wie keine andere in Europa ihre fähigsten Seefahrer und Forscher ausschickt , um die Welt der Wissenschaft zu bereichern, steht auf diese Weise plötzlich schwer beschädigt da : Als ein Staatswesen, das nicht nur verdiente Naturforscher um ihre prestigeträchtigsten Projekte bringt und Ihnen attraktives Material für ihre Publikationen vorenthält , sondern das ebenfalls Expeditionsberichte aus den Händen unfähiger Autoren duldet sowie unbequeme Elemente der Reisedarstellung durch fragwürdige Eingriffe der Zensoren verschwinden lässt.26 Zudem suggeriert Forster , dass Cook in ähnlicher Weise zur Übergabe seiner Autorschaft an den Bearbeiter Hawkesworth auch im Fall seiner zweiten Weltreise die eigene Verantwortung aus den Händen gelegt habe. Nach seiner Darstellung wurde Cook „abermals [ daran ] gehindert , den Abdruck seines Tagebuchs selbst zu besorgen ; er hat also auch jetzt wieder einen Dollmetscher annehmen müssen, der an seiner Statt mit dem Publikum reden könnte“ ( AAII, 12 ).27 Vieles an dieser Passage erscheint recht forciert zurechtgebogen. Obwohl sich Cook tatsächlich schon wieder auf Weltreise befand , als sein Reisebericht erschien, bedeutete dies anders als im Fall der ersten Weltumsegelung keinen Verzicht auf eine Niederschrift aus eigener Hand ; und obwohl Cook durchaus die Unterstützung eines Co-Autors namens John Douglas für seinen Text in Anspruch nahm , hat die Forschung dessen Funktion eher als die eines Lektors als die eines „Dolmetschers“ bewertet.28 Jedenfalls haben Forsters Volten gegen Cooks Bericht gemein, dass sie auffällig auf jeglichen unvermittelten Versuch verzichten, die persönliche Integrität des Kapitäns in Zweifel zu ziehen. Stattdessen tragen an sämtlichen aufgezeigten Makeln des offiziellen Berichts stets andere Akteure die Schuld.

24 Vgl. AAII, 9 bzw. AAI, 11. 25 In der englischen Version : „[ It ] will give an adequate idea of the authenticity of a performance , which is submitted to censure and mutilation, before it is offered to the public“ ( AAI, 13 ). 26 Vgl. zur nachfolgenden Kontroverse um diese Äußerungen Forsters Thomas : „Introduction“, XXX– VIII. 27 In der englischen Version : „it [ was ] impossible for him to superintend the printing of his own Journals ; and the public , I am much afraid , must again converse with him by means of an interpreter“ ( AAI, 12–13 ). Vgl. zu dieser Stelle der Vorrede auch ähnlich Carl Niekerk : „Translating the Pacific. Georg Forster’s ‚A Voyage Round the World / Reise um die Welt‘ ( 1777–80 ), in : Travel Narratives in Translation 1750–1830. Nationalism , Ideology , Gender , hg. v. Alison E. Martin and Susan Pickford , New York et al.: Routledge , 2012 , 110–132 , hier 124. 28 Vgl. etwa die Darstellung in John C. Beaglehole : The Life of Captain James Cook , Stanford , CA: Stanford UP, 1974 , 463. Beaglehole geht hier auf die Schwierigkeiten ein, die sich dem Seemann Cook bei seiner ersten und einzigen schriftstellerischen Veröffentlichung stellten : „He , the most unliterary of men, is the author in gestation. [ … ] Cook could do with help , in matters of ‚style‘ [ … ] certainly he was a stranger to the niceties which Dougals understood so well.“



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Auch die berühmte Formulierung Forsters in der Vorrede , dass die Leser seines Reiseberichts „wissen [ mussten ], wie das Glas gefärbt ist , durch welches ich gesehen habe“ ( AAII, 13 ),29 welche die Forschung mehrfach als einen für sein Schreiben typischen „Nachdruck auf Perspektivismus und Relativismus“ gewürdigt hat ,30 erklärt sich zu einem Großteil aus dem direkten schriftstellerischen Konkurrenzverhältnis zu Cooks Reisebericht.31 „Beym ersten Anblick könnten vielleicht zwo Nachrichten von einer und derselben Reise überflüßig erscheinen“, konzediert Forster zunächst , nur um einem solchen Urteil sogleich entgegenzuhalten : „[ A ]llein man muß in Erwägung ziehen, daß sie aus einer Reihe wichtiger Vorfälle bestehen, welcher immer durch die verschiedne Erzählung zwoer Personen in ein stärkeres Licht gesetzt werden“ ( AAII, 10 ).32 Mit Einschätzungen wie diesen konzipiert Forster seinen eigenen Bericht als Komplement bzw. Pendant zur Version Cooks : Wo dieser als Seemann bzw. Kapitän vornehmlich , ja fast ausschließlich mit Gegenständen von nautischem Interesse beschäftigt gewesen sei , bringe er als Landmann bzw. Naturforscher eine zwar vollkommen verschiedene , aber trotzdem völlig legitime Perspektive auf das Reisegeschehen vor die Augen der Öffentlichkeit.33 Doch auch an dieser Stelle unternimmt es Forster , verdeckte Seitenhiebe gegen die mutmaßlich geringere Aussagekraft von Cooks Bericht zu setzen. So betont seine Vorrede , dass der Kapitän „manches [ als ] alltäglich und unbemerkenswerth“ übergehe , was Laien wie ihm selbst ( und mit ihm den meisten anvisierten Lesern seines Berichts ) als „neu und unterhaltend“ erscheine ; zudem qualifiziert er die „lehrreichen Kleinigkeiten“, die Cooks Spezialistenbericht biete , als „eigentlich blos für Seefahrer“ ( AAII, 11 ), ergo : als tendenziell trockene und langweilige Lektüre für den Großteil des Publikums ab.34 Somit spielt Forsters Bericht den Stellenwert genau des nautisch-geo-

29 In der englischen Version : „it was necessary for every reader to know the colour of the glass through which I looked“ ( AAI, 14 ). 30 Vgl. als nur einen Beitrag aus der Forschung das Zitat aus Manuela Ribeiro Sanches : „ ‚Diese zarten, fast unsichtbaren Fäden der Arachne.‘ Das wahrnehmende Subjekt und die Konstituierung von Wahrheit bei Forster“, in : Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive , hg. v. Claus-Volker Klenke. Berlin : Akademie-Verlag , 1994 , 133–146 , hier 140. 31 Siehe dazu ähnlich Dagmar Barnouw : „Eräugnis. Georg Forster on the Difficulties of Diversity“, in : Impure Reason. Dialectic of Enlightenment in Germany , hg. v. W. Daniel Wilson and Robert C. Holub , Detroit , MI: Wayne State UP, 1993 , 322–343 , hier 325. „This is an extraordinary statement for the young , unknown author of a travel account in competition with the official account given by Cook himself ; it was also encouraged by precisely this competition.“ 32 In der englischen Version : „At first it may seem superfluous to offer two relations of this voyage to the world ; but when we consider them as narratives of interesting facts , it must be allowed that the latter will be placed in a stronger light , by being related by different persons“ ( AAII, 12 ). 33 Vgl. AAII, 10–11 bzw. AAI, 12–13. Im Rahmen der Weltumsegelung selbst bildet diese Interessensverschiedenheit auch die Basis für Interessenskonflikte , vgl. dazu Peitsch : „Zum Verhältnis von Text und Instruktionen“, 85 passim. 34 In der englischen Version : „Many circumstances familiar to the navigator [ … ] strike the landman with novelty , and furnish entertainment to his readers“; „These instructive particulars thrive in the proper field of the navigator“ ( AAI, 12 ). Jörn Garber : „Statt einer Einleitung : ‚Sphinx‘ Forster“, in :

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graphischen Wissens herunter , zu dem er als Naturforscher grundsätzlich keinen Zugriff erhielt bzw. erhalten konnte.35 Für die deutsche Version seines Reiseberichts geht Forster schließlich , mithilfe einer allein dort erscheinenden Passage , noch einen Schritt weiter. „Damit auch das deutsche Publikum , neben meiner Beschreibung gegenwärtiger Reise , zugleich des Capitain Cooks Nachrichten von derselben, ohne ausdrückliche Kosten, mit benutzen möchte ; so habe ich aus letzterem das Wichtigste hier in der deutschen Ausgabe eingeschaltet“ ( AAII, 14 , Hervorhebung im Original ). Der Plan zu diesem Vorgehen findet sich bereits in einem Brief Forsters an Friedrich Adolf Vollpracht vom 1. September 1776 : „Die deutsche Ausgabe wird von unserm Werk übersetztt , und wo sich in Cooks eignem Werke etwas finden sollte das wir nicht bemerkt oder anders angesehn haben, wird es als ein appendix oder als Noten beygefügt“ ( AAXIII, 43 ). Folglich erhebt Forster hier vollends den Anspruch , Cooks Reisebericht durch seine eigene Version entbehrlich gemacht zu haben. Durch seine Eigenübersetzung der übernommenen Passagen ergibt sich außerdem nur scheinbar eine Wiedergabe im Wortlaut , zumal diese „direkten“ Zitate im Verlauf des Werks immer stärker zugunsten von interpretierenden bzw. kommentierenden Rekursen auf den Prätext des Kapitäns zurücktreten.36 Diese Strategie Forsters , den Konkurrenztext über die Selektion und Redaktion von Einzelpassagen zum eigenen Vorteil zu inkorporieren, hat ihm bereits bei den zeitgenössischen Rezensenten den Vorwurf einer übertriebenen Selbstprofilierung auf Kosten Cooks eingebracht.37 Was Cook als Reiseautor erarbeitet , versucht Forster in seiner eigenen, konkurrierenden Reisedarstellung somit entweder herunterzuspielen oder für die eigenen Zwecke brauchbar zu machen. Cook als Persönlichkeit , nicht als Autor bzw. als Angestellter im britischen Staatsdienst , lässt Forster jedoch stets unangetastet.

Erbe des Navigators Fünfzehn Jahre nach dem Antritt der gemeinsamen Forschungsexpedition bzw. acht Jahre nach Cooks tragischem Tod auf Hawaii während seiner dritten Weltumsegelung versucht sich Forster erneut an einer Auseinandersetzung mit der Figur des Kapitäns. In

Wahrnehmung – Konstruktion – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters , hg. v. Jörn Garber , Tübingen : Niemeyer , 2000 , 1–19 , hier 3 , weist darauf hin, dass Forster mit diesen Formulierungen implizit auch den französischen Weltumsegler Louis-Antoine de Bougainville ( 1729–1811 ) angreift , „der jede Form von ausschmückender Reisebeschreibung mit dem Hinweis kritisiert hatte , daß er als Seemann und nicht als Philosoph schreibe.“ 35 Vgl. Thomas : „Introduction“, XXXVII. 36 Siehe dazu ähnlich Martin : „Rerouting the Self“, 163 : „Despite his claims that Cook was being quoted ‚wörtlich‘, those words were , of course , Forster’s.“ Vgl. zu Forsters meist sehr „freien“ Übersetzungen bzw. Zitaten aus Cooks Reisebericht auch Thomas : „Introduction“, XLVII. 37 Vgl. dazu ausführlich Martin : „Rerouting the Self“, 164–167.



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diesem Fall fungiert Cook jedoch nicht ( mehr ) als ambivalente bzw. nur in Ausschnitten herangezogene Konkurrenz für das eigene Schreiben, sondern als leuchtendes Vorbild für die kulturelle Praxis der europäischen Entdeckungsreisen überhaupt. Es handelt sich um die Schrift Cook , der Entdecker ( 1787 ). Diesen Text stellte Forster , zuerst angeregt durch eine Preisausschreibung der Akademie der Wissenschaften zu Marseille , vor seine eigene Übersetzung des Expeditionsberichts von Cooks letzter Reise.38 Über die Zielsetzung dieser Schrift bemerkt Forster in einem Brief an Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer vom 2. April 1787 : „Es war mir , wie du leicht denken kannst , um keinen Panegyrikus auf Cook zu thun [ … ] sondern was mir die Arbeit einzig angenehm machte , war die Gelegenheit , meine Philosophie auszukramen“ ( AAXIV, 622 , Hervorhebung im Original ). Helmut Scheuer hat den Text folgerichtig als „verkappte Autobiographie“39 bezeichnet , die das dem biographischen Schreiben inhärente „Problem der Identifikation“ besonders prägnant verdeutlicht : „In jede Biographie schreibt sich viel von der Lebensgeschichte des Verfassers ein ; außerdem bietet sich die Biographie auch für den Leser als Identifikationsmuster an.“40 Forsters Aussage , dass er mit dem Cook-Text eben keine Lobrede auf den Kapitän beabsichtige , muss hier jedoch entschieden widersprochen werden.41 Ganz im Gegensatz zu dieser Selbstäußerung seines Autors arbeitet der Text mit einer solchen Vielzahl von huldigenden Attribuierungen für den Kapitän, dass diese hier nur anhand einer sehr unvollständigen Blütenlese nachgewiesen werden können. So erscheint Cooks Figur bzw. Vita im Text unter anderem als „Stolz seines Jahrhunderts“, als „Name [ … ]

38 Vgl. zu den historischen Kontexten der Niederschrift sowie den weiteren Cook-Schriften Forsters im Detail AAV, 707–734. Ursprünglich trug der Text den Untertitel Versuch eines Denkmals. Neben dem Abdruck in Bd. V der Akademie-Ausgabe , aus dem hier zitiert wird , existieren zwei weitere wichtige Ausgaben : Georg Forster / Georg Christoph Lichtenberg : Cook der Entdecker. Schriften über James Cook , Nachwort und Anmerkungen v. Klaus-Georg Popp , Leipzig : Reclam , 41991 sowie Georg Forster : James Cook , der Entdecker und Fragmente über Capitain Cooks letzte Reise und sein Ende , hg. und mit einem Nachwort versehen v. Frank Vorpahl , Berlin : Eichborn, 2007. Einen Forschungsbericht liefert Peitsch : Georg Forster , 231–233. 39 Helmut Scheuer : „Bürgerliches Heldenporträt  – Ein Beitrag zur Erziehung des Menschengeschlechts. Georg Forsters Biographik“, in : Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive , hg. v. ClausVolker Klenke. Berlin : Akademie-Verlag , 1994 , 287–306 , hier 302. Für Zitate aus weiteren ähnlichen Einschätzungen in der Forster-Forschung vgl. Görbert : Die Vertextung der Welt , 282. 40 Helmut Scheuer : „Biographische Romane der 70er Jahre  – Kunst und Wissenschaft“, in : Der Deutschunterricht 43 ( 1991 ), 32–42 , hier 34. 41 Ohnehin relativiert sich diese Aussage bei der Betrachtung zweier weiterer Briefzitate. So behauptet Forster in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 16. September 1790 das exakte Gegenteil , wenn er meint , „außer einer Seereise und einem Panegyrikus auf einen Seefahrer noch nichts Rechtes geschrieben“ zu haben, siehe AAXVI, 190. Auch der Kontext des zuvor zitierten Briefs verdeutlicht , dass es dem Text durchaus auf einen lobenden Redegestus ankommt , merkt Forster doch auch gegenüber Meyer an, dass Cook „in der That Alles und vielleicht mehr , als ich von ihm sage , verdient“ ( AAXIV, 662 ). Dass die Panegyrik , welche den gesamten Text durchzieht , auch von der zeitgenössischen Kritik als solche besonders hervorgehoben wurde , zeigt die Übersicht über die Rezensionen zu Cook , der Entdecker in AAV, 737–749.

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im Tempel des Ruhms“ und als „Gang eines großen Geistes“, der mit der „Erfahrung , Unerschrockenheit , Geduld , Scharfsinn und Eifer des Entdeckers“ für sich beanspruchen kann, „herkulische Arbeit“ geleistet bzw. „für das Glück vieler Tausende gearbeitet , ja selbst sich hingeopfert zu haben“ ( AAV, X ). Weitere Beispiele dieser Art ließen sich ohne Probleme hinzufügen ( vgl. AAV, 207 , 213 , 233 , 261 , 283 , 288 ). Als Kulminationspunkt für die Elevation, ja Apotheose der außergewöhnlichen und beispielhaften Entdeckerpersönlichkeit Cooks wählt Forster am Ende des Texts Bezugspunkte aus der griechisch-römischen Antike :42 Ich denke mir ihn, in der Schwärmerey eines Augenblicks , als einen der wohlthätigen Helden des Alterthums , die auf Adlersschwingen zur Versammlung der seligen Götter emporgestiegen sind. Würfe er dann einen Blick vom Olymp auf diese Erde , so sähe er dieselbe philosophische Gesellschaft , die schon einmal seine Verdienste krönte , sein Andenken auf Münzen verewigen ; er sähe die Zähre der Wehmuth fließen, so oft ein edler Mensch seinen zu frühen, von ganz Europa beklagten Verlust erfährt ; er sähe sein eigenes Werk , die Geschichte seiner Reisen, ein besseres Denkmal als Marmor oder Erz werden ; – er sähe auch die Freundschaft Blumen auf sein Grab streuen ! ( AAV, 302 ).

Mit seinem Porträt eines halb mit menschlichen, halb mit göttlichen Zügen modellierten Kapitäns zielt Forster auf eine Bilanz der herausragenden bzw. dessen Tod überdauernden Besonderheiten von Cooks Biographie.43 Wo die Figur selbst in die Sphäre der Götterfamilie entrückt erscheint , bleiben Praktiken des Gedenkens in institutionalisierter ebenso wie in unmittelbar sympathetischer Form zurück. Zugleich bringt der Ich-Erzähler sich selbst als potenziellen Nachlassverwalter in Stellung : Schließlich ist er es , der Cooks Biographie ebenso heroisch schildert wie er am Ende als Höhepunkt , anhand einer Allegorie der um den Entdecker trauernden „Freundschaft“, ein Verhältnis von besonderer persönlicher Nähe zum glorifizierten Cook andeutet.44 Aus dem Lob von Cook als Gott bzw. Halbgott resultiert somit

42 Vgl. dazu auch die Argumentation bei Scheuer : „Bürgerliches Heldenporträt“, 299 : „Bewußt – wie in anderen Schriften auch – setzt Forster lateinische Zitate , mythologische oder historische Figuren der Antike ein, um seinem ‚Helden‘ Dignität zu verschaffen.“ 43 Vgl. ähnlich Justus Fetscher : „Die Pazifik-Reisen der 1760er und 1770er Jahre in der deutschen Literatur“, in : Cross-Cultural Encounters and Constructions of Knowledge in the 18th and 19th Century. Non-European and European Travel of Exploration in Comparative Perspective. / Interkulturelle Begegnungen und Wissenskonstruktionen im 18. und 19. Jahrhundert. Außereuropäische und europäische Forschungsreisen im Vergleich , hg. v. Philippe Despoix and / und Justus Fetscher. Kassel : Kassel University Press , 2004 , 323–364 , hier 338 : „Wer so zwischen Göttern und Menschen steht , muss ein Halbgott sein. In Cook als dem Heros stetiger Arbeit im Dienste der Wissenschaften begegnen wir einem modernen Herkules.“ 44 Vgl. dazu auch Detlef Rasmussen : Der Stil Georg Forsters. Mit einem Anhang Georg Forster und Goethes „Hermann und Dorothea.“ Ein Versuch über gegenständliche Dichtung , Bonn : Röhrscheid , 1983 , 44 , der den Text insgesamt als einen „Hymus auf Cook“ bezeichnet : „Hier klingt unüberhörbar der Gedanke mit , daß er [ Forster ] selbst zu entscheidendem Teil mitgeholfen hat , dies Denkmal zu errichten [ … ]. Forster fühlt sich als Verwalter von Cooks Erbe.“



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ein Stellvertreterlob bzw. ein getarntes Eigenlob : Schließlich strahlt die Göttlichkeit des Gelobten auch auf den Lobenden in dessen Nähe ab. Unterstützt werden diese Überlegungen des Texts durch die vorliegende Erzählsituation des „Ich als Augenzeuge ( engl. I as witness ; frz. je témoin )“, welche , wie Jochen Vogt ausgeführt hat , besonders dann „häufig verwendet [ wird ], wenn [ … ] das Außerordentliche des erzählten Geschehens oder einer Figur im Horizont der Normalität hervortreten soll.“45 Das Rollenverständnis , das etwa bei Arthur Conan Doyle Dr. Watson gegenüber Sherlock Holmes bzw. bei Thomas Mann Serenus Zeitblom gegenüber Adrian Leverkühn verkörpert , installiert auch Forster in der Selbstverortung seiner autobiographischen Werk-Persona : Fungiert diese doch in ihrer Bezogenheit auf die „genialischere“ Disposition der Figur Cook auch als „Stellvertreter der Leser in der Erzählung , als Perspektivfigur , vor allem aber als Informationsfilter.“46 In diesem Sinne lassen sich ohne größere Probleme zentrale Charakteristika der gewählten Erzählkonstellation, die Vogt anhand von Manns Doktor Faustus ( 1947 ) verdeutlicht , durch die Transposition der Figurennamen und Erzählkategorien auch auf das Beispiel von Forsters Text übertragen : In der Perspektive des biederen Biographen wird [ Cooks ] Genialität besonders konturiert , zugleich aber ans ‚normale‘ Leben und seine Maßstäbe rückgebunden. [ … ] Als Freund des [ Kapitäns ] ist [ Forster ] nicht nur Biograph , er hat vielmehr wichtige Ereignisse und Zeitabschnitte miterlebt und kann nun als Gewährsmann erzählen. Einerseits vermag er aus persönlicher Anschauung und Erinnerung Vorgänge zu berichten, die den Recherchen eines späteren Biographen möglicherweise verborgen blieben [ … ]. Andererseits bleibt der Erzählwinkel – anders als in einer ‚von außen‘ verfaßten Biographie – durch seinen Ich-Standpunkt im Personengefüge bestimmt. Seine Erzählerrolle ist nicht die des distanzierten ‚wissenschaftlichen‘ Biographen, der aus historischer Distanz und in der reinen Er / Sie-Form schreibt , sondern die des sich erinnernden Augenzeugen.47

Das Besondere , ja Paradoxe an Forsters Einsatz der Erzählkonstellation „Ich als Augenzeuge“ in Cook , der Entdecker liegt jedoch darin, dass der mit immensem rhetorischen Aufwand gepriesene Protagonist in seiner Darstellung ebenso deutlich ins Zentrum rücken wie auffällig in den Hintergrund treten kann. Genauso wie es Forster streckenweise darum geht , Cook als idealen Repräsentanten des Menschseins zu feiern, dient ihm die Figur des Kapitäns an anderen Stellen lediglich als Mittel zum Zweck bzw. als Ausgangspunkt , um weiterführenden Überlegungen Raum zu verschaffen.48 Offen-

45 Jochen Vogt : Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie , Paderborn : Fink , 102008 , 76 [ Hervorhebung im Original ] bzw. ebd., 75–76 : „Ins Zentrum rückt eine Dritte Person, der geniale Freund.“ 46 Vogt : Aspekte erzählender Prosa , 77. 47 Ebd., 76 [ Hervorhebung im Original ]. 48 Vgl. in diesem Sinne auch Michael Ewert : „Vernunft , Gefühl und Phantasie , im schönsten Tanze vereint.“ Die Essayistik Georg Forsters , Würzburg : Königshausen und Neumann, 1993 , 162 : „James

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sichtlich ermöglicht die Erzählsituation, wie sich ein letztes Mal im Anschluss an Vogt nachvollziehen lässt , beide Register : die Darstellung einer spezifischen, außergewöhnlichen Lebensgeschichte aus der Perspektive eines näher am menschlichen „Normalmaß“ situierten Augenzeugen und , darauf fußend , den Exkurs zu weitaus abstrakteren Zusammenhängen, die fortführen, was durch Cook angestoßen wurde.49 Dieses „Auskramen der eigenen Philosophie“ ließe sich nun auf verschiedenen Ebenen weiterverfolgen, etwa auf den verschiedenen rhetorischen Ebenen des Texts oder mit einer näheren Betrachtung von Forsters Geschichtsphilosophie.50 Wir beschränken uns hier auf einen kurzen Textvergleich zwischen Cook , der Entdecker und dem sieben Jahre zuvor ( 1780 ) erschienenen Essay Einige Lebensumstände von Captain James Cook , größtenteils aus schriftlichen Nachrichten einiger seiner Bekannten gezogen von Georg Christoph Lichtenberg , da sich die Besonderheiten von Forsters Cook-Rezeption gerade aus dem Kontrast zwischen beiden Texten besonders deutlich ableiten lassen.51 Denn tatsächlich wirken Forsters und Lichtenbergs Vorgehensweisen an manchen Stellen diametral entgegengesetzt : Während Lichtenberg sich bis kurz vor dem Ende seines Aufsatzes an das klassische , nach der Lebenschronologie aufgebaute biographische Schema „von der Wiege bis zur Bahre“ hält und dieses lediglich durch eine knappe Skizze von Cooks Aussehen und Charaktereigenschaften ergänzt , wählt Forster eine thematische Dreiteilung , die er mit den Überschriften „Geographische Übersicht“, „Anordnung“ und „Resultate“ versieht. Wo Lichtenberg seine Biographie entlang der Stationen von Cooks Karriere abschreitet , geht Forster erst auf den letzten Seiten, beinah in Form eines Appendixes , auf Cooks Herkunft und Werdegang ein ; wo Lichtenberg durchgängig eng an der Figur und deren unmittelbarem Aktionsradius orientiert bleibt , changiert Forster im Porträt seines Protagonisten zwischen

Cook liefert die historische Vorgabe , den Anstoß zu einem Plädoyer , das sich weit vom unmittelbaren Anlaß entfernt.“ 49 Siehe wiederum zum Vergleich Vogts Interpretation der Erzählsituation in Doktor Faustus in Vogt : Aspekte erzählender Prosa , 75. 50 Vgl. dazu ausführlicher Görbert : Die Vertextung der Welt , bes. 285–286 , 296–299. 51 Hier zitiert nach der Georg Christoph Lichtenberg „Einige Lebensumstände von Captain James Cook , größtenteils aus schriftlichen Nachrichten einiger seiner Bekannter gezogen“, in : ders.: Schriften und Briefe. Bd. 3 : Aufsätze , Entwürfe , Gedichte , Erklärung der Hogarthschen Kupferstiche , Frankfurt a. M.: Zweitausendeins , 1994 , 35–62. Wie Klaus-Georg Popp in seinen Anmerkungen zu seiner oben genannten Edition nachweist ( 245 ), handelt es sich bei den im Titel genannten „Bekannten“ um niemand anderen als Johann Reinhold und Georg Forster , die Lichtenberg zuerst auf seiner zweiten Englandreise 1774 / 1775 persönlich kennenlernte. In einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 17. März 1780 behauptet der jüngere Forster , dass sich Lichtenberg ganz auf Materialien aus den Händen der beiden Weltumsegler gestützt habe : „Im 2. Stück des Magazins [= Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur , die Zeitschrift , in der Lichtenbergs Text zuerst veröffentlicht wurde ] ist Cooks Leben nach meinen und meines Vaters Nachrichten entworfen von Lichtenberg. Von S. 284 ist der Stoff fast gänzlich von mir. Ich glaube , ihm ist Gerechtigkeit widerfahren. Das Bildnis ist sprechend“ ( AAXIII, 289 ). Vgl. ähnlich den Brief Forsters an Joseph Banks vom 27. März 1780 ( AAXIII, 290–291 ).



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Perspektiven der Nahaufnahme und der Totale.52 Ähnlich quer zu Lichtenbergs Eigenschaftskatalog zur Figur des Kapitäns stehen die durch Forster ebenfalls in Cook , der Entdecker eingewobenen Reflexionen zu zeitgenössischen kulturellen Debatten. Wo es Lichtenbergs Text fernliegt , anhand einer instrumentalisierten Cook-Figur das aufklärerische Konzept der „Perfektibilität“ genauer zu konturieren bzw. Kontroversen gegen Philosophen wie Rousseau und Kant anzuzetteln, elaboriert Forster genau diese , von Cooks Biographie aus nicht unmittelbar auf der Hand liegenden Lieblingsthemen seines Schreibens in aller Ausführlichkeit. Einer standardisiert komponierten Biographik von Lichtenberg steht somit im Fall von Cook , der Entdecker die sich kaum an der Lebenschronologie orientierende Aufgliederung von Forster gegenüber.53 Sie ermöglicht es dem Reisegefährten Cooks , die eigenen diskursiven „Steckenpferde“ voll und ganz zum Tragen kommen zu lassen. Eine weitere wesentliche Differenz zeigt sich in den verschiedenen Graden der Idealisierung Cooks , mit denen seine beiden Porträtisten jeweils operieren.54 So unterstreicht Lichtenberg gleich im ersten Absatz , dass es ihm auf eine ausgewogene , nüchterne Schilderung ankommt : Gegenwärtiger Aufsatz enthält in einer getreuen Erzählung alles , was mir von diesem außerordentlichen Mann bekannt geworden ist ; seine Tugenden neben seinen Fehlern : jene ohne rednerischen Schmuck , dessen sie nicht bedürfen ; und diese ohne gesuchte Entschuldigung , die sie nicht vertragen. Etwas was den Namen eines Lasters verdiente , ist mir indessen nicht bei ihm vorgekommen.55

52 Siehe dazu auch Scheuer : „Bürgerliches Heldenporträt“, 297 : „Cooks Lebensweg spielt kaum eine Rolle. Erst auf den letzten Seiten berichtet Forster knapp über die Entwicklung vom ‚Sohn eines Pächters‘ über die Zeit als ‚gemeiner Matrose und Steuermann‘ ( ebd. [ AAV ], 299 ) – eine ‚lange Prüfungszeit‘ ( ebd., 300 ) – bis zum erfolgreichen Kapitän und Entdecker.“ Forster verweist selbst darauf , dass Lichtenbergs Text eine solche Art der Biographie bereits geliefert hat , vgl. AAV, 192. 53 Vgl. zum literaturhistorischen Kontext Scheuer : „Bürgerliches Heldenporträt“, 297 : „Solche systematische statt einer chronologischen Ordnung ist für die Biographik des 18. und auch des frühen 19. Jahrhunderts durchaus typisch [ … ]. Man suchte sich die Lebensphasen aus , die für die eigene Argumentation am wichtigsten waren. [ … ] Erst das 19. Jahrhundert wird dann die voluminösen Biographien bevorzugen.“ 54 Auf das Ziel einer Enthaltung gegenüber jeglicher Kritik an der Figur des ( idealisierten ) Kapitäns geht Forster am Ende der Vorrede zu seiner Cook-Übersetzung explizit ein : „Ich habe mich bemüht , das darzustellen, was er hat thun wollen, und was er seiner Absicht gemäß wirklich gethan hat. Jede einzelne Begebenheit zu analysieren, und Fehler in der Ausführung aufzudecken, woran man die Unvollkommenheiten, nicht sowohl des einzelnen Menschen, als vielmehr der gesammten Gattung erkennt , gehörte nicht in meinen Plan“ ( AAV, 191 ). Eine weitere Textstelle aus Cook , der Entdecker spricht ebenfalls davon, von „Schwächen der Menschheit“ abzusehen bzw. der Entdeckergestalt ganz bewusst nicht „zu nahe treten“ zu wollen : „So wie man dem Meisterstück eines Phidias nicht zu nahe treten kann, ohne den Eindruck des Ganzen zu schwächen, und sich mit einem anscheinenden Mißverhältnis zu täuschen ; so muß man oft den Helden aus einer gewissen Entfernung betrachten, um nicht die Schwächen der Menschheit an ihm gewahr zu werden“ ( AAV, 251 ). 55 Lichtenberg : „Einige Lebensumstände“, 35.

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Im Sinne dieser Balance zwischen Stärken und Schwächen der Figur verfährt denn auch der restliche Aufsatz , indem er beispielsweise neben „der Vorsichtigkeit , der brennenden Begierde nach Ruhm und dem fast an Hartnäckigkeit grenzenden Beharren in einem einmal gefaßten Vorsatz“ auch auf ein „finsteres , störrisches , zurückhaltendes Wesen“ der Persönlichkeit Cooks aufmerksam macht , welcher Eigenschaften wie „Feinheit , Artigkeit , Witz und eine gewisse Kultur , die nötig sind [ um ] in Gesellschaft zu gefallen“, gänzlich abzugehen scheinen.56 Ganz anders der Ansatz Forsters , der , wie bereits erwähnt , teilweise in argumentativer Spannung zu den Aussagen seines eigenen Berichts über die Reise mit James Cook , den Kapitän zur exemplarischen Figur ohne Defizite bzw. zum Repräsentanten eigener autobiographischer Schlüsselwerte zu stilisieren bestrebt ist. Während die historischen Quellen etwa darüber Auskunft geben, dass Cook besonders während seiner dritten Weltreise seinen Gefühlshaushalt offenbar nicht durchgängig im Griff hatte , feiert ihn Forsters Text als Repräsentanten einer immer mehr verfeinerten „Empfindsamkeit“: Seine Empfänglichkeit für Begriffe und Gefühle [ … ] schien [ … ] mit jeder Reise zu gewinnen ; ja es finden sich , vorzüglich in der letzten, Spuren einer ungleich zarteren Empfindung , als man in dem abgehärteten Seemanne gesucht hätte. Dieser Zug , wenn sonst keiner , gäbe schon vollgültiges Zeugniß für seine große Seele , deren stets währendes Bestreben es war , sich immer vollkommener zu bilden : Kaum wird es jezt noch befremdend seyn, daß jener dunkle Trieb sich hervorzuthun, der allmählig in Ehrgeiz und Begierde nach Wohlstand übergieng , sich bey einer so reich organisirten Seele zuletzt in ein weit feineres und edleres Gefühl [ … ] verwandelte. Dank sey es der Natur , daß es Wesen von so empfänglicher Organisation giebt , welche dieser zarte Antrieb , der zugleich die Menschen in Liebe vereinigt , zu großen Thaten wecken kann ! Läßt sich auch die Eigenliebe geselliger und liebenswürdiger denken, als indem sie dahin strebt , sich selbst in anderen lieben zu können ? Vollständiger , als er es selbst voraussehen konnte , hat Cook auch diesen letzten Endzweck erreicht. ( AAV, 302 , Hervorhebung im Original )

Mit dieser Modellierung des Kapitäns als eines Repräsentanten einer gesteigerten aufklärerischen Gefühlskultur bezieht Forster eine Position weitab gängiger Urteile in der Cook-Literatur.57 Ein breiter Konsens besteht eher für eine gegenteilige Interpretation. So konstatiert die Forschung für die Figur des Kapitäns während seiner dritten und letzten Entdeckungsreise eher „ein gewisses Nachlassen seiner Kräfte“ anstatt einer vervollkommneten Wirkkraft bzw. ein zunehmendes Auftreten als „der ‚hitzige‘ despotische Alte vom Quarterdeck , über dessen Toben die Mannschaften als über einen

56 Lichtenberg : „Einige Lebensumstände“, 43 , 58. 57 In diesem Sinne argumentiert beispielsweise Popp in seiner Edition, 224 , ohne jedoch explizit den Bezug zu Forsters Instrumentalisierung von Cook für die eigenen Zwecke herzustellen : „Vielleicht ist Forster die Charakteristik des Entdeckers zu wenig differenziert und etwas zu enthusiastisch geraten. [ … ] Cook muß eine eindrucksvolle Persönlichkeit gewesen sein und eine große Autorität besessen haben. Aber er scheint nicht das Blendende , Unabhängige , Genialische in seinem Wesen gehabt zu haben, wie es Forsters Zeichnung an manchen Stellen suggeriert.“



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Eingeborenentanz spöttelten“, anstelle einer Reifung zum gefühlsreichen Feingeist.58 Es liegt der Schluss nahe , dass diese Passage relativ wenig über die historische Figur Cooks , dafür aber umso mehr über die „Philosophie“ Forsters aussagt , für welche eine „empfindsame“ Herzensbildung zu den wünschenswertesten und förderungswürdigsten Charaktereigenschaften eines Forschungsreisenden zählt.59 So fallen für Forster , anders als für Lichtenberg , letztlich weniger die Realien von Cooks Biographie ins Gewicht als idealisierte Lebensverlaufsvorstellungen, in deren Logik die Figur des Kapitäns – nicht ohne teilweise recht idiosynkratische Konsequenzen – eingepasst erscheint.60 Zu dieser für die eigenen Zielsetzungen maßgeschneiderten Idealbiographie gehört weiterhin, dass Forster Cooks schriftstellerische Arbeiten zu seiner zweiten Forschungsexpedition, entgegen vorheriger Äußerungen, nunmehr mit eigenen Wunschvorstellungen für eine gelungene Poetik der Reiseliteratur kurzschließt. Während Lichtenberg in seinem Text über Cook als Schriftsteller kein einziges Wort verliert und Forster selbst noch in seiner Vorrede zur Cook-Übersetzung zu bedenken gibt , dass von Cooks Stil „keine Blumen der Einbildungskraft , keine rednerischen Wendungen, kein [ … ] Aufwand an Dialektik und Disputirkünsten“ ( AAV, 185 )61 zu erwarten seien, dominiert nun das uneingeschränkte Lob seines Reiseschreibens , nicht länger die Kritik an vermeintlichen Defiziten. Keine Spur findet sich mehr von den Verweisen auf langweilige Passagen in der Reiseliteratur des Kapitäns , die unabhängig von der Vermittlerrolle Forsters an das deutsche und britische Lesepublikum gelangte. Ebenfalls ausgespart erscheinen die Invektiven gegen die Redakteure Cooks im Englischen, die , so wie es Forster zum Zeitpunkt seiner schriftstellerischen Konkurrenz mit dem offiziellen Expeditionsbericht der zweiten Weltumsegelung formuliert , die Authentizität der Cookschen Äußerung verringert hätten. Stattdessen feiert Cook , der Entdecker seine Titelfigur als Reiseschreiber für ihren „ungeschmückten, aber reinen, deutlichen Styl“, den auch sein Verfasser im Vorwort seines Weltreiseberichts als Sprachideal ausweist.62

58 Siehe Popp , 224 , der auf die ähnliche Argumentation in der Standardbiographie zu John Cook von Beaglehole The Life of Captain James Cook hinweist. 59 Vgl. dazu ausführlich Görbert : Die Vertextung der Welt , 208–228. 60 Vgl. dazu auch die Argumentation bei Mike Frömel : Offene Räume und gefährliche Reisen im Eis. Reisebeschreibungen über die Polarregion und ein kolonialer Diskurs im 18. Jahrhundert , Hannover : Wehrhahn 2013 , 222 : „Für Forster und die Leser ist der Kapitän die Figur , die Integrität leistet und die Ideale eines europäischen Entdeckungsreisenden personifiziert.“ 61 Freilich lobt Forster bereits an dieser Stelle „auch von Seiten des Styls gewisse Vorzüge , die natürlichen Früchte der Anstrengung , des Fleisses und der langen Übung eines denkenden und nach Ruhm strebenden Kopfes“; zudem würdigt er trotz der angefügten Mängel , das „Siegel der Einfalt“ der in Cooks Texten zu findenden „Wahrheit“ sowie den ebenfalls darin enthaltenen „Ernst des unpartheyischen Betrachters , und die Eigenthümlichkeit des Ausdrucks eines durch sich selbst gebildeten Schriftstellers“ ( ebd. ). Von einer ähnlich hymnischen Besprechung der Cookschen Reiseliteratur wie in Cook , der Entdecker bleibt der Ausschnitt jedoch insgesamt weit entfernt. 62 Vgl. wiederum AAI, 11 bzw. AAII, 10.

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Weiterhin passt zum Befund einer Nachlassverwaltung zum eigenen Vorteil , dass Forster den Stellenwert seiner eigenen Domäne , den Naturwissenschaften, für die Weltumsegelungen in Cook , der Entdecker gänzlich anders einschätzt als in seinem eigenen Expeditionsbericht. So kritisiert er in seinem schriftstellerischen Debüt den Kapitän noch dafür , dass er die Interessen der Naturforscher nicht immer gebührend berücksichtigt habe : [ D ]as Studium der Natur ward auf der Reise immer nur als Nebensache betrachtet ; nicht anders , als ob der Zweck der ganzen Unternehmung blos darauf hinausliefe , in der südlichen Halbkugel ‚nach einer neuen Curslinie‘ umherzusegeln ! Ein Glück war’s , daß , wenigstens dann und wann, die Bedürfnisse der Mannschaft mit dem Vortheil der Wissenschaften einerley Gegenstand hatten ; sonst würden die letztern vielleicht ganz leer ausgegangen seyn. ( AAII; 288 )63

In der nachträglichen Bilanzierung von Cooks Leistungen beurteilt Forster die Aktionen der Entdeckerfigur wesentlich wohlwollender : Behindern sie die Forschungen zur Naturkunde im ersten Text noch eher ,64 steigt der Kapitän in Cook , der Entdecker nunmehr zum vorbildhaften Förderer der Wissenschaften auf Weltreisen auf : Cook war auch hier das Gegentheil seiner Vorgänger. Sein Geist , der keinen Müssiggang kannte , sann stets auf Mittel , seinem Volke die Mühseligkeiten ihrer harten Lebensart zu erleichtern, dadurch [ … ] seinen Entdeckungen einen weitern Umkreis zu geben, und unsere Kenntnisse vom Reich der Wahrheit durch neue Bemerkungen der Natur , im Menschen so wohl , als in Tieren,

63 In der englischen Version : „But the study of nature was only made the secondary object in this voyage , which , contrary to its original intent , was so contrived in the execution, as to produce little more than a new track on the chart of the southern hemisphere. We were therefore obliged to look upon those moments , as peculiarly fortunate , when the urgent wants of the crew , and the interest of the sciences , happened to coincide“ ( AAI, 547 ). 64 Wie prekär die Situation an Bord für die Naturwissenschaftler ausgesehen haben muss , verdeutlicht ein Auszug aus dem Reisejournal von Johann Reinhold Forster. Der ältere Forster beschwert sich darin über die naturwissenschaftliche Unfruchtbarkeit des ausgiebigen Kreuzens von Cook im Polarmeer , dessen Zweck , den sagenhaften Südkontinent zu finden, der Kapitän alle anderen Zielsetzungen der Expedition unterordnet. Seine größte Sorge besteht darin, auf ganzer Linie hinter den von Joseph Banks und Daniel Solander auf der ersten Reisen Cooks erarbeiteten Forschungsergebnissen zurückzubleiben : „The thirst for knowledge , the desire of discovering new animals , new plants & to be happy to find perhaps one or more substances that might be useful [ … ] were the motives that animated me to go on this Expedition ; but having toiled for 18 months we have seen nothing which has not been seen before : for I believe all the few plants & Animals we could come at during our short stay ashore , probably were all observed by Mr Banks and Dr Solander [ … ] and what superiority their publication will have above mine by the infinite number of new Subjects on which their Observations & Descriptions can dwell.“ Johann Reinhold Forster : The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster , 1772–1775 , hg. v. Michael E. Hoare. 4 Vols. Vol. IV, London : Hakluyt Society 1982 , 97–98. Hier ist keine Rede von einem Kapitän, der die Förderung der Naturwissenschaften zu seinen obersten Expeditionszielen zählt. Eher im Gegenteil : Es ergibt sich der Eindruck eines unter Cooks Führung zunehmend desillusionierten Naturforschers , der in seinem ehrgeizigen Bestreben, den Studien seiner Vorgänger Neues hinzuzufügen, in keiner Weise mit dessen Unterstützung rechnen kann.



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Pflanzen und leblosen Körpern zu bereichern. So weit es also mit dem ihm vorgeschriebenen Reiseplan bestand [ … ] hielt er sich bey seinen neu entdeckten Ländern auf , und stellte theils in eigener Person, theils mit Hülfe seiner Reisegefährten, jene sorgfältigen Untersuchungen an, welche man [ … ] als Quellen der brauchbarsten, zuverläßigsten und angenehmsten Unterrichts , mit Theilnehmen und Bewunderung lesen wird. Die reichhaltigen Tagebücher seiner Reisen füllen allein sechs starke Quartbände ; zwey andere enthalten die astronomischen Beobachtungen, und noch ein paar andere liefern Nachrichten von merkwürdigen Gegenständen der allgemeinen Physik [ … ]. Sehen wir aber auf den wichtigsten Gegenstand unseres Forschens , auf unsere Gattung selbst ; wie viele Völker , die wir zuvor auch dem Namen nicht kannten, sind nicht durch die unvergeßlichen Bemühungen dieses großen Mannes bis auf die kleinsten Züge geschildert worden ! Ihre körperliche Verschiedenheit , ihre Gemüthsart , ihre Sitten, ihre Lebensart und Kleidung , ihre Regierungsform , ihre Religion, ihre wissenschaftlichen Begriffe , ihre Kunstarbeiten, kurz alles , sammelte Cook für die Zeitgenossen und die Nachwelt , mit Treue und unermüdetem Fleiß. ( AAV, 209 )

Beide Zitate beschreiben an und für sich ähnliche Sachverhalte , etwa die Doppelfunktion der Landaufenthalte zur Erholung der Besatzung und zur Durchführung naturwissenschaftlicher Studien sowie die besondere Rolle der Geographie bzw. der mit ihr eng verbundenen Disziplin der Astronomie für die Reiseplanungen des Navigators. In der Interpretation von Cooks Agieren setzen beide Textausschnitte jedoch voneinander grundlegend verschiedene Akzente.65 Erscheint die Naturwissenschaft auf Weltreisen in der ersten Passage nur als Nebenstrang , rückt sie in der zweiten in den Mittelpunkt der Cookschen Interessen ; und steht der Kapitän im vorhergehenden Text gänzlich abseits solcher Aktivitäten an Land , beteiligt er sich in der nachfolgenden Darstellung selbst an vorderster Stelle an der besagten Feldforschung. Es bleibt fraglich , ob Cook oder nicht doch eher die Forsters selbst die Anthropologie als „den wichtigsten Gegenstand unseres Forschens“ beurteilen. Auch die am Ende des zweiten Abschnitts eingefügte Klimax charakterisiert auf diese Weise wohl stärker das bevorzugte Studienthema der beiden Naturwissenschaftler als Cooks eigene oberste Priorität während seiner doch hauptsächlich auf die Kartierung des Pazifiks ausgerichteten drei Reisen.66 Bei dem

65 Überhaupt tendiert der Text an vielen Stellen dazu , nicht die nautisch-geographischen Forschungsschwerpunkte des Kapitäns , sondern das von den beiden Forsters selbst abgedeckte Studienspektrum stärker zu profilieren. An einer Stelle in Cook , der Entdecker kennzeichnet Forsters Ich-Erzähler diesen Hang zur Digression selbst. Nachdem er die Wichtigkeit der Landaufenthalte in Neuseeland , „um dessen Naturprodukte und andere Merkwürdigkeiten, von denen man bis dahin wenig wußte , genau zu erforschen“ herausgestrichen hat und besonders deren Ergiebigkeit für „die Kräuterkunde“, die „einen Zuwachs von beynahe vierhundert neuen Arten“ erhalten habe , nachgegangen ist , bricht er diesen Exkurs in das eigene naturwissenschaftliche Metier bewusst ab : „Doch wir kehren zu den für die Geographie errungenen Vortheilen zurück , welche hier eigentlich in Betracht kommen müssen.“ ( AAV, 216–217 ) 66 Eine der wohl einschlägigsten Äußerungen Georg Forsters zur Vorrangstellung von Forschungen zum Menschen für seine schriftstellerische Arbeit findet sich in der Vorrede zur Sammlung seiner Kleinen Schriften ( 1794 ), die auch mit ihrem Untertitel Ein Beytrag zur Völker- und Länderkunde , Naturgeschichte und Philosophie des Lebens eine dementsprechende Hierarchisierung anzeigen : „Die

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Abschnitt über den Status der Naturforschungen aus dem Reisebericht handelt es sich somit sicherlich um die „realistischere“ Darstellung von Interessenskonflikten zwischen Expeditionsleitung und mitreisenden Wissenschaftlern, während der Passus aus Cook der Entdecker , im Gestus rückblickender Verklärung , eher ein Idealporträt einer harmonischen Übereinkunft der Reiseprotagonisten in ihren Zielen und Aufgaben zeichnet. Auch weite Strecken des mittleren Textabschnitts , in dem Forster im Detail auf „Elementarstriche“ in der „Anordnung einer Entdeckungsfahrt“ ( AAV, 237 ) am Ende des achtzehnten Jahrhunderts eingeht , lesen sich weniger als Porträt des Kapitäns , sondern vielmehr als Erfahrungsbericht über den Alltag an Bord und an Land aus der Perspektive eines seiner Naturgelehrten. Wohl nirgends sonst liegt dies derart deutlich auf der Hand wie an einer Stelle , an der Forsters Ich-Erzähler auf das Prozedere während eines der Zwischenstopps der Forschungsexpedition auf den diversen Inseln des Südpazifiks eingeht. Dabei handelt es sich bei seiner Tätigkeitsbeschreibung ganz klar um eine Darstellung der reisenden Naturwissenschaftler , die sich bereits „am Strande [ … ] mit Erlernung der Sprache“, „mit Beobachtung dieser von uns so verschiedenen Menschen“, „mit dem Tauschhandel“ beschäftigen, sodann in „ihren Hütten [ … ] das Innere des Haushalts“ genauer beobachten und schließlich über „die Bestellung des Ackers , den Bau einer Hütte oder eines Kahnes“ zur „Gelegenheit“ vorstoßen, „irgend eine merkwürdige Sitte , oder einen auffallenden Gebrauch“ mitzuerleben, der repräsentative Auskünfte über die Kultur bzw. die Religion der studierten Inselbevölkerung erlaubt ( AAV, 268 ). Hinzu kommen botanische , zoologische und mineralogische Exkursionen : Die Produkte des Steinreichs , die ein jedes Land darbot , die dortigen Vögel , Insekten und Gewürme , mußten theils gesammelt , theils mit Geduld verfolgt werden ; und die Blüthen der Bäume und Kräuter nötigten den Botaniker , wegen ihrer Vergänglichkeit , an Bord zu eilen, um dort ihre Beschreibungen und Abbildungen vollenden, und dann nach einer neuen Ernte ans Land zurückkehren zu können. ( AAV, 268 )

Zwar mag Cook bei der einen oder anderen dieser Aktivitäten sicherlich als Augenzeuge beteiligt gewesen sein ; trotzdem bleibt evident , dass hier in erster Linie keine Bilanzierung der Leistungen des Kapitäns , sondern der Unternehmungen seiner Na-

Naturwissenschaft im weitesten Verstande , und insbesondere die Anthropologie , war bisher meine Beschäftigung. Was ich seit meiner Weltumsegelung geschrieben, steht damit großtentheils in einer Beziehung“ ( AAV, 345 ). Dass Johann Reinhold Forster ähnliche Schwerpunktsetzungen in seiner wissenschaftlichen Arbeit verfolgte , zeigt sich allein schon am breiten Umfang anthropologischer Forschungsergebnisse in seinen Observations Made During a Voyage Round the World , die bekanntlich zwei Drittel des gesamten Texts umfassen. Vgl. das lange Kapitel mit dem Titel „Remarks on the Human Species in the South-Sea Isles“ in Johann Reinhold Forster : Observations Made During a Voyage Round the World , hg. v. Nicholas Thomas , Harriet Guest , and Michael Dettelbach , Honolulu , HI: University of Hawai’i Press , 1996 , 143–376. Und auch in Cook , der Entdecker selbst findet sich ein Ausspruch , der den Wert anthropologischer Forschungen im Verbund wissenschaftlicher Disziplinen besonders hervorhebt : „Dem Menschen liegt unstreitig kein Gegenstand näher als der Mensch selbst“ ( AAV, 278 ).



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turforscher vorliegt. Obwohl der Text eingangs den Kapitän als „die Seele des ganzen Unternehmens“ ( AAV, 234 ) würdigt , geht er in dieser Passage erst nach der ausführlichen Beleuchtung der naturkundlichen Studien auf seine eigentlichen Hauptgeschäfte an Land ein : die Verproviantierung der Mannschaft , die Ausbesserung des Schiffs , die geographische Ortsbestimmung und die Kontaktpflege zu den Einheimischen, zu denen auch die Aushändigung von in Europa hergestellten Waren und Memorabilien wie Schaumünzen gehörte ( vgl. AAV, 268–269 ). Zunächst gilt die Aufmerksamkeit der Textpassage jedoch nicht dieser generellen Haushaltung der gesamten Forschungsexpedition, sondern genau den Spezialleistungen, die der Eigenverantwortung von Johann Reinhold und Georg Forster unterlagen. Auch hierin liegt wieder ein Unterschied zum Text Lichtenbergs , der , autobiographisch gänzlich unberührt von Rückblendungseffekten der eigenen Zeugenschaft , sich stets auf die Handlungen Cooks fokussiert.

Fazit Georg Forsters Rezeption von James Cook , wie sie hier anhand seines Reiseberichts sowie seines Aufsatzes Cook , der Entdecker betrachtet wurde , durchläuft eine bestimmte Entwicklung. Zunächst rivalisiert der jüngere Forster mit seiner Darstellung der persönlich erlebten Weltumsegelung mit dem offiziellen Expeditionsbericht und damit auch mit dessen Autor Cook. Es liegt somit im Interesse der beiden Naturwissenschaftler Johann Reinhold und Georg Forster , sich gegenüber diesem Konkurrenzprodukt vorteilhaft abzusetzen, unter anderem auch mithilfe von Fingerzeigen auf angebliche Mängel von Cook als Reiseautor. Andererseits verzichtet Forster mit gutem Grund darauf , die allseits bewunderte Figur des Kapitäns persönlich anzugreifen ; denn schließlich hätte ihm eine solche Kritik nur selbst geschadet. Stattdessen versucht Forster mit Cook , der Entdecker , die Position eines Hüters von Cooks Leistungen und Erbe zu besetzen. Daraus ergeben sich für Forster zwei strategische Vorteile. Erstens kann er in seiner Rolle als treuer Reisegefährte Cooks auch Teile von dessen Renommee für sich beanspruchen ; und zweitens kann er die Figur Cooks schriftstellerisch soweit modellieren, dass hinter dem biographischen Porträt ganz deutlich der Autobiograph Georg Forster selbst mit seinen spezifischen Interessen sichtbar wird.

Epilog : „Reisen seit Cook“ Forsters Arbeiten über Cooks Reisen nehmen vielfach und meistens implizit auf das deutschsprachige Publikum Bezug. Diese ihnen eingeschriebene Adressatenbeziehung wurde in den deutschen Rezensionsorganen aufgegriffen. Aus den beiden Selbstinszenierungen als Konkurrent und Erbe / Nachlassverwalter ergibt sich in Forsters Texten zu Cook ein Bild des deutschsprachigen Publikums , das die Rezensenten zu zustimmenden sowie ablehnenden und deutlichen sowie subtilen Positionierungen motivierte.

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Bereits in Forsters Vorbereitung der deutschen Ausgabe von Cooks Dritter Reise zeigt sich ein Wechselspiel zwischen Distanzierung und Annäherung. So ersetzt Forster die Einleitung von John Douglas zu Cooks Dritter Reise durch seinen eigenen Text Cook , der Entdecker und formuliert in „Rücksicht“ auf Douglas : „Die Bedürfnisse des englischen Publikums und des unsrigen sind sehr merklich verschieden“ ( AA V, 187 ). Einen von vier angeführten Gründen der Streichung , die religiöse Tendenz , formuliert Forster ironisch , indem er Douglas vorwirft , „das Ansehen Mosis und die Authentie der Offenbarung auf den Ausschlag einer Entdeckungsgeschichte ankommen zu lassen.“ Diese Kritik an Douglas’ Versuch , „die mosaische Bevölkerungsgeschichte [ … ] durch Cooks Entdeckungen gegen die Spötter“ zu ‚retten‘, wendet Forster im Namen der „Fortschritte der Aufklärung“ national : „Herr Douglas durfte in England noch unangefochten gewisse Sätze vortragen, die man uns in Deutschland nicht mehr hingehen ließe“ ( AA V, 189 ). Forster schreibt damit dem Adressaten den stereotypen Zug eines Nationalcharakters zu , wenngleich – unter Anspielung auf Gal. 6 ,7 : „Gott läßt sich nicht spotten“ – wiederum leicht ironisch : Der philosophische Geist unseres Volks läßt sich nicht spotten ; und so nachtheilig zuweilen die Folgen der Unmäßigkeit im Lesen für die Gesundheit des Verstandes werden können, so hat doch die uneingeschränkte Liebe zur Lektüre unter uns das Phänomen einer verhältnismäßig weit allgemeineren Berichtigung der Begriffe , als in jedem anderen Lande , bewirkt. ( AA V, 189 )

Der Distanzierung folgt jedoch eine Annäherung , die mit der Idealisierung Cooks zum Repräsentanten der Menschheit ihn Mittel zum Zweck geschichtsphilosophischer Reflexionen werden lässt , wobei sich Forster in der Kritik an Douglas’ Panegyrik der eigenen lobrednerischen Widmungen seiner Werke zur zweiten und dritten Reise Cooks – an Friedrich II. und Joseph II. – bedient. Die vierte Begründung der Streichung von Douglas’ Einleitung geschieht als Wendung zum deutschsprachigen Lesepublikum , dem der „Unpartheylichkeit“ beanspruchende „Übersetzer“ den „rechte[ n ] Gesichtspunct“ vermitteln wolle , den Douglas „verfehlt“ habe ; denn dieser habe zum Zweck der Panegyrik auf den Ersten Lord der Admiralität , Sandwich , „Cooks Vorgänger [ … ] im Südmeere“ „zu gleichem Range“ wie Cook ‚erhoben‘, obwohl „er allein den Namen eines Entdeckers“ verdiene : „der Entdecker [ … ] ist eine eben so seltene Erscheinung , wie der Monarch der durch sich selbst Epoche macht“ ( AA V, 190 ). Die unter dem Stichwort ‚philosophisch‘ erfolgende Distanzierung von Douglas und die unter dem der ‚Epoche‘ geschehende Annäherung , von denen die programmatisch-paratextuell intendierte Adressatenbeziehung bestimmt ist , bilden eine Rezeptionsvorgabe , auf die sich die zeitgenössischen Besprechungen auch noch im Widerspruch beziehen. Dies zeigte sich , als 1791 die Fortsetzung von Forsters Büchern über die zweite und dritte Reise Cooks erschien, nämlich seine dreibändige Geschichte der Reisen, die seit Cook an der Nordwest- und Nordost-Küste von Amerika und in dem nördlichen Amerika selbst von Meares , Dixon, Portlock , Coxe , Long u. a. m. unternommen worden sind.



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Unter Bezug auf die Aufmachung als Reihe durch den Berliner Verleger Christian Friedrich Voss schrieb die Staats- und gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten über das Werk : Es schließt sich bekanntlich an die Sammlung von Hawkesworth , und besonders an Cook’s letzte Reise an, da es die Entdeckungen dieses großen Seefahrers weiter führt , und das ergänzt , was er bey seinem verhältnißmäßig kurzen Aufenthalt an der Nordwestküste von Amerika nicht hatte entdecken und beobachten können.67

Zu Forsters Einleitung des dritten Bandes , „Vorläufige Schilderung des Nordens von Amerika“, hieß es unter Verweis auf die Einleitung zum ersten Band , die später „die Nordwestküste von Amerika , und der dortige Pelzhandel“ genannt wurde. Man kennt die vortreffliche , für den Geographen, den Politiker und den Kaufmann gleich wichtige Einleitung zu dem ersten Bande dieser Sammlung ; und der gegenwärtige [ … ] Aufsatz giebt ihr weder an Reichthum von Thatsachen, noch an philosophischen, überall Licht verbreitenden Geiste etwas nach.68

In der Rezension der Separatausgabe einer Reisebeschreibung aus dem dritten Band wurden beide Einleitungen verglichen mit der „vortreffliche[ n ] Abhandlung“ „Cook der Entdecker“, die „allgemein bekannt und bewundert“ sei :69 Hoffentlich wird Herr Hofrath Forster künftig , wenn erst die Reise Nachrichten der Herren Barclay , Duncan, Hanna , Perouse , u.s.w. zum Vorschein kommen, dies Werk , das [ … ] unsrer Litteratur Ehre macht , fortsetzen ; denn, daß niemand geschickter dazu ist , darüber hat das Deutsche Publikum nur Eine Stimme.70

Zur Begründung eines ähnlich positiven Urteils benutzte die Neue nürnbergische gelehrte Zeitung eine nicht als Zitat ausgewiesene Formulierung aus Forsters Text : Eine voranstehende Einleitung von 15 Bogen giebt dem deutschen Werke vor dem englischen Original einen schätzbaren Vorzug. Weil mit diesen Entdeckungen im höchsten Norden eine neue Epoche in der so merkwürdigen Geschichte des europäischen Handels , in welchen sich allmählig die ganze Weltgeschichte aufzulösen scheinet , beginnt , und weil sich bey diesen neuen Schiffahrten und Landreisen eine Menge von Ideen und Thatsachen aufdrängt ,71 so hat Hr. F. alles , was

67 Staats- und gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten ( 1792 ), Nr. 2 , 4. 1.  1792 , 4–5. 68 Ebd., 5. 69 Ebd., Nr. 74 , 6. 70 Ebd., Nr. 2 , 4–5 , hier 5. 71 Vgl. Georg Forster : „Die Nordwestküste von Amerika , und der dortige Pelzhandel“, in : ders.: Kleine Schriften. Ein Beytrag zur Völker- und Länderkunde , Naturgeschichte und Philosophie des Lebens. Th. 2. Berlin : Voß , 1794 , 13 ; diesen Titel trug die „Abhandlung“ erst 1796 in Separatausgabe des ersten Ban-

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auf die Kenntniß derselben Beziehung hat , in einen Brennpunkt gesammelt , um den Deutschen die Uebersicht dessen, was bisher unternommen worden ist , und das Urtheil derselben über die Wichtigkeit der ganzen Sache zu erleichtern.72

Wenn für den Hamburger und den Nürnberger Rezensenten ‚philosophischer Geist‘ und ‚Epoche‘ in Forsters konkurrierender Beerbung Cooks zusammenstimmten, traten sie zwei Jahre später , als Forster in Mainz für die Revolution Partei genommen hatte , in der Besprechung der gleichen Separatausgabe von Jonathan Longs Reisen eines Amerikanischen Dolmetschers und Pelzhändlers , welche eine Beschreibung der Sitten und Gebräuche der Nordamerikanischen Eingebornen und einige Nachricht von den Posten am St.Lorenz-Flusse , dem See Ontario u.s.w. enthalten durch die Neue allgemeine deutsche Bibliothek auseinander. Die Neue allgemeine deutsche Bibliothek betitelte die Besprechung mit einer Verkürzung von Forsters einleitender „Schilderung des Nordens von Amerika.“73 Der Rezensent betonte , dass die Reisebeschreibung Longs , der „am Ende selbst Indianer [ … ] wurde“,74 vom Übersetzer „durch eine interessante Abhandlung [ … ] für den deutschen Leser noch wichtiger gemacht“ werde , an der „edle [ … ] Sprache“ und „Kennerblick“ hervorgehoben wurden,75 um dann die nachdrückliche Lektüreempfehlung mit einer Distanzierung zu verbinden : Wer das nördliche Amerika nach seiner eigenthümlichen Beschaffenheit kennen lernen will , der lese die Abhandlung ! Nicht so ganz kann es indessen der Recens. dem Herrn F. verzeihen, daß er bey jeder Gelegenheit Ausfälle gegen die englische Regierungsverfassung zum Vortheil der neuen französischen Constitution thut. Der Rec. hat noch keine Parthie genommen, ist noch ruhiger Zuschauer in der zuversichtlichen Ueberzeugung , daß kein denkender Mann in dieser Sache so lange mit Entscheidung sprechen kann, bis sich der Erfolg der Constitution, als der Wirkung eines leidenschaftlichen Ausbruchs , zum Vortheil des ganzen französischen Reiches selbst dargelegt hat. Bis jetzt ist es noch nicht geschehen !76

Die Aussetzung des eigenen Urteils über Forsters Reflexionen – die in Mainz eine von Johannes Müller beim Kurfürsten entschärfte Denunziation durch einen Geistlichen Rat veranlassten –77 verstärkt letztlich eine Empfehlung , die zusätzlich auf die nega-

des , wo sie 1791 als „Einleitung“ bezeichnet war. Vgl. die beiden unterschiedlichen Interpretationen dieser Stelle durch Ottmar Ette : Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne , Weilerswist : Welbrück , 2002 , 93 , und ders.: Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Das Mobile des Wissens , Frankfurt a. M. et al.: Fischer , 2009 , 53. 72 Neue nürnbergische gelehrte Zeitung ( 1791 ), 94. Stück , 25. 11.  1791 , 745–752 , 95. Stück , 755–756 , hier 746. 73 Neue allgemeine deutsche Bibliothek 1 ( 1793 ), 339–349 , hier 339. 74 Ebd., 339. 75 Ebd., 345. 76 Ebd., 346. 77 Vgl. Johannes von Müller : „Des Mainzischen Geistlichen Raths und Fiscals T. geschehene Anzeige einer anstößigen Stelle in Forsters Geschichte der seit Cook geschehenen Reisen um die Welt“, in : ders. Sämmtliche Werke , hg. v. Johann Georg Müller. Th. 27. Tübingen : Cotta , 1819 , 265–274.



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tive Beurteilung einer konkurrierenden Übersetzung gegründet wird. Auf zwei Seiten werden zwei Stellen aus den Übersetzungen Forsters und Eberhard August Wilhelm Zimmermanns , Mathematik- und Physik-Professor in Braunschweig , parallel gedruckt , „die erstern Anfangsperioden“ und die Beschreibung eines Wasserfalls , um „eine Probe selbst entscheiden“ zu lassen.78 Im Urteil des Rezensenten erweist sich Zimmermanns Text zwar als „fließend und treu , steht aber als deutsches Produkt der Forsterschen Uebersetzung nach.“79 Der Rezensent verbindet das Lob , dass „Forster die Gabe , den Gedanken des Engländers und ihrer Darstellung die wahre originelle deutsche Form zu geben, vor seinem Nebenbuhler zum voraus hat“,80 mit dem Tadel an Zimmermann, seine Anmerkungen „schränken sich blos auf [ … ] Naturgeschichte [ … ] ein.“81 Der Blick auf die Entwicklung der Publikationen und ihrer Aufnahme bei den deutschen Rezensenten markiert nationale Gegensätze , die Forster zunächst eher relativiert hatte.

78 Neue allgemeine deutsche Bibliothek 1 ( 1793 ), 347. 79 Ebd., 347. 80 Ebd., 348. 81 Ebd., 349.

Eike Kronshage

Lavaters physiognomische Apodemik in Reisebeschreibungen deutscher Englandreisender im späten achtzehnten Jahrhundert Weit davon entfernt , reines Divertissement zu sein, stellte das Reisen im achtzehnten Jahrhundert eine relevante kulturelle Praxis der Identitätskonstitution dar. Im Vergleich mit , ebenso wie in Abgrenzung zur Andersartigkeit des bereisten Landes traten Spezifika und Defizite des jeweils eigenen klar vor Augen. Vor diesem Hintergrund erstaunt die Bandbreite des Erkenntnisinteresses deutscher Englandreisender nicht , um die es im Folgenden gehen soll , galt es schließlich , die kulturelle Vielfalt der deutschen Lande abzustecken. Das Reisen hatte dabei mehrfach metonymischen Charakter. Für Systemtouristen wie Johann Wilhelm von Archenholz stellte England zuvorderst liberalen Parlamentarismus dar , Großstadttouristen wie Justus Möser setzten London mit England gleich , während für Kunst-Touristen wie Peter Sturz die ästhetischen Produkte englischer Künstler , also deren Literatur , Architektur und Malerei , England im Kern ausmachten. Die zahlreichen veröffentlichten Berichte dieser Englandreisenden bezeugen nicht nur das der Reise jeweils zu Grunde liegende Interesse ,1 sondern prägten auch die Wahrnehmungen nachfolgender Reisender – sei es , dass diese die Betrachtungen ihrer Vorgänger bestätigt fanden oder sich dagegen abgrenzten.2

1 In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts wichen die vormals allgemein gehaltenen Titel der Reiseberichte ( wie etwa Christoph Mylius’ Tagebuch seiner Reise von Berlin nach England [ 1753 ] oder Johann Friedrich Karl Grimms Bemerkungen eines Reisenden durch Deutschland , Frankreich , England und Holland , in Briefen an seine Freunde [ 1775 ]) programmatischeren Titeln. Beispiele sind : Friedrich Wilhelm von Taubes Historische und Politische Abschilderung der Engländischen Manufacturen, Handlung , Schiffahrt und Colonien nach ihrer jetzigen Einrichtung und Beschaffenheit ( 1774 ) oder Johann Jacob Volkmanns Neueste Reisen durch England , vorzüglich in Absicht auf die Kunstsammlungen, Naturgeschichte , Oekonomie , Manufakturen und Landsitze der Großen ( 1781 ). 2 Friedrich Wilhelm von Schütz , von dem im letzten Teil dieses Beitrags die Rede sein soll , schrieb 1791 gegen die England-Darstellungen von Archenholz an, was er seiner Leserschaft bereits im Titel  signalisierte : Briefe über London : Ein Gegenstück zu den Herrn von Archenholz England und Italien. Friedrich August Wendeborn, der sich in England niedergelassen hatte , kritisierte die Urteile von Reisenden, die selten mehr als wenige Wochen, und dazu ausschließlich in London blieben. Er schrieb : „Most of the foreigners , who have written on the English nation, did , a few only excepted , reside but a short time in London [ … ] There is no trusting to this class of travellers , who take the much corrupted manners of the metropolis for those of the whole country“. Siehe Friedrich August Wendeborn : A View of England Towards the Close of the Eighteenth Century. Translated from the Original German, by the Author himself. London : Robinson, 1791 , 358–359. Zur Geschichte und Funktion der Replik auf Reiseberichte , siehe Françoise Knopper : „Öffentlichkeit und Meinungsfreiheit : Repliken und Gegenschriften zu Reisebeschreibungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts“, in : Die Welt erfahren : Reisen als

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Mit der zunehmenden Beliebtheit des Reiseberichts tritt im achtzehnten Jahrhundert ein zentrales Problem dieser Gattung deutlich zu Tage : der Mangel eines Standards zur Beschreibung und Bewertung der Reiseeindrücke ,3 zumal die Berichte der intellektuellen Profilierung der Reisenden dienten, so dass diese ihre subjektive Wahrnehmung oftmals offen zur Schau trugen. Es mangelte also an einer wissenschaftlichen Bemessungsgrundlage des Erlebten, welche sachliche Informationen über das bereiste Land und dessen Bewohner hätte vermitteln können. Sich dieses Mangels ebenfalls bewusst war der schweizerische Physiognomiker Johann Caspar Lavater ( 1741–1801 ), der daher im vierten und abschließenden Band seiner Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe ( 1775–78 ) sein „Wort an Reisende“ richtet ( so der Titel des vierten Fragments ). Lavater erteilt folgenden Ratschlag : Für den Reisenden, däucht mir , sind drey Dinge schlechterdings unentbehrlich – Gesundheit – Geld – Physiognomik ! – Also auch Ein physiognomisches Wort an Reisende – die reisen, um zu reisen – Lieber wollte ich , statt dieses einzigen Wortes – daß ein physiognomisches Taschenbuch für Reisende geschrieben würde – aber – von keinem andern, als einem geübten Reiser.4

Der zunehmenden Reisefreudigkeit seiner deutschsprachigen Zeitgenossen versuchte Lavater durch diese Empfehlungen einen tieferen , ‚wissenschaftlichen‘ Sinn zu verleihen. Durch eine Reihe rhetorischer Fragen ( „Was sucht ihr , Reisende ? was wollt ihr ? [ … ] Giebt’s etwas Sonderbarers , Sehenswerthers , als die verschiedenen Editionen der Menschheit ?“ )5 gelangt er schließlich zum für ihn einzig denkbaren Beweggrund aller Reisen : „Ihr sucht Menschen !“6 Mit seinem ihm eigenen , schwärmerisch-romantischen Anthropozentrismus , der für den Reformtheologen keinen Widerspruch zum theozentrischen Weltbild darstellt , wertet Lavater den Menschen als Ursprung und Ziel aller wissenschaftlichen Forschung. Der Forschungsreisende ziele folglich darauf ab , Menschen zu entdecken, bzw. sie , wie Lavater ausführt , „physiognomisch kennen zu lernen“7 – um in letzter Instanz sich selbst kennenzulernen. Das von Lavater empfohlene Erstellen eines physiognomischen Itinerars soll dem Reisenden Gedächtnisstütze sein. Im Fall von Auslandsreisen solle es helfen, die vielfältigen physiognomischen Eindrücke auf die gemeinsame Formel eines Nationalcharakters zu bringen, den „physiognomischen Cha-

kulturelle Begegnung von 1780 bis heute , hg. v. Arnd Bauerkämper , Hans Erich Bödeker und Bernhard Struck , Frankfurt a. M. / New York : Campus , 2004 , 219–238. 3 Siehe dazu Ingrid Kuczinsky : „Zum Aufkommen der individualisierten Wirklichkeitssicht in der englischen Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts“, in : Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung , hg. v. Hans-Wolf Jäger. Heidelberg : Winter , 1992 , 35–46. 4 Johann Caspar Lavater : Physiognomische Fragmente , zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe ; 4 Bde , Leipzig : Winterthur , 1775–78 , IV : 134 , Hervorhebungen im Original. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd.



Lavaters physiognomische Apodemik 

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rakter der Nation“, wie er schreibt. Dieser lasse sich ferner durch eine ebenso einfache wie unfehlbare Regel angeben : „Was an einem Orte sechs bis sieben unausgesuchten, von ungefähr mir aufstoßenden, oder aus dem Haufen herausgegriffenen Menschen gemein ist , ist mehr oder weniger allen dieses Ortes gemein“.8 Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, ob deutschsprachige Englandreisende Lavaters Ratschlag folgten und neben Geld und Gesundheit auch einen physiognomisch geschulten Blick mit über den Ärmelkanal nahmen, mit dessen Hilfe sie den englischen Nationalcharakter abzulesen versuchten. Untersucht werden soll , mit anderen Worten, ob es im deutschsprachigen Englandreisebericht des späten achtzehnten Jahrhunderts zu einer ‚Physiognomisierung‘ der Beschreibungen gekommen ist. Auf Grund der Fülle des Materials beschränke ich mich in meiner Untersuchung ausschließlich auf die Berichte deutschsprachiger Reisender von ihren Reisen nach England , insbesondere , da auf den Kontinentalreisen der Engländer im achtzehnten Jahrhundert Deutschland noch kein privilegiertes Reiseziel darstellte : Die Grand Tour englischer Adelssöhne führte damals noch fast ausschließlich durch Frankreich und Italien, denen gelegentlich Wien als weitere Station hinzugefügt wurde. Den Anfang der untersuchten Texte macht der Reisebericht von Karl Philipp Moritz. Dieser hatte als junger Mann, und noch vor seiner Karriere als Schriftsteller und Aufklärer , England bereist. Sophie de la Roche hingegen, die zweite hier behandelte Reisende , war zum Zeitpunkt ihrer Reise nach England bereits Autorin mehrerer erfolgreicher England-Romane und hatte somit das noch zu bereisende Land bereits literarisch imaginiert. Beide , Moritz und La Roche , eint ihre ausgeprägte Anglophilie , was sie vom dritten zu untersuchenden Text unterscheidet : denn Friedrich Wilhelm von Schütz stilisiert sich in seinem Reisebericht zum unparteiischen Englandkritiker , dessen Wahrnehmung von keiner präformierten Meinung beeinflusst sei. Ihre drei Reisebeschreibungen geben eine erste Idee vom Facettenreichtum des Genres und bieten sich somit für meine Untersuchung einer möglichen ‚Physiognomisierung‘ der Reiseberichte ( bzw. dem Widerstand gegen eine solche ) im späten achtzehnten Jahrhundert an.

Karl Philipp Moritz Autoren, deren Haltung der Physiognomik gegenüber grundsätzlich ablehnend oder zumindest ambivalent ausfiel , folgten, wenig überraschend , auf ihren England-Reisen nicht der physiognomischen Apodemik Lavaters. In seinen Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782 macht der 25-jährige Reisende sich nur selten die Mühe , die Gesichter der ihm begegnenden Personen zu beschreiben. Gleichwohl wird aus diversen Schilderungen ersichtlich , dass der anglophile Moritz den Physiognomien der Eng-

8 Ebd., IV : 136.

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länder durchaus Beachtung schenkt. Aus London schreibt er mit großer Begeisterung : „[ I ]ch muß gestehen, daß die mannigfaltig abwechselnden Gesichter , wovon wirklich bei weitem die größte Anzahl von blendender Schönheit ist , [ … ] einen unbeschreiblich angenehmen Eindruck auf die Phantasie macht“.9 Während Moritz das Lavatersche Diktum physiognomischer Mannigfaltigkeit konzediert ,10 klassifiziert er jedoch vorrangig schöne versus hässliche Physiognomien, ohne diese einer eingehenderen Detailanalyse zu unterziehen. Vielmehr findet sich an der Stelle , an der eine exakte Schilderung erwartbar wäre , der für Reiseberichte nicht unübliche Unbeschreibbarkeitstopos.11 Was das vielgestaltige Schöne nicht zu leisten im Stande ist , vermag das Hässliche hingegen sehr wohl : den analytischen Blick des Reisenden zu fesseln. Im Bericht über einige Schäfer verdichtet sich Moritz’ Physiognomiebeschreibung zu ansonsten ungewohnter Detailfülle : Ihre von Bier und Brantwein aufgedunsenen Gesichter lagen wie dicke , todte Fleischmassen vor mir. [ … ] Der eine unter ihnen aber war von den übrigen beiden sehr verschieden : sein Gesicht war gelb und hager , seine Augen tief eingefallen, seine langen gelben Finger schlotterten an seinen Händen, er sah aus wie Geiz und Menschenhaß.12

Anders als bei der „größte[ n ] Anzahl“ der Gesichter der Londoner Massen, die nur in und als Masse „Eindruck auf die Phantasie“ zu machen vermögen, sondert Moritz aus den Fleischmassen der hässlichen Schäfer ein Gesicht aus ( „Der eine unter ihnen aber“ ). Er betrachtet , ebenfalls isoliert , dessen einzelne Züge ( Gesicht , Augen, Finger , Hände ) in Hinsicht auf ihre Farbe ( gelb ), Form ( lang , hager ) und besonderen Merkmale ( tief eingefallen ). Neben den primär deskriptiven Beiwörtern fügt Moritz zudem eine Wertung hinzu , welche die Beschreibung rahmt ( „dicke , tote Fleischmassen“ zu Beginn und die Allegorisierung „Geiz und Menschenhaß“ am Ende ). Das in dieser für Moritz ungewöhnlichen Detailfülle zum Ausdruck kommende gesteigerte Interesse , das er den hässlichen Schäferphysiognomien entgegenbringt , lässt sich in der Traditionslinie des ( Auslands )Reiseberichtes lesen, dessen zentrales Gattungsmerkmal der Vergleich mit der heimischen Welt ist. Die Reduktion des fremden Schönen auf eine bloße Randbemerkung nimmt diesem seine individuelle Note. Dieser Mangel an Spezifik kann, mit Winfried Menninghaus , als „erstes Merkmal des reinen

9 Karl Philipp Moritz : Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782 , Berlin : Maurer , 1783 , 43–44. 10 Lavater , Physiognomische Fragmente , I : 45. 11 Zum Unbeschreibbarkeitstopos in den Berichten deutscher Englandreisender siehe Tilman Fischer : Reiseziel England : Ein Beitrag zur Poetik der Reisebeschreibung und zur Topik der Moderne ( 1830–1870 ), Berlin : Schmidt , 2004 , 288 f. Fischer versteht diesen Topos als „eine der facettenreichsten Argumentationsweisen im Arsenal der Darstellungsmittel und Gattungskonventionen.“ Ihr Effekt sei , so Fischer weiter , „eher als Zugewinn von authentischer Erfahrung beim Autor , denn als eingestandenes Versagen“ aufzufassen ( ebd., 288 ). 12 Moritz : Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782 , 252.



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Schönen“ begriffen werden.13 Entscheidender scheint mir im Kontext des Reiseberichts jedoch die Inhibition komparativer Lektüren in Bezug auf die Engländer , deren „fremde Sprache , fremde Sitten, und ein fremdes Klima“ Moritz zwar als Unterscheidungsmerkmal anerkennt ,14 ohne aber je in seinem Bericht auf eine grundlegende Verschiedenheit menschlicher Naturen dies- und jenseits des Ärmelkanals einzugehen.15 Daraus erklärt sich auch Moritz’ Verzicht , Engländer als überlegen-schöne Menschen zu zeichnen, bei denen jeder Vergleich zu Ungunsten der Bewohner der deutschen Lande ausfallen würde. Die Merkmalsfülle der hässlichen Schäferphysio­gnomien hingegen fordert den Vergleich nahezu heraus – jedoch mit offenem Ausgang. Wo Moritz gelegentlich an anderer Stelle über Physiognomik urteilt , ist seine Haltung nie rundheraus ablehnend. Jedoch bleibt für ihn jegliche physiognomische Relevanz unmitteilbar.16 Im Jahr seiner Englandreise veröffentlicht Moritz im Deutschen Museum seinen Aufsatz „Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde.“ Über die Notwendigkeit , die menschliche Seele wissenschaftlich zu studieren, schreibt er darin : Wer siehet nicht ein, daß Lavaters Physiognomik immer ein vortrefflicher Beitrag zu einer Erfahrungsseelenlehre bleiben wird , und daß dieselbe vielleicht nur darauf wartet , in ein größeres Ganze eingeschoben zu werden, um ihre völlige Nutzbarkeit zu zeigen ? Einige vortreffliche Aufsätze von Lichtenberg im Göttingschen Magazin sind ebenfalls ein wichtiger Beitrag.17

13 Winfried Menninghaus : Das Versprechen der Schönheit , Frankfurt a. M.: Suhrkamp , 2007 , 15. Menninghaus zitiert Belege aus der empirischen Schönheitsforschung , um seine Idee der Merkmalslosigkeit des Schönen zu unterstreichen : „Je weniger individualisierende Merkmale ein Gesicht aufweist , desto höher sind seine Chancen, in einer rein ästhetischen, von allen sonstigen Kenntnissen der Person freien Beurteilung als schön bewertet zu werden.“ ( 16–17 ) Merkmalslosigkeit fungiert im Kontext der Schönheit letztlich als Projektionsfläche für Schönheitsideale. 14 Moritz : Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782 , 12. 15 In Bezug auf Architektur und Landschaft hingegen geizt Moritz in seinen Beschreibungen nicht mit Vergleichen zur Heimat , die für den jungen Anglophilen häufig zugunsten des Reiselandes ausfallen : Die Schönheit der „reizenden Ufer der Elbe“ wird von der Pracht der Themseufer übertroffen „wie der Herbst vom Frühlinge !“( Moritz : Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782 , 2 ) „[ I ]n ein angenehmes Erstaunen“ versetzt ihn der Anblick englischer Dörfer , „insbesondere da ich sie mit unsern Bauerhütten verglich“ ( ebd., 5 ). Und auch die Londoner Straßen erscheinen ihm „weit lebhafter , als die volkreichste Straße in Berlin“ ( ebd., 8 ). Je weiter sich Moritz in das Gedränge der Londoner City bewegt , desto größer seine Überwältigung , die in der Erkenntnis der Unvergleichbarkeit Londons gipfelt : „Ich konnte London seinem äußern Anblick nach , in meinen Gedanken mit keiner Stadt vergleichen, die ich sonst gesehen hatte“ ( ebd., 10 ). 16 Jörg Paulus schreibt über die Haltung der deutschen Aufklärung zur Physiognomik , dass diese nicht bestreite , „dass physiognomisch relevante Qualitäten existieren ; allein deren Mitteilbarkeit wird in Frage gestellt.“ Jörg Paulus : Der Enthusiast und sein Schatten : Literarische Schwärmer- und Philisterkritik um 1800 , Berlin : De Gruyter , 1998 , 63 ; Hervorhebung im Original. 17 Karl Philipp Moritz : „Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde“, in Deutsches Museum 6 ( 1782 ), 485–503 , hier 490.

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Physiognomik Lavaterscher Provenienz bleibt für Moritz ein Beitrag zur von ihm intendierten Erfahrungsseelenkunde – vortrefflich und nützlich , wie er schreibt , aber eben allein nicht hinreichend zum Studium des menschlichen Innenlebens. Zu dessen Vervollkommnung bedürfe es laut Moritz einer Einordnung der Physiognomik „in ein größeres Ganze[ s ]“, so dass aus ihr eine „wolthätige Wissenschaft“ entstehen könne.18 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Umstand , dass Moritz die in seinem Aufsatz dargelegte Notwendigkeit zur Gründung eines Magazins über Erfahrungsseelenkunde eingangs mit dem Studium der nicht-edlen, verderbten und krankhaften Seele begründet. Wie weit mannichfaltiger , verderblicher , und um sich greifender als alle körperliche Übel , sind die Krankheiten der Seele ! Wie weit unentbehrlicher , als alle Arzneikunde für den Körper , wäre dem menschlichen Geschlechte eine Seelenkrankheitslehre , die es noch nicht hat !19

Moritz’ Interesse an den Krankheiten der Seele mag weiterer Beweggrund sein, weshalb er auf seiner Englandreise so wenig auf die schönen, wohl aber auf die hässlichen Physiognomien zu achten scheint. Das Hässliche ist für Moritz physiognomisch mitteilsamer als das Schöne , welches er in seinen späteren Arbeiten vom Inneren stärker abkoppelt , wenn er betont , dass „der edle Mensch , um edel zu sein, der körperlichen Schönheit nicht bedarf“, und er die „innre Seelenschönheit , im Gegensatz gegen die Schönheit auf der Oberfläche“ streng unterscheidet.20 Ein physiognomisches Reiseitinerar im Lavaterschen Sinne erstellt der Physiognomik-Skeptiker Moritz in England hingegen nicht , auch wenn er , wie sein zur gleichen Zeit entstandener Aufsatz belegt , durchaus im Sinne von Lavaters Apodemik auf der ‚Suche nach Menschen‘ ist. Die Spezifik englischer Menschen interessiert ihn ebensowenig , da die menschliche Seele , wie er schreibt , „von Individuis abstrahiert“ betrachtet werden müsse , um „das menschliche Geschlecht durch sich selber mit sich selber bekannter“ zu machen.21 Moritz’ Vergleiche mit der Heimat interessieren sich daher stärker für Klima , Landschaft , Architektur und Kunst , als für die universelle menschliche Seele , die , wenn auch nicht mit wissenschaftlicher Präzision an der Physiognomie abgelesen, so doch intuitiv an dieser erkannt werden könne.

18 Ebd., 486. 19 Ebd., 486. 20 Karl Philipp Moritz : Über die bildende Nachahmung des Schönen, Braunschweig : Schul-Buchhandlung , 1788 , 7. 21 Moritz : „Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde“, 487–489.



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Sophie de La Roche Nur wenige Jahre nach Moritz reiste die Schriftstellerin Sophie de la Roche durch England. Ihre Erlebnisse veröffentlichte sie zwei Jahre später in dem Bericht Tagebuch einer Reise durch Holland und England ( 1788 ). Bereits der Untertitel dieser Publikation verweist ( neben seiner sicherlich verkaufsfördernden Intention ) auf den literarischen Charakter ihrer Reiseerlebnisse : „Von der Verfasserin von Rosaliens Briefen“. 1788 galt La Roche bereits als etablierte deutsche Schriftstellerin. Ihre Romane Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St** ( 1779–81 ) und insbesondere der ursprünglich anonym herausgegebene Briefroman Geschichte des Fräuleins von Sternheim ( 1771 ) waren bei Publikum und Kritik – national wie international – gleichermaßen erfolgreich.22 Sie unterhielt Kontakte mit den literarischen und philosophischen Größen ihrer Zeit , mit Wieland , Goethe , Schiller , Jacobi , und ebenfalls mit Lavater , mit dem sie durch regelmäßige Korrespondenz in Verbindung blieb und den sie mit Erfolg um Unterstützung bei der Werbung von Subskribenten für das von ihr herausgegebene Magazin Pomona bat. Anders als Moritz , dessen literarisches Hauptwerk Anton Reiser auf seine Reisebeschreibungen folgte ,23 folgte bei La Roche das Reisen auf das Romanwerk , dessen Geschichten zudem vorwiegend in England angesiedelt sind. Somit war La Roches Englandbild zum Zeitpunkt ihrer Reise literarisch bereits doppelt präformiert , durch ihre umfassende Lektüre englischer Romane und durch ihre eigenen Englandromane.24 In ihrer Doppelrolle als deutsche Schriftstellerin und begeisterte Anhängerin der englischen Literatur , sieht sich La Roche ferner auf ihrer kulturellen Bildungsreise gezwungen, auf allzu direkte Vergleiche beider Literaturen zu verzichten, um nicht Gefahr zu laufen, in ihrer Anglophilie der einen den Vorzug vor der anderen zu geben. Das selbstauferlegte deutsch-englische Vergleichsverbot erstreckt sich von der Literatur zunehmend auf alle Bereiche ihrer Reiseerlebnisse , und es überwiegen daher englisch-französische Vergleiche in ihren Berichten, was ihr ermöglicht , die Vorzüge der britischen Kultur vor der französischen hervorzuheben, ohne die Errungenschaften

22 Zur Rezeptionsgeschichte von La Roches Romanwerk in Deutschland , England und Frankreich siehe Margrit Langner : Sophie von La Roche : Die empfindsame Realistin, Heidelberg : Winter , 1995 , insbesondere 44–51. 23 Die Entwicklungslinie von Moritz’ Reisen zu seinem Reiser zeichnet Helen Lowry in ihrer Dissertationsschrift ‚Reisen, sollte ich , reisen ! England sehen !‘ A Study in Eighteenth-Century Travel Accounts : Sophie von La Roche , Johanna Schopenhauer and Others ( 1998 ) nach – bei stetigem Vergleich zu La Roches Reisen ( besonders 181–243 ). La Roche selbst kannte Moritz’ Bericht und nimmt in ihrem eigenen mehrfach Bezug darauf : Sophie de la Roche : Tagebuch einer Reise durch Holland und England : Von der Verfasserin von Rosaliens Briefen [ 1788 ], hg. v. Barbara Becker-Cantarino. Karben : Wald , 1997 , hier 247–248 ; 421 ; 614. 24 Für detaillierte Ausführungen zu derartigen Wahrnehmungsschichtungen und ihrer spezifischen Lesbarkeit siehe die Beiträge in dem Band Palimpsestraum Stadt , hg. v. Eike Kronshage , Cecile Sandten und Winfried Thielmann , Trier : WVT, 2015.

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der heimischen zu schmälern. Gleich bei ihrer Ankunft in London schlägt sie diesen Ton an, der durch den gesamten Bericht erklingen wird : „London ist mehr , viel mehr als Paris“.25 Bei dieser engen Verzahnung von Reisen und Romanen überrascht es nicht , dass Fiktion und Wirklichkeit sich in La Roches Reiseberichten wiederholt überlagern, was sie selbst beim ersten ( wirklichen ) Anblick des von ihr so geliebten und mehr als Frankreich geschätzten England selbst konstatiert. Sie schreibt : Schon der Gedanke : Du siehst England , machte mich für Freude beben [ … ]; denn ich bekenne : Bücher und Reisen waren immer für mich die einzige vollkommne Glückseligkeit dieses Lebens. Besonders England , dessen Geschichte , Schriftsteller und Landwirthschaft ich mir schon so lange bekannt machte , sie schon so lange liebte – war immer ein Punkt , nach welchem meine ganze Seele begierig war.26

Das Muster der Überlagerung literarischer Texte und wahrgenommener Wirklichkeit zieht sich durch sämtliche Stationen ihrer Reise.27 Bei einer Begegnung mit dem deutsch-britischen Musiker und Astronom Wilhelm Herschel imaginiert La Roche sogleich , was der englische Dichter Alexander Pope über ihn gedacht haben würde , wenn er ihn gekannt hätte.28 Beim Anblick des Royal Exchange zieht sie es vor , diese ausschließlich in den Worten des Dichters Joseph Addison zu schildern.29 Als sie Königin Charlotte kennenlernt , fallen ihr sofort passende Worte aus Johann Georg Friedrich Jacobis Elysium ( 1770 ) ein, und beim Anblick von König George III. Verse aus James Thomsons Gedicht „Freiheit“.30 Die zahllosen intertextuellen Verweise dienen ebenso sehr der Selbststilisierung als gebildeter Frau von Welt , wie sie Belege für La Roches vorgeprägte ( England )Wahrnehmung sind. Bei aller kritischen Selbstreflexion scheint La Roche die Zirkularität des Musters von Vorformung und Erfahrung nicht zu bemerken : Das literarisch präformierte Interesse sucht seine Bestätigung in der Erfahrung des wirklichen England und findet sie gerade deshalb , weil sie in so starkem Maße literarisch vorgeformt ist. Eine für die hier angestellten Überlegungen relevante Konsequenz dieses Wahrnehmungsmusters ist , dass La Roche in und an England nichts wahrzunehmen in der Lage scheint , was sie nicht bereits auf die eine oder andere Weise literarisch erfahren hat. Für die prärealistische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts , die , wenn auch auf indirekte Weise , noch maßgeblich von einer aristotelischen Poetik geprägt ist , bedeutet dies

25 La Roche : Tagebuch einer Reise durch Holland und England , 201. 26 Ebd., 190 ; Hervorhebungen im Original. 27 Eine analoge Präformierung der Reiseerlebnisse durch die Lektüre britischer Romane beschreibt Stefan Keppler-Tasaki am Beispiel der durch Walter Scott beeinflussten Englandreisen Hermann von Pückler-Muskaus. Siehe den entsprechenden Beitrag in diesem Band. 28 La Roche : Tagebuch einer Reise durch Holland und England , 396–397. 29 Ebd., 449–453. 30 Ebd., 413–414.



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insbesondere , dass ihr Blick idealisierend oder karikierend verläuft , also Menschen sieht , die besser oder schlechter als der gewöhnliche Alltagsmensch sind. Aristoteles zufolge werden in der Literatur Menschen „nachgeahmt , die entweder besser oder schlechter sind , als wir zu sein pflegen, oder auch ebenso wie wir“.31 Der von ihm skizzierte dritte Weg in der Literatur , Menschen nachzuahmen, die „ebenso wie wir“ sind , wird in der Poetik aus naheliegenden Gründen nicht weiter diskutiert und ihre systematische literarhistorische Einlösung erhält das Paradigma der Repräsentation des Alltagsmenschen erst in der Literatur des Realismus gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Ähnlich wie Moritz , der , wenn auch aus anderen Gründen, vor allem schöne oder hässliche Physiognomien zu erfassen in der Lage war , ist auch La Roches literarisch vorgeformter Blick auf die von Aristoteles skizzierten besseren oder schlechteren Menschen gerichtet , die entweder charakterlich distinguiert ( spoudaíos ) oder verkommen ( phaûlos ) sind. Neues zu erkennen ist ihr hingegen nicht ohne weiteres möglich. Von den Porträts einer Galerie schreibt sie entsprechend : Die in den Zimmern aufgehängte[ n ] Bildnisse vieler gelehrten Britten, deren Werke oder Namen mir bekannt waren, machten mir viel Vergnügen, weil die Erinnerung der Züge ihres Geistes auch denen von ihrer äußerlichen Bildung einen erhöhten Werth geben, obschon, freimüthig zu reden, manches Gesicht , ohne den wichtigen Namen, gewiß nur flüchtig würde betrachtet werden.32

Dass es sich bei den porträtierten Personen vorwiegend um gelehrte Briten handelt , sorgt nicht nur dafür , La Roches Blick überhaupt erst einzufangen, es hilft ihr auch , das Gesehene mühelos zu kategorisieren und den Porträtierten „einen erhöhten Werth [ zu ] geben“. Über die künstlerische Darstellung der historischen Persönlichkeiten, darüber also , dass diese ihr nur in der ästhetischen Vermittlung gegeben sind , verliert sie kein Wort , gleich so , als ob die Kunst das Leben sei und nicht nur abbilde. Beim Anblick einer Porträtdarstellung Heinrichs VIII. schreibt sie : Heinrich der Achte hat eine dem moralischen Gefühl höchstwidrige Physiognomie ; seine vollen Backen und sein doppeltes Kinn scheinen von eingesaugtem Blut und Lebenssäften guter Geschöpfe angefüllt ; das Lächlende in seinen Augen und Mund hat etwas Fürchterliches. Er erregt noch itzt mit diesen deutlichen, so wie Cromwell mit den verdeckten Zügen seines Charakters , einen Schauer [ … ].33

Bemerkenswert ist hier der Doppelcharakter des Porträts als physiognomisches und literarisches. Die isolierte Analyse einzelner Gesichtspartien, Backen, Kinn, Augen und Mund , entspricht der Lavaterschen Idee , dass alle Körper- und Gesichtsteile das Innere

31 Aristoteles : Poetik : Griechisch / Deutsch , übersetzt von Manfred Fuhrmann, Stuttgart : Reclam , 2001 , 1448a 4–5. 32 La Roche : Tagebuch einer Reise durch Holland und England , 240. 33 Ebd., 241.

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des Menschen signifizieren. Die drastische Anschaulichkeit des irrealen Vergleichssatzes hingegen ist mit ihrem Bezug auf das Vampirische des Tudor-Königs , das Einsaugen von „Blut und Lebenssäften“, eine literarische Ausschmückung des betrachteten Gesichts , die sich in der Akkumulation schauderhafter Lexeme zu einer Isotopie des Schreckens verdichtet. Trotz aller Deutlichkeit bleibt der Übergang von Lavaterscher zu literarischer Physiognomik bei La Roche fließend ; er wird durch Semikola statt Punkte getrennt. Was den Physiognomien des englischen Alltags verwehrt bleibt , La Roches Interesse zu wecken, vermögen die Physiognomien historischer , und damit bereits bekannter , Persönlichkeiten hingegen durchaus. Damit ist La Roches Blick ein zweifach vermittelter , der weniger erkennt als kennt , und der weniger das Leben als das in der Kunst abgebildete Leben betrachtet. Ein solcher Blick benötigt freilich das umfangreiche Modell Lavaterscher Physiognomik nicht. So erklärt sich auch La Roches ambivalentes Verhältnis zur physiognomischen Lehre des Schweizer Theologen, welches schon in ihren Romanen zum Ausdruck kam. In dem Briefroman Geschichte des Fräuleins von Sternheim z. B. konstatiert Lord Derby auf dem Maskenball , welcher den Höhepunkt des ersten Teils des Romans bildet und bei dem die Gesichter der Anwesenden verborgen sind , „daß unser Gesicht , und das was man Physionomie nennt , ganz eigentlich der Ausdruck unsrer Seele ist“.34 Diese Feststellung wird jedoch dadurch relativiert , dass sie vom großen Schurken des Romans gemacht wird , dessen eigene Physiognomie seinen unehrenhaften Charakter vielleicht hätte anzeigen können, wenn dem Roman ein stabiler physiognomischer Code zu Grunde läge. Jedoch wird Derbys Physiognomie an keiner Stelle beschrieben. Über die maskierte Sophie von Sternheim urteilt der Physiognomiker Derby hingegen überraschend unphysiognomisch : Denn ohne Masque war meine Sternheim allezeit das Bild der sittlichen Schönheit , indem ihre Miene und der Blick ihrer Augen, eine Hoheit und Reinigkeit der Seele über ihre ganze Person auszugießen schien, wodurch alle Begierden, die sie einflößte , in den Schranken der Ehrerbietung gehalten wurden. Aber nun waren ihre Augenbraunen, Schläfe und halbe Backen gedeckt und ihre Seele gleichsam unsichtbar gemacht ; sie verlohr dadurch die sittliche charakteristische Züge ihrer Annehmlichkeiten, und sank zu der allgemeinen Idee eines Mädchens herab.35

Es sind hier nicht Gesicht und Augen, sondern Miene und Blick , d. h. pathognomische statt physiognomische Zeichen, die den sittlichen Charakter Sophies bezeichnen, oder , wie Derby präzisiert , zu bezeichnen scheinen. Die Objektivität von Derbys Urteil wird weiter in Frage gestellt durch seine offensichtliche Wollust , die nur durch das scheinbare Bild von Sophies Sittlichkeit „in den Schranken der Ehrerbietung gehalten“ wird. Sobald die „Hoheit und Reinigkeit“ ihrer Seele durch die Maske verdeckt ist und da-

34 [ Sophie de La Roche ]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Von einer Freundin derselben aus Original-Papieren und andern zuverläßigen Quellen gezogen, Reutlingen : Fleischhauer , 1776 , 311. 35 Ebd.



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durch ihre Sittlichkeit „zu der allgemeine Idee eines Mädchens herab[ gesunken ]“ ist , kann Derby die Zügel seiner Begierde lockern und Sophie schließlich zur Ehe ( wenn auch nur einer scheinbaren ) zwingen. Dass diese Darstellung einer physiognomischen Lektüre im Roman mehr über den Lesenden Derby als über die betrachtete Sophie von Sternheim aussagt , kann als weiteres Indiz für die physiognomische Zurückhaltung La Roches angesehen werden. Der Mehrwert einer physiognomischen Analyse der ihr auf ihrer Reise begegnenden Engländer , selbst wenn La Roche an ihn geglaubt hätte , käme doch immer zum Preis einer unbeabsichtigten Selbstoffenbarung , wobei , wie das Beispiel Lord Derbys zeigt , die zur Schau gestellten Charakterzüge nicht immer unsere besten inneren Qualitäten ausmachen.36 Die Maske im Fräulein von Sternheim funktioniert ähnlich wie das literarische Vorwissen La Roches auf ihrer Englandreise.37 Nicht nur verhindert sie das physiognomische Lesen, sie schafft allererst den Raum , um der Wirklichkeit die präformierte Meinung überstülpen zu können. Erst maskiert kann Sophie von Sternheim Lord Derby als Objekt seiner ungezügelten Begierde erscheinen, und nur über die künstlerische Vermittlung des Porträts kann an Heinrich VIII. das Vorurteil über dessen Charakter bestätigt werden. Ob die Physiognomik für La Roche in der Lage ist , Verborgenes aus den sichtbaren Zeichen herauszulesen, ist nicht endgültig zu bestimmen – wohl aber , dass der physiognomische Blick durch gezielte Strategien wie Maskierungen oder Kunstvermittlungen außer Kraft gesetzt werden muss , damit das bereits gefasste Urteil zur Geltung gelangen kann. Übertragen auf La Roches Englandreisen bedeutet das , dass das von der Reisenden ersehnte Land nicht primär erfahren, sondern mit dem präformierten Vorstellungsbild in Deckung gebracht werden will. Da La Roche nicht England , sondern ausschließlich ihr England bereisen möchte , verliert der Grundsatz der Lavaterschen Apodemik – Menschen zu suchen – seine Bedeutung und das Erstellen eines physiognomischen Itinerars seine Notwendigkeit. Wie schon Moritz’ Reisebericht zuvor , erweist sich das Tagebuch einer Reise durch Holland und England als ein gänzlich unphysiognomisches.

36 Zur allgemeinen und physiognomischen Figuren-Charakterisierung in La Roches Romanen, siehe Verena Ehrich-Haefeli : „Individualität als narrative Leistung ? Zum Wandel der Personendarstellung in Romanen um 1770 : Sophie LaRoche , Goethe , Lenz“, in : Physiognomie und Pathognomie : Zur literarischen Darstellung von Individualität. Festschrift für Karl Pestalozzi zum 65. Geburtstag , hg. v. Wolfram Groddeck und Ulrich Stadler , Berlin : De Gruyter , 1994 , 49–75. 37 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass La Roche ihrer Romanheldin am Ende ihres Bildungsganges einen erstaunlich kritischen Blick auf das vorgeformte Englandbild zugesteht , der ihr , La Roche , auf ihren Reisen, wie oben ausgeführt , fehlte. Sternheim bricht aus dem Zirkel aus , wenn sie am Romanende konstatiert : „Mein Enthusiasmus für England ist erloschen ; es ist nicht , wie ich geglaubt habe , das Vaterland meiner Seele“ ( 334 ). Zu diesem Sachverhalt siehe ausführlicher : Regina Umbach : „The Role of Anglophilia in Sophie von La Roche’s Geschichte des Fräuleins von Sternheim ( 1771 )“, in : German Life and Letters 52 :1 ( 1999 ): 1–12 , insbesondere 6–7.

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Friedrich Wilhelm von Schütz Die Anglophilie eines Karl Philipp Moritz und die literarische Vorprägung einer Sophie de la Roche weist der 1758 in Erdmannsdorf bei Chemnitz geborene Englandreisende Friedrich Wilhelm von Schütz in seinen 1792 in Hamburg erschienenen Briefen über London entschieden von sich. Der reinen Anglophilie will er den kritischen Blick einer „genauern Beobachtung“ entgegensetzen, um zu vermeiden, was er an den bestehenden Englandberichten monieren muss : „Ein Deutscher , dachte ich , kann durch so blendende Gemählde leicht verführt werden, sein Vaterland der so gepriesenen Insel weit hinten an zu setzen“.38 Die Stoßrichtung von Schütz’ Text ist eindeutig : Er will die Vorzüge Englands preisen, ohne dabei , wie Moritz und La Roche zuvor , den Vergleich mit Deutschland zu scheuen. Es ist ihm daran gelegen, den Defätismus deutscher Englandreisender zu widerlegen, deren Anglophilie den Sinn für kritische Betrachtung vernebelt habe. Insbesondere stellt Schütz’ Buch , das auf den Erlebnissen seiner 1791 erfolgten Londonreise basiert , eine Replik auf die erfolgreichste Englandschrift seiner Zeit dar , die Berichte von Johann Wilhelm von Archenholz. Daraus macht Schütz auch keinen Hehl und untertitelt seinen Bericht : Ein Gegenstück zu des Herrn von Archenholz England und Italien. Anglokritisch statt anglophil und induktiv statt deduktiv vorzugehen sei seine Absicht : Die meisten Fremden, die nach dieser Insel kommen, sind im voraus von der Herrlichkeit derselben oft bis zum Lächerlichen eingenommen, und daher rühren die übertriebenen Vorstellungen von den Vorzügen dieses Landes und seiner Einwohner , womit wir von Reisebeschreibern zuweilen unterhalten werden.39

Nach eigener Aussage sucht Schütz das von allerlei Literatur ‚verdeckte‘ England zu ‚entdecken‘, es zu erfahren wie es ist ; auch wenn er dabei das ( von La Roche so sorgfältig vermiedene ) Risiko eingeht , das so Erfahrene nicht mit dem in Deutschland vorherrschenden und etablierten Bild Englands in Deckung bringen zu können. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, so führt er in der Vorrede aus , sei er bemüht gewesen, seinen Blick vornehmlich auf das zu richten, was Archenholz’ Blick nur gestreift habe , wie beispielsweise den „Karakter der Engländer“.40 Dort , so sagt er , sei seine „Beschreibung in Vergleich gegen andre Gegenstände ausführlicher geworden [ … ] weil Hr. von Archenholz grade solche Gegenstände nur flüchtig bemerkt hat“.41 Schütz’ Briefe über den Charakter der Engländer richten sich in der Tat programmatisch gegen Archenholz’ analoge Beschreibungen und sind zudem ausführlicher. Den englischen

38 Friedrich Wilhelm von Schütz : Briefe über London : Ein Gegenstück zu des Herrn von Archenholz England und Italien, Hamburg : Bachmann & Gundermann, 1792 , V. 39 Schütz : Briefe über London, 1–2. 40 Ebd., VI. 41 Ebd., VII.



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Nationalcharakter schildert er beispielsweise besonders detailliert in den Briefen 23–24 und geht dabei ein auf englischen Patriotismus , Großmut und Redlichkeit ( Brief Nr. 23 ) sowie englische Schwermut , Suizidgefahr , Fleiß und Staatsklugheit ( Brief Nr. 24 ). Wo Schütz’ Betrachtungen sich weniger mit der Frage des Nationalcharakters beschäftigen, bleibt seine programmatische Abgrenzung zu Archenholz indes ein nicht immer eingelöstes Versprechen ; zahlreiche Betrachtungen in beider Berichte sind erstaunlich deckungsgleich. So beschreibt auch Schütz detailliert die allgemeinen Gebäude Londons ( Brief Nr. 4 ), widmet sich den Vergnügungsorten Londons , namentlich Theater , Oper und Vauxhall ( Briefe Nr. 7–9 ), und macht auch vor üblichen Sehenswürdigkeiten wie St Paul’s Cathedral und dem Tower ( Brief Nr. 16 ), dem Banqueting House in Whitehall ( Brief Nr. 20 ) oder Westminster Abbey ( Brief Nr. 21 ) nicht halt. In diesen Briefen widerspricht der Kritiker seinem erklärten Gegner auch inhaltlich weitaus seltener , als der programmatische Untertitel Glauben machen möchte. Die Besonderheit von Schütz’ Berichten, die sie auf dem kompetitiven Markt der Reisebeschreibungen vor anderen auszeichnen soll ( in moderner Vertriebssprache : ihr unique selling point ), liegt also in der Charakterisierung der Engländer. Zudem bekennt Schütz im ersten Brief , den er aus London sendet ( Brief Nr. 3 ), dass es seiner Ansicht nach „gewöhnlich ist , die Beschreibung des Äußerlichen voranzuschicken, ehe man die innern Bestandtheile einer Sache zergliedert“.42 Es steht nach diesen von Schütz gleich zu Beginn gemachten Überlegungen also zu erwarten, dass er sich dem englischen Charakter als zentralem Untersuchungsgegenstand besonders vom Außen seiner Physiognomie anzunähern gedenkt. So urteilt der Deutsche Schütz beispielsweise über die Frauen, die ihm „in Englands volkreicher Hauptstadt [ … ] in einer Straße begegnen“, dass man darunter „mehrere antreffe , deren Wuchs und Gesichtsbildung die Aufmerksamkeit eines Fremden an sich ziehen“.43 Angesichts des bereitwillig gemachten Zugeständnisses , dass ihre Gesichter seinen, des Fremden, Blick auf sich zu ziehen vermögen, fallen seine Beschreibungen derselben überraschend vage aus. Die zu erwartende physiognomische Detailschilderung erfolgt nicht. Vielmehr werden die Londoner Damen wie schon zuvor bei Moritz in das Bewertungsraster schön / hässlich einsortiert , um anschließend die Überzahl der Schönen zu konstatieren. Sein gesteigertes Interesse an den attraktiven Londonerinnen hält er dabei für selbstverständlich : „Es ist auch sehr natürlich , daß die häßlichen Lady’s von Ausländern weniger bemerkt werden, indem ein jeder seine Augen wohl lieber auf die bessern Gesichter als auf jene richtet“.44 Zudem nimmt in Schütz’ Argumentation ganz offenbar der Vergleich mit seiner deutschen Heimat einen höheren Stellenwert ein, als die metikulöse Fazialdeskription. Denn sogleich bringt er

42 Ebd., 7. 43 Ebd., 89. 44 Ebd.

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seine Überzeugung zum Ausdruck , das Vorkommen schöner Frauen „würde in jeder deutschen eben so volkreichen Stadt als in London, der nemliche Fall seyn“.45 Das Spezifische des englischen Charakters liest Schütz nicht an den Physiognomien der Londoner ab ; was „der englischen Nation eigenthümlich“ sei , erkenne er „wie in allen ihren Handlungen, so auch in der Kleidung“.46 Auf diesen Punkt kommt Schütz wiederholt zurück , da sich an ihm sein anthropologisches Denken entzündet. War Lavater in den Physiognomischen Fragmenten von dem Grundsatz ausgegangen, dass es „unwidersprechlich [ sei ], daß eben so wenig zween vollkommen ähnliche Gemüthscharacter , als zwey vollkommen ähnliche Gesichter zu finden sind“,47 sind Charaktere wie auch Gesichter für Schütz überall ähnlich. Dass er trotz seiner egalitären anthropologischen Auffassung überhaupt noch von differenten Nationalcharakteren spricht , begründet er mit zufälligen Einflüssen in der individuellen Entwicklung der Nationen : Überhaupt ist es schon eine alte , aber gewiß auch sehr richtige Bemerkung , daß sich die Menschen unter allen Himmelsstrichen überaus ähnlich sind , und ich glaube behaupten zu können, daß sie alle in Ansehung der Charaktere einander gleich sein würden, wenn nicht zufällige Dinge zuweilen einen so merklichen Unterschied bestimmten. Erziehung , Sitten und Regierungsform sind ohnstreitig die Dinge , welche den meisten Einfluß auf den Geist des Menschen haben, die seine Handlungen regieren, aus welchen man den Nationalcharakter gemeiniglich abstrahieren will.48

Wer die egalité derart von einem Standesbegriff zu einem allgemein-menschlichen Konzept der Gleichheit erweitert , der kann nicht an grundlegende faziale Differenzen glauben und darum auch nicht an physiognomischer Erkenntnis interessiert sein. Seine bereits zitierte Meinung aus dem Vorwort seines Berichtes , es sei zunächst eine „Beschreibung des Äußerlichen voranzuschicken, ehe man die innern Bestandtheile einer Sache zergliedert“49, bezieht sich auf das Äußere des Habitus , nicht der Physiognomie. Wo Moritz physiognomische Beschreibungen ausgespart hatte , um Vergleiche zwischen Engländern und Deutschen zu inhibieren und so „das menschliche Geschlecht durch sich selber mit sich selber bekannter“ zu machen,50 bleibt das englische Gesicht in Schütz’ Reisebericht eine Leerstelle , um nicht von den „zufällige[ n ] Dinge[ n ]“ abzulenken, welche die eigentliche Ursache für die Differenz der Nationalcharaktere seien : Erziehung , Sitten und Regierungsform. Wenn Schütz vom Äußeren spricht , dann also ausschließlich im Sinne äußerer sozialer Einflüsse und nicht individueller äußerer

45 Ebd., 90. 46 Ebd., 87. 47 Lavater : Physiognomische Fragmente , I: 45. 48 Schütz : Briefe über London, 156. 49 Ebd., 7. 50 Moritz : „Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde“, 489.



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Gestalt. Der idealisierenden Tendenz der Anglophilie hält der Kritiker Schütz nicht ein physiognomisch erschließbares nüchternes Alltagsbild entgegen ; vielmehr erweist er sich als Soziologe avant la lettre , dessen vornehmliches Interesse der Erforschung tradierter Stereotypen gilt , von deren Einfluss er sich durch seine Untersuchungen selbst zu befreien erhofft.51 Er gesteht , dass auch er derartige Vormeinungen erst habe überwinden müssen, „die vortheilhaften Ideen von der Schönheit dieser Insel [ … ], die ich mir längst aus Reisebeschreibungen gebildet hatte“.52 Die gewählte Methode dazu ist jedoch die soziologische Untersuchung ihres Habitus : ihrer Mode ( Brief 15 ), ihres Nationalcharakters ( Briefe 23–25 ), ihrer Lebensart ( Briefe 14 , 28 ), ihres Alltagsverhaltens ( Briefe 19 , 29 ), ihrer Bildung ( Brief 31 ) und ihrer Religion ( Briefe 32–35 ). Schütz’ Bemühungen um wissenschaftliche Präzision scheinen in einem Bericht durch , wenn er sich wiederholt selbst ermahnt , nicht von isolierten Beispielen auf den englischen Nationalcharakter zu schließen, etwa „von Londoner Einwohnern auf den englischen Nationalcharakter“ oder „von dem Beyspiele eines ungezogenen Knaben auf die englische Erziehung“.53 Aus derartigen Aussagen wird zudem ersichtlich , dass Schütz nicht ( wie Lavater ) am Individuellen interessiert ist , sondern am Sozialen ; nicht an dem was Personen, sondern an dem , was Nationen ausmacht. Ob die von ihm gewählte Vorgehensmethode geeignet ist , dies herauszufinden, steht hier nicht zur Debatte ; lediglich , dass die Lavatersche Methode des physiognomischen Itinerars seinem Erkenntnisinteresse zweifelsfrei unangemessen erscheinen muss , was das Fehlen von ekphrastischen Passagen im Allgemeinen und Fazialdeskriptionen im Besonderen erklärt – trotz der Versicherung Lavaters , es ließe sich auf diesem Wege der „physiognomische Charakter der Nation“ erschließen.54 Dies ist eine Ansicht , die Schütz unzweifelhaft nicht teilen konnte , weshalb er in seinem knapp 300 Seiten starken epistolarischen Bericht aus London über den Charakter der englischen Nation kein Wort über englische Physiognomien verliert.

51 Dass Schütz diese Erforschung nicht immer mit wissenschaftlicher Strenge durchführt , wird aus den ( nicht gedruckten ) Antworten seines ( namentlich nicht genannten ) Briefempfängers deutlich , auf die Schütz gelegentlich Bezug nimmt , wie etwa zu Beginn von Brief Nr. 16 : „Ihr Vorwurf , mein theuerster Freund ! daß es scheine , als wenn ich manche Merkwürdigkeiten Londons mit Stillschweigen übergehen wolle , trift mich ganz und gar nicht , denn meine Correspondenz ist ja nicht geschlossen [ … ]. Etwas Systematisches zu liefern, dazu habe ich mich nicht anheischig gemacht , und wenn ich auch zuweilen mehr Ordnung in meinen Vorträgen beobachten könnte , so gestehe ich aufrichtig , ich halte solches dem freundschaftlichen Brieftone weniger angemessen, und glaube eben dadurch Sie weit besser unterhalten zu können, als wenn ich die Materien so steif geordnet hätte.“ Schütz : Briefe über London, 92–93. 52 Schütz : Briefe über London, 4. 53 Ebd., 156 , 159. 54 Lavater : Physiognomische Fragmente , IV: 136.

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Die Fiktion des physiognomischen Itinerars /  Das physiognomische Itinerar in der Fiktion Weder der Reisebericht Moritz’, noch das Tagebuch La Roches oder die Briefe Schütz’ erfüllen Lavaters Empfehlung , „ein physiognomisches Taschenbuch für Reisende“ zu führen.55 Die drei aus der Fülle der veröffentlichten Reiseberichte ausgewählten Texte zeigen exemplarisch , dass die Physiognomik für Reisende im späten achtzehnten Jahrhundert entgegen aller Erwartungen kein geeignetes Mittel zur Wirklichkeitserfahrung darstellte – weder für anglophile Englandreisende mit dem Vorhaben einer Bestätigung ihrer imaginierten und präformierten Bilder , noch für Englandkritiker , die mit der Absicht der Falsifikation derartiger Bilder den Ärmelkanal überquerten. Überraschend ist dieser Befund nicht nur auf Grund der immensen Popularität von Lavaters Physiognomik im späten achtzehnten Jahrhundert , sondern auch wegen ihres starken Einflusses auf die Literatur. Dort avancierte die Physiognomik recht bald nach dem europaweiten Erscheinen der Physiognomischen Fragmente zu einer der zentralen Methoden zur Charakterisierung fiktionaler Figuren.56 Der Grund für die Vernachlässigung der Physiognomik im einen und ihre Sonderstellung im anderen Genre scheint mir indes den jeweiligen Gattungskonventionen geschuldet. Der Reisebericht , so die Konsequenz der Überlegungen, sieht sich trotz des wachsenden Einflusses von Laurence Sternes A Sentimental Journey Through France and Italy ( 1768 )57 als dominant faktuales Genre an, das einem eng umrissenen Wissenschaftsideal verpflichtet ist. Im Regnum der Fiktion hingegen, wo Wissenschaftlichkeit eine untergeordnete Funktion erfüllt , kann auch eine als un- oder pseudo-wissenschaftlich angesehene

55 Ebd., IV: 134 , Hervorhebungen im Original. 56 Siehe dazu die materialreiche , wenn auch vorwiegend positivistische Studie von Graeme Tytler : Physiognomy in the European Novel : Faces and Fortunes , Princeton : Princeton University Press , 1982. Trotz ihrer Meriten, ein breites Feld erstmals sorgfältig abgesteckt zu haben, können Tytlers Einzelanalysen nicht immer überzeugen. In Bezug auf die oben zitierten Aussagen von Derby über Sophies Physiognomie in La Roches Fräulein von Sternheim schreibt Tytler : „These words alone suggest how much Lavaterian physiognomy was already in the air“ ( 155 ). Diese Aussage , wenngleich zutreffend , zieht sich als zentrales Argument durch Tytlers 430 Seiten starke Monographie. An einer genauen Analyse der spezifischen Referenz auf Lavater hingegen scheint Tytler nicht interessiert , sonst wäre ihm zweifellos nicht entgangen, dass La Roche weitaus physiognomikkritischer ist , als von ihm dargestellt. Eine für die Untersuchung des literarhistorischen Einflusses der Physiognomik relevante Rückbindung an die Entwicklung des Romans im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert , die Tytler nicht vornimmt , zeichne ich in meiner Dissertationsschrift Physiognomics and the English Realist Novel am Beispiel des englischen Romans nach. 57 Zum Einfluss Sternes auf den deutschen Reisebericht unter besonderer Berücksichtigung von Karl Philipp Moritz siehe Helmut Peitsch : „Die Entdeckung der ‚Hauptstadt der Welt‘. Zur Ausformung eines Bildes von London in deutschen Zeitschriften und Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts“, in Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung , hg. v. Hans-Wolf Jäger , Heidelberg : Winter , 1992 , 131–156 , insbesondere 146 f.



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Physiognomik in literarischer Form durchaus Bestand haben, besonders wenn sie sich mit den erzählerischen Objektivitätsansprüchen des aufkeimenden Realismus verbindet : dann nämlich beschreibt der Erzähler unter Enthaltung jeglicher Wertung bloß das sichtbare Äußere der Welt , dessen Tiefenstruktur bestenfalls durch ein ( faziales ) Signifikantenmodell wie der Physiognomik transparent gemacht werden kann – was der Roman in der Regel durch diverse textuelle Strategien auch nahelegt. Physiognomik hat nicht , wie gelegentlich behauptet , als wissenschaftliche Disziplin bis ins neunzehnte Jahrhundert überlebt , sondern ausschließlich in Form einer spezifisch literarischen Physiognomik , welche für den dominant faktualen Reisebericht jedoch ungeeignet erscheinen musste. Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht kein Zufall , dass die eingangs zitierte Passage über das Reiseitinerar aus Lavaters Physiognomischen Fragmenten von Johann Karl August Musäus im vierten Band seines satirischen Romans Physiognomische Reisen ( 1779 ) – einem fiktionalen Text also – erwähnt wird : Traf sich sonderbar , daß mir zuerst im vierten Fragment das Wort an Reisende in die Augen fiel. Der Wunsch des Herz-guten Lavaters , daß ein physiognomisch Taschenbuch für Reisende geschrieben würde ; aber von keinem andern, als einem geübten Reiser , schmeichelte gar sehr meiner Eitelkeit. Mein Itinerarium , dacht ich bey mir , das ich nach beendigter Reise , will’s Gott , ans Licht zu stellen gesonnen bin, ist doch so recht nach der Idee des Meisters : steht alles drinn, was Er vom Taschenbuch verlangt , und kan mit Fug und Recht dafür gelten.58

Die physiognomische Reise des namenlosen Ich-Erzählers , der es sich zugutehält , „der erste [ zu ] sein, der auf Physiognomik auswandert“,59 ist bei Musäus verbunden mit der zunehmenden Einsicht in die Unanwendbarkeit physiognomischer Regeln Lavaterscher Provenienz – notabene für den Leser –, so dass die Erstellung eines Physiognomien-Itinerars im letzten Teil der Reisen folglich als Beleg für die Uneinsichtigkeit des Erzählers und Physiognomikers gelesen werden muss. Aus dieser dramatischen Ironie gewinnt Musäus’ Lavater-Satire ein Großteil ihres beißenden Witzes60 und führt in der Fiktion die tatsächliche Anwendung von Reise-Physiognomik ad absurdum. Die Untersuchung exemplarischer Berichte von tatsächlichen ( Moritz , La Roche , Schütz ) wie fiktionalen Reisen ( Musäus ) zeigt : Das physiognomische Itinerar bleibt Fiktion, welche sich letztlich als sein eigentlicher Ort erweist.

58 Johann Karl August Musäus : Physiognomische Reisen, 4 Bde., Altenburg : Richter , 1778–79 , IV: 188. 59 Musäus : Physiognomische Reisen, I: 13. 60 Zur Physiognomik-Kritik bei Musäus unter Berücksichtigung der europäischen Lavater-Rezeption im Allgemeinen und der Beziehung Lavater-Musäus im Speziellen, siehe Christoph Siegrist : „Satirische Physiognomiekritik bei Musäus , Pezzl und Klinger“, in : Physiognomie und Pathognomie : Zur literarischen Darstellung von Individualität. Festschrift für Karl Pestalozzi zum 65. Geburtstag , hg. v. Wolfram Groddeck und Ulrich Stadler , Berlin / New York : De Gruyter , 1994 , 95–112.

Kira Liebert

Die kreative Aneignung Shakespeares im Werk von Karl Philipp Moritz Hier war mehr als alles , was er bisher gedacht , gelesen und empfunden hatte. – Er las Makbeth , Hamlet , Lear , und fühlte seinen Geist unwiderstehlich mit emporgerissen – jede Stunde seines Lebens , wo er den Shakespear las , ward ihm unschätzbar. –– und seine größte Begierde war , das alles , was er beim Lesen desselben empfand , mitzuteilen [ … ].1

William Shakespeare ( 1564–1616 ) stellt eine zentrale literarische Figur für Karl Philipp Moritz’ Werk dar. Moritz wurde vermutlich während seiner Schulzeit , im Alter von achtzehn Jahren ( Winter 1774 / 75 ), verstärkt auf Shakespeare aufmerksam ;2 zu einer Zeit , in der Shakespeare insgesamt in den Vordergrund der Gelehrtendiskussionen rückte.3 Shakespeares Dramen wurden im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts zunehmend von deutschen Gelehrten rezipiert und wertgeschätzt. Diese Entwicklung begann mit Voltaires Englandreise ( 1726–1729 ). Von Frankreich aus drangen Shakespeares Werke in die deutschen Dichterkreise vor und wurden ab 1740 vermehrt von den deutschen Gelehrten besprochen. Erst um 1770 wurde Shakespeare jedoch , vor allem innerhalb der Bewegung des Sturm und Drang , als einer der großen Dramatiker anerkannt und etabliert.4

1 Karl Philipp Moritz : Anton Reiser. Ein Psychologischer Roman, in : ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde , hg. v. Heide Hollmer und Albert Meier , Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag , 2006 , 85–518 , hier 311 ( im Folgenden abgekürzt durch die Sigle „AR“ und die entsprechende Seitenzahl ). 2 Vgl. Albert Meier : Karl Philipp Moritz , Stuttgart : Reclam , 2000 , 22 , oder auch Hans Joachim Schrimpf : Karl Philipp Moritz , Stuttgart : Metzler , 1980 , 14. Meier merkt jedoch in der Einleitung seines Werkes an, dass eine solide Moritz-Biographie , die nicht auf „manche Mystifikation des Anton Reisers“ zurückgreift , ein Defizit in der Moritz-Forschung darstellt ( Karl Philipp Moritz , 7 ). 3 Folgende Forschungsliteratur gibt einen rezeptionsgeschichtlichen Überblick und wurde für diesen Artikel herangezogen : Hansjürgen Blinn : Der deutsche Shakespeare : Eine annotierte Bibliographie zur Shakespeare-Rezeption des deutschsprachigen Kulturraums , Berlin : Erich Schmidt , 1993 ; Lawrence Marsden Price : The Reception of English Literature in Germany , Berkeley : University of California Press , 1932 ; Hans Wolffheim ( Hg. ): Die Entdeckung Shakespeares : Deutsche Zeugnisse des 18. Jahrhunderts , Hamburg : Hoffmann und Campe , 1959. So wie die folgenden jüngeren Werke : Roger Paulin : The Critical Reception of Shakespeare in Germany 1682–1914 : Native Literature and Foreign Genius , Anglistische und amerikanistische Texte und Studien, Hildesheim / New York : G. Olms , 2003 ; Roger Paulin ( Hg. ): Shakespeare im 18. Jahrhundert , Göttingen : Wallstein 2007 , Ina Schabert ( Hg. ): Shakespeare-Handbuch. Die Zeit – Der Mensch – Das Werk – Die Nachwelt , Stuttgart : Kröner 2000 , 635–660. 4 Zeugnisse dieser Bewegung werden beispielsweise in Lessings 17. Literaturbrief ( 1759 ) und noch deutlicher in Goethes Zum Schäkespears Tag ( 1771 ) und Herders Schrift „Shakespeare“ in Von deutscher Art und Kunst ( 1773 ) sichtbar.

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Moritz’ Englischkenntnisse dürften ihm einen direkten Zugang zu Shakespeares Werken im Original ermöglicht haben. Außerdem ist sicher , dass er zum Zeitpunkt seines Verfassens von Anton Reiser Wielands Übersetzung von Shakespeares Dramen kannte ,5 denn Reiser liest diese Ausgabe mit bedingungsloser Euphorie.6 Die Bezüge , die Moritz in seinem Schrifttum ( hauptsächlich in Anton Reiser , Andreas Hartknopf , Reisen eines Deutschen in England und seinen Denkwürdigkeiten ) zu Shakespeare herstellt , umfassen nicht nur exemplarische Nennungen Shakespeares , sondern – und für diesen Beitrag von größerer Bedeutung – die Appropriation seiner Dramen. Moritz zieht Shakespeare als Medium zur Darstellung der Gefühlswelt seiner Persona Anton Reiser heran. Diese These steht hier , neben unterstützenden Referenzen zur produktiven Shakespeare-Rezeption in seinen weiteren Schriften, im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Untersuchungen zeigen, dass die Shakespeare-Bezüge nicht nur Teil der Autobiographie , sondern auch Teil der Fiktionalisierung und Inszenierung der eigenen Lebensdarstellung sind. Durch die literarische Verarbeitung hebt sich Moritz’ Beschäftigung mit Shakespeare von der allgemeinen Shakespeare-Rezeption des achtzehnten Jahrhunderts ab. Explizit zu der Rezeption Shakespeares bei Karl Philipp Moritz sind bisher nur ein Aufsatz von Peter Cersowsky sowie ein kürzeres Kapitel bei Jutta Eckle

5 Wieland unternahm die erste weitumfassende Übersetzung Shakespeares ( er übersetzte zweiundzwanzig der Dramen, bis auf St. Johannisnachttraum , in Prosaform ). Sie wurde in der deutschen Bildungsgesellschaft viel kritisiert. So hebt Lessing in seinem Fünfzehnten Stück aus der Hamburgischen Dramaturgie die Fehler , welche die Übersetzung birgt – etwa ihre Lückenhaftigkeit – hervor , merkt jedoch gleichzeitig an, dass das Unterfangen einer solchen Übersetzung nicht zu unterschätzen sei und dass das , „was er gut gemacht hat , [ … ] schwerlich jemand besser machen [ w ird ].“ ( Gotthold Ephraim Lessing : Hamburgische Dramaturgie – Fünfzehntes Stück , in : Lessings Werke , Bd. 4 , Bibliothek deutscher Klassiker , hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur , Berlin : Aufbau-Verlag , 1965 , 78. ) Zur Verteidigung Wielands ist zudem anzumerken, dass er nur über eine mangelhafte Textgrundlage und kaum Hilfsmittel zum Verständnis von Shakespeares oft schwieriger Sprache verfügte. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg ( Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur , 14.–18. Brief ; 1766 ) nutzt Wielands Übersetzung für poetologische Zwecke. Er bezieht sich nicht länger auf Aristoteles , sondern nimmt Shakespeares Dramen selbst als Grundlage für seine dramentheoretischen Überlegungen und ändert entsprechend die Gewichtung der der Tragödie zugeschriebenen Funktionen : Nach Gerstenberg ist die Hauptfunktion nicht länger die Erregung von Leidenschaft , sondern die einer „höhern Absicht [ … ], welche ich durch die Zeichnung der Sitten, durch die sorgfältige und treue Nachahmung wahrer und erdichteter Charaktere , durch das kühne und leicht entworfne Bild des idealischen und animalischen Lebens andeute“ ( Heinrich Wilhelm Gerstenberg : Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur [ 1766–1767 ]. Vierzehnter Brief , in : Blinn : Shakespeare-Rezeption, 77 ). Dieses Interesse an den Charakterdarstellungen Shakespeares kann bereits als vorausweisend auf Moritz’ seelenkundliche Forschungen und seine psychologische Neugier am Menschen betrachtet werden. Zudem beinhaltet Gerstenbergs Kritik bereits Ansätze des folgenden Geniezeitalters. 6 Moritz schreibt in seinem Anton Reiser : „Allein wie er sich schon so oft aus seiner wirklichen Welt in die Bücherwelt gerettet hatte , wenn es aufs äußerste kam , so fügte es sich auch diesmal , daß er sich gerade vom Bücherantiquarius die Wielandsche Übersetzung vom Schakespear liehe.“ ( AR 311 )



Die kreative Aneignung Shakespeares im Werk von Karl Philipp Moritz 

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erschienen.7 Trotz dieser Beiträge bleibt eine ausführliche Behandlung des Themas noch immer ein Forschungsdesiderat. Dazu soll Moritz’ Auseinandersetzung mit Shakespeare zunächst im Allgemeinen ( I ) und im Anschluss hinsichtlich der kreativen Aneignung seiner Dramen ( II ) analysiert werden.

I Das Erleben der Natur ist bei Moritz in einer engen Relation zu der von ihm gelesenen Literatur Shakespeares zu betrachten und lässt sich besonders deutlich in seinen Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782 ausmachen. Darin gibt Moritz sich als Beteiligter des Shakespeare-Genie-Kults zu erkennen, indem er beispielsweise erkennbar emotional berührt und mit Verehrung über seinen Besuch der Westminsterabtei schreibt : Nicht weit von der Thür erblickte ich gleich beim Eintritt Shakespeares Statue in Lebensgröße [ … ] Eine Stelle aus einem Shakespearschen Stück , der Sturm , worinn er auf eine feierliche und rührende Art , den Untergang aller Dinge schildert , ist hier zweckmäßig angebracht.8

Das Zitat gibt Angaben zu Moritz’ bereits erworbenen englischen Shakespearekenntnissen : Abgesehen von der lateinischen Inschrift oberhalb der Statue , welche die Figur als William Shakespeare ausgibt und der ( leicht modifizierten ) Textstelle an sich , die die Statue in den Händen hält , gibt es keine weiteren Referenzen, die auf The Tempest weisen.9 Falls Moritz das Zitat selbst in seiner Variation wiedererkannte , spricht das für eine sichere Kenntnis von Shakespeares Drama im Original. Neben den Bezügen zu Shakespeare in London sind es außerhalb der Stadt hauptsächlich die Vorstellung des Dichters in der Natur , die Moritz in seinem Reisebericht festhält.

7 Zur Shakespearerezeption bei Karl Philipp Moritz : Peter Cersowsky : Nicht nur ein Span aus Stratford. Shakespeare-Lektüre bei Karl Philipp Moritz , in : Karl Philipp Moritz , Text + Kritik , hg. v. Heinz Ludwig Arnold , H. 118 / 119 , München : Edition Text + Kritik , 1993 , 76–85. Jutta Eckle : „Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir.“ Studien zu Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters theatralische Sendung und Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser , Würzburg : Königshausen und Neumann , 2003 , hier 256–264. Weitere , kurze Verweise auf Shakespeare ( jedoch häufig wieder in Rückbezug auf Cersowsky ) lassen sich beispielsweise finden in Susanne Knoche : Der Publizist Karl Philipp Moritz : Eine intertextuelle Studie über die „Vossische Zeitung“ und die „Denkwürdigkeiten“, Frankfurt a. M. / Berlin u. a.: Peter Lang , 1999 , 264–271 und Claudia Kenstenholz : Die Sicht der Dinge : Metaphorische Visualität und Subjektivitätsideal im Werk von Karl Philipp Moritz , München : Fink 1987 , 125–126. 8 Karl Philipp Moritz : Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782. Mit einem Nachwort von Willi Winkler. Bibliotheca Anna Amalia , Berlin : Aufbau Verlagsgruppe , 2007 , 64–65. Die Shakespearestatue wurde 1741 , also 41 Jahre vor seiner Reise , errichtet und für die Gestaltung war unter anderem Alexander Pope verantwortlich. 9 Vgl. William Shakespeare. Abbey Memorial , http ://www.westminster-abbey.org/our-history/people/ william-shakespeare , letzter Zugriff 18. Mai  2015.

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Moritz’ Assoziation von Shakespeare mit der Natur10 tritt unverkennbar in seiner Beschreibung des Geburtsorts Shakespeares , Stratford-upon-Avon, hervor , durch den ihn seine Route mit der Postkutsche führt. Auch wenn sich zwischen Shakespeares und Moritz’ ärmlichen Lebensverhältnissen in der Kindheit Parallelen ziehen lassen, ist es nicht Shakespeares Geburtshaus , dem Moritz in erster Linie sein Interesse widmet ( er beschreibt die Häuser in Stratford als eine „Reihe von Häusern [ … ] patriarchalischer Simplicität und Genügsamkeit“, wobei Shakespeares Haus „eines der schlechtesten, niedrigsten und unansehnlichsten“11 sei ), sondern vielmehr der Einfluss der umgebenden Natur auf die Entwicklung seines literarischen Vorbilds : „Hier war es , wo das größte Genie , welches vielleicht die Natur je vorbrachte , geboren ward. Hier bildete sich seine junge Seele , auf diesen Spuren spielte er als Knabe.“12 Dass Moritz’ Aufmerksamkeit in diese Richtung gelenkt wird , ist wenig überraschend , galt doch Shakespeare allgemein als relativ ungelehrt und als eine Person, die ihre literarischen Fähigkeiten durch natürliches , angeborenes Genie erlangt hatte.13 So wurde Shakespeare von den Dichtern des Sturm und Drang für seine realitätsnahen Bilder der menschlichen Natur verehrt. Man denke etwa an Goethes Rede Zum Schäkespears Tag ( 1771 ), die er im Rahmen der ersten und von ihm organisierten deutschen Shakespeare-Feier hielt. Seine ganze Verehrung und Leidenschaft wird in dem berühmten Ausruf deutlich , „Natur ! Natur ! nichts so Natur als Shakespears Menschen“,14 wobei der Begriff der Natur für das spontane Handeln und Empfinden und die Entwicklung echter Gefühle steht , im Gegensatz zu einer künstlichen, im Sinne des französischen Klassizismus und einer von höfischen und bürgerlichen Sitten bestimmten Kultur der Zeit. Goethe ruft dazu auf , sich der Natur gegenüber zu öffnen, sie zu erkennen, denn „was will sich unser Jahrhundert verstehen von Natur zu urteilen.“15 Moritz betrachtet die Natur nicht nur um ihrer selbst willen, sondern weil er der Ansicht ist , die Natur sei verantwortlich für die musische Inspiration der Schaffenden und somit für die Einzigartigkeit ihrer Werke. In dem Zusammenhang mit eben dieser Kraft der Natur zur schöpferischen Anregung sieht Moritz , neben der angeborenen Veranlagung zum Genie , die frühe Entwicklung

10 Gemeint ist der Begriff „Natur“ in jeglichem Sinne. Er wird hier sowohl im romantischen, naturalistischen und anthropologischen Kontext , als auch als poetische Quelle im Geniekult verwendet. „Natur“ ist im achtzehnten Jahrhundert jedoch ein emotional sehr aufgeladener und mehrwertiger Begriff mit vielen assoziativen Verbindungen, die häufig nicht genau voneinander getrennt werden können. 11 Moritz : Reisen eines Deutschen in England , 110–111. 12 Ebd., 110–111. 13 Heute wissen wir , dass Shakespeare eine fundierte Schulausbildung genossen hat. Siehe Schabert : Shakespeare-Handbuch , 139 , oder auch Stanley Wells : William Shakespeare : A Very Short Introduction, Oxford : Oxford University Press , 2015. Wells verweist weiter zu Thomas Whitfield Baldwin : William Shakespere’s Small Latine & Lesse Greeke , Urbana : University of Illinois Press , 1944. 14 Johann Wolfgang von Goethe : „Zum Shäkespears Tag“, in : Shakespeare-Rezeption. Die Diskussion um Shakespeare in Deutschland. Bd. I. Ausgewählte Texte von 1741 bis 1788 , hg. v. Hansjürgen Blinn, Berlin : Erich Schmidt , 1982 , 100. 15 Ebd., 100.



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der schaffenden literarischen Größe Shakespeares verwirklicht , „[ d ]enn die ersten Eindrücke der Kindheit bleiben doch immer äußerst wichtig , und sind gewissermaßen die Grundlage aller folgenden. Obwohl die Gegend hier zwar nicht vorzüglich schön ist , so hat sie doch etwas Eignes , Romantisches.“16 Die Schilderungen der Natur in Moritz’ Reisen eines Deutschen in England untermauern gleichzeitig die Annahme der innigen Verbindung von Natur und individueller Kreativität. Die Natur – „[ … ] das ist nun die Gegend , wo ein solcher Geist , wie Shakespears , seine erste Bildung durch die ihn umgebene Natur erhielt !“17 – nimmt durch die Auseinandersetzung mit Shakespeare eine erhöhte Position in Moritz’ Denken ein und erhält in seinem Werk ( wie etwa bei der Gestaltung von Reisers Spaziergängen zur Flucht aus seinen Lebensverhältnissen ) einen großen Stellenwert. Die Beschreibungen von Shakespeare als größtes Genie stellen Moritz in den indirekten Kontrast zu sich selbst und seiner literarischen Persona Reiser. Besonders auffällig wird dies in „Der tragische Dichter“, einem zweiseitigen Aufsatz , den Moritz im Rahmen seiner Denkwürdigkeiten im Jahr 1786 , in dem auch der zweite und dritte Teil des Anton Reisers erschienen, veröffentlichte. Moritz verwendet hier die Bezeichnung „Dichter“ und nicht Dramatiker , wodurch sein Aufsatz nicht unbedingt spezifisch auf das Drama beschränkt sein muss , sondern im weiteren Sinne aufgefasst werden kann. Er definiert den tragischen Dichter darin wie folgt : Der tragische Dichter [ … ] muß sich von seinem Gegenstande können hinreißen lassen, so lange er will , und wieder Herr desselben seyn können, sobald er es will. [ … ] Zu einem großen tragischen Dichter gehört daher die Stärke der Seele , die den Weisen ausmacht [ … ].18

Das Genie des Dichters sei jedoch von einem „zu weichen, jedem Eindruck nachgebenden Stoff“, als dass seine Seele sich nach etwas „Glänzendem“ in der wirklichen Welt ausrichten sollte. Moritz bemängelt die derzeitige Situation der Dichtkunst , wobei Shakespeare für ein unerreichbares Ideal der Schöpferkraft zu stehen scheint , dem nachzustreben er sich ( vergeblich ) zur Aufgabe gemacht hat : „An dieser Kraft aber , oder wenigstens an der Übung dieser Kraft scheint es unsern neuen tragischen Dichtern vorzüglich zu fehlen – sie sind ihres Gegenstandes nicht Meister , sondern lassen ihrer Phantasie freien Lauf [ … ].“ Moritz nimmt in seinem Aufsatz weiter Bezug auf Shakespeare und die Eindrücke , die er in Stratford gesammelt hat , um sie mit seiner Definition des echten tragischen Dichters abzugleichen. Er kommt zu der Einsicht , dass eben diese „Fülle der inneren Ideenwelt [ … ] vielleicht Ersatz für allen äußern Glanz [ war ], da er unter seinem niedrigen Dach in Stratford , die letzten Jahre seines Lebens , von dem

16 Moritz : Reisen eines Deutschen in England , 110–111. 17 Ebd., 111. 18 Karl Philipp Moritz : Denkwürdigkeiten, aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen. Der tragische Dichter , in : ders.: Werke , hg. v. Horst Günther , Bd. 3 , Erfahrung , Sprache , Denken, Frankfurt a. M.: Insel , 1981 , 231–232 , hier 231.

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Schauplatz seines Ruhms entfernt , in dem vertraulichen Zirkel seiner Nachbaren, mit der Genügsamkeit eines Weisen zubrachte.“19 Berücksichtigt man Moritz’ psychologische Selbstanalyse und Seelenheilkunde ,20 scheint die Shakespeare-Rezeption nachvollziehbar , wobei vor allem die Fluchten seines Reisers in die Phantasiewelten der Literatur eine mangelnde Vernunft und „Stärke der Seele“ seitens des Protagonisten zu erkennen geben. Dies steht bei einer autobiographischen Lesart des Anton Reiser für eine implizite Selbstkritik Moritz’. Er macht damit auf einen Geniebegriff aufmerksam , der die Schwäche , die ihn selbst zu plagen schien, erhöht und Shakespeare annähert : [ … ] die Welt in [ dem tragischen Dichter ] ist daher von zu großem Umfange , als daß die Strebekraft seiner Seele sich auf irgend etwas Glänzendes , oder in die Augen fallendes in der wirklichen Welt außer ihn, vorzüglich hinlenken sollte. – Die unendliche Fülle der innern Ideenwelt , welche in der Seele eines Shakespear da stand , mußte ihm gewissermaßen edler und größer dünken, als die wirkliche Welt ausser ihm.21

Besonders bezeichnend ist Moritz’ therapeutische Verwendung von Shakespeare , die ihre Manifestierung in jenen Fluchten in die Literatur findet. Seine Shakespeare-Rezeption in den Romanen Anton Reiser und Andreas Hartknopf kann daher im Kontext der Anthropologie des achtzehnten Jahrhunderts betrachtet werden, bei der sich das Verhältnis von Körper und Geist im Mittelpunkt der Überlegungen befindet und man den Bedingungen von Empfindungen und Affekten nachspürt , um ein besseres Verständnis für sich selbst und andere zu erlangen. Dieses Endziel ist sogar Teil des Titels von Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde ( 1783–93 ): ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ – „Erkenne dich selbst“.22 Darin veröffentlichte er unter anderem Vorabdrucke seines Anton Reiser , mit dem Versuch , das Phänomen der „Seelenlähmung“ ( an dem sein Protagonist erkrankt ist ) zu ergründen. Das Lesen von Shakespeares Werken verhilft Reiser zu einer Seelenkraft – „und welch eine neue Welt eröffnete sich nun auf einmal wieder für seine Denk- und Empfindungskraft !“ ( AR 311 ). Sie führt schließlich therapeutisch zu einem Gleichgewicht zwischen Seelenlähmung und Tätigkeit : Diese Shakespearnächte gehörten zu den angenehmsten Erinnerungen in Reisers Leben. – Aber wenn auch durch irgendetwas sein Geist gebildet wurde , so war es durch diese Lektüre , wogegen alles was er sonst dramatisches gelesen hatte , gänzlich in Schatten gesetzt und verdunkelt wurde. ( AR 311 )

19 Ebd., 232. 20 Man bedenke etwa Karl Philipp Moritz’ ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde ( 1783–93 ). 21 Moritz : Denkwürdigkeiten, 231. 22 Vgl. Moritz : ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte , in : ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde , hg. v. Heide Hollmer und Albert Meier , Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag , 2006 , 810–905.



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Shakespeare erlaubt Reiser die Flucht in Phantasiewelten – „Im Shakespear lebte , dachte und träumte er nun, wo er ging und stund“ ( AR 311 ) – was wiederum eine Abhängigkeit von diesem Heilmittel bewirkt. Doch zeigt sich , dass Shakespeare ihn von seiner begrenzten, „idealischen“ Existenz befreit , sodass letztendlich der therapeutische Wert überwiegt :23 Durch den Shakespear war er die Welt der menschlichen Leidenschaften hindurch geführt – der enge Kreis seines idealischen Daseins hatte sich erweitert – er lebte nicht nur mehr so einzeln und unbedeutend , daß er sich unter der Menge verlor – denn er hatte die Empfindungen Tausender beim Lesen des Shakespear durchempfunden. ( AR 312 )

In seiner Ankündigung Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre ( 1782 ) sieht Moritz die „Charaktere und Gesinnungen aus vorzüglich [ … ] guten dramatischen Stücken, wie die Shakespearschen“24 als „Beitrag zur inneren Gesinnung des Menschen“. Das weist darauf hin, dass er bereits vor der Veröffentlichung seines Anton Reisers diese bildende Funktion der Lektüre Shakespeares erkannte und später auf seinen Protagonisten übertrug. Im Folgenden soll die kreative Aneignung Shakespeares in Moritz’ Werk genauer betrachtet werden.

II In den folgenden Überlegungen stehen insbesondere vier Aspekte im Zentrum der Auseinandersetzung : die Funktion der Freundschaft , Hamlet und dessen Betrachtungen über Sein und Nichtsein, Reflexionen über den Menschen und das Tier sowie das Leben als Traum. Die Bedeutung dieser vier Aspekte für Moritz sowie Shakespeare liegt dabei in ihrer Schnittstelle – den existentiellen Grenzerfahrungen : Hamlet weist auf die Bedeutung von Freundschaft zur Stärkung in schwierigen Lebenssituationen hin und behandelt zugleich die Zerbrechlichkeit der Existenz , King Lear veranschaulicht die Ähnlichkeiten von menschlichem und tierischem Leben und The Tempest stellt Verknüpfungen zwischen Leben und Traum her.

23 Mit Moritz’ Italienreise und seinen Überlegungen zur Autonomieästhetik änderte sich seine Auffassung. Wo Reiser in den ersten drei Teilen des Werkes die Flucht in die Literatur als Art Therapeutikum gebraucht und sie somit einem konkreten Zweck dient , ist die Kunst im vierten Teil zweckfrei und als Therapiemethode nicht mehr denkbar. Die Kunst offenbart sich oder eben nicht. Mit dieser neuen Einstellung verlor auch Shakespeare als Heilmittel für Moritz an Bedeutung und war nicht länger ein relevanter Gegenstand seiner Auseinandersetzungen. 24 Karl Philipp Moritz : Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre , in : ders.: Werke , hg. v. Horst Günther , Bd. 3 , Erfahrung , Sprache , Denken, Frankfurt a. M.: Insel , 1981 , 85–99 , hier 90.

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Hamlet – Die Funktion der Freundschaft Zahlreiche Freundschaften bei Shakespeare sind von einem humanistischen Ideal geprägt und zielen darauf , eine selbstbestimmte Individualität zu schaffen.25 Insbesondere als die traditionellen sozialen Ordnungen in der Renaissance zunehmend zusammenbrachen, galt Freundschaft als letzte Bastion zur Ganzheit und Einheit und war somit als eine Art Heilmittel für das Individuum als auch für die Gesellschaft von hohem Wert.26 Das humanistische Ideal der Freundschaft überlebte nicht nur bis ins achtzehnten Jahrhundert , sondern wurde emotionaler und fand häufig Ausdruck im gemeinsamen Lesen.27 Aus diesem Grund ist Freundschaft besonders für melancholische Personen wie Moritz von großer Bedeutung. Wie sein literarisches Vorbild Hamlet hat auch Moritz keine Bindung mehr zu seiner Familie : Hamlets Vater wurde von seinem Onkel ermordet und seiner Mutter kann er nicht mehr trauen; Moritz lebt früh räumlich von seinen Eltern getrennt. Seine Mutter Dorothea Henriette Moritz ( geb. König , 1727–1783 ) stirbt , als Moritz siebenundzwanzig ist , und zu seinem Vater Johann Gottlieb Moritz ( 1724–1788 ) hat er als Erwachsener keinen Kontakt mehr. In seiner Schulzeit hat er es aufgrund seiner Scham , an Freitischen zu speisen, schwer , Bindungen mit anderen Schülern einzugehen.28 Horatio stellt für Hamlet einen rationalen Diskutanten dar , der Hamlet hilft , Vernunft zu bewahren und nicht verrückt zu werden. Er lehnt Selbstmord in jeder Hinsicht ab und hilft seinem Freund Hamlet mit Gesprächen durch seine schwierige Phase.29 So wie Horatio für Hamlet die letzte Einheit repräsentiert , findet Moritz durch das gemeinsame Lesen mit Peter Israel

25 Zur Analyse der Rezeption Shakespeares bei Karl Philipp Moritz siehe auch : Mark Boulby : Karl Phi­lipp Moritz : At the Fringe of Genius , Toronto / Buffalo : University of Toronto Press , 1979 ; Cersowsky : Span aus Stratford ; Eckle : „Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir.“; Meier : Karl Philipp Moritz ; Winkler : Karl Philipp Moritz. Für den Abschnitt zum Aspekt der Freundschaft siehe : Tom MacFaul : Male Friendship in Shakespeare and His Contemporaries , Cambridge : Cambridge University Press , 2007 ; Wolfdietrich Rasch : Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts : vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock , in : Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte , Halle : Max Niemeyer , 1936. 26 Vgl. MacFaul : Male Friendship , 4. 27 Rasch gibt einige Beispiele in seinen Kapiteln zu den Freundschaftskreisen um Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Friedrich Gottlieb Klopstock ( vgl. Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung ; 181 ff und 222 ff ). 28 Vgl. Albert Meier : Karl Philipp Moritz , Stuttgart : Reclam , 2000 , 20 ; Hans Joachim Schrimpf : Karl Philipp Moritz , Stuttgart : Metzler , 1980 , 14 oder auch Willi Winkler : Karl Philipp Moritz , Reinbek : Rowohlt , 2006 , 31. Angaben zu Moritz’ Eltern siehe Kommentar zu Anton Reiser in : Karl Philipp Moritz : Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde , hg. v. Heide Hollmer und Albert Meier , Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag , 2006 , 939–1113 , hier : 994–995. Mehr zu Moritz’ Jugend und familiären Verhältnissen in : Christof Wingertszahn, Freunde der Stadtbibliothek Hannover und Stadtbibliothek ( Hg. ): Anton Reisers Welt : eine Jugend in Niedersachsen 1756–1776. Ausstellungskatalog zum 250. Geburtstag von Karl Philipp Moritz , Hannover-Laatzen : Wehrhahn, 2006. 29 Vgl. MacFaul : Male Friendship , 54.



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Reiser30 ( der im Roman in „Philipp Reiser“ umgetauft wird ) schließlich zu einer Einheit. Es scheint , als habe Moritz dieses Vorbild einer Freundschaft insbesondere beim Gestalten seiner Jugenderlebnisse in Anton Reiser einfließen lassen. So lässt er Reiser eine Freundschaft , wie sie zwischen Hamlet und Horatio existiert , nachempfinden. Die fehlenden Freundschaftserfahrungen quälen Reiser schon früh in seiner Kindheit und sein Wunsch nach einem Freund ist groß : „Er fühlte auf das innigste Bedürfnis der Freundschaft von seines Gleichen : und oft , wenn er einen Knaben von seinem Alter sahe , hing seine ganze Seele an ihm , und er hätte alles drum gegeben, sein Freund zu werden“ ( AR 93 ). Reisers Begehren nach Freundschaft ergibt sich vor allem aus den „wenigen Überreste[ n ] väterlicher und mütterlicher Liebe“ ( AR 92 ) und dem „niederschlagende[ n ] Gefühl von Verachtung“ ( AR 93 ), das man ihm entgegenbrachte.31 Mit der Geburt seines Bruders , betrachtet er sich endgültig verdrängt und ausgestoßen. Die Behandlung von Reisers Seelenlähmung durch das Lesen Shakespeares und die Flucht in seine Literatur , erhält aufgrund des gemeinsamen Erlebens der Lektüre in Zusammenwirkung mit dem nachempfundenen Freundschaftsaspekt eine zweite Ebene , wodurch es zu einer Erhöhung des eigentlichen Erlebnisses kommt. Auf dieser zusätzlichen Erfahrungsebene ist Reiser nicht mehr allein, und seiner Person und seinem Dasein kommt eine Bedeutung zu. Cersowsky sieht in dem gemeinsamen Lesen in erster Linie Reisers Versuch , sich in andere Menschen „hineinzuleben“, um dem seit seiner Kindheit bestehenden Missstand seiner Persönlichkeit entgegenzuwirken.32 Zudem hebt er die vermittelnde Funktion Shakespeares als Medium für ein anthropologisches Interesse am Mitmenschen hervor.33 Diesem anthropologischen Ansatz kann man zustimmen ( er wird nicht nur in diesem Zusammenhang in Moritz’ Werk deutlich ), doch ist das Interesse an dem Freund vermutlich eher dem Aspekt der Nachahmung bzw. des Nacherlebens aufgrund einer , schon von Cersowsky erwähnten, Identifikation Reisers mit den Charakteren Shakespeares zuzuschreiben. Auch Eckle steht Cersowskys Auffassung kritisch gegenüber. Sie sieht in dem Antrieb Reisers vielmehr das „elementare Bedürfnis jedes sozialen Wesens“, das nur „vergleichend zwischen Identifikation und Distanzierung“ hin- und hergerissen, die „Freiheit des eigenen Ichs“ erfahren kann.34

30 Vgl. Winkler : Karl Philipp Moritz , 34. 31 Mit der Aufklärung und dem Blick auf die Natur des Menschen sowie einem sozialen Interesse am Allgemeinwesen entwickelte sich zunehmend ein Wunsch nach freundschaftlichen und gemeinschaftlichen Bindungen. Durch die Verbreitung des Vernunftgedankens fand eine Verselbstständigung des Einzelnen statt und die Vormundschaft der Kirche und des Staates verlor mehr und mehr an Autorität und Einfluss. Diese neue , isolierte Form des Daseins führte zu einem neuen Erfordernis : Vergesellschaftung. Reisers Streben nach menschlichen Bindungen lässt zwar Verknüpfungen hierzu erkennen, ergibt sich jedoch vermutlich mehr aus den geschilderten Lebensumständen an sich. 32 Vgl. Cersowsky : Span aus Stratford , 77. 33 Vgl. ebd., 77. 34 Eckle : „Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir“, 257. Obwohl Cersowsky die Parallelen zwischen Hamlet und Reiser hinsichtlich ihrer Charakteristika und Lebensumstände aufzeigt , nimmt er – ne-

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Im Hamlet heißt es : „Those friends thou hast , and their adoption tried , / Grapple them unto thy soul with hoops of steel [ … ]“.35 Ganz nach diesem Rat findet eine Intensivierung der Beziehung zwischen Anton und Philipp Reiser statt : „Nun aber da Anton Reiser seinen Shakespear unmöglich für sich allein genießen konnte , so wußte er zu keinem bessern damit zu eilen, als zu seinem romantischen Freunde.“ ( AR 311 ) Zwar unterscheiden sich die Freundschaften im Hamlet und Reiser in ihrer Art — Philipp Reiser ist eher romantisch , während Hamlet Horatio schätzt , weil dieser nicht „passion’s slave“36 ist ; aber so wie die Tiefe der Freundschaft zwischen Horatio und Hamlet am Ende der Handlung erkennbar wird , wächst auch die „Leidenschaft“ Philipp Reisers und somit die empfundene Freundschaft Anton Reisers mit dem Verlauf der Handlung. Sie widmeten ganze Nächte dieser Lektüre [ … ] und Philipp Reiser hatte sich mit langem Halse herübergebeugt , so wie Anton Reiser weiter las , und die schwellende Leidenschaft mit dem wachsenden Interesse der Handlung stieg. ( AR 311 )

Die „Begierde“, die Reiser verspürt , „alles , was er beim Lesen desselben empfand mitzuteilen [ … ]“ ( AR 311 ), spricht dafür , dass er trotz der Flucht in die Welt der Literatur nicht den Bezug zur Realität verliert und die Wirkung auf seine Seele in eine freudige Erregung des Geistes umzuwandeln versteht. Die Möglichkeit , sich und sein Inneres auf diese Weise mitteilen zu können, indem er Philipp „ein ganzes Stück aus dem Shakespear“ vorliest und „auf alle dessen Empfindungen und Äußerungen dabei mit Wohlgefallen zu merken“ ist für Reiser „die größte Wonne , welche [ er ] in seinem Leben genossen hatte“ ( AR 311 ). Die Funktion der Reaktion ist hier hervorzuheben. Die Rückmeldung , die Reiser von seinem Freund erhält , kennzeichnet gewissermaßen die erfolgreiche Übernahme der Freundschaft aus dem Hamlet in die fiktive Realität Reisers.37 Die Bindung zwischen Anton und Philipp Reiser wird von Moritz idealisiert und bekommt den Nutzen des gemeinsamen Erlebens zugeschrieben. Die Freundschaft existiert zudem

ben einem kurzen Verweis auf eine Modellfunktion für den Freundschaftskult – nicht weiter Bezug auf den Aspekt der Freundschaft in Hamlet und deren Aneignung durch Moritz in Anton Reiser. Vgl. Cersowsky : Span aus Stratford , 77–87. 35 William Shakespeare : Hamlet , in : ders.: The Arden Shakespeare Complete Works , hg. v. Richard Proudfoot , Ann Thompson und David Scott Kastan, London : Methuen Drama , 2011 , 291–332 , hier 1.3 , 62–63. 36 Shakespeare : Hamlet , 3. 2. 73. 37 Hinweise zum gemeinsamen Lesen von Shakespeares Werken in Moritz’ eigener Erfahrungswelt lassen sich in Karl Friedrich Klischnigs Erinnerungen ( 1794 ) finden. Darin schreibt er über Moritz’ Zeit in Wittenberg : „Traugott Benjamin Berger [ … ] war einer seiner besten Freunde. Mit ihm erneuerte er seine Lektüre des Shakespear und andrer englischen Klassiker. Sie waren fast immer bei einander und machten oft kleine Excursionen in die umliegenden Gegenden.“ ( Karl Friedrich Klischnig : Erinnerungen aus den zehn letzten Lebensjahren meines Freundes Anton Reiser als ein Beitrag zur Lebensgeschichte des Herrn Hofrath Moritz. Berlin : Wilhelm Vieweg, 1794 , 15–16 ).



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nur für die Shakespeare-Momente und entfaltet ihren vollen Wert und ihre Bedeutung erst durch ihre zeitliche Begrenzung.38

Hamlet – Über das Sein und Nichtsein Neben dem Aspekt der Freundschaft zur Stärkung von Reisers Existenz ist es Hamlets Monolog „To be , or not to be“,39 auf den Moritz in der Veranschaulichung von Reisers Existenzfragen zurückgreift. Reisers Identifikation mit Hamlets inneren Konflikten wird insbesondere in Moritz’ Darstellung von Reisers Gefühlswelt erkennbar und lässt den Schluss zu , dass dieses Drama für Moritz eine besondere Bedeutung besessen und ihn zu einer intensiven Auseinandersetzung gereizt hat. „Nun war es sonderbar ; wenn er im Anfang etwas niederschreiben wollte , so kamen ihm immer wieder die Worte in die Feder : was ist mein Dasein, was mein Leben ?“ ( AR 313 ) In den deutschen Dichterkreisen des achtzehnten Jahrhunderts kam es zu einem regelrechten „Hamletfieber“, welches die Begeisterung für Shakespeares andere Dramen in den Schatten stellte.40 In Folge dessen wurde insbesondere Hamlets Frage nach dem Sein oder Nichtsein häufig von deutschen Gelehrten, wie etwa von Herder in seiner Volksliedersammlung ( 1778 / 1779 ), zitiert. Mit diesen Fragen, nach dem Dasein im Gegensatz zum Nichtsein, der Existenz eines Lebens nach dem Tod oder dem Sinn von Selbstmord , beschäftigt sich auch Moritz.41 Die Reflexionen zum „Leben nach dem Tod“ spielen insbesondere im dritten Teil seines Anton Reiser eine große Rolle , erste Hinweise lassen sich jedoch bereits im ersten Teil des Romans ausmachen, als Reisers Mutter nach dem Tod ihrer Tochter fragt : „Wo wohl jetzt Julchen sein mag ?“ ( AR 111 ) Im Folgenden soll die Aneignung der Sein- oder Nichtsein-Thematik als Schlüsselfunktion an einigen Textstellen genauer aufgezeigt werden. Einleitend sei zunächst Wielands Übersetzung von Hamlets berühmtem Monolog zitiert : Seyn oder nicht seyn – Das ist die Frage – Ob es einem edeln Geist anständiger ist , sich den Beleidigungen des Glücks geduldig zu unterwerfen, oder seinen Anfällen entgegen zu stehen, und durch

38 Mehr zur Bedeutung vom Ende von Freundschaften in Shakespeares Dramen in MacFaul : Male Friendship , 196. 39 In Wielands Übersetzung : „Seyn oder nicht seyn“ ( William Shakespeare : Hamlet , Prinz von Dännemark. Ein Trauerspiel , in : Wielands Gesammelte Schriften, Zweite Abteilung : Übersetzungen, Bd. 3 , Wielands Übersetzungen. Shakespeares theatralischen Werke , hg. v. Ernst Stadler , Berlin : Weidmannsche Buchhandlung , 1911 , 391–492 , hier 438 ). 40 Walter Muschig ( Deutschland ist Hamlet , in : Aufsätze und Vorträge , Deutsche Shakespeare Gesellschaft West , 1965 , 32–58 , hier 36–36 ) begründet die schnelle Ausbreitung der „Hamletkrankheit“ im achtzehnten Jahrhundert mit der vorherigen Existenz des „Wertherfiebers“ und begründet die Überschattung dieses Werkes der aller anderen Dramen ( auch für Goethe ) damit , dass man in Hamlet den „zerrütteten Bruder“ des „Selbstmörders Werthers“ gesehen habe. 41 Vgl. Cersowsky : Span aus Stratford , 78.

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einen herzhaften Streich sie auf einmal zu endigen ? Was ist sterben ? – Schlafen – das ist alles – und durch einen guten Schlaf sich auf immer vom Kopfweh und allen andern Plagen, wovon unser Fleisch Erbe ist , zu erledigen, ist ja eine Glückseligkeit , die man einem andächtigen zubeten sollte – Sterben – Schlafen – Doch vielleicht ist es was mehr – wie wenn es träumen wäre ? – Da steckt der Haken  – Was nach dem irdischen Getümmel in diesem langen Schlaf des Todes für Träume folgen können, das ist es , was uns stuzen machen muß.42

In Aus K … s Papieren ( erschienen 1786 im Rahmen der Denkwürdigkeiten43 ) schreibt Moritz : Das Ende der Tage ! was ist das ? Wenn kein Sonnen Auf- und Untergang , keine Monden- und Jahreswechsel , wenn keine Zeit mehr sein wird. – Wird das einmal nicht mehr sein, oder wird dieser Lauf der Dinge ewig dauern ? auch wenn ich schon wieder Staub bin ? Und wenn ich wieder Staub bin, was bin ich dann ? was ist der Staub auf den ich trete ? Ist er etwas oder ist er nichts ? Oder ist er der Übergang zum Nichts ? Zu Staub werden – zu Nichts werden – Zu Staub zu Asche werden, die in alle vier Winde verstreut wird – was ist dies anders als Vernichtung ? gibt es noch ein andres Nichts ? Ist hier noch etwas festes und bleibendes ? [ … ] Staub – Verwesung – Nichts.44

Die Ähnlichkeit zum Hamlet-Monolog ist sowohl auf inhaltlicher , als auch stilistischer Ebene unübersehbar. Anton Reisers frühe Lebenserfahrungen weisen zudem direkte Parallelen zu Hamlets Qualen auf. Diese werden beschrieben als [ …. ] the whips and scorns of time , Th’oppressor’s wrong , the proud man’s contumely , The pangs of dispriz’d love , the law’s delay , The insolence of office [ … ]45

42 Shakespeare : Hamlet , Prinz von Dännemark , 438. Im Original : „To be , or not to be , that is the question : / W hether ‘tis nobler in the mind to suffer / The slings and arrows of outrageous fortune , / Or to take arms against a sea of troubles / A nd by opposing end them. To die – to sleep , / No more ; and by a sleep to say we end / T he heart-ache and the thousand natural shocks / T hat flesh is heir to : ’tis a consummation / Devoutly to be wish’d. To die , to sleep ; / To sleep , perchance to dream – ay , there’s the rub : / For in that sleep of death what dreams may come , / W hen we have shuffled off this mortal coil , / Must give us pause – there’s the respect / T hat makes calamity of so long life.“ ( Shakespeare : Hamlet , 3. 1. 56–69 ). 43 Laut Meier , der sich hierbei auf Klischnigs Erinnerungen bezieht ( Klischnig : Erinnerungen, 16 ), handelt es sich bei K … um einen tatsächlichen Bekannten Moritz’ aus dessen Wittenberger Studienzeit 1777 / 78. Vgl. Meier : Karl Philipp Moritz , 213 oder auch „Kommentar zu K ….s Papieren ( Entstehung , Quellen und Urheberschaft )“, in : Karl Philipp Moritz : Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde , hg. v. Heide Hollmer und Albert Meier , Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag , 2006 , 1210–1226 , hier 1211. 44 Karl Philipp Moritz : Denkwürdigkeiten, aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen. Aus K … s Papieren, in : ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde , hg. v. Heide Hollmer und Albert Meier , Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag , 2006 , 667–700 , hier 691. 45 Shakespeare : Hamlet , 3. 1. 71–73.



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Dabei kommt eine Stelle im Hamlet-Monolog den im Reiser geschilderten Erfahrungen Moritz’ besonders nahe , nämlich als Hamlet fragt : [ … ] Who would fardels bear , To grunt and sweat under a weary life , But that the dread of something after death , The undiscover’d country , from whose bourn No traveller returns , puzzles the will , And makes us rather bear those ills we have Than fly to others that we know not of ?46

Insgesamt ist nur schwerlich zu übersehen, dass Moritz sein Selbstbild im Reiser in Auseinandersetzung mit der Vorlage von Hamlet formuliert und diskutiert. Nachdem Reiser die Köpfung von vier Männern, umgeben von einer Masse Schaulustiger , mitverfolgt hat , keimen in ihm verstärkt Gedanken über die „Zerstückbarkeit“ des Individuums in der Gesellschaft und der Nichtigkeit des Resultats im Verhältnis zur verbleibenden Menschenmasse auf : „die Eingeschränktheit des einzelnen Menschen ward ihm anschaulich“ und „er fühlte die Wahrheit : man ist unter so vielen Tausenden, die sind und gewesen sind , nur einer“ ( AR 306 ). Diese Erfahrung lässt Reiser sich klein und unbedeutend fühlen und führt ihn zugleich zu einer Auseinandersetzung mit dem Tod , indem ihm „Nahrung und Kleidung [ … ] gleichgültig“ werden, „so wie Tod und Leben – ob nun eine solche bewegliche Fleischmasse , deren es eine so ungeheure Anzahl gibt , auf der Welt mehr umher geht , oder nicht ! – [ … ] Der Mensch ist wie das Vieh ; wie das Vieh stirbt , so stirbt er auch“ ( AR 308 ).47 Die ganze Frustration und das Gefühl der Ausweglosigkeit Reisers kommen hier zum Ausdruck. Zu allem Leid realisiert er , dass selbst der Tod ihn nicht aus seiner Lage der Unbedeutsamkeit befreien kann : Und wo blieb nun der Geist nach der Zerstörung und Zerstückelung des Körpers ?  – Alle die Gedanken von so viel tausend Menschen, die vorher durch die Scheidewand des Körpers bei einem jeden voneinander abgesondert waren, und nur durch die Bewegung einiger Teile dieser Scheidewand einander wieder mitgeteilt wurden, schienen ihn nach dem Tode der Menschen in eins zusammen zu fließen – da war nichts mehr , das sie absonderte und von einander trennte – er dachte sich den übrig gebliebenen und in der Luft herumfliegenden Verstand eines Menschen, der bald in seiner Vorstellungskraft zerflatterte. –

46 Ebd., 3. 1. 76–82. In Wielands Übersetzung : „[ W ]elcher Mann von Verdienst [ … ] würde sich von einem Elenden, dessen Geburt oder Glük seinen ganzen Werth ausmacht , mit Füssen stossen [ … ] lassen, wenn ihm frey stünde , mit einem armen kleinen Federmesser sich Ruhe zu verschaffen ? Welcher Taglöhner würde unter Aechzen und Schwizen ein mühseliges Leben fortschleppen wollen ?“ ( Shakespeare : Hamlet , Prinz von Dännemark , 438 ). 47 Es lässt sich hier auch deutlich eine Reminiszenz an die Bibel erkennen. Im Alten Testament ( Prediger 3 :19 ) heißt es : „Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh : wie dies stirbt , so stirbt er auch [ … ].“

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Und dann schien ihm aus der ungeheuren Menschenmasse wieder eine so ungeheure unförmliche Seelenmasse zu entstehen – wo er immer nicht einsahe , warum gerade so viel und nicht mehr und nicht weniger da wären, und weil die Zahl ins Unendliche fortzugehen schien, das einzelne endlich fast so unbedeutend wie nichts wurde. ( AR 309 )

Reiser begreift sein Dasein als „eine Täuschung“ oder eine „abstrakte Idee – ein Zusammenfassen der Ähnlichkeiten, die jeder folgende Moment in seinem Leben mit dem entschwundenen hatte“ ( AR 314 ). Reiser und Hamlet ähneln sich in ihrer Isolation und ihren monologischen Reflexionen, in denen sie versuchen, mit den äußeren Umständen und inneren Gedanken umzugehen.48 Insgesamt lässt sich an den Textstellen Moritz’ Aneignung von der in Shakespeares Hamlet behandelten Zerbrechlichkeit der Existenz deutlich ausmachen. Darüber hinaus schreibt Moritz Shakespeare in seinem Anton Reiser auch die Anerkennung für die Hinwegsetzung seines Protagonisten über dessen quälende äußere Lebensumstände zu , die überhaupt erst zu den Existenzreflexionen geführt haben : „Nachdem er den Shakespear [ … ] gelesen hatte [ … ] arbeitete sich sein Geist unter allen seinen äußern drückenden Verhältnissen [ … ] empor [ … ] wie der Verfolg dieser Geschichte zeigen wird“ ( AR 312 ). Durch die Adaption des Monologes als Darstellungsmittel im Anton Reiser kommt Shakespeare zudem eine Vorbildfunktion für Moritz’ Schrifttum zu. Die Erkenntnis über die Eingeschränktheit des Lebens lässt Reiser schließlich wieder sein eigenes Dasein wahrnehmen ( vgl. AR 314 ). Shakespeares Werke , insbesondere aber der Hamlet , helfen ihm zu dieser Einsicht , denn durch die „Monologe des Hamlet“ erkennt Reiser „das Ganze des menschlichen Lebens“ und versteht sich nicht länger als isoliertes Individuum – „er [ denkt ] sich nicht mehr allein, wenn er sich gequält , gedrückt , und eingeengt fühlt [ … ]“, sondern sieht sein individuelles Leiden vielmehr als „Los der Menschheit“ ( AR 312 ).49 Der Einfluss dieses Gedankenguts zeigt deutlich die Übertragung von Moritz’ späteren Erfahrungen auf den jungen Reiser. Er gibt hier weniger seine eigenen Jugenderfahrungen wieder , als dass er sie auf Grundlage und mit Hilfe seiner Shakespearelektüre neugestaltet.

King Lear – Der Mensch und das Tier King Lear ist ein bedeutendes Stück für die Gestaltung und Schilderung der psychologischen Entwicklung Anton Reisers. Glaubt man den Schilderungen von Moritz’ Freund Klischnig in den Erinnerungen ( 1794 ), verarbeitet Moritz im Anton Reiser erneut seine

48 Vgl. Cersowsky : Span aus Stratford , 78. 49 „Sein intraindividuelles Leiden [ … ] erfährt im Spiegel der Fiktion eine Erweiterung um die interindividuelle Dimension.“ Birgit Nübel : Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800. Studien zu Rousseau , Wieland , Herder und Moritz , Tübingen : 1994 , 257. Zitiert nach Eckle : „Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir“, 264.



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eigenen Lebenserfahrungen, indem er auf Shakespeares Lear zurückgreift. Klischnig berichtet in seinen Aufzeichnungen von Moritz’ häufigem Versinken im Zustand „trübe[ r ] melancholische[ r ] Unthätigkeit“, in dem er „nicht eines vernünftigen Gedanken fähig“ war und „sich selbst über das lächerliche , kindische und selbst beynah wahnwitzige Betragen, zu welchem er herabgesunken war [ haßte ].“50 Er schreibt weiter und mit direktem Bezug zu Shakespeares Lear : „Ganze Tage trieb er sich in Wind und Wetter auf dem Felde umher , schlief mehr als eine Nacht unter freyem Himmel , stillte seinen Hunger mit Wurzeln und spielte den von seinen Töchtern verstoßnen Lear [ … ].“51 Neben Moritz’ Identifikation mit Hamlet , lässt sich hier also eine weitere mit Shakespeares Lear beobachten und erneut sind es die Parallelen in den Erfahrungen, die Moritz zur Adaption von King Lear im Reiser bewegt haben dürften. Inwiefern sich Klischnigs Bezüge zu Moritz’ Erlebnissen in der Erfahrungswelt seines Protagonisten Reisers wiederfinden lassen und von Moritz mit Hilfe der Appropriation Shakespeares gestaltet wurden, soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Cersowsky beschreibt die Parallelen, die sich zwischen Reiser und Lear ziehen lassen in seinem Aufsatz wie folgt : Sie seien beide auf Teilen ihrer „Reise“ nur noch in Fetzen gekleidet und Reiser sei , wie Lear von seinen Töchtern, verstoßen worden, was schließlich bei beiden zur Misanthropie geführt habe.52 Es lassen sich jedoch nicht nur Ähnlichkeiten in Reisers und Lears Situationen erkennen, Shakespeares King Lear dient Moritz zudem als geeignetes Darstellungsmittel , um Reisers Leiden und Schmerz zum Ausdruck zu bringen und dessen Gedanken über den freiwilligen Tod Substanz zu verleihen. Reiser versetzt sich gewissermaßen in Shakespeares Lear , der über eine unbewohnte Heide , mitten in einem Gewitter irrt und sich schließlich in der Absicht , den äußeren Merkmalen der Natur zu trotzen, die Kleider vom Leib reißt , um die äußeren Attribute aller Geschöpfe auszumerzen und das innere Tier hervorscheinen zu lassen. Wo es also bei Shakespeare heißt : Why , thou wert better in thy grave than to answer with thy uncovered body this extremity of the skies. Is man no more than this ? Consider him well. Thou ow’st the worm no silk , the beast no hide , the sheep no wool , the cat no perfume. Ha ? Here’s three on’s are sophisticated ; thou art the thing itself. Unaccommodated man is no more but such a poor , bare , forked animal as thou art. Off , off , you lendings : come , unbutton here.53

schreibt Moritz :

50 Klischnig : Erinnerungen, 38–39. 51 Ebd., 38–39. 52 Vgl. Cersowsky : Span aus Stratford , 79. 53 William Shakespeare : King Lear , in : ders.: The Arden Shakespeare Complete Works , hg. v. Richard Proudfoot , Ann Thompson und David Scott Kastan, London : Methuen Drama , 2011 , 633–669 , hier 3. 4.  100–108.

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Hier stand [ Reiser ] zwischen dem schrecklichsten Lebensüberdruß , und der instinkmäßigen, unerklärlichen Begierde fortzuatmen, kämpfend , eine halbe Stunde lang , bis er endlich ermattet , auf einem umgehauenen Baumstamm niedersank , der nicht weit vom Ufer lag. [ … ] Als Tier wünschte er fortzuleben ; als Mensch war ihm jeder Augenblick der Fortdauer seines Daseins unerträglich gewesen. ( AR 310 )

Sowohl Reisers Depressivität in Beziehung zu seinem ihm unerträglichen Dasein als auch die Situation seiner durchnässten Kleidung und die Kälte bilden in ihm den Wunsch , seinen Körper „in dem Augenblick eben so willig und gerne wie seine durchnetzten Kleider“ abzulegen, „hätte ihm damals ein gewünschter Tod aus irgendeinem Winkel entgegen gelächelt“ ( AR 310 ). Und als Reiser erschöpft durch die nasskalte und verschneite Luft stolpert „entstand in ihm das Gefühl , daß er sich selbst nicht entfliehen konnte“ ( AR 309 ). Die Situation bringt ihn zurück zu seinen animalischen Urinstinkten. Der Auslöser zu diesem Gedankengut ist die Bewusstwerdung Reisers , „daß er nun unabänderlich er selbst sein mußte , und kein anderer sein konnte ; daß er in sich selbst eingeengt , und eingebannt war – das brachte ihn nach und nach zu einem Grade der Verzweiflung“ ( AR 310 ). Obwohl es für Lear der Ruf eines verzweifelten Mannes ist und er selbst das nackte Dasein in Form eines Tieres für arm hält , wünscht sich Reiser in dieser Form zu existieren. Das zeugt von dem Einfluss , den Shakespeares dramatische Werke auf Reiser und auf der Autorebene auf Moritz gehabt haben. Die Textstellen lassen darüber hinaus erkennen, dass Moritz hier erneut auf Shakespeare zurückgreift , um Reisers Gefühlswelt zu gestalten. In dem etwa zur gleichen Zeit zum Anton Reiser entstandenen Aus K … s Papieren geht Moritz so weit , das Ich K … s als Tier zu bezeichnen. K … betrachtet diese Flucht in seine „Tierheit“ als eine „viehische Betäubung“, als ein Anästhetikum , das ihm hilft , seinen Kummer und seine Verzweiflung zu unterdrücken. Die Hingabe an diese tierischen Gefühle , der „viehischen, wilden Lust“, führt ihn jedoch zu Schuldgefühlen, und die Gewissensbisse über den Verlust seiner edlen Natur lassen ihn beim Anblick der schönen Natur keine Freude mehr empfinden.54 Schwank ich nicht unwiderstehlich hin und her ? – woran soll ich mich fest halten ? – Ich kann mich ja nicht außer mir selbst hinstellen, um zwischen meiner schlechtern und edlern Natur zu wählen ? – Ich fühle mein Ich gedoppelt ; es entschlüpft mir zum Tier , wenn ich Mensch es festhalten will , und es wird unwillkürlich wieder zum Menschen, wenn ich Tier in meiner Tierheit zu versinken wünsche.55

Die Tiersymbolik im King Lear dient vorwiegend zur Betonung der Spannung zwischen dem Verhalten der Protagonisten und ihrer sozialen Position. In einem ähnlichen Zusammenhang kann auch die Intention der Tiersymbolik in Aus K … s Papieren

54 Vgl. Moritz : Aus K … s Papieren, 671–672. 55 Ebd., 672.



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betrachtet werden. K … empfindet tiefe Reue , wenn er sich in den „Zwischenraum von Taumel , Taubheit , Vergessen [ s ]einer selbst , viehischer Ausschweifung , Flüchen und Verwünschungen [ s ]eines Schicksals“56 begibt. Und doch kommt er nicht gegen den Hunger der animalischen Natur nach Macht in Form von sozialem Aufstieg an, so wie Goneril , Regan und Edmund in King Lear , die es jedoch , anders als K …, gar nicht erst versuchen. In den Reflexionen zu Lear und Reiser zeigt sich , dass Moritz sich nicht nur hinsichtlich der Monologgestaltung an Shakespeare bedient , sondern einmal mehr Shakespeares Werke zur Darstellung von Flucht aus umgebenden Umständen nutzt – hier jedoch mit dem Unterschied , dass Moritz seinen Protagonisten nicht fiktiv beim Lesen von Shakespeares Werken und mit einem resultierenden therapeutischen Effekt , sondern mithilfe der Gestaltung ähnlicher Erfahrungsrealitäten und anästhetisierender Wirkung flüchten lässt. Hier ließ er sich noch eine Weile gleichsam der Natur zum Trotz vom Regen durchnetzen, bis das Gefühl der Kälte , und das Klappern seiner Zähne ihn wieder zu sich selbst brachte , und ihm zufälliger Weise einfiel , daß er den Abend bei seinem Wirt dem Fleischer , frische Wurst zu essen bekommen würde – und daß die Stube sehr warm geheizt sein würde. – Diese ganz sinnlichen und tierischen Vorstellungen frischten die Lebenslust in ihm aufs neue wieder an – er vergaß sich , so wie er sich nach der Hinrichtung der Missetäter vergessen hatte , ganz als Mensch , und kehrte in seinen Gesinnungen und Empfindungen als Tier heim. ( AR 310 )

The Tempest und Othello – Das Leben als Traum An dieser Stelle soll noch einmal auf The Tempest zurückgekommen werden. Im Fokus der Betrachtungen soll hierbei die im Tempest verarbeitete Vorstellung von einem Leben als Traum stehen. Ähnlich wie Prospero in seiner Schlussrede im Tempest , sieht auch Reiser das Leben des Menschen als „hinfälliges Blendwerk“57 an, wodurch es unwirklich wie ein Traum an einem vorbeiziehen kann.58 In Prosperos Rede heißt es : [ … ] These our actors , As I foretold you , were all spirits and Are melted into air , into thin air ; And – like the baseless fabric of this vision – The cloud-capped towers , the gorgeous palaces , The solemn temples , the great globe itself , Yea , all which it inherit , shall dissolve , And , like this insubstantial pageant faded , Leave not a rack behind. We are such stuff

56 Ebd., 672. 57 Cersowsky : Span aus Stratford , 79. 58 Vgl. ebd., 79.

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As dreams are made on ; and our little life Is rounded with a sleep. [ … ]59

Und auch in Moritz’ Andreas Hartknopf. Eine Allegorie ( 1786 ) wird im Rahmen einer Shakespeare-Erinnerung eine ebensolche Verbindung zum Bild vom Leben als Traum erzeugt : Sieh , so lange , bis wir erst recht und vollkommen von diesem Lebensschlaf erwacht sind , werden wir auch noch immer wünschen den schönen Traum wieder anzuknüpfen, der durch den Tod unterbrochen wird – Indem der Emeritus noch so sprach , wurde auf einmal sein Auge starr , und seine Lippen bewegten sich nicht mehr [ … ] – mir deucht , ich war itzt auf dem Wege zu erwachen, aber weil ich dich vor mir sahe so war mir der Traum zu süß ; ich mochte ihn noch nicht fahren lassen [ … ].60

Dem Tod folgt hier ein Erwachen aus dem Traum , weswegen der Roman im Kontrast zu Hamlets Monolog über das Sein oder Nichtsein steht. Dort beschäftigt sich Hamlet mit dem Gedanken an mögliche Träume „in that sleep of death“61. Es lässt sich anhand dieser Textstelle zudem die Verknüpfung zu einem weiteren Werk erkennen, das eine Rolle beim Schreiben von Anton Reiser und Andreas Hartknopf gespielt haben mag.62 In Goethes Werther heißt es : Daß das Leben des Menschen nur ein Traum sei , ist manchem schon so vorgekommen, und auch mit mir zieht dieses Gefühl immer herum. Wenn ich die Einschränkungen so ansehe , in welche die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind , wenn ich sehe , wie alle Würksamkeit dahinaus läuft , sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zeck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern, und dann, daß alle Beruhigung nur über gewisse Punkte des Nachforschens nur eine träumende Resignation ist , da man sich die Wände , zwischen denen man gefangen sitzt , mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemalt.63

59 William Shakespeare : The Tempest , in : ders.: The Arden Shakespeare Complete Works , hg. v. Richard Proudfoot , Ann Thompson und David Scott Kastan, London : Methuen Drama , 2011 , 1071–1095 , hier 4. 1.  148–158. 60 Karl Philipp Moritz : Andreas Hartknopf. Eine Allegorie , in : ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde , hg. v. Heide Hollmer und Albert Meier , Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag , 2006 , 519–700 , hier 554–555. 61 Vgl. Shakespeare : Hamlet , Prinz von Dänemark , 438–439. 62 Zu Moritz’ Werther-Rezeption siehe Eckle : „Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir“, 297–303 ; Hermann Blumenthal : „Karl Philipp Moritz und Goethes ‚Werther‘ “, in : Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 30 ( 1936 ), 28–64 ; Gerhard Pickerodt : „Das ‚poetische Gemälde‘. Zu Karl Philpp Moritz’ ‚Werther‘-Rezeption“, in : Weimarer Beiträge 36 ( 8 : 1990 ), 1346–1368. 63 Johann Wolfgang von Goethe : Die Leiden des jungen Werther , in : ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe , Bd. 1.2 , Der junge Goethe : 1757–1775 , hg. v. Gerhard Sauder , München : Carl Hanser , 1987 , 196–299 , hier 203.



Die kreative Aneignung Shakespeares im Werk von Karl Philipp Moritz 

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Die Ähnlichkeit zu dem , was Hartknopf schildert , ist unübersehbar und auch eine weitere Textstelle im Werther spiegelt seine Reflexion über das Dasein wieder : „Ich spiele mit , vielmehr , ich werde gespielt wie eine Marionette , und fasse manchmal meinen Nachbar an der hölzernen Hand und schaudere zurück.“64 Moritz bezieht sich im dritten Teil seines Anton Reiser auf eben diese „Stelle , wo Werther das Leben mit einem Marionettenspiel vergleicht , [ … ] seinen Nachbarn an der hölzernen Hand ergreift und zurückschaudert“ und schreibt , dass es bei seinem Reiser „die Erinnerung an ein ähnliches Gefühl , das er oft gehabt hatte [ erweckte ]“ ( AR 335 ). In seinem Reiser heißt es auch : „Indes fühlte er sich durch die Lektüre des Werthers , eben so wie durch den Shakespear , so oft er ihn las , über alle seine Verhältnisse erhaben“ ( AR 337 ). Es zeigt sich , dass nicht nur Shakespeare Einfluss auf Moritz’ Schrifttum ausübte , sondern auch die jüngste Shakespeare-Rezeption im Umfeld des Sturm und Drangs. Shakespeares Werke lassen zwar Moritz seine Protagonisten in andere Welten der Phantasie entführen, doch ist es letztendlich die Realität , die Reiser und Hartknopf immer und immer wieder einholt : „die Phantasie mußte zurücktreten – das Wirkliche war nun da“ ( AR 361 ). Und selbst im Hartknopf realisiert der Emeritus letztendlich , dass nach dem gemeinsamen nächtlichen Lesen des Othello die Einholung der Realität65 mit ihrer Übermacht unvermeidbar ist : Wir sahen eine Welt von Leidenschaften vor unsrer Seele aufsteigen [ … ] als plötzliche die Lampe verlosch – und wir konnten sie nicht wieder anzünden – das ganze erhabne Zauberwerk war verschwunden, bloß weil eine armselige Lampe verlosch – wir legten uns mißvergnügt zu Bette. Und wenn nun die Lebenslampe versiegt [ … ] – wir legten uns damals mißvergnügt ins Bette , als die Lampe verloschen war – weil wir den Zusammenhang einer bloßen Phantasie , einer Schöpfung der Einbildungskraft nicht weiter verfolgen konnten.66

Diese Worte lassen wiederum deutlich eine Reminiszenz an Shakespeares Othello selbst erkennen und zeigen, dass Moritz die im Othello gebrauchte Metapher Licht für Leben in seinem Hartknopf aufgreift , um das Ende von der Assoziation Leben als Traum und das damit verbundene Erwachen in die Realität zu gestalten : Und doch muß sie sterben ; sie würde sonst noch mehr Unglükliche machen. Das Licht ausgelöscht , und dann – Das Licht auslöschen – O du dienstbare Flamme , wenn ich dich auslösche , und es gereut mich , so kan ich dir dein Licht wieder geben : Aber wenn dein Licht einmal ausgeblasen ist , du vollkommenstes Modell der sich selbst übertreffenden Natur , so weiß ich nicht , wo dieser prometheische Funke ist , der es wieder anzünden kan.67

64 Ebd., 251. 65 Siehe auch Cersowski : Span aus Stratford , 84. 66 Moritz : Andreas Hartknopf , 554. 67 William Shakespeare : Othello , der Mohr von Venedig. Ein Trauerspiel , in : Wielands Gesammelte Schriften, Zweite Abteilung : Übersetzungen, Bd. 3 , Wielands Übersetzungen. Shakespeares theatralischen Werke , hg. v. Ernst Stadler , Berlin : Weidmannsche Buchhandlung , 1911 , 262–356 , hier 345–346.

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Yet she must die , else she’ll betray more men. Put out the light , and then put out the light ! If I quench thee , thou flaming minister , I can again thy former light restore Should I repent me. But once put out thy light , Thou cunning’st pattern of excelling nature , I know not where is that Promethean heat That can thy light relume : when I have plucked the rose I cannot give it vital growth again, It needs must wither. [ … ]68

III Mit der Reflexion seines eigenen Lebens in der Person Reiser inszeniert sich Moritz nachträglich zu einem der Ersten, die Shakespeare im deutschsprachigen Raum gründlich rezipierten. Die Verknüpfungen, die zwischen Reiser und Shakespeare hergestellt werden können – insbesondere Moritz’ Darstellung der Flucht Reisers in die Shakespeare-Lektüre – erlauben deutliche Rückschlüsse auf eine tiefgehende Beschäftigung mit seinem Werk und geben einen signifikanten Einfluss Shakespeares auf Moritz’ Denken zu erkennen. Die Aneignung Shakespeares lässt Moritz kreativ Gefühle konstruieren, die er seinem jüngeren Selbst zuschreibt , indem er sich Shakespeares zum Ausdruck und zur Therapie von Reisers Leiden bedient. Shakespeare dient Moritz zur existentialistischen Reflexion und zur Expression der psychologischen Entwicklung seiner Persona Reiser. Anders als vielen Gelehrten des frühen Shakespearediskurses ( wie etwa Gerstenberg ), geht es Moritz nicht um die äußere Form und um neue dramentheoretische Konzepte. Wenn man bedenkt , dass es zum Zeitpunkt der Herausgabe etablierte Theater gab und die Shakespeare-Stücke für die größten Bühnenerfolge im deutschen Sprachraum sorgten, ist es auffällig , dass der Entwicklung des Theaters im Roman Anton Reiser in der Verbindung mit Shakespeare keine ausgeprägte Rolle zukommt. Selbst wenn die Handlung im Roman um die Wanderensembles und Antons Schauspielpläne kreist , bleibt Shakespeare außen vor. Weder von Moritz’ Zeit in Berlin, noch von seinem Aufenthalt in England gibt es explizite Zeugnisse , die Inszenierungsbesuche von Shakespeares Stücken beschreiben. Die Umsetzung Shakespeares auf der Bühne stand nicht im Mittelpunkt seines Interesses.69 Eher beschäftigte Moritz die bloße Lektüre und das breite Spektrum der von Shakespeare ausgestalteten Charaktere – sei

68 William Shakespeare : Othello , in : ders.: The Arden Shakespeare Complete Works , hg. v. Richard Proudfoot , Ann Thompson und David Scott Kastan, London : Methuen Drama , 2011 , 941–977 , hier 5. 2. 6–15. 69 Vgl. Cerowski : Span aus Stratford , 83.



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es Hamlet , Lear oder Prospero. Darin ähnelt sein Zugang dem des späten Goethe , der Shakespeare in seinem Aufsatz Shakespeare und kein Ende ( 1815–1826 ) nur noch im Fokus der Poesie betrachtet.70

70 Vgl. Cerowski : Span aus Stratford , 83.

Charlotte Lee

„Durch Wunderkraft erschienen“ –  Affinitäten zwischen Goethes Faust II und Shakespeares The Tempest Goethes Faust II und Shakespeares The Tempest beschäftigen sich mit dem zentralen epistemologischen Problem der Unterscheidung von Wirklichem und Unwirklichem.1 Dabei kommt dem Thema des Zaubers eine besondere Bedeutung zu , der die Realität durcheinanderbringt und eng mit der Illusion verbunden ist. Zwar ist die komplexe , ja auch dialektische , Beziehung zwischen der Realität und der Illusion alles andere als ein außergewöhnliches Thema in der Literatur ; die Faszination des Vergleichs zwischen dem letzten Schauspiel Goethes und demjenigen Shakespeares besteht jedoch darin, dass dieses Thema auf überraschend ähnliche Weise behandelt wird , aber überraschend wenig beachtet worden ist. Ziel dieses Aufsatzes ist es , derartige Ähnlichkeiten ans Licht zu bringen. In der Fachliteratur zu Goethes Faust wird The Tempest allenfalls flüchtig erwähnt : Es wird nebenbei auf die Figur Ariel verwiesen, die in beiden Stücken zugegen ist , oder auf die reizvolle , „poetisch-zauberhafte Atmosphäre“,2 die beide gemeinsam haben.3

The Tempest als Quelle und Muster für Faust II Wohlbekannt ist die Begeisterung des jungen Poeten für den Dramatiker , „aus dem die Natur weissagt“.4 Unter der Leitung Goethes zwischen 1791 und 1817 vervielfachten sich die Shakespeare-Aufführungen am Weimarer Hoftheater. Die hohe Frequenz der Hinweise auf Shakespeare in den späten Briefen und Tagebüchern Goethes bezeugt schließlich die erneute Beschäftigung mit dem englischen Dramatiker in seinem letzten Lebensjahrzehnt. Heinrich Husemann argumentiert überzeugend , dies sei ein parado-

1 Siehe A. D. Nuttall : Shakespeare the Thinker , New Haven : Yale University Press , 2007 , 363. Dieser Aufsatz ist zuerst in englischer Sprache im Modern Language Review 107.1 ( 2012 ) erschienen. Für die Genehmigung , diese leicht veränderte deutsche Fassung hier drucken zu lassen, danke ich den Herausgebern der Zeitschrift. 2 Kurt Ermann : Goethes Shakespeare-Bild , Tübingen : Niemeyer , 1983 , 264. 3 Eine beachtenswerte Ausnahme ist Jane K. Brown, die in ihrer Studie Goethe’s Faust : The German Tragedy ( Ithaca , NY: Cornell University Press , 1986 ) auf intertextuelle Verbindungen eingeht. 4 „Zum Shakespeares Tag“ ( 1771 ), in Johann Wolfgang Goethe : Sämtliche Werke , Briefe , Tagebücher und Gespräche , hg. v. Dieter Borchmeyer u. a., Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag , 1985–99 , XVIII, 12. Hinweise auf Goethes Werke werden dieser Ausgabe entnommen, diejenigen auf den Tempest aus The Oxford Shakespeare : „The Tempest“, hg. v. Stephen Orgel , Oxford : Clarendon Press , 1987.

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xes Ergebnis seines Rücktritts von der Theaterleitung , der eine neue „Befreiung des zweckgebundenen Denkens“5 mit sich gebracht habe , d. h. die Freiheit , sich endlich mit Shakespeares Werken per se zu beschäftigen, ohne an die Bedingungen der Weimarer Bühne denken zu müssen. Direkte Anspielungen auf den Tempest finden sich im Gesamtwerk Goethes nur selten, aber das Stück hat ihn fraglos durch seine Karriere hindurch begleitet. Der früheste Hinweis , der uns bekannt ist , befindet sich in einem Brief an Fredericke Öser aus dem Jahr 1769. Die darin enthaltene Phrase „in einen gespaltenen Baum wollen eingezaubert seyn“6 ist eine Anspielung auf das Schicksal Ariels in den Händen der Hexe Sycorax. Daraus lässt sich folgern, dass Goethe das Werk in frühen Jahren gelesen hat – vielleicht in der Übertragung Wielands von 1761. Ein weitverbreitetes Interesse am Tempest in der Weimarer und Jenaer Gesellschaft der neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts stimmt zeitlich mit den frühsten Etappen der Arbeit Goethes an Faust II überein. Sowohl Tieck als auch August Wilhelm Schlegel haben das Stück 1796 übersetzt , und 1798 ist die vom Tempest inspirierte Operette Die Geisterinsel Friedrich Wilhelm Gotters in der Vertonung von Johann Friedrich Anton Fleischmann im Weimarer Theater aufgeführt worden.7 Im gleichen Jahrzehnt hat Goethe Fragmente des Faust II niedergeschrieben, die sich auch in der Endfassung finden lassen.8 Zwar lässt sich nicht definitiv feststellen, ob diese frühesten Beiträge zu Faust II unterschwellig von der Lektüre Shakespeares beeinflusst wurden, doch sind die Spuren des Tempest am deutlichsten im letzten Stück Goethes wahrzunehmen. Aufgrund der mangelnden Hinweise auf den Tempest in Goethes Papieren vermeidet Kurt Ermann einen allzu direkten Vergleich mit Faust.9 Für James Boyd hingegen wird die Wahrscheinlichkeit des Einflusses von der scheinbaren Schweigsamkeit Goethes zum Thema überhaupt nicht verringert. Er weist insbesondere auf die erste Szene , „Anmutige Gegend“, hin : unter der Leitung Ariels erinnere die Atmosphäre der Szene an den Tempest , und in den Worten des Chors ( vor allem den sechs Zeilen, die mit „Thäler grünen, Hügel schwellen“ beginnen ) finde man ein Lied Ariels aus dem Tempest

5 Heinrich Husemann : Shakespeare-Inszenierungen unter Goethe in Weimar , Vienna : Böhlau in Kommission, 1968 , 227. 6 Johann Wolfgang von Goethe an Fredericke Öser zitiert nach Ermann : Goethes Shakespeare-Bild , 264. 7 Die Aufnahme der Operette in Schillers Horen deutet darauf hin, dass sie in Weimar von einiger Bedeutung war ( selbst wenn sie wohl nicht als ernster Beitrag zur deutschen Shakespeare-Rezeption betrachtet werden kann ; siehe Roger Paulin : The Critical Reception of Shakespeare in Germany , 1682– 1914 : Native Literature and Foreign Genius , Hildesheim : Olms , 2003 , 312 ). 8 Nicholas Boyle erklärt beispielsweise , dass das 1797 zusammengestellte Faust-Schema bereits Überschriften und Stichworte enthält , die schließlich in Faust. Zweiter Teil aufgenommen worden sind , wobei Goethe sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden hatte , das Werk in zwei Teile zu spalten. Nicholas Boyle : Goethe : The Poet and the Age , II: Revolution and Renunciation ( 1790–1803 ), Oxford : Clarendon Press , 2000 , 212. 9 Ermann : Goethes Shakespeare-Bild , 264.



Affinitäten zwischen Goethes Faust II und Shakespeares The Tempest  

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( „Earth’s increase , foison plenty“ ) frei übertragen.10 Über Boyds Analyse hinaus lassen sich auch weitere Korrespondenzen herauslesen. Die Worte des Astrologen im ersten Akt „Durch Wunderkraft erscheint allhier zur Schau , / Massiv genug , ein alter Tempelbau“ ( 6403–6404 ) sind mit der berühmten Rede Prosperos eng verwandt : „The solemn temples , the great globe itself , / Yea , all which it inherit , shall dissolve“ ( IV. 1. 153–54 ). Darüber hinaus ähneln sich die Umstände der beiden Äußerungen : das Hochzeitsmaskenspiel für Miranda und Ferdinand einerseits und das Schattenspiel mit Paris und Helena andererseits. Und obwohl der Astrologe die „Massivität“ des Spektakels anfangs betont , löst es sich doch im Laufe der Szene auf und erscheint damit sehr flüchtig. Zusammenfassend gesagt , ist die Bedeutung des Tempest als Quelle und Muster für Faust deutlich erkennbar , und die Übereinstimmungen lassen sich oft als direkte Reaktion Goethes auf Shakespeare auffassen. Wir wollen uns nun aber von derartigen inhaltlichen Überschneidungen abwenden und mit philosophisch anregenderen Fragen beschäftigen.

Macht durch Zauber , verzauberte Macht Der Zauber , wie ihn Faust und Prospero benutzen, ist mit der Macht zutiefst verbunden. Das mag wohl selbstverständlich sein, doch trifft das besonders auf ihre sogenannte Kunst zu , und nicht etwa auf diejenige der Ariel-Figuren in den beiden Stücken. Shakespeares Ariel ist zauberhafter als der Zauberer , da er Fähigkeiten besitzt , wie z. B. die Selbstverwandlung , die der Ratio widersprechen. Doch besteht der Wert dieser Eigenschaften rein in ihrer wunderschönen Energie , und nicht in der politischen oder moralischen Macht über andere Menschen, die sie mit sich bringen mögen : „I come / To answer thy best pleasure , be’t to fly , / To swim , to dive into the fire , to ride / On the curled clouds“ ( I. 2. 189–192 ). Steht er unter dem Kommando Prosperos , so muss er sich in seinen Plan ergeben. Ist er jedoch vollkommen bei und für sich , so bestehen Ariels Kräfte aus Charme und Anmut , aus einer Steigerung der Herrlichkeiten der Natur , aus einem kreativen Wunsch , entzückend und heilsam zu wirken. Für Faust und Prospero hingegen ist der Zauber ein Werkzeug , ein Mittel zum Zweck. So wie die zwei Männer ihn benutzen, wird der Zauber zum Symbol der Kraft des menschlichen Geistes , die eigenen Wünsche und Zwecke zu verfolgen. Von besonderer Bedeutung in beiden Werken ist nicht nur die Macht , sondern das Gefühl der Macht , die ihnen der Zauber verleiht. Prosperos Kunst verleiht ihm die Macht , seine Mitmenschen zu beeinflussen, damit die Zwietracht vertrieben und der Frieden wiederhergestellt wird. Allerdings wird darauf hingedeutet , dass er vom Mittel genauso angetan ist wie vom Zweck. Vermehren

10 Siehe James Boyd : Goethe’s Knowledge of English Literature , Oxford : Clarendon Press , 1932 , 56–57.

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sich seine Errungenschaften, so verstärkt sich die Vorstellung der eigenen Kraft. Dies gipfelt im dritten Akt des Stücks : [ … ] My high charms work , And these , mine enemies , are all knit up In their distractions. They are now in my power ( III. 3.88–90 ).

Prospero schätzt also den Zauber nicht nur , weil diese wundersame Kunst die Menschheit verbessern kann, sondern auch wegen der anscheinend unanfechtbaren Autorität , die sie ihm persönlich verleiht. Die spektakuläre Lähmung seiner Feinde sowie der implizite Kontrast zwischen ihrer Unterlegenheit und seinen „high charms“ bereitet ihm offenbar Vergnügen, und das mehrfach sich wiederholende Possessiv my / mine verstärkt den Eindruck , daß er seine Macht genießt. Auch Faust wird durch seine Verbindung mit dem Zauber verwandelt , und zwar auf viel gravierendere Art. Das wird in seiner Haltung der Natur gegenüber besonders deutlich. Anfangs sehnt er sich nach intimer Verbundenheit mit der Natur , und ergibt sich in der Eröffnungsszene des Zweiten Teils bereitwillig in ihre heilsame Kraft. Im vierten Akt jedoch befindet er sich in einem bitteren Kampf mit ihr. Sein Ehrgeiz wird von den immer raffinierteren Errungenschaften seines Zaubers entfacht : Er beneidet die uferlose Energie des Meeres und verlangt danach , dessen Potential völlig zu beherrschen : Zwecklose Kraft unbändiger Elemente ! Da wagt mein Geist sich selbst zu überfliegen, Hier möcht’ ich bekämpfen, dies möcht’ ich besiegen ( 10219–10221 ).

Faust bekennt seine Abhängigkeit vom Zauber in seinem Wettkampf mit der Natur : „Stünd’ ich , Natur ! vor dir ein Mann allein / Da wär’s der Mühe wert , ein Mensch zu sein“ ( 11406–11407 ); allerdings gibt sein Glaube an die eigene Macht nie nach. Das Reich , das er mithilfe des Zaubers geschaffen hat , ist das höchste Symbol jener Macht , und er bejubelt es folgendermaßen : „Im innern hier ein paradiesisch Land / Da rase draußen Flut bis auf zum Rand“ ( 11569–11570 ). Er ist also von der Unverwüstlichkeit der von ihm entfesselten Kräfte vollkommen überzeugt.11

11 Brown treibt den Vergleich zwischen den zwei Männern und ihren Ambitionen weiter : „[ Prospero ] has used his magic to good purpose , to recreate society. And Faust in Act V has done the same thing. His magic has created a new and prosperous community on a former swamp. The parallel to Prospero emphasizes , therefore , the positive and metaphoric significance of the magic that is here renounced“ ( Goethe’s „Faust“, 239 ). Diesem Argument kann ich nicht zustimmen. Das Landgewinnungsprojekt mag wohl das materielle Wachstum der Gesellschaft fördern, so wie die ( provisorische ) Wiederherstellung der Harmonie am Ende des Tempest eine spirituelle Erweiterung suggeriert. Allerdings bezeugt das Schicksal von Philemon und Baucis , für das Faust mindestens teilweise verantwortlich gemacht werden muss , nicht die „positive Bedeutung“, sondern die entsetzlichen Kosten des missbrauchten Zaubers. Prospero handelt zwar auch nicht gleichförmig liebevoll , insbesondere im Hinblick auf Caliban ; doch



Affinitäten zwischen Goethes Faust II und Shakespeares The Tempest  

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Trotz ihrer anscheinenden Vorherrschaft sind Prospero und Faust jedoch im Zauber auch gefangen. Ihm zu entsagen fällt beiden schwer. Wenn er seine Kunst auch zu beherrschen scheint , ist die Situation Prosperos prekär. Er verspricht wiederholt , Ariel freizulassen ; aber ebendiese Wiederholung suggeriert ein Zögern, sein Versprechen zu halten, und bringt seine Abhängigkeit von der Fee zum Vorschein. Ariel mag wohl in Prosperos Dienst und in seiner Schuld stehen, doch hängt der Erfolg der Pläne Prosperos vom Wohlwollen Ariels ab : Es ist zweifelhaft , ob Prospero seinen Sturm hätte herbeizaubern können, wäre Ariel so widerspenstig wie Caliban gewesen. Prospero ist sich dieses Schwankens zwischen Vorherrschaft und Abhängigkeit bewusst , und ebendiese Erkenntnis führt ihn dazu , seine Autorität ständig geltend zu machen. Das Gleichgewicht der Kräfte im Tempest ist daher nicht so einfach , wie es auf den ersten Blick scheint ; und in Faust , wo die Beziehung zwischen dem Magier-Gelehrten und dem Sklaven-Geist viel fragwürdiger und brisanter ist , versinkt die Macht Fausts , Mephistopheles zu befehlen, bald in Machtlosigkeit. Fausts Tätigkeit als Magier geht seiner Zusammenarbeit mit Mephisto zeitlich voran, doch steigert sich bald seine Abhängigkeit vom Teufel : „Hilf , Teufel , mir die Zeit der Angst verkürzen“, fleht er in der Szene „Wald und Höhle“. Ohne die Vermittlung von Mephistopheles sind die Zauberkräfte , die Faust in Anspruch nehmen kann, nichtig. Darüber hinaus büßen beide Männer die Kontrolle über ihren Zauber unabsichtlich ein. Faust neigt besonders dazu , die eigene Kunst zu vergessen und von einem magischen Schauspiel getäuscht zu werden, das er selber orchestriert hat. Im ersten Akt beispielsweise wird Faust vom Geist Helenas gefesselt , obwohl er sich sehr bemüht hat , die Illusion überhaupt erst zu bewirken. Als Mephistopheles flüstert , „So faßt euch doch , und fallt nicht aus der Rolle !“, wird deutlich , dass Faust nicht mehr imstande ist , die Grenze zwischen seinem Zaubertrick und der Realität vor Augen zu halten. Die Ohnmacht , in die er fällt , als er versucht , Helena zu umarmen, hängt mit dem Verlust bewusster Kontrolle über seine Kunst zusammen. Aber auch Prospero ist im vierten Akt vom eigenen Maskenspiel so sehr hingerissen, dass er die ihn umgebende Realität vorübergehend vergisst.12 Sein Zauber lässt sich auch als eine Fiktion verstehen, der er sich bereitwilliger hingibt , als man erwartet. Wir haben schon gesehen, dass sein Selbstbild mit den Errungenschaften seiner Kunst zutiefst verbunden ist ; und der Epilog , der einzige entzauberte Teil des Stücks , stellt die Frage , ob der „wahre“ Prospero tatsächlich der zerbrechliche Mann ist , dessen Worte das Stück zum Schluss bringen. Faust seinerseits hat bis zum Ende seines Lebens so viele Verwandlungen durchmacht , dass es schwerfällt , zu wissen, wer der „echte“ Faust war – wenn wir es überhaupt je gewusst haben. Die Zauberkraft ist eine Art Verkleidung : „pluck my magic garment

befindet sich im Tempest , trotz all der Fehler Prosperos , kein Pendant zu den verheerenden Folgen von Fausts Ehrgeiz. 12 Siehe Stephen Orgel : „Prospero finds himself once again relinquishing his power to the vanities of his art“, ‚Introduction‘, in The Oxford Shakespeare : „The Tempest“, 1–87 , hier 50.

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from me … So. / Lie there , my art“ ( I. 2 , 24–25 ). Aber so wie Kleider den Menschen eher verhüllen als verändern, so ist der Zauber für Faust wie für Prospero eine Illusion, die sich mit einer breiteren, und ganz anderen Realität verstrickt hat.

Illusion und Wirklichkeit Die instabile Grenze zwischen Illusion und Realität ist jedoch nicht nur für Faust und Prospero problematisch , sondern es ist ein zentrales Thema beider Werke. In Faust wie im Tempest werden die Zuschauer auf die Allgegenwart und gelegentlich auf die Tücke der Illusion aufmerksam gemacht. Gleichzeitig aber weigern sich beide Werke , ein Realitätsbild anzubieten, das vom Unerklärlichen beziehungsweise Illusorischen abgesondert ist. Dieses Schwanken zwischen dem Rationalen und dem Illusorischen, zwischen dem Irdischen und dem Überirdischen, diese Eigenschaft , die Tzvetan Todorov das Fantastische nennt ,13 bildet die zentrale Dynamik beider Werke. Sowohl im Tempest wie auch in Faust wird viel Energie für die Trennung der Illusion von der Realität aufgewandt. Im Tempest richtet der von Prospero heraufbeschworene gewaltige Sturm keinen andauernden Schaden an. Prospero rät Miranda davon ab , das Schicksal der Matrosen zu bedauern, und erklärt , dass das Ganze bloß eine Wirkung seiner „Kunst“ ist ; und am Ende des Stücks sind alle Spuren des Schiffbruchs dahingeschwunden. Im vierten Akt von Faust II gibt es gleichermaßen die Schlacht , die keine Schlacht ist. Als der Kaiser sich von der plötzlichen Vermehrung der Truppen überrascht zeigt – „Naturgemäß geschieht es nicht“ – erklärt Faust , dass das Phänomen bloß eine Luftspiegelung ist , die ( das weiß der Zuschauer ) mit geisterhafter Hilfe manipuliert wird. Wenn später ein Fehlschlag droht , werden Gesandte von Mephistopheles beauftragt , die Undinen anzuwerben, die verstehen „vom Sein den Schein zu trennen“ – das heißt , die ihm beim Betrug helfen werden. Zudem finden wir in Faust etliche Beispiele der menschlichen Neigung zum Selbstbetrug. Im ersten Akt beispielsweise wollen die Massen wertlose Schätze im Plunder Knabe Lenkers wahrnehmen ; in ihren habgierigen Händen verwandelt sich der Tand in Insekten. Wenige Zeilen später äußert der Herold Frust über ihre Unfähigkeit , den Trick und die Realität auseinanderzuhalten : „Was solls ihr Toren ? soll mir das ? / Es ist ja nur ein Maskenspaß“ ( 5726–5727 ). Solche Momente dienen dazu , die Zuschauer zu distanzieren, sie mit der Allgegenwart der Illusion zu konfrontieren. Hinzu kommt , dass in beiden Stücken die Zuschauer an den illusorischen

13 Todorov schreibt : „Dans un monde qui est bien le nôtre , celui que nous connaissons , sans diables , sylphides , ni vampires , se produit un événement qui ne peut s’expliquer par les lois de ce même monde familier. Celui qui perçoit l’événement doit opter pour l’une des deux solutions possibles : ou bien il s’agit d’une illusion des sens , d’un produit de l’imagination et les lois du monde restant alors qu’elles sont ; ou bien l’événement a véritablement eu lieu , il est partie intégrante de la réalité , mais alors cette réalité est régie par des lois inconnues de nous [ … ]. Le fantastique occupe le temps de cette incertitude.“ ( Introduction à la littérature fantastique , Paris : Seuil , 1970 , 29 )



Affinitäten zwischen Goethes Faust II und Shakespeares The Tempest  

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Charakter des Theaters selbst ständig erinnert werden. Im Tempest sowie im Faust II häufen sich interne Schauspiele an, und Faust I ist von Szenen umrahmt , in denen über die Verfertigung der Kunst nachgesonnen wird. Dennoch ist die Grenze zwischen dem Wirklichen und dem Irrealen auch durchläßig. Beide Stücke stellen interne Fiktionen deutlich zur Schau , doch dauern andere Vorgänge fort , die sich der rationalen Erklärung entziehen. Die Zuschauer werden auf die durchdringende und gelegentlich auch trügerische Illusion aufmerksam gemacht ; gleichzeitig aber weigern sich beide Autoren, eine vom Unerklärlichen und Wunderbaren durchweg abgesonderte Realität zu schildern. Wir werden aufgefordert , die Maskenspiele als Fiktionen zu erkennen ; aber gleichzeitig wird von uns verlangt , dass wir an Ariel glauben. Die Kräfte solcher Figuren, die irrealen Geschehnisse , die sie dadurch verwirklichen können, sind für die Handlung so grundlegend , dass selbst skeptische Zuschauer ihren Zweifel ausschalten müssen, um am Stück beteiligt zu bleiben. William Hazlitt , der ein Zeitgenosse Goethes war , hat diesen paradoxen Aspekt des Tempest sehr wohl erkannt : „As the preternatural part has the air of reality , and almost haunts the imagination with a sense of truth , the real characters and events partake of the wildness of a dream.“14 Faust fordert ebenfalls die Zuschauer auf , die Zauberei nicht bloß als illusionistische Fantasie abzutun. Die allerwichtigsten Illusionen im Werk sind in ihrem Kern realer als die durchschnittliche Realität. Das Gretchen-Drama beispielsweise wird durch einen suspekten Liebestrank , durch künstlich angereizte Begierde und vorgetäuschte Jugend in Gang gesetzt ; doch geht die Liebe zwischen Faust und Gretchen über das von Mephistopheles erstellte fadenscheinige Verführungsspiel hinaus. Was als Betrügerei angefangen hat , wird ernsthaft und unleugbar zur Wirklichkeit. Am dramatischen Kern von Faust und dem Tempest ist also die Erkenntnis , dass die Illusion von der Realität nicht zuversichtlich abgesondert werden kann : dass immer ein Punkt erreicht wird , wo der menschliche Verstand dazu unfähig ist , das Wirkliche vom Unwirklichen zu trennen. Die Quelle vom Frust Fausts in der frühen Szene „Nacht“ ist die absolute Unfähigkeit des Menschen, die externe bzw. „objektive“ Wirklichkeit außerhalb der eigenen Subjektivität zu kennen. Eine verwandte Erkenntnis bringt Prospero im vierten Akt , in seinem berühmtesten Monolog , zum Ausdruck : [ … ] These our actors , As I foretold you , were all spirits , and Are melted into air , into thin air , And , like the baseless fabric of this vision, The cloud-capped towers , the gorgeous palaces , The solemn temples , the great globe itself , Yea , all which it inherit , shall dissolve , And , like this insubstantial pageant faded ,

14 William Hazlitt : „The Tempest“ ( 1817 ), im Neudruck in : The Tempest : Critical Essays , hg. v. Patrick M. Murphy , New York : Routledge , 2001 , 107–113 , hier 108.

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Leave not a rack behind. We are such stuff As dreams are made on, and our little life Is rounded with a sleep ( IV. 1. 148–158 ).

Es geht hier um die Unumgänglichkeit davon, dass die Sachen, die uns wahr , bunt , lebendig vorkommen, schließlich als belanglos enthüllt werden im Vergleich mit einer größeren Wahrheit , die uns nicht zugänglich ist. Genau das passiert Prospero sowie Faust am Ende der jeweiligen Werke. Der Mann, der im Epilog des Tempest spricht , ist der Macht beraubt worden, die ihm seine Sendung verliehen hatte. Der Ehrgeiz und die gewaltigen Leidenschaften in den späteren Akten des Faust zerfließen, sobald das rätselhafte Jenseits der Szene „Bergschluchten“ sich auftut und Faust selbst verstummt. Prospero formuliert seine Erkenntnis mithilfe der Vokabeln des Theaters : „actors“, „pageant“, „fabric“, „stuff“ und dem Wort „globe“, das auf die Londoner Schaubühne anspielt. Durch diese Metaphern wird abermals auf die gegenseitige Abhängigkeit der Realität und der Vorstellung für das menschliche Subjekt hingedeutet. Indem wir versuchen, die Schichten der Fantasie abzuziehen und zur „wirklichen“ Welt zurückzukehren, werden die Grenzen unseres Wissens besonders unbarmherzig entblößt. Das bedeutet jedoch nicht unbedingt , dass es keine Realität gibt. Die Schlusszeilen des Faust teilen die Erkenntnisse vom Monolog Prosperos – die Grenzen unseres Lebens , die Vergänglichkeit dieser Welt – aber die Stimmung ist etwas heiterer. Der Sinn der Worte „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis“ ( 12104–12105 ) ist nicht , dass die Wahrheit nicht existiert. Die Zeile ist vielmehr mit Fausts Worten in der Eingangsszene des zweiten Teils verwandt : „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“ ( 4727 ). In beiden Fällen wird erkannt , dass unser vorübergehendes Leben eine Abstraktion von etwas Größerem ist , genau wie ein poetisches Bild oder Gleichnis etwas Gebündeltes ist , das über sich hinausweist. „Bergschluchten“ deutet auf eine sozusagen endgültige Realität hin, auf ein Reich jenseits menschlicher Angelegenheiten, wo „das Unzulängliche“ und „das Unbeschreibliche“ realisiert werden. Die Szene vermag nicht , mehr als eine Andeutung zu sein, und der Ausklang des Stücks ist eher eine noch laufende Bewegung ( „Das Ewigweibliche / Zieht uns hinan“ ) als eine Ankunft. „Bergschluchten“ ist bloß ein Hinweis auf eine Ebene , die uns normalerweise unzugänglich ist ; dennoch ist es ein kühner Hinweis , der als Verwandlung des Epilogs im Tempest verstanden werden könnte. Da hat sich die Zauberwelt aufgelöst , und die Kraft , die Prospero noch bleibt , ist „most faint“. Er hat zwar sein Ziel erreicht und den Frieden wiederhergestellt ; aber nach der endgültigen Entsagung seiner Kunst scheint seine Welt trotzdem kahler , seine Person gebrechlicher. The Tempest bietet daher zwei Realitäten an : eine , die reizend , manchmal aber auch gefährlich , in den Zauber verflochten ist ; und eine andere , die nüchtern und entzaubert ist. Goethes Faust hingegen räumt letztendlich die Notwendigkeit einer solchen Trennung nicht ein : denn eine der allergrößten Zauberkräfte , die dichterische Kraft des Gleichnisses , wird in der Schlussszene dafür verwendet , diese zwei Reiche der Bezauberung und der Nüchternheit zu versöhnen, um schließlich über beide hinauszugehen.

Ralf Haekel

Lord Byron und Deutschland Im neunzehnten Jahrhundert war Lord Byron ein internationales Phänomen. Er war zwar nicht der erste britische Autor , der zu Lebzeiten durch seine Erfolge den Status eines literarischen Superstars erlangte – dies war einigen Jahren zuvor dem schottischen Romancier und Dichter Sir Walter Scott vorbehalten –, jedoch war sein europaweiter Erfolg im frühen neunzehnten Jahrhundert einzigartig. Hierbei ist insbesondere sein Erfolg in Deutschland hervorzuheben. Goethe bezeichnete ihn als das „größte Talent des Jahrhunderts“1 und setzte ihm im Faust II mit der Figur des Euphorion ein literarisches Denkmal. Die Verehrung für Byron in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert findet vielleicht nur in der für Scott ein Pendant und wird sicherlich nur von der Bewunderung für Shakespeare übertroffen. Und wie Shakespeare wurde auch Byron von der deutschen Literaturkritik des neunzehnten Jahrhunderts vereinnahmt. 1865 schrieb Johannes Scherr in seiner Geschichte der Englischen Literatur : Shakespeare ist Gebein von unserem Gebein und Fleisch unseres Fleisches. In ähnlicher Weise können wir Stolz dafür empfinden, daß unsere Bewunderung für Byron nicht durch diesen bösartigen Ostrakismus und diese zionistische Eiferei , die dem größten Dichter nach Shakespeare in seiner Heimat entgegenschlugen, getrübt ist.2

Lord Byron war aber nicht nur ausgesprochen populär , sondern auch immens einflussreich. Goethe , Friedrich Rückert , August von Platen, Annette von Droste-Hülshoff , Friedrich Grillparzer und Friedrich Nietzsche setzten sich produktiv mit seinem Werk auseinander und nicht weniger als zwei deutsche Autoren, Heinrich Heine und Nikolaus Lenau , erhielten das – durchaus fragwürdige – Prädikat „deutscher Byron“.3 Nun ist es ja nicht so , dass Byron schlicht als der größte englische Romantiker angesehen wurde. Selbst , wenn man die englische Romantik als ein retrospektives Konstrukt der Literaturgeschichtsschreibung betrachtet , die sich erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts herausbildetet ,4 so bleibt doch festzustellen,

1 Johann Peter Eckermann : Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens , hg. v. Heinz Schlaffer , München : Hanser , 1986 , 231 (= Johann Wolfgang Goethe : Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe , hg. v. Karl Richter , Bd. 19 ). 2 Zit. n. Frank Erik Pointner und Achim Geisenhanslüke : „The Reception of Byron in the GermanSpeaking Lands“, in : The Reception of Byron in Europe , hg. v. Richard A. Cardwell , London : Thoemmes Continuum , 2004 , 236–268 , hier : 241. 3 Der Aufsatz „Reception of Byron“ von Pointner und Geisenhanslüke bietet einen hervorragenden Überblick über die deutsche Byron-Rezeption vom neunzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart. 4 Vgl. zur Herausbildung des romantischen Kanons einführend Christoph Bode : „Redefinitions of the Canon of English Romantic Poetry in Recent Anthologies“, in : Anthologies of English Poetry. Critical Perspectives from Literary and Cultural Studies , hg. v. Barbara Korte , Ralf Schneider und Stefanie

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dass Byron mit seinem ironischen und politischen Stil sowie seiner kosmopolitischen Persona nur sehr schwierig mit seinen Zeitgenossen William Wordsworth , Samuel Taylor Coleridge , Percy Bysshe Shelley und John Keats zu vergleichen ist. Byron erscheint zugleich traditioneller und moderner und fällt somit aus dem Rahmen des klassischen romantischen Kanons.5 Aber woher rührt der deutsche Byronismus , diese Verehrung für einen englischen Dichter , die in Großbritannien ebenso intensiv war , aber dort sehr rasch abkühlte , während sie in Deutschland das ganze neunzehnte Jahrhundert überdauerte und erst im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts nachließ ? Frank Erik Pointner und Achim Geisenhanslüke stellen, ganz in der Tradition der Forschung , die Person Byrons in den Vordergrund , die , vor den Werken selbst , für deren nachhaltigen Erfolg verantwortlich sei : The reasons for the German enthusiasm for Byron were manifold. There was first of all the flamboyant poet in whose biography the Germans were as much interested as everybody else. What is more , Byron’s cosmopolitanism was bound to appear even more exotic in a country divided into hundreds of small states , where provincialism and small-mindedness reigned. What could be more fascinating than an affluent English aristocratic poet who travelled through Europe with a retinue of servants , concubines and wild animals ?6

Die Biographie Byrons ist allerdings nicht einfach gegeben, denn sie ist , und das markiert Byrons Sonderstellung in der Literaturgeschichte , das Produkt der Werke selbst : Die öffentliche Wahrnehmung seiner Person entpuppt sich als ein geschickt gelenktes mediales Konstrukt.7 Bevor ich auf diesen Aspekt der medialen Konstruktion der Vorstellung von „Byron“ eingehen werde , der die Sonderstellung Byrons innerhalb der englischen Romantik begründet , will ich mich kurz der Frage nach ihrer Kanonbildung im Verhältnis zur deutschen Romantik widmen.

Lethbridge , Amsterdam : Rodopi , 2000 , 265–288 ; und Nicholas Roe : „Introduction“, Romanticism. An Oxford Guide , Oxford : Oxford University Press , 2005 , 1–12. 5 Vgl. hierzu Norbert Lennartz : „Re-Mapping Romanticism : Lord Byron – Britain’s First Anti-Romantic“, in : Re-Mapping Romanticism : Gender – Text – Context , hg. v. Christoph Bode und Fritz-Wilhelm Neumann, Essen : Die Blaue Eule , 2001 , 101–12. 6 Pointner und Geisenhanslüke , „Reception of Byron“, 237. 7 Ich betrachte im Folgenden Literatur als ein Medium , das sich um 1800 als ein paradigmatisches Medium der Moderne entfaltet. Vgl. zur Begriffsbildung Christoph Reinfandt : „Literatur als Medium“, in : Grenzen der Literatur : Zum Begriff und Phänomen des Literarischen, hg. v. Fotis Jannidis , Gerhard Lauer und Simone Winko , Berlin / New York : De Gruyter , 2009 , 161–87. Dieser Medienbegriff hat den Vorteil , dass er sich zum einen nicht auf das Buch beschränkt , zum anderen aber umfassender ist als der reine Literaturbegriff. Zudem entpuppt sich der Byronic Hero als ein Phänomen, das mühelos auch in anderen medialen Formen weitergeführt werden kann, etwa im Theater , in der Oper oder später auch im Film.



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Englische Romantik Die Dedication des satirischen Epos Don Juan von Lord Byron ist eine der berühmtesten Passagen der englischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Zugleich ist sie eine vernichtende Kritik der ersten Generation der englischen Romantik , eine beißende Attacke auf Wordsworth , Coleridge und den poet laureate Robert Southey. Die Dedication hatte schon bereits vor ihrer eigentlichen Veröffentlichung einen skandalumwitterten Ruf. In der zweiten Strophe bezieht sich Byron explizit auf Samuel Taylor Coleridge : And Coleridge too has lately taken wing , But like a hawk encumbered with his hood , Explaining metaphysics to the nation. I wish he would explain his explanation.8

Was in diesen Zeilen als satirische Bemerkung zu Coleridges notorisch unvollständiger Metaphysik erscheint – Coleridges philosophische Deduktion der Imagination in seiner Biographia Literaria bricht unvermittelt ab , und sein philosophisches Hauptwerk , das Opus Maximum , ist zu Lebzeiten unveröffentlichtes Fragment geblieben –,9 besitzt noch eine weitere Dimension, die als Kommentar zum Verhältnis von deutscher und englischer Romantik gelesen werden kann. Coleridge verbrachte im Jahr 1799 einige Monate in Deutschland , wo er in Göttingen den Studien der deutschen Literaturgeschichte , seinem nicht weiter verfolgten Plan, ein Buch über Lessing zu schreiben , sowie seinen naturwissenschaftlichen Studien von und bei Johann Friedrich Blumenbach nachging ; vor allem vertiefte er dort seine Kenntnisse in der deutschen Philosophie.10 Samuel Taylor Coleridge ist sicherlich die wichtigste Figur bei der Vermittlung von deutscher Philosophie in England um 1800. Seine Auseinandersetzung mit der kritischen und der idealistischen Philosophie von Immanuel Kant , Friedrich Schelling und anderen ist prägend für Coleridges eigenes Werk , von den Aids to Reflection, der Biographia Literaria bis zum besagten unvollendeten Opus Maximum. Die Beziehung ist aber auch eine unheilvolle. Zum einen übernimmt Coleridge lange Passagen aus den deutschen Werken ohne dies kenntlich zu machen, was in der Forschung eine lange und komplexe Diskussion über den Status seiner Werke als Plagiate nach sich gezogen hat.11 Zum anderen verbindet er eben diese entlehnten Stellen mit seiner ganz eige-

8 George Gordon Byron : Don Juan, in : The Complete Poetical Works , Bd. 5 , hg. v. Jerome J. McGann, Oxford : Clarendon, 1986 , Dedication, Strophe 2. 9 Vgl. Christoph Bode : „Coleridge and Philosophy“, in : The Oxford Handbook of Samuel Taylor Coleridge , hg. v. Frederick Burwick , Oxford : Oxford University Press , 2009 , 588–619. 10 Vgl. Maximiliaan van Woundenberg : „Coleridge’s Literary Studies at Göttingen in 1799“, in : Coleridge Bulletin 21 ( 2003 ), 66–80. 11 Zum Status von Coleridges Werken als Plagiate vgl. Andrew Keanie : „Coleridge , the Damaged Archangel“, in : Essays in Criticism 56 ( 2 006 ), 72–93 ; und ders.: „Plagiarism“, in : The Oxford

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nen theologischen Philosophie. In seinem Werk versucht Coleridge , Kant und andere deutsche Philosophen mit einem religiösen Neuplatonismus zu versöhnen – was dann, stark vereinfacht gesprochen, zu Unverständnis und Spott in England führte , wie in der oben zitierten Stelle aus Byrons Don Juan deutlich wird. Es ist also gerade auch Coleridges Vermittlung mitgeschuldet , dass sich in England in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts eine Ablehnung gegenüber der deutschen Philosophie entwickelte – eine idealistische Philosophie , die dem dominanten englischen Empirismus und common sense in vielerlei Hinsicht entgegenstand. Was hier aber auch deutlich wird , ist eine begriffliche Verwirrung , die immer dann zutage tritt , wenn wir von der europäischen Romantik als einer einheitlichen Strömung sprechen. Denn die deutsche Romantik unterscheidet sich von der englischen in vielerlei Hinsicht. Die Vorstellungen einer einheitlichen literarischen Epoche , die als Romantik bezeichnet wird und die , in England zumal , einen klar umrissenen Kanon hat , gilt in der Forschung mittlerweile als stark veraltet. René Wellek hat Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts diese traditionelle Vorstellung einer einheitlichen europäischen Romantik vielleicht am deutlichsten in Worte gefasst : If we examine the characteristics of the actual literature which called itself or was called „romantic“ all over the continent , we find throughout Europe the same conceptions of poetry and of the workings and nature of poetic imagination, the same conception of nature and its relation to man, and basically the same poetic style , with a use of imagery , symbolism , and myth which is clearly distinct from that of eighteenth-century neoclassicism. This conclusion might be strengthened or modified by attention to other frequently discussed elements : subjectivism , mediaevalism , folklore , etc. But the following three criteria should be particularly convincing , since each is central for one aspect of the practice of literature : imagination for the view of poetry , nature for the view of the world , and symbol and myth for poetic style.12

Diese Vorstellung der Romantik , zumal der englischen Romantik , traf auf nur einen geringen Kreis an – allesamt männlichen – Autoren zu – und selbst auf diese eigentlich nicht immer. Der Fokus auf die bekannten Elemente wie Imagination, Subjektivität oder das Originalgenie ist viel zu eng und nimmt nicht die tatsächliche literarische Landschaft um 1800 in den Blick , weswegen etwa Ina Schabert eher nicht von romantischer , sondern von Literatur der nachaufklärerischen Zeit spricht.13 Dieses durch die traditionelle Literaturgeschichtsschreibung sehr verengte und dadurch verzerrte Bild der tatsächlichen Verhältnisse wurde in der Forschung seit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem von Seiten des New Historicism und der Ge-

Handbook of Samuel Taylor Coleridge , hg. v. Frederick Burwick , Oxford : Oxford University Press , 2009 , 435–454. 12 René Wellek : „The Concept of ‚Romanticism‘ in Literary History“, in : Comparative Literature 1 ( 1949 ), 147–172 , hier : 147. 13 Vgl. Ina Schabert : Englische Literaturgeschichte : Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung , Stuttgart : Kröner , 1997 , 336.



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schlechterforschung rigoros kritisiert.14 Daher erscheint es angebracht , wenn es um europäische Romantik geht , eher von Romantiken als von Romantik zu sprechen, wie Arthur J. Lovejoy bereits 1924 forderte , in einem Text auf den sich Wellek unmittelbar bezieht : The word „romantic“ has come to mean so many things that , by itself , it means nothing. It has ceased to perform the function of a verbal sign. When a man is asked [ … ] to discuss Romanticism , it is impossible to know what ideas or tendencies he is to talk about , when they are supposed to have flourished , or in whom they are supposed to be chiefly exemplified.15

Jedoch ist nicht allein der Begriff der Romantik umstritten. Auch unterscheidet sich die Vorstellung einer englischen Romantik von der deutschen recht stark , wenn es auch teils große Überschneidungen gibt. Ein Beispiel : Um das Verhältnis von deutscher zu englischer Romantikvorstellung zu verdeutlichen, muss nur erwähnt werden, wer im englischen Sprachraum als einer der wichtigsten deutschen Romantiker gilt : Johann Wolfgang von Goethe. Der junge Goethe des Sturm und Drang , der Verfechter des Originalgenie-Gedankens , der Autor der Leiden des jungen Werthers ist geradezu ein Inbegriff dessen, was in England in der späteren Literaturgeschichtsschreibung als romantisch gilt. Hier spielen eine Menge von Differenzen eine Rolle : Zum einen ist der typisch deutsche Gegensatz von Klassizismus und Romantik in England nicht von Bedeutung. Zudem gibt es in der deutschen Frühromantik eine eigene Theorie der Romantik , etwa Schlegels Vorstellung einer progressiven Universalpoesie oder , als negativer Gegenpol , Goethes bekannte Gegenüberstellung von Klassischem als dem Gesunden und Romantischem als dem Kranken. In England hingegen wurde die Bezeichnung romantic für eine einheitliche Literaturströmung erst lange nach dem eigentlichen Wirken der Dichter verwendet , zuerst 1863 ; damit einher ging die Verengung des Kanons auf Blake , Wordsworth , Coleridge , Byron, Shelley und Keats. Mit anderen Worten, die Vorstellung einer einheitlichen englischen Romantik ist ein nachträgliches Konstrukt der Literaturgeschichtsschreibung. In den letzten Jahrzehnten ist dieser einheitliche Romantikbegriff fundamental kritisiert und revidiert worden. Zum einen wurden die Grenzen des Kanons durchlässiger und die Anzahl der um 1800 als zentral geltenden Autorinnen und Autoren wurde erheblich erweitert. Dies macht die Position Byrons in seinem historischen Kontext interessant , denn als Verteidiger neoklassizistischer Werte und Ideale wie derer Alexander Popes stand er immer in einem problematischen Verhältnis zu seinen Zeitgenossen Wordsworth und Coleridge , die klarer darum bemüht waren , sich von den Augustan

14 Vgl. hier vor allem Jerome McGann : The Romantic Ideology : A Critical Investigation, Chicago : University of Chicago Press , 1983 ; und den gegenüber älteren Anthologien rigoros erweiterten Band British Literature 1780–1830 , hg. v. Anne K. Mellor und Richard Matlak , Fort Worth : Harcourt Brace , 1996. 15 Arthur O. Lovejoy : „On the Discrimination of Romanticisms“, in : PMLA 39 ( 1924 ), 229–253 , hier 232–233.

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Poets abzugrenzen. In diesem Sinne nimmt Byron im literarischen Feld der Romantik zwar eine zentrale Rolle , aber immer auch eine Sonderstellung ein. Zum anderen galten traditionelle Konzepte der Romantikforschung wie etwa die Imagination in jüngerer Zeit sogar als suspekt.16 Die Re-Evaluierung der englischen Romantik seit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts , der stärkere Schwerpunkt auf literarische Vielfalt und historische Kontextualisierung rücken wiederum Lord Byron ins Zentrum des Interesses , dessen ästhetische Ideale denen seiner Zeitgenossen teilweise diametral entgegenstehen. Vor allem im Hinblick auf seine Rezeption in Deutschland ist diese Sonderstellung ausschlaggebend. Indem Byron sich von seinen englischen Zeitgenossen abhebt , wird seine Rezeption, die auch und vor allem auf die Person des Autors abzielt und an den Rand der Appropriation führt , überhaupt erst möglich.

Deutsch-Britischer Literaturtransfer : Lord Byron in Deutschland Der Literaturtransfer zwischen England und Deutschland ist zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts allerdings in anderer Art und Weise höchst produktiv , wie im Werk Lord Byrons deutlich wird. Neben dem oben angesprochenen Byronismus , der Deutschland kurz nach der Übersetzung von Childe Harold’s Pilgrimage und der Oriental Tales erfasst , ist dies auch ein intertextueller Austausch. Hier ist vor allem das Drama Manfred zu nennen. Das Faustische Element in Manfred führte zu einer anhaltenden Rezeption des Dramas im Vergleich mit Goethes Faust : It is this connection which made Manfred , out of all of Byron’s works , one of the most important foreign language plays in the history of German literary criticism. A whole industry developed which fed from analysing the interdependency of the two plays , an industry of which the repercussions are felt to the present day.17

Goethe selbst empfand für Byron die größte Hochachtung , die , wie bereits eingangs erwähnt , sogar dazu führte , dass die Figur des Euphorion in Faust. Der Tragödie Zweiter Teil eindeutig die Züge Byrons trägt. In dieser Figur drückt sich die ganze Bewunderung für den englischen Autor aus , der für Goethe pure Gegenwärtigkeit darstellt : „Byron ist nicht antik und ist nicht romantisch , sondern er ist wie der gegenwärtige Tag selbst.“18 Pointner und Geisenhanslüke kommentieren die Figur des Euphorion folgendermaßen :

16 Vgl. Alan Richardson : „Reimagining the Romantic Imagination“, in : European Romantic Review 24 ( 2013 ), 385–402 , hier : 385 : „Imagination was no longer a term to conjure with but one to conjure away“. 17 Pointner und Geisenhanslüke : „Reception of Byron“, 244. 18 Eckermann : Gespräche mit Goethe , 231.



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In the allegorical system of Faust II Euphorion is introduced as the son of Faust and Helena , of modernity and Hellenism , a kind of synthesis of Classical antiquity and modern times. Euphorion himself is an amalgam of the two personalities of Byron that fascinated Goethe most : poet and hero.19

Klassisch und zugleich modern, aber eben nicht typisch romantisch. Die Tatsache , dass die Figur des Euphorion an Byron selbst angelehnt ist – und damit nicht etwa eine Hommage an eines seiner literarischen Werke darstellt – ist vielsagender als es zunächst erscheint. Denn es ist vor allem die Person des Lord Byron, die in Deutschland und auf Goethe eine solche Faszination auszuüben vermag. Diese Person ist nun aber nicht der leibliche Byron selbst – Goethe und Byron sind sich selbst nie begegnet und hatten nur einen kurzen Briefwechsel unmittelbar vor Byrons Tod –, sondern ein mediales Konstrukt , das gewissermaßen eine Projektion des berühmtesten ästhetischen Produkts des englischen Autors , des Byronic Hero , auf dessen Autor ist. Von zentraler Bedeutung in diesem Zusammenhang ist Byrons Langgedicht Childe Harold’s Pilgrimage. Childe Harold ist der Text , mit dem Byron zuerst zu einer literarischen Berühmtheit wurde , zunächst in England und dann nach einer ersten Übersetzung im Jahr 1821 im deutschsprachigen Raum.20 Die ersten beiden Cantos wurden 1810 in England veröffentlicht , die beiden abschließenden Cantos III und IV in den Jahren 1816 und 1817. Die Erzählung handelt von den Reisen – um eine Pilgerreise , wie es der Titel andeutet , handelt es sich kaum – des titelgebenden Junkers Harold durch das Europa während und in der Folge der napoleonischen Kriege. Die einzelnen Stationen von Portugal und Spanien bis nach Griechenland werden dabei stark kontrastiv beschrieben : unter der schönen, bisweilen erhabenen Oberfläche verbirgt sich ein korrupter Kern. Im Zentrum der Verserzählung steht ein zutiefst melancholischer und innerlich zerrissener Charakter , wobei die Grenzen zwischen der Figur des Childe Harold , dem Erzähler und der medial entworfenen Figur des Autors „Byron“ fließend sind. Dieser melancholische Charakter ist der Prototyp des Byronic Hero , der nicht nur in zahlreichen weiteren Werken des Dichters wie den Oriental Tales vorkommt , sondern auch von anderen Autorinnen und Autoren übernommen wurde , wie etwa in Caroline Lambs Schlüsselroman Glenarvon ( 1816 ), in dem die Figur des Lord Ruthven eine Mischung aus Byronic Hero und biographischem Byron darstellt , oder in John Polidoris The Vampyre ( 1819 ), dem ersten modernen Vampirroman, in dem der villain bezeichnenderweise ebenfalls Lord Ruthven heißt – ein sehr eindeutiger intertextueller Fingerzeig in Richtung Byron. Diese Form der zeitgenössischen Rezeption der Werke und der Figur des Byronic Hero zeigt , welche Wirkmacht dieser melancholisch-düstere Antiheld ausübte , der , von

19 Pointner und Geisenhanslüke : „Reception of Byron“, 255. 20 Das Gedicht wurde mehrfach ins Deutsche übertragen ( vgl. Pointner und Geisenhanslüke : „Reception of Byron“, 236 , Fn. 3 ).

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einer nicht näher genannten Schuld getrieben, ziellos durch Europa streift. Dass dieser Held nur allzu oft mit Byron selbst identifiziert wurde , heißt nicht , dass der Childe Harold oder die Oriental Tales biographistisch gelesen werden sollten. Die Tatsache , dass die Leser den Antihelden sehr früh mit Byron selbst identifizierten, ist Teil einer komplexen Konstruktion, die eine aktive Rezeptionshaltung voraussetzt : Byrons Protagonisten sind nämlich bei genauerem Hinsehen trotz der zur Schau gestellten Melancholie , des Weltschmerzes und ihres Einzelgängertums erstaunlich abstrakt und typenhaft – Hinweise auf ihre Geschichte und Motivation bleiben vage , so dass man von auffälligen Leerstellen in diesem Erzähltext sprechen kann.21

Die Leerstellen ermöglichen wiederum , dass das Lesepublikum eine Identifikation von Held und Autor herstellt , gerade weil das Gedicht keine ausführlichen biographischen Details verrät. Lord Byron wird damit zu einer medialen Konstruktion, die paradoxerweise im Nachhinein die Stelle des originären Ursprungs des Gedichts einnimmt : Byron’s life appeared as a reality for his readers once he had stretched representation to the point where an absence of origins made it impossible for his characters to be read as fiction. The real Byron had to be invented as the absent cause of what was inexplicable within the poems themselves.22

Hierin unterscheidet sich das Werk Lord Byrons stark von dem seiner romantischen Zeitgenossen. Die romantische Lyrik , vor allem bei Wordsworth und Coleridge , verstand sich selbst traditionell als Ausdruck der Imagination eines originären Genies. Das Gedicht wurde so als Ausdruck einer tiefen Innerlichkeit verstanden, die für die Konstitution des romantischen Dichters ausschlaggebend war. Byrons Lyrik hingegen ist einer solchen Konstruktion von Identität , basierend auf Subjektivität und Innerlichkeit , geradezu entgegengesetzt. Stattdessen ist die Kon­ struktion sowohl des Charakters des Byronic Hero als auch des Autors Byron performativ , ja fast theatralisch. Das bedeutet aber auch , dass die Konstruktion an den Text gebunden ist und mit ihm vergeht , wie Vincent Newey schreibt : Childe Harold III and IV is pervaded by this sense of the self as that which is constantly being brought into existence in the mind and through language – and which is therefore also always provisional and on the point of dissolution.23

21 Christoph Bode : Selbst-Begründungen : Diskursive Konstruktion von Identität in der britischen Romantik I: Subjektive Identität. Trier : WVT, 2008 , 122. 22 Andrew Elfenbein : Byron and the Victorians , Cambridge : Cambridge University Press , 1996 , 20. 23 Vincent Newey : „Authoring the Self. Childe Harold III and IV“, in : Byron and the Limits of Fiction, hg. v. Bernard Beatty und Vincent Newey , Liverpool : Liverpool University Press , 1988 , 148–190 , hier 149.



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Jerome McGann beschreibt dieses Element der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit mit folgenden Worten : the texts rise to unbuild themselves repeatedly. In the process they cast not dark shadows but a kind of invigorated negative textual space. So here „meaning“ slips free of every conclusion, including the idea of conclusiveness , and fuses its eventuality.24

Und dennoch sind es gerade dieses performative Element und seine tiefe Melancholie , die den Reiz von Byron über den englischen Rahmen hinaus kennzeichnen und auch im Zentrum seiner frühen Rezeption in Deutschland stehen. Wie der Text es vermag , dies zu bewerkstelligen, möchte ich im Folgenden erörtern. Das Gedicht Childe Harold’s Pilgrimage entwirft eine Persona „Byron“, die eigenartigerweise außerhalb des Textes angesiedelt zu sein scheint , oder zumindest in ihr wie ein Fremdkörper wirkt , derer sich der Erzähler immer wieder erinnern muss. Zu Beginn von Canto III beschreibt sie der Erzähler Childe Harold folgendermaßen : In my youth’s summer I did sing of One , The wandering outlaw of his own dark mind ; Again I seize the theme , then but begun, And bear it with me , as the rushing wind Bears the cloud onwards : in that Tale I find The furrows of long thought , and dried-up tears , Which , ebbing , leave a sterile track behind , O’er which all heavily the journeying years Plod the last sands of life , – where not a flower appears.25

Diese anti-essentialistische Form der Identität wird wenige Strophen später in einer ästhetisch selbstreflexiven Passage noch konkretisiert : ’Tis to create , and in creating live A being more intense that we endow With form our fancy , gaining as we give The life we image , even as I do now – What am I ? Nothing : but not so art thou , Soul of my thought ! with whom I traverse earth , Invisible but gazing , as I glow Mixed with thy spirit , blended with thy birth , And feeling still with thee in my crushed feelings’ dearth. ( III, 6 )

24 Jerome McGann : Byron and Romanticism , Cambridge : Cambridge University Press , 2002 , 13. 25 George Gordon Byron : Childe Harold’s Pilgrimage , in : The Complete Poetical Works , Bd. 2 , hg. v. Jerome J. McGann, Oxford : Clarendon, 1980 , III, 3. Die folgenden Verweise im Fließtext beziehen sich auf diese Ausgabe.

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Wenn der Text die Identität des Selbst als eine Leerstelle – „What am I ? Nothing“ – entwirft , so wird es zu einem rein medialen Effekt , den der Autor wiederum geschickt dermaßen gestaltete , dass der Byronic Hero immer auch als Byron selbst gelesen wurde , der sich allerdings immer dem unmittelbaren Zugriff der Leserschaft entzog – und gerade dadurch seine Anziehungskraft entwickelte. Nicht ohne Grund ist Lord Ruthven in Polidoris Novelle ein untoter Vampir , dessen Bedrohung sich dadurch noch steigert , dass er nicht zu greifen ist. Die Rezeption dieses Prosastücks von Byrons Leibarzt war in Deutschland ebenso enthusiastisch wie die der eigentlichen Werke Byrons. Der Schauerroman wurde im gleichen Jahr seiner englischen Veröffentlichung 1819 ins Deutsche übersetzt , bezeichnenderweise allerdings mit der fehlerhaften Angabe „eine Erzählung von Lord Byron“ versehen. Das hat seinen Erfolg natürlich nicht geschmälert und zeigt , wie sehr der medial entworfene „Byron“ schon zu Lebzeiten ein vom biologischen Autor unabhängiges Dasein zu führen begonnen hatte. Doch zurück zu Childe Harold’s Pilgrimage. Der Text entwirft die mediale Identität seines Autors zum einen als Zuschreibungsfolie für Eigenschaften des Protagonisten, zugleich aber auch als eine Leerstelle. Dies bedeutet auch , dass der mediale Byron performativ immer wieder neu erschaffen werden muss ; und zugleich , dass das Werk auch von Autoren weitergeschrieben werden kann, nicht nur von englischen Autorinnen wie Lamb oder Autoren wie Polidori , sondern auch von nicht-englischen Autoren, weswegen der junge Heinrich Heine etwa als deutscher Byron bezeichnet wurde. Byron schuf also eine mediale Version seiner selbst , die performativ , theatralisch , rhetorisch , aber eben auch kurzlebig und flüchtig war. Der große Erfolg seiner Gedichte und Dramen in Großbritannien wie auch in Deutschland zeigt , wie weit das Lesepublikum bereit war , Byron zu folgen. Die Schriften wurden zuvorderst als Ausdruck einer getriebenen melancholischen Seele wahrgenommen und rezipiert. Es ist bezeichnend , dass diese Rezeptionshaltung eingenommen wurde , obwohl die Werke nicht die dichterische Subjektivität zeitgenössischer romantischer Gedichte entwerfen, wie etwa Wordsworths Prelude oder die Ode. Intimations of Immortality dies tun. Dieses romantische self-fashioning des Dichters Lord Byron und die nachträgliche Konstruktion durch die Rezeptionshaltung seiner Leser besitzt eine zentrale Komponente , die auch für die Appropriation des Dichters in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert entscheidend ist : seine Melancholie. Auf Goethe übte dieser Aspekt große Anziehungskraft aus und stieß ihn zugleich ab : Mein Anteil an fremden Werken bezog sich lebhaft auf Byrons Gedichte , der immer wichtiger hervortrat , und mich nach und nach mehr anzog , da er mich früher durch hypochondrische Leidenschaft und heftigen Selbsthaß abgestoßen, und wenn ich mich seiner großen Persönlichkeit zu nähern wünschte , von seiner Muse mich völlig zu entfernen drohte.26

26 Johann Wolfgang Goethe : Tag- und Jahreshefte , in : Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens , Bd. 14 , hg. v. Reiner Wild , München : Hanser , 1986 , 249.



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In einer Passage im dritten Canto wird Harolds Melancholie charakterisiert : He , who grown aged in this world of woe , In deeds , not years , piercing the depths of life , So that no wonder waits him ( III, 5 )

Aber nicht nur der düstere und grübelnde Held leidet unter Melancholie , sondern ebenso der Erzähler , wie zwei Strophen darauf deutlich wird : Yet must I think less wildly : – I have thought Too long and darkly , till my brain became , In its own eddy boiling and o’erwrought , A whirling gulf of phantasy and flame : And thus , untaught in youth my heart to tame , My springs of life were poison’d. ( III, 7 )

Ich möchte die These aufstellen, dass Byron hier recht bewusst mit der antiken und frühneuzeitlichen – nicht romantischen – Genievorstellung spielt , nach der die Melancholie eine notwendige Voraussetzung für individuelle , vor allem dichterische , Größe ist.27 Zugleich laufen medizinischen Melancholiker immer auch Gefahr , von ihrer Krankheit übermannt und wahnsinnig zu werden, weswegen die durch Marsilio Ficino angeregte Platon- und Neuplatonismusrezeption in der Frühen Neuzeit in Deutschland wie in England zu einer Vielzahl an Melancholietraktaten führte.28 In der Melancholie liegt eventuell auch ein Grund , warum die deutsche Byron-Rezeption sogar dazu neigte , den Autor ebenso wie Shakespeare als einen dem Wesen nach „deutschen“ Dichter zu begreifen.29 Die Nähe zur Schwermut im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts führte also nicht nur zu den Versuchen, Shakespeare und vor allem dessen Hamlet als im Grunde deutsch zu betrachten, sondern auch in Byron einen Wesensverwandten zu entdecken. Byron wandelt sich Elemente einer Tradition an, um somit die Assoziationen dieser Tradition mit der Konstruktion seines medialen Selbst herzustellen. In diesem Zusammenhang muss auch die Auseinandersetzung mit der Tradition des Erhabenen betrachtet werden, die zwar einer komplett anderen – nämlich der rhetorischen – Tradition entstammt , aber im achtzehnten Jahrhundert vor allem bei Edmund Burke psychologisiert wird.30 In der deutschen Wahrnehmung erscheint Byron nun als zentraler Dichter einer

27 Vgl. hierzu die klassische Studie von Raymond Klibansky , Erwin Panofsky und Fritz Saxl : Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie , der Religion und der Kunst , Frankfurt a. M.: Suhrkamp , 1992. Die englische Originalausgabe Saturn and Melancholy erschien bereits 1964. 28 Vgl. Antje Wittstock : Melancholia translata – Marsilio Ficinos Melancholiebegriff im deutschsprachigen Raum des 16. Jahrhunderts , Göttingen : V & R unipress , 2011. 29 Vgl. hierzu die deutsche Affinität zu Shakespeares Hamlet , die in Gedichten wie Ferdinand Freiligraths Gedicht „Deutschland ist Hamlet“ ( 1844 ) Ausdruck findet. 30 Vgl. zur rhetorischen Tradition des Erhabenen Dietmar Till : Das doppelte Erhabene. Eine

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erhabenen Weltsicht nach Kant , wie diese Schilderung von Friedrich Johann Jacobsen aus dem Jahr 1820 eindrücklich belegt : So können die Gründe entwickelt werden, warum ein Schriftsteller von dem lebendigsten Gefühl durch leidenschaftliche Selbstzeichnung über die bezauberten Seelen seiner Zuhörer eine wunderbare Macht ausübt. Aber nur in dem Liede des Lebenden ist das Größte dieses Zaubers enthalten, und verschwindet wie der Stab eines Zauberers mit dem Tode seines Meisters. Wir fühlen die Macht eines solchen Schriftstellers unwiderstehlich , so lange er selbst unser Zeitgenosse , auf dem Strom des Lebens unser Mitreisender ist und von Zeit zu Zeit die Ergiessungen seines Geistes im Wetterleuchten auf uns richtet. Unsere Liebe , unsere Erwartung folgen dem Gang seiner Seele , und wenn sein Leben uns nicht zurückstößt , dem Gang seines Lebens. Vielleicht hat die Zukunft viel weniger Nachsicht mit Byron und seinen Schriften als wie seine Zeitgenossen so gern geneigt sind zu zeigen. Sie wird nicht mit dem leidenschaftlichen und heftigen Eifer der verwegenen Stimme horchen, die nur zu oft in schreckenvolle Wildnisse des Zweifels und der Finsternis hinlockt. Ihr wie uns wird dennoch immer etwas Majestästisches in seinem Elende , etwas Erhabenes in seiner Verzweiflung sein.31

Wie der zeitgenössische Briefeschreiber Jacobsen hier darstellt , ist es vor allem die Faszination der Figur Byron, die die Leser gefangen nimmt , nicht notwendigerweise die Werke selbst. Der Melancholie des Dichters haftet in der Rezeption immer auch etwas Erhabenes an. Ironischerweise hat sich Byron selbst als Dichter , der der romantischen Dichtung seiner Zeitgenossen mehr als skeptisch gegenüberstand , immer sehr distanziert zur Philosophie und Dichtung des Erhabenen in der Tradition Edmund Burkes verhalten. Alexandra Böhm hat gezeigt , dass Byron nicht nur der Tradition des Erhabenen seit Edmund Burke , sondern auch der rhetorischen Spielart des Sublimen seit PseudoLonginus kritisch gegenüberstand : Mit seiner Schrift Peri Hypsos zielte Pseudo-Longinus auf eine Kritik der eigenen Gegenwart , die er als Epoche des politischen und moralischen Verfalls empfand. Das Ideal erhabener Größe dagegen verkörperte für ihn das klassische Griechenland mit seiner politischen Selbstbestimmung. Während diese Aspekte auch auf Byron zutreffen, verweist die literaturtheoretische Dimension des Sublimen bei Pseudo-Longinus schon auf die Differenz zu den englischen Romantikern, die Byron in seinem ‚Letter to Murray‘ expliziert. Denn die Schrift Peri Hypsos wendet sich vom hellenistischen Literaturideal ab , das sich durch Anmut , Transparenz und Urbanität auszeichnet , und akzentuiert dagegen Größe , Leidenschaft und Überwältigungskraft. Byron verteidigt an Pope genau die vom Sublimen schon bei Pseudo-Longinus abgewerteten Eigenschaften des Harmonischen, Verständlichen und des Urbanen, das Offenheit , Toleranz und Wandelbarkeit assoziiert.32

Argumentations­figur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts , Berlin : De Gruyter , 2006. 31 Friedrich Johann Jacobsen : Briefe an eine deutsche Edelfrau über die neuesten englischen Dichter , Altona : Hammerich , 1820 , 620 f. 32 Alexandra Böhm : Heine und Byron : Poetik eingreifender Kunst am Beginn der Moderne , Berlin : De Gruyter , 2012 , 205.

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Auch wenn sich Byron vor allem im Kontext der Schrift The Vision of Judgment von der Theorie des Erhabenen distanziert , steht es doch außer Zweifel , dass er in Childe Harold’s Pilgrimage extensiv Gebrauch von erhabenen Landschaftsbeschreibungen macht. Wenn man sich etwa die Passagen im dritten Canto ansieht , in denen Lord Byron die Burg Drachenfels im Siebengebirge beschreibt , fällt auf , wie sehr er sich aus dem zeitgenössischen erhabenen Bilderfundus bedient : Away with these ! true Wisdom’s world will be Within its own creation, or in thine , Maternal Nature ! for who teems like thee , Thus on the banks of thy majestic Rhine ? There Harold gazes on a work divine , A blending of all beauties ; streams and dells , Fruit , foliage , crag , wood , cornfield , mountain, vine , And chiefless castles breathing stern farewells From gray but leafy walls , where Ruin greenly dwells. And there they stand , as stands a lofty mind , Worn, but unstooping to the baser crowd , All tenantless , save to the crannying Wind , Or holding dark communion with the Cloud There was a day when they were young and proud ; Banners on high , and battles passed below ; But they who fought are in a bloody shroud , And those which waved are shredless dust ere now , And the bleak battlements shall bear no future blow. ( III 46–47 )

Der Sprecher gibt hier den Eindruck Harolds wider , der überwältigt ist von der „work divine , / A blending of all beauties“. Was hier zusammenspielt und zum Grundstock der Ästhetik der Romantik gehört , ist erstens die Wahrnehmung der Schönheit der Natur als eine organische Einheit , zweitens eine Idealisierung der mittelalterlichen Vergangenheit – im Gegensatz zur Antikenverklärung des Klassizismus – und drittens eine Faszination für das Furchteinflößende und Schreckenerregende der Ruinen und des Verfalls – „the bleak battlements shall bear no future“. Die Faszination, die sich hier ausdrückt , ist die Faszination für eine quasi entvölkerte Landschaft , deren Reiz sich durch eine Mischung aus Schönheit , rauer , unwegsamer , ehrfurchterregender Schroffheit und Burke’scher Erhabenheit ergibt , die mit dem Aufkommen der gothic fiction einhergeht. Die Stelle macht es unmöglich , eine Aussage darüber zu treffen, ob die Verwendung des Erhabenen ironisch gebrochen ist oder nicht. Daraus speist sich eine tiefe Ambiguität , die die innere Zerrissenheit des Helden wie auch des medialen „Byron“ unterstreicht. Michael R. Edson hat in diesem Zusammenhang auf die „difficulty of

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distinguishing the sublime from the mock-sublime“33 hingewiesen. Ein Beispiel hierfür ist eine Passage im dritten Canto , die sehr an William Wordsworth erinnert : I live not in myself , but I become Portion of that around me ; and to me High mountains are a feeling , but the hum Of human cities torture : I can see Nothing to loathe in Nature , save to be A link reluctant in a fleshly chain, Classed among creatures , when the soul can flee , And with the sky – the peak – the heaving plain Of Ocean, or the stars , mingle – and not in vain. [ … ] Are not the mountains , waves , and skies , a part Of me and of my Soul , as I of them ? Is not the love of these deep in my heart With a pure passion ? should I not contemn All objects , if compared with these ? and stem A tide of suffering , rather than forego Such feelings for the hard and worldly phlegm Of those whose eyes are only turned below , Gazing upon the ground , with thoughts which dare not glow ? ( III, 72 ; 75 )

Diese Passage fällt aus dem Gesamtkontext des Childe Harold heraus , weil Byron hier seine kritische Distanz zu typisch romantischen Modi aufgibt – in diesem Falle Wordsworths Pantheismus – und sie sich scheinbar ohne jede Ironie anverwandelt. Tatsächlich probiert er diese Form der Dichtung wie ein Kleidungsstück an, wie Christoph Bode hervorhebt : „Dass er diese Attitüde nur annahm , wissen wir von ihm selbst“.34 Byron vermochte es , in seinem Werk eine zutiefst melancholische innere Zerrissenheit herzustellen, die sich auf das Werk , den eponymen Helden, den Erzähler und vor allem auf die Autorfigur erstreckte. Die so hergestellte Ambiguität ist paradox , da

33 Michael R. Edson : „Soil and Sublimity in Childe Harold’s Pilgrimage“, Byron and The Romantic Sublime , hg. v. Paul M. Curtis , Revue de l’Université de Moncton, 2005 , 177–187. 34 Bode : Selbst-Begründungen, 131. Besagte Aussage findet sich in Gesprächen Byrons mit Thomas Medwin : „I said to him , ‚You are accused of owing a great deal to Wordsworth. Certainly there are some stanzas in the Third Canto of ‚Childe Harold‘ that smell strongly of the Lakes‘ [ … ] ‚Very possibly ,‘ replied he. ‚Shelley , when I was in Switzerland , used to dose me with Wordsworth physic even to nausea : and I do remember then reading some things of his with pleasure. He had once a feeling of Nature , which he carried almost to a deification of it : – that’s why Shelley liked his poetry. It is satisfactory to reflect , that where a man becomes a hireling and loses his mental independence , he loses also the faculty of writing well. The lyrical ballads , jacobinical and puling with affectation of simplicity as they were , had undoubtedly a certain merit : and Wordsworth , though occasionally a writer for the nursery-masters and misses , [ … ] now and then expressed ideas worth imitating ; but , like brother Southey , he had his price …‘ “ ( T homas Medwin : Journal of the Conversations of Lord Byron, London : Colburn, 1824 , 192 f. ).



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sie unmittelbare Nähe suggeriert und zugleich eine unüberbrückbare Distanz herstellt. Daraus speist sich die Attraktion, die Byron und sein Werk ausübten, und die in Deutschland zunächst bei Goethe , aber auch bei folgenden Generationen eine anhaltende Faszination ausübte.

Schluss Es stellt sich also heraus , dass Byron ein großartiger Spieler auf der Tastatur der Erwartungshaltungen seiner Leser war. Zum einen führt dies zu einer Identitätskonstruktion, die bewusst mit Leerstellen und Erwartungshaltungen der Leserschaft spielt. Dieser Begriff der Autorkonstruktion „Byron“ in der Imagination seiner Zeitgenossen erweist sich dadurch als zugleich sehr eng und sehr weit. Sehr eng , weil die Werke des Dichters untrennbar mit dieser Figur des Dichters verbunden sind und immer nur als Ausdruck ( s )einer leidenden Seele interpretiert werden. Sehr weit , weil diese Vorstellung sich so weit vom realen Autor gelöst hatte , dass sie scheinbar mühelos auf andere Schriftsteller wie John Polidori übertragen werden konnte , wie auch auf Figuren aus der späteren Literaturgeschichte , wie den adligen Vampir bis hin zu Bram Stokers Dracula. So war es auch möglich , dass Byron in der deutschen Rezeption des neunzehnten Jahrhunderts als eine Figur interpretiert werden konnte , die seine Zeitgenossen überragte und die zugleich nahezu mühelos appropriiert werden konnte. Die Rezeptionsgeschichte Byrons in Deutschland , die im späten Goethe und in Heine herausragende Vertreter hatte , ist die einer medialen Identitätskonstruktion. Diese eng an die Dichterpersönlichkeit gebundene Rezeptionsgeschichte ist aber , so zeigt es sich im Falle Byrons , immer auch die Geschichte des eigenen Blickes , der die Leerstellen in der Konstruktion einer Identität – in diesem Falle des Autors Byron – genau mit den Elementen auffüllt , die der eigenen Vorstellung entsprechen. Im Falle der deutschen Rezeption sind dies die Melancholie und das Erhabene.

Stefan Keppler-Tasaki

Literarische Anglophilie und deutscher Nationalstaat Walter Scott bei Willibald Alexis, Hermann von Pückler-Muskau und Gustav Freytag Es war Britanniens größter Dichter , man mag sagen und einwenden, was man will. Zwar die Kritiker seiner Romane mäkelten an seiner Größe und warfen ihm vor , er dehne sich zu sehr ins Breite , er gehe zu sehr ins Detail , [ … ] um die starken Effekte h ­ ervorzubringen – Aber die Wahrheit zu sagen, er glich hierin einem Millionär , der sein ganzes Vermögen in lauter Scheidemünze liegen hat und immer drei bis vier Wagen mit Säcken voll Groschen und Pfenningen herbeifahren muß , wenn er eine große Summe zu bezahlen hat.1

Heinrich Heine schrieb den Nachruf auf Walter Scott noch zu dessen Lebzeiten, in den Englischen Fragmenten, die 1831 im vierten Teil von Heines Reisebildern und damit ein Jahr vor Scotts Tod erschienen sind. Der größte Dichter Britanniens habe sich bereits überlebt , die neunbändige Biographie The Life of Napoleon Buonaparte ( 1827 ), so Heines Urteil , bezeichne sein intellektuelles Ende , sei „in bankrotter Begeisterung“2 geschrieben worden. Auch sonst hatte Heine noch einiges zu sagen und einzuwenden gegen den „schottischen Barden“3, der hinter dem Schein der Objektivität ein natio­ naler Tendenzautor sei und im Sold der britischen Regierung stehe. Für Heine ging hier der Schotte Scott restlos im Briten Scott auf. Schottischer Geiz und englischer Handelsgeist schienen zwei Seiten derselben Münze , um die Napoleon verkauft worden sei. Heines Verehrung für den französischen Kaiser machte ihn ungerecht gegen Scott , aber auch gegen Britannien, von dem er nur die schlechtesten Eindrücke empfing.4 Einige andere deutsche Autoren des neunzehnten Jahrhunderts rezipierten Walter Scott stärker unter dem Aspekt schottisch-englischer Wechselbeziehungen und multipler Identitäten innerhalb des Vereinigten Königreichs. Hierzu gehören Willibald Alexis und Fürst Pückler , auf die sich Heine in einem Vorwort der Reisebilder sehr positiv bezieht ,5 sowie der eine Generation jüngere Gustav Freytag. Sie sind diejenigen deut-

1 Heinrich Heine : Englische Fragmente , in : Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb , München : Deutscher Taschenbuchverlag , 1997 , Bd. 2 , 531–605 , hier 549. 2 Ebd. 3 Ebd., 545. 4 Vgl. Siegbert Salomon Prawer : Frankenstein’s Island : England and the English in the Writings of Heinrich Heine , Cambridge : Cambridge University Press , 1986 , 42–82 , zur Kritik an Scott 61–63. 5 Vgl. Hartmut Steinecke : „ ‚Reisende waren wir beide‘: Pückler-Muskau und Heine , London, Frühjahr 1827“, in : Vormärz und Klassik , hg. v. Lothar Ehrlich , Hartmut Steinecke , Michael Vogt , Bielefeld :

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 Stefan Keppler-Tasaki

schen Bestseller-Autoren des neunzehnten Jahrhunderts , die sich den Weltbestseller Walter Scott am stärksten zum Vorbild nahmen und die deutsche Scott-Rezeption in ihrer enthusiastischen Form vertreten. Alle drei kultivierten eine Anglophilie , die sich mit bestimmten Optionen für die gewünschte Entwicklung in Deutschland verbindet. Alle drei standen in enger Verbindung zum preußischen Staat und reflektierten dessen Verhältnis zur deutschen Einigung. Und alle drei erlauben die These , dass die deutsche Aufmerksamkeit auf Walter Scott eine im europäischen Rahmen besondere ist , weil ihr ein besonders tiefsitzender Partikularismus und ein besonders kontroverser Weg zum deutschen Nationalstaat zugrunde liegen. Die reiche Forschung zur deutschen Scott-Rezeption hat vor allem gezeigt , wie die Waverley Novels die deutsche Tradition des idealistischen Individualromans erschütterten und die Poetik des historischen und realistischen Romans hervorzubringen halfen.6 Was aber ein schottischer Autor und seine Haltung zur britischen Geschichte für deutsche Verhandlungen über Nationalität bedeuten könnten, blieb vergleichsweise unbearbeitet.7 Es reicht nicht zu sagen, dass „Scotts Romane als nationale Romane geschrieben“ worden seien,8 wenn man sich nicht damit auseinandersetzt , wie sich dieses Nationale zu Schottland einerseits und Großbritannien andererseits verhält. Heinrich Heine konnte Scott für einen britischen Patrioten halten, der im Sinne der Londoner Regierung schrieb. Dafür sprach neben einem Werk wie der NapoleonBiographie , dass Scotts Leitromane , Waverley und Ivanhoe , in Spaltungssituationen beginnen und in Einigungsperspektiven so glücklich wie möglich enden. Für Theodor Fontane war Scott der „Sprecher Schottlands“, dessen spezifischer „Nationalitätsidee“ er Ausdruck gegeben habe.9 Dafür sprachen ein Dutzend Scottish Novels , die ihren

Aisthesis , 1999 , 163–180 , bes. 168. 6 Vgl. bereits Hermann A. Korff : Scott und Alexis : Eine Studie zur Technik des historischen Romans , Heidelberg : Hörnung & Berkenbusch , 1907 ; dann Hartmut Steinecke : Romantheorie und Romankritik in Deutschland : Die Entwicklung des Gattungsverständnisses von der Scott-Rezeption bis zum programmatischen Realismus , Stuttgart : Metzler , 1975 ; zuletzt Hans Vilmar Geppert : „Ein Feld von Differenzierungen. Zur kritisch-produktiven Scott-Rezeption von Arnim bis Fontane“, in : Beiträge zur Rezeption der britischen und irischen Literatur des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum , hg. v. Norbert Bachleitner , Amsterdam : Rodopi , 1999 , 479–500. 7 Hinweise für die Zeit nach 1866 gibt Rainer Schüren : Die Romane Walter Scotts in Deutschland , Berlin : Diss., 1969 , 150–154. Ansätze für Alexis bietet Edward O. McInnes : „Realism : History and the Nation. The Reception of the ‚Waverley‘ Novels in Germany in the 19th Century“, in : New German Studies 16 ( 1990 ), 39–53 , hier 41–43. Grundsätzlich auch : Murray Pittock : Introduction : „Scott and the European Nationalities Question“, in : The Reception of Sir Walter Scott in Europe , hg. v. Murray Pittock , London : Continuum , 2006 , 1–10. 8 Hartmut Steinecke : „Der ‚reichste , gewandteste , berühmteste Erzähler seines Jahrhunderts‘: Walter Scott und der Roman in Deutschland“, in : Nationale Grenzen und internationaler Austausch : Studien zum Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa , hg. v. Lothar Jordan, Bernd Kortländer , Tübingen : Niemeyer , 1995 , 109–120 , hier 119. 9 Theodor Fontane : „Walter Scott“, in : Sämtliche Werke , hg. v. Walter Keitel , München : Hanser , 1969 , Abt. 3 , Bd. 1 , 385–404 , hier 403 f.



Literarische Anglophilie und deutscher Nationalstaat 

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Gegenstand mit großer Sorgfalt und Affektion beschreiben, im Verhältnis zu nur vier English Novels ( Ivanhoe , Kenilworth , Peveril of the Peak , Woodstock ). Die Waverley Novels konnten deshalb zu einem lange funktionierenden Echoraum deutscher Debatten werden, weil sie das Verhältnis von Stämmen, Staaten und Einheitsstaat ( Union ­State ) ohne auffällige Einseitigkeiten reflektieren. Britische Geschichte geriet hier zum Schlüsselroman der deutschen Geschichte und Gegenwart : verfremdet , aber nicht letztlich fremd.10 Es sind Alexis , Pückler und Freytag , die sich die patriotisch-nationale Vieldeutigkeit Scotts und seinen Beziehungsreichtum hinsichtlich der deutschen Situation besonders zunutze machten.

Multiple Vaterländer : Willibald Alexis Wie komplex Nationaldiskurs und Scott-Rezeption ineinandergreifen, zeigt zunächst der Fall des Berliner Justizbeamten und Journalisten Willibald Alexis , der zur Leipziger Frühjahrsmesse 1824 seinen ersten Roman vorlegte. Unter dem Titel Walladmor steht auf dem Titelblatt die Bemerkung „Aus dem Englischen des Walter Scott“. Nun bietet Scotts Oeuvre zwar einen ähnlich klingenden Titel wie The Bride of Lammermoor ( 1819 erschienen ), aber nirgendwo einen Walladmor. Es handelt sich um eine Pseudo-Übersetzung , die bei aller Verehrung für Scott zugleich eine Parodie ist. Alexis nannte sie eine „ehrliche“, d. h. anerkennende , nicht denunzierende „Parodie“.11 Protagonist ist trotz des walisischen Schauplatzes Walladmor Castle ein junger Deutscher namens Bertram. Wie sich herausstellt , hat dieser die Reise nach Großbritannien nur deshalb unternommen, um ein Dichter wie der anonyme Verfasser des Waverley zu werden. Denselben trifft er zuletzt unter dem Namen Malburne , wie er gerade an einem Roman unter dem Titel Walladmor arbeitet , eben an dem Roman, in dem sich Bertram befindet. Die Ironie dieser mise-en-abyme entwertet nicht das Thema , das mit der Suche eines deutschen Autors nach brauchbaren Romanstoffen gestellt ist. Malburne alias Walter Scott bemerkt zu Bertram : „es ist incommode , um den Stoff zu sammeln, von Merseburg bis nach Alt-England zu reisen. Giebt es denn keinen Stoff bei Ihnen zu Hause ?“12 Wie Alexis sowohl in seinen literaturkritischen Schriften ausgeführt hat als auch in einem zweiten, ernsthafteren Roman „Aus dem Englischen des Walter Scott“, Schloß Avalon von 1827 , mangelt es der deutschen Literatur im Unterschied zur engli-

10 Vgl. dagegen Steinecke : „Walter Scott und der Roman in Deutschland“, 119 , der annimmt , dass sich das bei Scott „identitätsstiftende Nationale“ für den deutschen Leser „in Fremdes“ und „Exotisches“ verwandelt. 11 Willibald Alexis : Eine Jugend in Preußen : Erinnerungen, Berlin : Rütten und Loening , 1991 , 252. 12 Willibald Alexis : Walladmor , Faksimiledruck der Ausgabe aus dem Jahre 1824 , Leipzig : Edition Leipzig , 1967 , Bd. 3 , 294.

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schen an Stoffen, die für die Nation von allgemeinem Interesse seien.13 Die Konflikte der deutschen Territorialgeschichte seien kleinlich und lokal gewesen : „Katzbalgereien um Besitz und Eigenthum“14. Die inneren Konflikte Großbritanniens besäßen dagegen einen großen nationalen Maßstab , den Scott ins Bild fasse.15 In Walladmor versammelte Alexis die Positionen eines britischen Nationaldiskurses , die er in exzentrischen Charakteren überzeichnete : Sir Morgan Walladmor hält die Waliser für die älteste und reinste Nation seit der Erschaffung der Welt und sieht den „Krieg zwischen Angelsachsen und Wälschen“ nicht beendet , sondern nur von einem Waffenkrieg auf ein Mundgefecht herabgemildert.16 Die Figur Walter Scotts führt „das Schottische Vaterland“ im Munde , das er allerdings mit dem Interesse eines Sammlers von Altertümern betrachtet.17 Der radikale Volksredner und „Brittische Vaterlandsfreund“ Dulberry vertritt die „allgemeine Gleichheit des Brittischen Volkes“.18 Der Schmuggler Nichols provoziert ergänzend mit der Aussage , er kenne kein Vaterland.19 Bertram hört ihnen zu und bemüht sich für alle Seiten um Verständnis. Er vermittelt zwischen den Positionen und führt eine für die britische Einheit aufgeschlossene Zukunft von Schloss Walladmor herauf , ungefähr wie der verlorene Sohn Ivanhoe das Erbe seines tribalistischen Vaters Cedric the Saxon modernisiert und Edward Waverley dasjenige seines jakobitischen Onkels , des Barons von Bradwardine. Alexis selber erklärte in seinen Erinnerungen, alle Hauptfiguren hätten ihm gleichermaßen Teilnahme eingeflößt : „Wer kann eine Satire mit kaltem Blute durch drei Bände fortspinnen. Aus den Karikaturen wurden Menschen, für die ich mich interessierte.“20 Die Pseudo-Übersetzung hat schon im Dezember ihres Erscheinungsjahres die Ehre , im Londoner Verlag von Taylor & Hessey in die Sprache übersetzt zu werden, aus der sie stammen soll. Dort steht auf dem Titelblatt : „Walladmor. ‚Freely translated

13 Zur Diskussion um die Romanfähigkeit der deutschen Geschichte vgl. Hartmut Steinecke : „,Die Geschichte ist die grösste Dichtung‘: Willibald Alexis’ Scott-Rezeption der 1820er Jahre“, in : Geschichten aus ( der ) Geschichte : Zum Stand des historischen Erzählens im Deutschland der frühen Restaurationszeit , hg. v. Norbert Otto Eke , Hartmut Steinecke , München : Fink , 1994 , 59–74 , hier 71 ; sowie Wolfgang Beutin : „The Reception of Sir Walter Scott’s Novels in Germany and their Influence upon German Novelists and Literary Theorists“, in : The Literary Reception of British Romanticism on the European Continent , hg. v. Michael Gassenmeier , Katrin Kamolz , Jens Gurr , Frank-Erik Pointner , Essen : Blaue Eule , 1996 , 182–191 , hier 188 f. 14 Willibald Alexis : „Wilhelm Hauff , Lichtenstein“, in : Blätter für literarische Unterhaltung , 16. November 1826 , 453 f., hier 453. 15 Willibald Alexis : „The Romances of Walter Scott – Roman vom Walter Scott“, in : Jahrbücher der Literatur 22 ( 1823 ), 1–75 , hier 10 f. Zu den Scott-Essays von Alexis vgl. Paul K. Richter : Willibald Alexis als Literatur- und Theaterkritiker , Berlin : 1931 ( Nachdruck Nendeln : Kraus 1967 ), 85–88. 16 Alexis : Walladmor , Bd. 2 , 168 f. 17 Ebd., Bd. 2 , 23. 18 Ebd., Bd. 1 , 244. 19 Ebd., Bd. 3 , 187. 20 Alexis : Eine Jugend in Preußen, 246.



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into German from the English of Sir Walter Scott.‘ / And now / Freely translated from the German into English.“ Der Übersetzer Thomas De Quincey parodiert die Parodie und nutzt schon das Vorwort dazu , Alexis das Thema der zerrissenen Nation zurückzuspielen. Das Vorwort dreht sich ausschließlich um die als fremdartiges Ritual dargestellte Leipziger Buchmesse , „the Leipsic fair“, auf der Walladmor für Furore sorgte. De Quincey erklärt die Bedeutung der Buchmesse mit ihrer Ersatzfunktion für die fehlende staatliche Einheit Deutschlands. By means of this fair [ … ] a connexion is established between the remotest points of the German continent – which , in a literary sense , comprehends many parts of Europe that politically are wholly distinct from Germany. The publishers of Vienna , Trieste , and Munich , here meet with those of Hamburgh and Dresden, of Berlin and Königsburg.21

De Quincey stellt die unsicher definierte Landmasse des „deutschen Kontinents“ heraus , der in einer Buchmesse ( statt in einem Parlament ) zur kommunikativen Einheit finde. Ein Erfolg in Leipzig bedeute demnach einen Erfolg bei der nationalen Verständigung. Um ein solches gesamtdeutsches Aufsehen zu erregen, habe der anonyme Autor , der dem Übersetzer unbekannt blieb , das literarische Abenteuer des Walladmor unternommen.22 Das nationale Projekt hat Alexis noch maßgeblich beschäftigt , und zwar in Anwendung auf die deutsche Situation, die er noch in den zwanziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts als interesselos bezeichnet hatte. Von 1832 bis 1856 unterstellte er seine Produktion dem Programm des ‚Vaterländischen Romans‘, wie der Untertitel von insgesamt acht historischen Romanen wie Cabanis , Der Roland von Berlin und Die Hosen des Herrn von Bredow lautet. Der Titel Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor 50 Jahren zitiert ausdrücklich Scotts Waverley ; or ’Tis Sixty Years Since. Wie die Waverley Novels bilden die ‚Vaterländischen Romane‘ einen Zyklus , dessen eigentlicher Protagonist die Geschichte vom Mittelalter bis zur jüngeren Vergangenheit ist , mit nüchternem Realismus entworfen und doch patriotisch. Der Ausdruck „Vaterland“ ist bei Alexis so zweischneidig , wie er im Roman Ruhe ist die erste Bürgerpflicht ( 1852 ) für die Jahre 1805 und 1806 angesichts der Napoleonischen Eroberungen verhandelt wird : Als „spezielles Vaterland“23 meint er Preußen, wobei in einer Konversation zwischen preußischen Staatsbeamten die Meinung vertreten werden kann : „Ich bitte Sie , mein Lieber , was

21 Walladmor. „Freely translated into German from the English of Sir Walter Scott.“ / And now / Freely translated from the German into English. London : Taylor and Hessey , 1825 , 5 f. 22 Zur weiteren Tendenz der Übersetzung , die insbesondere den Walisischen Nationalismus von Sir Morgan reduziert , vgl. L. H. C. Thomas : „Walladmor : A Pseudo-Translation of Sir Walter Scott“, in : The Modern Language Review 46 ( 1951 ), 218–231 , bes. 228 f. sowie Frederick Burwick : „How to Translate a Waverley Novel : Sir Walter Scott , Willibald Alexis , and Thomas De Quincey“, in : The Wordsworth Circle 25 : 2 ( 1994 ), 93–100. 23 Willibald Alexis : Ruhe ist die erste Bürgerpflicht , Frankfurt a. M.: Ullstein , 1985 , Bd. 1 , 314.

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ist denn Deutschland ? Allerlei Mansch , allerlei Menschen, bunt durcheinander.“24 Ein „deutsches Vaterland“25 ist aber ebenso im Gespräch. Die Figur eines preußischen Ministers – gemeint ist Freiherr von Stein – gründet es auf die Dialektik zwischen der Idee Deutschlands und der Realität der Einzelstaaten : „Ohne daß wir an Deutschland festhalten, ist kein Hessen und kein Sachsen, ja , kein Preußen und kein Österreich.“26 Charakteristischerweise verhandelt der Minister dieses Thema mit einem britischen Gesandten und erläutert deshalb : Sie , Mylord , wenn ich nicht irre , rühmen sich Walliser Abkunft , was hält denn Ihr großbritannisches Reich zusammen, als daß es eins ward , Briten und Sachsen, Sachsen und Normannen, Engländer und Schotten, selbst das widersträubende Irland hat der Nationalsinn mit eisernem Arm an die gemeinsame Brust geklammert.27

Alexis verankerte hier einen Hinweis auf die Funktion, die Walter Scott in der deutschen Rezeption zukam. In der Schilderung fortlaufender Modernisierungsprozesse , die sich – mal glücklicher , mal schmerzhafter – über junge Menschen wie Ivanhoe und Waverley vollziehen,28 kann britische Geschichte zum Muster der deutschen Gegenwart werden. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht verkürzt die von Scott gebotene Frist von sechzig Jahren für einen historischen Roman um zehn Jahre , um die „Ideen eines Gesamtlebens“29 in Deutschland auf dem Stand von 1806 diskutieren zu lassen. Der Vertreter der Jugend , Walter van Asten, ist der Verfasser einer patriotischen Broschüre , wegen der ihn der Minister von Stein als Privatsekretär einstellt. Freiherr von Stein versucht , die deutsche Politik nach Großbritannien und gegen Frankreich auszurichten ; jüngere Beamte wie Walter sollen ihn darin unterstützen. Die älteren Beamten beobachten dies ablehnend : „Es taucht jetzt hier solche Klasse von jungen Strudelköpfen auf , die von Deutschland , deutschem Wesen, deutscher Sprache , Art sprechen.“30 Aber man sei schließlich nicht in Großbritannien. Dieses komme für die Politik auf dem Kontinent überhaupt nicht in Frage : „England lassen wir auf seinem Brett im Meer ‚Rule Britannia‘ singen, die Frage steht nur noch zwischen Frankreich und Rußland.“31 Selbst der britische Gesandte entgegnet auf von Steins Enthusiasmus für das britische Modell nüchtern : „Richtig , es war ein glücklicher , aber ein künstlicher Prozess. Die

24 Ebd., Bd. 1 , 63. 25 Ebd., Bd. 2 , 87. 26 Ebd., Bd. 2 , 125. 27 Ebd., Bd. 2 , 125 f. 28 Die Differenzierung zwischen einem optimistischeren ( „zentripetalen“ ) Ivanhoe-Modell und einem pessimistischeren ( „zentrifugalen“ ) Waverley-Modell ist einleuchtend , der geschichtliche Horizont des notwendigen britischen Staates bleibt in beiden Fällen aber stabil. Die Differenzierung wird vorgenommen von Geppert : „Ein Feld von Differenzierungen“, 487–489. 29 Ebd., Bd. 1 , 63. 30 Ebd., Bd. 1 , 44. 31 Ebd., Bd. 2 , 393.



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Fusion des Blutes ist hergestellt , aber der Stempel darauf ist das Interesse. Das sollten Sie doch nicht vergessen [ … ].“32 Die Multiperspektivität , für die Alexis sorgt , täuscht am Ende nicht darüber hinweg , dass die progressive Idee einer deutschen Nation von der intelligentesten Person des Romans , Freiherr von Stein, und der sympathischsten, Walter van Asten, einem Namensvetter Walter Scotts , vertreten wird. Trotzdem drehen sich die ‚Vaterländischen Romane‘ immer wieder um Preußen und eben nicht um Deutschland. In dieser Wahl seines Gegenstandes hielt Alexis die konservative Partei.33 Diese Ambivalenz trifft sich mit dem , was man „the paradoxical nature of Scott’s understanding of the nation“ genannt hat.34 Auch Scott im Maßstab setzenden Waverley-Roman kennt die Nation in mehrfacher Gestalt. Einerseits als das Britannien, dessen Hannoveraner Könige eine neue Legitimität geschaffen haben, „sustaining and exalting the character of the nation abroad and its liberties at home“; die „Union“ zwischen England und Schottland als „important national measure“.35 Andererseits als „kingdom of Scotland“ und dessen „national reproach“, mit dem Act of Union von 1707 als „that fatal treaty which annihilates Scotland as an independent nation“, mit den Jakobiten, „which , averse to intermingle with the English , or adopt their costums , long continued to pride themselves upon maintaining ancient Scottish manners and costums“.36 Scott zeigt sich mit der Vereinigung der Stämme zum Staat zufrieden und schreibt doch überwiegend schottische statt britische Romane. Er beschwört das , was er als verloren zugibt – und befindet sich damit in einem performativen Widerspruch. Die jüngere Scott-Forschung hat diesen Widerspruch zuletzt in dem Sinn aufgelöst , dass Scott den britischen Staat als Basis akzeptiere für Verhandlungen zwischen den Ansprüchen des neuen Nationalstaats einerseits , etablierter Gemeinschaften andererseits. Das

32 Ebd., Bd. 2 , 126. 33 In diesen Punkt kann der in Ruhe ist die erste Bürgerpflicht geführte „Wertediskurs“ nicht als „eindeutig“ gelten. Was „vaterländisch“ ist , bleibt konstitutiv zweideutig. Vgl. dagegen Geppert : „Ein Feld von Differenzierungen“, 487–489. Zu den Verschachtelungen des „Vaterlands“-Gedanken vgl. auch Wolfgang Beutin : „Melpomenes Dolch und Klios noch schärferer Griffel. Die brandenburg-preußischen ( ,vaterländischen‘ ) Romane von Willibald Alexis“, in : Willibald Alexis ( 1798–1871 ). Ein Autor des Vorund Nachmärz , hg. v. Wolfgang Beutin und Peter Stein. Bielefeld : Aisthesis , 2000 , 177–194 , bes. 179 f. u. 187–189. Korff : Scott und Alexis , 13–19 , bewertet Alexis im Vergleich zu Scott sogar als den vieldeutigeren Autor , weil er mehr am ungerichteten Farbenspiel der Geschichte als an ihrem gerichteten Kräftespiel Interesse gefunden habe. Lionel Thomas : Willibald Alexis. A German Writer of the Nineteenth Century , Oxford : Basil Blackwell , 1964 , bes. 79 , hält aus demselben Grund gar nicht Scott für Alexis’ Leitbild , sondern zwei andere britische Schriftsteller , Robert Folkestone Williams und Thomas Colley Grattan, die mehr in die Richtung des „Vielheitsromans“ gearbeitet haben. 34 Andrew Lincoln : Walter Scott and Modernity , Edinburgh : Edinburgh University Press , 2007 , 5. 35 Walter Scott : Waverley Novels , Berlin : Asher , 1879 , Bd. 1 , 186 , 21 ( im Folgenden WN mit Band- und Seitenzahl ). 36 WN 1 , 56 , 298 , 414.

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heißt : „Scott’s progressive vision of history is always in the service of a conservative vision of moderation“.37

Walter Scott als Parlament: Hermann von Pückler-Muskau Es gab nicht viel außer sich selbst , was der deutsche Vorreiter des Dandyismus , Hermann von Pückler-Muskau , ernst nahm. Dazu gehörte der Güterkomplex Muskau , der im Norden des alten Königreichs Sachsen lag und auf dem Wiener Kongress 1815 zusammen mit anderen nordsächsischen Gebieten dem Königreich Preußen zugeschlagen wurde. Pückler arrangierte sich bequem mit dem preußischen Staat , diente auf repräsentativen Positionen in dessen Armee , heiratete die Tochter des Staatskanzlers Hardenberg und wurde 1822 von Friedrich Wilhelm III. gefürstet. Die Sorge um sein Gut , auf dem er einen Landschaftspark im englischen Stil kultivierte , umfasste das Verhältnis seiner sächsischen Untertanen und Nachbarn zur neuen Nationalität. Schon seine Standeserhöhung vom Grafen zum Fürsten diente aus Berliner Sicht vor allem dazu , den lokalen Adel zu beschwichtigen und die neu erworbenen Gebiete in das seit achtzig Jahren heftig expandierende Preußen zu integrieren.38 Unter die vielen britischen Reaktionen auf Pücklers Persönlichkeit und Werk gehört die Figur des Count Cat’s-elbow in Lady Morgans Roman The Princess von 1835. Der Graf macht sich unter anderem dadurch lächerlich , dass er der britischen Gesellschaft nicht erklären kann, wo seine Besitzungen genau liegen. Die tiefere Bedeutung dieser Anekdote liegt in den Schwierigkeiten der deutschen Territorialgeschichte.39 Auch als Reiseschriftsteller und Kosmopolit , der eine äthiopische Geliebte nach Muskau zurückbrachte , ist Fürst Pückler der nationalen Frage nicht entkommen. In seinem Erstlingswerk und Jahrhundert-Bestseller Briefe eines Verstorbenen, zwischen 1826 und 1829 auf einer Reise durch Großbritannien geschrieben, 1830 / 31 auf Deutsch , 1831 / 32 auf Englisch publiziert , erinnert er sich an den symptomatischen Streit zwi-

37 Lincoln : Walter Scott and Modernity , 6. Zum „narrative of Britishness“ einerseits , dem Bild des United Kingdom als multilingualer und multikultureller Gesellschaft andererseits , vgl. auch Pittock : „Scott and the European Nationalities Question“, 3–7. Ausschließlicher zu Scotts „Scottish feelings“ vgl. Paul Henderson Scott : „The Politics of Sir Walter Scott“, in : Scott and His Influence , hg. v. John H. Alexander , David Hewitt , Aberdeen : Association for Scottish Literary Studies , 1983 , 208–217. 38 Vgl. Heinz Ohff : Der grüne Fürst : das abenteuerliche Leben des Hermann Pückler-Muskau , München : Piper , 1991 , 106 f. 39 Zur britischen Rezeption Fürst Pücklers vgl. Peter James Bowman : The Fortune Hunter. A German Prince in Regency England , Oxford : Signal Books , 2010 , 162–172 , hier 167. Aus der jüngsten Rezeptionsgeschichte lässt sich hervorheben, dass Elisabeth II. bei ihrem Berlin-Besuch 2015 dem gastgebenden Bundespräsidenten Gauck eine Ausgabe von Pückler-Muskaus Briefen eines Verstorbenen zum Geschenk machte ; vgl. Julia Bähr : „Elisabeth II. in Berlin. Salutschüsse und ein ungewöhnliches Geschenk“, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung , 24. Juni 2015.



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schen einem Potsdamer Offizier und einem Muskauer Kutscher , die sich wechselseitig als preußischer bzw. sächsischer Hund beschimpften. Pückler hat den Mangel einer „nationalen Bildung“40 in Deutschland zu bedauern, die er in Großbritannien als sehr fortgeschritten erblickt. Für die niederen Stände beschreiben seine achtundvierzig langen Reisebriefe zwar ausgeprägte Charakterunterschiede ( „Nationalzüge“41 ) des jeweiligen Volkslebens. Die Zustände in Irland geben ihm besonders zu denken. Er vergleicht die irische Landbevölkerung mit den Wenden, einer slawischen Minderheit , die im brandenburgisch-sächsischen Grenzgebiet lebt und Fragen auch für das Gebiet von Muskau aufwarf. Sie sähen sich in ihrer sprachlichen und kulturellen Eigenständigkeit , wie der Fürst deutlich formuliert , „unterdrückt durch eine fremde Nation“.42 Andererseits aber hat Pückler den Eindruck , dass sich die Kulturdifferenzen innerhalb des Vereinten Königreichs abbauten und in den mittleren Schichten bereits fast fehlten, „da die tyrannischen Erfordernisse englischer Bildung sehr allgemein in den drei Inseln wirken“ ( mit den „drei Inseln“ meint er die drei Königreiche England , Schottland und Irland ). Aufgrund der von ihm verzeichneten Homogenisierung unter englischen Kulturvorzeichen spricht er von Walisern wie von Iren und Schotten als von Engländern und korrigiert sich dann : „Ich sollte sie eigentlich ‚Britten‘, oder nach neuerer Orthographie , ‚Briten‘ nennen.“43 Der Fürst pflegte ( neben Sympathien für die Sklaverei ) vereinzelt liberale Neigungen und sah im Parlamentarismus eine Chance zur Bildung der Nation.44 Es hätte seiner literarischen Haltung als Dandy widersprochen, seine politische Reflexionsbereitschaft so ernsthaft wie ein Gelehrter oder Berufsdichter zu demonstrieren.45 Das Lob des Repräsentativsystems gehört aber zu den Konstanten der Briefe. In einem Gespräch mit Goethe , das unter dem Datum des 14. September 1826 am Anfang der

40 Hermann Fürst von Pückler-Muskau : Briefe eines Verstorbenen, hg. v. Heinz Ohff. Berlin : Kupfergraben, 1986 , 30. 41 Ebd., 70 und 114. 42 Ebd., 235. Bei den Walisern nimmt er es leichter , wenn er mit Eduard I. wegen einer Anekdote über ihn sympathisiert. Der König hatte den Walisern einen Statthalter versprochen, der in Wales geboren sei und kein Wort Englisch könne : als solchen präsentierte er seinen eigenen Sohn, den ersten Prinzen von Wales , später Eduard II., den er in Wales zur Welt kommen ließ und der als Neugeborener naturgemäß weder Englisch noch sonst eine Sprache sprach , vgl. ebd., 44. 43 Ebd., 277. 44 Zu den Briefen als „Symbiose reaktionären, liberalen und demokratischen Denkens“ vgl. Stefan Neuhaus : „Das fehlerhafte Vorbild : zur Darstellung Großbritanniens in Hermann Fürst von PücklerMuskaus Bestseller Briefe eines Verstorbenen“, in : Neophilologus 83 ( 1999 ), 267–281 , Zitat 278. Zur politischen Flexibilität Pücklers vgl. auch Inge Rippmann : „Tradition und Fortschritt : das frühindustrielle England aus der Perspektive eines aristokratischen Individualisten, Fürst Pückler-Muskau“, in : Recherches germaniques 25 ( 1995 ), 159–179 , hier 165–167. 45 Die Gründe für Pücklers „ironisches Verhältnis zur literarischen Produktion“ erläutert Rainer Gruenter : „Der reisende Fürst : Fürst Hermann Pückler-Muskau in England“, in : ders.: Vom Elend des Schönen : Studien zur Literatur und Kunst , hg. v. Heinke Wunderlich , München : Hanser , 1988 , 83–100 , Zitat 87.

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Reise steht , verteidigt er gegen die Einwände des konservativen Weimarer Ministers „eine konstitutionelle Regierungsform“, „weil sie offenbar in jedem Individuum die Überzeugung größerer Sicherheit für Person und Eigentum , folglich die freudigste Tatkraft und zugleich damit die zuverlässigste Vaterlandsliebe begründe“.46 Er nennt England als Beleg für seine Behauptung. Der Besuch des britischen Parlaments , des House of Commons , Ende April und des House of Lords Anfang Mai 1827 , gehörte konsequenterweise zu seinen intensivsten Erlebnissen : Wenn ich von dem Totaleindruck dieser Tage auf mich Rechenschaft geben soll , so muß ich sagen, daß er erhebend und wehmütig zugleich war. Das erste , indem ich mich in die Seele eines Engländers versetzte , das zweite im Gefühl eines Deutschen ! Dieser doppelte Senat des englischen Volks [ … ] ist etwas höchst Großartiges – und indem man sein Walten von Nahem sieht , fängt man an zu verstehen, warum die englische Nation bis jetzt noch die erste auf der Erde ist.47

Pückler benutzte das Wort „englisch“ zu diesem Zeitpunkt pars pro toto für „britisch“ und für ein Parlament , das seit den Acts of Union von 1707 und 1800 auch Schottland und Irland vertrat. Unter den Politikern, deren Auftritte er ausführlich beschreibt , befindet sich der Oppositionelle Henry Brougham mit Herkunft aus Edinburgh. Gegenstand seiner Rede ist unter anderem die gerade Irland und Schottland entgegenkommende Katholikenemanzipation : Er wünscht , „den Katholiken unseres Landes ihr natürliches und menschliches Recht wiedergegeben zu sehen“; „seit 25 Jahren“, d. h. seit der Union mit Irland , rufe er „Gott und die Nation“ vergebens darum an.48 Bei seiner Bewunderung hob Pückler nicht so sehr die institutionelle Rationalität des Parlamentarismus hervor , sondern die Macht des Wortes , die sich darin entfalten könne : „Herz und Gemüt einer ganzen Nation“ würden, wie er an der Rede George Cannings beobachtet , der nach Brougham auftritt , „in jene Art von magnetischem Somnambulismus [ versetzt ], wo ihr nur blindes Hingeben übrig bleibt“.49 Mit dem politischen Themenstrang der Briefe eines Verstorbenen ist nun auch Pücklers Scott-Rezeption verwoben. Die Reise begann schon in Deutschland unter dem Stern des britischen Schriftstellers. Auf dem Weg von Dresden Richtung Westen galt die erste Station Weimar , wo Pückler am 13. September 1826 den Reisesegen Goethes einholte. Der greise Dichterfürst sei „eben nicht sehr enthusiastisch für den großen Unbekannten eingenommen“50 gewesen ( wobei die Wendung ‚der große Unbekannte‘ einer der Ehrennamen Scotts ist , der seine Verfasserschaft für die Waverley Novels erst

46 Pückler : Briefe eines Verstorbenen, 417. 47 Ebd., 649. 48 Ebd., 647. 49 Ebd., 648. Im Vergleich zu anderen deutschen Reiseberichten über das britische Parlament im neunzehnten Jahrhundert fällt Pücklers Zeugnis ungewöhnlich positiv aus. Vgl. Tilman Fischer : Reiseziel England. Ein Beitrag zur Poetik der Reisebeschreibung und zur Topik der Moderne ( 1830–1870 ), Berlin : Erich Schmidt , 2004 , 483 f. 50 Pückler : Briefe eines Verstorbenen, 416.



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1827 aufdeckte51 ). Die Diskussion drehte sich um Scotts rätselhaft produktive Arbeitsweise , die – so Goethe – einer Malerwerkstatt gleichen müsse. Der Meister gäbe den Plan, die Hauptgedanken und das Skelett der Szenen, überlasse aber den Schülern die Ausführung , die er zuletzt retouchiere. Der Vergleich mit den Werkstätten der Alten Meister ist noch vergleichsweise freundlich. Schwerer wiegt Scotts Charakterisierung als ein Autor , der die englische Moderne vom Feld des Maschinenbaus und der Kaufmannschaft auf das Feld der Literatur übertragen habe. Scotts Staunen erregende Produktionen seien am Ende , so gibt Pückler das Heinrich Heine nahestehende Urteil Goethes wieder , doch nur „Fabrikarbeiten“ aufgrund von „bloßem Gewinnsuchen“.52 In Britannien angekommen, wandelte der Deutsche sicher auf den Spuren Scotts. Wie Goethe bei seiner Italien-Reise in den achtziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts nichts gesehen hat , wofür sein Blick nicht schon durch die Vedutten Piranesis präformiert gewesen war , so denkt Pückler bei jeder englischen Sehenswürdigkeit zunächst an deren Schilderung durch Scott. So an den Höhepunkten der Reise wie Warwick Castle und Woodstock Park. „Mit W. Scotts anziehendem Buche in der Hand“ betrat er im Dezember 1826 die Ruine von Kenilworth , dem titelgebenden Schauplatz von Scotts 1821 erschienenem Roman über den Hof Elisabeths I.53 Den „Chef eines Highlander Clans“ fand er im Februar 1827 in Brighton „ganz so [ … ], wie Walter Scott seine hochländischen Romanenfiguren schildert“.54 Pückler schätzte Scotts Werke als zuverlässige Führer durch Landschaft und Gesellschaft , wo Heine den dieser Leistung zugrundeliegenden Realismus für ein Zeichen nahm , dass man dem Genius des „schottischen Barden zu viele Ehre“ erzeige.55 Der deutsche Reisende näherte sich seinem prominenten Gesprächsgegenstand nun immer mehr auch persönlich an. Am 12. Dezember 1826 traf er in London mit dem „berühmten Buchhändler C …“ zusammen, gemeint ist Scotts Verleger Archibald Constable , von dem Pückler zu berichten weiß , dass er Scott seinen „ersten und besten Roman“, Waverley , schlecht bezahlt habe und selber dabei reich geworden sei. Aktueller Hintergrund dieser Bemerkung war die hohe Verschuldung des Verlags , die Scott als Teilhaber des Unternehmens vollständig übernommen und letztlich ein Leben lang abgetragen hat.56 Der Fürst , seinerseits in Geldverlegenheiten und auf der Suche nach einer reichen englischen Braut , wendete sich schlecht gelaunt von Constable ab , weil dieser ein bloßer Kaufmann sei. Zu Pücklers persönlicher Annäherung an Scott , die in den Briefen inszeniert ist , gehört im Weiteren die Erinnerung daran, einen Sohn des

51 Vgl. Edgar Johnson : Sir Walter Scott : The Great Unkown. London : Hamish Hamilton, 1970 , 1020– 1036. 52 Ebd. 53 Ebd., 538. 54 Pückler : Briefe eines Verstorbenen, 600. 55 Heine : Englische Fragmente , 544. 56 Vgl. Johnson : Sir Walter Scott , 959–971.

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Dichters getroffen zu haben.57 Diese Begegnung fand nach der Reise auf einem Maskenball in Berlin statt , Pückler trug ihre Schilderung aber in eine Fußnote zum Brief vom 10. Februar 1827 ein. In London endlich , am 12. April 1828 , begegnete er Sir Walter Scott in eigener Person. Den Rahmen bot ein Dinner im Landhaus Holly Lodge in Highgate. Die Gastgeberin, Harriet Mellon, Duchess of St. Albans , ein irischer Newcomer der Londoner Gesellschaft ,58 platzierte den deutschen Exzentriker neben dem ‚berühmten Unbekannten‘. Pückler begegnete in ihm einem „langen, sehr einfach aber liebevoll und freundlich aussehenden, schon bejahrten Manne , der im breiten schottischen, nichts weniger als angenehmen Dialekte sprach“. Scott erzählte schlichte Anekdoten, „die , ohne eben brillant zu erscheinen, doch immer frappierten“. In seinen Augen habe sich „so viel treuherzige Güte und Natürlichkeit [ … ] ausgedrückt , daß man ihn lieb gewinnen mußte“.59 Gegen Ende des Abends trug der „große Barde“60 Spukgeschichten vor ; Pückler durfte sich mit einer deutschen Geistergeschichte daran beteiligen. Diese Erzählgattung ist für die Waverley Novels wichtig , weil sie schon in Waverley den Aberglauben der Hochländer charakterisiert.61 Als man auseinanderging , erhielt der Fürst ein Porträt Scotts , das die Gastgeberin während des Abends angefertigt hat. In dieser Begegnung gestaltete Pückler nichts anderes als ein Pendant zur Begegnung mit Goethe. Der geselligen Schlichtheit des Schotten steht die einsame Jupiter-Erscheinung des deutschen Klassizisten gegenüber , die „nicht ohne einige künstlerische Koketterie arrangiert“ gewesen sei. Statt Anekdoten und Geistergeschichten gibt es bei Goethe Gespräche über Scott , Lord Byron und die politischen „Konstitutions-Theorien“. Scott verlässt man als guten Bekannten, Goethe verlässt man „mit hoher Ehrfurcht“.62 Trotz der Hinneigung zu Scott spürte Pückler kein gesteigertes Verlangen nach Schottland. Um den „Beginn der Season“ in London nicht zu verpassen, strich er den geplanten Ausflug aus seinen Reiseplänen.63 Der Deutsche betonte zwar den schottischen Charakter von Scotts Persönlichkeit , findet Scott-Spuren aber gleichmäßig in England , Wales und selbst in Irland , wo er im August 1828 das Gebiet von Glendalough mit Hilfe desselben irischen Touristenführers wie Scott im Sommer 1825 erkundete.64

57 Pückler : Briefe eines Verstorbenen, 601. 58 Vgl. Bowman : A German Prince in Regency England , 135. 59 Pückler : Briefe eines Verstorbenen, 830 f. 60 Ebd., 831. 61 Chieftain Fergus Mac-Ivor erzählt die Geschichte vom Bodach Glas , der dem jeweiligen Oberhaupt der Familie Mac-Ivor kurz vor dem Tod begegne ( WN 1 , 341–344 ). 62 Ebd., 415–418. Vgl. Alexis : Eine Jugend in Preußen , 242 : „Ich liebte Scott , wie man nur einen Schriftsteller lieben kann ; aber die Liebe war weit entfernt von der Pietät , die ich gegen Goethe [ … ] hegte.“ 63 Pückler : Briefe eines Verstorbenen, 810. 64 Vgl. Eoin Bourke : „Vom Berliner Schloß zu St. Kevins Höhle. Begegnungsstätten deutscher Dichter mit dem Werk Thomas Moores“, in : Beiträge zur Rezeption der britischen und irischen Literatur des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum , hg. v. Norbert Bachleitner , Amsterdam : Rodopi , 1999 ,



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Pückler fiel es im Zeitraum seiner Reise leicht , von der vorrangigen Verpflichtung des Waverley-Œuvre auf Schottland abzusehen, weil die letzten Neuerscheinungen, The Betrothed ( 1825 ) und Woodstock ( 1826 ), Romane aus der walisischen bzw. der englischen Geschichte waren. Erst 1828 nahm Scott die Reihe der Schottland-Romane mit The Fair Maid of Perth wieder auf. Deshalb kann Scotts Werk in der Perspektivierung durch Pückler wie das parlamentarische System funktionieren, das der Fürst bewundert hat : es repräsentiert alle Landesteile des Vereinigten Königreichs und bindet sie mit der Macht des Wortes zusammen. Scott betätigte sich als britischer Autor englischer Sprache , wenn er außer schottischen auch englische und walisische , indirekt sogar irische Themen ( über Figuren wie Redmond O’Neale in Rokeby65 ) als seine eigene Angelegenheit behandelte. Das Scottsche Werk entfaltete seinen Einigungseffekt in der Horizontalen der britischen Teilnationen, aber ebenso in der Vertikalen der sozialen Hierarchie. Walter Scott vermochte , wie ihm Gustav Freytag bescheinigte , „das Ganze der menschlichen Gesellschaft mit innerer Freiheit und liebevoller Zuneigung zu verstehen“.66 Jeder Stand erhält bei ihm eine Stelle im Reich der Poesie : auffällig genug im Ivanhoe , in dem die Skala vom leibeigenen Schweinehirten bis zum englischen König durchlaufen wird , und im Waverley , der vom Dorftrottel ( Davie Gellatley ) bis zum Thronaspiranten ( Charles Edward Stuart ) ebenfalls etliche gesellschaftliche Positionen abdeckt. Dabei behalten alle ihr Recht und ihre Würde , einschließlich der verfeindeten Parteien : Normannen und Sachsen im Mittelalter , Hannoverianer und Jakobiten in der Neuzeit. Schon für die Ebene der Repräsentation ließe sich damit sagen, dass Scotts Romane und Epen den britischen Gesamtstaat imaginär bestätigen und festigen, ja ein Versöhnungswerk an ihm leisten. Eine ähnliche und sogar noch darüber hinaus gehende Wirkung ergibt sich auf der Ebene der Rezeption : Scott wird im neunzehnten Jahrhundert praktisch von allen gelesen, die lesen können. Die Münze seines populären Reichtums war so gängig , dass , wie Heine bei seinem England-Besuch schrieb , „die Herzogin und die Schneidersfrau sie mit gleichem Interesse annahmen“.67 Scott einte die Gesellschaft als Lesergemeinde ; sein Verleger druckte die Millionenauflagen zugleich in Edinburgh und London. Walter Scott und sein Werk sind gewissermaßen eine lebendige und poetische Volksvertretung. Daher kam das dringende Bedürfnis in Deutschland , einen gleichartigen Dichter für die eigenen komplizierten Verhältnisse , kurzum einen „deutschen Scott“, ausfindig zu machen. Dass man, „ohne Scott zu sein, ein ebensolches Werk [ … ] schreiben könne“,

93–106 , hier 104. Ferner David James O’Donoghue : Sir Walter Scott’s Tour in Ireland in 1825 , Now First Fully Described , Glasgow : Gowans and Gray , 1905. 65 Nancy M. Goslee : „ ‚Letters in the Irish Tongue‘: Interpreting Ireland in Scott’s Rokeby“, in : Scott and His Influence , hg. v. John H. Alexander , David Hewitt , Aberdeen : Association for Scottish Literary Studies , 1983 , 41–50. 66 Gustav Freytag : „ ‚Namenlose Geschichten‘ von F. W. Hackländer“, in : Die Grenzboten 10 ( 1851 ), 264–266 , hier 264. 67 Heine : Englische Fragmente , 549.

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wurde , wie Alexis in seinen Erinnerungen schreibt , „unsere deutsche Ehrensache“ und ein im Wortsinn „nationeller Ehrenpunkt“.68 Unter den mehreren Anwärtern auf den Titel des „deutschen Scott“ stand Gustav Freytag in der ersten Reihe.

Das schottische Thüringen : Gustav Freytag Willibald Alexis hatte bereits 1824 einen Deutschen, den jungen Bertram in Walladmor , auf die Reise geschickt , um ein zweiter Walter Scott zu werden. Alexis selber brachte es mit seinen ‚Vaterländischen Romanen‘ nur zum „märkischen ( d. h. preußischen ) Scott“.69 Freytags Rezeption auf den Inseln verlief für einen deutschen Autor des Realismus ungewöhnlich lebhaft und berührte den Vergleich mit Scott – vor allem wegen des von 1872 bis 1880 erschienenen sechsbändigen, acht Romane umfassenden Zyklus Die Ahnen, dessen ersten beiden Bände 1873 unter dem Titel Our Forefathers auch auf Englisch erschienen sind. Der konservative National Review aus London verglich den enormen Erfolg der Ahnen in Deutschland mit dem früheren Scott-Fieber.70 The Scottish Review aus Edinburgh nannte Freytag den englischsten der deutschen Schriftsteller , namentlich unter Bezug auf die frühen Bände des Zyklus , „where the poetic inspira­ tion is most apparent“.71 Was Freytag in nationalpolitischer Hinsicht von Scott lernen konnte , war die Konfiguration der Konflikte zwischen partikularen und zentralisierenden Kräften. Ebenso die Balancierung von Zustimmung und Vorbehalten gegenüber dem sich herausbildenden Gesamtstaat. Diese Balance war bei Scott schon prekär und wurde bei Freytag noch problematischer , sowohl wegen des geringeren Grads , in dem dieser die Technik des Romans beherrschte , als auch wegen der unbefriedigenderen politischen Umstände , mit denen er es zu tun hatte. Freytag arbeitete gegenüber Alexis und Pückler insofern unter veränderten äußeren Voraussetzungen, als er Die Ahnen vor dem Hintergrund der deutschen Reichsgründung von 1870 / 71 verfasste , die Pückler nur noch wenige Wochen vor seinem Tod erlebt hatte. Der Schriftsteller , der die Nationalliberale Partei von 1867 bis 1870 im Norddeutschen Reichstag vertreten hatte , verfolgte die Bismarcksche Version der nationalen Einigung mit großem Unbehagen. Er sah darin eine machtstaatliche Revolution von oben, die das Volk als treibende Kraft des Einigungsprozesses umgangen und ausgeschaltet hatte. Sie gründete auf der Willkür politischer Akteure statt auf einer gesetzmäßigen organischen Entwicklung , die Freytag für den richtigen Geschichtsverlauf erwartet hatte.72 Besiegelt wurde sie im Januar 1871 nicht mit dem Zusammentritt

68 Alexis : Eine Jugend in Preußen, 242. 69 Vgl. Steinecke : Romantheorie , 42. 70 Conrad Alberti : „Gustav Freytag“, in : The National Review 5 ( 1887 ), September , 80–105 , hier 102. 71 John G. Robertson : „Gustav Freytag“, in : The Scottish Review 27 : 53 ( 1896 ), 71–82 , hier 80. 72 Vgl. schon Walter Bußmann : „Gustav Freytag. Maßstäbe seiner Zeitkritik“, in : Archiv für Kulturge-



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des Parlaments , sondern mit der Proklamation des deutschen Kaisertums , das von Freytag in mehreren Stellungnahmen abgelehnt wurde. In der britischen Entwicklung zum Vereinigten Königreich entschädigten Zugewinne an konstitutionellen Freiheiten für Verluste an territorialer Autonomie. Nicht ganz so in der deutschen Entwicklung. Freytag stammte aus Schlesien, das seit 1742 zum Königreich Preußen gehörte. Er war bekennender preußischer Patriot , sah die preußischen Tugenden aber in der dienenden Funktion der Exekutive , in der Rechtsstaatlichkeit , die das bürgerliche Leben schützt , und in der weltanschaulichen Neutralität des Staates – Eigenschaften, für die in der preußischen Geschichte Friedrich der Große einstand. Als Nationalliberaler begrüßte Freytag Preußens Führungsrolle bei der deutschen Einigung , fürchtete aber auch , Preußen wie die anderen Territorien könnten dabei ihren traditionellen Charakter verlieren. Die Helden im umfassenden Geschichtsentwurf der Ahnen, Vertreter derselben Familie vom vierten bis zum neunzehnten Jahrhundert , stehen wiederholt und bis zuletzt in einem spannungsvollen Verhältnis zu den wechselnden Mächten ( Frankenherrscher , Ottonen- und Stauferkaiser sowie Preußenkönige ), die die staatliche Einigung des deutschen Kulturgebiets ohne ausreichende Legitimation – und das heißt Partizipation durch das Volk – vorantreiben wollen. Wie die Helden der Waverley Novels treffen die Ahnen-Helden immer wieder auf diejenigen, die die höchsten Herrschaftsansprüche erheben, den Ottonen Heinrich II., den Staufer Friedrich II., den Hohenzollern Friedrich Wilhelm I. Diese Begegnungen verlaufen jeweils so , dass die Ahnen nahe vor dem offenen Widerstand stehen und jedenfalls kein rechtes Vertrauen fassen. Ungleich vertrauensvoller begegnen Ivanhoe Richard the Lion-Heart , Albert Lee ( in Woodstock ) Charles II., Jeanie Deans ( in The Heart of Midlothian ) Queen Caroline. Der Kontrast ist umso auffälliger , als namentlich die Szene zwischen dem Ahn Immo und König Heinrich ( w ie manche andere Szenen der Ahnen ) ihr Vorbild bei Scott hat : Heinrich reitet als namenloser Ritter durch das Land , kreuzt die Klinge mit Immo und teilt anschließend das Essen mit ihm. Scott verwendet das Muster insbesondere im Roman Ivanhoe für König Richard und dessen Begegnung mit den Geächteten.73 Die halb oppositionelle Position des Ahnen-Zyklus kommt bereits auf dessen erstem bedrucktem Blatt zum Ausdruck : Es enthält eine Widmung an Kronprinzessin Victoria , Gattin des preußischen Thronfolgers Friedrich sowie Tochter von Queen Victoria und deren deutschem Prinzgemahl Albert. Diese Widmung ist nicht royalistisch zu verstehen und bedeutet keine Unterwerfung unter das preußische Königshaus. Victoria und Friedrich standen wegen ihrer liberalen Zukunftspläne im offenen Konflikt mit

schichte 34 ( 1952 ), 261–287 , hier bes. 273. Weiterführend Peter Sprengel : „Der Liberalismus auf dem Weg ins ‚neue Reich‘. Gustav Freytag und die Seinen 1866–1871“, in : Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur , hg. v. Klaus Amann, Karl Wagner , Wien : Böhlau , 1996 , 153–181. 73 WN 2 , 362–385.

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Kaiser Wilhelm I. Freytag gehörte zum direkten Umkreis des Thronfolgerpaares und unterstützte dessen Absichten, darunter die Annäherung Deutschlands an Großbritannien mit dem Ziel , die parlamentarischen Rechte nach Maßgabe des britischen Konstitutionalismus zu stärken. Die Widmung der Ahnen an die Engländerin Viktoria ( in deutscher Schreibung ) stellt das Romanunternehmen unter das Zeichen der deutschbritischen Beziehungen. Dies realisiert sich zum einen durch inhaltliche Referenzen auf England : eine englische Figur wie den Missionar Bonifazius , eine Lebensphase des Helden in London, lobende Erwähnungen Englands als dem einzigen vertrauenswürdigen Nachbarn in Europa.74 Andererseits setzte Freytag dieses Programm auf einer stärker poetologischen Ebene um , nämlich in einem Dialog mit Walter Scott. An seiner maßgeblichen Verpflichtung auf die Poetik des großen Schotten ließ Freytag niemals einen Zweifel. Noch im Jahr 1872 , in dem der erste Ahnen-Band erschien und der Höhepunkt der europäischen Scottomanie vierzig Jahre zurücklag , bezeichnete Freytag in einem Artikel Für junge Novellendichter den schottischen Schriftsteller als „Meister im Charakterisieren“ und als „Vater des modernen Romanes“.75 Seit seiner Jugend kannte er sich in den Waverley Novels wie in den Büchern der Bibel aus. In den 1886 verfassten Erinnerungen an mein Leben gedachte er der Leihbibliothek seiner Gymnasialzeit um 1830 : Dort [ … ] fiel mir zum ersten Male Walter Scott in die Hände. Die Fülle und heitere Sicherheit dieses großen Dichters nahmen mich ganz gefangen, durch ihn lernte ich ahnen, was der Dichtkunst die Charaktere bedeuten ; ich las alle seine Romane mit immer neuem Entzücken durch.76

Während der fünfziger Jahre , in denen Freytag die Theorie des poetischen Realismus entwickelte , empfahl er Scotts Romantechnik als unerreichtes Modell : Sie könne „als Muster dienen, wie der Romanschreiber das Interesse des Lesers zu spannen und zu befriedigen hat. Noch ist der große Mann, der doch so schnell schrieb , in vielen Einzelheiten seiner Composition nicht übertroffen worden“.77 Es habe , schrieb Freytag an anderer Stelle zu diesem Thema , Jahrhunderte gedauert , bevor die Handlung der Romane zu künstlerischer Durchbildung gelangt ist , und es ist das hohe Verdienst Walter Scotts , daß er mit der Sicherheit eines Genies gelehrt hat , die Handlung in einem Höhepunkt und in großer Schlußwirkung zusammen zu schließen.78

74 Vgl. Stefan Keppler-Tasaki : „Prussian Anglophilia : Gustav Freytag , Vicky and the Kaiser“, in : German Life and Letters 65 ( 2012 ), 421–438. 75 Gustav Freytag : Gesammelte Werke. Leipzig 1887 f., Bd. 16 , 220 ( im Folgenden GW mit Band- und Seitenzahl ). 76 GW 1 , 73. 77 Freytag : „ ‚Namenlose Geschichten‘ von F. W. Hackländer“, 266. 78 GW 1 , 180.



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Scott schloss seine Romane in der Tat vorzugsweise mit „a striking catastrophe“79 wie dem Gotteskampf zwischen Ivanhoe und Bois-Gilbert in Ivanhoe , der jakobitischen Niederlage in Waverley oder der Schlacht zwischen zwei Hochlandclans in The Fair Maid of Perth. Zum selben kompositorischen Zweck gehen zwei von Freytags Helden ( Ingo und Ingraban ) in großformatigen Schlachtszenen unter. Ein dritter ( Ivo ) rettet am Ende seine belagerte und brennende Burg nur knapp vor der Eroberung. Ein vierter ( der Rittmeister von Alt-Rosen ) gerät nach vielen überstandenen Gefahren des Dreißigjährigen Krieges zuletzt doch noch in einen feindlichen Hinterhalt. Ein weiterer Zug , den Freytag an Scott bewunderte , betrifft die Vergegenwärtigung von Geschichte anhand ihrer Örtlichkeiten. „Die besten Kunstleistungen Walter Scotts“, so Freytag in seinen Erinnerungen, „ruhen auf Schilderungen einer Vergangenheit , die ihm und seinen Zeitgenossen durch teure örtliche Erinnerungen nahe gerückt war.“80 Scotts Landschaften strukturieren geschichtliche Vorgänge und bilden zugleich eine Art Überlieferungsträger. Zumal als Schlachtfelder sind sie „awful testimony to the truth of [ … ] history“.81 Den Schottland-Romanen geben einerseits das konservative Hochland das Gepräge , andererseits die Border Lands , in denen sich schottische und englische Kultur begegnen. In einem England-Roman wie Ivanhoe sind es die Wälder des sächsisch besiedelten Nordenglands , aus denen heraus Robert Locksley ( d. i. Robin Hood ) gegen den normannischen Adel operiert. Der Schauplatz und die Geschichte Schottlands sind für die Poetik Walter Scotts unersetzlich. Was für eine deutsche Scott-Nachfolge an diese Stelle treten könnte , wurde schon zur Zeit von Alexis und Pückler kontrovers diskutiert. Goethe hatte 1823 ein frühes Wort in dieser Auseinandersetzung und erklärte abschlägig , es werde „in Deutschland sich nirgends zwischen dem Thüringer Wald und Mecklenburgs Sandwüsten ein fruchtbares Feld für den Romanschreiber“ finden.82 Wilhelm Hauff fragte 1826 , ob ein schwäbischer Roman nicht ebenso gut möglich sei wie ein schottischer und unternahm den Versuch in seinem Bauernkriegsroman Lichtenstein.83 Mittelfristig aber etablierte sich ein anderer Kandidat für die Rolle Schottlands. Queen Victoria und Prinz Albert sind die Paten der Idee : Sie entdeckten in Schottland , genauer in der Umgebung von Schloss Balmoral , das das Herrscherpaar in den Jahren nach 1848 zu seiner Urlaubsre-

79 WN 14 , 18. 80 GW 1 , 256. 81 WN 10 , 18. Vgl. James Reed : Sir Walter Scott. Landscape and Locality , London : Athlone , 1980 , 10 f. 82 Goethe zu Kanzler Müller , 17. September 1823 , in : Goethes Gespräche : Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang , hg. v. Wolfgang Herwig , Zürich : Artemis , 1965–87 , Bd. III / 1 ( 1971 ), 238. 83 Vgl. Steinecke : Romantheorie , 40–42. In der österreichischen Literatur fügten sich Österreich und Ungarn in die Rollen von England und Schottland : vgl. Norbert Bachleitner : „The Reception of Walter Scott in Nineteenth-Century Austria“, in : The Reception of Sir Walter Scott in Europe , hg. v. Murray Pittock , London : Continuum , 2006 , 80–94.

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sidenz ausbaute , Alberts Heimat wieder , den Thüringer Wald.84 Thüringen besaß ein weltaufgeschlossenes Unterland mit pittoresken Schlössern, dazu ein verschlossenes Hochland , in dem sich patriarchalische Zustände konservierten. Das Gebiet war exemplarisch zersplittert in Dutzende Herrschaftsbezirke , darunter das Herzogtum SachsenCoburg und Gotha , das von Prinz Alberts Familie regiert wurde. Es schloss südlich an Preußen an wie Schottland nördlich an England. Größere Teile Nordthüringens befanden sich seit 1815 ( wie im Fall Nordsachsens ) unter preußischer Herrschaft. Prinz Albert kultivierte die Analogie zwischen Schottland und Thüringen zur Begründung seines spezifischen deutsch-britischen Doppel-Patriotismus , den die Stellung als Gemahl von Queen Victoria erforderte. Aber auch unter Schriftstellern setzte sich die Analogie durch. Alexis in Ruhe ist die erste Bürgerpflicht führte Thüringen schon deshalb ein, weil es Schauplatz der Schlacht von Jena und Auerstedt war , mit der sein Roman endet. Wesentliche Erinnerungsorte in Scotts schottischer Topographie bilden die zahlreichen Schlachtfelder wie bei Prestonpans , Clifton oder Culloden. Bei Alexis ist Thüringen derjenige Ort , an dem sich Geschichte als Kriegsgeschichte konzentriert : Die Thüringer hätten „das Weh aller großen Kriege , welche Deutschland zerfleischten, in ihren schönen Tälern, an ihren Berggeländen recht aufgesogen und eingesammelt“.85 Otto Ludwig , neben Gustav Freytag der Begründer des „poetischen Realismus“ in Deutschland , notierte um 1860 zu Walter Scotts The Antiquary : Eine Erzählung mit solchen Figuren müsste nun aber auch in Thüringen spielen. Der Thüringerwald hat noch manchen originellen Charakter , von vielen noch die lebendige Tradition, ebenso noch manches poetische Altertum von Sitte , Bräuchen und namentlich von Sagen. Eine allgemein interessante Geschichte mit solchen Gestalten und Sitten mit den historischen Agentien, auch den lebendigen, dem Hauche , den der bewegten Weltgeschichte Räder im Drehen dahinblasen, eine reiche Geschichte mit viel Handlung und Spannung , aber stets poetischer.86

Gustav Freytag schloss hieran an, wenn er Die Ahnen überwiegend in Thüringen spielen lässt. Es ist zwar auffällig , dass Scott seine Geschichtsaufarbeitung erst mit dem Hochmittelalter beginnt , während Freytag sein Gebäude auf die Spätantike gründet. Beides erfüllt aber dieselbe Funktion. Scott geht von der normannischen Invasion des angelsächsischen Gebiets aus und entwickelt alles Weitere aus der Verschiedenheit zwischen den Angelsachsen und ihren Eroberern : „the great national distinctions betwixt them and their conquerors“.87 Strukturell setzen sich diese im englisch-schottischen Konflikt fort. Freytag dachte von der römischen Eroberung des germanischen Gebiets

84 Vgl. Theodore Martin : The Life of His Royal Highness the Prince Consort , London : Smith , Elder , 1874–80 , Bd. 2 , 108. 85 Alexis : Ruhe ist die erste Bürgerpflicht , Bd. 2 , 436. 86 Otto Ludwig : „Walter Scott“, in : ders.: Romane und Romanstudien, hg. v. William J. Lillyman, München : Hanser , 1977 , 553–563 , hier 553 f. 87 WN 2 , 19.



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her und knüpft daran den fortdauernden Gegensatz von modernisierungsorientierten Führungsmächten einerseits , traditionell gesinnten Thüringen andererseits. Scotts Geschichtsphantasie konzentriert sich für das Mittelalter auf die Zeiten um 1200 und 1500 , für die Neuzeit auf den Korridor zwischen 1650 und 1750. Freytag verteilt das Interesse gleichmäßiger und orientiert darüber mit dem Datumssignal , das die Überschrift von jedem ersten Kapitel aller acht Romane bildet : Ingo 357 , Ingraban 724 , Das Nest der Zaunkönige 1003 , Die Brüder vom deutschen Hause 1226 , Marcus König 1519 , Der Rittmeister von Alt-Rosen 1647 , Der Freicorporal bei Markgraf Albrecht 1721 , Aus einer kleinen Stadt 1805. Freytags Bild vom „Bergwald der Thüringe“88 setzt sich aus Elementen des schottischen Hochlands und der anglo-sächsischen Wälder zusammen, wie sie Scott modelliert hat. Dies ist auch insofern nicht ganz überraschend , als Scotts letzter Waverley-Roman, Anne of Geierstein von 1829 , die Erbschaft dafür hinterließ. Es handelt sich hierbei um einen gewissermaßen krypto-schottischen Roman, der überwiegend in der Schweiz spielt , aber anhand des Schweizerischen Unabhängigkeitskampfes gegen Burgund letztlich britische Konflikte in der Art eines Schlüsselromans verhandelt.89 Die Schweiz , geteilt in Ober- und Unterland , präsentiert sich ausgesprochen schottisch gegen die Großmacht Burgund , die Züge Englands trägt. Scott , der die Schweiz nicht aus eigener Anschauung kannte , hat seine Beschreibung der Lokalitäten ausdrücklich mit seiner intimen Kenntnis des schottischen Hochlands gerechtfertigt.90 Freytags Die Ahnen sind ein solcher krypto-schottischer Roman in der Nachfolge Scotts. Freytag gewinnt dem Schauplatz Thüringens epische Entfaltungsmöglichkeiten ab , indem er ihm erstens eine Außengrenze zu den Modernisierungsmächten und zweitens – in Übereinstimmung mit dem , was man als das gespaltene schottische Bewusstsein bezeichnet hat91 – die Binnendifferenz von sogenannten „Talleuten“ und „Waldmännern“ einschrieb. Die Talleute neigen zum kulturellen Austausch und politischen Arrangement mit der jeweiligen Zentralisierungsmacht. Dagegen leben die vielen Generationen der Ahnen-Familie mit den Kräften, die einen deutschen Gesamtstaat anstreben, in ständigen Konflikten. Sie widerstreben den wechselnd merowingischen, ottonischen und staufischen Herrschern, die beanspruchen, deutsche Könige zu sein. Der Sinn für Unabhängigkeit und Tradition bestimmt ihren Charakter , während die Einigungsmächte zu allen Zeiten lieblos , unheroisch und rationalistisch erscheinen. König Heinrich resümiert ein halbes Jahrtausend deutscher Geschichte , wenn er die Klage über das Thüringer Hochland mit den Worten führt : „unbändig und eigenwillig

88 GW 8 , 219. 89 Vgl. James Anderson : Sir Walter Scott and History , Edinburgh : Edina Press , 1981 , 78. 90 Vgl. Walter Scott an John Gibson Lockhart , 30. Oktober 1828 , in : The Letters of Sir Walter Scott , hg. v. Sir Herbert Grierson, London : Constable , 1932–37 , Bd. 11 , 28. 91 Vgl. Paul Henderson Scott : Walter Scott and Scotland , Edinburgh : W. Blackwood , 1981 , 91 , bezogen auf die sächsische „Germanicity“ der Lowlands und die „Celticity“ der Highlands.

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gebärdet sich jeder in dieser Waldecke“.92 Die gängigste Regel unter den Eingeborenen lautet : „Birg niemals in die Hand eines Herrn, was du allein behaupten kannst.“93 Mit fast denselben Worten beklagt sich Cedric the Saxon über seinen Sohn Ivanhoe , der sich herabgelassen habe , diejenigen Güter als Lehen zu nehmen, die seine Vorfahren frei und unabhängig besessen hätten.94 Der Sachse Locksley , der sich im Sherwood verschanzt hat , verhehlt König Richard bei allen Sympathien nicht seine persönlichen Ansprüche : „in these glades I am monarch : they are my kingdom“.95 Der „freie Wald“, finden auch die Ahnen, bildet das sicherste Refugium „freier Männer“.96 Hier sind sie die Könige und legen sich den Familiennamen König zu. Der Unterschied zwischen Freytag und Scott ist : die deutschen Ahnen bleiben Enterbte und werden niemals ihren Frieden mit den politischen Verhältnissen machen – bis hin zum letzten Ahn Viktor , der nach Kronprinzessin Victoria benannt ist und sich als liberaler , oppositioneller Journalist betätigt. Ivanhoe dagegen repräsentiert die Aufhebung der Gegensätze : die Verbindung des Sächsischen und Normannischen zum Englischen. Der enterbte Sachse tritt sozusagen als der erste Engländer wieder in sein Erbe ein. Wenn das Englische in den Waverley Novels wiederum in Gegensatz zum Schottischen gerät , führt Scott die Geschichte doch auch hier bis zur Vereinigung von Schottland und England zum Königreich Großbritannien im Jahr 1707. Der junge Edward Waverley , ein geborener Engländer und „adopted son“97 Schottlands , repräsentiert die Zukunft des britischen Nationalstaats und den Schutz schottischer Traditionen. Dagegen enden Die Ahnen in der Zeit vor der gescheiterten bürgerlichen März-Revolution von 1848 und schweigen vielsagend zur neo-absolutistischen Einigung von 1871 , die nicht das letzte Wort haben sollte.

92 GW 9 , 281. 93 GW 9 , 27. 94 Vgl. WN 2 , 137. 95 WN 2 , 283. 96 GW 8 , 53 f. u. ö. 97 WN 1 , 398.

Autoren Nicholas Enright , M.A., ist Doktorand an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der Freien Universität Berlin. Johannes Görbert , Dr. phil., ist Post-Doc an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der Freien Universität Berlin. John Guthrie , Ph. D., ist Fellow und Senior Lecturer in German am Murray Edwards College Cambridge sowie am Department of German and Dutch der University of Cambridge , UK. Ralf Haekel , Dr. phil , ist Juniorprofessor für Anglistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Tomáš Hlobil , PhDr., CSc., ist Professor für die Theorie der Literatur am Lehrstuhl für Ästhetik der Karlsuniversität in Prag sowie am Institut für Theater- und Filmwissenschaft der Palacký Universität in Olomouc. Stefan Keppler-Tasaki , Dr. phil., ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Tokio. Till Kinzel , Dr. phil., ist Privatdozent an der Technischen Universität Berlin. Lore Knapp , Dr. phil., ist Akademische Rätin auf Zeit an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Eike Kronshage , Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Anglistik / Amerikanistik der Technischen Universität Chemnitz. Charlotte Lee , Ph. D., ist Lecturer in Modern German Studies am Murray Edwards College Cambridge sowie am Department of German and Dutch der University of Cambridge , UK. Kira Liebert , M.A., ist Doktorandin im Fachbereich Medieval and Modern Languages der University of Oxford , UK. Martin Munke, M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter ( Fachinformation Sachsen ) an der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Helmut Peitsch , Dr. phil., ist Professor em. für Neuere deutsche Literatur an der Universität Potsdam.

Register Addison , Joseph 1 , 11 , 63 , 80 , 113 , 160 A Discourse Concerning the Original and Progress of Satire 59 aemulatio 5 Aesthetica 75 Afrika 106 Akademische Vorübungen 55 Albert von Sachsen-Coburg und Gotha 231 , 233–234 Alexis , Willibald 6 , 217–223 , 230 , 233–234 Allgemeine Gelehrtengeschichte 72 Amerika 31 , 94 , 99 , 106 , 111–112 , 148–150 Amsterdam 3 Andreas Hartknopf 176 , 188–189 An Essay Concerning Human Understanding 15 , 29 Anglophilie 1–5 , 7–8 , 36 , 38–39 , 46 , 58 , 71 , 79 , 155 , 159 , 164 , 167 , 217–218 Anmerkungen übers Theater 113 , 119 Anton Reiser 159 , 171–172 , 175–182 , 184 , 186 , 188–190 A philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful 60 Apodemik 153 , 155 , 158 , 163 Appropriation 172 , 185 , 206 , 210 Archenholz , Johann Wilhelm von 153 , 164 Aristoteles 82 , 118 , 120 , 160–161 Äsop 42–45 Ästhetik 8 , 13 , 17 , 19 , 23 , 52–55 , 57–69 , 71 , 73–75 , 77–79 , 83 , 85 , 88–92 , 153 , 161 , 188 , 207 , 209 , 213 Aufklärung 1 , 3 , 5 , 7 , 10–11 , 14 , 23–24 , 31 , 33 , 38 , 40 , 46 , 52–53 , 66 , 74–75 , 81 , 86 , 89–90 , 94 , 100 , 107 , 111 , 114 , 120–121 , 127 , 130 , 135 , 157 , 179 Aus K … s Papieren 182 , 186 Autonomieästhetik 14 , 19 A Voyage Round the World 16 , 134 A Voyage towards the South Pole 28 Bachtin , Michail 112 Batteux , Charles 54 , 67 Baumgarten , Alexander Gottlieb 75 , 77 , 80 , 83–84 Beispielsammlung 46 , 49–51 , 75 Belinde und der Tod 115 Belphegor 101

Benjamin , Walter 13 Berlin 6 , 11 , 23 , 72 , 90 , 114 , 116 , 153 , 157 , 221 , 224 , 228 Berman , Russell 129 Blair , Hugh 12 , 19 , 68 , 73 , 88–89 Blanckenburg , Christian Friedrich von 80 Blumenbach , Johann Friedrich 203 Bode , Johann Joachim Christoph 11 , 30 , 33 , 50 Bodmer , Johann Jakob 8 , 10–11 , 20 , 77 Böhm , Alexandra 212 Boie , Heinrich Christian 9 , 30 Boileau , Nicolas 117 , 120 Bolzano , Bernard 69 Bosse , Heinrich 114 Bougainville , Louis Antoine de 6 , 136 Boyd , James 194–195 Brandes , Georg Friedrich 36 Braunschweig 8–10 , 39–40 , 46 , 49 , 71–73 , 79 , 90 Braunschweiger Kreis. Siehe Braunschweig Bremen 8 , 10 Briefe eines Verstorbenen 225–226 Briefe über London 164 Briefroman 41 , 50–51 , 109 , 159 , 162 Brittisches Museum für die Deutschen 71 , 86–87 Brougham , Henry 226 Brown , John 72 Buchhandel 22 , 26 Buchmarkt 16 , 25 , 38 , 94 , 130–131 , 165 Bürger , Gottfried August 16 Burke , Edmund 20 , 53 , 59–63 , 69 , 75 , 80 , 211–213 Burney , Frances 50 Byron , George Gordon 3–4 , 65 , 201–203 , 204–215 , 228 Byronismus 6 Canaval , Michael Franz von 65 Cecilia 50 Cersowsky , Peter 172–173 , 179 , 185 Chandler , Richard 30 Chemnitz 164 Childe Harold’s Pilgrimage 206–207 , 209–210 , 213–214 Clarissa 32–33 , 37 , 41–42 , 45 , 47–48 , 51 Coleridge , Samuel Taylor 10 , 15 , 19 , 203

240 

 Register

Collection of the History of England 29 Collegium Carolinum 8 , 16 , 72 , 79–80 , 91 Cook , der Entdecker 137 , 139–141 , 143–148 Cook , James 16 , 28 , 127–150 Cowper , William 17 Coxe , William 17 Dambeck , Johann Heinrich 53 , 57 , 63–64 , 70 Daniel , Samuel 29 Das Theater des Herrn Diderot 52 Defoe , Daniel 11 , 40 , 49 , 93–94 , 102–104 De Quincey , Thomas 221 Der Dorfprediger von Wakefield 30 , 33 , 113 Deutschland 1 , 4 , 9–12 , 17 , 21 , 24 , 29 , 33 , 37 , 39–40 , 51 , 59 , 63 , 76 , 87 , 95 , 115 , 120 , 122–123 , 125 , 128 , 148 , 155 , 164 , 181 , 201–202 , 206–207 , 209–211 , 215 , 218–223 , 225–226 , 230 , 233–234 Diderot , Denis 44 , 47 , 50–52 Die Ahnen 230 , 234–236 Die Landplagen 115 Die Leiden des jungen Werthers 188–189 , 205 Doktor Faustus 139–140 Don Juan 203–204 Douglas , John 134 , 148 Doyle , Arthur Conan 139 Dracula 215 Dresden 226 Dryden , John 59 Dublin 29 , 31 Dubos , Jean-Baptiste 74 Dusch , Johann Jakob 56 , 113 , 116 , 121–122 Eberhard , Johann August 67 , 90 Ebert , Johann Arnold 8–10 , 18 , 49 , 79–80 Eckermann , Johann 3–4 , 6 , 201 , 206 Eckle , Jutta 172 Edinburgh 29 , 226 , 229–230 Edson , Michael R. 213 Einleitung , oder allgemeine Grundsätze der schönen Literatur 73 Elements of Criticism 59 , 63 , 74–77 , 79 , 83 Éloge de Richardson 52 Empirismus 59 , 63 , 92 , 204 Engel , Johann Jacob 58 England 1–5 , 8 , 10 , 14–15 , 18 , 20–24 , 32 , 34 , 36–40 , 48 , 80 , 95 , 120–122 , 132 , 148 , 153 , 155–160 , 163–164 , 173 , 190 , 203–207 , 211 , 217 , 219 , 222–223 , 225–226 , 229 , 233–234 , 236 Enquiry about the Beauty and the Sublime 75

Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften 52 , 67 , 71–72 Epilog zu den Satiren 113 , 121 Epistle to Dr. Arbuthnot , being the Prologue to the Satires 56 Ermann , Kurt 194 Eschenburg , Johann Joachim 9 , 14 , 39–40 , 46–52 , 67 , 71–80 , 83–92 , 116 , 123 Essay on Criticism 15 , 56–57 , 66 , 74 , 116–118 Essay on Man 11 , 57 , 64 Europa 1 , 6–7 , 9 , 13 , 19 , 38 , 41 , 75 , 81 , 85 , 91 , 103 , 106–107 , 112 , 127–130 , 134 , 137–138 , 143 , 147 , 149 , 169 , 204 , 207–208 , 218 , 232 Evelina 50 Expedition of Humphry Clinker 50 Fable of the Bees 40 Faust I 199 Faust II 193–194 , 198 , 201 , 206–207 Ferguson , Adam 105 , 108 Ficino , Marsilio 211 Fielding , Henry 4 , 51 , 94 , 113 , 121 Fleischmann , Johann Friedrich Anton 194 Flögel , Carl Friedrich 59 Forster , Georg 9 , 16 , 127–151 Forster , Johann Reinhold 127–128 , 132–133 Frankfurt 22 , 26 , 29 Frankreich 2 , 5 , 9 , 14–15 , 24 , 36 , 39 , 120 , 155 , 159–160 , 171 , 222 Franz I. 67 französisch 1 , 5–7 , 28 , 30–31 , 33–39 , 41–43 , 54 , 68 , 72 , 75 , 87 , 98 , 136 , 150 , 159 , 174 , 217 Französische Revolution 5 , 79 Franz Xaver von Sachsen 25 Freiheit 1 , 5 , 16 , 45 , 107–110 , 179 , 229 Freiherr von Stein 222 Freud , Sigmund 12 Freytag , Gustav 217 , 219 , 229–236 Friedrich II. von Preußen 1–2 , 148 Friedrich Wilhelm III. 224 Fritsch , Thomas von 26 Fulda 61 Gay , John 121 Geisenhanslüke , Achim 201–202 , 206 Gellert , Christian Fürchtegott 6 , 10 , 32–34 , 54 , 57 , 66 , 79 Genie 2 , 47 , 49 , 59 , 85 , 90 , 116 , 118 , 124–125, 172–176 , 204 f., 208 , 211 , 232 Georg II. 8

Register 

Georg III. 15–16 , 160 Gerard , Alexander 59–60 , 75 , 87 , 91–92 Gerstenberg , Wilhelm von 115 , 172 , 190 Geschichte des Fräuleins von Sternheim 33 , 159 , 162–163 Geschmack 2 , 23 , 31 , 57 , 59–60 , 73 , 79–80 , 84–85 , 88 , 90–91 Gibbon , Edward 11 , 35 , 75 Gleim , Johann Wilhelm Ludwig 77 , 178 Glenarvon 207 Goethe , Johann Wolfgang von 2–4 , 6–7 , 11 , 14–15 , 123 , 138 , 171 , 173–174 , 181 , 188 , 193–196 , 199–201 , 205–207 , 210 , 226–228 , 233 Goldsmith , Oliver 4 , 28 , 30 , 33 , 113 Gordon , Alexander 29 Gotter , Friedrich Wilhelm 194 Göttingen 8–10 , 16 , 18 , 26 , 32–33 , 36–37 , 203 Göttinger Hainbund.  Siehe Göttingen Gottsched , Johann Christoph 2 , 10 , 32 , 54 , 56 , 66 , 119 Grandison 32–35 , 41–42 , 45 , 47 , 49–50 Gray , Thomas 11 Griechenland 117 , 207 , 212 Grillparzer , Friedrich 201 Großbritannien 1–2 , 5 , 8–10 , 13–15 , 17–18 , 25–26 , 29 , 79 , 82 , 127 , 129–131 , 202 , 210 , 218–220 , 222 , 224–225 , 232 Grosse , Henning 27 Gulliver’s Travels 121 Gutschmid , Christian Gotthelf von 26 Habsburg 11 , 19 Haller , Albrecht von 9 Hamburg 10 , 13 , 18 , 31 , 164 , 221 Hamlet 9 , 118 , 171 , 177–185 , 188 , 191 , 211 Händel , Georg Friedrich 15 Hannover 8–9 , 16 , 26 , 36 , 223 Hanslik , Joseph Adolf 63–64 , 69 Harris , James 28 , 74 Hawkesworth , John 7 , 133–134 Hegel , Georg Wilhelm Friedrich 66 Hegemonie 5 , 9 Hehn , Johann Martin 114 Heine , Heinrich 201 , 210 , 217–218 , 227 Heinrich VIII. 161 , 163 Helvétius , Claude Adrien 59 Herder , Johann Gottfried 11–12 , 80 , 84 , 92 , 94 , 117 , 120 , 123 , 171 , 181 Herschel , Wilhelm 160

 241

Heyne , Christian Gottlob 10 Hogarth , William 59 , 61 , 69 Hohenthal , Peter von 26 Holcroft , Thomas 51 Home , Henry 14 , 19 , 55 , 57 , 59–60, 63–64, 67 , 69 , 71 , 73–89 , 91 , 94 Horaz 7 , 59 Hudson , Thomas 15 Hume , David 11 , 55 , 57 , 70 , 82–83, 86–89 , 91–92, 109 , 111 Hurd , Richard 59 Husemann , Heinrich 193 Hutcheson , Francis 57 , 63–64, 69 , 82 , 87 , 89 Idealismus 8 , 19 , 61–69 , 81 , 90–91 , 203–204 , 218 Ideen zur psychologischen Aesthetik 64 imitatio auctorum 5 Intertextualität 2 , 6 , 8 , 10 , 12 , 17 , 20 , 160 , 193 , 206–207 Irland 222 , 225–226 Italien 14 , 153 , 164 , 227 italienisch 28 Itinerarium septentrionale 29 Ivanhoe 220 , 222 , 231 , 233 , 236 Jacobi , Friedrich 137 , 140 Jacobsen , Friedrich Johann 212 Jakob , Ludwig Heinrich 82 Jena 11 , 61 , 194 , 234 Jerusalem , Johann Friedrich Wilhelm 8 , 91 Jones , William 64 Joseph II. 67 , 148 Jungmann , Josef 58–61 Kames.  Siehe Home , Henry Kanonisierung 13 Kant , Immanuel 18 , 20 , 61–63 , 65–68 , 74–75 , 79 , 81 , 83–84 , 90 , 92 , 95 , 116 , 141 , 203–204 , 212 Kassel 16 Kästner , Abraham Gotthelf 32 Katharina II. 114 , 124 Keats , John 202 , 205 Kenilworth 4 King Lear 9 , 48 , 177 , 184–187 , 191 Klassizismus 42 , 174 , 205 , 213 , 228 Klopstock , Friedrich Gottlieb 2 , 10–11 , 33 , 114 , 178 Klotz , Christian Adolf 114 Königsberg 13–14 , 19 , 84 , 92 , 113–114 , 116 , 221

242 

 Register

Konkurrenz 11 , 127–129 , 137 , 143 Kopenhagen 31 Kotzebue , August von 20 Kritik der Urteilskraft 62 , 75 , 79 , 92 Kritik des Geschmacks 92 Lamb , Caroline 207 La Mettrie , Julien Offray de 50 Laokoon 115 La Roche , Sophie von 1 , 33 , 123 , 155 , 159–164 , 168 lateinisch 15 , 29–31 , 138 , 173 Lavater , Johann Kaspar 17 , 153–155 , 157–158 , 166–169 Lebensgeschichte Tobias Knauts 20 Lectures on Rhetoric and Belles Lettres 68 Lehrbuch der Wissenschaftskunde 52 , 92 Leibniz , Gottfried Wilhelm 15–16 , 39 , 58 , 117 Leipzig 3 , 10 , 16 , 21–22 , 24 , 26–28 , 30–33 , 35 , 54–55 , 58 , 66 , 94 , 219 , 221 Lenz , Jakob Michael Reinhold 18 , 20 , 113–125 , 163 Lessing , Gotthold Ephraim 3 , 9–10 , 16 , 23 , 33–34 , 37 , 39–46 , 49–52 , 58 , 71 , 77 , 79 , 83 , 102 , 114–115 , 171–172 , 203 L’Estrange , Roger 45 Lichtenberg , Georg Christoph 1 , 9 , 15 , 17 , 76–78 , 86 , 140–141, 143 , 147 , 157 Literaturtransfer 3 , 6–8 , 10–11 , 13–14 , 17 , 20 , 22 , 93 , 95 , 112 , 127 , 206 Locke , John 15 , 29 , 59 ,  63 , 69 , 82 , 94 London 8–9 , 11 , 16–18 , 23 , 29 , 34 , 122 , 128 , 130 , 153 , 156–157 , 160 , 164–165 , 167–168 , 173 , 227–230 Long , Jonathan 150 Lovejoy , Arthur J. 205 Love’s Labour’s Lost 119 Luzac , Elie 34 Mainz 150 Mandeville , Bernard 40 Manfred 206 Mann , Thomas 139 Maria Theresia 19 , 54 , 67–68 Mattheson , Johann 11 , 32 , 41 Mayer , Tobias 15 McGann , Jerome 209 Mecklenburg 233 Meinert , Joseph Georg 61–62 Meinhard , Johann Nicolaus 8 , 71 , 75 , 78–83 Meißner , August Gottlieb 53 , 58–62 , 69

Melancholie 210–212 Mendelssohn , Moses 9 , 54 , 74 , 77 , 87 , 90 Meyer , Friedrich Ludwig Wilhelm 137 Michaelis , Johann David 32 , 41 Milton , John 2 , 8 , 10–11 , 27 , 49 , 51 , 58 , 65 , 79 , 113 Miss Sara Sampson 41 Montesquieu 98 , 107–108 , 110–111 Moog , Willy 39 More , Hannah 17 Moritz , Dorothea Henriette 178 Moritz , Johann Gottlieb 178 Moritz , Karl Philipp 1 , 22 , 51 , 72 , 90 , 155–159 , 163–166 , 168 , 171–190 Möser , Justus 1 , 153 Müller , Anton 53 , 64–65 Müller , Gottfried Ephraim 56 Müller , Johannes 150 München 6 Musäus , Johann Karl August 50 , 169 Musik 58 , 72 , 89 Nachahmung 73 , 90 , 158 , 172 , 179 Napoleon 207 , 217–218 , 221 Nationalcharakter 148 , 154–155 , 165–167 Nationalliteratur 6–7 Nationalstaat 218 , 224 , 236 Natur 30 , 45 , 48 , 56–57 , 63 , 84 , 94 , 96 , 100 , 103 , 132 , 144 , 173–174 , 179 , 185–187 , 193 , 196 , 213 , 228 Natürlichkeit.  Siehe Natur Natur und Ursachen des Volkswohlstandes 30 Neoklassizismus 19 , 59 , 66 , 205 Netzwerk 1 , 6 , 12 , 17 , 19–20 , 31 Nicolai , Christoph Friedrich 11 , 14 , 20 , 23 , 116 , 123 Nietzsche , Friedrich 201 Night-Thoughts 6 , 18 Novalis 6 Novikov , Nikolay 124 Oper 72 , 165 , 202 Oriental Tales 206–208 Öser , Fredericke 194 Ossian 2 , 16 , 53 , 58 , 65 Othello 187 , 189 , 190 Oxford 29 Palacký , František 53 Pamela 32–33 , 37 , 42 Pandämonium Germanikum 118 Paradise Lost 8 , 10 , 27

Register 

Paris 31 Percy , Thomas 16 Pfaller , Robert 12 Philological inquiries 28 Philologie 28 , 65 Physiognomik 17 , 154–155 , 157–158 , 162–163 , 168–169 Physiognomische Fragmente 154 , 166 , 169 Physiognomische Reisen 169 Physiologie 89 , 91 Pindar 10 Platner , Ernst 58 Platon 211 Plautus 123 Poetik 58–60 , 72 , 80 , 88 , 143 , 156 , 160 , 212 , 218 , 232–233 Pointner , Frank Erik 201–202 , 206–207 Polidori , John 207 , 210 , 215 Pope , Alexander 1–2 , 9 , 11 , 15 , 20 , 27–28 , 56–58 , 64 , 66 , 70 , 74–75 , 113–125 , 160 , 173 , 205 , 212 Portugal 207 Prag 13 , 19 , 53–54 , 57–58 , 61–67 , 69 Preußen 6 , 8 , 11 , 23 , 26 , 223–224 , 231 , 234 Pringle , Sir John 16 Protestantismus 1 , 8 , 11 , 55 , 117 Pseudo-Longinus 212 Psychologie 77 , 89 Pückler-Muskau , Hermann von 6 , 160 , 217 , 219 , 224–230 , 233 Pufendorf , Samuel von 15 Quintero , Ruben 120 Quintilian 60 Raleigh , Walter 82 Ramler , Karl Wilhelm 116 , 123 Rape of the Lock 114–115 Raspe , Rudolf Erich 16 Realismus 69 , 161 , 169 , 221 , 227 , 230 , 232 , 234 Reich , Philipp Erasmus 3 , 21–30 , 32–38 Reisebericht 16 , 127–131 , 133–136 , 146–147 , 154–155 , 157 , 160 , 163 , 166 , 168 , 173 , 226 Reise durch Kleinasien 30 Reiseliteratur 106 , 127 , 143 , 154 Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782 155–157 , 172–173 , 174–175 Religion 39 , 47 , 55 , 87 , 89 , 102 , 104 , 114 , 118 , 146 , 167 , 211 Rhetorik 55 , 57–59 , 72 , 88

 243

Richardson , Samuel 1 , 3 , 9 , 11 , 20–22 , 27 , 32–34 , 37 , 39–52 , 55 , 113 Riedel , Friedrich Just 76–78 , 80 , 86 , 114 Rivalität 5 , 12 , 128–129 , 147 Robertson , William 31 , 35 , 94 Robinson Crusoe 11 , 20 , 93 , 100 , 102 , 104 , 112 Rokeby 229 Rollin , Charles 54 Romantik 1 , 5 , 46 , 62 , 90 , 201–206 , 208 , 213 Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St** 159 Rousseau , Jean-Jacques 31 , 93 , 96 , 105 , 141 Ruhe ist die erste Bürgerpflicht 221–223 , 234 Sachsen 10 , 24–26 , 28 , 30 , 222 , 224–225 , 229 , 233–236 Satire 113–125 , 169 , 203 , 220 Schabert , Ina 50 , 171 , 204 Schelling , Friedrich 203 Scherr , Johannes 201 Scheuer , Helmut 137 Schiller , Friedrich 7–8 , 61 , 63 , 74 , 90 , 92 , 94 Schiller , Johann Friedrich 30 , 35–36 Schlegel , August Wilhelm 7 , 11 , 194 Schlegel , Friedrich 205 Schlegel , Johann Adolf 32 , 91 Schmid , Christian Heinrich 80 Schmidt , Erich 40 , 116 Schottland 8 , 12 , 15 , 19 , 29 , 60 , 73 , 75 , 83–84 , 86 , 89 , 91–92 , 94–95 , 108–110 , 201 , 217–218 , 223 , 225–229 , 232–236 Schreiter , Karl Gottfried 59 Schütz , Friedrich Wilhelm von 5 , 153 , 155 , 165–169 Scott , Walter 3–4 , 6 , 65 , 160 , 180 , 201 , 217–224 , 226–236 Seele 18 , 60 , 76 , 78–82 , 84 , 91 , 147 , 157–158 , 160 , 162–163 , 175–176 , 179–180 , 189 , 210 , 215 , 226 Seibt , Karl Heinrich 54–58 , 66 , 70 Sensualismus 83 , 89–91 Sentimental Journey 11 , 33 , 168 Shaftesbury , Earl of 19 , 39–40 , 55 , 57–59 , 66 , 79 , 83 , 90 Shakespeare , William 2–4 , 6–5, 7 , 9 , 11–12, 29 , 49 , 58 , 64–65, 70–71, 80 , 113–114, 118–119, 171–191 , 193–195 , 197 , 199 , 201 , 211 Shelley , Percy Bysshe 202 , 205 , 214 Siebenjähriger Krieg 3 , 9 , 26

244 

 Register

Smith , Adam 12 , 20 , 30 , 86–87, 89 , 93–106 , 110 Smollett , Tobias 50 Sokrates 120 Southey , Robert 203 Spanien 75 , 105 , 207 Steele , Richard 1 Sterne , Laurence 11 , 20 , 33 , 65 , 94 , 113 , 118 , 168 Stockholm 23 , 31 Stoker , Bram 215 Straßburg 116 , 119 Stratford-upon-Avon 173–175 Sturz , Helfrich Peter 153 Sudelbücher 76 Sulzer , Johann Georg 34 , 67 , 74 , 77 , 80 , 86–87 , 90 Swift , Jonathan 11 , 49 , 58 , 63 , 94 , 114 , 121 , 123 Sydney , Lady Morgan 224 Tagebuch einer Reise durch Holland und England 159–161 , 163 The Beggar’s Opera 121 The Bride of Lammermoor 219 The Dunciad 124 The Fair Maid of Perth 229 , 233 The History of the Decline and Fall of the Roman Empire 35 Theologie.  Siehe Religion Theorie der schönen Künste und Wissenschaften 67 , 77 Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften 71–72 , 74–75 The Seasons 11 The Tempest 173 , 177 , 187 , 193–200 The Vampyre 207 Thomson , James 2–3 , 11 , 29 , 113–114 , 160 Thümmel , Moritz August von 77 Thüringen 233–235 Tibull 10 Tieck , Ludwig 11 , 123 , 194 Todorov , Tzvetan 198 Tompson , John 8 Transkulturalität 7 Trattner , Johann Thomas von 25–26 Treatise of Human Nature 82 Tristram Shandy 20 , 118 tschechisch 53 , 58 , 65 Über die Bearbeitung der deutschen Sprache 120

Übersetzer 4 , 7–8 , 10 , 13 , 17–18 , 24 , 32–34 , 36 , 42 , 46 , 51–52 , 71 , 79 , 130 , 150 , 221 Übersetzung 1 , 3–4 , 6–8 , 10–13 , 15–18 , 21–22 , 26 , 28–42 , 44 , 49–52 , 55–60 , 62 , 64 , 71–72 , 75 , 79–83 , 85–87 , 93–94 , 113 , 116 , 119 , 121–123 , 130 , 136–137 , 141 , 143 , 151 , 172 , 181 , 189 , 206–207 , 220 Vandenhoeck , Abraham 33 Venus and Adonis 64 Vergil 10 Victoria 231–234 Vierstufentheorie 20 , 93–95 , 97 , 100 , 103 , 112 Vischer , Ludwig 11 Volksliedersammlung 16 , 181 Vollpracht , Friedrich Adolf 129 , 136 Vorlesungen über Aesthetik 62–64 Vorlesungen über Rhetorik und schöne Literatur 59 Walladmor 219–221 Watt , Ian 37 Waverley 6 , 218–223 , 226 , 228–229 , 231–233 , 235–236 Waverley Novels 218 , 221 , 226 , 228 , 231–232 , 236 Wealth of Nations 86–87 , 94 , 96 , 100 , 110 Webb , Daniel 72 Weidmann , Moritz Georg 22–24 , 26 , 28–29 , 31 Weidmann’sche Buchhandlung 22 , 27 , 29–30 , 35 Weidmanns Erben und Reich 23 , 28 , 31 , 35 , 37 Weimar 5–6 , 8 , 11 , 15 , 19 , 193–194 , 226 Weimarer Klassik 5 Weiße , Christian Felix 34 , 58 , 66 Wellek , René 204–205 Weltliteratur 6–7 , 75 Weltumsegelung 127–128 , 130–136 , 143–144 , 146–147 Wendler , Johann 27 Weygand , Johann Friedrich 35 Wezel , Johann Karl 20 , 93–96 , 98–104 , 106–112 Wieland , Christoph Martin 6–7 , 11 , 20 , 33 , 77 , 80 , 119–120 , 159 , 172 , 181 , 183 , 194 Wien 18 , 26 , 58 , 66–69 , 155 , 224 Wilhelm I. 231–232 Winckelmann , Johann Joachim 54 Wittenberg 58 , 180 , 182 Wolfenbüttel 8 , 9 , 71 Woodstock 219 , 227 , 229 , 231

Register 

Wordsworth , Dorothy 10 Wordsworth , William 10 , 202–203 , 205 , 208 , 210 , 214 , 221 Wurmb , Friedrich Ludwig von 26 Würzburg 15 Young , Edward 2 , 6 , 8 , 11 , 49 , 63 , 114

 245

Zachariae , Justus Friedrich Wilhelm 8 , 9 , 79 Zensur 38 Zschokke , Heinrich 64 Zum Schäkespears Tag 171 , 174 Zürich 8 , 13 , 17 , 23