Briefwechsel 1951 bis 1983 [1 ed.] 9783428589333, 9783428189335

Carl Schmitt hatte, ungeachtet seiner Verbannung aus der akademischen Lehre 1945, bis ins hohe Alter einen großen inform

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Briefwechsel 1951 bis 1983 [1 ed.]
 9783428589333, 9783428189335

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Carl Schmitt / Roman Schnur Briefwechsel 1951 bis 1983

Carl Schmitt / Roman Schnur

Briefwechsel 1951 bis 1983 Herausgegeben von Martin Tielke

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlag: Carl Schmitt und Roman Schnur 1957/1960 (© siehe Abb. 4 und 7 im Text) Alle Rechte vorbehalten

© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-428-18933-5 (Print) ISBN 978-3-428-58933-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Briefwechsel 35 Verzeichnis der Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737 Verzeichnis fehlender Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 Abkürzungen .  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754 Abgekürzt zitierte Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756

Anhang 761

Editorisches Nachwort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 Abbildungen und Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785

Einführung Roman Schnur wurde 1927 in Merzig im Saarland geboren. Den Schul­ besuch unterbrach im Sommer 1943 die Verpflichtung zum Flakhelfer. Ab dem Sommer 1944 leistete Schnur Arbeitsdienst, der die Rekrutenausbildung einschloss. Im Dezember 1944 kam er zur Marine; sein Jahrgang war der letzte, der noch zum Kriegsdienst einberufen wurde. Im April 1945 geriet er in Dänemark in britische Gefangenschaft. Aus ihr flüchtete er im Dezem­ ber 1945 und setzte seine Schulzeit am Realgymnasium in Dillingen fort, wo er 1947 das Abitur ablegte. Zum Wintersemester dieses Jahres schrieb er sich an der Universität Mainz für das Studium der Rechte ein. Die Erste juristi­ sche Staatsprüfung bestand Schnur im August 1951, um dann das Referenda­ riat anzutreten. 1952 verbrachte er einen dreimonatigen Studienaufenthalt in Paris zur Vorbereitung seiner Dissertation über den „Rheinbund von 1658 in der deutschen Verfassungsgeschichte“. Mit dieser Arbeit wurde er im Früh­ jahr des folgenden Jahres von dem Rechtshistoriker Karl Siegfried Bader, der inzwischen von Mainz nach Basel gewechselt war, zum Dr. jur. promoviert. Nach dem Referendariat legte Schnur die Zweite Staatsprüfung im Januar 1955 ab. Anschließend verbrachte er mit Hilfe eines Habilitationsstipendiums der DFG fünf Monate in Paris, um sich dem Studium der französischen Juristen des 16. Jahrhunderts zu widmen. Im August 1955 trat er in den Dienst der inneren Verwaltung des Landes Rheinland-Pfalz ein, wo er praktische Erfah­ rungen in der staatlichen Verwaltung sammelte. 1956 wurde Schnur an die Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer abgeordnet, wo er drei Jahre später Assistent von Professor Carl Hermann Ule wurde. Die Ernen­ nung zum Regierungsrat erfolgte im April 1961. Im November dieses Jahres habilitierte er sich bei Ernst Forsthoff in Heidelberg für das Fach „Öffentli­ ches Recht“. Die Habilitationsschrift handelte nicht, wie ursprünglich beab­ sichtigt und in Paris schon aus den Quellen erarbeitet, über die französischen Juristen des 16. Jahrhunderts, sondern hatte ein rechtsdogmatisches Thema: „Studien zum Begriff des Gesetzes“. Anschließend hielt Schnur Vorlesungen in Speyer und als Gastprofessor in Heidelberg und Saarbrücken. Im Novem­ ber 1963 wurde er als Generalsekretär des Landes für die Verwaltungsverein­ fachung wieder in die Staatskanzlei des Landes Rheinland-Pfalz versetzt. Hier erwarb Schnur sich einen Ruf als exzellenter Verwaltungsfachmann. Daneben hielt er 1964 und 1965 Vorlesungen und Übungen an der Universi­ tät Lausanne.

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Zum Wintersemester 1965 berief ihn die Ruhr-Universität Bochum in ein Ordinariat für „Politische Wissenschaft“ mit der Maßgabe, gemeinsam mit Verwaltungspraktikern einen neuen sozialwissenschaftlichen, verwaltungsori­ entierten Studiengang zu entwerfen. Das konnte er jedoch nicht durchsetzen, weshalb er 1968 nach Speyer auf einen Lehrstuhl für Vergleichende Verwal­ tungswissenschaft und Öffentliches Recht wechselte. Unzufrieden mit der unsicheren Situation der Speyerer Hochschule,1 folgte Schnur 1972 dann dem Ruf auf einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Verwaltungslehre an der Universität Tübingen, nachdem er Augsburg abge­ lehnt hatte; ein Ruf nach Köln kam zu spät. In Tübingen blieb er bis zu sei­ ner Emeritierung 1993. Als Tübinger Ordinarius knüpfte er schon bald Kon­ takte zu Kollegen in osteuropäischen bzw. – wie Schnur betonte: mitteleuro­ päischen – Ländern, vor allem in Polen. Er organisierte viele gemeinsame Veranstaltungen und den Austausch von jüngeren Wissenschaftlern, wofür ihm die Universität Warschau 1991 den Ehrendoktor verlieh. Außerdem ehr­ te ihn Polen mit dem goldenen Kreuz des polnischen Verdienstordens. Un­ garn verlieh ihm den Orden „Pro Cultura Hungarica“ und Deutschland das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Dafür, dass alle diese Ehrungen erst kamen, als Schnurs akademische Karriere fast beendet war, hatte der Freund Arnold Gehlen schon frühzeitig eine Erklärung, als er Schnur schrieb: „jemand, der so ausgefallene und ungewöhnliche Einsichten hat wie Sie, kann auf schnel­ len Erfolg nicht rechnen. […] und Sie werden nicht umhin können, das lite­ rarisch hundertfach belegte schwierige Leben dessen zu führen, der tiefer sieht als andere.“2 Frühe Prägung durch Carl Schmitt Neben den ausgefallenen und ungewöhnlichen Einsichten gab es noch ei­ nen weiteren, wohl schwerwiegenderen Grund für die Hemmnisse und Hür­ den, die sich der akademischen Karriere Schnurs entgegenstellten. Sie lassen sich in einem Namen zusammenfassen: Carl Schmitt. Noch bevor Schnur sich an der Universität immatrikulierte, war er auf Schmitt gestoßen. Sein Vetter Ernst Schilly, der Schmitt 1943 während eines Bombenangriffs im Luftschutzkeller der Berliner Staatsbibliothek kennengelernt hatte, empfahl dem Abiturienten zur Vorbereitung seines Studiums die Lektüre von Schmitts „Verfassungslehre“. Das Buch hatte eine nachhaltige, Weichen stellende Wir­ 1  „Die Hochschule hat m. E. in den letzten Jahren zu viel Zeit verloren, um die Bedrohungen von außen auffangen zu können – nun wollte ich mich einmal in Si­ cherheit bringen.“ Die juristische Fakultät in Tübingen sei „eine unserer besten“, wo „ ‚Leistung‘ noch ein positiv bewerteter Begriff ist“. Schnur an Gehlen vom 16. Apr. 1972, BArch N 1472/147. 2  Gehlen an Schnur vom 26. Juli 1962, BArch N 1472/147.

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kung auf den Studienanfänger: „Hier konnte ich Zugang zum Staatsrecht über die Geschichte gewinnen, aber auch früh erkennen, welche Bedeutung Frankreich für das gemeineuropäische Staatsrecht zukommt.“3 Schon für den Abiturienten waren damit die beiden Ecksteine seines wissenschaftlichen Lebens vorgegeben: das Bewusstsein von der Geschichtlichkeit allen Rechts und die intensive Beschäftigung mit der französischen Rechtsgeschichte; beides bei deutschen Juristen eher selten anzutreffen. Wie für manchen Schü­ ler Schmitts (etwa Ernst Rudolf Huber oder Ernst Forsthoff) war die Begeg­ nung mit diesem Lehrer auch für den informellen Enkelschüler Schnur eine Offenbarung und eine Initiation in das Wesen des Rechts. Sie führte dazu, dass er – von einer Unterbrechung zwischen 1966 und 1972 abgesehen – eine jahrzehntelange intensive Korrespondenz mit dem Meister führte, dem er lebenslang die Treue halten sollte; darin dem drei Jahre jüngeren ErnstWolfgang Böckenförde vergleichbar. Noch als Student schrieb Schnur am 17. Januar 1951 seinen ersten Brief an Schmitt, den er mit den Worten schließt: „Ich entbiete Ihnen mit Hoch­ achtung die Grüße eines dankbaren Schülers, der ich seit etwa 1948 bin.“ Zehn Jahre später, am 16. November 1961, versichert er Schmitt erneut, „dass ich durch Ihre Arbeiten überhaupt erst auf den Weg gekommen bin“. Und noch am Ende der langen Korrespondenz, im Brief vom 5. Juli 1981, dankt Schnur dafür, dass ihm von Schmitt die Richtung und der Maßstab für sein Studium wie für seine ganze spätere wissenschaftliche Laufbahn vorge­ geben worden sei. Von allen Juristen, schreibt er schon 1953, stehe ihm Schmitt doch am nächsten (Nr. 49). An diesen Maßstab reichten seine Lehrer in Mainz, die Professoren Schätzel, Armbruster und von der Heydte, nicht heran. Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kommende Student Schnur, der mit seinen knappen Geldmitteln scharf kalkulieren musste, ärgerte sich: „Ich habe einige hundert Mark für Vorlesungen bezahlt, die mir nicht viel eingebracht haben.“ (Nr. 2). So ist es kein Zufall, dass Schnur sich von Mainzer Professoren weder promovieren noch habilitieren ließ. Zwei Denkkollektive: Rudolf Smend vs. Carl Schmitt Durch seine offene Orientierung an Schmitt begab Schnur sich bewusst in eine Frontstellung. In den fünfziger und sechziger Jahren war das Feld des Öffentlichen Rechts, insbesondere des Staatsrechts, in der Bundesrepublik durch zwei sich ziemlich unversöhnlich gegenüberstehende „Denkkollektive“ (Günther) gekennzeichnet, deren Häupter auf der einen Seite Rudolf Smend, auf der anderen Carl Schmitt waren. Obgleich Schmitt den Staat historisch definierte, nämlich gebunden an die vom 16. bis ins 20. Jahrhundert reichen­ 3  So

Schnur in: Frankreich, S. 7.

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de Epoche des Jus Publicum Europaeum, und schon 1941 meinte, dass diese Epoche ihrem Ende entgegengehe, blieb der Staat für ihn doch als entschei­ dungsfähige und -befugte Ordnungsmacht unverzichtbar.4 Rudolf Smend war wie Schmitt skeptisch gegenüber der traditionellen Auffassung vom Staat als einer geschlossenen politischen Einheit und schrieb ebenso sein Hauptwerk bewusst nicht als Staats-, sondern als Verfassungslehre, die er 1928 zeitgleich und in Konkurrenz zu Schmitt veröffentlichte. Damit propagierte er unter dem Eindruck wachsender Bedeutung von sich politisierenden gesellschaft­ lichen Kräften und einem kontinuierlichen Schwächerwerden des Staates ei­ ne „Integrationslehre“. Ihm ging es darum, den dynamischen Lebensprozess eines Volkes durch die Verfassung im Staat je neu zu einer Einheit zu ordnen. Indem Smend dabei die Einsicht und den guten Willen der nichtstaatlichen Akteure voraussetzt, ist sein Staatsverständnis harmonistisch. Schmitt wollte die Bedeutung des Integrationsbegriffs nicht leugnen, meinte jedoch, dass Integrierung noch keinen Staat begründet, denn: „Sein Wesen liegt darin, dass er die politische Entscheidung trifft“.5 Er hatte einen nüchternen Blick auf die Gesellschaft und sah, dass deren politische Realität mit den Begriffen „Pluralismus“ und „Lebensprozess“ nicht hinreichend beschrieben und die Liebe zur Verfassung eine doch ziemlich abstrakte Liebe ist. Gesellschaft­ liche Gruppen, die sich politisieren, entwickeln Antagonismen, auf die der Begriff „Konflikt“ besser zutrifft. Nicht alle politischen Konflikte aber lassen sich in Harmonie auflösen; es gibt den Ausnahmefall, der die Dezision der staatlichen Macht verlangt. Nach der katastrophischen Erfahrung von Diktatur und Weltkrieg entsprach die Integrationslehre Smends einem in der jungen Bundesrepublik verbreite­ ten Bedürfnis und fand große Zustimmung, wogegen die Schmittianer ein kleiner Kreis blieben, der sich in der Defensive sah. Verschärft wurde das durch die sogenannte Vergangenheitsbewältigung. Während Schmitt und manche seiner berühmten Schüler (Ernst Forsthoff, Ernst-Rudolf Huber, Werner Weber) nach 1945 durch Mitarbeit im NS-Staat kompromittiert wa­ ren und nur unter Schwierigkeiten und mit Verzögerung an der Universität wieder Fuß fassen konnten, war Smend von derartigen Hypotheken unbelas­ tet. Er konnte seinen Göttinger Lehrstuhl ohne Unterbrechung behalten, wurde hier sogar erster Nachkriegsrektor. Für die Entfaltung seiner Lehre waren damit, zumal in der harmoniebedürftigen deutschen Nachkriegsgesell­ schaft, beste Voraussetzungen gegeben. Integration wurde „geradezu zum Modewort“.6 4  1958 sagt Schmitt mit Blick auf „Pluralisierung“ und „Integrierung“, dass er „sich nicht so schnell an einer Liquidierung der Reste des überkommenen Staates beteiligen“ werde, VA, S. 385. 5  VL, S. 134 (Kursivierung im Original). 6  Günther, S. 188.

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Carl Schmitt hingegen, der sich in den ersten Jahren des NS-Staates mit hektischen Publikationen für diesen stark gemacht und bis 1936 hohe berufs­ ständische Ämter bekleidet hatte, war als „Nazi“ kompromittiert. Statt Ordi­ narius und Rektor einer Universität zu sein, saß er als Bête noire im Sauer­ land und leckte seine Wunden. Er verschlimmerte seine Lage noch, indem er jedes öffentliche Schuldbekenntnis ablehnte und sich auch einem Spruch­ kammerverfahren verweigerte.7 Seine Schuld war nicht justiziabel, was auch der Ankläger in den Nürnberger Prozessen 1947 für Schmitt sozusagen amt­ lich festgestellt hat.8 Schuld und Sühne waren für den Katholiken Schmitt keine Begriffe der gerichtlichen Forensik und lassen sich nicht positivistisch übersetzen in Verbrechen und Strafe, sondern werden unter priesterlichem Siegel verhandelt: „Wer beichten will, gehe hin und zeige sich dem Priester“, sagt Schmitt.9 Als ihn Kempner im Nürnberger Verhör fragte, ob er sich wegen gewisser NS-Schriften nicht „schäme“, antwortete er knapp: „Es ist schauerlich, sicher. Es gibt kein Wort darüber zu reden.“10 Durch diese Dis­ kussionsverweigerung und geradezu demonstrative öffentliche Unbußfertig­ keit war ihm nicht nur die Rückkehr an die Universität versperrt; seine Lehre galt auch als schwer diskreditiert. Nur mühsam konnte sie sich davon erholen. Die Bemühungen Schmitts um ein Comeback begannen 1950 mit gleich vier monographischen Veröffentlichungen und einem Werbeprospekt des Kölner Verlags Greven. Sie fielen also gerade in die Zeit, in der die Bekannt­ schaft mit Schnur begann. Das ist nicht unwichtig, denn vielleicht mehr noch als die eigentlichen Schüler waren für ein Revival Schmitts die Enkelschüler entscheidend, die dank der Gnade der späten Geburt ganz unbelastet waren und Schmitt gegenüber unbefangener. In der „Sicherheit des Schweigens“ hat Schmitt aus seinem sauerländischen Rückzugsort („San Casciano“) he­ raus ein weitgespanntes Netzwerk geknüpft und eine große Schar von infor­ 7  Das Spruchkammerverfahren, dem er sich am 27. Juni 1946 in Berlin unterzog, war die erzwungene Bedingung seiner Entlassung aus amerikanischer Haft. Die deut­ sche Spruchkammer empfahl übrigens einstimmig seine Entlassung. Landesarchiv Berlin, C Rep. 031-02-19-Nr. 161; vgl. BW Duschka, S. 28. 8  „Wegen was hätte ich den Mann anklagen sollen?“, sagte Robert M. W. Kempner auf die Frage, warum er Schmitt nicht angeklagt hat. „Er hat keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, keine Kriegsgefangenen getötet und hat keine Angriffs­ kriege vorbereitet.“ Zit. nach Claus-Dietrich Wieland, Carl Schmitt in Nürnberg (1947), in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 2, 1987, S. 105. 9  ECS, S. 76. Was das öffentliche Bekennen von Schuld angeht, hielt Schmitt es mit Nicolás Gómez Dávila: „Wer öffentlich beichtet sucht nicht Lossprechung, son­ dern Zustimmung.“ 10  Carl Schmitt, Antworten in Nürnberg. Hrsg. und komm. von Helmut Quaritsch, Berlin 2000, S. 66.

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mellen Schülern an sich gebunden. Dieser Kreis war durchaus heterogen und die Nähe zu Schmitt variierte. Roman Schnur war einer der loyalsten unter den Schülern der Enkelgeneration. Carl Schmitt war für ihn nicht, wie für den zurückhaltenden Ernst-Wolfgang Böckenförde, ein „heimlicher Lehrer“;11 er versteckte seine Verehrung keineswegs. Da er zudem ein Freund der offe­ nen Aussprache war und obendrein noch zum Sarkasmus neigte, blieb er ein Außenseiter seines Fachs. Auch fand er Vergnügen am épater le bourgeois, was er beispielweise während einer Zugfahrt im Verein mit dem gleich ver­ anlagten Hans Barion gegenüber Mitreisenden praktizierte und mit diebischer Freude an Schmitt berichtete (Nr. 353). Er wusste, was er konnte und hatte ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein: „Was die Kollegen sagen werden, ist mir völlig gleichgültig“ (Nr. 323). Die ostinaten Mahnungen aus Plettenberg, doch im Interesse seiner Karriere den Namen Carl Schmitt bitte nicht zu nennen, hat Schnur beharrlich ignoriert. Schon in seinen frühesten Arbeiten erweist er Schmitt offen seine Reverenz und hatte damit, wie Böckenförde über den Assistenten Schnur sagte: „Mut auch vor den Königsthronen der derzeitigen Lehrstuhlbesitzer“.12 Der Beginn der Korrespondenz Auslöser für die Korrespondenz wie dann auch die persönliche Begegnung mit Schmitt war 1950 das Erscheinen des „Nomos der Erde“. Der überwälti­ gende Eindruck dieses Buches bewegte Schnur zu einem ersten kurzen Brief an den Autor, mit dem er ihm seine Dienste anbot. Schnur hatte nämlich festgestellt, dass Schmitt in einer Fußnote des „Nomos“ einen in Mexiko erschienenen Titel zitiert mit dem Vermerk, dass dieser ihm nicht zugänglich gewesen sei. Dem könne er abhelfen, da er über seinen Vetter Ernst Schilly Beziehungen nach Paris habe. An einem derartigen Angebot musste Schmitt höchst interessiert sein, da es in Plettenberg weit und breit keine wissen­ schaftliche Buchhandlung gab, die ausländische Literatur hätte beschaffen können. Sein Antwortbrief, der leider nicht überliefert ist, muss sehr positiv gewesen sein; Schmitt schlug sogar gleich ein persönliches Treffen vor. Schnurs Studienort begünstigte dieses Kennenlernen, denn Schmitt hatte Beziehungen nach Mainz. Hier war sein alter Freund Arnold Schmitz Profes­ sor für Musikwissenschaft, und hier war seit 1950 auch der Kirchenhistoriker Joseph Lortz Ordinarius und Direktor des Instituts für Europäische Geschich­ te, in dem Schmitt seine im Sommer 1952 von den Amerikanern freigegebe­ 11  Böckenförde sandte Schmitt seine zweite, historische Dissertation 1961 mit der Widmung: „Herrn Professor Carl Schmitt, dem heimlichen Lehrer, in Verehrung und Dankbarkeit“; BW Böckenförde, S. 713. 12  BW Böckenförde, S. 207.

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ne Bibliothek vorübergehend unterbringen konnte (aus der Schnur dann auch Bücher entlieh). So kam es am 9. April 1951 zu einem ersten Treffen des Studenten Schnur – er stand kurz vor dem Examen – mit Schmitt, der ihm ein Widmungsexemplar von „Land und Meer“ überreichte (Nr. 427). Bei aller Verehrung, die Schnur in seinen den Konventionen der Zeit fol­ genden Briefen an Schmitt äußert, war er keineswegs subaltern und scheute sich nicht, den Meister zu kritisieren. So kündigt er ihm schon 1951 kritische Bemerkungen zum „Nomos“ an (Nr. 10) und weist Schmitt darauf hin, dass er es versäumt habe, in diesem Buch die völkerrechtlichen Ideen der Franzö­ sischen Revolution darzustellen (Nr. 66), oder wenn er klarstellt, dass der diskriminierende Kriegsbegriff bereits in der Französischen Revolution vor­ kommt, was Schmitt übersehen habe (Nr. 282).13 Diese Kritik konnte aber die Verständigung nicht stören. Schmitt akzeptierte sie nicht nur, er sah in Schnurs Aufsätzen auch eine „glänzende Weiterführung“ seiner eigenen Ar­ beiten (Nr. 213). Dass das Verhältnis auf Anhieb so gut war, hatte auch eine landsmannschaftliche Seite, nämlich den gemeinsamen französischen Hinter­ grund. Roman Schnur kam aus dem äußersten Westen Deutschlands, einem Ort hart an der französischen Grenze. Das Saarland war, obwohl deutsch­ sprachig, wie nach dem Ersten Weltkrieg so auch nach dem Zweiten ein Ziel französischer Annexion. Seit 1947 war es französisches Hochkommissariat – Schnur scheut dafür nicht das Wort „Terror-Regime“ (Nr. 39) – und wurde erst 1957 völkerrechtlich ein vollgültiger Teil der Bundesrepublik Deutsch­ land. Die gemeinsame Verbundenheit mit Frankreich Schnurs Vorfahren väterlicherseits kamen aus Lothringen. Später erklärte er seinen schwierigen Weg in ein Ordinariat auch damit, dass „Erfolge für jemand aus dem Raum Mosel-Saar-Lothringen viel länger als üblich“ brau­ chen, denn „dieser Raum ist ja auch ein sozusagen prä-national geprägter“. (Nr. 359, 342). Von diesem Hinweis auf die „iconographie régionale“14 zeig­ te sich Schmitt in seinem Antwortbrief vom 26. März 1974 „tief berührt“. In der Tat lag hier eine Gemeinsamkeit; hatte Schmitt doch mütterlicherseits Beziehungen nach Lothringen und war ebenfalls mit diesem „prä-nationalen“ Raum vertraut. Bestärkt wurde diese Gemeinsamkeit, als Schnur mit seinen Forschungen auch geistesgeschichtlich ausgriff und dabei auf den manieristi­ schen Maler Georges de La Tour stieß, der aus dem lothringischen Vic-surSeille stammt, wo Schmitts Vetter lebte, mit dem er seit Kindertagen be­ 13  Zu weiteren „nuancierten pragmatischen Abweichungen“ von Schmitt s. Gün­ ther, S.  150 f. 14  Eine Wortprägung von Schmitt in: SGN, S. 526.

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freundet war, und den er bis ins Alter immer noch besuchte. Er erinnert Schnur an den Zusammenhang von Manierismus und Romantik, worüber er 1921/23 mit Ernst Robert Curtius viele Gespräche geführt habe (Nr. 277). Schmitt wie Schnur haben also die französische Sprache und Kultur gewis­ sermaßen mit der Muttermilch eingesogen und waren dem französischen Denken eng verbunden. Er habe, schreibt Schnur in seinem letzten Brief an Schmitt, „bisweilen das Gefühl, mit den Deutschen wenig gemein zu haben“. Eigentlich wollte Schnur in Bonn, an der traditionellen Universität der Saar­ länder, studieren. Dort aber hätte er erstmal ein Semester bei der Trümmer­ beseitigung helfen müssen, weshalb er es vorzog, nach Mainz zu gehen, wo es eine derartige Regelung nicht gab. Mainz kam ihm auch insofern gelegen, als die französische Besatzungsmacht die Universität gut mit französischen Büchern, auch solchen der Jurisprudenz, ausgestattet hatte. Hier konnte er die französischen Autoren, auf die Schmitt in seiner Verfassungslehre hin­ wies, lesen. Frankreich hat eine viel ältere und andere nationalstaatliche Tradition als Deutschland; das staatstheoretische Denken entwickelte sich daher auch sehr verschieden von dem deutschen. Konnte Rousseau noch von der Einheit von Staat und Gesellschaft ausgehen, so traten beide mit der industriellen Ent­ wicklung auseinander. Die allgemeine Gültigkeit der vom Parlament be­ schlossenen Gesetze, die darin gründete, dass das Parlament die volonté gé­ nérale repräsentierte, war im 19. Jahrhundert in Frankreich nicht mehr gege­ ben. Der von der Macht ausgeschlossene Vierte Stand organisierte sich in Gewerkschaften. Die zugehörige Theorie war der Syndikalismus, der in Frankreich an die Stelle des Marxismus trat und dem Staat und seinen Geset­ zen feindlich gegenüberstand. Der Staat, bis dahin ein reiner Gesetzgebungs­ staat, sah sich jetzt genötigt, die sozial Schwachen durch die „services pub­ lics“ zu unterstützen. Er wurde damit zunehmend ein Verwaltungsstaat mit der Aufgabe der „Daseinsvorsorge“, wie der Terminus dann in der deutschen Rechtswissenschaft lautete. Das hatte Folgen für das französische Öffentliche Recht und insbesondere das Verfassungsdenken. Schmitt hat früh schon diese französische Entwicklung aufmerksam verfolgt und für sein eigenes Denken fruchtbar gemacht. Er war derjenige, der den wichtigsten Theoretiker des Syndikalismus, Georges Sorel, 1923 in Deutschland einführte.15 Damit war der Student Roman Schnur in die Spur gebracht. Ein Aufsatz über die Krise des Begriffs der services publics steht am Beginn seiner Veröffentlichun­ gen.16 15  Carl Schmitt, Die politische Theorie des Mythus, in: PuB, S. 11–21 (zuerst in: Bonner Festgabe für Ernst Zitelmann, München/Berlin 1923). Zuvor schon hatte Schmitt in seiner „Diktatur“ (1921) auf Sorel hingewiesen. 16  Roman Schnur, Die Krise des Begriffs der services publics im französischen Verwaltungsrecht, in: AöR 79, 1953/54, S. 418–430.

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Als Schmittianer war Schnur in Mainz und darüber hinaus isoliert. Das änderte sich, als 1953 der 65. Geburtstag Schmitts auf den Düsseldorfer Rheinterrassen in großem Rahmen gefeiert wurde. Erstmals kam Schnur hier in Kontakt mit einer größeren Zahl von Schmitt-Freunden, erlebte, wie Ernst Forsthoff in seiner Geburtstagsrede die charismatische Faszination Schmitts auf ihn beschrieb, lernte auch Gleichaltrige kennen. Noch 1980 erinnert er sich der „unvergessliche[n] Tage“ dieser Feier (Nr. 426). Als Höhepunkt der Veranstaltung wurde dem Gefeierten eine umfangreiche Festschrift über­ reicht.17 Der jüngste ihrer Beiträger und einzige Nicht-Habilitierte war Ro­ man Schnur, der die Gelegenheit nutzte, einen französischen Denker vorzu­ stellen, auf den er durch Carl Schmitt aufmerksam geworden war: den Juris­ ten und Ideenhistoriker Maxime Leroy.18 Leroy, der seit 1907 in mehreren Büchern die wachsende Bedeutung der services publics und die damit ver­ bundenen Folgen für den Staat dargestellt hat, war – und ist nach wie vor – in Deutschland nahezu unbekannt; kein einziges seiner Bücher ist ins Deut­ sche übersetzt. Doch Schmitt hatte schon 1929 in seinem Vortrag vor der Kant-Gesellschaft auf ihn hingewiesen.19 Leroys Descartes-Buch aus diesem Jahr („Descartes, le philosophe au masque“) wurde für Schmitt wichtig, er zitiert es 1938 im „Leviathan“ und 1947 in „Ex Captivitate Salus“ an jeweils entscheidender Stelle;20 auch dürfte der Begriff des „motorisierten Gesetzge­ bers“ in seinem Vortrag über die „Lage der europäischen Rechtswissenschaft“ (1943) von Leroy inspiriert sein. So hat ihm der Aufsatz Schnurs sehr gefal­ len: „Es ist mir erst bei der Lektüre dieses sachlichen Aufsatzes recht zum Bewusstsein gekommen, mit welcher Dreistigkeit die in Deutschland maßge­ benden Professoren das französische Denken vernachlässigt und ignoriert haben“ (Nr. 65). Schnur ist in seinen frühen Briefen an Schmitt geradezu besessen von Leroy, den er in Paris auch persönlich kennenlernte und immer wieder besuchte. Er machte mehrfach Versuche, ein Treffen Schmitts mit Leroy zu arrangieren, doch die beiden alten Männer verhielten sich unter der Last ihrer Geschichte reserviert (Nr. 28, 84, 85, 103). Durch Schmitt wurde Schnur auf weitere französische Juristen aufmerk­ sam. Auf den in der „Verfassungslehre“ erscheinenden Léon Duguit, auf Mau­ 17  Die Festschrift mit dem Titel „Epirrhosis“ (Stärkung, Ermutigung) blieb unge­ druckt; ein aufwendig gebundenes ms. Exemplar befindet sich im Nl. Schmitt, RW 265–21368. 18  Der Beitrag erschien später im Druck: Roman Schnur, Über Maxime Leroy, in: ARSP 41, 1955, S. 511–527. Der Herausgeber Viehweg hatte Schnur davon abgera­ ten, den ursprünglichen Ort dieses Textes zu nennen (s. Frankreich, S. 13). Das hin­ derte Schnur nicht, im Text nachdrücklich auf Schmitt hinzuweisen. 19  Carl Schmitt, Staatsethik und pluralistischer Staat (Vortrag auf der 25. Tagung der dt. Kant-Ges. in Halle, 1929), jetzt in: PuB, S. 151–165. 20  Leviathan, S. 44 f.; ECS, S. 87 f.

16 Einführung

rice Hauriou, dessen Institutionenlehre für Schmitts „konkretes Ordnungsden­ ken“ zentral ist, auf René Capitant, mit dem Schmitt in den 30er Jahren persön­lichen Kontakt pflegte, Georges Burdeau und andere. Alle diese Auto­ ren waren größtenteils nicht ins Deutsche übersetzt; Maurice Hauriou ist erst­ mals von Schnur 1965 mit einer Auswahl in Deutschland vorgestellt worden. Während seiner Aufenthalte in Paris knüpfte Schnur zahlreiche Kontakte zur französischen Hauptstadt-Intelligenz und war bemüht, Schmitt darin einzu­ binden. Auch wenn es ihm nicht gelang, Schmitt mit Leroy zusammenzubrin­ gen, so stellte er doch andere Verbindungen Schmitts nach Frankreich her. Die wichtigste davon war die mit Alexandre Kojève. Schon 1951 hatte Schmitt um die Beschaffung eines Buches von Kojève gebeten, wahrscheinlich dessen „Introduction à la lecture de Hegel“ (Nr. 10).21 Als Schnur 1955 in Paris ist, bittet Schmitt ihn, Kojève auf seinen Aufsatz „Nehmen – Teilen – Weiden“ aufmerksam zu machen, dessen Verständnis „wird für mich ein Kriterium sein“ (Nr. 89).22 Das Gespräch, das Schnur dann mit Kojève führte, wird ­detailliert nach Plettenberg berichtet, Es war „außerordentlich anstrengend“ für Schnur, er war danach erschöpft „wie ein Mystiker nach einer Vision“. (Nr. 92). Jetzt entspann sich ein Briefwechsel Kojèves mit Schmitt, an dem auch Jacob Taubes beteiligt war.23 Von Schnur kommt der Vorschlag, Kojève zu einem Vortrag im Rhein-Ruhr-Club einzuladen (Nr. 111), den S ­ chmitt so­ fort aufgreift und deswegen an Kojève schreibt. Tatsächlich fand der Vortrag dann am 16. Januar 1957 in Düsseldorf statt.24 Schmitt berichtet Schnur, der nicht teilnehmen konnte, geradezu euphorisch darüber (Nr. 135). Zunehmende wissenschaftliche Beachtung Schmitts Einen großen Raum nimmt im Briefwechsel der fünfziger Jahre die Ausei­ nandersetzung mit der aktuellen Schmitt-Literatur ein, die in der Regel Schmitt-kritisch war. Die Reihe der Nachkriegs-Monographien über Schmitt beginnt 1957 mit dem Buch von Peter Schneider.25 Schon zwei Jahre zuvor 21  Das annotierte Exemplar (Paris 1947) befindet sich in Schmitts Nachlass, RW 265–24734. – Über seine Begegnung mit Kojève berichtet Schnur auch in: Schmit­ tiana VI, 1998, S. 57–63. 22  Der Aufsatz steht jetzt in VA, S. 489–504. Kojève war von ihm stark beein­ druckt; er bezeichnete ihn als einen „der geistreichsten und brillantesten Aufsätze, die ich je gelesen habe“; Schmittiana VI, 1998, S. 135. 23  Vgl. BW Taubes, S. 21 ff., 145 f. sowie die Briefe von Taubes an Schnur, BArch N 1472/3, aus denen hervorgeht, dass Schnur es war, der nicht nur Schmitt, sondern auch Taubes mit Kojève bekannt machte. 24  Der Vortrag mit dem Thema „Kolonialismus in europäischer Sicht“ ist abge­ druckt in: Schmittiana VI, S. 126–140. 25  Peter Schneider, Ausnahmezustand und Norm. Eine Studie zur Rechtslehre von Carl Schmitt, Stuttgart 1957.

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hatte Schnur Schmitt darüber informiert, dass in Tübingen bei Carlo Schmid eine Habilitationsschrift über ihn im Entstehen sei. Lange bevor sie im Buch­ handel erschien, wurde sie wiederholt Thema in den Briefen. Schmitt be­ schwerte sich darüber, dass der Autor, wie auch die Autoren der folgenden Bücher über ihn (Graf Krockow 1958, Jürgen Fijalkowski 1958, Hasso Hofmann 1964) es nicht für nötig befanden, mit ihm zu sprechen.26 Das habe ihn, schreibt er an Dietrich Braun, „menschlich gekränkt und beleidigt“.27 Peter Schneider war ihm kein Unbekannter; er hatte 1953 die „Lage der eu­ ropäischen Rechtswissenschaft“ besprochen, und Schmitts Urteil darüber war eindeutig: Der Autor „sucht die offensichtliche Inkompetenz durch antifa­ schistische Gesinnungstüchtigkeit überzukompensieren“ (Nr. 85). Der Um­ stand, dass der Autor Schweizer war, war für Schmitt zudem eine denkbar schlechte Voraussetzung: „Ein Schweizer, der nichts mitgemacht hat, zieht mich, der alles mitgemacht hat, vor sein Forum; ein Neutraler ohne eigenes Schicksal richtet über mein Schicksal – alles im tiefsten inkompetent …“.28 Die Empfindlichkeit Schmitts dürfte ihren Grund vor allem darin gehabt haben, dass Schneider es gewagt hatte, mit Hilfe psychologischer Kategorien C. G. Jungs die Frage nach dem „Arcanum“ seines Untersuchungsobjekts zu stellen (Nr. 135).29 Das war eine Frage, die für Schmitt an etwas Unveräu­ ßerliches rührte und die er nur sich selbst, allenfalls noch seiner Tochter (vgl. ECS, S. 52) zu stellen erlaubte: „Dräng Dich nicht in Arcana“, heißt es im Waschzettel zum „Leviathan“.30 Der Brief, mit dem er Schneider für die Zusendung seines Buches dankt, wehrt die indezente Frage ab, indem sie im Witz lächerlich gemacht wird. Schneider habe, schreibt Schmitt, an ihm eine „Vivisektion oder genauer (wenn ich mir eine solche Wortbildung erlauben darf): Arkanoskopie“ vorgenommen.31 Schmitts Ankündigung, sich damit im 26  Eine Ausnahme war Heinz Laufer mit seiner Würzburger Dissertation „Das Kri­ terium politischen Handelns. Eine Studie zur Freund-Feind-Doktrin von Carl Schmitt auf der Grundlage der Aristotelischen Theorie der Politik. Zugl. e. Beitr. z. Methodo­ logie d. polit. Wissenschaften“ (München 1962). Laufer war im September 1961 zu Besuch in Plettenberg (frdl. Mitteilung von G. Giesler, der dabei war). 27  BW Braun, S. 72. 28  Glossarium, S. 357. Vgl. auch ähnliche Formulierung in Nr. 135. 29  Das Titelbild des Hobbes’schen „Leviathan“, wonach der Staat ein mixtum compositum aus Gott und Mensch, Tier und Maschine ist, ist laut Schneider ein „un­ geheuerliches Bild. Und wir fragen uns vor diesem Bild, ob es nicht das ‚Arcanum‘ Carl Schmitts umschließe“, in: Peter Schneider, Ausnahmezustand und Norm, S. 85 f. Für Schmitt ist die Psychologie der Jurisprudenz inkommensurabel, sie behandelt Probleme „pour lesquels Thémis n’a pas de balances“, wie er unter Berufung auf Rivarol sagt, Glossarium, S. 359. 30  Leviathan, S. 244. 31  Eine Kopie des Briefes schickte Schmitt mit hs. Bemerkung an Schnur, s. An­ hang; vgl. auch Glossarium, S. 362: „Ich fand die Wortbildung ‚Arkanoskopie‘ be­

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Rahmen eines Vergleichs mit dem „Buch eines jungen Amerikaners“, auf dessen Erscheinen er warte,32 auseinanderzusetzen, war nicht ernst gemeint; im Glossarium sagt er, dass er nicht vorhabe, sich „zur Wehr zu setzen. Es wäre gegen den Stil und den esprit de mon âge.“33 Das Buch von Peter Schneider fand große Aufmerksamkeit; es gab zahlreiche Rezensenten und es wurde sogar im Rundfunk besprochen.34 Dabei brachen die Fronten zwischen Anhängern und Gegnern Schmitts erneut auf, beispielhaft etwa in der Aus­ einandersetzung Ernst Friesenhahns mit Rüdiger Altmann in der Marburger Studentenzeitschrift Civis (vgl. Nr. 138 und 139). Hier stand Schnur natürlich fest an der Seite Schmitts; seine Loyalität ging so weit, dass er seinen Weg­ gang von Mainz damit erklärte, an einer Universität, die einen Mann wie Schneider in ein Ordinariat berufe, nicht habilitiert werden zu wollen (Nr. 127). Das Jahr 1957 brachte für Schmitt aber auch erfreuliche Ereignisse. Neben dem Vortrag und den Gesprächen mit Kojève im Januar, die „großartig“ wa­ ren (Nr. 135), bekam er die Gelegenheit, erstmals nach 1945 wieder in einem universitären Umkreis aufzutreten.35 Der Philosoph Joachim Ritter hatte ihn eingeladen, in seinem Collegium Philosophicum in Münster einen Vortrag zu halten und mit den Teilnehmern zu diskutieren. Schmitt sprach über „Das konkrete Problem des heutigen Nomos der Erde“.36 Im Nachhinein war er von diesem Besuch in Münster ganz beglückt: „Die Atmosphäre war wun­ derbar; wissenschaftlich und akademisch“, schreibt er an Schnur (Nr. 135). Für die Wirkungsgeschichte Schmitts war das auch darum ein bedeutendes Ereignis, weil es für manche der später berühmten Schüler Ritters der Anlass war, sich intensiv mit Schmitts Werk zu beschäftigen und mit ihren Publika­ tionen für die Verbreitung der Diskussion darüber zu sorgen.

sonders witzig. Aber weder Rüdiger Altmann noch Johannes Groß reagierten darauf. Offenbar entfallen meine Kontakte und meine Antennen.“ 32  Darauf musste er lange warten: George Schwab, The Challenge of the Excep­ tion, Berlin 1970. 33  Vgl. Glossarium, S. 357–359. 34  Kritisch von Walter Warnach am 9. Okt. 1957 im Rundfunk Stuttgart; das Typo­ skript der Sendung befindet sich im Nl. Schmitt, RW 265–20165; vgl. auch Schmit­ tiana IV, S. 227–248. 35  Es war allerdings keine offizielle Einladung der Universität, sondern eine priva­ te Einladung Ritters, und die Kosten wurden von den Teilnehmern aufgebracht. 36  Der Vortrag ist nicht schriftlich fixiert worden. Eine Skizze („Anmarsch“) befin­ det sich im Nl., RW 265–19232 und 20341 (abgedruckt in: BW Mohler, S. 235 f.); dazu Diskussionsbemerkungen von Johannes Winckelmann, RW 265–19255. Schmitts Briefwechsel mit Ritter ist mit ausführlicher Einleitung von Mark Schweda veröffent­ licht in: Schmittiana NF II, S. 201–274.

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Die Festschrift von 1959 Die zweite Festschrift für Carl Schmitt sollte zum 70. Geburtstag 1958 erscheinen, verzögerte sich aber um ein Jahr. Konnte man die erste Fest­ schrift noch ignorieren, weil sie außerhalb der Öffentlichkeit blieb, so war das jetzt nicht mehr möglich. Das Buch erschien in einem angesehenen Ver­ lag, als Herausgeber fungierten drei Größen der Jurisprudenz, und es suchte allein durch Sachlichkeit und Qualität der Beiträge zu beeindrucken. In der Absicht größtmöglicher Distanz zu einer Jubelschrift verzichtete man sogar auf ein Vorwort.37 Doch das half alles nichts. Trotz größter Zurückhaltung und Sachlichkeit löste dieses Buch einen Skandal aus, bei dem Schnur kräf­ tig mitmischte, und den er als reinigendes Gewitter empfand: „Vielleicht zeigen sich jetzt die Fronten so klar wie noch nie nach dem Kriege“ (Nr. 170). Auch in dieser Festschrift ist Schnur als Beiträger vertreten, und wiederum mit einem französischen Thema, bei dem wie nirgends sonst deutlich wird, wie er sich in den Bahnen Carl Schmitts bewegt. Für Schmitt wie Schnur war die Überwindung des konfessionellen Bürgerkriegs im Frankreich des 16. Jahrhunderts und die entscheidende Rolle der Juristen dabei ein Parade­ fall dafür, was das Recht, indem es den Schweigebefehl an die Theologen durchsetzte („silete theologi in munere alieno“, Nomos, S. 96, 131, 212), für die Entstehung des modernen Staates geleistet hat. Für beide war Bodin die verehrte Gründerfigur; über Schnurs Schreibtisch hingen die Porträts von Bodin, Hobbes und Carl Schmitt (Nr. 335). Schnur knüpfte mit seinem Festschrift-Aufsatz an den Vortrag an, den Schmitt 1941 in Paris über „Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten“ gehalten hatte,38 und den er mit einer fulminanten Studie wei­ terführte.39 Was Schmitt im Rahmen eines Vortrags nur umreißen konnte, erarbeitete Schnur nach intensivem Studium in der Bibliothèque Nationale detailliert aus den Quellen, und es gelang ihm, dieses Thema, das selbst in Frankreich in vergleichbarer Gründlichkeit nicht erforscht war, geradezu spannend darzustellen. Schon 1956 hatte er den Aufsatz im Manuskript an Schmitt geschickt, der dazu meinte: „Man müsste eine Art Insel-Bücherei der Geisteswissenschaften haben; dort wäre er als Kabinettstück am Platze.“ 37  Festschrift für Carl Schmitt. Zum 70. Geburtstag dargebr. von Freunden und Schülern. Hrsg. von Hans Barion, Ernst Forsthoff, Werner Weber, Berlin 1959. 38  Carl Schmitt, Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten, in: Deutschland-Frankreich. Vierteljahresschr. des Deutschen Instituts 1, 1942, S. 1–30 (jetzt in: SGN, S. 184–217). Schnur lieh sich das Heft mehrmals von Schmitt aus; er schrieb ihm am 16. Aug. 1956, dass er den Aufsatz „vielleicht zum 10. Male“ „gera­ dezu verschlungen“ habe. 39  Roman Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, in: Festschrift für Carl Schmitt (wie Anm. 37), S. 179–220.

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(Nr. 125). Auch nachdem die Arbeit dann in der Festschrift erschienen war, ließ das Thema Schnur nicht los; er weitete den Aufsatz zu einer Monogra­ phie aus.40 Dieser Text, der mit dem Zugriff, der Begrifflichkeit und nicht zuletzt der Intensität der Darstellung die Pranke des Meisters zeigt, machte Furore. Für Schmitt war er eine „atemberaubende Schilderung eines Bürger­ krieges“ durch die „hindurch (…) ununterbrochen die aktuellen Bezüge auf unsere deutschen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte (funkeln)“ (Nr. 169); noch 1980 spricht er von ihm als einer „klassischen Arbeit“ (Nr. 414). Und als Arnold Gehlen 1962 das Buch las, war er so begeistert, dass er zur Feder griff, noch bevor er zu Ende gelesen hatte. Er schrieb dem Autor: „ich […] bin mitten in der Lektüre – jetzt schon kann ich Ihnen sagen, dass dies ein Meisterwerk ist. Dicht, aktuell, taufrische Neuigkeit – ich lese es mit bren­ nendem Interesse.“41 Schnur als Redaktor: ARSP, POLITICA, DER StAAT Schon als Student hatte Schnur Pläne für eine Zeitschrift gemacht. Im Juni 1952 schreibt er Schmitt aus Paris darüber: Schon „etliche Jahre“ schleppe er das mit sich herum, und Schmitt möge bitte nicht glauben, dass das eine mit Nicolaus Sombart – der zu dieser Zeit ebenfalls in Paris war – im Literaten­ café Procope ausgebrütete Schnapsidee sei (Nr. 35). Im Oktober spricht er in Heidelberg mit Reinhart Koselleck und Hanno Kesting über diesen Plan (Nr. 43). Doch das aus jugendlichem Überschwang geborene Projekt schei­ terte schnell am nervus rerum, der Finanzierung. Konkreter wurde die Zeit­ schriftenarbeit für Schnur, als Theodor Viehweg, der Herausgeber des „Ar­ chiv für Rechts- und Sozialphilosophie“, ihn Anfang 1955 zum Redaktions­ sekretär berief. Diese Arbeit, bei der Viehweg ihm weitgehend freie Hand ließ, machte Schnur offenbar viel Freude, und er ging sie mit großem Elan an, versicherte sich gleich der Mitarbeit von Günther Krauss, Hanno Kesting, Reinhart Koselleck, Nicolaus Sombart und Joseph H. Kaiser. Seine Briefe an Schmitt berichten davon, wie er seine Kontakte in Paris nutzte, um eine ­Reihe bedeutender französischer Wissenschaftler zur Mitarbeit zu bewegen (Nr. 84). Schnur hat die Zeitschrift aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt, machte sie internationaler und zog jüngere Wissenschaftler heran. Ihre Linie war in den folgenden Jahren durch eine mehr oder weniger deutliche Schmitt40  Roman Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates, Berlin 1962. 41  Gehlen an Schnur vom 12. Dez. 1962, BArch N 1472/147; vgl. auch unten Nr. 239. Über diese Arbeit erhielt Schnur von vielen Seiten Lob. Böckenförde schrieb ihm: „Das ist ein großer Wurf, der in nuce eine ganze Theorie des Juristischen ent­ hält!“; Brief vom 24. März 1959, BArch N 1472/1.

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Orientierung geprägt. Das hat ihrer Auflage nicht geschadet. Wiederholt be­ richtet Schnur mit einem gewissen Stolz nach Plettenberg, wie es ihm gelingt, die Auflage zu steigern. Neben der Zeitschriftenarbeit betrieb er ab 1960 die Herausgabe der Buch­ reihe POLITICA im Luchterhand-Verlag, die schnell ein großes Renommee erlangen sollte. Schmitt fragte, ob Luchterhand nicht die Rechte am „Nomos der Erde“ mit der restlichen Auflage vom Verlag Greven, wo dieses Werk nicht angemessen untergebracht war, kaufen und das Buch in der Reihe POLITICA herausbringen wolle (Nr. 194). Doch Schnur winkte ab: das ­ scheine ihm „von vorneherein nicht möglich“. Der Grund dafür war sein Mitherausgeber Wilhelm Hennis, den er sich ausgesucht hatte, nachdem sei­ ne erste Wahl, Reinhart Koselleck, abgesagt hatte. Schnur wusste die Kom­ petenz von Hennis durchaus zu schätzen. Dass er ein Smend-Schüler war und insofern konträr zu Schmitt stand, war von Schnur gewollt: „Meine Be­ mühungen richte ich jetzt ganz darauf, so etwas wie eine Versöhnung der verheerenden Gegensätze zu unterstützen.“ (Nr. 183). Diese Absicht bestand ebenso bei Hennis, der an Schnur schrieb: „Die Entideologisierung marschiert“.42 Aber drei Jahre später war davon keine Rede mehr. Neben konzeptionellen Unterschieden – Hennis war mehr an aktuellen politikwis­ senschaftlichen Themen interessiert, Schnur an juristischen Klassikern – gab es Konflikte, die in ihren jeweiligen Persönlichkeiten begründet waren. Hen­ nis war wie Schnur ein Feuerkopf, so dass schon von daher Zusammenstöße programmiert waren. Zudem machte Schnur einen grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber Hennis: „Sein vermeintlich moralischer Rigorismus nähert sich bisweilen einer Art geistiger Tyrannei“ (Nr. 183). Erbitterte Auseinanderset­ zungen gab es dann, als Schnur einen Kelsen-Band bringen wollte, einen Autor, den Hennis für völlig überholt hielt,43 wogegen Hennis die Marburger Habilitationsschrift von Jürgen Habermas „Strukturwandel der Öffentlich­ keit“ enthusiastisch begrüßte und in POLITICA veröffentlichen wollte. Das nahm Schnur noch hin. Als aber Hennis auch die Aufsatzsammlung „Theorie und Praxis“ von Habermas in die Reihe aufnehmen wollte und zudem ein Manuskript von Gottfried Salomon, bei dem Schnur im Wort stand, für nicht veröffentlichungsreif erklärte, war für Schnur die rote Linie überschritten.44 Er zog sich aus der Redaktion von POLITICA zurück und beendete die Zu­ 42  Zit.

nach Günther, S. 221. schrieb am 16. Jan. 1963 an Schnur, Kelsen sei jemand, „der sich vor fünfzig Jahren selbst überholt hatte […] Ich überlasse Kelsen gern den Brasilianern oder sonstigen -ianern.“ Zit. nach Günther, S. 222. 44  Vgl. dazu: Stephan Schlak, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008, S. 76–78. Zu weiteren unterschiedlichen Vorstellun­ gen über die Reihe s. Günther, S. 221 f. 43  Er

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sammenarbeit mit Hennis, den er später auch verdächtigte, seine Berufung nach Hamburg hintertrieben zu haben (Nr. 309).45 Kaum hatte Schnur die Editionsarbeit für Luchterhand beendet, begann er das nächste Projekt: Mit Ernst-Wolfgang Böckenförde, den er durch die Ver­ mittlung Schmitts schon seit 1956 kannte (Nr. 125), entwirft er den Plan ei­ ner neuen Zeitschrift. Sie sollte bei Duncker & Humblot, also im Hausverlag Carl Schmitts, erscheinen und ein Gegengewicht zur Smend-Richtung und des von ihr dominierten „Archiv des öffentlichen Rechts“ werden. Schmitt war skeptisch, nicht wegen der geplanten Zeitschrift, sondern der Ablen­ kungsgefahr für die Karriere ihre Gründer. Wiederholt mahnt er die Beiden: „erst sich habilitieren, dann Zeitschriften gründen!“ (Nr. 178). Böckenförde und Schnur hielten sich nicht daran. Sie versicherten sich der Unterstützung Werner Webers und hatten bei Johannes Broermann, dem Verleger von Dun­ ker & Humblot, Erfolg: 1962 wurde „Der Staat“ aus der Taufe gehoben, der sich schnell zu einem erfolgreichen Organ der an Schmitt orientierten Staats­ rechtler entwickelte. Obwohl Schnur grundsätzlich ein gutes Verhältnis zu Böckenförde hatte, äußert er Schmitt gegenüber doch bald schon Kritik an dessen vorsichtiger und kompromissbereiter Haltung: „Ich möchte nämlich ganz offen sagen, dass mein verehrter Mitredaktor auf allen Seiten akzeptiert werden möchte und deshalb notwendigerweise auf das Konventionelle ein­ schwenken muss.“ (Nr. 303). Ihm wäre es lieber, mit dem „Staat“ einen ganz klaren Schmitt-Kurs zu fahren. Diese Differenz war jedoch nicht gravierend und führte nicht, wie bei Hennis, zum Ende der gemeinsamen Editions­ arbeit.46 Den „Staat“ redigierte Schnur bis 1977, als er sich zurückzog, da er inzwischen (von 1968 bis 1988) „Die Verwaltung“ herausgab. Probleme bei Habilitation und Berufung Neben den editorischen Tätigkeiten betrieb Schnur seine Habilitation bei Ernst Forsthoff in Heidelberg. Dieser hatte schon 1956 an Schmitt geschrie­ ben, dass er „bei jedem Zusammensein […] einen gleich vorzüglichen Ein­ 45  Trotz dieser Konflikte blieb die Beziehung mit Hennis grundsätzlich freund­ schaftlich-respektvoll. Der lebenslange Briefwechsel bezeugt, dass Schnurs Absicht einer „Versöhnung der verheerenden Gegensätze“ für das persönliche Verhältnis jedenfalls nicht ganz gescheitert war. Am 10. April 1994 schreibt Hennis an Schnur einen bewegenden Brief über sein Verständnis von Religion. Sie sei für ihn vor allem Pietas, d. h. Dankbarkeit für das, was wir uns nicht selbst verdanken, na­ mentlich die Ehrung der Eltern und der Lehrer: „Wir hatten sehr verschiedene Lehrer und Dank und Pietas verbindet mich mit meinem. Der Ihre – Sie ehren ihn zurecht – war mir immer fremd. Ich habe ihn distanziert respektiert, gemocht nie.“, BArch N 1472/127. 46  Über die Anfänge von „Der Staat“ s. Günther, S. 226–229.

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druck“ von Schnur habe.47 Er bot ihm an, ihn in Heidelberg zu habilitieren (Nr. 126). Die Rede war zunächst von einem staats- oder verwaltungsrechtli­ chen Thema, doch Ule riet davon ab (Nr. 127). Schnur wählte dann die Ge­ nerellität des Gesetzes als Thema. Damit konnte er auch an die Erfahrungen seiner Verwaltungstätigkeit anknüpfen. Je größer die moderne Verwaltung wurde, je mehr sie in den bislang staatsfreien Raum eindrang, desto mehr arbeitete sie mit rechtlichen Regelungen, die nur für bestimmte Organisatio­ nen und Verbände galten. Das drohte den Unterschied von Legislative und Exekutive zu verwischen und warf die Frage der Allgemeingültigkeit der Gesetze auf. Dieses Problem wurde in Frankreich schon lange diskutiert; ­eine Diskussion, die Schnur seit seinem Aufsatz über die Krise des Begriffs der services publics gut kannte. Das Thema lag ihm also nicht fern. Roman Schnur war es gewohnt, die akademischen Qualifikationsschritte schnell zu machen, doch jetzt bekam er ernsthafte Schwierigkeiten. Die 1957 begonnene Habilitationsschrift war zwar 1959 abgeschlossen, und Forsthoff zeigte sich durchaus mit ihr einverstanden. Doch die Mitgutachter der Hei­ delberger Fakultät – Hans Schneider und Wilhelm Gallas – äußerten Vorbe­ halte und behandelten das Verfahren dilatorisch; die Begutachtung schmorte zwei Jahre lang. Forsthoff hätte zwar mit seiner Autorität den gordischen Knoten durchhauen können, doch Forsthoff war 1959 monatelang auf Rei­ sen, am 28. Februar 1960 starb seine Frau nach langem Leiden, und von 1960 bis 1963 residierte er als Präsident des zyprischen Verfassungsgerichts in Nikosia; Schnurs Hilferufe wurden ihm mit der Zeit lästig. Anfang 1961 schließlich beschloss die Fakultät, die Arbeit in der vorliegenden Form nicht anzunehmen und legte dem Verfasser eine Umarbeitung nahe. Schnur emp­ fand das Ganze als „Affentheater“ (Nr. 216). Auch Forsthoff war der Sache gründlich überdrüssig und vermeldete aus Nikosia, dass er als Referent aus­ scheiden wolle. Aber bei der nächsten Zusammenkunft der Gutachter am 15. Mai 1961, zu der jetzt auch noch der Politologe Carl Joachim Friedrich hinzugezogen wurde, der sich als schärfster Kritiker erwies, war Forsthoff für eine Stunde dabei und hielt die Kritiker im Zaum; sobald er gegangen war, ging es wieder hoch her. Man einigte sich schließlich auf gewisse Kür­ zungen und Umarbeitung, dann wolle man schon im Juli entscheiden (Nr. 222). So kam es, Schnur änderte seinen Text. Probevorlesung und Kol­ loquium Mitte November gingen glatt über die Bühne (Nr. 236). Die Habili­ tationsschrift sollte bei Duncker & Humblot erscheinen, und der Verlag hatte sie auch schon angekündigt. Aber Schnur fehlte die Zeit, sie auf den neuesten Stand zu bringen, vor allem hatte er inzwischen jede Lust daran verloren; er konnte „die Arbeit wegen der daran hängenden üblen Erfahrungen kaum noch sehen“ (Nr. 303). Sie verschwand ungedruckt im Universitätsarchiv. 47  BW

Forsthoff, S. 132.

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Mit der erfolgreichen Habilitation glaubte Schnur die „schlimmste Hürde“ genommen zu haben (Nr. 236), doch war sein Hindernislauf damit nicht vor­ bei, stand vielmehr jetzt vor der vielleicht größten Hürde: der Berufung auf einen Lehrstuhl. Der Weg dahin sollte sich als eine jahrelange Leidenstour mit einer Kette von weiteren bitteren Erfahrungen für Schnur erweisen. In Wien war er schnell aus dem Rennen. In Berlin, wo er sich am 10. Juli 1962 mit einem Vortrag über die Entstehung des modernen Staates in der Zeit von 1600 bis 1640 vorstellte,48 wusste man seine Qualifikation zwar zu schätzen, wollte ihn aber nicht, weil er „C.S.-Mann sei“ (Nr. 243). In Saarbrücken er­ hoffte er sich Chancen, weil er dort einen Lehrauftrag hatte und man ihn kannte, auch interessierte ihn Saarbrücken, weil es hier zwei Lehrstühle für französisches Recht gab. Doch machte der dortige Ordinarius Werner Maiho­ fer Stimmung gegen ihn. Er vervielfältigte einen Artikel über Schmitt, den Schnur 1958 in der Zeitschrift „Wort und Wahrheit“ veröffentlicht hatte und brachte ihn in der Fakultät in Umlauf. Damit war die Berufung gescheitert (Nr. 252). In Göttingen wurde ihm ein anderer Bewerber vorgezogen (Nr. 266), bei einer weiteren Göttinger Besetzung kam er erst gar nicht auf die Liste (Nr. 272); Werner Weber unterstützte ihn zwar, konnte sich aber gegen Leibholz und Smend nicht durchsetzen. In Münster war er erfolglos (Nr. 290). Schließlich bewarb er sich in Braunschweig; für ihn der deprimie­ rende Beweis, „dass ich ziemlich heruntergekommen bin“ (Nr. 291). Bemü­ hungen, ihn in Hamburg als Nachfolger von Siegfried Landshut durchzubrin­ gen, scheiterten (Nr. 309). An Schmitt schreibt er: „Ich würde mich allmäh­ lich gerne auf einem Lehrstuhl niederlassen, um an das Buch ‚Theorie des Bürgerkriegs‘ zu gehen, aber ich sehe nirgendwo eine reelle Chance“ (Nr. 301). Das Referat auf der Staatsrechtslehrertagung 1963 Für Schnur war das umso bedrückender, als seine materielle Basis unsi­ cher war. Er war mittlerweile Familienvater und saß in Speyer auf einer ausgeliehenen Regierungsrat-Stelle, die jederzeit zurückgezogen werden konnte. Zudem stellte sich Ule, der in Speyer inzwischen Rektor war und der lange zu Schnur gehalten hatte, gegen seinen Assistenten. In Heidelberg, wo Schnur zur Erhaltung seiner venia legendi Vorlesungen hielt, vermisste er die Unterstützung von Forsthoff und Schneider zur Erlangung einer Diätendo­ zentur, die ihm „endlos Zeit“ gelassen hätte, „um mich den eigenen Arbeiten widmen zu können“ (Nr. 274). Schnur war völlig erschöpft, litt unter Schlaf­ 48  Der Vortrag wurde dann zur Monographie ausgearbeitet: Roman Schnur, Indivi­ dualismus und Absolutismus. Zur politischen Theorie vor Thomas Hobbes (1600– 1640), Berlin 1963.

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losigkeit und wollte resignieren. Ende 1963 nimmt er eine Stelle in der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei an, wo er als Generalsekretär der Landes­ regierung für die Verwaltungsvereinfachung zuständig war. Daneben nimmt er Gastprofessuren in Heidelberg und Lausanne wahr. Auch hält er Vorträge in Frankreich und Italien. Das war ein anstrengendes Leben, und Schnur zeigt sich mehr als einmal in seinen Briefen geneigt, auf die Universitäts­ karriere zugunsten einer ruhigen Beamtenlaufbahn zu verzichten. Neben seiner Nähe zu Carl Schmitt hatte Schnur bei seiner Berufung in ein Ordinariat noch ein anderes Problem: Er war mit seinen frühen Veröf­ fentlichungen fast ausschließlich als Rechts- und Ideenhistoriker Frankreichs hervorgetreten, und sein Ruf als Verwaltungsfachmann gründete sich vor al­ lem auf seine praktische Tätigkeit in der Mainzer Staatskanzlei. Er musste daher zeigen, dass er auch als Rechtsdogmatiker sattelfest war. Die Habilita­ tionsschrift hätte das zeigen können, doch war sie nicht veröffentlicht. Da bot sich 1963 eine Möglichkeit zur Profilierung vor versammelter Fachpro­ minenz: Schnur bekam die Chance, sich mit einem Referat auf der Staats­ rechtslehrertagung in Saarbrücken vorzustellen. Ein Referat auf dieser elitä­ ren Bühne war ein Ritterschlag und fast so viel wie eine zweite Habilitation.49 Das Rahmenthema „Pressefreiheit“ war von besonderer Aktualität, da man in den Bundesländern Pressegesetze beriet und das Thema durch die SpiegelAffäre hochaktuell war. Ulrich Scheuner, der das Hauptreferat halten sollte, bat den Vorstand der Vereinigung, Schnur als Korreferenten zu benennen.50 Das gelang umso leichter, als mit Joseph H. Kaiser ein Schmitt-Schüler dem Vorstand angehörte.51 Schnur hatte sich mit dem Thema bis dahin nicht näher beschäftigt, und es lag auch weitab von seinen bisherigen Arbeitsfeldern. Aber es war ihm hoch­ willkommen. Schmitt, der sich als Ordinarius immer sehr um seine Studenten gekümmert hatte, machte das auch bei seinen informellen Schülern und be­ riet Schnur bei der Vorbereitung seines Referats in geradezu rührend fürsorg­ licher Weise. Er erneuerte wieder einmal seine Mahnung, den Namen Carl Schmitt tunlichst zu verschweigen und warnte vor zu großer Schärfe: „Pro­ vokationen können sinnvoll sein, wenn sie genau in die Lage treffen und wenn man die Lage beherrscht; sonst sind sie einfach Dummheit und ge­ meinschädliche Kindereien.“ (Nr. 280). Schmitt nannte ihm einschlägige Li­ teratur, darunter auch seinen eigenen Diskussionsbeitrag auf dem Soziolo­ 49  Vgl.

Schulze-Fielitz, S. 175 f. Protektion Scheuners dürfte Schmitt wenig gefallen haben. Schmitt wie Forsthoff hielten Scheuner für angepasst und ein Leichtgewicht. Zudem hatte er das Buch von Fijalkowski positiv besprochen (in: HPB 7, 1959, S. 308) (frdl. Hinweis von G. Giesler; vgl. auch Günther, S. 179; BW Forsthoff, S. 128, 220). 51  s. Frankreich, S. 22; Günther, S. 121. 50  Die

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gentag 1930, las kritisch das ihm vorab geschickte Vortragsmanuskript und ging so weit, detaillierte Hinweise zum Vortragsstil zu geben: in 5 Punkten listete er auf, wie ein Vortrag aufgebaut sein muss, um die beste rhetorische Wirkung zu erzielen (Nr. 285, vgl. auch Abb. im Anhang). Die Staatsrechts­ lehrervereinigung war zu dieser Zeit ein exklusiver Männerclub. Aber diese Männer hatten Ehefrauen, und Schmitt hatte Schnur schon früher vor der Spezies „Professorengattin“ gewarnt mit ihrer nicht zu unterschätzenden po­ testas indirecta (Nr. 243), woraufhin Schnur es nicht versäumte, sich „auch bei den mitunter äußerst einflussreichen Damen“ vorzustellen, was „ein har­ tes Geschäft“ war (Nr. 251). Schnurs Auftritt auf der Tagung wurde dann ein großer Erfolg; er konnte nach Plettenberg berichten, „dass ich nicht nur keine Panne erlebt habe, sondern mit einem Ruck, gewissermaßen, meinen Platz in der Vereinigung sichern konnte“ (Nr. 287).52 Dennoch tat sich zunächst nichts mit Berufungen, auch wurde das Saar­ brücker Referat mit dreijähriger Verspätung publiziert, da Scheuner sich mit der Druckfreigabe seines Textes Zeit ließ. Endlich kam 1965 Bewegung in die Sache. An der neu aufgebauten Ruhr-Universität Bochum waren zwei Lehrstühle für Politikwissenschaft geschaffen worden, deren erster die Aus­ richtung „Politische Institutionen“, der zweite „Politische Theorie“ haben sollten. Schnur wurde zum Wintersemester 1965 auf den ersten berufen; ge­ gen den Widerstand von Hans Peters und wahrscheinlich mit Unterstützung des nordrhein-westfälischen Kultusministers Mikat, der ihm versprochen hatte, ihn auch dann zu berufen, wenn er nur auf Platz 3 der Liste stünde (Nr. 312). In Bochum hatte es Schnur nicht leicht. Er wollte den zweiten Lehrstuhl mit einem Kandidaten seiner Wahl besetzen, und dachte an Rein­ hart Koselleck, Dieter Groh, Hanno Kesting und Ernst Kern. Sogar Julien Freund wollte er von Straßburg nach Bochum locken (Nr. 328). Schließlich hatte er gegen starken Widerstand – „Die Intervention von links war sehr kraftvoll, aber ich hatte etwas stärkere Waffen.“ – nach einer Intervention bei Kultusminister Mikat mit Koselleck Erfolg (Nr. 332, 333). Doch war Kosel­ leck mit dem Zuschnitt seines Faches unzufrieden und wechselte bereits 1967 auf einen Lehrstuhl für Neuere Geschichte nach Heidelberg.53 Schnurs Aufgabe, zusammen mit Praktikern aus Ministerialbürokratie und Gebiets­ körperschaften einen neuen verwaltungswissenschaftlichen Studiengang zu entwerfen, blieb „in dem starren Gestrüpp der etablierten Interessen und der 52  Zur positiven Wirkung des Vortrags vgl. den Bericht Forsthoffs an Schmitt, BW Forsthoff, S.  195 f. 53  Wogegen Schnur heftig protestierte, denn Professoren waren für drei Jahre ge­ bunden; vgl. Wilhelm Bleek, Im Schatten von Carl Schmitt – Die merkwürdigen An­ fänge der Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität, in: Die Henne. Beiträge zur Geschichte der Universität Bochum, 2013, H. 2, S. 7–50 (hier S. 16–28).

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bürokratischen Unbeweglichkeit“ hängen.54 Schließlich richtete sich studen­ tischer Protest gegen den konservativen Schnur.55 So wechselte er schon nach drei Jahren als Professor für Vergleichende Verwaltungswissenschaft und Öffentliches Recht nach Speyer. In der Rückschau bewertet er den Um­ weg über die Politikwissenschaft positiv: „Vielleicht hätte ich mich doch zu einer Art ‚Fachidioten‘ entwickelt, wenn ich nicht auf eine gewisse organisa­ torische Distanz zur heutigen Wissenschaft des öffentlichen Rechts gegangen wäre.“ (Nr. 353). Unterbrechung der Korrespondenz 1966 bis 1972 1968 erschien die dritte Festschrift für Carl Schmitt. Anders als die zweite Festschrift konnte sie nicht nur pünktlich zum 80. Geburtstag herauskom­ men, sie war auch so umfangreich, dass zwei Bände nötig waren. Unter den 41 Beiträgern fehlt allerdings ein Name: Roman Schnur. Das entspricht der Situation, dass sein Briefwechsel mit Schmitt im November 1966 abgerissen war. Im Oktober 1969 kam eine Büchersendung nach Plettenberg, die den von Schnur und Koselleck herausgegebenen Band über Hobbes enthielt (Nr. 340). Das Buch kam ohne Begleitschreiben; der kurzen Widmung von Koselleck schließt Schnur sich an, indem er lediglich seinen Namen dazu setzt.56 Schmitt bedankt sich umgehend mit einem Brief, der in seiner Kürze ebenso formell-höflich bleibt, wie die Widmung. Nach weiteren drei Jahren war es dann Schmitt, der am 8. Mai 1972 das Gespräch wieder aufnahm, indem er an Ernst Schilly erinnerte, der am Anfang von Schnurs Beschäfti­ gung mit dem Werk Carl Schmitts stand. Schilly habe ihm einen „besonders schönen Brief“ geschrieben. Das gebe ihm „den Anstoß und den Mut“ nach dem Stand der Ball-Forschung eines Mainzer Studenten zu fragen, wovon Schnur 1951 berichtet hatte (Nr. 11). Das Thema Hugo Ball war für Schmitt wieder akut geworden.57 Der Brief bleibt kurz und entschuldigend: „Ich weiß, dass Sie sehr beschäftigt und in Anspruch genommen sind und bin weit davon entfernt, Bekannte von früher mit meinen Alltagsangelegenheiten zu belästigen; es genügt eine Zeile der Mitteilung.“ Unübersehbar lag eine Störung im Verhältnis vor, die sogar mit der Wendung „Bekannte von früher“ 54  So der Schnur-Schüler Heinrich Siedentopf im Nachruf auf seinen Lehrer, in: AöR 122, 1997, S. 143 (auch in: Gedächtnisschrift, S. 1–4). 55  s. van Laak, S. 284. Sogar aus der DDR wurde anonym gegen ihn gehetzt: „Ro­ man Schnur – Theoretiker und Praktiker der Notstandsdiktatur“, in: Podium (Leip­ zig), Nr. 6, 1968. Zu dem Autor, der mit „Dr. …“ zeichnet, merkt Schnur hs. an: „(aus der BRD), ein Schweizer, Kommunist, Vater Millionär“; Kopie mit Unterstreichungen und Anm. Schnurs in Slg. Kilian. 56  RW 265 Nr. 22384; vgl. BW Koselleck, S. 223. 57  Vgl. Joachim Schickel, Gespräche mit Carl Schmitt, Berlin 1993, S. 31–59.

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etwas Endgültiges zu haben schien. Aber Schnur antwortete umgehend und ausführlich; der Briefwechsel fand schnell wieder zur alten Herzlichkeit zu­ rück. Was waren die Gründe für die jahrelange Sprachlosigkeit? Dem Brief­ wechsel sind sie jedenfalls nicht klar zu entnehmen, aber es gibt gewisse Hinweise. Schon Ende der 50er Jahre sucht Schnur Schmitt zu einem weite­ ren Band seiner Aufsätze, die ja teilweise an entlegener Stelle veröffentlicht waren, zu bewegen – vergeblich. Auch mit seinem mehrfach vorgebrachten Wunsch, einen regelmäßigen Gesprächskreis um Carl Schmitt, sozusagen ein zweites Ebrach, ins Leben zu rufen, stieß Schnur auf offenkundiges Desinte­ resse. Der letzte Brief Schmitts vom 28. November 1966 weist dann Schnurs wiederholtes Drängen nach Mitarbeit am „Staat“ fast schon gereizt zurück: damit „dürfen Sie mich nicht mehr quälen“. Auch Schnurs angekündigten Besuch stellt er unter Vorbehalt: „Ich freue mich immer auf einen Besuch aus Bochum. Aber ein Höflichkeitsbesuch von einer ½ Stunde lohnt sich für keinen der beiden Teile, weder für den Besucher noch für den Besuchten. Davon wollen wir uns also gegenseitig dispensieren.“ In der Tat war Schmitt gegenüber Schnur deutlich reservierter als gegenüber Böckenförde, den er mit Vornamen ansprach und am Ende ihres Briefwechsels sogar duzte, was er mit nur ganz wenigen Menschen tat.58 Ein Brief Böckenfördes an Schnur lässt ein Motiv für dessen Nicht-Beteiligung an der Festschrift erkennen, das mit Schmitt selbst jedoch unmittelbar nichts zu tun hat. Böckenförde will am 6. März 1967 Schnur für die Festschrift zu Schmitts 80. Geburtstag gewin­ nen, obwohl dieser offenbar schon abgesagt hatte. Dazu Böckenförde: „Ich meine, Sie sollten doch […] mit dabei sein, und zwar unabhängig davon, ob Sie vielleicht von den C. S.-Leuten bei den Attacken nach der letzten Fest­ schrift mehr Schutz hätten erwarten können.“59 Eine andere, allerdings nur mündlich und indirekt überlieferte Quelle stellt den Grund ganz anders dar. Sie berichtet von einem Dreiergespräch Schmitts mit Schnur und Quaritsch, bei dem Schnur Schmitt auf seine NS-Vergangen­ heit angesprochen habe. Darauf habe Schmitt mit eisigem Schweigen reagiert und das Gespräch nur noch mit Quaritsch fortgesetzt.60 Das klingt insofern plausibel, als Schmitt seine NS-Vergangenheit strikt tabuisiert hat. Dass Schnur das heikle Thema aber direkt ansprach, ist wenig wahrscheinlich. Zwar war er bei aller Verehrung für Schmitt kein unkritischer Gefolgsmann. 58  Auch wenn das wahrscheinlich ein altersbedingtes Versehen war, da Schmitt in seinen letzten Briefen an Böckenförde zwischen „Sie“ und „Du“ schwankt, zeigt es doch seine nahe Verbindung. 59  BArch N 1472/104. 60  Mitteilung von Hans-Christof Kraus, dem das von Helmut Quaritsch berichtet wurde.

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Schon als Student hat er sich nicht gescheut, Schmitts „Nomos“ zu kritisie­ ren (Nr. 10, 66). Auch später kommt von ihm Widerspruch, etwa wenn er in „Individualismus und Absolutismus“ sagt, dass Schmitts berühmte Definition der Souveränität für den Normalfall nichts tauge,61 (was Schmitt nicht hin­ derte, Schnurs Schrift auf das höchste zu loben, vgl. Nr. 277), oder wenn er auf Schmitts Einwände gegen das Buch von Hasso Hofmann, dem er nur das zweifelhafte Lob „Fleißarbeit“ zugestand, unverblümt antwortete: er halte dieses Buch „mit für das Beste, was nach 1945 über das Thema geschrieben wurde“ (Nr. 309). Das aber war Kritik in der Sache. Kritik am persönlichen Verhalten war dann doch noch etwas anderes. Wie auch Böckenförde dürfte Schnur es vermieden haben, Schmitt auf seine persönliche Schuld direkt an­ zusprechen, ganz zu schweigen von öffentlicher Kritik, die ihm, wie Kosel­ leck oder Blumenberg, als zu billig erschien.62 Wenn Schnur also ein direktes Zur-Rede-Stellen wohl vermieden haben dürfte, so machte er am Ende der Korrespondenz doch einen indirekten An­ lauf, als er 1977 seinen Bericht „Als Rechtslehrer in Polen“ an Schmitt schickte.63 Dieser Text schließt mit der Erwähnung Hans Franks, des berüch­ tigten Chefs des Generalgouvernements von 1939 bis 1945. Frank war der hohe NS-Politiker mit dem als Präsident der Akademie für Deutsches Recht Schmitt zwischen 1933 und 1936 eng zusammengearbeitet hatte. Schnur weist in seinem Bericht darauf hin, dass es bis 1939 kollegiale Kontakte von deutschen mit polnischen Juristen gab64 und polnische Kollegen sogar in der Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht veröffentlichten: „Da wird das Doppelbödige der Geschichte zum Unheimlichen“, und er schließt seinen Bericht mit einem Satz, der das „kommunikative Beschweigen“ (Hermann Lübbe) der NS-Vergangenheit ebenso zur Beschreibung von Schnurs Verhält­ 61  Roman Schnur, Individualismus und Absolutismus. Zur politischen Theorie vor Thomas Hobbes (1600–1640), Berlin 1963, S. 44 ff. 62  Koselleck meinte zu Vorwürfen seines Vater wegen zu großer Schmitt-Nähe in seiner Dissertation, dass er sich zu Schmitt in der Sache durchaus kritisch verhalten habe, „nur habe ich mich geniert, ihm seine politische Vergangenheit zum Vorwurf zu machen, da solch ein Vorwurf kostenlos ist.“ (Brief vom 24. März 1954 an den Vater, in: Reinhardt Koselleck als Historiker, hrsg. von M. Hettling und W. Schieder, Göt­ tingen 2021, S. 35). Und Hans Blumenberg schrieb an Jacob Taubes, wie „zuwider“ ihm die „moralischen Zensoren“ seien, „die an allen Ecken und Enden ihre Gerichts­ tage halten“ (H. Blumenberg/J. Taubes, Briefwechsel 1961–1981, hrsg. von H. KoppOberstebrink und M. Treml, Berlin 2013, S. 174), was für Taubes ein „seltener Brief der Freundschaft“ war (J. Taubes, Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987, S. 69 f.), woraufhin er dann auch nach Plettenberg fuhr. 63  Roman Schnur, Als Rechtslehrer in Polen, Privatdruck Tübingen 1977; auch in: ders., Polen in Mitteleuropa, Baden-Baden 1984, S. 29–67, sowie in Kilian, S. 85– 115. 64  Vgl. auch Roman Schnur, Beziehungen zwischen deutschen und polnischen Ju­ risten in den Jahren 1934–1939, in: Die Verwaltung 15, 1982, S. 240–248.

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nis zu Schmitt als tauglich erscheinen lässt: „Aber wir wollen im Gespräch bleiben, und deshalb reden wir über etwas anderes.“ Schmitt hat den Challenge dieser Passage sofort verstanden. Diese Stelle des Berichts, schreibt er in seinem Antwortbrief, habe ihn am „tiefsten und stärksten“ berührt. Er erinnert an die Tagung des NS-Rechtswahrerbundes vom 1. April 1939 in Kiel, auf der der Völkerrechtler Cezary Berezowski von der Universität Warschau einen Vortrag gehalten hatte. Auch an das „sachdienliche“ Gespräch bei dem mehrtägigen Besuch von Prof. Franciszek Ryszka im Juli 1973 in Plettenberg erinnert er sich, bei dem „Hans Frank […] als stummer Gast immer mit am Tisch“ saß. Dabei habe ihn beeindruckt, „wieviel Takt und sogar Delikatesse der gebildete Pole zeigen kann“ (Nr. 403). Im Glossarium ist die Zusammenarbeit mit Frank als Selbsttäu­ schung bezeichnet.65 Von Selbsttäuschungen kann man sich, wie im Fall der ersten Ehe Schmitts, die er mit dieser Selbsttäuschung ausdrücklich in Paral­ lele setzt, nur selbst befreien. Verurteilungen durch andere helfen da wenig. Die letzten Jahre Die 1972 einsetzende Spätphase der Korrespondenz hat nicht mehr die Intensität der Jahre von 1951 bis 1966. Schnur war jetzt als Tübinger Ordi­ narius etabliert; die Sachdiskussionen der 50er und 60er Jahre sind in seinen Briefen Schilderungen seiner Reisen sowie etwas wehmütigen Erinnerungen an frühe Treffen mit Schmitt gewichen. Schnur verbrachte die vorlesungs­ freie Zeit in seinem Chalet oberhalb von Brixen, auf 2000 Meter Höhe, wo er viele seiner Aufsätze verfasste. Von Brixen aus erkundete er auf Autorei­ sen mit seiner Frau das Friaul und drang weiter in die Länder der alten k. u. k. Monarchie vor, über Triest nach Slowenien, Österreich, Ungarn, schließlich und vor allem nach Polen, wo er Kontakte zu polnischen Kollegen knüpfte und einen regelmäßigen Austausch junger Wissenschaftler in Gang setzte. Sein treibendes Motiv war die Betonung, dass dieser Raum mit „Osteuropa“ nicht richtig bezeichnet sei; es müsse „Mitteleuropa“ heißen, mit allen histo­ rischen Konnotationen, die dieser Begriff enthält. In zahlreichen Texten, oft nur als begrenzter Privatdruck veröffentlicht oder als Typoskript an Freunde und Bekannte verteilt, schildert er diese Reisen. Schmitt konnte das nur inte­ ressiert zur Kenntnis nehmen: „Ihr Bericht ist so lebendig und reich an Infor­ mationen und Emotionen, dass er für meine alten Antennen schon beinahe gefährlich geworden ist“ (Nr. 403). Schnur hat damit einen Perspektivwechsel vollzogen; von Frankreich wen­ dete sich sein Blick nach Osten. Er sah das nicht als Bruch, sondern als eine 65  Glossarium,

S. 131.

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konsequente Fortsetzung seiner frühneuzeitlichen Forschungen, als er he­ rausfand, „dass man den Raum der ‚Politiques‘ in Richtung Osten erweitern müsste“ (Nr. 405). Die Gründe für die Schwerpunktverlagerung seines Inter­ esses von Westen nach Osten hat Schnur in seinem Manuskript „Frankreich“ benannt: Die Schwierigkeit, institutionalisierte Kontakte mit jüngeren franzö­ sischen Kollegen aufzubauen, hatten ihn frustriert;66 auch war das Interesse auf französischer Seite nicht mehr so stark, wie Schnur es in den fünfziger Jahren von den alten Bekannten (Maxime Leroy, Bertrand de Jouvenel, Ale­ xandre Kojève) erfahren hatte. Vor allem aber störte es ihn, dass man in Deutschland das französische Droit public nicht als selbstverständlichen Teil eines gemeineuropäischen Rechts sah, sondern es unter dem Gesichts­ punkt des „Auslandsrechts“ behandelte, und: „ein sozusagen professioneller Rechtsvergleicher wollte ich nicht sein.“67 Mit dieser Haltung, Vertreter des grenzüberscheitenden Jus Publicum Europaeum zu sein, einer Rechtstraditi­ on mithin, die auch jenseits des Eisernen Vorhangs vielfach noch lebendig war, ging er nach Ungarn und Polen, ohne sich über die politische Lage Illu­ sionen zu machen, aber in der Überzeugung, dass es „tragfähige wissen­ schaftliche Verbindungen“ gab (Nr. 376), wie sich dann auch bestätigte. Be­ günstigt wurde das durch eine Zeit, in der sich die Sowjetisierung lockerte und die gemeinsame mitteleuropäische Tradition wieder stärker hervortrat. Mit seiner Orientierung an Frankreich wie dann vor allem auch an Polen und Ungarn war Roman Schnur in Deutschland allerdings ein Solitär. In dem Bewusstsein, ein „Parteigänger des esprit européen“ zu sein (Nr. 429) hielt er das aus. Als ihm die Universität Warschau 1991 die Ehren­ doktorwürde verlieh, sagte er in seiner Dankesrede, dass ihn die „Eindrücke in Polen […] als Deutschen noch mehr an Europa gebunden haben“.68 Er habe sich entschlossen, schreibt er an Schmitt, „nur noch Alleingänge zu unternehmen“, wohl wissend, dass er damit die Kollegen provozierte und die Rache von „geltungssüchtigen Ehefrauen“ heraufbeschwor (Nr. 393). Das konnte er aushalten, aber er litt darunter, dass die Universitäten „aus Grün­ den noch besserer Kapitalverwertungsstrategie“ (Nr. 353) eine freie, nicht auf den direkten Nutzen zielende Forschung zunehmend behinderten und sein Gebiet der frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte „amtlicherseits degradier­ ten“ (Nr. 357). Auch das dürfte ein Grund gewesen sein, warum er zeitlebens seinen Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus richtete und bemüht war, international zu arbeiten. Seine offene und auch offensiv vertretene Partei­ nahme für Carl Schmitt hat ihn früh schon zum Außenseiter gestempelt, was 66  Insbesondere hatte ihn hier Joseph H. Kaiser enttäuscht (nach den Erinnerungen von Gerd Giesler). Vgl. auch den Aktenvermerk Schnurs im Anhang. 67  Frankreich, S. 30. 68  Typoskr. der Rede in Slg. Kilian, S. 11.

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er dann positiv wendete: Er gehöre nicht zu den Öffentlichrechtlern, die ihr Handeln bestimmen nach dem „Volumen der Gutachtenaufträge, dem Volu­ men der Show-Vorträge, der Chance, im intellektuellen Show-Geschäft auf­ treten zu können“ (Nr. 335). In Deutschland isoliert zu sein, empfand er nicht als Nachteil, sondern als Vorteil, den er sogar bewusst suchte (Nr. 391). Zu Staatsrechtslehrer-Tagungen reiste er nicht mehr, weil er keinerlei Neigung verspürte, „am Familienfest dieses Clubs teilzunehmen“ (Nr. 402).69 Überblickt man das Werk Roman Schnurs, so fällt auf, dass er zwar eine umfangreiche Publikationsliste vorweisen kann, doch findet sich darunter kein großes systematisches Werk; es überwiegen Aufsätze, viele Titel sind Rezensionen, auch als Herausgeber von Sammelbänden und Organisator von Tagungen war er sehr aktiv.70 Die monographischen Veröffentlichungen hin­ gegen bleiben überschaubar und sind in der Regel nur schmal im Umfang. Mit Schmitt verband ihn die Neigung zur kleinen, prägnant funkelnden Form, die in der Betonung der Geschichtlichkeit des Rechts immer aktuelle Bezüge durchscheinen lässt. Er hatte lange, schon bevor er Ordinarius wurde, die Absicht, eine Theorie des Bürgerkriegs zu schreiben (Nr. 301), was gemes­ sen an seiner Darstellung der Entstehungsgeschichte des Staates aus der Bürgerkriegssituation im frühneuzeitlichen Frankreich ein verheißungsvolles Vorhaben war. Doch dieses opus magnum ist nie geschrieben worden: „die Bildungsreform, d. h. das Streben auch der ungeeigneten bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kinderchen, hat mir diese Absicht lahmgelegt“ (Nr. 420). Die Grenzen seines Faches hat er gern überschritten. Er kannte sich aus in der Kunst und der Dichtung Deutschlands und Frankreichs und als er 1986 den großen (880 S.) Band mit den Vorträgen der von ihm organisierten Ta­ gung „Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates“ heraus­gab, war er darin vertreten mit dem Beitrag „Moderner Staat, moderne Dichtung und die Juristen“, mit dem er auf die ungewöhnlich hohe Zahl von Juristen in der Zeit von 1550 bis 1600 hinwies, die zugleich Dichter waren. Über Christoph Martin Wieland, Franz Grillparzer und Gottfried Benn gibt es Arbeiten von Schnur, ebenso publizierte er über Kunstgeschichte. Auch mit diesen Grenzüberschreitungen stand er Schmitt nah. 69  Die Distanz zur VDStL bestand schon lange. Als Ernst Forsthoff sich 1965 ge­ gen Angriffe von Schweizer Kollegen von der Staatsrechtslehrervereinigung nicht hinreichend unterstützt sah, trat er aus ihr aus (s. Nr. 336). In der Folge drohte eine Spaltung und zahlreiche Kollegen bestürmten Forsthoff, seinen Schritt rückgängig zu machen, was er dann auch tat. Schnur dagegen befeuerte Forsthoff, bei seinem Ent­ schluss zu bleiben, weil die Vereinigung „(…) seit vielen Jahren ein Problem nicht aus (trägt) […] Niemals ist das Problem, um das es hier geht, offen diskutiert wor­ den.“ Schnur an Forsthoff vom 2. Jan. 1967; BArch N 1472/9 (frdl. Hinweis von Florian Meinel). 70  Vgl. die Bibliographie in der Gedächtnisschrift, die allerdings, vor allem was die Rezensionen angeht, unvollständig ist.

Einführung33

Nach seiner 1993 erfolgten Pensionierung blieb Roman Schnur nicht mehr viel Zeit. Der Enkelschüler Carl Schmitts überlebte seinen Lehrer nur um elf Jahre; gesundheitlich angeschlagen starb er am 5. August 1996. Eine Festschrift hat er nicht erhalten, doch stellten die befreundeten Kollegen, darunter auch etliche aus dem Ausland, nach seinem Tod eine Gedächtnis­ schrift zusammen.

Briefwechsel



1951 – Roman Schnur an Carl Schmitt37

1. 1951-01-17 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14189, hs.

Mainz, den 17.1.1951

[darunter von C. S:] Bretzenheim, Bahnstr. 26, b. 23/1 511

Sehr geehrter Herr Professor! Wie ich Ihrem prachtvollen Werk „Der Nomos der Erde“ entnehme, war Ih­ nen das Buch von M. G. Pelayo: Juan Ginés de Sepúlveda nicht zugänglich.2 Ich würde mich freuen, Ihnen zum Dank dieses Buch aus Mexiko besorgen zu dürfen. Falls das Buch nicht vergriffen ist, liegt seine Beschaffung im Rahmen meiner Möglichkeiten. Desgleichen stelle ich Ihnen das Buch von G. Scelle: Droit international public (1948 bei Domat) zur Verfügung.3 Wie ich bisher feststellen konnte, unterscheidet es sich von seinem Droit de[s] gens in einigen wichtigen Punk­ ten. Sollten Sie auf dieses Buch Wert legen, so bitte ich Sie um Bescheid. Überhaupt: für die gesamte juristische Literatur Frankreichs stehe ich Ihnen zur Verfügung. Ich kann sie durch meinen Vetter, Herrn Schilly,4 den Sie wohl von Berlin her kennen, besorgen lassen.

1  Fehlt.

2  Im „Nomos der Erde“ schreibt Schmitt (Anm. 2 auf S. 71  f.), dass ihm das „Buch“ von Manuel Gaicia [recte: García] Pelayo, Juan Ginés de Sepúlveda y los problemas jurídicos de la conquista de América, nicht zugänglich gewesen sei. Es handelt sich jedoch nicht um ein Buch, sondern um die Einleitung zu: Juan Ginés de Sepúlveda, Democrates alter de justis belli causis apud Indos, Mexiko 1941, S. 1–42. (Frdl. Hinweis von Günter Maschke). – Der Staats-und Völkerrechtler García Pelayo (1909–1991), war von 1980 bis 1986 Präsident des spanischen Verfassungsgerichts. Er hatte Schmitt 1936 besucht und schrieb ein Nachwort zur 5. (u. ff.) Aufl. der spanischen Übersetzung von Schmitts Verfassungslehre, das sich auch in Bd. 3 seiner „Obras completas“, Madrid 1991, S. 3213–3216 findet; 4 Briefe, 1950–1982, im Nl. Schmitt, 1 Brief vom 6. Nov. 1982 veröff. in: Jerónimo Molina Cano (Hrsg.), Contra el „Mito Carl Schmitt“. 2. Aufl., 2019, S. 75; vgl. AdB, S. 33. 3  Georges Scelle, Cours de droit international public. Manuel de droit internatio­ nal public, Paris 1948. – G. Scelle (1878–1961), franz. Völkerrechtler, Prof. von 1912 bis 1932 in Dijon, anschließend in Paris, von 1948 bis 1960 Mitglied der Völker­ rechtskommission der Vereinten Nationen. 4  Ernst Schilly (1914–1990), höherer Postbeamter in Saarbrücken, wurde 1987 ebenda mit einer 1172 Seiten umfassenden Diss. zum Deutsch-französichen Krieg 1870/71 promoviert. Schilly, dessen Frau als Bibliothekarin in der Berliner Staatsbib­ liothek arbeitete, hatte Schmitt 1943 während eines Luftangriffs im Bunker der Bib­ liothek kennengelernt; 8 Briefe (1951–1978) im Nl. Schmitt.

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1951 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Ich entbiete Ihnen mit Hochachtung die Grüße eines dankbaren Schülers, der ich seit etwa 1948 bin. Roman Schnur 2. 1951-01-29 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14190, hs.

Mainz, den 29.1.1951

[darunter von C. S. stenogr. Notiz und:] b. 9/2 515

Sehr geehrter Herr Professor! Sie können sich kaum vorstellen, welche Freude Sie mir mit Ihrem Brief vom 23.1. bereitet haben. Ich hatte nicht geglaubt, dass Sie mich so bald verstehen würden. Auf das Zusammentreffen mit Ihnen freue ich mich be­ sonders. Nun möchte ich Ihnen den Grund für die Zusendung des Buches angeben. Sie teilten mir mit, dass Sie das Buch zu kaufen beabsichtigen. Ich möchte Ihre Absicht durchkreuzen, indem ich mir die Freiheit nehme, es Ihnen zu schenken. Und ich möchte auch alsbald Ihre möglichen Einwände gegen das Geschenk entkräften. Zunächst: Ich habe einige hundert Mark für Vorlesun­ gen bezahlt, die mir nicht viel eingebracht haben. Ich sehe deshalb nicht ein, warum ich Ihnen, dem ich so manchen Gedanken verdanke, nicht eine Zu­ wendung machen soll, deren Annahme ich als große Ehre auffasse. Weiterhin möchte ich von Ihnen als Gegenwert die Angabe derjenigen Buch­ handlung haben, wo ich einige Werke von Ihnen kaufen kann, die ich noch nicht besitze. Hier und da konnte ich eines Ihrer Bücher erstehen, aber sehr bedeutsame vermochte ich allem Suchen in Antiquariaten zum Trotz nicht aufzufinden. Die Eigentümer dieser Bücher wissen wohl, was sie haben! Vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Ich denke da an: Verfassungslehre, Begriff des Politischen, Legalität und Legitimität, den Leviathan und Posi­ tionen und Begriffe. Wegen meiner Ansprüche bitte ich Sie um Verzeihung. Verstehen, so glaube ich, werden Sie mich. – Wenn Sie über den Mangel an echter Öffentlichkeit schreiben: ich will Ihnen mitteilen, dass man Sie an der hiesigen Universität nicht vergessen hat. So hat zum Beispiel Herr Professor Giese Sie mehrfach mit Lob erwähnt, und 5  Fehlt.



1951 – Roman Schnur an Carl Schmitt39

zwar in einer Art, die mich sehr gefreut hat.6 Was Ihren Einfluss auf die Studenten betrifft, so kann ich sagen, dass er bei denen, die Werke von Ihnen kennen, recht erheblich ist. Nur ist es so, dass es deren wenige sind. Ich glaube, dass es in gewissem Sinne gut so ist. Ihre Bücher kann man nicht zum Examen auswendig lernen. Vielleicht geht das bei anderen Büchern über Staatsrecht besser. Je geistloser sie sind, desto mehr sind sie bekannt. Ich glaube, ich brauche keine Exempel zu bringen. Ich bin nun bei meinem Anliegen angelangt. Es betrifft ein staatsrechtliches Problem, mit dem ich mich seit einigen Wochen beschäftige. Ich nehme mir die Freiheit, Ihre Zeit mit dem Bericht über das Ereignis zu beanspruchen. Am Anfang war ein „Fall“. Er soll sich im Land Rheinland-Pfalz zugetragen haben. Dier Prüfungs-Kommission stutzte ihn zur Aufgabe zurecht. Professor Giese gab ihn zur Aufgabe in einer Übung. Ein Ministerpräsident veröffentlichte ein vom Landtag beschlossenes Gesetz derart, dass er einen nach Beschluss von der Militärregierung beanstandeten Paragraphen wegließ. Es wurde gefragt, ob ein Gesetz vorliege und ob es etwas ausmache, wenn der Landtag zugestimmt hat oder noch zustimmt; ferner, wer zur Entscheidung der Sache zuständig sei. Das Problem lag nach Absicht des weisen „Fallenstellers“ im ersten Teil der Arbeit. Das Problem, sofern es eins war, entging mir nicht. Dafür entging den Prüfern, Herrn Pro­ fessor Giese und den Übungsteilnehmern resp. Kandidaten das wichtigste Problem. Als ich es berührte, überkam mich ein Gefühl, wie es ein Jäger hat, wenn er die Fährte eines Wildes findet. Ich möchte behaupten, dass das Gefühl vor dem klaren Gedanken da war: Der Verfassungsgerichtshof ist hier nicht zu­ ständig. Andernfalls hat er die Chance, Gesetzgeber zu spielen. Ich schrieb das nieder. Bei der Korrektur fiel es mehr oder weniger nicht auf. Daraufhin sprach ich mit Herrn Professor Giese darüber, der etwas über­ rascht schien. Denn er hatte mit ziemlicher Sicherheit die gegenteilige An­ sicht vertreten, die ja auch nun einmal nicht vorgelegen hatte. Ich freute mich außerordentlich, dass Sie hier einen Erfolg erringen sollten. Ich habe nun die Aufgabe, das Problem in einer „wissenschaftlichen Seminararbeit“ zu untersuchen. Sechs Wochen vor meinem Staatsexamen! Ich fürchte, dass ich nicht so arbeiten kann, wie ich es wünsche. Fest steht natürlich die The­ se: Dass hier ein Konflikt vorliege; dass der Gesetzgeber nicht gehandelt habe und der Verfassungsgerichtshof das nicht in einer eventuellen Entschei­ 6  Friedrich Giese (1882–1958), Staats- und Völkerrechtler, seit 1914 Ordinarius an der Universität Frankfurt, 1946 von der amerikanisches Miltitärregierungaus seiner Professur entlassen, lehrte dann in Mainz, das zur französischen Zone gehörte; 9 Briefe, 6 Postkt. (1929–1957) im Nl. Schmitt.

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1951 – Roman Schnur an Carl Schmitt

dung tun darf. Sonst ließe sich irgendwie irgendwann auf diesem Wege der Lastenausgleich herbeiführen. Verdacht erregte ich andernorts, dass ich eine Entscheidung dem Verfas­ sungsgericht entziehen will. Ich glaube, weitere Worte über diese Zweifel an meinem juristischen Denkvermögen erübrigen sich. Es freut mich sehr, dass ich Anschauungen, die ich Ihren Büchern entnahm, hier verwerten kann. Eine Ehre wäre es für mich, wenn Sie mir in einigen Worten Ihre hochgeschätzte Meinung mitteilen würden. Ich fühle mich dann im Rücken gut gedeckt. Hoffentlich habe ich nach dem schwierigen Examen (kürzlich sind 65 % der Kandidaten durchgefallen) mehr Zeit, mich „meinen“ Gebieten zu widmen: Staats- und Völkerrecht. Im Examen, überhaupt an den Universitäten scheint man wenig Wert darauf zu legen. Es gibt wohl gute Gründe dafür. Da tut es einem richtig wohl, die Antrittsrede von Herrn Pro­ fessor Weber in Göttingen zu lesen.7 Im übrigen hält man vom „Staat“ nicht viel, weil er heute so „wenig leistet“. Man merkt nicht, dass das, was man heute Staat nennt, schwerlich so genannt werden kann. Herr Gockeln aus Düsseldorf sprach jüngst von „Betriebsstaat“, den die CDU anstrebe. Wohl ohne Mitbestimmungsrecht? Sollte man tatsächlich Max Weber gelesen ha­ ben? (Aber schlecht; doch immerhin.) Zum Schluss meines wohl zu langen Briefes möchte ich Sie noch fragen, ob Sie das Buch von Maxime Leroy, Les Tendances du Pouvoir …, Paris 1937 kennen.8 Ich kann es Ihnen sogleich zusenden und vielleicht billig verschaf­ fen. Indem ich Sie mit großer Hochachtung grüße, verbleibe ich Ihr Roman Schnur

7  Werner Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz (Göttinger Vor­ träge und Schriften, 3), Göttingen 1949. – W. Weber (1904–1976), von Schmitt 1928 promoviert, 1935 Prof. für Öffentliches Recht an der Handelshochschule Berlin, 1942 Leipzig, 1949 Göttingen; 65 Briefe, 3 Postkt., 2 Telegr. (1927–1976) im Nl. Schmitt. 8  Maxime Leroy, Les tendances du pouvoir et de la liberté en France au XXe siècle (Bibliothèque d’histoire politique et constitutionelle, 1), Paris 1937. – Maxim Leroy (1873–1958), franz. Jurist und Ideenhistoriker.



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3. 1951-03-25 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14191, hs.

Merzig, Ostern 1951 Sehr geehrter Herr Professor! Vielleicht machen Sie mir einen stillen Vorwurf, weil ich wenige Tage vor dem Staatsexamen mir die Zeit zu einem kurzen Brief an Sie nehme. Doch glaube ich, dass es nur eine Warnung sein kann und kein Vorwurf, denn Sie werden es mir nicht verargen, dass ich aller technischen Arbeit zum Trotz einem Drängen nachgeben muss. Demselben Drängen, das doch mit viel größerer Macht so lang in Ihnen ist. – Ich wollte Ihnen zwei kurze Nachrichten geben, wovon die erste Ihnen viel­ leicht nicht neu ist, Herr v. d. Heydte hat eine ordentliche Professur für öf­ fentliches Recht in Mainz erhalten.9 Er wird also wohl im kommenden Se­ mester bereits lesen. Wenn ich das Examen hinter mir habe, werde ich mir einige Vorlesungen von ihm anhören. Es könnte ja sein, dass er einige meiner Zweifel, die sich nach der Lektüre von Herrn Welzels neuem Buch noch vermehrt haben,10 zum Verschwinden bringt. In dieser Hinsicht ist man im Staate Rheinland-Pfalz sehr eifrig, auch im Kombinieren von sehr verschie­ denen Elementen. Einer der staatlichen „Legisten“ meinte vor Kurzem im Staatsexamen, eine echte Demokratie müsse notwendig rechtsstaatlich sein und ließ eine Seminararbeit über das Naturrecht in der Verfassung von Rheinland-Pfalz anfertigen … Ferner: Bei Sirey ist ein neues Werk von Robert Redslob erschienen: Traité de droit des gens (L’évolution historique, Les institutions positives, Les idées de justice, Le droit nouveau), ein starker Band, der etwa 15–16 Mark kosten dürfte.11 Ich glaube, dass dies Buch nicht uninteressant ist, vor allem, weil Herr Redslob das geistesgeschichtliche Feld der französischen Revolution 9  Friedrich August von der Heydte (1907–1994), Offizier, Staats-und Völkerrecht­ ler, Politiker, war 1933 Assistent von Kelsen in Köln, wurde von Carl Schmitt nicht übernommen, habilitierte sich 1949/50 und wurde 1951 an die Universität Mainz berufen, von 1954 bis 1975 Ordinarius in Würzburg. 10  Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Prolegomena zu einer Rechtsphilosophie, Göttingen 1951 – Hans Welzel (1904–1977), Strafrechtler und Rechtsphilosoph, promovierte 1928 über Pufendorf, 1936 Prof. in Göttingen, 1952 in Bonn. 11  Robert Redslob (1882–1962) elsässischer Staats- und Völkerrechtler, hatte mit seiner Betonung der Stellung des Reichspräsidenten (Auflösungsrecht des Parlaments) Schmitt beeinflusst.

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ziemlich kennt und Musterbeispiele für das Denken im Bürgerkrieg liefern wird. Sein Pathos ist nicht falsch, soweit ich das beurteilen kann. Wenn Sie Interesse an diesem Buch haben, lassen Sie das mich bitte wissen. Es wird mir eine Ehre sein, das Buch besorgen zu dürfen. Lange Zeit nimmt das nicht in Anspruch. Es ist auch noch (bei Sirey) eine Schrift von Émile Giraud erschienen: La Nullité de la politique internationale des grandes démocraties, 1919–1939, La guerr.12 Preis etwa 6–7 Mark. Ich selbst hatte das Glück, für billiges Geld das Buch von Lovell [sic!], Pu­ blic opinion, in französischer Übersetzung zu erstehen.13 Nach dem Examen werde ich mich damit befassen. Das waren die Möglichkeiten, die ich Ihnen mitteilen wollte. Vielleicht kön­ nen Sie einigen Nutzen daraus ziehen. Nach dem Examen, so hoffe ich, werde ich bis zur Anstellung geraume Zeit für mein Studium haben. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich Sie gerade dann zum Lehrer haben dürfte. Ich verbleibe in Hochachtung Ihr Roman Schnur 4. 1951-04-01 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14192, hs.

Mainz, den 1. April 1951 Sehr geehrter Herr Professor! Haben Sie herzlichen Dank für die gute Nachricht.14 Selbstverständlich stehe ich Ihnen für Ihren Aufenthalt in Mainz zur Verfügung. Ein Treffen wird sich ohne Schwierigkeiten einrichten lassen, wenn Sie die Zeit dafür angeben. In irgendeinem guten Weinlokal, wenn’s Ihnen genehm ist, werden wir ein stil­ les Plätzchen finden.

12  Émile

Giraud (1894–1965), franz. Jurist und Politiker, Prof. in Rennes. ist wohl: Abbott Lawrence Lowell, L’Opinion publique et le gouverne­ ment populaire (Bibliothèque internationale de droit public), Paris 1924. Schmitt be­ saß eine englische Ausgabe (London 1921). Lowell war von 1909 bis 1933 Präsident der Harvard-Universität. 14  Fehlt. 13  Gemeint



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Da Sie mich per Telefon kaum erreichen können, werde ich etwa Samstag, am Nachmittag, versuchen, Sie per Telefon bei Herrn Professor Schmitz zu erreichen.15 Auf diese Weise wird es am ehesten möglich sein, den Zeitpunkt unseres Treffens festzulegen. Wenn Sie einen besseren Weg finden sollten, so soll’s mir recht sein. Ich richte mich ganz nach Ihnen. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise und glückliche Ankunft in Mainz. Immer Ihr Roman Schnur 5. 1951-04-26 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14193, hs.

Mainz, den 26.4.1951

[daneben von C. S:] Bretzenheim, Bahnstr. 26

Sehr geehrter Herr Professor! Mit herzlichem Dank sende ich Ihnen die beiden Aufsätze zurück. Beide haben mir sehr gut gefallen. Der Aufsatz von Hugo Ball hat mich ziemlich überrascht.16 Eine derartige Darstellung hatte ich von ihm nicht erwartet. Die Auseinandersetzungen vieler Staatsrechtler mit Ihren Schriften lassen an Tiefe oftmals sehr zu wünschen übrig. Sie drücken sich meist an den Kern­ problemen vorbei, bleiben in der Legalität hängen. Das mag für diejenigen Leute, die sich heute Juristen nennen ein Vorzug sein – eine Auseinanderset­ zung im wirklichen Sinne ist es nicht. Ihr Aufsatz in der „Tat“17 hat mir deshalb besonders gefallen, weil ich in­ zwischen einige Stücke aus dem bei Meiner neu gedruckten Buch „Vom

15  Der mit Schmitt seit seiner Bonner Zeit befreundete Arnold Schmitz (1893– 1980) war seit 1946 Ordinarius für Musikwissenschaft in Mainz; s. TB IV und V; Angela Reinthal, „Mich hält ein reines Intervall“. Carl Schmitt und die Musik (Plet­ tenberger Miniaturen, 12), Berlin 2019; 29 Briefe, 8 Postkt., 1 Telegr. (1935–1980) im Nl. Schmitt. 16  Hugo Ball, Carl Schmitts Politische Theologie, in: Hochland 21/2, 1923/24, S. 263–286. – Hugo Ball (1886–1927), Schriftsteller. Schmitt, der mit Ball problema­ tisch befreundet war, hielt Balls Aufsatz für das Beste, was über ihn geschrieben wurde; TB III und IV; 4 Briefe (1924–25) im Nl. Schmitt. 17  Carl Schmitt, Dreihundert Jahre Leviathan. Zum 5. April 1951, in: Die Tat vom 5. Apr. 1951 (jetzt in: SGN, S. 152–155).

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Mensch – Vom Bürger“18 gelesen habe. Wenn man zuweilen sagt, das einzige brauchbare Buch für die heutige Zeit sei die Bibel, so möchte ich hinzufü­ gen: Wenn man Platz für weitere hat und Geld, dann sollten es die des Hob­ bes sein. Als seien sie gestern geschrieben worden. Es war für mich der Anfang der Lektüre. „Land und Meer“ halte ich für die am schönsten geschriebene Schrift aus Ihrer Feder. Ich gebe es im voraus auf, meiner Tochter auf meine Weise die Geschichte nahe zu bringen. Ich würde sie sonst um den schönsten Unter­ richt bringen. Das möchte ich dann doch nicht. Durch einen Zufall gelang es mir, das hervorragende Buch von Otto Brunner zu kaufen.19 Ich glaube, nach dem Studium des Buches komme ich der mit­ telalterlichen und der neueren Verfassungsgeschichte näher. Nach den Arbei­ ten von Otto Brunner und Hans Planitz20 sind die Forschungen recht beacht­ lich fortgeschritten – hier darf man das verhängnisvolle Wort ruhig gebrau­ chen. Man kann Brunner einen echten Historiker nennen. Ich habe in einem Gespräch mit einem Freunde die Fehler der herrschenden Meinung erlebt. Nach der Lektüre von Schwerins Rechtsgeschichte21 war er ziemlich im Un­ klaren, kam mit der Methode der Delegationen nicht zu Rande. Was öffent­ liches Recht war, wurde ihm nicht klar. Mir gehts nicht viel besser, so hatte ich aus Ihren Schriften bereits einige Lehren gezogen, so dass ich kritischer sein konnte. Der Herausgeber der Schrift: Donoso Cortés, Der Abfall vom Abendland, ein Herr Viator, nennt Sie in der Einleitung „geistigen Wegbereiter des deutschen Totalitarismus“.22 Der Vergleich mit Machiavelli kam mir sogleich, und der mit Hobbes. Immerhin: Sie befinden sich in guter Gesellschaft. Das wird auch Ihnen eine freudige Gewissheit sein – aus dem Munde eines Gegners. 18  Thomas Hobbes, Lehre vom Menschen. Lehre vom Bürger (Grundzüge der Phi­ losophie 2/3), Leipzig 1949 (unveränd. Abdr. der 1915 erstmals erschienenen Übers. von Max Frischeisen-Köhler). 19  Otto Brunner (1898–1982), österr. Archivar und von Schmitts „konkretem Ord­ nungsdenken“ beinflusster Historiker, seit 1931 Prof. in Wien, von 1954 bis 1968 Prof. in Hamburg. Mit seinem Buch „Land und Herrschaft. Grundfragen der territori­ alen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter“ (seit 1939 zahlr. Aufl.) hat er eine neue, quellenorientierte Sicht auf das Mittelalter eröffnet; 4 Briefe (1941– 1950) im Nl. Schmitt. 20  Hans Planitz (1882–1954), Rechtshistoriker; 2 Briefe (1932) im Nl. Schmitt. 21  Claudius von Schwerin (1880–1944), mehrere Titel zur deutschen Rechtsge­ schichte. 22  Juan Donoso Cortés, Der Abfall vom Abendland. Dokumente. Hrsg. und eingel. von Paul Viator. Wien 1948. Auf S. 11 heißt es: „Daher auch die große Gefahr einer mißbräuchlichen Anrufung Donosos als Zeugen aller Spielarten von Rechtsfaschis­ mus bis hin zu Carl Schmitt, dem geistigen Wegbereiter des deutschen Totalitaris­ mus.“



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Eine interessante Frage wurde, wie ich erst jetzt hörte, neulich im Examen zur schriftlichen Beantwortung vorgelegt: Ob dem Bundespräsidenten das materielle Prüfungsrecht hinsichtlich der zu verkündenden Gesetze zustehe? Die Frage ist im allgemeinen bejaht worden. Nach oberflächlicher Prüfung bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass er es nicht hat. Sicherungen, im­ mer wieder Sicherungen will man haben. Gegen wen denn? Gegen das Par­ lament? Arme Demokratie! Mir scheint eher, dass man einen weiteren poli­ tisch hochwichtigen Posten schaffen will, um den Kampf intensivieren zu können. Schließlich habe ich eine Bitte: Teilen Sie mir bitte von Zeit zu Zeit mit, wo kleinere Aufsätze von Ihnen erschienen sind. Es ist heutzutage sehr schwer, genau festzustellen, wo Bedeutendes gesagt wird. Einen festen und sicheren Platz für das Gespräch gibt es kaum noch. Und dann ist es natürlich schwer, den seltenen Ort ausfindig zu machen. Darf ich hoffen, dass Sie, auch während Ihrer Abwesenheit, die Verbindung aufrechterhalten? Es könnte sein, dass ich um diese Zeit in Paris die Arbeit aufnehme. Wenn möglich über Maxime Leroy. Und wenn es „nur nebenher“ geschehen kann. Ihr Rat wäre mir unentbehrlich. Ich verbleibe hochachtungsvoll Ihr Roman Schnur 6. 1951-06-22 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14194, hs.

Merzig, den 22.6.1951

[daneben von C. S:] Saar. Torstr. 34, b. 2/7 51; stenogr. Notiz

Sehr geehrter Herr Professor! Wie ich von Fräulein Schmitz erfahren habe, sind Sie von Ihrer Spanienreise zurück.23 Ich glaube, dass es sehr schöne Wochen waren und darf sagen, dass ich Sie darum beneide, wenngleich Sie eine solche Erholung weitaus mehr verdient haben als ich. Ich kann mich von den Strapazen des glücklich be­ standenen Examens auch hier, bei meinen Eltern, erholen. Die vierzehn Tage Ferien in Merzig dienen nicht nur der Erholung, sondern auch der Promotion, wobei ich sagen möchte, dass dieser Dienst recht ange­ 23  Carl Schmitt war von April bis Juni 1951 auf Einladung von Rafael Calvo Se­ rer, der ihn 1949 in Plettenberg besucht hatte, zu einer Vortragsreise in Spanien.

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1951 – Roman Schnur an Carl Schmitt

nehm ist. Ich werde also bei Prof. Bader promovieren, und zwar wird die Rechtsgeschichte mein Feld sein.24 Bei den Professoren des Staats- und Völkerrechts könnte ich nicht viel ausrichten (v. d. Heydte und Armbruster).25 Da habe ich es vorgezogen, Herrn Prof. Bader um ein Thema zu bitten. Herr Prof. Bader ist ein sehr gewissenhafter Forscher. Er hat im Südwesten gear­ beitet, den er gut kennt. Mir selbst lässt Herr Prof. Bader bei der Auswahl des Themas freie Hand, weil ich in Paris (zeitweilig) arbeiten möchte. Es dauerte nicht lange, und das Gebiet wurde abgegrenzt: Die Legisten. Wenn mich aus der älteren französischen Rechtsgeschichte etwas besonders stark anzieht, dann sind es diese Leute, von denen man in Deutschland außer dem Namen nicht viel weiß. Soweit ich die Sache übersehe, haben nur Sie, geehr­ ter Herr Professor und E. W. Eschmann26 und, darauf fußend, Koschaker,27 die Bedeutung dieser eigenartigen Männer hervorgehoben. (Auch noch Mitt­ eis28). Nun ist das Feld sehr weit, will mit Fontane sagen: das ist ein weites Feld. Sie haben über die Legisten und deren Einfluss auf den französischen Geist geschrieben. Ich kenne Ihren Aufsatz nicht, ich glaube, er ist nur sehr schwer zu erreichen. Dennoch wird dieses Thema für mich unschwer sein, denn die geistigen Zusammenhänge zu erkennen, das ist Ihre Meisterschaft und kaum einem anderen Menschen gegeben. Ich werde mich also mehr an die Fakten halten und mich von dort her vor­ tasten. Dabei denke ich an die geistige Haltung und die Arbeitsweise der Legisten. Es interessiert mich: von welchem Geist diese Männer beseelt (und zuweilen besessen waren) und wie sie zu Werke gingen. Sinnverschiebungen, sehr elastische Interpretation und dergleichen. 24  Karl Siegfried Bader (1905–1998), seit 1951 Prof. für Rechtsgeschichte in Mainz, folgte aber schon 1953 einem Ruf nach Zürich. 25  Hubert Armbruster (1911–1995), seit 1949 Ordinarius für Öffentliches Recht und politische Wissenschaften in Mainz. 26  Ernst Wilhelm Eschmann (1904–1987), Soziologe, Kulturphilosoph, polit. Schriftsteller (Tat-Kreis), ab 1933 Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin, nach 1945 Rückzug in die Schweiz, 1969 auf den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für Kulturphilosophie an der Univ. München berufen. Schnur meint hier: E. W. Eschmann, Die Führungsschichten Frankreichs, Bd. 1: Von den Capetingern bis zum Ende des Grand Siècle, Berlin 1943, bezeichnet das Buch allerdings als „nicht immer zuverlässig und daher mit Vorsicht zu benutzen“ (R. Schnur, Die französ. Ju­ risten im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jhs., Berlin 1962, S. 9, Anm. 2); 1 Brief (1938) im Nl. Schmitt. 27  Paul Koschaker (1879–1951), österr. Rechtshistoriker; 1 Brief (1942) im Nl. Schmitt. 28  Heinrich Mitteis (1889–1952), Rechtshistoriker, 1921 Ordinarius für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht in Köln, 1924 Heidelberg, 1934 München, 1935 Wien, 1940 Rostock, 1947 München, 1952 Zürich.



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Es stehen mir für diese Arbeit etwa acht Wochen in Paris zur Verfügung, die ich, in Abständen, in den Vorbereitungsdienst verlege. Ob das reicht, weiß ich nicht. Mir fehlt doch die Erfahrung. Deswegen gerade wende ich mich an Sie, weil ich hoffe, dass Sie die Güte haben werden, mir helfend beizustehen. Wie ich schon sagte, lässt Herr Prof. Bader mir freie Hand, weil er sich auf diesem Feld wenig auskennt, mir jedoch die Arbeit darauf nicht verwehren möchte. Ich wäre Ihnen also sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie mir mitteilen wol­ len, ob sich das Thema in dem erwähnten Sinne formulieren lässt und ob meine Zeit für das Studium der Quellen in etwa ausreicht. Weitere Anregun­ gen empfange ich sehr gerne; besonders, weil ich weiß, dass sie von einem Manne kommen, dessen Sachkenntnis auch hier berühmt ist. Die Beschäftigung mit diesem Thema, die ich ja nicht in einem fort betreiben kann, wird nicht die einzige während der nächsten Zeit sein. Außerdem ist das Ganze eine Verlegenheitslösung. Außerdem beginne ich, die Bücher der Duguit,29 Hauriou30 und Leroy zu sammeln. Man sollte sich in Deutschland etwas mehr mit diesen Leuten beschäftigen. Wir hinken in Erkenntnissen um einige Jahre nach, soweit ich das von meinem niedrigen Stand übersehen kann. Damit bin ich am Ende meines Briefes angekommen. Zuletzt möchte ich Sie fragen, wann Sie wieder nach Mainz kommen. Sie sprachen damals vom Sommer. Es wäre eine große Freude. Sie werden dort nun auch Herrn Prof. Hettlage treffen.31 Ich bin so unbescheiden zu hoffen, dass Sie auch dann wieder einige Stunden frei haben für mich. Ich zehre heute noch von jenen Stunden in Mainz. Indem ich Sie mit aller Hochachtung grüße verbleibe ich Ihr Roman Schnur P. S. Kennen Sie die Anschrift von Herrn Eschmann?

29  Léon

Duguit (1859–1928), franz. Verfassungsjurist. Hauriou (1859–1929), franz. Jurist, dessen Institutionenlehre für Schmitt wie Schnur wichtig war. 31  Karl Maria Hettlage (1902–1995), Jurist, Finanzpolitiker, seit 1951 Prof. für Öffentl. Recht in Mainz. Schmitt kannte ihn seit 1932; 17 Briefe (1933–1957) im Nl. Schmitt. 30  Maurice

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1951 – Carl Schmitt an Roman Schnur

7. 1951-07-02 Carl Schmitt an Roman Schnur 112–113, hs.

Plettenberg, den 2. Juli 1951 Lieber Herr Schnur, ich schicke Ihnen diesen Brief an Ihre Mainzer Adresse, und hoffe, dass er Ihnen nach Merzig nachgeschickt wird. Auf Ihrem Schreiben vom 22.6. habe ich keine Adresse gefunden. Teilen Sie mir bitte, mit einem kurzen Wort, den Empfang meiner Sendung mit! Der Aufsatz über die französischen Legisten, den ich Ihnen beilege (mit der Bitte, ihn später einmal, wenn Sie mit Ihrer Dissertation soweit sind, zurückzugeben) ist nämlich mein letztes Exemplar und deshalb unersetzlich. Es dürfte auch in Frankreich verschwunden und verschollen sein, obwohl er damals einiges Interesse fand und sogar der alte „Temps“ selig sich ausführlich mit ihm beschäftigte. Aber die Temps wech­ seln – tempora mutantur, und die Welten, les Mondes, ebenfalls.32 Ich würde mich freuen, wenn Sie eine schöne Dissertation machten. Das Thema – Legisten – ist weit, wie jedes historische Thema; es handelt sich um die Begrenzung. Über Bodin ist viel gearbeitet worden, aber immer noch nicht das Entscheidende.33 Ein neues Buch über Bodin, das von Garosci sein soll, suche ich verzweifelt.34 Von dem (sehr bedeutenden) Prof. Eric Voegelin (früher in Wien, jetzt Louisiana State University) erhielt ich einen sehr interessanten Brief über Bodin zu dem beil. Aufsatz.35 Darüber hoffent­ lich bald einmal mündlich. Ich bin heute sehr eilig, weil ich durch die zwei 32  „Le Temps“ war die bedeutendste französische Tageszeitung der Dritten Repu­ blik und erschien von 1861 bis zum 30. November 1942. Nach dem Krieg wurde sie der Kollaboration beschuldigt und eingestellt. „Le Monde“ übernahm Gebäude und Inventar und ist gewissermaßen der Nachfolger. 33  Jean Bodin (1529/30–1596), Begründer der absoluten staatlichen Souveränität als Mittel zur Überwindung der konfessionellen Bürgerkriege in Frankreich und Hauptvertreter der Legisten. 34  Aldo Garosci, Jean Bodin. Politica e diritto nel rinascimento francese, Milano 1934. Garosci geht hier von der jüdischen Herkunft Bodins aus, was Schmitt 1936 ebenfalls tat; s. folgende Anm. 35  Eric (Erich) Voegelin (1901–1985), polit. Philosoph, Schüler von Hans Kelsen und Othmar Spann, lehrte seit 1928 in Wien Gesellschaftslehre und allgemeine Staatstheorie, emigrierte 1938 in die USA, wurde 1944 amerikan. Staatsbürger und lehrte an verschiedenen Universitäten, 1958 folgte er einem Ruf nach München, kehr­ te 1969 in die USA zurück. Voegelin sah den in vieler Hinsicht rätselhaften Bodin als Mystiker, vgl. sein Buch „Jean Bodin“, München 2003. BW in: Schmittiana NF II, S. 183–199 (der erwähnte Brief über Bodin vom 8. Juli 1951 auf S. 192–194).



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Monate meiner spanischen Vortragsreise (die großartig verlaufen ist) arg im Rückstand bin. Nur schnell noch eins: Hettlage ist ein sehr kluger, erstklassiger Jurist. Die Kombination Hettlage – Bader wäre für Sie nicht schlecht. Man darf H. nicht mit den beiden andern von Ihnen genannten Namen in einem Atem nennen. Schreiben Sie mir auch, wenn Sie etwas über Garosci finden! Herzliche Grüße und guten Erfolg für Ihre Arbeit! Stets Ihr Carl Schmitt 8. 1951-07-? Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14181, hs.

[o. D.] Sehr geehrter Herr Professor! Nehmen Sie bitte aus meiner Hand als Geburtstagsgeschenk das kleine Refe­ rat über die beiden ersten Teile des Buches „Les Tendances du Pouvoir …“ von Maxime Leroy, welches Sie noch nicht kennen.36 Es ist entstanden in den Tagen nach meinem Examen, als Erholung gleich­ sam für mich, und es [!] behaftet mit allen Mängeln einer Gelegenheitsarbeit. Ich muss Sie deshalb um Nachsicht bitten. Es war mir leider unmöglich, über den dritten Teil des Buches zu referieren, dessen Gegenstand der état cor­ poratif bildet. Das Buch ist von einem 63jährigen Gelehrten geschrieben, ist also eine reife Frucht; oder besser: es sind drei reife Früchte. Die Materie der Studie über die coutume constitutionelle liegt mir näher; ich habe mich mit ihr schon etwas beschäftigt.37 Dass mir die andere Studie fremd ist, beruht nicht allein auf meiner Schuld. Dafür könnte ich die deut­ schen Staatsrechtslehrer verantwortlich machen, die das Studium der Ge­ werkschaften vernachlässigen oder gar ablehnen. Sollte Ihnen das kleine Geschenk gefallen, so wird mich das sehr freuen; denn dann habe ich die Gewissheit, dass ich Ihnen eine kleine Freude berei­ ten durfte. 36  Typoskr.

im Nl. Schmitt, RW 265–19450. Jacques Garillot, Étude de la coutume constitutionelle au 15e siècle: Les États généraux de 1439, Nancy 1947. 37  Vermutlich:

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1951 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Ich wünsche Ihnen in diesen stürmischen Zeiten eine ruhige und glückliche Fahrt. Immer Ihr Roman Schnur P. S. Herzlichen Dank für Ihren Aufsatz. 9. 1951-07-19 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14195, hs.

Mainz, den 19.7.1951

[darunter von C. S:] Bahnstr. 26, b. 11/9 5138

Sehr geehrter Herr Professor! Ich schreibe Ihnen spät in der Nacht einige Zeilen, nach der Lektüre des Hauptwerkes von Lorenz von Stein.39 Es war mir alsbald klar, dass ich in mei­ nem Referat einige kapitale Fehler gemacht habe. Eine Entschuldigung dafür gibt es schwerlich. Man kann eben nicht von Maxime Leroy reden, ohne Lo­ renz von Steins Hauptwerk, ein monumentales Werk, gelesen zu haben. Was ich Ihnen eigentlich sagen wollte: Ob Sie nicht den kleinen Aufsatz über L. v. Stein, den Sie zum Aufsatz über die preußische Verfassungsfrage ge­ schrieben haben,40 im „Merkur“ veröffentlichen können? Ich glaube, dass man so viel Leute wie möglich auf diesen großen Denker aufmerksam ma­ chen sollte. – Das Buch von Garosci über Jean Bodin wird in Paris für Sie gesucht. Dort ist auch ein neues zweibändiges Werk von Maxime Leroy „Histoire des idées so­ ciales en France“ erschienen.41 Im September hoffe ich es kaufen zu können. 38  Fehlt.

39  Lorenz von Stein (1815–1890), Jurist, Nationalökonom. Mit „Hauptwerk“ ist wohl das in mehreren Bänden erschienene „Handbuch der Verwaltunsglehre“ ge­ meint. 40  Carl Schmitt, Die Stellung Lorenz von Steins in der Geschichte des 19. Jahr­ hunderts, in: Schmollers Jahrbuch 64, 1940, S. 641–646; mit kleinen Veränderungen auch als Nachwort zu: Lorenz von Stein, Zur preußischen Verfassungsfrage, Berlin 1940, S. 61–70, 2. Aufl. mit Vorw. von Norbert Simon und Annotationen von Joseph H. Kaiser, Berlin 2002 (jetzt in: SGN, S. 156–165). 41  Maxime Leroy, De Babeuf à Tocqueville (Histoire des idées sociales en France, 2), Paris 1950.



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Professor Voegelin wird, wie ich der Review of Politics entnehme, eine Ge­ schichte der politischen Ideen bei Macmillan veröffentlichen.42 Einzelne Kapitel hat er bereits separat veröffentlicht. Ich habe seine Auseinanderset­ zung mit Ihrer „Verfassungslehre“ gelesen und möchte sagen, dass es die gründlichste ist, die ich bisher gesehen habe.43 Dass er Ihnen dort zustimmt, wo die anderen Kritiker und solche, die vorgeben, es zu sein, lebhaften Wi­ derspruch erheben, war mir ein gutes Zeichen. Zum Schluss dieser raschen Zeilen möchte ich Sie um eine Auskunft bitten: Ob es sich lohnt, eine französische Ausgabe der Oeuvres von Proudhon in vier Bänden für etwa 20 DM zu kaufen?44 Ich kenne mich auf diesem Feld nicht aus und möchte keine Fehlinvestition machen. Es ist sowieso die Zeit der Kreditrestriktionen …45 Mit verehrendem Gruß Ihr Roman Schnur 10. 1951-09-25 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14196, hs.

Saarburg, den 25.9.51 Sehr geehrter Herr Professor! Als ich am vergangenen Wochenende in Mainz war, habe ich in meiner ehe­ maligen Wohnung Ihren Brief vom 11. September vorgefunden. Für Ihre wertvollen Zeilen möchte ich Ihnen herzlich danken. Ich hatte schon be­ fürchtet, mit meinem Exposé derart durchgefallen zu sein, dass Sie eine Antwort darauf für unnötig hielten. Gottlob war meine Furcht unbegründet. Ich freue mich, Ihnen weiterhin Mitteilungen verschiedenster Art machen zu dürfen.

42  Gemeint ist das große Werk „History of political ideas“, das vollständig jedoch erst postum in acht Bänden 1997–1999 in Columbia/Miss bei Univ. of Missouri Press erschien. 43  Eric Voegelin, Die Verfassungslehre von Carl Schmitt. Versuch einer konstruk­ tiven Analyse ihrer staatstheoretischen Prinzipien, in: Zeitschr. für öffentliches Recht 11, 1931, S. 89–109. 44  Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865), franz. Soziologe und Anarchist. 45  Auf das wachsende Handelsbilanzdefizit der Bundesrepublik im Verbund mit den durch den Marshall-Plan geförderten Ländern reagierte man 1950/51 mit Kredit­ restriktionen.

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1951 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Ich bin also als Referendar am hiesigen Amtsgericht eingestellt worden. Lei­ der war der Landgerichtsbezirk Mainz überfüllt, so dass man mich nach Trier verwies. Ich hoffe jedoch, im Frühjahr nach Mainz zu kommen, weil ich hier, in einem abgelegenen Städtchen nicht gerade gute Gelegenheit zum Studium habe. Die praktische Arbeit bereitet mir Freude und eine gewisse Befriedigung. Denn nach siebzehnjähriger Schulzeit ist man der Zensur mü­ de. Das Gefühl, tatsächlich im Leben zu stehen, vermag einen gewissen Stolz herbeizuführen, und ohne den geht’s im richterlichen Dienst nicht. Die Promotion muss unter den derzeitigen Umständen etwas zurücktreten, doch hoffe ich, sie im nächsten [Jahr] vollenden zu können. Das Thema mei­ ner Arbeit habe ich nach eingehender Beratung mit Herrn Professor Bader gewechselt. Ich habe nämlich beim Abstecken des Feldes feststellen müssen, dass eine tiefschürfende Arbeit über die Legisten weit mehr Zeit und Kennt­ nisse verlangt, als der sterbliche Deutsche heutzutage besitzt. Die Franzosen selbst haben über die juristische Tätigkeit der Legisten, besonders der frühen, so gut wie nichts publiziert. Und wenn Leute vom Schlage eines OlivierMartin bisher über dieses Thema geschwiegen haben, so werden sie dafür triftige Gründe haben.46 Desungeachtet interessiert mich die großartige Er­ scheinung nach wie vor. Ihren Aufsatz habe ich sorgfältig studiert und bitte Sie, ihn mir noch für eine kurze Zeit zu überlassen. Mein neues Thema lautet: „Der Rheinbund von 1658“.47 Ich brauche Ihnen darüber nichts mitzuteilen, denn Sie wissen selbst, wie schwer die Arbeit ist, besonders: wie unsicher der Boden ist. Der Vorteil ist, dass ich besser an das Material kommen kann. Ich werde es natürlich nicht versäumen, Sie auf dem Laufenden zu halten; vor allem in Paris werde ich viel Interessantes fin­ den. – Durch meine Buchhandlung habe ich bereits anfragen lassen, ob ich den ersten Band von Herrn Voegelins großem Werk von Macmillan beziehen [kann]. Ich bin sehr gespannt auf das Buch, weil ich von den Publikationen des Herrn Voegelin, die ich erreichen konnte, einen guten Eindruck habe. Dass Sie seine Besprechung Ihrer „Verfassungslehre“ bisher nicht kannten, hat mich überrascht. Sie wurde in der Z. f. öff. R. veröffentlicht und ist über 15 Seiten groß.48 In der gleichen Zeitschrift erschien eine Besprechung von 46  François

Olivier-Martin (1879–1952), franz. Rechtshistoriker. Unterschied zum 1806 gegründeten Rheinbund ist der Erste Rheinbund von 1658–1668 weniger bekannt. Er war ein überkonfessionelles Bündnis geistlicher und weltlicher Reichsfürsten mit Einschluss Schwedens und Frankreichs gegen den deut­ schen Kaiser. 48  Dass Schmitt den Aufsatz von Voegelin nicht kannte, ist unrichtig. Voegelin hatte ihm die Druckfahnen zugeschickt, die Schmitt am 30. März 1931 mit Dank zurückschickte; vgl. TB V, S. 101; Schmittiana NF II, S. 184 ff. 47  Im



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einer Dame, die Ihr Werk übel zerrissen hat, ohne auf die Probleme einzuge­ hen.49 Nur Hass und Neid konnte ich erkennen, Wissen aber nicht. Das neue Werk von Maxime Leroy ist bei Gallimard erschienen.50 Ich wer­ de es kaufen und Ihnen zur Lektüre übersenden. Und nun eine wichtige Sa­ che: Ich hatte Herrn Paeschke seinerzeit gebeten, an Sie heranzutreten mit der Bitte, es ausführlich zu besprechen.51 Mir scheint, dass der den Mut dazu nicht hat, denn er hat mich gebeten, Sie um eine Rezension zu ersu­ chen. Was der Grund für dieses Verhalten des Herrn Paeschke ist, weiß ich nicht. Er interessiert mich auch nicht sonderlich. Mir geht es um die Sache. Tun Sie bitte mir den Gefallen, das große Werk zu besprechen. Herr Paesch­ ke selbst kennt Maxime Leroy. Er hält ihn für einen großen Mann, meint aber, Leroy denke zu sehr in Begriffen des 19. Jahrhunderts. Herr Paeschke scheint Maxime Leroy’s Werke nicht gut zu kennen, denn wenn Leroy so denken sollte, dann denkt Herr Paeschke mit Begriffen des 18. Jahrhunderts, oder gar kennt er die maßgeblichen Begriffe nicht. Sie aber können da Ab­ hilfe schaffen. Ich stehe Ihnen zur Verfügung. – Das Opus von Garosci über Bodin ist 1935 in Bologna oder Florenz erschie­ nen, wenn ich mich recht entsinne. Göhring hat es in seinem Werk über Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich zitiert.52 Ich könnte bei ihm anfragen, wo das Werk zu entleihen ist. Sie könnten so gütig sein, mir nähe­ ren Bescheid zu geben. Notfalls kann ich es in Italien suchen lassen. Die beiden von Ihnen genannten Bücher (Jouvenel53 und Kojève54) werde ich sehr wahrscheinlich besorgen können. Ich erinnere mich gut, beide Titel in Prospekten gelesen zu haben. Eine große Saarbrücker Buchhandlung wird 49  Margit Kraft-Fuchs, Prinzipielle Bemerkungen zu Carl Schmitts Verfassungs­ lehre, in: Zeitschr. für öffentliches Recht 9, 1930, S. 511–441. 50  Maxime Leroy, De Babeuf à Tocqueville (Histoire des idées sociales en France, 2), Paris 1951. 51  Hans Paeschke (1911–1991), Journalist, zusammen mit Joachim Moras Grün­ der und Chefredakteur der Zeitschrift „Merkur“. Der seit 1941 bestehende gute Kon­ takt mit Schmitt verschlechterte sich 1952, als Schmitt im Merkur seinen Aufsatz „Die Einheit der Welt“ publizierte, wogegen eine große Zahl der Merkur-Autoren protestierte und damit drohte, ihre Mitarbeit einzustellen, falls Schmitt weiter in der Zeitschrift publizierte. Daraufhin knickte Paeschke ein; 24 Briefe, 1 Telegr. (1941– 1971) im Nl. Schmitt; vgl. BW Journalisten. 52  Martin Göhring, Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich: vom Mittelalter zu 1789, Tübingen 1946 (2. Aufl. 1947). 53  Bertrand de Jouvenel (1903–1987), Wirtschaftswissenschaftler und politischer Schriftsteller aus der franz. Schweiz. Welches Werk Schmitt nannte, ist unklar; in seiner Bibliothek findet sich. B. de Jouvenel, Du pouvoir, Genève 1947. 54  Alexandre Kojève (1902–1968), russ.-franz. Philosoph, der maßgeblich für die Hegelrezeption in Frankreich war. Für Schmitt wurde er im Zusammenhang mit sei­ ner Arbeit am „Nomos“ wichtig; 12 Briefe von Kojève und 8 Briefe von Schmitt, in:

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mir behilflich sein. Kürzlich konnte ich die französische Ausgabe von Lega­ lität und Legitimität auftreiben.55 Der Verlag verkauft sie heute noch. Haben Sie keine Rechte mehr daran? Von Prof. H. Schneider ist bei Mohr eine Schrift über gerichtsfreie Hoheits­ akte erschienen.56 In den nächsten Tagen werde ich sie durcharbeiten. Ist es Ihnen recht, wenn ich Ihnen kleine Bemerkungen darüber schicke? Wenn ich im Winter Zeit genug habe, werde ich Ihnen auch kritische Bemer­ kungen zu Ihrem Nomos senden. Herr Montesi schießt auch fast ganz an Ihrem Werk vorbei.57 Seine Kritik hat aber mich veranlasst, Ihr Buch erst­ mals kritisch zu studieren, wobei mir Einiges aufgefallen ist, was ich nicht zu deuten vermag. Ich werde Ihnen zu gegebener Zeit davon Mitteilung machen. Arnold Gehlen hat in „Wort und Wahrheit“ einen guten Aufsatz über die Bürokratisierung veröffentlicht.58 Es ist doch seltsam zu sehen, wie die Nicht-Juristen heute die Probleme des Staatsrechts besser behandeln als die Staatsrechtler selbst. Diese meine Meinung hat mit Soziologen-Kult nichts zu tun; ich möchte vielmehr sagen, dass die Staatsrechtler mit den überholten Begriffen festgefahren sind. Es liegt also nicht am Wissensgebiet, sondern an den gebrauchten Begriffen, wenn die Soziologen uns mehr Klarheit geben können als die Juristen.

Correspondance

Alexandre Kojève/Carl Schmitt. Présentée, traduite et annoté par Jean-Francois Kervégan et Tristan Storme. Philosophie. Revue trimestrielle, Nr. 135, Septembre 2017, S. 5–27; vgl. auch Schmittiana VI, S. 75–143. Wahrscheinlich mein­ te Schmitt folgenden Titel, der sich mit Anmerkungen in seiner Bibliothek findet: A. Kojève, Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la phénoménologie de l’esprit professées de 1933 à 1939 à l’École des hautes-études. Réunies et publiées par Raymond Queneau, Paris 1947. 55  Carl Schmitt, Légalité – legitimité, Paris 1936 (Übers. von William Gueydan de Roussel). 56  Hans Schneider, Gerichtsfreie Hoheitsakte. Ein rechtsvergleichender Bericht über die Grenzen richterlicher Nachprüfbarkeit von Hoheitsakten, Tübingen 1951. – Hans Schneider (1912–2010), Staatsrechtler, hatte bei Schmitt studiert und wurde von Werner Weber habilitiert, 1948 Prof. in Göttingen, 1951 Tübingen, 1955 Heidelberg; 47 Briefe, 5 Postkt., 1 Telegr. (1939–1982) im Nl. Schmitt. 57  Gotthard Montesi, Carl Schmitt redivivus, in: WuW 6, 1951, S. 221–224. 58  Arnold Gehlen, Bürokratisierung. Macht und Ohnmacht des Apparates, in: WuW 6, 1951, S. 573–580. – A. Gehlen (1904–1976), Philosoph, Anthropologe und Soziologe, ab 1934 Prof. in Leipzig, 1938 in Königsberg, 1940 in Wien, von 1947 bis 1961 in Speyer, dann an der RWTH Aachen; 22 Briefe, 1 Postkt., 1 Telegr. (1937– 1956) im Nl. Schmitt.



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Ich möchte diesen informatorischen Brief beenden mit der Bitte: Dass Sie mir mitteilen wollen, wenn Sie nach Mainz fahren. Ich könnte nach Koblenz fahren, um Sie dort zu treffen, wenn’s Ihnen angenehm ist. Mit herzlichem Gruß Ihr ergebener Roman Schnur P. S. Ich möchte die kleinen Dienste, die ich für Sie tun darf, Kärrnerdienste leis­ ten [!]. Sie erniedrigen nicht, wenn sie im richtigen Bewusstsein geleistet werden. Sie erfüllen einen mit Stolz, wenn man sieht, dass der Baumeister sie verwenden kann. 11. 1951-10-10 Carl Schmitt an Roman Schnur 114–115, hs.

Plettenberg, 10/10 51 Lieber Roman Schnur, gestern trafen hier 3 Flaschen schönsten Saarweins aus Saarburg ein. Ich bin tief gerührt und bedaure nur, dass wir sie nicht zusammen trinken. Ich freue mich, bald näheres über Ihre Arbeit zu hören. Das Legisten-Thema war tatsächlich zu weit. In einem Brief vom April (den ich erst im Juni bei meiner Rückkehr aus Spanien erhielt) baten Sie mich darum, Ihnen mitzutei­ len, wo kleinere Aufsätze von mir erscheinen. Es ist jetzt in der am 5. Okto­ ber erschienenen Nummer der Wochenzeitung „Der Fortschritt“ (EssenWerden) ein Aufsatz von mir über Amnestie erschienen, mit einer interessan­ ten Vorbemerkung der Redaktion.59 Wenn Sie ihn dort oder in Mainz nicht beschaffen können, verwahre ich Ihnen ein Exemplar. Wie steht es mit Ihrer Maxime-Leroy-Arbeit? Im Winter wird auch Nicolaus Sombart in Paris sein und dort über Ballanche arbeiten. Er hat Maxime Le­ roy neulich besucht.60

59  Carl Schmitt, Das Ende des kalten Bürgerkrieges. Im Zirkel der tödlichen Rechthaberei – Amnestie oder die Kraft des Vergessens, in: Der Fortschritt vom 5. Okt. 1951 (jetzt in: SGN, S. 218–221). Der Text der Vorbemerkung findet sich in BW Forsthoff, S. 384. 60  Vgl. BW Sombart, S. 50.

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Wie weit ist die Hugo-Ball-Arbeit von Herrn Merscher?61 Ich habe hier ei­ nen Brief von Hugo Ball mit einer vernichtenden Kritik über Theodor Haecker.62 Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen und in Ruhe ein gutes Gespräch führen können! Inzwischen nochmals herzlichsten Dank für den schönen Wein und alle guten Wünsche Ihres alten Carl Schmitt 12. 1951-10-15 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14197, hs.

Saarburg, den 15. Okt. 51

[darunter von C. S:] b. 17/12 5163

Sehr geehrter Herr Professor! Für Ihren letzten Brief sage ich Ihnen herzlichen Dank. Dass Ihnen die klei­ ne Gabe aus Saarburg gefallen hat, freut mich sehr. Es wäre eine Anregung für mich, von Ihnen zu erfahren, welche der Flaschen Ihnen am besten ge­ schmeckt hat. Ich werde Ihnen einmal eine Preisliste eines Weinhändlers schicken, der Sie entnehmen können, wie hoch die Spannen der Wiederver­ käufer sind. Auch im Weinhandel sind es die unverschämten Zwischenhänd­ ler, die einen großen Anteil an dem Steigen der Preise haben. – Das Buch von Kojève habe ich also bekommen. Es kostet 8 DM; ein Preis, der im Vergleich zu deutschen Buchpreisen, nicht zu hoch ist. Ich hoffe, dass Sie das Buch der Lektüre wert finden. Ich selbst konnte wegen der geringen Zeit, die mir im Augenblick für Lektüre verbleibt, nicht einmal das Buch 61  Alfred Merscher (1922–1999), stammte wie Schnur aus dem Saarland und stu­ dierte seit 1947 Germanistik und Geschichte in Mainz. Seine Dissertation über Hugo Ball – er hatte Balls Stieftochter Annemarie Schütt-Hennings in der Schweiz besucht und von ihr Originaldokumente von Ball erhalten – brach er Anfang der 50er Jahre ab. Seine Unterlagen sind heute im Besitz der Hugo-Ball-Gesellschaft, Pirmasens. (Vgl. auch unten, Nr. 341); 1 Brief (1951) im Nl. Schmitt. 62  Theodor Haecker (1879–1945), Autor und Übersetzer, seit 1915 mit Schmitt bekannt, der ihn als Polemiker und Kierkegaard-Vermittler schätzte (s. TB II–IV). In Balls Brief heißt es: „Haben Sie im neuen Hochland Theodor Haecker über ‚Francis Thompson und die Sprachkunst‘ gelesen? Welch ein Glück, dass man nicht der Ver­ fasser dieses Aufsatzes ist.“ Hugo Ball an Carl Schmitt vom 21. Okt. 1924 in: Hugo Ball, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 10/2, S. 83 f. 63  Muss wohl heißen: „17/10 51“ (s. unten).



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„anlesen“. Vielmehr habe ich mich auf die beiden ersten Bände der großarti­ gen „Histoire des idées sociales en France“ von Maxime Leroy gestürzt. Ich übertreibe meinen Eifer mit diesem Wort gewiss nicht. Sie können sich viel­ leicht vorstellen, mit welcher Freude ich die Bände aufgeschnitten und „an­ gelesen“ habe. Demnächst werde ich mit der Lektüre beginnen. Sollten Sie jedoch das bisher erschienene Opus besprechen wollen, dann werde ich Ihnen die Bücher gerne überlassen. Ich habe noch andere Sachen von Maxime Le­ roy hier liegen, die ich noch nicht gelesen habe (z. B. La coutume ouvrière). Ich habe auch seinen „Descartes. Le philosophe en [sic!] masque“ bestellt, der von den Presses universitaires angeboten wird.64 Der erste Band des neuen Textes umfasst die Zeit von Montesquieu bis zu Robespierre, der zweite diejenige von Babeuf zu Tocqueville ausschließlich. Es steht also ein monumentales Werk zu erwarten.65 Ich glaube bereits jetzt kaum, dass es seinesgleichen in neuerer Zeit findet. Trotz des Umfanges scheint es den Leser nicht zu ermüden. Das rührt wohl daher, dass der Ver­ fasser nicht unüberlegt Material anhäuft, sondern durchdachte Erscheinungen präsentiert. Wenn ich recht sehe, zeigt hier Maxime Leroy seine Auffassung von der Geschichte sehr deutlich. Im Vorwort lässt er sich darüber aus. Seine Vorliebe für Tocqueville ist nicht von ungefähr. Die Beherrschung des Stof­ fes ist, soweit ich sehen kann, wirklich souverän. Soweit vom neuen Werk eines Gelehrten, den man ruhig zu den größten Europas zählen kann. Sollten Sie keine Möglichkeit zur Rezension haben, so werde ich Ihnen hier und da Perlen bekanntgeben. Ich habe schon etliche gefunden. Ich hoffe, mit deren Mitteilung Ihnen nicht lästig zu werden. Bitte geben Sie mir genauen Bescheid. Das Buch von Jouvenel erwarte ich auch. Ihren Aufsatz über Amnestie habe ich hier nicht beschaffen können. Ich wäre Ihnen sehr dankbar für ein Exem­ plar. Mit herzlichem Gruß und besten Wünschen für Ihre Gesundheit Ihr Roman Schnur [auf der Rückseite von Bl. 1:] Der Schluss der Introduction [von Leroy, Histoire des idées sociales en France]: „La boue, sous Louis XVI, disait Rivarol, est la même que sous le Roi Da­ gobert.“ Et le spirituel émigré, observateur politique désabusé, ajoutait: „Sans 64  Maxime Leroy, Descartes, le philosophe au masque, 2 Bde, Paris 1929. Schmitt hatte in seinem Vortrag vor der Kantgesellschaft 1929 auf die Bedeutung von Leroy hingewiesen; das genannte Buch von Leroy wurde 1938 für Schmitts „Leviathan“ wichtig; vgl auch: ECS, S. 87 f. 65  Das zwischen 1946 und 1954 erschienene Werk umfasst 3 Bände.

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1951 – Carl Schmitt an Roman Schnur

compter que c’est avec elle qu’on a toujours bâti les empires.“ Fuyons la boue, certes, mais poussons loin la sincérité en nous rendant compte que c’est la même boue qui nous éclabousse nous-mêmes et nos adressaires, nous-mêmes et nos compagnons de doctrine ou d’action.

13. 1951-10-17 Carl Schmitt an Roman Schnur 116–117, hs.

Pl. 17/10 51 Lieber Roman Schnur, vielen Dank für den Kojève und Ihren Brief! Von den 3 Flaschen Wein hat mir der Waverner am besten gefallen; der Ockfener Bockstein (den ich in früheren Jahren viel getrunken habe) hat mich etwas enttäuscht, obwohl er keineswegs schlecht war. Ich muss Ihnen nochmals für die freundliche Sen­ dung danken und schicke die Flaschen dieser Tage an den Weinhändler zu­ rück. Mit der Sendung Kojève haben Sie mir einen besonders großen Gefallen er­ wiesen. Soll ich die 8 DM mit der Post oder in einem Brief schicken? (Ich adressiere nach Ihrer letzten Angabe: Amtsgericht). Sehr gern hätte ich noch die französische Ausgabe von Ernst Jüngers Strahlungen, die unter dem Ti­ tel: Journal 1941–1943 in der Edition Julliard erschienen ist. (Céline, der bekannte Autor, führt einen Prozess wegen der Stelle über ihn.)66 Den Auf­ satz über Amnestie habe ich an Ihre Adresse Saarburg, Amtsgericht geschickt. Wegen des Buches von Maxime Leroy schreibe ich an die „Universitas“. Ich möchte es besprechen, und zwar ausführlich.67 Sie haben mich sehr neugie­ rig gemacht. Am meisten aber freue ich mich über Ihr Interesse an diesem 66  In den „Strahlungen“ hat Ernst Jünger unter dem 7. Dez. 1941 seine Begegnung mit Céline geschildert, wobei er diesen mit Sätzen von mörderischer Gewalttätigkeit gegen Juden zitiert. Das allerdings, indem er Céline in „Merlin“ pseudonymisierte. In der ersten französischen Übersetzung von Henri Thomas (Paris 1951) löste Jüngers Pariser Freundin Banine, die den Text redigierte und Celine nicht leiden konnte, ohne Jünger zu fragen das Pseudonym auf. Daraufhin prozessierte Celine. Jünger, der von Carl Schmitt von dem Prozess erfuhr, wollte einen Skandal vermeiden und versicher­ te Celine brieflich, dass er die Identität Celine-Merlin öffentlich abstreiten wolle. In der neuen Übersetzung von Maurice Betz, Frederic de Torwanicki und Henri Plard (Paris 1995) ist wieder nur von „Merlin“ die Rede; vgl. Ernst Jünger, Siebzig ver­ weht V, Stuttgart 1997, S. 139–142; BW Mohler S. 106. 67  Dazu kam es nicht.



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Thema. Haben Sie mein Buch über die Diktatur? Ich möchte Ihnen gern ein Exemplar schenken. Ich freue mich, bald wieder von Ihnen zu hören und bleibe mit herzlichen Grüßen Ihr Carl Schmitt [Nachschrift:] Ist Herr Schilling [recte: Schilly] noch in Paris? Könnte er dort näheres über den Prozess Céline – Ernst Jünger erfahren? Ich las darüber in Le Monde, Mitte Oktober. 14. 1951-10-23 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14198, hs.

Saarburg, den 23. Okt. 51

[daneben stenogr. Notiz von C. S.]

Sehr geehrter Herr Professor! Mit einigen Tagen Verspätung beantworte ich Ihren Brief. Ich war über Sonntag in Mainz, wo ich mir die vollen Regale der Buchhandlungen ange­ schaut habe. Auch die neue Schrift von Ernst Jünger habe ich gesehen.68 Ich hoffe, dieses, wie ich gehört habe: wichtige Opus in der nächsten Woche le­ sen zu können. Die französische Ausgabe der Strahlungen habe ich bestellt. Mein Vetter Ernst Schilly weilt zwar nicht mehr in Paris, doch hat er dort einige Bekannte, von denen [er] Bescheid einholen kann über den interessan­ ten Prozess. Wenn ich mich nicht irre, ist in dem Heft der Zeitschrift „Deutschland – Frankreich[“], welches Ihren Aufsatz enthält, auch eine Stu­ die über Céline abgedruckt.69 Für Ihren Aufsatz über Amnestie danke ich Ihnen vielmals. Besonders gut gefällt mir die Stelle, wo Sie sagen, dass mit dem Anbieten einer Zigarette die Amnestie noch nicht erreicht sei. Mir scheint das ein besonderes Kenn­ zeichen der amerikanischen Mentalität zu sein. Die Vorbemerkung der Re­ daktion enthält nichts als die Wahrheit.

68  Ernst Jünger, Der Waldgang, Frankfurt a. M. 1951. Unten in Nr. 21 teilt Schnur seine Lektüreeindrücke mit. 69  Karl Epting, Louis-Ferdinand Céline, in: Deutschland-Frankreich 1, 1942, H. 2, S. 47–58.

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1951 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Dass Sie das neue Werk von Maxime Leroy besprechen wollen, gibt mir die freudige Gewissheit, etwas für diesen großen Mann getan zu haben. Doch hoffe ich, dass dies nicht meine letzte Mühe für ihn ist. Das erste Exposé, das ich Ihnen schickte, möchte ich demnächst ergänzen mit einem Bericht über den zweiten Teil des Buches, nämlich über den état corporatif. Der Ge­ lehrte weist auf St. Simon hin, der als erster ausdrücklich die berufsständi­ sche Gliederung des Staates gefordert [hat].70 Es ist manchmal geradezu unheimlich, wie Leroy die Zusammenhänge erkennt und darstellt. In dem zweiten Teil des Buches finden sich noch mehrere hervorragende Erkennt­ nisse. Ich bin versucht zu behaupten, die mit Lorenz von Stein beginnende Epoche einer bestimmten Wissenschaft schließe mit Maxime Leroy ab. Wie gesagt, ich halte es vorerst für eine These. In den letzten Wochen habe ich den Plan gefasst, über das politische Oeuvre von Leroy zu arbeiten, wenn nicht ein besser Geeigneter als ich das tun möchte. Ich habe noch drei oder vier weitere Bücher von ihm bestellen kön­ nen. Mit diesen kenne ich etwa acht; also einen kleinen Teil des Gesamtwer­ kes. Sollte ich ihn, den großen Gelehrten, im nächsten Jahr sprechen können, werde ich wohl auch an die anderen Werke herankommen. Die Grundlage für eine Einführung wäre dann gegeben. Es wird Ihnen vielleicht auffallen, dass der Mut zur sozialen Wirklichkeit eines Lorenz von Stein auch in Maxime Leroy lebt. Mit ihm, besser: neben ihm auch der Wille, jedem eine Chance zu geben. Natürlich bemerkt man bei Maxime Leroy die Reife der Zeit und des Mannes. Wenn Sie meine Meinung über ihn derart sehen, wird Ihnen klar werden, weshalb ich mich so für den großen Franzosen interessiere. Er ist einer der Wenigen, die die Verbindung zwischen dem neunzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert sehen. Ich möchte sagen, dass er sie noch besser sieht als selbst ein Karl Löwith, der die sozialen Ideen etwas vernachlässigt hat.71 (Ich glaube, Sie haben etwas Ähnliches gesagt.) Was Sie besonders interessieren dürfte: Maxime Leroy schreibt über Sorel72: „Il expose sa pensée, une celle de la classe ouvrière.“ – Weiter: „Violence et 70  Henri

de Saint-Simon (1760–1825), franz. Sozialphilosoph. Löwith (1897–1973), Philosoph, 1928 von Heidegger habilitiert, dann Privatdozent in Marburg, 1935 Amtsenthebnung, 1936 Prof. in Japan, 1941 bis 1952 USA, von 1952 bis zur Emeritierung 1964 Ordinarius in Heidelberg. Schnur meint hier sein Buch „Von Hegel zu Nietzsche“ (1941 u. ö.). Schmitt hat das Buch nicht besprochen, aber in „Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation“ Kritik ge­ äußert, die sich auf die ungenügende Darstellung Bruno Bauers bezieht. Zu Schnurs Kritik an diesem Buch vgl. auch Nr. 30. 72  Georges Sorel (1847–1922), franz. Sozialphilosoph, den Schmitt 1923 in Deutschland einführte (Carl Schmitt, Die politische Theorie des Mythus, in: PuB, S. 11–21). 71  Karl



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brutalité lui ont peut-être apparu, ce jour-lá (der große Streik von 1908), dans leur sanglante synonymie.“ Er zitiert eine Mitteilung von Alfred Bonnet: „Sorel avait été bouleversé par les événements de Vigneux-Draveil (émeutes et morts), et s’être retiré dans lʼombre, très peiné, car c’est un doux.“ ­Maxime Leroy unterscheidet scharf zwischen der pensée syndicale und den Ideen Sorels. Die großen Militanten der Gewerkschaften haben Sorel nicht gelesen! Näheres hoffe ich Ihnen in meinem Exposés mitteilen zu können. Und: Vielleicht kann ich Ihnen über das neue Werk von Maxime Leroy eine Kritik aus der „Monde“ zur Kenntnisnahme überlassen. Mein Vetter zeigte sie mir vor einiger Zeit. Wozu ich Lust habe: Die Reihe der Hochschule für Politik in München gründlich zu zerreißen.73 Vielleicht tut’s Herr Professor Werner Weber … Mit einem herzlichen Gruß Ihr ergebener Roman Schnur [Auf Bl. 1v:] Ihr Buch über die Diktatur besitze ich bereits. Es wäre wohl schade, wenn Sie mir ein Exemplar zukommen ließen, das einem interessierten Bekannten von Ihnen vielleicht fehlt. Ich danke Ihnen für das Angebot, das für mich eine große Ehre ist, möchte Sie aber nochmals bitten, mir bei der Suche nach Ihrer „Verfassungslehre“ behilflich zu sein. Die 8 DM für den Kojève mögen Sie im Brief an mich senden. Heute kann man wohl wieder Zutrauen zur Post haben. 15. 1951-10-29 Carl Schmitt an Roman Schnur 213, hs.

Pl. 29/10 51 Lieber Roman Schnur! In Eile nur diese Empfangsbestätigung und der beil. Schein (8 DM für Ko­ jève, 2 als Anzahlung für weitere, z. B. wäre ich dankbar für G. Ripert, le Déclin du droit, das vor kurzem erschienen sein soll74). Ich fände es großar­ 73  Schnur meint vermutlich die „Schriftenreihe der Hochschule für Politische Wissenschaften, München“, die von 1950 bis 1952 erschien und der amerikanischen Reeducation diente. 74  Georges Ripert, Le déclin du droit. Études sur la législation contemporaine, Paris 1949. Das Buch befindet sich in der Bibliothek Schmitts, offenbar von Schnur

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1951 – Roman Schnur an Carl Schmitt

tig, wenn Sie über Maxime Leroy eine Dissertation schrieben; ein gutes Re­ ferat wäre schon eine promotionswürdige Leistung! Nächstens mehr! Ich habe gerade Besuch und bin dadurch abgelenkt. Herzliche Grüße Ihres alten und unveränderlichen Carl Schmitt 16. 1951-11-15 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14199, hs.

Saarburg, den 15.11.51 Sehr geehrter Herr Professor! Für den interessanten Prospekt vom Greven-Verlag danke ich Ihnen viel­ mals.75 Ich möchte Ihnen dazu folgendes mitteilen: Als ich mit einem guten Buchhändler über den Absatz Ihrer Werke sprach, sagte er mir, bei den heu­ tigen Verkaufsmethoden müsse auch ein seriöser Verlag bis zu einem gewis­ sen Grade eine starke Werbung durchführen. Der Greven-Verlag schädige sich durch sein allzu bescheidenes Auftreten selbst. Nun hoffe ich, dass der Prospekt wirken wird. – Aus Paris habe ich gute Post erhalten: Maxime Leroy schrieb mir einen schönen Brief. Wenn ich in Paris weile, bin ich gern gesehener Gast. Sie können sich vorstellen, dass ich es kaum erwarten kann, den großen Gelehr­ ten aufzusuchen. Von ihm habe ich noch zwei weitere Werke erhalten: „De­ scartes“ und „Syndicats et services publics“ aus dem Jahre 1909.76 Das Vor­ wort endet mit der Feststellung, das Zeitalter Rousseaus und Montesquieus sei zu Ende gegangen. Worte, die man bei uns 1909 für bare Behauptungen gehalten hätte! Das Buch kostet noch nicht 2 DM; sollten Sie Interessenten dafür kennen, so bin ich gerne bereit, noch weitere Exemplare zu besorgen. beschafft (vgl. Nr. 18). – G. Ripert (1880–1958), Rechtsanwalt, Staatssekretär wäh­ rend des Vichy-Regimes, nach dem Krieg Prof. für Seerecht in Paris. 75  Im Kölner Greven-Verlag erschienen 1950 die ersten Bücher Schmitts nach dem Krieg: „Nomos der Erde“, „Ex Captivitate Salus“ und „Donoso Cortés in ge­ samteuropäischer Interpretation“. Dazu druckte der Verlag einen Prospekt mit dem Titel „Carl Schmitt: Nein und Ja“, in dem von Schmitt selbst zustimmende und ableh­ nende Stellungsnahmen zu seinen Werken zusammengetragen sind (RW 265–19823). 76  Leroy, Maxime, Descartes. Le philosophe au masque (vgl. Nr. 12); ders., Syn­ dicats et services publics: histoire de l’organisation ouvrière jusqu’à la C.G.T.; les Syndicats ouvriers et la loi; la crise des services publics; les associations de fonction­ naires, Paris 1909.



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Von Herrn Professor Voegelin erhielt ich einen freundlichen Brief, dem er zwei eigene Aufsätze beigelegt hatte. Nun bin ich mächtig gespannt auf das angekündigte große Werk. Ich versuche, einen „Kollegen“ zu veranlassen, über Laski eine Dissertation zu schreiben.77 Er fährt im Frühjahr einige Monate nach England und hätte gute Gelegenheit zum Studium an Ort und Stelle. Vielleicht genehmigt Herr Professor Jellinek das Vorhaben des tüchtigen Bekannten.78 Leider, sage ich, hat er nicht Herrn Forsthoff um ein Thema gebeten oder sich wenigstens als Doktorand aufnehmen lassen.79 Wenn Herr Jellinek meinen Bekannten ­schreiben ließe, könnte ich recht gut mit ihm arbeiten. Und es wäre nicht schlecht, wenn in Deutschland über Leroy und Laski geschrieben würde. – Die Zeitschrift „Die öffentliche Verwaltung“ hat ein ganzes Heft dem Thema „Das neue Beamtenrecht“ gewidmet. Was mich überraschte, war die einhel­ lige Meinung, die Bundesrepublik müsse naturnotwendig ein Berufsbeamten­ tum haben. Für Weimar, mit den wechselnden Mehrheiten, mag solche Mei­ nung richtig sein. Aber haben wir denn heute wechselnde Mehrheiten? Ein Kanzler kann beruhigt sagen: „Ich habe vier Jahre Zeit!“ Und damit gleicht unsere Verfassung derjenigen der USA, mit der Folge, dass wir das BeuteSystem verdauen können. Denn wenn man vier Jahre Zeit hat, kann man die Beamtengarnituren wechseln und in Ruhe, falls man in Opposition sitzt, sich auf den nächsten Beutezug vorbereiten. Es ist auch nicht so, dass das politische Glaubensbekenntnis des Grundgeset­ zes beide Parteien (CDU und SPD) einigen könnte. Das Bekenntnis zu den verschiedenen Doktrinen ist nicht einmal geeignet, wie die WRV eine gewis­ se Neutralität zu wahren. Es ist ein Scheinbekenntnis, wie ich es krass so nennen darf: Ein Wechselbalg. Unter der stabilen Rechts-Herrschaft haben wir 4 Jahre „bürgerlichen Staat“, unter der (stabilen) Linksherrschaft haben wir Sozialstaat. Die Struktur des Weimarer Staates blieb sich in allen Wech­ seln doch ziemlich gleich. Die Bundesrepublik wechselt in vorhersehbaren 77  Harold Laski (1893–1950), engl. Politikwissenschaftler. Für Schmitt war er 1925 der „in den Schafspelz des Pluralismus gekleidete Prophet“ des Liberalismus (BW Smend, S. 49). 1927 findet sich Schmitts Kritik an Laski im „Begriff des Poli­ tischen“, die in späteren Schriften fortgeführt wird (vgl. FoP, S. 203 mit der Anm. 14 a von Günter Maschke auf S. 230). 78  Walter Jellinek (1885–1955), Staats- und Völkerrechtler, wurde 1911 Ordinari­ us in Kiel, 1929 in Heidelberg, 1935 entlassen, 1945 wieder eingestellt; BW in Schmittiana NF II, S. 87–117. 79  Ernst Forsthoff (1902–1974), Staats- und Verwaltungsrechtler, Bonner Schüler Schmitts, 1933 Ordinarius in Frankfurt, 1935 Hamburg, 1936 Königsberg, 1942 Wien, 1943 Heidelberg, 1945 aus seiner Heidelberger Professur entlassen, in die er erst 1952 zurückkehren konnte, 1960 bis 1963 Verfassungsgerichtspräsident in Zy­ pern; BW Forsthoff; Meinel.

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1951 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Abständen und erlaubt die Strukturveränderung. Das ist es, wenn Herr Koell­ reutter80 im Anschluss an Herrn Grewe81 meint, das Grundgesetz habe sich für eine bestimmte innenpolitische Linie entschieden.82 Wenn er von Frei­ heit, Sozialstaat, Rechtsstaat spricht, weiß ich nie, ob er die CDU-Interpreta­ tion oder die SPD-Interpretation anwendet. Es ist tatsächlich zu erwägen, ob ein Berufsbeamtentum im alten Sinne über­ haupt noch möglich ist. Man könnte sagen: Wer an der Macht ist, setzt die Berufsbeamten ein, und dann sitzen die jedenfalls auf dem Sessel. Will der Gegner, der später an die Macht kommt, seine Leute belohnen, schafft er zusätzliche Stellen, oder er ist auf die Garnitur des Gegners angewiesen. Ich möchte nochmals sagen, dass das gegenwärtige System nicht mit dem Wei­ marer System gleichgesetzt werden kann und dass der vierjährige Positions­ wechsel neue Situationen für das Beamtenrecht mit sich bringt.83 Diesen Punkt hat man in dem erwähnten, sehr interessanten Heft übersehen. Mir scheint er wichtig zu sein. – Das Buch von Ripert habe ich bestellt. Ich erwarte noch die Übersetzung von Jünger und das Buch von Jouvenel. Sie wissen, wie unkorrekt die französi­ schen Verlage arbeiten. Doch hoffe ich, Sie in kurzer Zeit mit beiden Bü­ chern erfreuen zu können. Mit freundlichem und achtungsvollem Gruß stets Ihr getreuer Roman Schnur

80  Otto Koellreutter (1883–1972), Prof. für deutsches Staats- und Verwaltungs­ recht, seit 1920 in Halle, 1921 Jena, 1933 München, 1945 entlassen. K. hatte im NS-Staat Kontroversen mit Schmitt, wurde aber nach 1945 versöhnlich; 34 Briefe, 14 Postkt. (1932–1962) im Nl. Schmitt; van Laak, S. 94 f. 81  Vgl. Wilhelm Grewe, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepu­ blik Deutschland, in: Deutsche Rechts-Zeitschrift 4, 1949, S. 265–270, 313–317. – Wilhelm Grewe (1911–2000), Völkerrechtler und Diplomat, Schüler Forsthoffs, 1943 Prof. in Berlin, 1945 Göttingen, 1947 Freiburg, 1949 Berater Adenauers mit wachsen­ dem politischem Einfluss auf die Außenpolitik, ab 1958 in verschiedenen diplomati­ schen Missionen; TB V; 7 Briefe, 1 Telegr. (1932–1982) im Nl. Schmitt. 82  Koellreutter hat sich zum GG nicht eigens geäußert. In seinem Werk „Deut­ sches Staatsrecht“ (1953) kritisiert er, dass das Grundgesetz ganz darauf ausgerichtet ist, eine Diktatur auszuschließen, was eine Furcht vor dem Volk bedeutet, von dem doch laut § 20 GG alle Staatsgewalt ausgeht. 83  [Am Rand von C. S.:] „kompliziert durch Bund und Länder!“



1951 – Roman Schnur an Carl Schmitt65

17. 1951-11-27 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14200, hs.

Saarburg, den 27. Nov. 51

[darunter stenogr. Notiz von C. S.]

Sehr geehrter Herr Professor! Ich muss Ihnen die wenig erfreuliche Mitteilung machen, dass das Buch „Le Pouvoir“ von Jouvenel vergriffen ist.84 Wann die Neuauflage erscheint, ist nicht gewiss. Dagegen wird Riperts Buch in Kürze eintreffen. Mein Vetter Ernst Schilly hat seine Pariser Bekannten, höhere Postbeamte, gebeten, Nä­ heres über den Prozess Céline / Jünger mitzuteilen. Da Jüngers „Strahlun­ gen“ in Paris eifrig gelesen werden, ist mit genaueren Nachrichten zu rech­ nen. Ich werde Sie gegebenenfalls ins Bild setzen. Mir selbst ist ein guter Fang geglückt: Zu tragbarem Preis habe ich de Mais­ tres „Considerations“ in einer kritischen Ausgabe kaufen können.85 Ich kann das Buch gerade jetzt, wo ich Leroys Darstellung der Theokraten lese, recht gut gebrauchen. Von der vorzüglichen Proudhon-Ausgabe, die bei Marcel Rivière erschienen ist, werde [ich] die wichtigsten Bände bestellen.86 Viel­ leicht gelingt es mir auch, die gute dreibändige Ausgabe der oeuvres von Saint-Simon zu erwerben.87 Maxime Leroy hatte die Güte, mich an Vrin zu verweisen, der mir helfen könnte.88 Es fällt mir allerdings schwer, von hier aus die wichtigsten Werke der Geistesgeschiche Frankreichs im 19. Jahrhun­ dert zu beschaffen, denn die französischen Verlage haben wenig Kontakt mit den Buchhändlern. Vrin verkauft noch ein Werk, das Sie interessieren dürfte: Jean Moreau-­ Reibel „Jean Bodin et le Droit public comparé dans ses rapports avec la philosophie de l’histoire“. Das Buch ist 1933 erschienen und kostet etwa 9,50 DM.

84  Bertrand de Jouvenel, Du Pouvoir, Genève 1947; in der Bibliothek Schmitts befand sich diese Ausgabe. 85  Vermutlich: Joseph de Maistre, Considérations sur la France. Publ. d’après les éditions de 1797, 1821 et le manuscrit orig. avec une introd. et des notes par René Johannet et François Vermale, Paris 1936. 86  Pierre-Joseph Proudhon, Oeuvres complètes, 1946 erschien der 16., 1952 der 17. Band dieser seit 1923 erscheinenden Ausgabe. 87  Oeuvres choisies de C.-H. de Saint-Simon, 3 Bde, Bruxelles 1859. 88  Joseph Vrin (1884–1957) führte in Paris eine auf philosophische Literatur spe­ zialisierte Verlagsbuchhandlung.

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1951 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Weiter bei Vrin erschienen: Gurvitch „La déclaration des droits sociaux“, Paris 1946.89 Es kostet etwa 3 DM. Sollten Sie an den Büchern Interesse haben, werde ich sie Ihnen gern besorgen. Den ersten Band von Maxime Leroys großem Werk habe ich gelesen. Ich bin soeben am 2. Band, der dem 1. durchaus ebenbürtig ist. Das Vorwort dazu ist großartig. Ich gebe eine Stelle wider: „Certes, le jour, où l’on enseignera (il ne semble pas que ce jour sera prochain) qu’il nʼy a pas de certitudes dans l’ordre politique et social, pourtant que chacun a le droit d’errer sans mériter le mépris, qu’il n’y a que des à peu près dans cet ordre, que les systèmes et les hommes sont toujours plus voisins qu’ils n’en veulent convenir … “ Im ersten Band befindet sich ein wichtiges Kapitel über la pauvreté et lʼidée de services publiques. Dieser Abschnitt dürfte besonders für Herrn Professor Forsthoff, der die Veränderung des Staatsbegriffs und des Begriffs der Ver­ waltung so deutlich gesehen hat, wichtig sein. Selbstverständlich stehe ich Herrn Forsthoff zur Verfügung. – Mit großer Sorge verfolge ich die Diskussion über den deutschen Wehrbei­ trag. Was ich bisher vermisst habe, ist die Erörterung der Frage, wie man das Grundgesetz zu ändern habe.90 Anscheinend billigt die sog. öffentliche Mei­ nung dem Volk das Recht der Entscheidung über die Form seiner politischen Existenz nicht zu. Wirkliche Tyrannei! Wie schreibt Hobbes im 19. Kapitel: „Wie soll man nun die Staatsverfassung der Juden unter dem römischen Volk nennen?“ Wir fragen zeitgemäß und antworten: „Jedenfalls nicht demokra­ tisch.“ Man sollte doch nicht sagen: „Die noch beschränkte deutsche Herr­ schaft“, sondern: „Die beschränkte Herrschaft der Alliierten.“ Mit herzlichem Gruß hochachtungsvoll Ihr Roman Schnur Ich bitte Sie, mir die Kritik aus „Le Monde“ zurückzuschicken.

89  Georges

Gurvitch (1894–1965) russ.-franz. Philosoph und Soziologe. Grundgesetz kannte zunächst keine wehrrechtliche Regelung, die Debatte darüber wurde aber seit 1949 geführt und mit der geplanten Europäischen Verteidi­ gungsgemeinschaft virulent. Die Bewaffnung eines deutschen Teilstaates sah vor al­ lem die SPD als mit dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes nicht vereinbar an, was zu Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht und einem Gutachterstreit führte. Als die Regierungskoalition in der Bundestagswahl 1953 eine Zweidrittel­ mehrheit errang, ergänzte sie das GG um den Art. 142 a, was dann die Gründung der Bundeswehr ermöglichte. Vgl. Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. 1–3, München 1952–1958; Günther, S. 105 ff. 90  Das



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18. 1951-12-09 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14201, hs.

Merzig, den 9. Dez. 1951

[darunter von C. S.:] b. 23/12 5191 (15 DM)

Sehr geehrter Herr Professor! Ich bin froh, Ihnen dieses Päckchen schicken zu können. Dass es so spät gekommen ist, beruht nicht auf Nachlässigkeit des Buchhändlers, sondern auf schlechter Arbeit des Verlags. Mit ihnen haben unsere Buchhändler viel Mühe. Wir sind eben andere Arbeit gewöhnt. … Das Buch von Ripert wird Sie für die Verspätung entschädigen. Ich habe mir die Freiheit genommen, einige seiner Seiten ihrer Unschuld zu berauben.92 Meine Neugierde hat mir keine Ruhe gelassen. Soweit ich das beurteilen kann, handelt es sich um ein außerordentlich wichtiges Buch. Mir ist, abge­ sehen von der Klarheit der Analysen selbst, besonders die Klarheit der Ge­ dankenführung aufgefallen. Wenn ich nun diesen Juristen des Privatrechts mit den Privatrechtslehrern in Deutschland vergleiche, dann bin ich zu einem bitteren Urteil gezwungen. Mich frappiert immer wieder das starke öffent­ lich-rechtliche Bewusstsein (ich sage besser: das politische Bewusstsein) der französischen Juristen. Auf Ihr Urteil über das Buch von Ripert bin ich recht gespannt. Sollte es meinen Erwartungen entsprechen, werde ich das Buch für mich selbst bestellen. Wenn Sie eine Rezension schreiben sollten, dann bitte ich Sie um Nachricht, damit ich mir einen Abdruck beschaffen kann. Ebenso hat mir das Buch von Jouvenel gefallen, soweit ich das nach einigen Blicken sagen darf. Ist es nicht auffallend, wie viele bedeutende politische Denker aus der Westschweiz kommen? Über diese Tatsache habe ich mir Gedanken gemacht, vermochte aber keine befriedigende Antwort zu finden. Mit der Erklärung, die Volksmischung sei der Grund, ist es doch nicht getan. Geben Sie mir auch über dieses Buch bitte ein Urteil; weil ich mit meinem Gelde sehr sparsam umgehen muss, kann ich gerade das Notwendigste kau­ fen. Ich glaube, dass dies Werk einer eingehenden Besprechung wert ist, mehr wert als die Bücher des Herrn Röpke aus Genf, über die sich jeder Literat ausgelassen hat.93 Dies wohl deshalb, weil es den Literaten mundge­ 91  Recte:

24.12.51. den französischen broschierten Büchern waren die Fälze der Druckbogen noch nicht beschnitten; sie mussten zum Lesen erst aufgeschnitten werden. 93  Wilhelm Röpke (1899–1966), Nationalökonom, wurde als NS-Gegner 1933 aus seiner Marburger Professur entlassen, emigrierte in die Türkei und 1937 nach 92  Bei

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1951 – Roman Schnur an Carl Schmitt

recht zubereitet ist: Sie brauchen bei der Lektüre nicht nachzudenken. Ich behaupte sogar, dass man dazu gar nicht imstande ist. Mir ist jedenfalls die­ ses Genfer Erzeugnis mehr wert. De Jouvenel hat ein weiteres Buch veröffentlicht: „De la Souveraineté“.94 Wahrscheinlich haben Sie auch dafür Interesse. Ich habe es bereits bestellt. Sollten Sie es haben wollen, gebe ich es gleich an Sie weiter und bestelle noch ein weiteres Exemplar. Gottlob habe ich nun eine kritische Ausgabe des „Contrat social“ gefunden, von de Jouvenel herausgegeben.95 Ich habe mich nach dem Preis erkundigt und werde die Ausgabe, wenn irgendwie möglich, sofort kaufen. Von Maxime Leroy habe ich zwei weitere Werke erhalten, darunter das Buch über Saint-Simon.96 Es kostete mich ganze 2,50 DM! In der vergangenen Woche habe ich mit der Lektüre des Descartes-Werkes begonnen. Das Buch ist geradezu spannend. Ich habe bis tief in die Nacht gelesen, so faszinierend und ergreifend ist das geistige Abenteuer des Descartes dargestellt. Leroy hat mir einen Descartes gezeigt, den ich bisher nicht gekannt habe. Nunmehr habe ich eine Ahnung von dem, was diesen Denker beseelte. Meine Hoch­ schätzung für Maxime Leroy ist noch größer geworden, und ich hoffe, ir­ gendwie meinen Dank abstatten zu können. Leider habe ich viel am Gericht zu tun. (Ich sage nur in gewisser Hinsicht: leider!) Ich habe das Glück, von einem ausgezeichneten Assessor ausgebildet zu werden. Da ich mir diese große Chance nicht entgehen lassen will, hebe ich meine Arbeit bis zum Verwaltungsstage auf, die im Februar beginnt und fünf Monate dauert. – Über die Frage, ob das Grundgesetz für die Remilitarisierung geändert wer­ den müsse, habe ich der „Gegenwart“ einen kurzen Brief geschrieben. Die­ se Frage ist nicht so leicht klar zu beantworten, als es auf den ersten Blick scheint. Die völkerrechtliche Lage Deutschlands, ich nenne sie einfach dés­ ordre, bietet uns doch unglaubliche Schwierigkeiten. Für Herrn Professor Jellinek gibt es diese Frage gar nicht. (In „Die öffentl. Verwaltg.“).97 Das Genf, wo er eine Professur für internationale Wirtschaftsfragen bekleidete und zahl­ reiche Beiträge in der NZZ und den Schweizer Monatsheften schrieb. Röpke gilt als einer der Väter der Sozialen Marktwirtschaft. 94  Bertrand de Jouvenel, De la souveraineté. À la recherche du bien politique, Paris 1947. 95  Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social. Précédé d’un essai sur la politique de Rousseau par Bertrand de Jouvenel, … accompagné de notes de Voltaire et d’autres contemporains de l’auteur, Genf 1947. 96  Maxime Leroy, La vie véritable du Comte Henri de Saint-Simon (1760–1825) (Les Cahiers verts, 54), Paris 1925. 97  Walter Jellinek, Grundgesetz und Wehrmacht, in: DÖV 5, 1951, S. 541–546.



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ist auch eine Lösung, nämlich die der Gewalt. Perversitäten des Liberalis­ mus … Mit herzlichem Gruß bleibe ich immer Ihr Roman Schnur P. S. Die Bücher kosten 15,60 DM. Da Sie bereits 2 DM geschickt haben, lautet die Rechnung auf 13,60 DM. 19. 1951-12-24 Carl Schmitt an Roman Schnur 118–119, hs.

Plettenberg, den 24.12.1951 Lieber Herr Schnur! Allerherzlichsten Dank für Ihre beiden Schreiben und für die Besorgung der beiden Bücher (Jouvenel und Ripert), die mir beide sehr wertvoll sind. Ich lege 15 DM bei. Ernst Jüngers Journal brauche ich nicht mehr; er hat mir die französische Ausgabe neulich, als ich in Wilflingen bei ihm zu Besuch war, geschenkt.98 Ich muss jetzt wieder sparsam werden. Über Ihr Interesse an Maxime Leroy freue ich mich am meisten. Hoffentlich kommen Sie bald zu konzentrierter Arbeit; im übrigen ist es überaus nützlich und wertvoll, gute Ausbilder in der Referendarzeit gehabt zu haben. Ich kann wegen meines Rheumatismus nicht mehr viel schreiben. Deshalb hoffe ich für das kommende Jahr auf ein gutes Gespräch mit Ihnen. Ein Freund schenkte mir zu Weihnachten den Briefwechsel von Georges Sorel mit Delesalle, ein sehr aufschlussreiches Buch.99 Was soll ich sonst noch zum Jahresende sagen? Ihre Briefe gehören zu den Lichtpunkten, die das vergangene Jahr für mich brachte. So wünsche ich Ihnen denn aus ganzem Herzen für das kommende Jahr guten Erfolg für Ihre wissenschaftliche Arbeit in unserm gemeinsamen Fach! Ich bleibe stets Ihr alter und unveränderlicher Carl Schmitt 98  Ernst Jünger, Journal. T 1: 1941–1943, Paris 1951 (im Nl. Schmitt, RW 265– 22273). 99  Georges Sorel, Lettres à Paul Delesalle, 1914–1921. Introd. par Robert Louzon. Avat-propos de Jean Prugnot, Paris 1947. – Paul Delesalle (1870–1948), franz. Anar­ chist und Synikalist.

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1952 – Roman Schnur an Carl Schmitt

20. 1952-01-03 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14202, hs.

Saarburg, den 3. Januar 1952 Sehr geehrter Herr Professor! Ihr Brief hat mich sehr erfreut und betrübt zugleich. Erfreut: weil ich mich Ihren Schüler nennen darf. Betrübt: weil es Ihnen nicht so gut geht, wie es einem großen Gelehrten zukommt. Dass zu der Missgunst Ihrer vielen Geg­ ner noch ein körperliches Leiden gekommen ist, wird für Sie schwer sein. Darf ich Ihnen ein Wort der Stärkung schicken, steht mir das überhaupt zu? Nun: Lassen Sie den Neid und den Hass Ihrer Gegner unbeachtet. Es ist in der Geschichte noch allemal so gewesen, dass ein Großer zu Lebzeiten star­ kem Neid ausgesetzt war, dass man seine Größe nicht erkennen wollte. Be­ achten Sie lieber, wie langsam, aber sicher, Ihre Leistungen von fähigen Köpfen anerkannt werden, wie Ihre Schüler Weber, Forsthoff und andere die Früchte Ihrer Schule zeigen! Und wenn Andere wie Grewe noch nicht den letzten Mut zur Aussage haben, dann liegt das an der Persönlichkeit. Herr Weber hat die beste staatsrechtliche Schrift des Nachkrieges, Herr Forsthoff das beste Lehrbuch des Verwaltungsrechts seit Jahrzehnten geschrieben – das wird Ihnen doch eine große Genugtuung sein. Und es werden noch Andere da sein, die Ihre Leistungen anerkennen und versuchen, auf den Wegen zu gehen, die Sie dem öffentlichen Recht gewiesen haben. – Sehr wahrscheinlich werde ich am 1. April mit meiner Arbeit in Paris begin­ nen. Im Juni werde ich zurückkehren. Neben meiner eigentlichen Arbeit werde ich eine andere betreiben: die über Maxime Leroy. Mit beiden Arbei­ ten hoffe ich im Laufe dieses Jahres fertig zu sein. Wie sehr ich mich auf den Aufenthalt in Paris freue, werden Sie nachfühlen können. Es wird für mich geradezu eine Erholung sein, aus der stickigen geistigen Atmosphäre in Westdeutschland in ein besseres Klima zu kommen. Wenn ich sehe, wie we­ nig bei uns die Staatslehre leistet, überkommt mich geradezu eine Scham über diese Tatsache. Jede Zeile, die ich in den frühen Werken Leroys lese (1905–1925) macht mir deutlich, wie arg wir im Hintertreffen sind. Da steht in einem Werk von 1909: „l’ère politique selon Montesqieu et Rousseau est virtuellement close.“ Wie sehr müssen Einsichtige in Deutschland heute die­ se Erkenntnis verteidigen! Und dann tut man so, als sei das Werk von Robert Michels bei uns nie erschienen.100 Ich weiß nicht, worauf der Mangel an Mut 100  Robert Michels (1876–1936), Soziologe und Politikwissenschaftler, Schüler Max Webers, betont die Zwangsläufigkeit einer Organisationselite in der Demokratie; BW in: Tommissen, S. 83–112.



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bei uns in Deutschland beruht, er ist mir unerklärlich. Und kaum ein Gelehr­ ter hat das Hauptwerk eines Lorenz von Stein als Fundgrube verwertet; überall logizistische Spiegelfechtereien! Ja, Max Weber, Hugo Preuß101, Sie … Hohe Leistungen deutschen Denkens, aber Frankreich besitzt einen sehr guten Durchschnitt, wenn man von Köpfen wie Duguit, Hauriou und Leroy absieht … Meinen Eifer mögen Sie entschuldigen, er kommt aus der Liebe zur deut­ schen Geisteswissenschaft, die einmal so bedeutend war. Ob sie es noch ist? Einige bedeutende Gelehrte geben mir Hoffnung, von den Herren Voegelin und Otto Brunner haben wir noch Vieles zu erwarten. Die Juristen aber wer­ den es immer schwerer haben: „Les actions économiques prétendent rempla­ cer les notions juridiques; le juriste passe au sécond rang, après avoir occupé le premier dans l’État.“ (Leroy). Oder wie Sie es in „Ex Captivitate“ formu­ liert haben …102 Ich bin auf eine neue Schrift von Bachof über verfassungswidrige Verfas­ sungsnormen recht gespannt.103 Die alten Vorstellungen von Verfassung und Gesetz verschwinden immer mehr. Bald ist der Staatsgerichtshof der Herr im Hause. Wie man ihn zusammengesetzt hat … Präsident: Aus der Regierungs­ koalition, taktisch klug: aus der FDP. Vizepräsident: Aus der Opposition. Ein sehr richterlicher Gerichtshof … Wenn Sie die Schrift des ostzonalen Professors Polak über die Weimarer Verfassung noch nicht kennen sollten, so lassen Sie es mich wissen.104 Ich werde sie Ihnen schicken. In mancher Hinsicht ist sie sehr interessant. Sie setzt sich im Grunde mit drei Gelehrten auseinander: Max Weber, Preuß und Ihnen. Die Bedeutenden hat er erkannt, fällt aber über Sie her und verschlei­ ert die Stellung des Kommunismus. Polak verschweigt, dass 1932 nur zwei Möglichkeiten gegeben waren: Diktatur von rechts oder Diktatur von links. 101  Hugo Preuß (1860–1925), seit 1906 Prof. für Staatsrecht an der Handelshoch­ schule Berlin, Schöpfer der Weimarer Reichsverfassung. Carl Schmitt war sein Nach­ folger an der Handelshochschule und hielt 1930 einen viel beachteten Vortrag über ihn. 102  Vgl. ECS, S. 74 f. 103  Otto Bachof (1914–2006), Öffentlichrechtler, 1950 habilitiert, 1952 Prof. in Erlangen, ab 1955 in Tübingen, sein Buch „Verfassungswidrige Verfassungsnormen“ erschien 1951 in Tübingen. 104  Karl Polak, Die Weimarer Verfassung: ihre Erungenschaften und Mängel, Ber­ lin 1948. – K. Polak (1905–1963) emigrierte nach seiner Freiburger Promotion 1933 in die Sowjetunion, kehrte 1946 in die Ostzone zurück, wo er eine Verfassung erar­ beitete, die noch gesamtdeutsch sein sollte, nach Gründung der DDR war er an deren Verfassung beteiligt und hatte maßgeblichen Einfluss auf die Rechtsentwicklung der DDR, von 1948 bis 1952 Prof. für Staatslehre, Staats- und Völkerrecht in Leipzig, danach Arbeit im ZK der SED, juristischer Berater Ulbrichts.

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1952 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Nach ihm drohte nur die Erste, und er bringt Sie dadurch in ein falsches Licht. Jedenfalls ist die Schrift interessant … – Ich hoffe, noch vor meiner Abreise das Referat über den zweiten Teil des Buches von Leroy niederschreiben zu können. Wahrscheinlich wird es gründ­ licher sein als das vergangene, weil ich inzwischen Einiges hinzugelernt ha­ be. Sie werden mir erlauben, es Ihnen schicken zu dürfen? Mit herzlichem Gruß und den besten Wünschen für Ihre Gesundheit bleibe ich hochachtungsvoll Ihr ergebener Roman Schnur 21. 1952-01-24 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14203, hs.

Saarburg, den 24.1.1952

[Darunter von C. S.:] b. 5/2 52

Sehr geehrter Herr Professor! Hoffentlich haben Sie die Güte, das kleine Geschenk anzunehmen. Ich glau­ be, dass es von einigem Interesse für Sie ist. Nicht nur, weil die Stücke Fouriers recht lehrreich ausgewählt sind, sondern auch, weil der bekannte Gelehrte Gide eine treffliche Einführung geschrieben hat.105 Mein Vetter Ernst Schilly hat mir mitgeteilt, dass Dr. Gerber im Kriege ge­ fallen ist.106 Die näheren Umstände seines Todes hat er leider nicht erfahren können. Dann möchte ich Ihnen heute, in ziemlicher Eile (eine Relation liegt halbfer­ tig vor mir), noch sagen, dass mich Ernst Jüngers „Waldgang“ etwas ent­ täuscht hat. Was mir zugesagt hat, stammt meistens aus Ihrem Gedanken­ schatz, im übrigen glaube ich nicht, dass wir uns so billig, auf Isländerart, aus der Affäre ziehen können. Ich muss in manchen Punkten dem Kritiker Dr. Maiwald rechtgeben.107 Auch in diesem Werke Jüngers fällt mir ein ge­ 105  Charles Fourier, Pages choisies. Introduction par Charles Gide, Paris 1932. – Charles Gide (1847–1932), Nationalökonom, Vertreter der Genossenschaftsidee. 106  Emil Gerber (1897–?), ehemaliger Schüler Schmitts, der ihn 1926 mit einer Dissertation über Repräsentation promovierte. Schmitts Dissertationsgutachten in: BW Smend, S. 163 f. 107  Serge Maiwald, Der totale Staat und das Individuum. Bemerkungen zum neuen Buch von Ernst Jünger „Der Waldgang“ und zur These vom individuellen Wider­



1952 – Roman Schnur an Carl Schmitt73

wisser Mangel an Wirklichkeitssinn auf. Wir können schließlich nicht alle auf dem „Schiff“ leben, gewiss, aber auch nicht alle im Wald. Es gilt noch immer: Hic et nunc.108 Und besonders für uns Juristen. Mit dem Partisanen­ krieg soll es auch einmal ein Ende haben. Leider haben bisher nur wenige Leute gesagt, was dann zu tun ist. Eine Verneinung aller heutigen Ordnungen ist noch keine Entscheidung für eine bestimmte neue Ordnung. Und gerade diese Entscheidung ist das große Problem. Dass wir heute, in Westdeutschland auch, in einem großen Chaos leben, sieht jeder aufmerksame Beobachter. Aber irgendwie wollen wir einmal hinaus­ kommen. Das „Wie“ ist die entscheidende Frage. Ob nicht die Deutschen, besonders die Bürger, politisch so wach werden, dass sie sehen, wie sehr ein Parlament, das das Volk repräsentiert, vonnöten ist? Im Zeitalter der Industrie wird ver­ waltet. Die Regierung den Leuten der Industrie, das Parlament den Bürgern – eine Art „konstitutionelle Monarchie“. Zweifellos wäre es besser, wenn die wirklich Lenkenden in sichtbare Positionen gestellt würden. Dann könnte der Bürger Freund und Feind besser unterscheiden. Das deutsche Bürgertum war einmal für kurze Zeit politisch rege; gegen den Inhaber der damaligen Regierungsgewalt, den Monarchen. Es sammelte sei­ ne Kräfte im Parlament. Vielleicht wiederholt sich der Vorgang unter verän­ derten Umständen. Ich für meinen Teil glaube nicht, dass der deutsche Bürger ausgespielt hat. Wenn ich sehe, welche Kräfte bei den heute 25–40 Jährigen ruhen, so habe ich die Hoffnung auf eine Besserung der innenpolitischen Lage. Wenn wir „im Walde“ bleiben, verpulvern wir unsere Kräfte. – In einigen Tagen glaube ich Ihnen den Termin für die Reise nach Paris mit­ teilen zu können. Maxime Leroy hat mich zu einem Gespräch eingeladen. Ich werde Ihnen genau Bericht erstatten, vor allem über das, was der große Gelehrte über Saint-Simon zu sagen hat. Sein Buch über diesen Propheten der industriellen Gesellschaft ist eine wahre Fundgrube. Vor allem findet man kein Wort über die Macht, das ist auch ein bedeutender Fund. Mit herzlichem Gruß bleibe ich stets Ihr ergebener Roman Schnur stand, in: Universitas 7, 1952, S. 35–44. – S. Maiwald (1916–1952), gebürtiger Rus­ se, von Schmitt 1943 promoviert, 1944 habilitiert, begründete nach dem Krieg die Zeitschrift „Universitas“, in der Schmitt nach 1945 erstmals (anonym) wieder veröf­ fentlichen konnte. Für den früh verstorbenen Freund schrieb Schmitt 1952 einen Nachruf (jetzt in: FoP, S. 872–876). 108  Hic et nunc („hier und jetzt“) war auch die Maxime Schmitts; vgl. TB III, S. 475.

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1952 – Roman Schnur an Carl Schmitt

22. 1952-02-05 Carl Schmitt an Roman Schnur 120, hs.

Pl. 5/2 52 Mein lieber Roman Schnur! Der kleine Band Fourier ist ein wertvolles und schönes Geschenk, allerherz­ lichste Dank! Ich war über Ihre Aufmerksamkeit sehr gerührt. Meine Schreibund Briefschulden wachsen ins Unermessliche. Hier müssen Sie Nachsicht mit mir haben. Sagen Sie das bitte auch Herrn Schilly, der mir neulich eine ausgezeichnete Information aus Paris über die Sache Ernst Jünger – Céline geschickt hat. Was Sie über den Waldgang sagen, ist richtig und etwas, was viele Leser, nicht nur Maiwald, in gleicher Weise empfunden haben. Trotz­ dem bleibt der „Mythos“ E. J. und die Frage ist nicht nur die des gedank­ lichen Inhaltes eines solchen Buches, die Frage [ist]: gefährdet J. selbst die­ sen Mythos? In Paris studiert der Sohn des berühmten Soziologen Werner Sombart, Dr. Nicolaus S., den ich – da ich mit dem Vater befreundet war – habe heran­ wachsen sehen, ein sehr intelligenter junger Mann, der auf meine Empfeh­ lung ebenfalls zu Maxime Leroy gegangen und sehr davon begeistert ist. Vielleicht lernen Sie ihn einmal kennen, seine Adresse ist: 25 Place Dauphin, Paris Ie. Bald hoffentlich mehr! Herzliche Grüße Ihres Carl Schmitt 23. 1952-02-24 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14205, hs.

Mainz, den 24. Februar 1952 Sehr geehrter Herr Professor! Nun habe ich’s endlich geschafft: Seit einigen Tagen bin ich wieder in Mainz. Ich habe meinen Dienst beim Regierungspräsidium angetreten. Zunächst wirke ich im Polizeireferat, wo interessante Arbeit für mich abfällt, nämlich die Stellungnahmen zu den Klagen der Kommunisten und Tarnorganisatio­ nen anzufertigen. Es gibt da heikle Probleme, unter anderem ist die Frage zu beantworten, weshalb Veranstaltungen der KPD selbst erlaubt sind, solche



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der Tarnorganisationen verboten werden müssen. Eine gute Entscheidung war das Verbot dieser Verbände nicht, sie geht am eigentlichen Problem, dem Verbot der KPD vorbei. Von Herrn Dr. Sombart habe ich gute Kunde erhalten. Er freut sich, mit mir, in Paris, ernste Gespräche führen zu können. Mittlerweile habe ich weitere Fäden um Maxime Leroy gesponnen: Durch einen Kollegen, Schröder mit Namen, dessen Vater K[ammer]G[erichts]-Rat war, werde ich mit Hans Nau­ mann in Frankfurt bekannt gemacht.109 Nächsten Samstag werde ich ihn treffen. Vor kurzem hielt er im Rundfunk einen Vortrag über Saint-Simon. Dabei nannte er Sorel einen „Vertreter des radikalen Syndikalismus“. Ich möchte dem nicht beistimmen, und ich glaube, auch Maxime Leroy hielte den Ausdruck für schief. – Jedenfalls verspreche ich mir von der Verbindung mit Nicolaus Sombart und Hans Naumann sehr viel. Ich hoffe, den Kollegen Schröder auch „ins Gefecht“ bringen zu können. Es wird Zeit, dass die Du­ guit, Hauriou, Sorel und Leroy in Deutschland in der passenden Form vorge­ stellt werden. Wie ich von Herrn Schröder erfahren habe, ist Hans Naumann Ihnen nicht unbekannt. Könnten denn Sie nicht veranlassen, dass wir mit der gemeinsamen Arbeit über jene vier Franzosen beginnen? Ich habe dabei kleine Abhandlungen im Auge, die weniger eine erschöpfende Darstellung, als vielmehr eine Einführung sein sollen. Zwar hat Michael Freund bereits ein Buch über Sorel veröffentlicht,110 doch glaube ich, dass eine Einführung, die in eine bestimmte Richtung zielt, doch nicht überflüssig ist. Ich selbst habe mich ja bereits in Maxime Leroy eingelesen. Wenn ein anderer Herr über ihn schreiben möchte, dann könnte ich immerhin auch über Hauriou berichten. Es wäre doch eine Sache, die des Überlegens wert ist. Da Sie uns leider nicht mehr als Lehrer im Amt, am rechten Ort, leiten können, bitte ich Sie, brief­ lich oder mündlich, das Vorhaben zu erörtern. Ich jedenfalls bin dazu bereit, zumal ich das Amtsgericht mit Prädikat verlassen habe, was bei einem Zivil­ richter, wie ich ihn hatte, viel wert ist und mir eine gute Rückendeckung gibt. Ich darf auf Ihre Antwort hoffen?

109  Hans Naumann (1908–1977), Romanist und Soziologe, übersetzte viele franzö­ sische Wissenschaftler, musste seine Habilitation über Proudhon im Krieg abbrechen, später im Stuttgarter Verlag Schwab tätig; 5 Briefe, 1 Postkt. (1951–1956) im Nl. Schmitt. 110  Michael Freund (1902–1972), Historiker, habilitierte sich 1938 bei Gerhard Ritter in Freiburg, bekam aus politischen Gründen kein Ordinariat, ab 1951 Prof. in Kiel; 9 Briefe, 2 Postkt. (1932–1967) im Nl. Schmitt. Das Sorel-Buch (Michael Freund, Georges Sorel. Der revolutionäre Konservatismus, Frankfurt a. M. 1932) be­ saß Schmitt von Freund „in Verehrung zugeeignet“.

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Und nun noch eine Mitteilung: In Ihrer Schrift „Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens“ schreiben Sie, dass der juristische Positi­ vismus von Duguit metaphysischer Art sei, während der angebliche Mystiker Hauriou „realer“ sei. Dazu Maxime Leroy (in Arch. de Philosophie du droit, 1932, Nr. 1–2): Hauriou erscheine ihm in gewisser Hinsicht Duguit über­ legen, pour la raison que l’inventeur de la théorie de l’institution a été infini­ ment plus concret que lui, plus social, moins métaphysique en son fond, même dans ses pages mystiques les plus aventureuses et, pour tout dire, moins logique et moins optimiste. Im gleichen Heft, das im wesentlichen Duguit gewidmet ist, steht auch ein Aufsatz von Harold Laski über die Staatsauffassung Duguits, und, was zu sagen ich beinahe vergessen hätte, ein Essay von Scelle über die Doktrin von Duguit und die Grundlagen des Völkerrechts. Eine recht anregende Lektüre für mich. Da ich am Samstag nach Frankfurt zu Hans Naumann fahre, wäre mir eine baldige Antwort sehr willkommen. In großer Hochachtung und alter Treue bleibe ich Ihr ergebener Roman Schnur 24. 1952-03-23 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 18798, hs.

Mainz, den 23.3.1952 Sehr geehrter Herr Professor! In wenigen Tagen werde ich nach Paris abreisen. Den genauen Zeitpunkt einer Abreise habe ich noch nicht festgestellt, doch glaube ich, dass es der 5. April ist. Eine Wohnung (kostenlos) habe ich bei einem Halbspanier, ei­ nem Bekannten, gefunden. Dr. Naumann aus Frankfurt hatte die Freundlich­ keit, mir die Anschriften einiger befreundeter Schriftsteller mitzuteilen, u. a. Jules Monnerot111 und Roger Caillois.112 Ich werde versuchen, mit diesen Herren ins Gespräch zu kommen.

111  Jules Monnerot (1909–1995), Philosoph und Soziologe; sein antikommunisti­ sches Buch „La guerre en question“ wurde von Hans Naumann übersetzt und erschien unter dem Titel „Der Krieg um den es geht“ 1951 in Köln. 112  Roger Caillois (1913–1978), Philosoph.



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Meine Studien über Maxime Leroy habe ich vorwärtstreiben können. In den letzten Wochen habe ich mit dem Studium Duguits begonnen. Es reizt mich sehr, darüber etwas zu schreiben. Er ist ein Musterfall eines metaphysischen Positivisten und daher für mich sehr von Interesse. Ein Aufsatz von Gaston Jèze über ihn ist großartig.113 Hier zeigt sich die Überlegenheit des Verwal­ tungsrechtlers über den Positivisten, des Verwaltungsrechtlers à la Forsthoff. Wenn Sie die Güte hätten, mich mit Gaston Jèze bekannt zu machen, wäre ich Ihnen recht dankbar. Heinrich Kipp114 ist nun Ministerialrat, und Otto Bachof hat es endlich zum ordentlichen Professor gebracht. Das ist ein weiteres Zeichen für den Nieder­ gang der Staatsrechtswissenschaft. Es wäre an der Zeit, dass man für den Rest unserer echten Staatsrechtler zum Sammeln bläst. Wenn Sie einmal ein gutes Verw.-Gerichts-Urteil lesen wollen, dann finden Sie es in „Die öff. Verwaltung“ 1952 Heft 4. Kein Wunder, dass Bachof da­ mit nicht zufrieden ist. Sitzt vielleicht ein Schüler von Ihnen in dem ent­ scheidenden Senat? Es wäre interessant, das zu wissen. Wenn Sie Aufträge für Paris haben, dann lassen Sie es mich bitte wissen. Jeder Auftrag von Ihnen ist mir eine große Ehre. Wenngleich ich meine Schulden bei Ihnen niemals ganz abtragen kann, so möchte ich doch das Mögliche tun. Da ich vom 1. April bis zum 4. April in Merzig bin, können Sie mich dort brieflich erreichen. Meine Pariser Anschrift ist: 90, rue Chaptal (chez Peyre­ lade), Levallois-Perret (Seine). Ihren Aufsatz über die Legisten werde ich in den nächsten Tagen nach Plet­ tenberg schicken, wahrscheinlich kann ich das versprochene Exposé über den 2. Teil des Leroyschen Buches beilegen. Mit großer Hochachtung bleibe ich Ihr ergebener Roman Schnur

113  Gaston Jèze, L’influence de Léon Duguit sur le droit administratif français, in: Archives de philosophie du droit et de sociologie juridique 2, 1932, S. 135–151. – Gaston Jèze (1869–1953), Öffentlichrechtler und Finanzwissenschaftler, Prof. in Pa­ ris, wo Schmitt ihn 1928 kennenlernte; s. TB IV, S. 211. 114  Heinrich Georg Kipp (1919–1993), Jurist, wurde 1952 Ministerialrat in Bonn, habilitierte sich 1956 bei von der Heydte in Würzburg, seit 1958 Ordinarius in Inns­ bruck.

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25. 1952-03-25 Carl Schmitt an Roman Schnur 121, hs.

Pl. 25/3 52 Mein lieber Roman Schnur! Ich bin in das Labyrinth der Prozesse aus Art. 41 Hess. Verf. (Sofort-Soziali­ sierung) geraten; deshalb müssen Sie mir mein langes Schweigen und meine jetzige Eile vergeben.115 Am 4/4 ist in Wiesbaden Termin. Danach hoffe ich freier atmen zu können. Heute nur meinen herzlichsten Dank für Ihre Briefe und alle guten Wünsche für Paris! Suchen Sie vor allem Prof. Achille Mestre zu sprechen.116 Hoffentlich ist das nicht gefährlich (weil er als coll[aborateur] galt; er ist sehr klug und sympathisch (Verwaltungsrecht). Ob es gut ist, bei Gaston Jèze meinen Namen zu nennen, weiß ich nicht; man hat dort aus C. S. einen Mythos gemacht, besonders Gurvitch (der Urfranzose), und die sehr giftige Clique um Maritain.117 Lassen Sie sich durch mein Schweigen nicht abhalten, mir weiter zu schrei­ ben. Wenn wir uns wiedersehen – hoffentlich im Sommer! – ist umso mehr zu erzählen. Die Beteiligung an einem solchen Prozess wie dem in Hessen ermöglicht tiefe Einblicke. Sagen Sie bitte auch Schilly meine besten Grüße! Ich bleibe unveränderlich Ihr alter Carl Schmitt 115  Die hessische Verfassung von 1946 sah im Art. 41 die Verstaatlichung der Großindustrie vor. Das einzige Unternehmen, das davon betoffen war, war die Fa. Buderus, die Carl Schmitt mit einem Gutachten beauftragte zu der Frage, ob mit Art. 41 die Verstaatlichung unmittelbar vollzogen ist, oder ob es dazu eines besonde­ ren rechtlich geordneten Verfahrens bedarf. Der hess. Staatsgerichtshof billigte gegen die überwiegende Meinung der Juristen die Enteignung. Buderus teilte daraufhin das Unternehmen in die Hüttenwerke und die Weiterverarbeitung auf. Jene wurden ver­ staatlicht (und verzeichneten in der Folge Verluste), diese blieben privat. Schmitt schickte das ms. Gutachten am 24. März 1952 an Schnur mit der Widmung: „Roman Schnur als Gruß aus der Welt der Staatsgerichtshöfe!“ (Verkaufsliste Antiquariat He­ ckenhauer vom 15.–17. Okt. 1999, Nr. 77); im Druck erschien es in: VA, S. 452–488; s. auch im Nl. Schmitt: „Zur Sozialisierung in Hessen, Art. 41 HV“ (RW 265–19743) und „Der legale Schein. Notizen zum Buderus-Gutachten“ (RW 265–21373). 116  Achille Mestre (1874–1960), Schüler von Maurice Hauriou, wurde 1900 Prof. für Verwaltungs- und Finanzrecht in Toulouse, wechselte 1922 nach Paris. 117  Jacques Maritain (1882–1973), thomistischer Philosoph. Schmitt hatte zu ihm in den 20er Jahren ein freundschaftliches Verhältnis (s. TB), was sich aber änderte, als Maritain 1936 in seinem Buch „L’humanisme intégral“ Schmitt die Sakralisierung



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26. 1952-03-31 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14206, hs.

Mainz, den 31.3.52

[darunter von C. S. ] Eppichmauergasse 1

Sehr geehrter Herr Professor! Man mag darüber streiten, ob es Gedankenübertragung gibt oder nicht: In der vorigen Woche las ich mit einem Kollegen im A. öff. R. das Urteil des hessischen Staatsgerichtshofes mit der Anmerkung von Prof. Giese.118 Als wir die Probleme des Falles besprachen, tauchte die Frage des Verfassungs­ vollzuges auf. Ich meinte zu meinem Bekannten, das sei eine Sache für C. S. Und dann kommt am Samstag Ihr Gutachten ins Haus. Haben Sie herzlichen Dank dafür! Ich habe es mit Bedacht gelesen. Hier besonders hat mich Ihre Art erstaunt, die Probleme zu lösen aus der Kenntnis der wichtigen Prinzipi­ en, der wenigen wichtigen Prinzipien. Sie vermeiden großartig mit einem Satz die Diskriminierung, lösen den Fall von diesem einen Satz her, den beide Parteien bei Anwendung der Vernunft für richtig ansehen müssen. Ich darf das Wort aussprechen für Sie, das Sie über Hobbes gebraucht haben: Er hat mehr Sinn für die individuelle Freiheit als alle seine Kritiker zusam­ men.119 Veröffentlichen Sie doch bitte das Gutachten! Ich glaube, dass es gerade für die jungen Juristen geeignet ist, das Gefühl für die Probleme des modernen Verfassungsrechts wachzurufen. Ich habe das Gutachten zwei Kollegen gege­ ben, die ebenfalls davon begeistert sind. Leider ist der Termin für die Abreise schon so festgelegt, dass ich Sie nicht in Wiesbaden wenn auch nur: sehen kann. Ich werde Herrn Professor Mestre aufsuchen. Dass Sie mir einen Hinweis für Gaston Jèze gegeben haben, war gut so. Näheres werde ich Ihnen aus Paris mitteilen. Seien Sie mir bitte nicht böse, wenn ich von dort ausführlich schreibe. Wie immer bin ich Ihr ergebener Roman Schnur eines

Unrechtssystems vorwarf (vgl. Glossarium; Schmittiana V, S. 210–213; Marschler, S. 46 f.); s. auch Nr. 28: „Mit Maritain kann man mich in die Flucht jagen“. 118  Friedrich Giese, Hessischer Staatsgerichtshof: Artikel 41 der Verfassung des Landes Hessen ist rechtsgültig, in: AöR 77, 1951, S. 469–495. 119  „Man braucht sein Buch [Leviathan] nur einmal zu lesen, um zu sehen, daß er mehr Sinn für individuelle Freiheit hat als alle seine Kritiker.“ Carl Schmitt, Dreihun­ dert Jahre Leviathan, in: Die Tat vom 5. Apr. 1951 (jetzt in SGN, S. 152–155).

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27. 1952-04-19 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14207, ms.

Paris, den 19. April 1952

[darunter von C. S.:] b. 24.4.52

Sehr geehrter Herr Professor! Zunächst möchte ich mich entschuldigen, dass ich den Brief nicht mit der Hand schreibe. Doch bin ich abends so müde, dass ich kaum die Feder rich­ tig führen kann. Meine Doktorarbeit macht gute Fortschritte. Die Bibliothèque Nationale ist ganz hervorragend. Bis auf ein Buch habe ich alle Bücher finden können, die ich für meine Arbeit benötige. Ich glaube, dass diese Arbeit, wenngleich sie nicht in meinem eigentlichen Gebiet liegt, recht ordentlich wird, zumindes­ ten, wenn man die letzte deutsche Arbeit von Fritz Wagner über dieses The­ ma vergleicht.120 Natürlich werde ich der Arbeit einen geistesgeschichtlichen Überblick voraus­schicken, den ich mit Bodin beginnen werde. Nun habe ich Ihnen et­ was Interessantes mitzuteilen: Selbstverständlich habe ich die erste Ausgabe der Six Livres zur Hand genommen. In Ihrer Verfassungslehre geben Sie als Datum 1577 an.121 Die erste Ausgabe, von der ein Exemplar hier in der „Re­ sérve“ ist, gibt 1576 an. Soweit ich im Augenblick sehen kann, ist das Datum richtig. Sollten Sie Näheres wissen wollen, werde ich mich mit einem Bib­ liothekar in Verbindung setzen, um die Frage zu klären. Mit großer Andacht habe ich das Exemplar in die Hand genommen. Die „Presses Universitaires“ veranstalten eine Ausgabe der Werke Bodins, von denen bisher philosophi­ sche Schriften erschienen sind. Dann habe ich auch die Erstausgabe des „Leviathan“ eingesehen. Es ist ein herrliches Exemplar. Wie einer Notiz der Bibliothek zu entnehmen ist, stammt das Exemplar aus der ersten der drei Ausgaben des Jahres 1651. Geben Sie mir doch bitte Bescheid über diese sehr wichtigen Dinge. Ich plane ohnehin, meiner Arbeit einige bibliographische Exkurse hinzuzufügen. Herrn Sombart habe ich nicht angetroffen, er befindet sich zur Zeit in Italien, wird aber in den nächsten Tagen zurückkehren.

Wagner, Europa im Zeitalter des Absolutismus, München 1948. VL, S. 49. Schmitt besaß von diesem Hauptwerk Bodins die Ausgabe von 1580 („Rev., corr. et augm. de nouveau“, RW 265–22687). 120  Fritz 121  s.



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Maxime Leroy habe ich schon einmal gesehen. Er hatte mich telefonisch zur Vorstellung eingeladen, und zwar zum Apéritif in einem kleinen Hotel in der Rue St. Hyazinth, wo Robespierre wohnte. Anwesend waren noch einige Herren, u. a. sein Bruder, ehemaliger Botschafter in Portugal und letzter Bot­ schafter in Bayern, ein Präsident von XX und ein Herr, der Mitglied des Conseil Économique war. Später kam dann Claude Valéry, der Sohn des Dichters, hinzu.122 Man sprach über Allgemeines, hauptsächlich wollte man von mir Fragen über die Bundesrepublik beantwortet wissen. Claude Valéry habe ich den „Nomos der Erde“ geliehen.123 Ich werde ihn in Kürze wieder sehen und dann hören, was er dazu zu sagen hat. Maxime Leroy hat mir schließlich anheimgestellt, ihn in seiner Wohnung so oft zu besuchen, wie es mir gefällt. Ich möchte ihm gewiss nicht lästig wer­ den, aber ausnutzen werde ich ein solch großartiges Angebot bestimmt. Er hat mir dann noch eine kurze Besprechung von Werner Webers Schrift „Spannungen und Kräfte“ überreicht,124 die er in einer Zeitschrift veröffent­ licht hat. Damit hat es folgende Bewandnis: Im Januar schickte ich Maxime Leroy diese Schrift als Geschenk, um ihm gleichzeitig zu zeigen, dass es auch noch in Deutschland fähige Staatsrechtler gibt. Er hat sich dann auf sehr noble Art für das kleine Geschenk revanchiert! Wie die Kritik ist, wird Ihnen Herr Weber selbst sagen können, dem ich sie heute geschickt habe. Allerdings: wieder einmal werden Sie mit Carlo Schmid verwechselt.125 Bei meinem nächsten Besuch in Auteuil werde ich Maxime Leroy über den Un­ terschied aufklären. Ich werde auch versuchen, dass eine Kritik des „Nomos“ erscheinen wird; vielleicht macht sie Claude Valéry, doch weiß ich nicht, welchen Beruf er ausübt, ich nehme an: einen praktischen, doch würde das der Sache nicht schaden. Von Mirkine-Guetzévitch sagten die Brüder Leroy: Oberflächlich, guter Techniker.126 Genau das hatte ich Ihnen auch sagen wollen. Hier in Paris ist ein Buch einer Französin über Salazar erschienen, die mit ihm eng 122  Claude

Valéry (1909–1992), Musiker. stenogr Notiz von C. S. am Rand. 124  Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951 [u. ö.]. 125  Carlo Schmid (1896–1976), Staatsrechtler, Politiker, Habilitation 1929 in Tü­ bingen, dort von 1930 bis 1940 Privatdozent, 1946 bis 1953 Prof. in Tübingen, 1953 bis 1966 in Frankfurt, daneben Regierungsämter, Mitglied im SPD-Bundesvorstand. Schmid, der eigentlich „Karl“ hieß, änderte seinen Vornamen in „Carlo“, um nicht mit Carl Schmitt verwechselt zu werden, dieser sprach dann von ihm als dem „Carl mit der Null“; 2 Briefe (1947 und 1961) im Nl. Schmitt. 126  Boris Mirkine-Guetzévitch (1892–1955), russ.-franz. Verfassungsrechtler, Pro­ fessor für Völkerrecht an der Sorbonne. Schmitt hatte ihn 1928 in Paris besucht (s. TB IV, S. 211). 123  Dazu

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befreundet war.127 Ich weiß nicht, ob das eine Eva Braun-Affäre ist, möchte es nicht annehmen, weil ich Salazar sehr hoch einschätze. Mit anderen Intellektuellen sprach ich über Franco: „Er muss verschwinden, er ist nicht demokratisch gesinnt.“ Ich fragte sie, ob der dann zu erwartende Bürgerkrieg demokratischer sei als Francos Regime. Achselzucken, die ein­ zige Antwort. Über Diktatur zur Herstellung der Ordnung weiß man scheint’s wenig, obwohl manche Franzosen zur Herstellung der Wirtschaftsordnung einen starken Mann an die Regierung wünschen. So viel für heute. Ich schreibe mehr, auch besser, wenn Sie mir, neben der Anschrift von Achille Mestre, präzise Fragen schicken. [hs.:] In aller Hochachtung Ihr Roman Schnur 28. 1952-04-24 Carl Schmitt an Roman Schnur 198–199, ms.; RW 265 Nr. 13495 (Durchschlag)

Plettenberg, den 24.4.1952 Lieber Roman Schnur, ihr Schreiben aus Paris vom 19. April beantworte ich gleich, in großer Freu­ de über die Nachricht, dass Sie dort so gut arbeiten und dass Ihre Dissertati­ on gute Fortschritte macht. Ihre Mitteilung über das Datum des Buches von Bodin (1576 oder 1577?) hat mich besonders interessiert. Ich habe in meinen Büchern bisher meistens 1577 zitiert, weil ich persönlich noch niemals die Ausgabe 1576 in der Hand gehabt habe. Öfters wurde mir von zuverlässigen Wissenschaftlern versichert, dass 1576 tatsächlich das Datum sei. Ich glaube das auch, aber es wäre mir doch wertvoll, auch von Ihnen darüber informiert zu werden. Die BodinusAusgabe der Presses Universitaires würde mich sehr interessieren. Wenn Sie sie mir in der Weise besorgen können, dass ich sie mit deutschem Geld be­ zahlen kann, würden Sie mir einen großen Gefallen tun. Ich besitze eine Erstausgabe des Leviathan von 1651.128 Es gibt tatsächlich mehrere Ausgaben von 1651. In der englischen National-Bibliothek in Lon­ don soll auch das Exemplar mit der kolorierten Titelseite sein, das Hobbes 127  Christine Garnier, Vacances avec Salazar, Paris 1952. – António de Oliveira Salazar (1889–1970), von 1932 bis 1968 autokratischer Premierminister von Portu­ gal. 128  RW 265–24550. Zur Echtheit der Ausgabe s. Schmittiana NF I, S. 308, Anm. 108.



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dem König Karl II. dediziert hat. Auch diese bibliographischen Dinge sind von großem Interesse und nicht ohne sachliche Bedeutung. Zwar hat mein Gefühl einen harten Schlag dadurch erhalten, dass die Amerikaner meine schöne Bibliothek im Oktober 1945 ohne jede Form und ohne jedes Verfah­ ren weggenommen und bis auf den heutigen Tag nicht zurückgegeben haben,129 aber die alte Liebe lässt sich doch nicht ganz unterdrücken und entmutigen. Die allergrößte Freude macht es mir, dass Sie mit Maxime Leroy in Kontakt gekommen sind. [Hs. Anm. am Rand:] (Ihr Exposé über sein Buch von 1937 habe ich einem jungen Tübinger Dozenten, Joseph Kaiser, weitergegeben, der über die Einwirkungen der Gewerkschaften etc. auf die Legislative arbei­ tet.130) Ich weiß nicht, ob ich auf meinen alten Tag noch hoffen darf, ihn einmal persönlich zu sehen. Aber ich würde das als ein unvergleichliches Geschenk betrachten. Ob Maxime Leroy allerdings die deutsche Situation so versteht, wie es nötig ist, um mein Lebenswerk zu verstehen, ist eine andere Frage.131 Ich fürchte auch, dass Claude Valéry mit dem „Nomos der Erde“ nicht viel anfangen wird. Dagegen wäre es denkbar, dass ihm die kleine Ab­ handlung über „die Lage der europäischen Rechtswissenschaft“ eher ver­ ständlich ist. Ich würde Ihnen gern ein Exemplar schicken, wenn Sie dieser Meinung sind. Von Nikolaus Sombart erhielt ich eine Karte aus der Türkei; er meint, seiner Generation liege der Orient näher als die Antike. Ich war noch nicht in der Türkei und kann das nicht beurteilen. Ich habe in Paris eine Freundin, die einen Salon hat, in dem Leute wie Gabriel Marcel,132 Montherland,133 Mari­ tain verkehren. Mit Maritain kann man mich in die Flucht jagen, von seiner Frau ganz zu schweigen.134 Aber die genannte Freundin – Madame Michelle Ponceau, 24 Rue de Civry, Paris 16 – ist in ihren Briefen so außerordentlich anziehend, und hat soviel Verständnis für Ex Captivitate Salus bewiesen, 129  Die Freigabe der Bibliothek erfolgte kurze Zeit später, vgl. Schmittiana NF I, S. 315–320. 130  Joseph H. Kaiser (1921–1998), habilitierte sich 1947 in Tübingen, hielt seine Antrittsvorlesung in Bonn zum Thema „Der politische Streik“ (Berlin 1955), wurde 1955 Ordinarius für Öffentliches Recht in Freiburg. Kaiser war mit Schmitt befreun­ det und von ihm als Nachlassverwalter eingesetzt; 211 Briefe, 8 Postkt., 1 Telegr. (1945–1984) im Nl. Schmitt. 131  Die Begegnung kam nicht zustande, wohl wegen Reserven auf beiden Seiten; vgl. Nr. 85. 132  Gabriel Marcel (1889–1973), existenzialistischer Philosoph und Dramatiker. 133  Henry de Montherland (1895–1972), Schriftsteller. 134  Raïssa Maritain (1883–1960), Schmitt machte sie verantwortlich für den Bruch mit Jacques Maritain; im „Glossarium“ spricht er von dem „Schwächling Maritain und seine[r] haßerfüllte[n] Raïssa“ (S. 120).

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dass ich sie gern persönlich kennen lernen möchte.135 Nikolaus Sombart hat sie einmal aufgesucht und mir von ihr geschrieben. Ob Sie auch Interesse daran haben, diesen Salon kennen zu lernen, weiß ich nicht. Man muss in Paris sehr vorsichtig sein, weil man schnell klassifiziert wird. Auch ist es denkbar, dass einem alten aufrechten Liberalen wie Maxime Leroy die At­ mosphäre jenes Salons zu schwärzlich ist. Informieren Sie sich einmal vor­ sichtig in dieser Richtung. Die Adresse von Achille Mestre kenne ich leider nicht. Sie dürfte aber nicht schwer festzustellen sein, da er ein angesehener Rechtslehrer der juristischen Fakultät gewesen ist. Ich hoffe, dass wir uns im Sommer wiedersehen, und ich freue mich unend­ lich darauf, von Ihnen über Paris erzählt zu bekommen. Geben Sie mir gele­ gentlich wieder Nachricht und seien Sie mit allen guten Wünschen herzlich gegrüßt von Ihrem alten [hs.:] Carl Schmitt [hs. Nachschrift:] Ich war dieser Tage (anlässlich des Prozesses vor dem Hess. Staatsgerichts­ hof) in Hessen und habe tiefe Einblicke in das Wesen der Staatsgerichtsbar­ keit tun können. C. S. 29. 1952-04-25 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14208, ms.

Paris, den 25.4.1952

[darunter von C. S.:] 28/4 52136

Sehr geehrter Herr Professor! Mit großer Freude habe ich Ihren Brief gelesen. Dass Sie mir alsbald geant­ wortet haben, ist für mich eine große Ehre und ein guter Ansporn für meine Arbeit. Da die Nationalbibliothek erst am 5. Mai ihre Pforten wieder öffnet, kann ich über die Bodin-Erstausgabe heute noch nichts berichten. Ich glaube aber, dass ich die Frage endgültig beantworten kann. 135  Michelle Ponceau, Witwe des von Schmitt geschätzten Philosophen Amédée Ponceau (1884–1948); 45 Briefe (1950–1967) im Nl. Schmitt; vgl. BW Mohler, S. 85 [u. ö.], BW Sombart, S. 48 und 165. 136  Möglicherweise fehlender Brief von C. S.



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Es ist kein Problem, die neue Bodin-Ausgabe, deren erster Band noch nicht die Six Livres enthält, für Sie zu beschaffen. Da ich ohnehin in Deutschland meine Miete zahlen muss, beruht das „Geschäft“ auf Gegenseitigkeit. Ich selbst werde mir im Laufe des Jahres diese Ausgabe kaufen. Im Augenblick bin ich dazu nicht in der Lage, weil der Aufenthalt hier in Paris recht teuer ist. Maxime Leroy habe ich in dieser Woche nicht besucht, doch werde ich ihn in der nächsten Woche wiedersehen. Durch einen glücklichen Zufall habe ich in der Buchhandlung ein Exemplar seines Buches „La loi“ auftreiben können. Sein Werk „Les transformations“ liegt auch noch dort. Vielleicht reicht das Geld auch dafür. Maxime Leroy veranstaltet bei Gallimard in der sehr schönen Reihe der Pléiade eine Ausgabe der Werke von Saint-Beuve, den er, wie er mir mitteilte, für einen der bedeutendsten Männer des 19. Jahr­ hunderts hält.137 In dieser Woche habe ich Professor Henri Berr einen Besuch abgestattet.138 Dieser Gelehrte gibt die bekannte Reihe „L’évolution de l’humanité“ heraus, in der u. a. das Werk von Marc Bloch über die société féodale erschienen ist.139 Der Besuch war hochinteressant. Ich traf den Gelehrten hinter einem Berg von Büchern an. Trotz seiner 89 Jahre arbeitet er noch unermüdlich. Er erzählte mir von seinen Reisen nach Deutschland und seinen deutschen Be­ kannten. Mit Lamprecht140 und Meinecke141 war er sehr befreundet, und auch Wilhelm Goetz142 kannte er gut. Dieser hatte ihn, schon im Ruhestand, während des Krieges in Paris aufgesucht. Dabei sagte er zu Henri Berr, er sei froh, in diesen Zeiten nicht mehr im Amt zu sein. Ich selbst habe den Ein­ druck, dass Henri Berr, im Gegensatz zu Maxime Leroy, der gegenwärtigen Situation nicht Herr ist. Er hat, vor dem 1. Weltkrieg, Bücher über die Kultur des 17. Jahrhunderts geschrieben, u. a. über Gassendi und das französische Theater vor der großen Epoche. Er meinte, in dieser Zeit habe ein Element des romantisme gewaltet, ungebundener, liberaler. Leider kann ich mir darü­ 137  Charles-Augustin Saint-Beuve (1804–1869), Schriftsteller und Literaturkritiker. Bei der Ausgabe handelt es sich um Ch.-Aug. Saint-Beuve, Port Royal [1]–3 (Biblio­ thèque de la Pléiade, 93, 99, 107) Paris 1952–1955. 138  Henri Berr (1863–1954) Philosoph, Wissenschaftshistoriker. 139  Marc Bloch (1886–1944), bedeutender Mediävist, wurde als Mitglied der Ré­ sistance 1944 von der Gestapo verhaftet, gefoltert und umgebracht. Sein Buch „La Société féodale“ erschien 1939–40 in zwei Bänden in Paris. 140  Karl Lamprecht (1856–1915), seit 1891 Prof. für mittelalterliche und neuere Geschichte in Leipzig. 141  Friedrich Meinecke (1862–1954), Historiker, 1901 Prof. in Straßburg, ab 1906 in Freiburg. Sein Buch „Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte“, Mün­ chen/Berlin 1924, wurde von Schmitt 1926 kritisch rezensiert (jetzt in PuB, S. 51–59); 2 Briefe, 2 Postkt. (1926–1930) im Nl. Schmitt. 142  Vermutlich Walter Wilhelm Goetz (1867–1958), Historiker, 1905 Ordinarius in Tübingen, 1913 Straßburg, 1915 Nachfolger von Karl Lamprecht in Leipzig.

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ber kein Urteil bilden, doch bestätigte auch er mir, dass das Zeitalter Descar­ tes’ von Maxime Leroy sehr richtig beurteilt worden sei. Um es nicht zu vergessen: Von seinem berühmten Werk über Descartes meinte Maxime Le­ roy: Die Gelehrten hätten dieses Werk im allgemeinen negativ beurteilt. Sie seien entsetzt gewesen, von Descartes zu hören, dass er ein Bauer gewesen sei. Die Situation des Descartes, auch die des Bodin also, wird von diesen Gelehrten, nach meiner Meinung gründlich verkannt. Dass Bodin und Des­ cartes, jeder auf seine Art, versucht haben, mit ihren Theorien den Sprung aus fürchterlichen Streitigkeiten in eine gewisse Sicherheit zu vollziehen, ist ihnen nicht geläufig. Gerade das Eingehen auf den ganzen Descartes ermög­ licht doch erst das Verständnis seiner Philosophie, und ich gestehe Ihnen ehrlich, dass ich vor der Lektüre des Leroyschen Werkes mit Descartes nicht viel anzufangen wusste. Für Ihren Hinweis auf den Salon der Madame Ponceau danke ich Ihnen bes­ tens, doch werde ich sehr wahrscheinlich nicht dorthin gehen. Die Anwesen­ heit eines Scharfmachers wie Maritain würde mir die Freude am Zusammen­ treffen mit Gabriel Marcel verleiden. Um es mit Ihren Worten zu sagen: die Atmosphäre jenes Salons ist auch mir zu schwärzlich. Und nun möchte ich Ihnen noch zwei Dinge mitteilen: Meine Arbeit über den Rheinbund möchte ich unter dem Aspekt der mutual relation between protection and obedience behandeln.143 Verfassungsrechtliche Grundsätze für jene Zeit lassen sich in der Tat nicht anwenden, und Pufendorf hat die einzig richtige Antwort auf die Frage nach der Verfassung des Reiches gegeben.144 Ich möchte annehmen, dass in solchem Fall der Satz des Hobbes eine große Bedeutung erlangt. Man darf nicht vergessen, dass der Kaiser in den Nieder­ landen kämpfte, und zwar ohne Rücksicht auf den Zustand des Reiches und die Interessen der rheinischen Länder. An der Aufrichtigkeit des Mainzer Kurfürsten ist in der gesamten Literatur kaum gezweifelt worden, und der Rheinbund löste sich dann auf, als Ludwig XIV. seine Raubzüge begann. Sodann muss man im Auge behalten, dass Frankreich, und in gewissem Sin­ ne England, zu innerpolitischen Lösungen gekommen sind. Vor allem Frank­ reich entwickelte den territorialen Flächenstaat, dem die Zukunft gehörte. Die preußische Betrachtungsweise des Rheinbundes behagt mir nicht, weil sie den preußischen Herrschern das Recht zum Handeln gegen das Reich gibt, den Rheinbundstaaten von 1645 Verrat oder mindestens Ungehorsam 143  Schnur

than“.

zitiert hier Hobbes’ „Review and Conclusion“ am Ende des „Levia­

144  Der Rechtsphilosoph Samuel von Pufendorf (1632–1694) bezeichnete in sei­ nem Werk „Über die Verfassung des deutschen Reiches“ (De statu imperii Germanici) dieses als „irregulare aliquod corpus et monstro simile“ (einen irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper).



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gegen den Kaiser vorwirft. So glatt, wie moderne Verfassungshistoriker die Rheinbundfrage lösen wollen, geht es wirklich nicht. Deutschland hatte an die europäische Lösung des Staatsproblems am Ausgang des Mittelalters den Anschluss verloren. Eine kleindeutsche Lösung war im 17. Jahrhundert un­ möglich; wer kann es da gewissen Fürsten verdenken, ein gewagtes Spiel mit Frankreich zu treiben? Jedenfalls bietet gerade der Rheinbund von 1658 eine Fülle von Problemen, die ich in meiner Arbeit nicht unerwähnt lassen möch­ te. Für eine Äußerung von Ihrer Seite wäre ich Ihnen sehr dankbar. Und noch eine Meinung möchte ich gern von Ihnen hören: Über das Buch Riperts „Le déclin du droit“. Ich habe das Buch mit großer Spannung gele­ sen. Die beiden anderen politischen Bücher über die Demokratie und das Zivilrecht sowie die juristischen Aspekte des Kapitalismus habe ich mir ebenfalls vorgenommen. Die Äußerungen Riperts, an dessen Autorität nicht zu zweifeln ist, sind eine gute Antwort auf die Forderungen Duguits, und Ripert versäumt es nicht, das zu erwähnen, zum mindesten auf die Gefahr der Gedankengänge Duguits hinzuweisen.145 Diese Bücher Riperts haben auf mich einen sehr großen Eindruck gemacht, ich kann sagen, dass ich bei ihrer Lektüre geradezu nervös, aufgeregt, war. Duguits „Transformations du droit public“ habe ich in dieser Woche ebenfalls gelesen. Glauben Sie, dass es ich lohnt, eine kleine Arbeit über Duguits Buch, über Maxime Leroys „La Loi“ und das neue Werk Riperts zu schreiben?146 Ich würde mich auf diese Werke der Genannten beschränken, um die Linie nicht zu verlieren. Sodann möchte ich Ihnen noch mitteilen, dass ich die Werke Clermont-Tonnèrres auf die Frage nach dem pouvoir neutre hin untersucht habe.147 Außer Ihrem Hinweis habe ich nicht viel finden können, und ich nehme an, dass außer durch Zufall nicht viel zu erreichen ist. In Bd. 2, S. 365, steht in der Abhandlung über das Recht der Richterernennung: Der König soll das Recht haben, aus mehreren Personen, die vom Volke vorgeschlagen werden, den ihm genehmen Richter auszusuchen. Il me semble, que cette manière l’influence royale devenue simplement régulatrice ne pouvant se porter que des sujets environnés de l’opinion public ne présente vêritablement aucun danger et produit plusieurs avantages. Auf S. 14 ff., Bd. 4: Die Amerikaner haben die Notwendigkeit ei­ 145  Vgl. Georges Ripert, Le déclin du droit. Études sur la législation contempo­ raine, Paris 1949, S. 193, wo er Duguit mit dem Satz zitiert: „La propriété est pour tout détenteur d’une richesse le devoir, l’obligation d’ordre objectif d’employer la richesse qu’il détient à maintenir et à créer l’interdépendance sociale.“ Wo das Recht derart funktionalisiert wird, sagt Ripert, verrät man dessen absoluten Charakter. 146  Dazu stenogr. Notiz von Schmitt am Rand. 147  Stanislas de Clermont-Tonnèrre (1747–1792), Politiker, strebte eine konstitu­ tionelle Monarchie an. In „Der Hüter der Verfassung“ verweist Schmitt auf mögliche Vorläuferschaft zu Benjamin Constants Begriff des „pouvoir neutre“. Das sei bisher (1931) „noch nicht näher untersucht“ (Hüter, S. 132 f.).

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ner starken Exekutive erkannt, dass ein Staat, der kein gemeinsames Zentrum der Kraft hat, um das sich das Vertrauen sammeln kann, keine außenpoliti­ sche Tätigkeit entfalten kann Mehrmals wird dann über die Notwendigkeit einer starken Exekutive gesprochen (die natürlich beim König liegen soll!): Mais peut-elle s’opérer sans danger pour la liberté naissante? … Oui, sans doute, et c’est en son nom même que je demande que ce pouvoir existe …148 Dann habe ich noch in den Mélanges historiques et politiques par MM. de Pradt, Benjamin-Constant (so geschrieben) Ganilth et autres publicistes célè­ bres, 1829, ganz aufschlussreiche Darlegungen über den Liberalismus gefun­ den. Im Bd. 2 z. B.: Der Liberalismus ist eine Partei wie die Luft und das Licht, die überall sind, überall hinfließen, ohne Plan, ohne Führer, ohne ge­ meinsame Richtung, aber durch ihre eigene Natur. So ungefähr die Stelle, S. 186: Le Libéralisme, c’est la nature elle-même.149 In beiden erwähnten Werken finden sich noch weitere sehr wichtige Stellen, die ich natürlich nicht hier zitieren kann. Ich habe mir jedoch einige be­ sonders treffliche Stellen abgeschrieben. Heute habe ich mehr geschrieben als sonst, doch habe ich hier so viel Neues erfahren, dass ich Sie nicht ohne ausführliche Nachricht lassen wollte. Ich werde Ihnen das nächste Mal nach dem Besuch bei Maxime Leroy ­schreiben. Schicken Sie mir bitte ein Exemplar Ihrer Schrift über die Lage der europäischen Rechtswissenschaft; wenn Sie von „Ex Captiviate Salus“ ein Exemplar erübrigen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar dafür. Ich möchte es für eine Besprechung unterbringen, denn ich hoffe, im Laufe mei­ nes Pariser Aufenthalts mit Leuten zusammen zu kommen, die mir dabei helfen können. Über Achille Mestre, der übrigens nach dem Kriege Aufsätze publiziert hat, hoffe ich Ihnen bald Näheres mitteilen zu können. Seien Sie der größten Hochachtung versichert von Ihrem ergebenen [hs.:] Roman Schnur 90, rue Chaptal (Chez M. Peyrelade) Levallois-Perret (Seine)

148  Schnur zitiert aus: Oeuvres complètes de Stanislas de Clermont-Tonnerre, con­ tenant ses opinions sur la Révolution Française et sur plusieurs gouvernements de l’Europe, T. 1–4, Paris 1795. Dazu stenogr. Notiz von C. S. am Rand. 149  Mélanges politiques et historiques relatifs aux événements contemporains par MM. Benjamin Constant, Ganilh, de Pradt et autres publicistes célèbres …, vol. 1–3, Paris 1829. – Dominique Dufour de Pradt (1759–1837), Erzbischof, Schriftsteller und Diplomat.



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30. 1952-05-01 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14209, ms.

Paris, den 1. Mai 1952

[von C. S.:] 90, rue Chaptal, (chez M. Peyrelade), Levallois-Perret, Seine

Sehr geehrter Herr Professor! Gestern sind Ihre beiden Schriften unversehrt hier angekommen.150 Ich wer­ de morgen versuchen, Maxime Leroy zu erreichen, oder, sollte dies nicht gelingen, bei Claude Valéry vorzusprechen. Ich habe auch einen Brief von Hans Paeschke erhalten. Ihm hatte ich seiner­ zeit einen Hinweis auf das Werk Maxime Leroys gegeben. Er antwortete mir, dass ihm der Gelehrte bekannt sei, doch glaube er, dass Maxime Leroy aus­ schließlich historisch interessiert sei! Was Paeschke damit sagen wollte, ist mir nicht ganz klar, denn ich kann mir schwerlich vorstellen, dass er damit etwas Negatives über den Wert historischer Forschung aussagen wollte. Dar­ aufhin habe ich etwas eingehender über Maxime Leroy geschrieben und auch, wegen der Mitarbeit Benses151 an dieser Zeitschrift, auf das Buch über Descartes aufmerksam gemacht. „Es ist möglich, dass er dazu Stellung nimmt.“ Hoffen wir also das Beste. Über Maxime Leroy: „Allenfalls können wir uns denken, dass er einmal die Gegenkräfte zusammenfassend behandelt, die in der Entwicklung des französischen Sozialismus gegenüber Marx und dessen Schule andere und vielleicht menschlichere Einsichten in den Sozia­ lismus herausgearbeitet haben.“ Das kann sich Herr Paeschke ganz sicher denken, dass sich Maxime Leroy damit beschäftigt hat, immerhin schon seit 50 Jahren! Die Überschwemmung des deutschen Büchermarktes mit Gide152 und Sartre153 hat sehr schlimme Folgen gehabt, vor allem hat sie deutsche Intellektuelle verleitet, ihre Kräfte an diese Leute zu verschwenden. Als wenn in Frankreich außer Sartre, Claudel, Maritain, Gide und noch einigen niemand ernsthaft gedacht hätte! Ich will Herrn Paeschke, dessen Qualitäten ich sehr schätze, hier keinen persönlichen Vorwurf machen, das wäre in ei­ 150  Wohl

die beiden im Nr. 28 genannten Titel. Bense (1910–1990), Philosoph, zu dieser Zeit Mitarbeiter der Zeitschrift „Merkur“, Autor von „Descartes und die Folgen“ (Krefeld/Baden-Baden 1950). 152  André Gide (1869–1951), franz. Schriftsteller, 1947 Nobelpreis, schon 1919 hatte E. R. Curtius auf Gide hingewiesen, nach 1945 stieg das Interesse in Deutsch­ land stark an, 1949 erhielt er die Goetheplakette der Stadt Frankfurt. 153  Jean Paul Sartre (1905–1980), franz. Philosoph und Schriftsteller, der mit sei­ nem Existentialismus genau die Stimmung nach dem Krieg traf. 151  Max

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nem Brief, der nicht an ihn gerichtet ist, unfair. Ich wollte lediglich zeigen, wie nötig es ist, das Denken Maxime Leroys in Deutschland bekannt zu machen. Herr Paeschke hat mir dann auch in Aussicht gestellt, in einer kür­ zeren Besprechung das Werk von Leroy in Hinsicht auf die nichtmarxisti­ schen Sozialisten vorzustellen. Wahrscheinlich wird mir diese Aufgabe nicht gelingen, denn in einer „kürzeren Besprechung“ lässt sich das Gedankengut eines Maxime Leroy nicht vorstellen. Immerhin werde ich das Mögliche versuchen. Und nun einige Hinweise, soweit Ihnen die Mitteilungen fremd sein sollten: Bei Hauriou habe ich die Forderung nach einer starken Exekutive gefunden, die vom Volk gewählt werden solle. Näheres brauche ich Ihnen über dieses Thema nicht zu berichten! In den letzten Tagen habe ich eine Ausgabe der Briefe Bakunins154 an Her­ zen155 und Ogareff156 auftreiben können. Die Briefe sind zwischen 1860 und 1874 geschrieben und von einem Michel Dragomanov herausgegeben wor­ den.157 Er hat eine lange Einleitung vorausgeschickt, die wichtige biographi­ sche Mitteilungen enthält. Für mich sind sie äußerst wichtig, denn es wird auf die enge Verbindung Bakunins mit den Links-Hegelianern hingewiesen, vor allem mit Ruge. Auch [auf] das Zusammentreffen Bakunins mit Proud­ hon in Paris wird aufmerksam gemacht. So hatte eines abends Karl Vogt158 Bakunin und Proudhon verlassen, weil ihm die „ewigen Gespräche“ über Hegel leid wurden. Am Morgen, als er am betreffenden Hause vorbeiging, hörte er eine heftige Debatte darin und schaute nach dem Rechten. Er traf beide Freunde so an, wie er sie am Abend vorher verlassen hatte. Es wird auch erwähnt, dass Bakunin im Jahre 1842 in Berlin am Fackelzug zu Ehren Schellings mit Begeisterung teilgenommen hat. Schließlich möchte ich Ihnen noch ein Wort Bakunins mitteilen, das für diesen teuflischen Zerstörer kenn­ zeichnend ist: Die erste Aufgabe bei einem Aufruhr ist, das Rathaus zu zer­ stören, in dem die Akten und Dokumente aufbewahrt werden. Das bringt 154  Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814–1876), russ. revolutionärer Anarchist, für Schmitt der Erzfeind von Religion und staatlicher Autorität. Im Tagebuch disku­ tiert Schmitt am 3. Nov. 1924 mit W. Gurian darüber „warum am Schluss jedes mei­ ner letzten Bücher Bakunin erscheint“, TB III, S. 372 (vgl. RK, PT, Geistesgesch. Lage). Auch später im Glossarium ist Bakunin präsent. 155  Alexander Herzen (1812–1870), russ. Philosoph und Schriftsteller. 156  Nikolai Ogarjow (1813–1877), russ. Schriftsteller, Sozialist, Freund von Alex­ ander Herzen. 157  Michail Bakunins Sozial-politischer Briefwechsel mit Alexander Iw. Herzen und Ogarjow. Mit einer biographischen Einl., Beil. und Erl. von Michail Dragoma­ now (Bibliothek Russischer Denkwürdigkeiten, 6), Stuttgart 1895. – M. Dragomanow (1841–1891), ukrainischer Historiker. 158  Carl Vogt (1817–1895), Naturwissenschaftler und Politiker.



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Unordnung in die herrschenden Klassen Wenn diese Schriftstücke einmal vernichtet sind, fällt es der herrschenden Klasse schwer, die frühere Ordnung wieder herzustellen. Es wäre für die deutschen Historiker eine ruhmvolle Aufgabe, die Geschich­ te der Linkshegelianer zu schreiben. Das Buch von Karl Löwith ist gewiss einzigartig, aber es fehlen auch darin, ohne Schuld des Verfassers, wesentli­ che Dinge, die nur durch intensive Kleinarbeit dargestellt werden können.159 Es fehlt eben bei uns eine Gesellschaft wie die hiesige zur Erforschung der französischen Revolution. Ein einzelner Gelehrter kann diese Aufgabe nicht bewältigen, aber daran denken sollte man wenigstens. Und Hilfe vom Staat? Ripert schreibt, dass die heutigen Machthaber wenig Interesse an Forschun­ gen haben, die zum Ziele die historische Analyse der modernen Verhältnisse haben. In Deutschland kommt diesem Ziel der Machthaber die Mentalität eines großen Teiles der Gelehrten entgegen. Das Geld, das ich für Schnabels Werk ausgegeben habe, könnte ich hier in Paris besser anlegen!160 Im Maxime Leroys Buch über Descartes habe ich noch einen sehr wichtigen Satz gefunden: Il n’y a pas de justice en matière politique. Und ein Wort von Descartes: Je vois que les formes du droit peuvent souvent aussi bien servir à faire injustice quʼà l’empecher. Und bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen, dass Maxime Le­ roy, indem er von der Machtansammlung bei den Gewerkschaften spricht, als Sicherung gegen den Missbrauch dieser Macht keine Juridifizierung der Po­ litik vorschlägt, sondern seine Hoffnung in die demokratische Tradition der CGT setzt! Das dürfte wirklich der Weisheit letzter Schluss sein: Es kommt darauf an, in welchem Geiste die Machthaber regieren. Hier und da gibt es Hilfsmittel, entscheidend aber ist die Einstellung der Regierenden. Die Pro­ blemstellung in diesem Punkte ist also nicht erst von heute, sie ist eine Sache der menschlichen Existenz, die auch im System eines Saint-Simon einen Platz hat, wenngleich er sie daraus verwiesen hat. In diesem Punkte bin ich anderer Ansicht als Herr Sombart, der mir schriftlich erklärt hat, die franzö­ sischen Nichtmarxisten hätten das Problem der Macht sehr genau erkannt und seien sich seiner Bedeutung voll bewusst gewesen. Ich hoffe, darüber mit ihm debattieren zu können, wenn er von seiner Reise zurückgekehrt ist. Esmein161 und Hauriou haben in diesem Gebiet auch ihre Bedenken gegen 159  Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Zürich 1941 [u. ö.]. 160  Franz Schnabel (1887–1966), Historiker, 1922 Prof. an der TH Karlsruhe, 1936 entlassen, 1945 wieder eingestellt, 1947 an der LMU München, wo er Ernst-Wolfgang Böckenförde promovierte. Schnur hatte vermutlich die vierbändige „Deutsche Ge­ schichte im neunzehnten Jahrhundert“ (1929–1937) gekauft. 161  Adémar Esmein (1848–1913), franz. Jurist.

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die Vertreter der Verwaltung nach Natur der Sache angemeldet. Sie sind (mit Descartes) der Meinung, dass Politik, will sagen, Kenntnis der Politik, eine Sache der Erfahrung häufiger ist als eine Sache der raison, denn man hat es nicht immer mit Menschen zu tun, die gemäß den Richtlinien der Vernunft handeln. Aus der Praxis der französischen Verwaltung: Vor etwa 18 Tagen habe ich ein Schreiben an eine Dienststelle geschickt, ohne eine Antwort erhalten zu haben. Und das Außenministerium wollte mir seine Zusage für meine Arbeit im Archiv schicken und steckte in den für mich bestimmten Umschlag einen Brief an einen Historiker der Louisiana State University, dem man damit Antwort auf eine Anfrage vom Juli 1951 gab. Das ist Preußens beste Revan­ che! Wenn man ein Ethos für überflüssige Metaphysik erklärt! Mit herzlichen Grüßen bleibe ich der Ihnen stets ergebene [hs.:] Roman Schnur

31. 1952-05-04 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14210, ms.

Paris, den 4. Mai 1952 Sehr geehrter Herr Professor! Heute kann ich Ihnen von einem großartigen Besuch bei Maxime Leroy Nachricht geben. Gestern Nachmittag durfte ich drei Stunden in seiner Woh­ nung verbringen. Ehe ich mit den Einzelheiten anfange, möchte ich Ihnen sagen, dass Maxime Leroy dicht neben Madame Ponceau wohnt, und zwar im Hause Nr. 28! Er selbst hatte von der Existenz dieses Salons keine Ah­ nung, meinte aber, dass ich versuchen solle, vor allem mit Gabriel Marcel ins Gespräch zu kommen. Gespräche mit ihm seien sehr fruchtbar. Ich werde mir doch noch überlegen, ob ich nicht dorthin gehen soll. Um zwei Uhr suchte ich den Gelehrten in seiner Wohnung auf. Das Gespräch fand im Arbeitszimmer statt, das, sehr aufgeräumt, auf mich einen angeneh­ men Eindruck machte. Es war der richtige Ort für ein solches Gespräch. Ich richtete ihm zuerst Grüße von Ihnen aus, wenn ich den Ausdruck Ihrer Hoch­ achtung für Maxime Leroy so nennen darf. Er bedankte sich freundlich, und ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich sage, dass er von meinen Worten tief gerührt war. Es dauerte nicht lange, bis wir wichtige Themen berührten. Zunächst fragte ich ihn nach der Bedeutung des aurore boréale, das bei



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Proudhon eine Rolle spielt.162 Er erwiderte, dass ihm augenblicklich diese Stelle nicht bekannt sei, weil er schon seit längerem das Studium dieses Mannes aufgegeben habe, denn man könne sich nicht stets mit dem gleichen Denker beschäftigen. Wenn Sie aber durch mich die Stelle in den Werken Proudhons angeben würden, dann wolle er sich gern mit diesem Thema be­ schäftigen. Dass bei Saint-Simon solche Gedanken aufgetaucht sind, würde ihn nicht wundern, denn er spricht des öfteren davon, dass den „Weisen“ die Herrschaft gegeben werden müsse. Wir blieben dann einige Zeit bei Saint-Simon. Ich sagte, dass dieser Mann und seine Schüler eine wichtige Sache vergessen hätten, nämlich die Versu­ chungen der Macht. Maxime Leroy gab mir recht und fuhr fort, indem er meinte, den Menschen als solchen hätten sehr viele Denker des 19. Jahrhun­ derts vergessen. Dann sprachen wir über die Transformationen der Autorität in der modernen Verfassungsgeschichte. Sie begannen, so erklärte Maxime Leroy, in der fran­ zösischen Revolution. „Man übersieht häufig eine wichtige Sache, so fuhr er fort, nämlich: den Druck der Straße auf die Revolutionsparlamente. Auf den Tribünen saß das Volk, man kann auch Pöbel sagen, und beeinflusste von dort, oft unter schweren Drohungen die Politik des Parlaments. Denken Sie daran, was solche Drohungen für die Politiker bedeutet haben! Die Autorität ist dadurch auf eine niedrigere Stufe geraten, und dem weißen Terror ist es nicht gelungen, sie wieder auf ihren alten Platz zu erheben. Die Zeit von 1789 bis 1871 war eine Zeit, in der der politische Mord eine zu verherr­ lichende Sache war. Im Namen der Gerechtigkeit wurde in der Revolution gemordet, im Namen der gleichen Gerechtigkeit ließen die Ultras nach 1815 ihre Gegner beseitigen. Die Ultras, die sich, um ihre Macht zu behaupten, mit den wirklich unmenschlichen Kapitalisten der Frühzeit verbündet haben, sind in diesen Zirkel des Mordens hineingeraten und haben dadurch schwere Schuld auf sich geladen. Jedenfalls ist es ihnen, und gerade wegen ihrer Un­ menschlichkeit, nicht gelungen, die alte Autorität wieder herzustellen. 1848 hat dann mit einem Schlag die Situation beleuchtet: Den permanenten Bür­ gerkrieg, und zwar ein solcher der nackten Gewalt. Und hier beginnt die Geschichte der Gewerkschaften, die eine neue Ordnung geschaffen haben. 162  Vermutlich hatte Schmitt Schnur gebeten, Leroy danach zu fragen. In ECS, S. 49 ff., spricht Schmitt davon, dass ihm Däublers Idee vom Nordlicht (aurore boréa­ le) mit seinen geistesgeschichtlichen Bezügen erst 1938 durch einen Aufsatz Proud­ hons deutlich wurde: „Mir hat jene Begegnung mit der Anmerkung Proudhons den Sinn des Nordlicht-Symbols enthüllt.“ Diese Anmerkung, in der allerdings das Wort „aurore boréale“ nicht fällt, spricht vom Erkalten der Erde, der die Vollendung des menschlichen Geistes gegenübersteht. Sie findet sich in: Pierre-Joseph Proudhon, Du principe de l’art et de sa destination sociale, Paris 1865, S. 175. Schmitts annotiertes Exemplar im Nl., RW 265–27058.

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Man kann von den Nachteilen dieser Entwicklung sagen, was man will. Ei­ nes ist sicher: Ohne die Gewerkschaften wäre eine gewisse Ruhe im sozialen Kampf nicht eingetreten. Naturgemäß haben die Gewerkschaften eine Um­ wandlung des öffentlichen Rechts herbeigeführt, aber wir wollen einmal überlegen, wie die Lage der Arbeiter heute ohne die Gewerkschaften wäre. Aus Menschlichkeit haben die patrons bestimmt nicht den Arbeitern bessere Möglichkeiten gegeben. Also ruht die Autorität heute nicht mehr in sich selbst. Die Teilnehmer des sozialen Kampfes haben in keinen Machthaber mehr das unbedingte Vertrauen, das in eine unbedingte Autorität gesetzt wer­ den muss. Der organisierten Ausbeutung der Nichtfabrikanten mussten die Arbeiter ihre Organisation entgegensetzen, um ein menschenwürdiges Dasein zu erreichen. Diese geschlossene Organisation hat ihre besonderen Formen, sie hat die individuelle Freiheit aufgegeben. Aber, so fährt Maxime Leroy fort, auch hier sind die Machthaber oft genug den Versuchungen der Macht erlegen. Die notwendige Organisation hat sie verleitet, über das Maß des Erforderlichen oft genug hinauszugehen. Die Rechtsformen dieser neuen Gesellschaft hat der Gelehrte oft genug beschrieben, ich brauche Ihnen darü­ ber ja nichts mitzuteilen. Und was de Maistre163 angeht, seine Intelligenz in Ehren, aber hat er nicht sein Spiegelbild Bakunin herausgefordert? Hat nicht die maßlose Forderung nach Ordnung die maßlose Forderung Bakunins, des Zerstörers, herausgefordert? Und dann wurde im Lauf dieser Entwicklung ein Element in die Auseinan­ dersetzung gebracht, das furchtbare Folgen hatte: Jede der Parteien bean­ sprucht das Monopol der Wahrheit, und so kämpfen die Parteien erbittert wie nie zuvor und sanktionieren im Namen der Wahrheit furchtbare Dinge. Es gibt doch in der Politik keine Wahrheit, es gibt ein Ungefähr, das mit viel Überlegung und Wahrheit gegen sich selbst erreicht werden kann. Perfek­ tion? Ein böses Wort. Perfekt ist nicht die Gesellschaft und der in ihr lebende Mensch geworden, höchstens die Technik des Tötens ist der Perfektion nahe gekommen.“ Und das ist der Grund, weshalb Maxime Leroy den französischen Sozialis­ mus trotz vieler Schwächen für freiheitlicher hält als den Marxismus: „Proudhon hat eine große Gefahr erkannt: Die Gefahr der Zentralisierung, der niemand entrinnen kann, der einmal in ihren Bereich geraten ist. Es bleibt heute keine andere Wahl, als Mittel zu suchen zur Verwirklichung ei­ nes Föderalismus, der der Freiheit des Individuums dient. Nicht ein Födera­ lismus für eigene, im Grunde unmenschliche Interessen, sondern ein Födera­ lismus, der eine Freiheit gewährleistet, soweit das überhaupt im Zeitalter der industriellen Konzentration möglich ist. 163  Joseph de Maistre (1753–1821), franz. Gegenaufklärer; für Schmitt interessant, weil er die Dezision für ein Merkmal der Souveränität erklärte (vgl. PT, S. 60).



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Die Denkweise der Machthaber ist heute, unter einer schönen Reklame, oft gegen die Freiheit gerichtet. Man überlegt zu wenig, bevor man handelt. Man will eine societas perfecta schaffen, ohne zu berücksichtigen, dass das nicht möglich ist. Die Fanatiker der Wahrheit, welch grauenhafte Leute! Ro­ bespierre, der noch mit der Feder im Namen der Wahrheit töten will, ebenso de Maistre und die ganze Reihe der Fanatiker. Was ist denn im sozialen Le­ ben die Wahrheit? Auch ein Descartes hat sie nicht gefunden, und ich, sagt der Gelehrte, kenne auch nicht die Wahrheit in politicis. Das ist einer der Gründe, weshalb ich bei den Sozialisten an Kredit verloren habe, bei der Gegenseite bin ich auch nicht gut angeschrieben, weil ich eine simple Wahr­ heit gesagt habe: dass die Auswüchse des Kapitalismus vor denen des Sozi­ alismus waren. Aus diesem Zirkel ewiger Rechthaberei müssen wir hinaus, wenn wir die Freiheit, auch und besonders die des Geistes, retten wollen. Was nötig ist? Die Gemeinschaft derer, die guten Willens sind.“ Aber, das weiß der große Gelehrte sehr gut: „Vielleicht war das selten so schwer zu verwirklichen als heute, obwohl wir mehr Erfahrungen besitzen als die meis­ ten Menschen vor uns.“ Ich habe den historischen Überblick in einem Wort zusammengefasst: Wenn man es einfach, zu einfach sagen will: Die Gewerkschaftsbewegung hat eine unausweichliche Entwicklung in eine ruhigere Bahn gelenkt. Ohne diese Bewegung – man kann sich diese Entwicklung wohl vorstellen. Welche Fol­ gen, gute und schlimme, diese Entwicklung gehabt hat: das ist ein Thema, das wir, so hoffe [ich], in der übernächsten Woche besprechen. Ich habe Ihnen einen kurzen Überblick geben wollen. Das Gespräch war viel reichhaltiger als ich das wiedergeben kann. Es wurde vor allem das eine Thema eingehend besprochen: die Bedeutung der Gewerkschaftsbewegung, mithin die Proudhons, für die moderne Gesellschaft. Es scheint wirklich so zu sein, dass ein echtes Gefühl für eine wirkliche Autorität, die in sich selbst ruht, nicht mehr unter den Menschen wirksam ist. Dass eben alle Macht­ haber, denen man unbegrenzte Macht gibt, das Vertrauen des ganzen Volkes missbrauchen. Das aber geht auf theologische Wurzeln zurück, dass eben der moderne Mensch, der nicht einmal echter Humanist ist, den Versuchung[en] des industriellen Zeitalters nicht gewachsen ist. Dass er entweder so sehr Übermensch ist, dass er im Namen seiner freischwebenden Vernunft Terror ausübt, oder aber den niedrigen Instinkten haltlos gegenüber steht. Und voraus­gesetzt die positive Möglichkeit einer echten Autorität: Wann hört das Misstrauen der Menschen in den Träger der Autorität auf? Wir haben dann noch über die Saarfrage gesprochen, die Maxime Leroy be­ sonders interessiert.164 Er meint, ob ich mit einer Europäisierung einverstan­ 164  Nach 1945 wollte Frankreich das in seiner Besatzungszone liegende Saarland zu einem quasi-autonomen Staat machen, 1947 wurde es französisches Hochkommis­

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den sei, als Anfang und Prüfung für ein vereinigtes Europa? Ich kenne diese Frage schon lange und habe deshalb geantwortet: „Gerade Sie und Ihre Freunde haben in dieser Frage einen nicht unerheblichen Einfluss: Entfernen Sie Grandval165 und Hoffmann,166 setzen Sie echte Europäer an ihre Plätze, und ich glaube, dass dann auch die Deutschen, die ja auch mitbestimmen sollen, in die Europäisierung Vertrauen haben.“ Diese Antwort ist, so darf ich glauben, auf fruchtbaren Boden gefallen. Eine bittere Erfahrung: Viele Fran­ zosen sind heute noch von einem Hass gegen Deutschland besessen und von einer schlimmen Rechthaberei beseelt. Oradour, Oradour!167 Ob man denn nicht 7 Jahre nach Kriegsende das deutsche Volk von einer Gruppe von Übeltätern unterscheiden kann? Ob man nicht selbst auch Grund zur Überle­ gung über die Bombenangriffe hat? Ob man nicht begreift, dass zu einem Frieden auch die Amnestie gehört? Viele Franzosen, ehrenwerte Leute, wis­ sen heute noch nicht, was in Russland vorgeht, was dort seit 30 Jahren ge­ schieht. Man hat mir sogar gesagt, dass der Versailler Frieden im Vergleich zu 1871 ein Kinderspiel gewesen sei! Ich hätte nicht geglaubt, solche An­ sichten bei gebildeten Franzosen zu finden. Man spricht hier oft [von] der deutschen Rechthaberei – ich weiß selbst, dass wir dazu neigen. Aber ist das nicht eine menschliche Schwäche? Wieviel Rechthaberei habe ich hier angetroffen? Für die Mehrzahl der Franzosen ist Gott immer noch in Frankreich. Ein böses Zeichen für Europa. Und ich sage bestimmt nicht zu viel: Ich habe in Deutschland mehr Verständnis für ein homogenes Europa gefunden als hier. Das war für mich eine schlimme Ent­ täuschung: Hier plötzlich hört die sonst so vorteilhafte Art des rationalen Denkens auf. Und ich vergesse nicht das Wort Maxime Leroys, der von den Snobs sprach, die in der Jugend immer mehr Anhang gewinnen. Also auch hier die Entwur­ zelung! Was den Widerstand bildet, was die geistige Elite ist: Die Alten, und gerade die Jungen, die unter ihrem direkten Einfluss sind. Ansonsten wird sariat; erst 1957 wurde das Land ein integraler Teil der Bundesrepublik Deutschland. Vgl. Johannes Schäfer, Das autonome Saarland. Demokratie im Saarstaat 1945–1957, St. Ingbert 2012. 165  Gilbert Grandval (1904–1981), Führer der Résistance, war von 1945 bis 1948 Militärgouverneur, 1948 bis 1952 Hoher Kommissar und 1952 bis 1955 Botschafter im Saarland, setzte den wirtschaftlichen Anschluss des Saarlandes an Frankreich und die politische Abkoppelung von Deutschland durch. 166  Johannes Hoffmann (1890–1967), von 1947 bis 1955 mit der Mehrheit einer Koalitionsregierung aus Christlicher Volkspartei (CV) und Sozialdemokratischer Par­ tei des Saarlandes (SPS) regierender Ministerpräsident des Saarlandes, verbot die deutschen Parteien CDU, SPD und FDP. 167  Das Dorf Oradour-sur Glane wurde am 10. Juni 1944 von der Waffen-SS, als Rache für Partisanenangriffe, zerstört, die Bewohner fast sämtlich getötet.



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die Gruppe solcher Leute immer kleiner. Rascher leben! wie Maxime Leroy das nennt. Gute Techniker, ohne Gefühl für überlieferte Werte. Im Beruf wollen viele Studenten, mit denen ich gesprochen habe, Tüchtiges leisten. Auch einen amerikanischen Wagen besitzen, auch schöne Reisen machen, auch am irdischen Paradies teilnehmen, und nur an diesem, denn ein anderes kennt man nicht, weder ein christliches, sonst168 das, in dem Descartes den Weisen Sokrates zu treffen hoffte. Sehen Sie, sehr geehrter Herr Professor, solche Gedanken erhöhen meine Wertschätzung für juristische Prüfungsfächer nicht besonders: Technik, Ge­ setzesanwendung etc…. Und dabei wissen die meisten Kandidaten nicht, welchen Charakter das klassische Gesetz hat. Aber die Probleme von § XY der GBO kennen sie auswendig, und die Prüfer sind stolz darauf. Als ob das Recht leiden würde, wenn ich erst bei der Vorbereitung eines Prozesses ein Problem kennenlerne! Aber das Recht leidet, wenn man nicht mehr weiß, was die Größe des europäischen Rechtes ausmachte. Ich übertreibe hier ge­ wiss, aber ich glaube, dass Sie meine Worte verstehen, die mir selbst häufig eine wahre Not sind. Wenn ich für Herrn Joseph Kaiser etwas (für seine hochbedeutende Arbeit) tun kann, dann lassen Sie es mich bitte wissen.169 Ich bin gerne bereit, auch eine mühselige Besorgung für eine solche Arbeit zu machen, vielleicht eine bibliographische Notiz oder die Besorgung von Büchern. In unveränderter Hochachtung bleibe ich [hs.:] Ihr Roman Schnur 32. 1952-06-05 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14211, ms.

Paris, den 5.6.1952 Sehr geehrter Herr Professor! Heute möchte ich Ihnen eine für mich wichtige Mitteilung machen. Ich habe in dem Departement des Manuscrits der Bibliothèque Nationale einen ziem­ lich guten Fund gemacht. Es handelt sich um eine große Anzahl Briefe des Colbertschen Bibliothekars Baluze170 mit führenden deutschen Gelehrten, 168  Soll

wohl heißen „noch“. ist vermutlich die Habilitationsschrift Kaisers von 1954: Joseph H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, Berlin 1956. 170  Étienne Baluze (1630–1718), Historiker, Jurist, Bibliothekar. 169  Gemeint

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1952 – Roman Schnur an Carl Schmitt

vorwiegend Juristen, des 17. Jahrhunderts. Es liegen dort Briefe von und an Conring,171 Carpzov,172 Schilter,173 Feltz,174 Wagenseil,175 Langenmantel176 und andere. Soweit ich feststellen konnte, sind diese Briefe in Deutschland unbekannt. Ihr Inhalt aber ist für die Geschichte der Geisteswissenschaft sehr bedeutsam, denn Baluze war ein großer Kenner der Kirchengeschichte und hat selbst mehrere Sammlungen von Kapitularien177 usw. veröffentlicht. Da­ neben besaß er wertvolle Kopien von Dokumenten, die heute zum Teil im Original nicht mehr erhalten sind. Das ist eine feine Sache, aber auch eine große Belastung für meine eigentli­ che Arbeit. Doch werde ich sehr wahrscheinlich alle wichtigen Briefe ab­ schreiben können bzw. photokopieren lassen. Ich nehme an, dass ich zusam­ men mit Herrn Professor Bader das Wesentliche veröffentlichen werde.178 Die leitenden Gedanken meiner Arbeit über den Rheinbund habe ich ziem­ lich herausarbeiten können. Besonders wichtig ist der Umstand, dass im Westfälischen Frieden ausländische Mächte, besonders Frankreich, zu Garan­ ten der deutschen Verfassung bestellt wurden. Dadurch ist diesen Staaten die Möglichkeit gegeben, die Verfassung nach ihren eigenen Zielen maßgeblich zu interpretieren. Der Rheinbund bietet das beste Beispiel für diese Möglich­ keit. Durch die Herausarbeitung dieses Gedankens wird die Arbeit aktueller, als ich am Anfang dachte. Sie zeigt große Ähnlichkeit mit einer Untersu­ chung des Generalvertrages.179 Bei Bodin habe ich denn auch entsprechende Ideen über dieses Thema gefunden: In Buch 5, 5. Kapitel. Wenn ich mich nicht verlesen habe, will mir Herr Professor Bader einen weiteren Aufenthalt in den nächsten Jahren, ich hoffe bereits im nächsten Jahr, hier in Paris ermöglichen. Das wäre sehr schön, doch möchte ich mich vorher mit Ihnen eingehend darüber unterhalten. Sehr wahrscheinlich werde ich dann eine Arbeit im Einvernehmen mit Herrn Professor Bader unterneh­ men, doch möchte ich den Aufenthalt gleichzeitig benützen, um Forschungen 171  Hermann 172  Benedikt

Conring (1606–1681), Universalgelehrter. Carpzov (1595–1666), gilt als Begründer der deutschen Rechtswis­

senschaft. 173  Johann Schilter (1632–1705), Jurist. 174  Johann Heinrich Feltz (1685–1737), elsäss. Jurist. 175  Johann Christoph Wagenseil (1633–1705), Jurist, Historiker, Orientalist. 176  Hieronymus Ambrosius Langenmantel (1641–1718), kath. Priester und Gelehr­ ter. 177  Fränkische Herrschererlasse. 178  Dazu kam es nicht. 179  Generalvertrag nannte man den zwischen den drei westlichen Alliirten und der BRD 1952 abgeschlossenen Vertrag, der das bis dahin geltende Besatzungsstatut ab­ löste und der BRD eine (begrenzte) Souveränität zusprach (frdl. Mitteilung von F. Meinel).



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über die moderne Verfassungsgeschichte zu betreiben. Dazu benötige ich al­ lerdings Ihren Rat. Ich denke an eine eingehende Arbeit über den Liberalis­ mus Constants und seiner Anhänger und der beginnenden sozialistischen Schule, um die Ursprünge einiger wichtiger politischer Gegensätze von heute zu erforschen. Doch ehe ich in dieser Richtung etwas unternehme, möchte ich mit Ihnen vorher darüber sprechen. Mit Herrn Sombart habe ich mich einige Male sehr anregend unterhalten. Er selbst bedauert es sehr, dass er keine genügende juristische Schulung für seine Arbeiten hat. Es ist in der Tat schwierig, solche Lücken richtig auszu­ füllen, doch habe ich ihm das eingehende Studium Ihrer Bücher empfohlen. Eine bessere Schulung für das moderne Staatsrecht findet er doch sonst nir­ gendwo. Maurras180 fällt über Schuman181 und vor allem über die Deutschen her, die wieder imperialistisch gesinnt seien … Der Streit um das Betriebsverfassungsgesetz zählt zu dem Wichtigsten, was sich in Deutschland nach dem Krieg ereignet hat.182 Am besten hat mir die Drohung der Arbeitgeber gefallen, die den DGB wegen Verstoßes gegen 826 BGB auf Schadensersatz verklagen wollen.183 Ich sehe schon die armen Richter schwitzen! Ist das nicht eine wirklich tolle Lage: Vor dem Bundes­ verfassungsgericht kann nicht geklagt werden, weil die Gewerkschaften nicht „politisch“ sind, also klagt man vor dem Zivilrichter? Hier zeigt sich, dass Maxime Leroy den deutschen Staatsrechtslehrern bis auf ganz wenige Aus­ nahmen weit überlegen ist. Aber da er freier Schriftsteller ist, wird er nicht für voll genommen – das ist echt deutsch. Ich hatte vor einiger Zeit den „Gewerkschaftlichen Monatsheften“ einen kleinen Aufsatz über Staat und Gewerkschaften geschickt; er kam zurück mit der Bemerkung, das Thema sei von festen Mitarbeitern ausführlich behandelt. Der Grund dürfte ein anderer sein: ich habe gesagt, dass die Gewerkschaften ein System haben, das dem parlamentarischen Betrieb entgegengesetzt ist. Das wollte man eben vor eini­ gen Wochen nicht hören, weil man die Situation verschleiern wollte. Nun­ mehr haben die Tatsachen, nämlich der Ernstfall bewiesen, dass meine These, die sicherlich nicht mein Eigentum ist, begründet war. Die deutschen Staats­ 180  Charles Maurras (1868–1952), rechtsextremer politischer Publizist, der in der nationalistischen „Action française“ aktiv war, deren Nachfolgeorganisation „La Res­ tauration Nationale“ mit ihrer Zeitung „Aspects de la France“ die europäische Eini­ gung bekämpfte, insbesondere die Pläne Schumans für eine europäische Vereinigung. 181  Robert Schuman (1886–1963), franz. Politiker mit ursprünglich deutscher Staatsbürgerschaft; seine Vorstellung einer Vereinigung Europas stieß in Frankreich auf Ablehnung, weshalb er 1952 sein Amt als Außenminister niederlegen musste. 182  Am 14. Nov. 1952 trat das Betriebsverfassungsgesetz in Kraft, das die Zusam­ menarbeit von Unternehmensleitung und Betriebsrat regelt. 183  Der § 826 bestimmt, dass zum Schadensersatz verpflichtet ist, wer einem ande­ ren „in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise“ Schaden zufügt.

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1952-06-19 – Carl Schmitt an Roman Schnur

rechtler schließen noch immer die Augen. Wann endlich begreifen sie die Transformationen der Staatsgewalt? Ich verstehe einfach nicht, warum unsere Professoren nicht sagen, wie die Dinge liegen. Oder sollten sie Angst haben, die Wahrheit zu sagen? Dann ist es mit ihnen und den politischen Mächten nicht weit her. Vielleicht sind Sie über die Härte meiner Worte erstaunt. Ich versichere Sie, dass ich sie nicht im Eifer der Jugend gesprochen habe. Ich kenne Denker, die in schlimmeren politischen Lagen den Mut besessen haben, die Wahrheit zu sagen. Mit freundlichen Grüßen bleibe ich stets Ihr [hs.:] Roman Schnur

33. 1952-06-19 Carl Schmitt an Roman Schnur 122, hs., Briefkopf: „Prof. Dr. Carl Schmitt, Plettenberg II (Westf., Brockhauserweg 10)“

19/6 52 Lieber Herr Schnur, Sie dürfen sich durch mein langes Schweigen nicht vom Schreiben abhalten lassen. Ich bin Ihnen für Ihre Briefe sehr dankbar und überlege, ob wir uns nicht im Sommer treffen und ein paar Tage in Ruhe sprechen können. Sagen Sie bitte auch Nicolaus Sombart, dessen Adresse ich nicht habe meine Grü­ ße; ich hätte ihn gern gefragt, was er journalistisch von beil. Aufsatz der „Zeit“ hält; über seinen Bericht vom Pariser Kultur-Kongress haben sich hier alle gefreut;184 ich möchte ihn gern wiedersehen. Ich komme aus dem Regen in Wiesbaden in die Traufe von Karlsruhe,185 halte mich aber kontemplativ

184  Gemeint ist der „Kongress für die Freiheit der Kultur“, eine vom US-Geheim­ dienst beeinflusste und finanzierte antikommunistische Kulturorganisation, die im Mai 1952 in Paris in einer Großveranstaltung „Meisterwerke des zwanzigsten Jahr­ hunderts“ zeigte. Sprachrohr in Deutschland war die Zeitschrift „Der Monat“. Vgl. Frances Stonor Saunders, Wer die Zeche zahlt …: der CIA und die Kultur im Kalten Krieg, Berlin 2001. 185  Nachdem der hessische Staatsgerichtshof in Wiesbaden am 6. Juni 1952 ein Urteil in Sachen § 41 Hess. Verf. gefällt hatte, erhoben die betroffenen Unternehmen Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (s. VA, S. 486; BW Forsthoff, S. 90, 392).



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und betrachte auch diese Entwicklung mit der Heiterkeit eines allwissenden Greises. Invariabiliter Ihr Carl Schmitt 34. 1952-06-21 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14212, ms.

Paris, den 21.6.1952 Sehr geehrter Herr Professor! Für Ihren schönen Brief danke ich Ihnen sehr herzlich. Er brachte mir in der Tat Erholung, die ich augenblicklich nötig habe. Ich werde Herrn Sombart Ihre freundlichen Grüße ausrichten. Den Aufsatz habe ich mit großem Inte­r­ esse gelesen und für gut befunden. Dem Satz des Herrn Süsterhenn186 halte ich entgegen, was sich de Gasperi187 und Togliatti188 vor einigen Tagen zu­ gerufen habe: Die Akten für das nächste Nürnberg liegen schon bereit! Ich gedenke am Montag abzureisen, das heißt, wenn ich bis dahin das Geld für meine Heimreise zusammengebettelt habe. Für meine Photokopien und den Mikrofilm habe ich 130 DM etwa bezahlt, die ich nicht allein aufbringen kann. So hoffe ich, dass das deutsche Generalkonsulat mir, wie einem Land­ streicher, die Heimreise bezahlen wird. Um die Situation der deutschen Stu­ denten klarzumachen: Die Amerikaner in Frankreich erhalten ein Stipendium von 54 000 ffs. (620 DM) monatlich und zu Beginn des Jahres für Bücheran­ schaffungen 20 000 ffs., etwa 235 DM! Mehr brauche ich nicht zu sagen … Mit meinen Ergebnissen bin ich recht zufrieden. Die leitenden Ideen für meine Arbeit hoffe ich genügend untermauern zu können. Ohne den Begriff der Souveränität in Hinsicht auf den Ausnahmezustand kommt man nicht zu Rande. Ganz deutlich ist das in den Argumenten der französischen Staats­ männer zu sehen, die immer wieder sagen, dass der Kaiser selbst im Notfall den Reichstag zusammenrufen muss. Sie haben klar gesehen, wo man einha­ ken muss, um ein Staatswesen aktionsunfähig zu machen. Über dieses Thema

186  Adolf

Süsterhenn (1905–1974), Jurist und Politiker, Mitbegründer der CDU. de Gasperi (1881–1954), Politiker, ital. Ministerpräsident von 1945 bis 1953, war wesentlich an der Gründung der Europäischen Gemeinschaft beteiligt. 188  Palmiro Togliatti (1893–1964), Generalsekretär der kommunistischen Partei Italiens, gehörte von 1945 bis 1946 der ital. Regierung als Justizminister an. 187  Alcide

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habe ich sogar bei dem guten alten Pütter189 einiges gefunden, während Moser190 so gut wie nichts zu sagen weiß. Pütter macht auf einen außeror­ dentlich wichtigen Aufsatz von Feder191 aufmerksam. Ich weiß nicht, ob dieser Mann, vor allem seine Darlegungen über die Machtvollkommenheit, bekannt ist. Schreiben Sie mir bitte darüber, nach Mainz, damit ich, wenn ich den Aufsatz mit der Schreibmaschine schreibe, gegebenenfalls einen Durch­ schlag für Sie anfertigen kann. Moser jedoch behandelt die Garantenstellung des Westfälischen Frieden in seinem kürzeren Buch über das deutsche Staatsrecht recht gründlich.192 Die­ se Stelle kam mir sehr gelegen, denn wenn ich als Anfänger ohne Stütze ar­ beite, gerate ich in den schiefen Verdacht, die Dinge nach meinen Theorien zurechtbiegen zu wollen. Ob man überhaupt in Mainz meine Thesen aner­ kennen wird, ist doch fraglich. Jedenfalls werde ich sie nicht zurückziehen. Den theoretischen Teil meiner Arbeit möchte ich in drei Abschnitte gliedern: 1. Die Verfassungslage überhaupt. 2. Die Veränderungen durch den Frieden von 1648, Garantenstellung Frankreichs und Schwedens. 3. Der Rheinbund als Verwirklichung dieser Befugnis. Ich glaube auf diese Weise am besten dem verfassungsrechtlichen Gehalt des Rheinbundes beizukommen. Die Korrespondenzen, die ich gefunden habe, bereiten mir Freude, machen aber auch viel Arbeit. Im ganzen habe ich 27 Briefe Conrings, 5 Briefe von Carpzov und einige Dutzend von anderen Gelehrten dieser Zeit entdeckt. Daneben fand ich noch einen Brief Pufendorfs an Huet,193 von dem ich aber noch nicht weiß, ob er bekannt ist. Dann habe ich noch zwei Briefe gefun­ den, deren Photokopien ich Ihnen schenken möchte, doch verrate ich einst­ weilen die Autoren noch nicht. Letzten Samstag war ich auf Einladung Maxime Leroys wieder bei ihm, und zwar dauerte das Gespräch etwa drei Stunden. Wir sprachen über die allge­ meine Tendenz, die dahin geht, die Freiheit zu zerstören. Er meint, und die­ ses Wort hat mich tief getroffen: „Ich habe für die Freiheit keine Hoffnung mehr.“ Sein Bruder hatte ihm Ihre Schrift über die Lage der europäischen Rechtswissenschaft übersetzt, ferner mein Exposé, das ich auch Ihnen gege­ ben habe. Er war von allem begeistert und fragte mich, ob Sie nicht eine Zusammenfassung Ihrer erwähnten Schrift in Französisch für die „Fédéra­ 189  Johann 190  Johann

Stephan Pütter (1725–1807), Staatsrechtler, Prof. in Göttingen. Jakob Moser (1701–1785), Staatsrechtler und politischer Berater in

Württemberg. 191  Johann Heinrich Feder (1740–1821), Philosoph, Schuldirektor und Bibliothe­ kar, von 1768 bis 1782 Prof. in Göttingen. 192  Vgl. Johann Jakob Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, T. 1–20, Stuttgart 1766–1775. Vgl auch ders., Von der Garantie des Westphaelischen Friedens. Nach dem Buchstaben und Sinn desselbigen, o. O. 1767. 193  Pierre-Daniel Huet (1630–1721), Bischof und Gelehrter.



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tion“ schreiben könnten (in Französisch).194 Mich bat er, für die gleiche Zeitschrift Artikel über den Streit um das Betriebsverfassungsgesetz zu s­chreiben. Ich bitte Sie, die Sache zu forcieren, denn ich bin auf ein Zusam­ mentreffen Carl Schmitt – Maxime Leroy nicht ganz ohne Hoffnung. Was Ihren großartigen Wunsch angeht, uns in den kommenden Monaten für eini­ ge Tage zu treffen, so haben Sie mir damit eine große Ehre gemacht. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung. Nötigenfalls nehme ich einige Tage Urlaub, um Sie besuchen zu können. Mit einem Amerikaner, einem Studenten und Schüler von Franz Neumann, unterhalte ich mich hier öfters. Er teilt mir mit, dass sein Lehrer ein Buch mit dem Titel „Behemoth“ veröffentlicht habe, in dem er Sie scharf an­ greift.195 Er beschwerte sich über die konservativen Richter der Weimarer Republik, die fortschrittliche Gesetze für verfassungswidrig erklärt hätten. Das beweise, wie undemokratisch sie gewesen seien. Ist das nicht eine herr­ liche Argumentation? Im übrigen sagte er, die besten deutschen Soziologen und Kenner der Politik säßen heute in USA. Ich lasse ihn in diesem Glauben … Indem ich Ihnen für Ihre Tätigkeit in Karlsruhe viel Erfolg wünsche bleibe ich mit freundlichem Gruß stets Ihr [hs:] Roman Schnur 35. 1952-06-25 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14213, ms.

Merzig, den 25.6.1952 Sehr geehrter Herr Professor! Von meiner Heimat aus möchte ich Ihnen einen kurzen Brief schicken, in dem ich Sie wegen des Kaufs der Bodin-Ausgabe um Nachricht bitte. Diese 194  Der Text lag bereits auf Französisch vor: Carl Schmitt, La situation présente de la jursprudence, in: Boletim da Faculdade de Direito da Universidade de Coimbra 20, 1944, S. 603–621. 195  Franz Neumann (1900–1954), Politikwissenschaftler und Jurist, war Anfang der 1930er Jahre Teilnehmer an Schmitts Seminaren in der Handelshochschule Ber­ lin, schrieb: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944. Neu hrsg. von Alfons Söllner und Michael Wildt. Zeugnisse und Berichte. Mit einer Ein­ führung zur 6. Auflage von Katharina Stengel, Hamburg 2019 (zuerst engl. 1942); s. TB V.

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Ausgabe ist eine Ausgabe der philosophischen Werke Bodins. Der erste Band enthält unter anderem die Abhandlung über die geschichtliche Metho­ de. Ob in den weiteren Bänden auch die „Six Livres“ abgedruckt werden, konnte ich nicht erfahren. Ich habe mich wegen der Erstausgabe dieses Werkes nochmal erkundigt. Sie stammt in der Tat von 1576, wie auch die älteste Ausgabe auf dem Titelblatt angibt. In bibliographischen Büchern wird kein anderes Datum angegeben. Ich darf also annehmen, dass die Erstausgabe wirklich von 1576 stammt. Wie mir Maxime Leroy mitgeteilt hat, wird Georges Ripert in nächster Zeit ein weiteres äußerst wichtiges Buch veröffentlichen. Sobald ich eine genaue Nachricht darüber erhalte, werde ich Ihnen Bescheid geben. Am vergangenen Sonntag hatte ich mich, wie Sie inzwischen wohl erfahren haben, mit Nicolaus Sombart am geeigneten Ort über manch wichtige Dinge unterhalten. Ich fragte ihn unter anderem, ob „man“ nicht eine Zeitschrift gründen könnte, in der die politischen und geistigen Probleme besser behan­ delt werden als in den üblichen Blättern. Wir sprachen über die Möglichkei­ ten eines solchen Planes, wobei wir uns der Notwendigkeit einer solchen Zeitschrift wohl bewusst waren. Ich denke, ebenso wie Herr Sombart, an eine wissenschaftlich einwandfreie Zeitschrift, in der Fragen der gesamten Politik, einschließlich der Geistesgeschichte behandelt werden sollen. Dabei soll nicht eine bestimmte Gruppe allein zu Wort kommen, vielmehr sollte die Zeitschrift gewisse Probleme in einer Weise behandeln, in der z. B. Pareto,196 Michels, Sie und ähnliche gearbeitet haben. Natürlich ist die Hauptfrage für ein solches Unternehmen die Geldfrage. Wir beide meinten, ob Sie nicht et­ was in dieser Richtung unternehmen könnten? An geeigneten Mitarbeitern würde es, bei aller strengen Auswahl, gewiss nicht fehlen. Aus dem Ausland könnten hervorragende Köpfe gewonnen werden, man denke nur an Voege­ lin, de Jouvenel, Leroy und die Spanier, die Sie ja so gut kennen. Jedenfalls könnten Herr Sombart und ich für gute französische Mitarbeiter sorgen. Man würde auf diese Weise eine Zeitschrift schaffen können, die wirklich euro­ päische Tradition vertritt. Wie dringend nötig so ein Blatt ist, wissen Sie ja noch besser als wir. Ich habe es noch einmal deutlich gesehen, als ich in ei­ nem Aufsatz von Mirkine-Guetzévitch über die Frage des gerechten Krieges in der „Revue du droit international publique“ las.197 Er bezeichnet hier nochmals diese Erscheinung als eine große Errungenschaft der modernen

196  Vilfredo Pareto (1848–1923), Nationalökonom und Soziologe, der seine The­ men nüchtern-illusionslos behandelte. 197  Boris Mirkine-Guetzévitch, La guerre juste dans le droit constitutionnel fran­ çais, in: Revue générale de droit international public 54, 1950, S. 225–250 (auch selbständig erschienen).



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Demokratie. Die Oberflächlichkeit in der Behandlung der geschichtlichen Ereignisse findet kaum ihresgleichen. Ich meine, dass man die Beeinflussung der Geister nicht allein solchen Leu­ ten überlassen soll, die dank ihrer mehr oder weniger propagandistischen Tätigkeit über immerhin recht gute Geldquellen verfügen. Deshalb sollten unsere Anstrengungen noch größer sein; denn geistige Unabhängigkeit hat noch zu allen Zeiten große Opfer verlangt. Worauf es ankommt, ist, dass ein deutscher Verleger und deutsche vermögen­ de Kreise sich zu einem Opfer bereit finden. Da man ausländische Artikel abdrucken könnte, die bereits an schwer zugänglichen Stellen erschienen sind, könnte man in manchen Fällen auch die Kosten einer solchen Zeit­ schrift etwas senken. Glauben Sie mir bitte, dass dieser Plan nicht im Café Procope entstanden ist.198 Ich schleppe ihn schon etliche Jahre mit mir herum. Erst als mir Herr Sombart sagte, dass eine Reihe jüngerer Leute ebenfalls solche Pläne und kein Geld hätten, habe ich mich entschlossen, Ihnen über eine so wichtige und schwierige Sache zu schreiben. Wenn Herr Kaiser in Tübingen nicht genügend französische Literatur zur Hand hat, dann lassen Sie es mich bitte wissen, ich stelle ihm gerne meine Bücher über dieses Thema zur Verfügung. Von Maxime Leroy besitze ich: La Loi, Syndicats et services publiques, La Cotume ouvrière, Les Techniques nouvelles du Syndicalisme, Les Tendences du Pouvoir. Notfalls kann ich ei­ nige andere Bücher aus Paris für ihn besorgen. Von Mainz aus werde ich Ihnen das Versprochene schicken. Mit herzlichem Gruß bleibe ich der Ihnen stets ergebene [hs:] Roman Schnur

198  Traditionsreiches Literatencafe im Pariser Quartier Latin. Zuvor hatten Schnur und N. Sombart eine Ansichtskarte des Procope an Schmitt geschickt (s. BW Som­ bart, S. 52).

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36. 1952-07-06 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14214, hs.

Mainz, den 6. Juli 1952 Sehr geehrter Herr Professor! Mit großer Freude habe ich Ihren Brief vom 4. Juli gelesen.199 Wenn Sie zur Geburtstagsfeier nach Eberbach fahren, dann können wir uns wohl treffen.200 Ich bin bis zum 15. Oktober am Regierungspräsidium beschäftigt, also auch im August in Mainz. Sie brauchen, falls Ihre Reise nicht über Mainz gehen sollte, keinen Umweg zu machen; ich fahre gerne nach Wiesbaden oder Frankfurt, um Sie zu treffen. Ihre Einladung nehme ich dankbar an. Wahrscheinlich werde ich Ende Au­ gust oder Anfang September meinen (bezahlten) Urlaub nehmen und nach Plettenberg reisen. Die beiden Zeitungen, zwischen denen die Photokopien der Briefe von Hob­ bes und Bodin lagen, waren nur als Verpackungsmaterial gedacht. Der Auf­ satz im „Fortschritt“ über das Bundesverfassungsgericht enthält den wert­ vollen Hinweis auf die Richterwahl. Die beiden Artikel von Nicolaus Sombart haben mir sehr gut gefallen, beson­ ders wegen ihrer Offenheit. Die Manager dieses Kongresses verstehen es ausgezeichnet, sich mit Propagandamitteln in Paris zu vergnügen.201 Ich weiß nicht, ob Sie die Besprechung des „Nomos“ im „Deutschen Verwal­ tungsblatt“ kennen (Rolf Stödter).202 Ich halte sie für die beste Kritik, die ich bisher über dieses Werk gelesen habe. Der „Freund“ von Herrn Stödter, Herr Armbruster, wird darüber die Nase gerümpft haben. Es freut mich, dass im Wehrgesetzstreit die Gutachter der Bundesregierung zwei recht schwache Köpfe sind.203 Der Aufsatz von Herrn Scheuner scheint bestellt worden zu sein. Er enthält sogar grobe Widersprüche. 199  Fehlt.

200  Im Kloster Eberbach gab es eine Feier zum 65. Geburtstag von Hans Freyer am 31. Juli (s. van Laak, S. 98 f.). 201  Vermutlich Aufsätze Sombarts über den „Kongress für die Freiheit der Kultur“ (s. Nr. 33). 202  DVBL vom 1. Mai 1952, S. 290. – Rolf Stödter (1909–1993), Jurist und Ree­ der, seit 1943 a.o. Prof. in Hamburg; 75 Briefe und 12 Telegr. (1940–1982) im Nl. Schmitt. 203  Die Bundesregierung hatte die Professoren Rudolf Laun (1882–1975) und Ul­ rich Scheuner (1903–1981) mit einem Gutachten über die völkerrechtliche Stellung



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Leider komme ich bei der fürchterlichen Hitze (37°‒38°) mit meiner Disser­ tation nicht vorwärts. Selbst nachts kann ich kaum einen klaren Gedanken fassen. Herr Professor Bader ist mit meinen Ergebnissen recht zufrieden. Auf seinen Rat hin werde ich die Briefe erst nach Abfassung der Dissertation bearbeiten. Er will bis dahin erreichen, dass meine Arbeit darüber in der Zeitschrift für Rechtsgeschichte veröffentlicht wird (Kanon. Abt.). Das ist recht gut mög­ lich, weil er mit Herrn Feine bekannt ist.204 Von einem Verwandten aus der Ostzone habe ich mir marxistische Literatur besorgt, auch Niekischs Buch.205 Natürlich interessiert mich besonders die Behandlung des Themas „Staat“ bei Marx-Engels-Lenin. Eine wichtige Stel­ le habe ich gefunden: Man hält den modernen Staat für ein Erzeugnis des absteigenden Absolutismus. Da muss von vorne herein die Darstellung falsch werden! Wieder einmal sind der Grund und die Geburtsstunde des modernen Staates nicht erkannt worden. Herr v. d. Heydte scheint ihn im 13./14. Jahrhundert beginnen zu lassen, so­ weit ich das bei flüchtigem Blick in sein neues Buch erkennen konnte.206 Ich kaufe mir das Buch nicht, 36 DM ist wirklich ein unverschämter Preis! Da lobe ich mir eine Kleist-Ausgabe für 11,80 DM. Noch lieber gebe ich mein Geld für Eric Voegelins großes Werk aus, auf das ich sehr gespannt bin. Sein Aufsatz im „Merkur“ hat bei meinen Bekannten großes Lob erhalten.207 Man rühmt vor allem die Originalität der Gedanken. Ich hoffe, in den nächsten Tagen den Aufsatz für Maxime Leroy beenden zu können. Er soll keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern eine Darlegung der Probleme sein. Ein junger westschweizer Gelehrter wird ihn übersetzen. Die Besprechung für den „Merkur“ ist mir unmöglich, denn ich kann ein so weitgreifendes Werk wie die „Histoire des Idées sociales“ nicht in Zusam­ der deutschen Soldaten in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) beauf­ tragt. 204  Hans Erich Feine (1890–1965), von 1922 bis 1931 Prof. für bürgerliches Recht, deutsches Privatrecht und deutsche Rechtsgeschichte in Rostock, 1931 bis 1945 in Tübingen, 1946 entlassen, war von 1922 bis 1965 Mitherausgeber der ZRG. 205  Ernst Niekisch (1889–1967), nationalrevolutionärer Publizist. Das freund­ schaftliche Verhältnis, das Schmitt zu ihm hatte, schlug in heftige Ablehnung um, als Niekisch in seinem 1946 im Ostberliner Aufbau-Verlag erschienenen Buch „Deutsche Daseinsverfehlung“ Schmitt massiv kritisierte (vgl. BW Duschka, passim; BW Moh­ ler; BW EJünger); 2 Briefe (1930 und 1933) im Nl. Schmitt. 206  Friedrich August von der Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates. Ein Beitr. zur Geschichte des Völkerrechts, der allgemeinen Staatslehre und des poli­ tischen Denkens, Regensburg 1952. 207  Eric Voegelin, Gnostische Politik, in: Merkur 6, 1952, H. 50, S. 301–317.

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menhang mit einigen Konsumgenossenschaften in Frankreich bringen. Wenn Herr Paeschke nicht merkt, dass sich Ideen St.-Simons, Fouriers und Proud­ hons im ganzen Westen verwirklicht haben, dann kann ich ihm, so sehr ich das wegen des „Merkur“ bedauere, mit einer Rezension nicht dienen. Man sollte Maxime Leroy nicht kleiner und nicht größer machen, als er es in der Tat ist, aber Herr Paeschke unterschätzt ihn doch zu sehr. Zum Schluss: Der Artikel von Löwenthal im Mai-Heft des „Monats“ ist überraschend genau.208 Das ist die beste Darstellung über die Saar, die ich bisher gelesen habe. Selbst am Ende, bei dem Ausblick auf die Zukunft, ist er richtig, denn die meisten Saarländer wissen nicht, was sie, außer der Be­ freiung vom Grandval-Regime, wollen. Nach jeder „Befreiung“ haben die „Befreier“, nie aber Saarländer, die obersten Stellen besetzt. Befürchtet man nicht mit Recht, dass später „Parteibonzen“ aus Mainz und Bonn, wie im Jahr 1935, die Pfründen an sich nehmen? Hier liegt ein sehr großes Problem für die deutsche Saarpolitik. Indem ich Ihren Bescheid über Ihren Reiseplan erwarte, bleibe ich mit herz­ lichem Gruß Ihr ergebener Roman Schnur (am Regierungspräsidium in Mainz) 37. 1952-08-06 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14215, hs.

Mainz, den 6. August 1952 Sehr geehrter Herr Professor! Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihren Brief.209 Über die schöne Geburts­ tagsfeier freue ich mich sehr und hoffe, bei Gelegenheit etwas über den In­ halt des Gespräches über den Konservativismus hören zu können.210 Was Ihren Vorschlag für unser Treffen angeht, so richte ich mich ganz nach Ihren Wünschen. Sollten Sie bei Ihrer Reise nach Darmstadt Zeit für einen 208  Richard Löwenthal, Brief aus Saarbrücken. Zankapfel oder Bindeglied? Noti­ zen von einer Reise ins Saargebiet, in: Der Monat 5, 1952, H. 44, S. 145–154. 209  Fehlt. 210  Gemeint ist die Geburtstagsfeier zu Hans Freyers 65. Geburtstag (s. Nr. 36), bei der es ein Symposium zum Thema „Revolution von rechts“ gab (s. van Laak, S.  98 f.).



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Besuch in Mainz haben, so lassen Sie es mich bitte vorher wissen. Ist ein solcher Besuch nicht möglich, dann komme ich gerne nach Plettenberg, und zwar Anfang September. Ich nehme vom 22.8. bis zum 10.9. Urlaub und habe deshalb Zeit genug. Bei der Arbeit im Regierungspräsidium habe ich manche Kenntnisse und Erkenntnisse gewonnen. Über die Parteipolitik berichte ich Ihnen mündlich ausführlich. Bisweilen ist es unglaublich. Die (theoretische) Einleitung zu meiner Arbeit macht mir Spaß und auch Mühe, denn die Vertreter des Status mixtus bringen mit ihrer Unterscheidung zwischen majestas realis und majestas personalis viel Unordnung in die Ar­ gumentationen. Diese Juristen haben den Souveränitätsbegriff Bodins fast nicht verstanden, ebensowenig wollen sie sich dem Althusius anschließen, dem sie ihre Formeln entnehmen.211 Dass die Stelle über die Rechte der Garanten des Westfälischen Friedens so zeitnah wirkt, ist wirklich keine Vergewaltigung der Tatsachen. Aber die Garantenstellung ist nun einmal eine politische Institution, die nicht erst von heute ist, und ihr Missbrauch liegt gewissermaßen in der Natur der Sache. Die sogenannten Professoren der Politik schreiben zwar viel über Demokra­ tie und Zusammenarbeit, sie behandeln aber kaum Formen und Methoden der Herrschaft – und aufs Konkrete kommt es an. Als ich über die Rechte der deutschen Kaiser nachdachte, stieß ich auf ein weiteres Problem der Verfassungslehre: Auf die Effektivität der Rechte. Hier ist für die Soziologen und mutigen Juristen ein weites Feld. Mir scheint ge­ rade die Frage, ob das Volk in den modernen Demokratien nebst dem Recht der Souveränität auch die erforderliche Effektivität besitzt, als die entschei­ dende Frage. Dass in der Bundesrepublik das Volk nicht die nötige Effektivi­ tät besitzt, ist nicht nur meine Ansicht. Es hat weder ein Entscheidungsrecht als Staatsvolk, noch eine ausreichende Kontrolle über seine Repräsentanten. Folglich liegt die Souveränität an anderen Stellen, und das Übel ist, dass man nie genau weiß: wo. Das kommt dann auf die Reichsverfassung des 17. Jahr­ hunderts hinaus, wo es auch zwei potentielle Souveräne gab. Die Frucht dieses Zustands ist sehr deutlich sichtbar, wir haben heute noch mit ihm zu schaffen. – Das neue Buch von Herrn v. d. Heydte habe ich gelesen. Es bringt gutes Mate­ rial, doch betont der Verfasser nicht, dass der Souveränitätsbegriff des ausge­ henden Mittelalters nach außen gerichtet war. Dadurch entsteht der Eindruck, 211  Johannes Althusius (1563–1638), Jurist, 1588 Prof. an der nassauischen calvi­ nistischen Hohen Schule in Herborn, ab 1604 Syndikus der Stadt Emden, vertrat im Unterschied zum monarchisch-absolutistischen Bodin eine ständisch-korporativisti­ sche Staatstheorie und gilt, indem er dem (konfessionell homogenen) Volk Souverä­ nitätsrechte zuspricht, als ein Vorläufer der modernen Demokratie.

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1952 – Carl Schmitt an Roman Schnur

als habe Bodin den Souveränitätsbegriff fast vollendet vorgefunden. Das Aus­ weichen vor dieser Entscheidung passt zu einem „Legisten“ der CDU vortreff­ lich, denn diese Leute fischen auch gerne im Trüben – auch Lehrstühle. Was die deutschen Saarvorschläge betrifft, so bin ich als Saarländer darüber empört. Der neu zu wählende Landtag soll endgültig entscheiden – das ist ja gerade der Schwindel! Wir Saarländer wollen selbst entscheiden. Man gebe uns drei Fragen: Für Deutschland, für Frankreich, für eine Europäisierung? Wobei klar sein müsste, was eine Europäisierung bedeutet. Aber Adenauer verrät das nicht. Daher die Entscheidung durch Abgeordnete, durch die Mehrzahl der CDU-Abgeordneten, die jedem Befehl ihres Führers gehor­ chen. Man ist ja des Volkes nicht sicher!212 Sagen Sie bitte jedem einflussreichen Manne, den Sie kennen, dass es gute Saarländer gibt, die meinen, es sei gleich, ob man unter Hoffmanns oder Adenauers Parteidiktatur lebte. Ich bin nicht dieser Meinung, aber viele ha­ ben sie … Sie können sich vorstellen, wie diese Verhältnisse einen Saarländer schmer­ zen, der nicht in den saarländischen Justizdienst eingetreten ist, weil er sich nicht einem Terror-Regime beugen will. Mit herzlichem Gruß bin ich Ihr ergebener Roman Schnur Mainz, Regierungspräsidium 38. 1952-08-28 Carl Schmitt an Roman Schnur 122, ms., Briefkopf: „Prof. Dr. Carl Schmitt, Plettenberg II (Westf., Brockhauserweg 10)“

den 28.8.1952 Lieber Roman Schnur, am 31. komme ich abends nach Darmstadt und wohne Hotel Weinmichel, Schleiermacherstr. Könnten Sie mir dorthin Nachricht geben? Ich werde ei­ nen oder zwei Tage in Darmstadt bleiben und von dort nach Heidelberg 212  Bundekanzler Adenauer nahm 1952 Kontakt auf zur saarländischen Regierung, was zum „Saarstatut“ von 1954 führte, wonach das Land bei wirtschaftlicher und monetärer Anbindung an Frankreich vorbehaltlich einer Volksabstimmung ein „euro­ päisches Statut“ bekommen solle. Das wurde durch die Volksabstimmung vom 23. Okt. 1955 jedoch abgelehnt.



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fahren. Wann und ob ich nach Mainz komme, weiß ich noch nicht. Wir müs­ sen uns aber jedenfalls bei dieser Gelegenheit sehen. Vielleicht können Sie am 1. oder 2. September nach Darmstadt kommen. Ich freue mich sehr auf unser Wiedersehen und bleibe mit herzlichen Grüßen stets Ihr alter [hs.:] Carl Schmitt 39. 1952-09-24 Carl Schmitt an Roman Schnur 123, hs.

Frkf. 24/9 52 Hessischer Hof, Platz der Republik Mein lieber Roman Schnur, ich habe vor, Freitag, den 28. vormittags 11.35 in Mainz anzukommen (D Zug, Gleis 2). Könnten Sie sich um ein Hotelzimmer bemühen? Ich hoffe, dass wir uns gut wiedersehen und freue mich darauf. Stets Ihr Carl Schmitt 40. 1952-09-29 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14216, hs.

Mainz, den 29.9.1952

[darunter von C. S.:] b. 6/10 52 u. stenogr. Notiz

Sehr geehrter Herr Professor! Heute bringe ich Ihnen eine schöne Nachricht: Maxime Leroy hat auf mei­ nen Brief geantwortet, in dem ich ihn fragte, oh ihm Ihr Besuch im Oktober recht sei. Die Antwort blieb so lange aus, weil Maxime Leroy in Genf bei den Rencontres Internationales anwesend war. Dort sprach, so teilte er mir mit, Erwin Schrödinger über „Unsere Vorstellung von der Materie“.213 213  Erwin Schrödinger (1887–1961), Physiker, Begründer der Quantenmechanik, Nobelpreis 1933.

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1952 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Einige Sätze aus dem Antwortschreiben möchte ich Ihnen wörtlich mitteilen: „Je me rejouis de l’occasion de faire la connaissance du professeur Carl Schmitt pour lequel vous professer à si juste titre une grande admiration.“ „Je vous dit très cordialement, en ajoutant encore que je le verrai avec infi­ niment de plaisir en Octobre, s’il veut venir.“ Diese großartige Nachricht wird Sie hoffentlich veranlassen, so bald wie möglich nach Paris zu reisen. Verzeihen Sie mir bitte meine Aufdringlich­ keit! Doch weiß ich, dass Sie es bedauern, den großen Karl Binding214 nicht gesehen zu haben – ich möchte nicht Schuld daran haben, wenn Sie den nicht minder großen Maxime Leroy nicht sprechen konnten … Ihre Hinweise auf einige Probleme meiner Arbeit sind mir äußerst wertvoll. Indem ich sie befolge, wird die Arbeit noch besser die großen Zusammen­ hänge kenntlich machen können. Leider kann ich nicht ganz so schreiben, wie ich möchte, denn ich schreibe für die Mainzer Fakultät. Sollte die Arbeit druckreif sein, so werde ich noch mehr Stellen aus Hegels großartiger Ju­ gendschrift zitieren.215 Sie ist das Beste, was ich über das Alte Reich kenne. Wegen Ihrer Bibliothek warte ich auf näheren Bescheid.216 Indem ich auf die Nachricht hoffe, dass Sie sich zur baldigen Reise nach Paris entschlossen haben, bleibe ich in Dankbarkeit stets Ihr Roman Schnur Mainz, Eisgrubweg 7

214  Karl Binding (1841–1920), Strafrechtler. An Schmitts einziger strafrechtlicher Arbeit, der Dissertation „Über Schuld und Schuldarten“ (1910), bemängelte Karl Bin­ ding – „mit vollem Recht“ (VA, S. 428) – das Fehlen des hegelianischen Strafrechts. 215  G. W. Fr. Hegel, Die Verfassung Deutschlands. Mit einer Einführung und An­ merkungen von Hermann Heller, Leipzig [1919] [u. ö.] Das Buch beginnt mit dem Satz: „Deutschland ist kein Staat mehr.“ 216  Schmitts Bibliothek wurde, nachdem die Amerikaner sie sieben Jahre beschlag­ nahmt hatten, dem Eigentümer Ende 1952 zurückgegeben, der sie, da er sie bei den beengten Plettenberger Wohnverhältnissen nicht unterbringen konnte, im Institut für europäische Geschichte in Mainz zwischenlagerte. Schnur hatte einen privilegierten Zugang und übte eine gewisse Aufsicht aus (s. unten).



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41. 1952-10-04 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14217, hs.; Postkt.

Mainz, den 4.10.52

[auf Vorderseite von C. S.:] b. 6/10 52 u. stenogr. Notiz

Sehr geehrter Herr Professor! Soeben habe ich den 1. Band der Bodinschen Werke an Sie abgeschickt. Ich hoffe, dass die Sendung gut ankommt. Der Preis einschließlich mehrmaligen Portos: 33,80 DM. Dass ich einige Blätter aufgeschnitten habe, bitte ich zu entschuldigen: Die Neugierde hatte mich zu arg geplagt. Vor allem wollte ich das Porträt Bodins sehen. Ob man es photographieren lassen kann? Ich möchte es gerne in mei­ nem Zimmer aufhängen. Mit freundlichem Gruß stets Ihr Roman Schnur 42. 1952-10-06 Carl Schmitt an Roman Schnur 124, hs.

Pl. 6/10 52 Mein lieber Roman Schnur, herzlichsten Dank für Brief und Karte! Über Ihre Bemühungen, eine Begeg­ nung mit Maxime Leroy zustande zu bringen, bin ich erfreut und gerührt. Ich hoffe, dass es noch diesen Winter zu einer Reise nach Paris kommt; im Ok­ tober geht es leider nicht, weil ich 1) gesundheitlich ziemlich schlecht dran bin (vor allem muss ich wegen der Überanstrengung der Augen zum Augen­ arzt) und 2) weil ich am 23/10 im „Club zu Bremen“ einen Vortrag mit an­ schließender Diskussion halten muss;217 dazu kommen juristische Bespre­ chungen. Nachdem mein Reisepotenzial von der einen, nämlich der Geld­seite

217  Schmitt hielt in Bremen einen Vortrag zum Thema „Der Nomos der Erde“; vgl. Schmittiana VII, S.  42 f.

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1952 – Roman Schnur an Carl Schmitt

her wieder aufgerüstet ist,218 droht es sich von der [anderen], nämlich der gesundheitlichen Seite her arg zu verringern. Schreiben Sie Maxime Leroy meine dringlichste Entschuldigung; ich habe das bestimmte Gefühl, dass ich ihn noch kennen lernen werde während unseres gemeinsamen Aufenthalts auf diesem Planeten. Vielen Dank für die Besorgung des Bodin. Ich füge der Einfachheit halber diesem Brief ein Schein (50 DM) bei, den Sie meinem Konto gutschreiben wollen. Natürlich können Sie das Buch vorher lesen (lassen Sie sich aber nicht von Ihrer Dissertation ablenken!) und das Portrait photographieren lassen. Ich höre mit dem Schreiben auf, weil es mir vor den Augen flimmert. Geben Sie bald wieder Nachricht Ihrem alten Carl Schmitt

43. 1952-10-10 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14218, ms.

Mainz, den 10.10.1952 Sehr geehrter Herr Professor! Für Ihren Brief und das Geld danke ich Ihnen herzlich. Der Brief hat mich beunruhigt, doch hoffe ich, dass sich der Zustand Ihrer Gesundheit bald bes­ sern wird. Maxime Leroy werde ich entsprechend benachrichtigen. Am vergangenen Samstag war ich in Heidelberg, wohin mich Nicolaus Som­ bart eingeladen hatte. Dort waren auch Herr Kesting219 und Herr Kosel­ leck.220 Leider war Dr. Scheibert221 nicht da, ihm fehlte das Geld zur Reise.

218  Am 11. Mai 1951 hatte der Bundestag ein „Gesetz zur Regelung der Rechts­ verhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen“ erlassen. Danach erhielt Schmitt seine (gekürzte) Pension; vgl. seine dazu erforderlichen An­ träge und Formulare, RW 265–21268 und 21566. 219  Hanno Kesting (1925–1975), Soziologe, nach wechselvoller Karriere habilitier­ te er sich 1966 bei Arnold Gehlen mit der Arbeit „Öffentlichkeit und Propaganda“, seit 1968 Prof. in Bochum; s. van Laak, S. 271–276. 220  Reinhart Koselleck (1923–2006), Historiker; s. BW Koselleck. 221  Peter Scheibert (1915–1995), Osteuropahistoriker; 36  Briefe, 14  Postkt., 3 ­Telegr. (1949–1984) im Nl. Schmitt.



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Ich nehme an, dass Herr Kesting Sie über die Einzelheiten unseres Gesprächs unterrichten wird. Ich habe nun doch etwas Hoffnung, dass sich unser Vorhaben verwirklichen lässt.222 Vor allem war es für mich erfreulich, zwei so gute Köpfe wie Kes­ ting und Koselleck kennen zu lernen. Mit ihnen ließ ich mich in ein Gespräch über die Ideologie als Mittel zum Bürgerkrieg ein. Es war recht interessant. Wir konnten feststellen, wie sich von der theologischen Argumentation im 17. Jahrhundert (in Frankreich früher) zur humanitär-fortschrittlichen Ideolo­ gie der Weg zieht. Es ist interessant zu sehen, dass nach der Verdrängung der Theologie, nach der Säkularisierung des Staates die Widerstandsideen gera­ dezu vom Humanitär-Fortschrittlichen kommen mussten. Und: dass erst da­ durch der Weltbürgerkrieg ideologisch möglich wurde. Über ähnliche Dinge also unterhielten wir uns vorzüglich. Ich möchte nun von Ihnen wissen, ob die Bücherkisten ausgepackt werden sollen. Weitere Kisten sind noch nicht eingetroffen.223 In Hochachtung verbleibe ich stets Ihr [hs.:] Roman Schnur Mainz, Eisgrubweg 7 44. 1952-10-18 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14219, hs.

Mainz, den 18.10.52

[darunter von C. S.:] b. 21/10 52 u. stenogr. Notiz

Sehr geehrter Herr Professor! Gestern habe ich mich mit Ihren Büchern beschäftigt. – Dr. Trusen vom In­ stitut für Europäische Geschichte hat mir dabei geholfen.224 Wir haben sämt­ liche Kisten ausgepackt und (vorläufig) die Bücher ausgepackt. Ich war ziemlich enttäuscht über den Inhalt der 23 Kisten, fanden wir doch fast nur broschierte Bände und Sonderdrucke. Da ich nicht weiß, welche Bücher Sie besessen haben, möchte ich Ihnen mitteilen, welche Werke ich vermisse: 222  Die

Rede ist von einer zu gründenden Zeitschrift. Rede ist von der Aufstellung von Schmitts Bibliothek im Mainzer Institut für europäische Geschichte. 224  Winfried Trusen (1924–1999), Jurist und Rechtshistoriker, promovierte und habilitierte sich in Mainz, von 1966 bis 1992 Ordinarius in Würzburg. 223  Die

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1952 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Hobbes, Bodin, Pufendorf, Constant, Mohl,225 Laband,226 Kommentare zur Weimarer Verfassung, Triepel,227 Kelsen, sowie die größeren Werke über Völkerrecht. Ich vermute, dass die wichtigsten Bücher Ihrer Bibliothek noch in Frankfurt liegen, falls – ja, ich glaube eigentlich nicht daran, weil hier fast nur Bro­ schüren liegen und doch nicht alle großen Werke gestohlen sein können. Für eine entsprechende Antwort wäre ich Ihnen sehr dankbar. Für die Einladung der „Academia moralis“ zum Vortrag Werner Webers dan­ ke ich Ihnen herzlich.228 Ich habe Herrn Krauß229 bereits mitgeteilt, dass mir das Geld zur Reise (nur dafür) leider fehlt. Er versprach mir, einen Herrn aus dieser Gegend, der nach Köln per Auto reist, zu bitten, mich mitzunehmen. Ich komme natürlich sehr gerne, weil ich dann Sie, Herrn Weber und Herrn Krauß sehen kann. Nun, ich hoffe, dass ein guter Geist mich einlädt und mitnimmt. Mit meiner Dissertation geht es langsam vorwärts, doch glaube ich, in Anbe­ tracht der Schwierigkeiten, die Dinge nicht überstürzen zu sollen. Neben dem Herausarbeiten der verfassungsgeschichtlichen Probleme bereitet mir die Abgrenzung zwischen Geschichte und Verfassungsgeschichte die meisten Schwierigkeiten. Das gilt besonders für den darstellenden Teil der Arbeit. Die Besprechung des „Nomos“ im „Monat“ von Golo Mann habe ich mit großem Interesse gelesen.230 Die sachliche Kritik ist zuweilen nicht ohne Bedeutung, doch übersieht Golo Mann die Wirksamkeit der Theorie gerade im Völkerrecht. Ohne auf die schwierige Frage nach der Wirkung juristischer Theorien einzugehen, möchte ich sagen, dass im Völkerrecht einzelne Auto­ ren sehr viele Folgen verursacht haben. Ich möchte behaupten, dass Bodin eine außerordentliche praktische Bedeutung zukommt. Allein die rasch aufei­ nander folgenden Auflagen seines Hauptwerkes lassen diesen Schluss zu. 225  Robert

von Mohl (1799–1875), Prof. für Staatswissenschaft und Politiker. Laband (1838–1919), Staatsrechtler, Prof. in Königsberg und ab 1872 bis zur Emeritierung in Straßburg, prominenter Vertreter des juristischen Positivismus. 227  Heinrich Triepel (1868–1946), bedeutender Staats- und Völkerrechtler, 1900 Prof. in Tübingen, 1909 in Kiel, seit 1913 in Berlin, begründete die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer; 2 Briefe, 2 Postkt. (1924–1943) im Nl. Schmitt. 228  Der Verein „Academia Moralis“ wurde 1948 von Freunden Schmitts gegrün­ det, um den mittellosen und verfemten Gelehrten finanziell und moralisch zu unter­ stützen. Werner Weber sprach in Köln am 8. Nov. 1952 zum Thema „Staat und Kirche in der Gegenwart“; s. Schmittiana IV, S. 119–156. 229  Günther Krauss (1911–1989), von Schmitt 1935 mit summa cum laude promo­ viert, Rechtsanwalt und Notar in Köln, Initiator der „Academia Moralis“; 188 Briefe, 25 Postkt., 1 Telegr. (1931–1982) im Nl. Schmitt; van Laak, S. 246–250. 230  Golo Mann, Carl Schmitt und die schlechte Juristerei, in: Der Monat 5, 1952, H. 10, S. 89–92. 226  Paul



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Man wird auch sagen dürfen, dass „Schuman-Plan“ und „Europäisierung“ der Saar231 weniger wirksam wären, wenn die deutschen Völkerrechtler er­ klären würden, die Übertragung von Hoheitsrechten könne nur der pouvoir constituant232 vornehmen. Statt dessen werden der Regierung Gutachten ge­ liefert, die die Schaffung unkontrollierter Verwaltungsbehörden gutheißen. In dieser Frage hat ja der Justizminister einmal ein offenes Wort gewagt. Wenn ich sage, diese „Europäisierungen“ seien abzulehnen, so tue ich das nicht, weil ich gegen eine Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ bin. Es geht hier darum, dass [sich] verfassungsrechtlich entscheidende Vorgänge abspielen, an denen die zuständigen Gewalten nicht beteiligt sind. Das also im demokratischen Sinne. Vom rechtsstaatlichen Standpunkt lassen sich gleichfalls erhebliche Bedenken geltend machen. Aber wie soll ein Professor für Internationales Privatrecht dies verstehen! Und die juristischen Handlan­ ger, die Völkerrechtler, scheinen sich unbedingt prostituieren zu wollen. Ich glaube, dass nicht einmal nach 1918 die deutschen Völkerrechtler, ich spreche von einer bestimmten Gruppe, sich so die französischen Begriffe aufdrängen ließen, wie das heute der Fall ist. Man muss wohl auf die Zeit nach 1648 zurückgehen. Vor einigen Tagen habe ich einige wichtige Entscheidungen des OVG Ham­ burg gelesen. Die Aufrichtigkeit, mit der die Hamburger Richter vor allem in Enteignungssachen arbeiten, hat mich richtig erfreut. Es gibt doch noch Richter in – Hamburg. Das kommt wohl von dem wirklich liberal-rechtstaat­ lichen Geist, der in einer Stadt wie Hamburg noch lebendig ist. Ich habe hier ein schmales Buch von Jouvenel liegen: Les Passions en mar­ che. Es sind Aufzeichnungen aus der Zeit von 1944 bis 1947.233 Da ich keine Zeit habe, es zu lesen, steht es Ihnen zur Verfügung. Mit freundlichem Gruß bleibe ich stets Ihr ergebener Roman Schnur Mainz, Eisgrubweg 7

231  Der nach dem französischen Außenminister Robert Schuman benannte Plan von 1950 sah die Zusammenlegung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion vor und wurde bewusst verstanden als Beginn einer europäischen Vereinigung. 232  „Verfassunggebende Gewalt“, in der Bundesrepublik Deutschland also das Volk, s. Präambel zum GG. 233  Bertrand de Jouvenel, Les Passions en marche, Paris 1946.

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1952 – Roman Schnur an Carl Schmitt

45. 1952-10-? Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14180 ms.; nur letztes Blatt erhalten

[…] der Ansicht ist, das Volk wähle eine Partei, lässt sich das Urteil rechtfertigen. Dann müsste der Austritt oder der Ausschluss eines Abgeordneten aus einer Partei gleichfalls den Verlust des Mandates mit sich bringen! Das will aber das BVfG gewiss nicht sagen, denn das steht (noch) nicht im Grundgesetz. Also liegt ein verfassungswidriges Urteil vor? Ist es nichtig? Das sieht kein Gesetz vor. Demnach ist es gültig – das käme einer Verfassungsänderung gleich. Das Bundesverfassungsgericht als Verfassungsgesetzgeber! Nun, wenn man nicht mehr weiß, was eine Verfassung ist, nimmt eine solche Ent­ wicklung nicht sehr wunder … Am Samstag bin ich zum 1. Vorsitzenden des „Verbandes Junger Juristen in Rheinland-Pfalz“ gewählt worden. Ich habe es so einrichten können, dass mir die eigentliche Organisation nicht obliegt. Ich habe lediglich den Kontakt mit den Behörden aufrechtzuerhalten und Vorträge zur wissenschaftlichen Fortbildung der Referendare zu organisieren. Diese Arbeit wird mich nicht sonderlich belasten. Wegen der Vorträge habe ich besondere Pläne, deren Verwirklichung allerdings von der naturgemäß schwachen Kasse abhängt. Wenn es mir gelingt, nach Köln zu kommen, hoffe ich, darüber mit Ihnen sprechen zu können. Mit herzlichem Gruß bleibe ich stets Ihr ergebener Roman Schnur Mainz, Eisgrubweg 46. 1952-10-22 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14220, hs.

Mainz, den 22.10.1952 Sehr geehrter Herr Professor! Haben Sie vielen Dank für die schöne Karte.234 Was die Gerechtigkeit anbe­ langt, so habe ich jetzt einige ihrer Probleme zu bearbeiten. Ich bin nämlich 234  Fehlt.



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für zwei Monate der Strafkammer zugeteilt worden. Das Urteilen ist eine sehr schwere Sache, besonders bei den vielen Sittlichkeitsdelikten, die wir zu verhandeln haben. Meist sind die Tatsachen recht dürftig, so dass es zu erbit­ terten Diskussionen in den Beratungen kommt. Von den letzten neun Delik­ ten waren nicht weniger als sieben Sittlichkeitsdelikte! Vielleicht habe ich mich in dem letzten Brief unklar ausgedrückt: Es befin­ den sich nicht nur Broschüren in der angekommenen Sendung, doch kann ich nicht glauben, dass Sie nicht mehr Hauptwerke besessen haben. Vielleicht können Sie in Frankfurt Erkundigungen einziehen. Ihr Vortrag in Bremen muss sicher eine große Sache gewesen sein. Ich möchte gerne wissen, ob Sie dafür ein neues Manuskript geschrieben haben. An den „Monat“ werde ich den von Ihnen angeregten Brief schreiben.235 Mein derzeitiger Ausbilder, ein Assessor, der 1944 in Heidelberg Herrn Forsthoff und Herrn Huber236 hörte, erzählte mir, Herr Forsthoff habe seiner­ zeit Herrn Huber von der Veröffentlichung seines „Verfassungsrechts“ abge­ raten.237 Wissen Sie etwas davon? Der Assessor hält Herrn Forsthoff für ei­ nen ausgeprägten Preußen des guten alten Schlages. Er lobte seine Gründ­ lichkeit und meinte, man könne an ihm die Carl Schmitt-Schule erkennen. Die anderen Juristen (Armbruster, v. d. Heydte etc.) könnten Ihnen persönlich „das Wasser nicht reichen“. Bisher hätten diese Leute „noch nichts ge­ zeigt“. – Ich wollte Ihnen den Inhalt unseres Gespräches mitteilen, um Ihnen zu zei­ gen, dass gewisse Leute nur scheinbar das Feld beherrschen. Die gleichgülti­ gen Juristen, die Sie nicht kennen, kennen auch Herr Armbruster u. Comp. nicht. Es geht heute „nur“ darum, dass Sie wieder gehört werden. Zu erobern brauchen Sie nicht mehr. Zu der großen Liebenswürdigkeit, mir zu der Reise nach Köln zu verhelfen, danke ich Ihnen herzlich. Ich bleibe in steter Hochachtung stets Ihr Roman Schnur Mainz, Eisgrubweg 7

235  Nicht

erschienen. Rudolf Huber (1903–1990), Staatsrechtler und Verfassungshistoriker, wie Forsthoff Schüler Schmitts, 1933 Prof. in Kiel, 1937 Leipzig, 1941 Straßburg, im Wintersemester 1944/45 Heidelberg, nach dem Krieg zunächst Privatier, 1952 Hono­ rarprof. in Freiburg, 1957 Ordinarius in Wilhelmshaven, 1962 bis 1968 in Göttingen; s. BW Huber. 237  Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg 1937 (2., stark erw. Aufl 1939). 236  Ernst

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1952 – Roman Schnur an Carl Schmitt

47. 1952-11-04 Carl Schmitt an Roman Schnur 126, hs.

Pl. 4/XI 52 Mein lieber Roman Schnur, vielen Dank für Ihr Schreiben. Heute schicke ich in Eile das beil. Bildchen,238 das Sie für eine Reise nach Köln verwerten können, wenn Sie Zeit und Lust haben zu kommen; es soll keinerlei „Druck“ bedeuten. Auf ein gutes Wiedersehen! Immer Ihr alter Carl Schmitt 48. 1952-12-01 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14221, hs.

Mainz, den 1.XII.52 Sehr geehrter Herr Professor! Ich bin gewiss ein undankbarer Mensch, dass ich Ihnen erst heute für Ihre liebenswerte Einladung zum Vortrag von Werner Weber danke. Jedenfalls werde ich mich dafür revanchieren! Zur Zeit habe ich ziemlich viel Arbeit. An den Großen Strafkammern fällt viel an, so dass auch die Referendare stark beschäftigt sind. Urteile von 20 Schreibmaschinenseiten sind keine Seltenheit. Überdies beginne ich bald mit dem Diktat meiner Dissertation, die ich wohl Ende Januar 1953 vorlegen werde. Herr Professor Bader geht wahrscheinlich als Nachfolger von Hein­ rich Mitteis nach München. Er übernimmt die Germanistische Abteilung der Savigny-Zeitschrift. Wie er mir erklärte, wird er dort meine Arbeit über die Briefe Conrings und andere bringen. Meine Dissertation soll ich später noch etwas ausbauen. Dann will Herr Professor Bader sie im Verlag Steiner in Wiesbaden herausbringen. Wenn diese beiden Arbeiten fertig sind, will Herr Professor Bader mich erneut nach Paris schicken. Korreferent meiner Disser­ tation: Prof. v. d. Heydte. Dieses Unglück konnte ich leider nicht verhin­ dern … 238  Schmitt bezeichnete damit häufiger einen Geldschein (frdl. Auskunft von Gerd Giesler).



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Von Ihnen, sehr geehrter Herr Professor, möchte ich gerne wissen, ob Sie grundsätzlich bereit sind, vor dem „Verband junger Juristen in RheinlandPfalz“, dessen 1. Vorsitzender ich geworden bin, einen Vortrag zu halten. Ich denke an das Thema: Verfassungsvollzug. Herr Weber und Herr Forsthoff haben sich bereit erklärt, anlässlich eines Besuches in Mainz vor uns zu spre­ chen. Leider können wir keinen Gelehrten zu einer besonderen Reise nach Mainz einladen, doch wäre ich froh, von Ihnen eine grundsätzliche Zusage zu erhalten. Der Verband lädt zu den Vorträgen auch die Richter, Verwal­ tungsbeamten etc. ein. – Über den Wahlschwindel im Saargebiet brauche ich Ihnen wohl nichts zu berichten …239 Mit freundlichem Gruß Ihr ergebener Roman Schnur Mainz, Eisgrubweg 7 49. 1953-01-04 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14222, ms.

Mainz, den 4.1.1953 Nik. Beckerstraße 10 I Sehr geehrter Herr Professor! Ich darf Ihnen heute die freudige Mitteilung machen, dass mein Aufsatz über die services publiques bereits im Druck ist.240 In Kürze werde ich die Kor­ rekturfahnen erhalten. Damit habe ich einen günstigen Schritt getan. Hoffent­ lich ist es mir vergönnt, gelegentlich für das Archiv zu arbeiten. Vorerst werde ich jedoch meine Lieblingsthemen ruhen lassen, denn im Som­ mer ist meine Ausbildung beendet. Ich muss also mit aller Kraft die Vorbe­ reitungen zum Examen betreiben. Leider werde ich aus den Ihnen mitgeteil­ ten Gründen nicht nach Köln kommen können, obwohl ich sehr gerne mit Ihnen über einige wichtige Angelegenheiten gesprochen hätte. Vor allem 239  Am 30. Nov. 1953 gab es im Saarland Landtagswahlen, zu denen Parteien, die die Vereinigung mit der BRD anstrebten – u. a. die CDU und die SPD – nicht zuge­ lassen waren; ein Viertel der abgegebenen Stimmen war ungültig. Die Bundesregie­ rung sprach von einer „Scheinwahl“ und verweigerte die Anerkennung. 240  Roman Schnur, Zur Krise des Begriffs services publics, in: AöR 79, 1953/54, S. 418–430.

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hätte ich mich einmal gerne mit Ihnen über die Frage unterhalten, ob es in meinen Kräften steht, nach dem Examen mit den Studien zu einer Habilitati­ onsschrift zu beginnen. Wenngleich ich diese Frage nicht gerne vor dem Examen behandle, möchte ich sie doch klären, weil es mir wahrscheinlich möglich ist, dann eine relativ gutbezahlte Assistentenstelle an der Fakultät zu erhalten (Assessorengehalt, soweit mir der neue Haushaltsplan bekannt ist), wenn ich wissenschaftlich weiterarbeiten will. Die Höchstdauer für diese Stellung beläuft sich auf vier Jahre, ‒ ist also nicht ungünstig. Ich möchte diese Angelegenheit gerade mit Ihnen besprechen, weil Sie mir von allen Juristen, ganz abgesehen von Ihrer Stellung in der gesamten deut­ schen Rechtswissenschaft, doch am nächsten stehen. An der Universität habe ich ja, wie Ihnen bekannt ist, so gut wie keinen Rückhalt. Mit Herrn Profes­ sor Hettlage bin ich nur sehr flüchtig bekannt und Herr v. d. Heydte hat für solche Dinge bekanntlich keine Zeit. Ich möchte Ihnen nur noch kurz mitteilen, dass der dritte Band von Maxime Leroys „Histoire des Idées sociales“ im Februar erscheinen wird und bleibe mit herzlichem Gruß Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 50. 1953-01-24 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14204, ms.

Mainz, den 24. Januar 1952241 Sehr geehrter Herr Professor! Ich bitte vielmals um Verzeihung, dass ich so lange nichts von mir hören ließ. In den letzten Wochen hatte ich viel zu tun. Insbesondere musste ich meine Dissertation abschließen. Herr Professor Bader prüft sie augenblick­ lich. Wahrscheinlich wird Herr v. d. Heydte Korreferent sein, doch ist es nicht ausgeschlossen, dass Herr Professor Molitor242 dieses Amt übernimmt. Mit Ihrem Einverständnis habe ich es unterlassen, eine Ihrer Schriften zu zitieren. Wenn sogar der Assistent von Professor Hettlage meint, Sie seien nazistisch angehaucht, so ist es wirklich besser, wenn ich Ihren Namen in 241  Recte:

1953. Molitor (1886–1963), Arbeitsrechtler, 1922 Prof. in Leipzig, 1930 Greifswald, 1946 Mainz. 242  Erich



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meiner Arbeit, die ich der Fakultät vorlege, nicht nenne! Sollte jedoch die Arbeit gedruckt werden, lege ich volle Rechenschaft über die von mir be­ nützte Literatur ab. Herr Professor Bader wird im nächsten Wintersemester nach München ge­ hen, um den Lehrstuhl Heinrich Mitteisʼ zu übernehmen. Gleichzeitig über­ nimmt er die Redaktion der Savigny-Zeitschrift, Germ. Abt. Wenn er hier weggegangen ist, werde ich keinen Gelehrten an der Hand haben, bei dem ich noch in die Schule gehen kann. … Dieser Tage habe ich mir die von Professor Schätzel herausgegebene Ausga­ be der Relecciones de Indis von Franziskus de Vitoria gekauft.243 Ich habe mir die Einleitung des Herrn Hadrossek angesehen.244 Sie werden sie wohl kennen und auch Ihr Urteil darüber haben. Mich hat es sehr empört, dass im Literaturverzeichnis keinerlei Hinweis auf Ihre Beiträge zur Vitoria-For­ schung enthalten ist. Ich sage Ihnen ehrlich, dass ich dies für eine Unver­ schämtheit halte. Der Aufsatz des Herrn v. d. Heydte aus der Friedenswarte ist zitiert!245 Auch das gehört in das heute beliebte System des Tot-Schwei­ gens. Vor einigen Tagen unterhielt ich mich mit dem Assistenten eines Professors für Öffentliches Recht über den Entwurf des Bundeswahlgesetzes.246 Wir sprachen auch über Sternbergers Kommentar am Frankfurter Rundfunk.247 Der Assistent meinte, das Prinzip der gleichen Chance der Machterringung gelte dann nicht, wenn es darum gehe, die deutsche demokratische Partei an der Macht zu halten. Der Zweck heilige die Mittel, denn keinesfalls dürfe die 243  Walter Schätzel (1890–1961), Jurist, von 1942 bis 1945 Prof. in Marburg, 1946 bis 1950 in Mainz, anschließend Bonn; übersetzte und gab heraus: Franciscus de Victoria, De Indis recenter inventis et de iure belli hispanorum in barbaros, Tübingen 1952 (spanisch-deutscher Text); 1 Brief (1942) Im Nl. Schmitt. 244  Paul Hadrossek (1912–1971), kath. Priester, ab 1953 Dozent, 1960 Prof. für Moraltheologie und christliche Soziallehre an der Philosophisch-theologischen Hoch­ schule in Königstein. 245  Friedrich August von der Heydte, Francisco de Vitoria und die Geschichte sei­ nes Ruhmes. Eine Entgegnung, in: Die Friedens-Warte 49, 1949, S. 190–197. Die Entgegnung bezieg’ hat sich auf Schmitt, der 1949 in der Zeitschrift „Die neue Ord­ nung“, S. 289–313 anonym einen Aufsatz über Vitoria veröffentlicht hatte; v. d. Heyd­ te veranlasste darüber hinaus in den Frankfurter Heften, Jg. 4, Nr. 11 (November 1949) eine diffamierende Notiz „Carl Schmitt redivivus“, ohne Verfasserangabe. 246  Für die Bundestagswahlen von 1949 und 1953 gab es jeweils separate Wahlge­ setze; 1956 beschloss der Bundestag ein einheitliches Bundeswahlgesetz (Art. 38 GG). 247  Dolf Sternberger (1907–1980), Politikwissenschaftler und Journalist, Leitartik­ ler der FAZ und Kommentator beim Hessischen Rundfunk, ab 1962 Ordinarius für Politikwissenschaft in Heidelberg. Am Ende scharfer Gegner Schmitts; vgl. van Laak, S. 218.

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SPD an die Macht gelangen. Als ich dem Herrn sagte, der Dampfkessel müs­ se doch eines Tages platzen, meinte er, ein entsprechendes Vorgehen der SPD sei dann verfassungswidrig. Ich weiß wirklich nicht, was ich zu diesen An­ sichten eines Herrn sagen soll, der doch wissenschaftlich arbeiten soll. Viel­ leicht wissen Sie den Grund.248 Wahrscheinlich hat der Herr Bundespräsident bei der Einweihung des Insti­ tuts für Europäische Geschichte auch einen würdevollen Blick auf Ihre Bü­ cher geworfen.249 Die Bücher befinden sich recht wohl, doch leiden die Broschüren etwas durch das Stehen. Vom Institut werden hier und da Bücher ausgeliehen, die jedoch sorgfältig registriert werden. Unter Ihren Büchern sind etliche gesondert in Papier verpackt und mit Klebestreifen verschlossen. Ich konnte nicht feststellen, dass eines dieser Bücher geöffnet worden ist. Es ist wohl am besten, wenn ich sie weiterhin unter diesem Verschluss lasse. Wenn Sie besondere Wünsche hinsichtlich Ihrer Bibliothek haben, so lassen Sie es mich bitte wissen. Nicolaus Sombart schrieb mir kürzlich aus Paris. Er arbeitet immer noch an seinem Werk über Ballanche.250 Bei dieser Gelegenheit erlaube ich mir, Sie daran zu erinnern, dass Sie nach Paris reisen wollten. Haben Sie den Reise­ plan aufgegeben? Mit herzlichem Gruß bleibe ich Ihr ergebener [hs.:] Roman Schnur Mainz, Eisgrubweg 7

248  Stenogr.

Anm. von C. S. am Rand. Institut für Europäische Geschichte in Mainz (heute: „Leibniz-Institut für Europäische Geschichte“) wurde 1950 auf Initiative der französischen Militärregie­ rung als außeruniversitäre Forschungsstätte gegründet; bei der Einweihung des neuen Gebäudes sprach am 17. Jan. 1953 auch Bundespräsident Heuß. 250  Pierre-Simon Ballanche (1776–1847), franz. Philosoph der Gegenrevolution. Nicolaus Sombart wollte sich mit einer Arbeit über ihn habilitieren, woraus aber nichts wurde; vgl. BW Sombart. 249  Das



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51. 1953-02-17 Carl Schmitt an Roman Schnur 129 ms., RW 265 Nr. 13496 (Durchschlag) Briefkopf: „Prof. Dr. Carl Schmitt, Plettenberg II (Westf.), Brockhauserweg 10“

17.2.53 Mein lieber Roman Schnur, Ihr Schreiben vom 24. Januar hat mich sehr interessiert und beschäftigt. Ich wollte Ihnen schon längst antworten, bin aber durch Besuch und Bespre­ chungen immer wieder abgehalten worden. Das Wichtigste ist, dass die Be­ sprechung mit Maxime Leroy in diesem Frühjahr zustande kommt. Ich hatte an den Mai gedacht und wollte meine Tochter Anima mitnehmen. Ich dachte an einen Aufenthalt von 14 Tagen. Dies nur als erste Nachricht zu Ihrer In­ formation. Ich war in den letzten Wochen in Ihrer Gegend, hatte aber so viele intensive Erörterungen wegen Verfassungsbeschwerden usw.,251 dass ich nur für einen Augenblick nach Mainz kommen konnte, wo ich Prof. Lortz einige Minuten sprach.252 Ich habe vor, ihm von Plettenberg noch einige Kisten zu schicken, weil sich hier weitere Büchermassen bedrohlich anhäufen. Für Ihre Dissertation und die Promotion wünsche ich Ihnen guten Erfolg! Ähnlich wie der Assistent, mit dem Sie über das Wahlgesetz sprachen, schrieb mir Günther Krauss, er betrachte das Ganze als Problem von Legali­ tät und Legitimität, und er halte es nicht für unzulässig, die Waffe solcher legalen Möglichkeiten gegenüber einem Gegner zu benützen, der jede Gele­ genheit wahrnehme, um sich selber solcher Waffen zu bedienen. Nun, das ist ein schönes Gesprächsthema. Ich hoffe, Günther Krauss Ende Februar in Köln zu treffen, wo Forsthoff einen Vortrag über das Verfassungsproblem des Sozialstaats halten wird.253 251  Der Spiegel hatte am 9. Juli 1952 über Interna der Regierung berichtet, worauf Adenauer Strafanzeige erstattete und die Auflage der Spiegel-Nr. beschlagnahmen ließ. Rudolf Augstein sah darin einen Angriff auf die Pressefreiheit und erwog eine Verfassungsbeschwerde. Am 19. Okt. fuhr er nach Plettenberg, um Schmitts Rat dazu einzuholen. Vgl. Lutz Hachmeister/Stefan Krings, Rudolf Augstein rief Carl Schmitt zu Hilfe, in: FAZ vom 23. Aug. 2007; „Verfassungsbeschwerde des Nachrichtenma­ gazins Der Spiegel und Urteil des Landgerichts Bonn“, RW 265–19936; vgl. BW Journalisten. 252  Joseph Lortz (1887–1975), Kirchenhistoriker, Prof. in Mainz und Direktor des Instituts für Europäische Geschichte; 4 Briefe (1952–1954) im Nl. Schmitt. 253  Ernst Forsthoff hielt im Rahmen der Academia Moralis am 28. Feb. 1953 den Vortrag „Verfassungsprobleme des Sozialstaats“ (auch im Druck: Münster 1953).

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Geben Sie mir bald wieder Nachricht, lieber Roman Schnur, und seien Sie herzlich gegrüßt [hs.:] von Ihrem alten Carl Schmitt [hs. Nachschrift:] Am 27. Febr. spricht Prof. Arnold Gehlen in Wiesbaden, bei RA Dr. Franzen;254 ich habe Ihnen eine Einladung schicken lassen. 52. 1953-02-19 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14223, hs.

Mainz, den 19.2.1953 Sehr geehrter Herr Professor! Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihren Brief vom 17.2. Es freut mich sehr, dass Sie nun Ende Mai mit Ihrem Fräulein Tochter nach Paris reisen werden. Von Nicolaus Sombart habe ich seit längerem nichts mehr gehört, auch von Maxime Leroy nicht. Henri Berr hingegen hat mir vor einigen Tagen die Neuauflage seiner „Synthèse en Histoire“ geschickt.255 Es ist wirklich er­ staunlich, was dieser Gelehrte mit seinen 89 Jahren noch leistet. Maxime Leroy wird übrigens in diesem Jahr die 80 erreichen! Ich danke Ihnen auch, dass Sie sich für die Einladung zum Vortrag von Pro­ fessor Gehlen verwendet haben. Ich werde wahrscheinlich nicht nach Wies­ baden fahren können, weil ich an diesem Tage das mündliche Examen habe. Doch ist es mir gelungen, Professor Gehlen für einen Vortrag vor den Refe­ rendaren in Mainz zu gewinnen. Er wird über das Thema „Bürokratisierung in soziologischer Sicht“ sprechen. Von Herrn Krauß habe ich eine Einladung zu dem Vortrag von Herrn Forsthoff erhalten. Möglicherweise hält Herr Forsthoff auch einen Vortrag hier in Mainz vor den Referendaren. Ich warte auf seine feste Zusage. Ich habe auch bereits daran gedacht, Sie um einen Vortrag zu bitten. Aber das wird sich schwerlich einrichten lassen, weil wir hochbezahlte Referendare außer Spesen nichts bezahlen können.

254  Der Rechtsanwalt Hans Franzen (1911–2007), ehemaliger Habilitand von Carl Schmitt, richtete zusammen mit Hans Martin Müller-Henneberg private „Herrenaben­ de“ aus; 21 Briefe (1937–1984) im Nl. Schmitt; vgl. van Laak, S.  98 f. 255  Henri Berr, La synthèse en histoire, son rapport avec la synthèse générale, Paris 1953 (Neubearb. der Ausg 1911).



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Herr Professor Bader hat auch noch einen Ruf nach Zürich erhalten. Er hat sich noch nicht entschieden, sicher ist bloß, dass er Mainz im Herbst verlas­ sen wird. Das ist für mich ein ziemlicher Nachteil, weil ich dann hier ohne Unterstützung bin. Herr Bader will mich zwar an Herrn v. d. Heydte verwei­ sen, doch werde ich dort wenig lernen können. Herr Ministerialrat Kipp hat, wie ich erfahren konnte, mit seiner Schrift über Völkerrecht im Mittelalter an der hiesigen Universität sich habilitieren wollen.256 Das ist ihm nicht gelun­ gen, vor allem hat Herr Professor Molitor erklärt, dass eine solche Schrift kein Zeichen besonderer Gelehrsamkeit sei. Abgesehen von dem Inhalt, weist die Schrift einen großen Mangel auf: Der Literaturstand ist der von 1938! Nun, was Herrn Kipp nicht gelungen ist, erreichte sein Freund v. d. Heydte, der jetzt aber auch keine Anstrengungen mehr macht, seine wissenschaftli­ chen Fähigkeiten zu beweisen.257 Im Arch. öff. Recht habe ich den Aufsatz (Gutachten) von Herrn Professor Weber gelesen.258 Ich bin aber nicht mit ihm einverstanden. Ich glaube, man muss doch zunächst fragen, was Wehrhoheit bedeutet und ob wir durch den Deutschland-Vertrag und den EVG-Vertrag Wehrhoheit erhalten.259 Ich stelle mir unter Wehrhoheit das Recht vor, wenigstens potentiell gegen jede fremde Macht die Waffen zu richten. Das wird man wohl bei der Aufnahme der ominösen Artikel im Grundgesetz gemeint haben, sofern man überhaupt et­ was dabei gemeint hat.260 Ein Volk, welches Waffen erhalten soll, um sie nur in einer Richtung und nicht einmal denkweise in einer anderen Richtung zu gebrauchen, hat doch keine Wehrhoheit, es stellt bestenfalls Söldner, Hoheit besitzt es damit nicht.

256  Heinrich Kipp, Völkerordnung und Völkerrecht im Mittelalter, Köln 1950. – Heinrich Kipp (1910–1993), war zunächst Richter und ab 1950 Ministerialdirektor im Bundeskanzleramt, 1952 Ministerialrat im BMI, habilitierte sich 1956 an der Univer­ sität Würzburg, von 1959 bis 1985 Ordinarius für Völkerrecht und Rechtsphilosophie in Innsbruck. 257  Von der Heydte wurde 1950 von Erich Kaufmann in München habilitiert. 258  Werner Weber, Die Vereinbarkeit des Verteidigungsbeitrags mit dem Grundge­ setz, in: AöR 78, 1952/53, H. 2, S. 129–148. 259  Der Deutschlandvertrag (Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundes­ republik Deutschland und den drei Mächten) löste im Mai 1952 das Besatzungstatut der drei Siegermächte ab und war ein Schritt zur vollen Souveränität der BRD. Paral­ lel dazu entstand die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die Frankreich, die Benelux-Staaten, Italien und die Bundesrepublik umfasste. Beides wurde durch die USA unter dem Eindruck des Korea-Krieges forciert, um den Westen zu stärken. 260  Gemeint sind Art. 4, Abs. 3, Art. 24 und 26 GG, auf die sich W. Weber in dem in Anm. 258 genannten Aufsatz bezieht (frdl. Hinweis von F. Meinel).

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Mit Interesse habe ich auch die Schrift von G. Leibholz über den Struktur­ wandel der Demokratie gelesen.261 Das Wichtigste an der Schrift ist die Verwechslung der Ausdrücke: Die Parteien als Hüter und die Parteien als Bildner des Volkswillens. Dass dies so unauffällig geschieht, zeigt, wie sehr Herr Leibholz am Problem vorbeigegangen ist, wobei ich nicht weiß, ob es absichtlich geschehen ist. Im übrigen bleibt stets die Frage: Wer soll die Parteien „demokratischer“ machen? Die Häupter der Oligarchien selbst? Sich in der Macht beschränken – das tun nur gute Diktatoren, Volksführern ist das fremd.262 Ich habe mich wegen meines mündlichen Examens auch noch einmal mit Bachofs Schrift über verfassungswidrige Verfassungsnormen beschäftigt.263 Das Thema als solches ist sehr interessant. Wenn man sich an Ihre Hinweise in der „Verfassungslehre“ hält, kann man sehen, welches echte Verfassungs­ normen sind und welches lediglich zum Rang eines Verfassungsgesetzes er­ hobene Regelungen sind. Die Unterschiede ließen sich wohl finden, doch müsste man bei einer solchen Untersuchung stets fragen: Welche Unterschei­ dungen kann der Verfassungsgeber seinem Wesen entsprechend treffen. Das erfordert natürlich die Kenntnis vom Wesen der Verfassungsgebung, eine Kenntnis, die sehr selten geworden ist. Dazu gehört die weitere Frage, ob eine mit Listen und anderen Schikanen gewählte (von Parteien organisierte Wahl meine ich) Versammlung überhaupt Verfassungsgeber sein kann. Bei den Untersuchungen über die verfassungswidrigen Verfassungsnormen bleibt schließlich die Frage: quis judicabit?264 Ich hätte keine Bedenken, das Bun­ desverfassungsgericht dafür zuständig zu erklären. Wenn wir heute diese Einrichtung besitzen, dann soll man sie auch entsprechend auswerten, d. h. als Ephoren265 oder ähnliches die Verfassungsrichter betrachten. Wobei man sich im Klaren sein soll, dass das mit Gerichtsbarkeit wenig zu tun hat.

261  Gerhard Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie. Vortrag, geh. in der Jurist. Studiengesellschaft in Karlsruhe am 30. Apr. 1952, Karlsruhe 1952. – G. Leibholz (1901–1982), wurde 1935 aus seiner Göttinger Professur für Öffentliches Recht verdrängt, die er nach der Emigration nach England 1947 wieder erhielt, von 1951 bis 1971 war er mit seiner Betonung der Parteien als entscheidende Kräfte der politischen Willensbildung in der Massendemokratie („Parteienstaatslehre“) einer der einflussreichsten Richter am Bundesverfassungsgericht; 2 Briefe (1926) im Nl. Schmitt. 262  Daher wohl Schnurs Hochschätzung Salazars (s. Nr. 27), der ein gemäßigter Diktator war. 263  Otto Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, Tübingen 1951. 264  „Wer entscheidet?“ Diese Frage des Thomas Hobbes war bekanntlich für Schmitt zentral. 265  Ephoren waren politische Aufseher in Sparta. In der neuzeitlichen Verfassungs­ theorie sind sie von Johannes Althusius wiederbelebt worden.



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Sollte meine Promotion gut ausfallen, dann werde ich mich an eine weitere Arbeit machen. Doch möchte ich darüber gerne eingehend mit Ihnen spre­ chen oder wenigstens eingehend darüber schreiben, weil ich dafür Ihre au­ ßerordentliche Hilfe benötige. Ich denke an eine Darstellung der Geschichte der Garantie des Westfälischen Friedens. Ich halte eine solche Arbeit für um so nötiger, als sich Herr Wehberg ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt und wahrscheinlich eine geschichtlich unhaltbare Darstellung liefern wird, wie ich seinem Aufsatz über die Garantie in der Friedenswarte entnommen habe.266 Doch hat diese Sache noch reichlich Zeit. Einstweilen arbeite ich an der Kammer für Handelssachen, eine Stage, die mir wirklich viel bietet. Mit herzlichem Gruß bleibe ich stets Ihr [hs.:] Roman Schnur Mainz, Eisgrubweg 7 53. 1953-03-06 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14224, hs.

Mainz, den 6. März 1953 Sehr geehrter Herr Professor! Haben Sie herzlichen Dank für Ihr schönes Telegramm.267 Das hat mir heute etwas erschöpftem Doctor einen gewaltigen Auftrieb gegeben! Das Erstaunliche: Prof. Armbruster war mein Korreferent. Im Mündlichen prüfte er mich u. a. über Ihre „Politische Theologie“, die er für sehr wichtig hält. Ich bin ihm wahrlich keine Antwort schuldig geblieben. Wahrscheinlich hatte er gemerkt, dass ich Ihre Schrift benutzt habe, ohne sie zu zitieren. In den nächsten Tagen werde ich mich mit ihm über Bodin unterhalten. Er hat 1938 im Historischen Jahrbuch Bodin-Literatur besprochen.268 Obwohl ich noch ziemlich mitgenommen bin, habe ich in Wehbergs neuer Schrift „Krieg und Eroberung im Wandel des Völkerrechts“ gelesen. Sie 266  Hans Wehberg, Die Schieds- und Garantieklausel der Friedensverträge von Münster und Osnabrück (24. Oktober 1648), in: Die Friedens-Warte 48, 1948, S. 281–289. – Hans Wehberg (1885–1962), pazifistischer Völkerrechtler; Herausgeber der Zeitschrift „Die Friedens-Warte“, 1953 erschien sein Buch „Krieg und Eroberung im Wandel des Völkerrechts“. 267  Fehlt. 268  Im HJ von 1938 gibt es keine Besprechung der Bodin-Literatur von Armbrus­ ter.

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scheinen ihn wirklich in einigen Punkten bekehrt zu haben. Dennoch reichen seine Ausführungen bei weitem nicht an den „Nomos“ heran. Dr. Hans Naumann war in Wiesbaden beim Vortrag von Prof. Gehlen.269 Es hat ihm gut gefallen, besonders lobte er die Art, wie Herr Franzen den Abend aufgezogen hatte: das habe nach echtem Bürgertum ausgesehen. – Ich werde Ihnen in absehbarer Zeit einen Abzug meiner Dissertation zusen­ den. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich dann wissen ließen, ob ich an die Geschichte der Garantie des Westfälischen Friedens herangehen kann. Das Thema interessiert mich sehr. Ich habe mir noch einige Bücher aus Ihrer Bibliothek entliehen: Gneist, Thi­ lo, Weill, Kaegi.270 Eine Liste habe ich hinterlegt. Wenn Sie in nächster Zeit in diese Gegend kommen sollten, dann lassen Sie es mich bitte wissen. Auch für etwaige Finanzierungen in Francs für Ihre Reise nach Paris stehe ich Ihnen zur Verfügung. Mit herzlichem Gruß Ihr ergebener Roman Schnur Mainz, Eisgrubweg 7

54. 1953-03-13 Carl Schmitt an Roman Schnur 140 ms.; RW 265 Nr. 13497 (Durchschlag)

13.3.1953 Lieber Roman Schnur, vielen Dank für Ihr Schreiben und den Bericht über Ihr Doktor-Examen. Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie einen so schönen Erfolg gehabt haben. Heu­ te wollte ich Ihnen nur in Eile mitteilen, dass ich um den 27./28. März herum in Hattenheim eine Besprechung habe und hoffe, Sie bei dieser Gelegenheit in Mainz treffen zu können. Wir können dann die Pariser Reise besprechen, wegen der ich noch nicht sicher bin. Gestern ist eine große Kiste mit gebundenen Büchern als Stückgut an das Institut von Prof. Lortz in Mainz abgeschickt worden. Könnten Sie sich ge­ 269  s.

Nr. 51. möglichen Titeln vgl. die Liste der Schmitt-Bibliothek auf der Homepage der Carl-Schmitt-Gesellschaft. 270  Zu



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legentlich danach erkundigen? Es wird wohl 8 bis 10 Tage dauern, bis sie ankommt. Mit vielen Grüßen und bestem Dank Ihr [hs.:] Carl Schmitt 55. 1953-04-14 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14225, ms.

Mainz, den 14. April 1953 Sehr geehrter Herr Professor! Ich bitte Sie um Verzeihung, dass ich erst heute die von Ihnen gewünschte Bescheinigung schicke. In den letzten Tagen hatte ich viel Arbeit an der Kammer für Handelssachen. Leider habe ich noch keine Abschrift des Urteils in besagter Sache erhalten können, doch hoffe ich, in den nächsten Tagen eine Abschrift zu bekommen. Die Besprechung des „Nomos“ in der FAZ habe ich mit Vergnügen gele­ sen.271 Es ist zwar nicht die Besprechung eines Juristen, aber Vietta hat eini­ ge treffende Bemerkung[en] über Ihre Denkweise gemacht, die ein Jurist wahrscheinlich nicht gemacht hätte. Im „Merkur“ hat Professor Ebbinghaus einen Aufsatz über den Wehrbeitrag geschrieben, dem ich im Ergebnis beitrete.272 Ich bin nach wie vor der Mei­ nung, dass in diesem Punkte der pouvoir constituant tätig werden muss. Wenn der pouvoir constituant zu einem gewissen Zeitpunkt unter Beschrän­ kung handelt, so muss er bei Änderung der Verhältnisse wieder tätig werden, denn sein damaliger Wille war auf eine bestimmte Situation zugeschnitten. Wenn der Parlamentarische Rat 1949 über die Wehrmacht nicht entscheiden durfte, so ist damit doch nicht gesagt, dass er für die heutige Lage eine Wehrmacht aufstellen will. Er könnte immerhin noch wollen, dass wir au­ genblicklich einen Wehrbeitrag nicht für angebracht halten. Ob die Wehrho­ heit der Verfassung immanent ist, haben nicht Gerichte oder Gutachter zu entscheiden, sondern der pouvoir constituant. Wenn man freilich Gerichte die Verfassung machen lässt, so können sie auch den Wehrbeitrag einführen. 271  Rez. von Egon Vietta in FAZ vom 11. Apr. 1953. – Egon Vietta (1903–1959), Schriftsteller, Essayist, Dramaturg; 22 Briefe, 5 Postkt. (1941–1958) im Nl. Schmitt. 272  Julius Ebbinghaus, Verfassungsrechtliche oder politische Entscheidung? In: Merkur 7, 1953, H. 61, S. 201–209. – J. Ebbinghaus (1885–1981), Philosophieprofes­ sor in Marburg (Lehrer u. a. von Johannes Gross).

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1953 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Aber man sollte zwischen Auslegung der Verfassung und ihrer Ergänzung noch einen Unterschied machen. Kempskis Aufsatz über den Liberalismus habe ich mit Unbehagen gelesen. Seine Unterscheidungen sind nicht sauber.273 – Ich habe übrigens festgestellt, dass man bei der Einbeziehung der deutschen Stände in den Westfälischen Frieden die Unterschiede zwischen Verfassungsund Völkerrecht erkannt hat. Als Frankreich und Schweden die Einbeziehung von verfassungsrechtlichen Bestimmungen in den Friedensvertrag und somit die Erstreckung der Garantie auf die Stände verlangten, haben die Kaiserli­ chen verlangt, dass dann auch die französischen und schwedischen Stände am Friedensvertrag beteiligt werden müssten. Frankreich lehnte das mit dem Hinweis ab, dass seine Verfassung die absolute Monarchie sei, somit der König die Einheit des Staates repräsentiere. Schweden sagte, der König sei durch die Stände hinreichend beschränkt, so dass die Einhaltung des Frie­ densvertrages durch verfassungsrechtliche Regelungen hinreichend gesichert sei. Genau denselben Standpunkt nahmen die Kurfürsten ein – eine andere, eben die von Schweden und Frankreich verlangte Regelung gefährde die in­ nere Sicherheit des Reiches. Lediglich Brandenburg war nicht dieser Mei­ nung. Ich hoffe, Ihnen zu gegebener Zeit mehr über diese Sache berichten zu kön­ nen. Wichtig wäre es vor allem, die Instruktionen an die französischen Un­ terhändler einsehen zu können. Vielleicht habe ich dazu einmal die Gelegen­ heit. Mit freundlichem Gruß bin ich stets Ihr [hs.:] Roman Schnur Mainz, Eisgrubweg 7

273  Jürgen von Kempski, Über den Liberalismus, in: Merkur 7, 1953, H. 63, S. 301–318. – Kempski (1910–1998), Jurist und Philosoph, hatte bei Carl Schmitt studiert; 1 Brief, 1 Postkt. (1953 und 1974) im Nl. Schmitt.



1953 – Roman Schnur an Carl Schmitt133

56. 1953-04-18 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14226, ms.

Mainz, den 18.4.1953 Sehr geehrter Herr Professor! Ich schicke in diesem Brief beiliegend ein Schreiben von Herrn Professor Anrich.274 Daraus werde Sie entnehmen können, wie die Sache mit Ihrer „Verfassungslehre“ steht. Hoffentlich werden die Schriften von Bauer275 und Lorenz von Stein wieder aufgelegt. In diesen Tagen habe ich auch das neue Buch von Erich Voegelin „The New Science of Politics“ erhalten. Es scheint außerordentlich wichtig zu sein, doch habe ich in dem Buch kein Werk von Ihnen erwähnt gefunden. Da Erich Voegelin über Repräsentation ausführlich schreibt und auch Ihre Bü­ cher kennt, nehme ich an, dass er sie aus politischen Gründen nicht zitiert hat. Ob es nicht angebracht wäre, das Buch wenigstens anzuzeigen? Viel­ leicht ließe sich das im „Archiv für Öffentliches Recht“ machen. Ich habe leider zu keiner Zeitschrift Verbindung, sonst hätte ich versucht, irgendwo eine Notiz unterzubringen. Kennen Sie das Buch von Leo Strauss „The Political Philosophy of Hobbes“?276 Wenn ja, dann lassen Sie mich bitte Ihr Urteil darüber wissen. Ich habe Gelegenheit, es zu kaufen. Von der Academia Moralis habe ich die Einladung zu dem Vortrag von Herrn Professor Schneider erhalten.277 Ich werde bei Herrn Dr. Franzen anfragen, ob er vielleicht mit dem Wagen nach Köln fährt und mich mitnehmen kann.

274  Ernst Anrich (1906–2001), wegen seiner Tätigkeit in der NS-Zeit umstrittener Historiker, begründete 1947 die „Wissenschaftliche Buchgesellschaft“, die für eine Neuauflage der „Verfassungslehre“ Schmitts in Erwägung gezogen wurde. 275  Bruno Bauer (1809–1882), religionskritischer Theologe, rechtshegelianischer Philosoph, Historiker. 276  Leo Strauss (1899–1973), Philosoph; sein Hobbes-Buch erschien in Chicago 1936. Strauss hatte Schmitts „Begriff des Politischen“ 1932 ausführlich rezensiert, was dieser als die beste Kritik an seiner Schrift anerkannte und Strauss für ein Rocke­ feller-Stipendium empfahl; vgl. Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog unter Abwesenden, erw. Neuaufl., Stuttgart 1998. 277  Hans Schneider hielt am 2. Mai 1953 in Köln den Vortrag „Das Ermächti­ gungsgesetz vom 24. März 1933“. Der Vortrag ist veröffentlicht in: VfZ 1, 1953, S. 197–221.

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1953 – Carl Schmitt an Roman Schnur

Mit viel Gewinn lese ich die Dissertation von Dr. Kendziora.278 Sie ist in der Tat die einzige gründliche moderne Abhandlung über die Parteien. Erstaun­ lich ist nur, dass sie nirgendwo zitiert wird. Maxime Leroy hat sich herzlichst für meinen Glückwunsch zum Geburtstag bedankt. Er möchte gerne wissen, woher ich das Datum erfahren habe. Es steht im Meyer … Mit freundlichem Gruß Ihr ergebener [hs.:] Roman Schnur

57. 1953-04-23 Carl Schmitt an Roman Schnur RW 265 Nr. 13498, ms. (Durchschlag); Orig. fehlt

23.4.53 Lieber Roman Schnur, ich bin Ihnen noch mehrere Empfangsbestätigungen schuldig: zwei Briefe vom 14. und 18. April, eine Bescheinigung über erhaltene 50,– DM und ei­ nen Brief der Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft, den ich gleichzeitig hiermit zurückgebe. Die Antwort dieser Wissenschaftl. Buchgemeinschaft überrascht mich nicht. Derartige Organisationen sind im allgemeinen nur Werkzeuge; sie sind die allerletzten, die als Blockadebrecher in Betracht kommen. Es wäre geradezu rührend von solchen angstzitternden Ausfüh­ rungsorganen eine Überwindung der conspiration de Silence zu erwarten. Es tut mir leid, dass wir uns nicht ausführlicher über die JEIA Frage unter­ halten konnten.279 Vielleicht werfen Sie einmal einen Blick auf das beilie­ gende Exposé und schicken es mir bald zurück. Sie verstehen dann vielleicht meinen rechtswissenschaftlichen Standpunkt besser, als ich ihn in der kurzen Zeit meines Besuches in Mainz erklären konnte. Ich will Sie aber nicht wei­ 278  Johanna Kendziora (1903–?), wurde von Schmitt 1933 an der Handelshoch­ schule Berlin promoviert. Die Dissertation „Der Begriff der politischen Partei im System des politischen Liberalismus“ erschien 1935 in Bottrop; vgl. auch TB V. 279  JEIA = Joint Export-Import Agency, 1946 gegründetes amerikan.-brit. Organ, das die Aufgabe hatte, den Außenhandel der zu einem Wirtschaftsgebiet vereinigten Bizone zu überwachen und zu fördern. 1950 wurde die JEIA aufgelöst und ihre Auf­ gaben auf die Deutschen Außenhandelskammern übertragen. 1952 wollten die Alliier­ ten die Bundesrepublik verpflichten, eine unbeschränkte Haftung für die Geschäfte der JEIA zu übernehmen.



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ter mit dieser Angelegenheit behelligen, an der ich nur ein theoretisches In­ teresse habe. Wenn Sie selber kein Interesse mehr haben, schicken Sie es bitte gleich zurück. Hoffentlich sehen wir uns am 2. Mai oder anlässlich meiner SüddeutschlandReise. Über Voegelin müssen wir noch besonders sprechen. Er hat sich durch sein Buch mit einer überaus mächtigen Universitätsclique der USA angelegt. Die Äußerung über Bertrand Russell, Seite 26 Anmerkung am Schluss, wird als Majestätsverbrechen aufgefasst und dürfte bösartige Gegenschläge her­ vorrufen.280 Die Koryphäen des Humanitarismus verstehen keinen Spaß. Homo homini Homo. Das ist schlimmer als Homo homini lupus. Auf ein gutes Wiedersehen herzlich Ihr alter [o. Unterschrift]

58. 1953-04-25 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14227, ms.

Mainz, den 25.4.1953

[darunter von C. S.:] b. 27/4281 u. stenogr. Notiz

Sehr geehrter Herr Professor! Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Brief nebst Beilage. Der Brief war mir eine gute Ermunterung, weil ich augenblicklich sehr schlechter Laune bin. Die Berichte über den Hamburger Parteitag der CDU haben mich sehr übel gestimmt, zumal die Tatsache, dass man dort mit Fahnen, Sieg Heil! und Saalordnern gewissen Erscheinungen aus vergangenen Jahren sehr nahe kam. Die Geistlosigkeit der führenden Leute tut mir geradezu körperlich weh. Da hat mich Ihr Brief erfrischt! Ihr Exposé ist außerordentlich interessant. Es ist manchmal geradezu un­ heimlich, wie rasch Sie an die wesentlichen Dinge herankommen. „Mein“ Fall stimmt mit dem „Ihren“ nicht überein, weil in ihm die Oficomex über­

280  Bezieht sich auf: Eric Voegelin, The new Science of politics. An introduction, Chicago 1952. Am Ende der Einleitung auf S. 26 heißt es: „The first chapter deals with the lowest-ranking philosophies, from the bottom up with Bertrand Russel, neopositivism, and dialectical materialism.“ 281  Fehlt.

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wiegend privatrechtlich tätig geworden ist.282 Soviel ich sehe, liegt das Pro­ blem mehr auf Seiten der Ernährungsbehören, die die Auslieferung durch die Oficomex an die Beklagten angeordnet haben. In meinem Fall ist die Frage wesentlich, welche Wirkung einer solchen Anweisung oder einer Freigabe beizulegen ist. Soviel ich sehen konnte, hat man lediglich gesagt, dass eine solche Anweisung die Annahmeerklärung gemäß § 151 überflüssig mache. In meinem Fall ist nun aber doch vor dem Angebot der Käufer an die Oficomex bereits auf Grund der Anweisung der Ernährungsbehörde vom Lagerhalter ausgeliefert worden. Was war die rechtliche Grundlage dafür? Abgesehen von der öffentlichen Betätigung der Oficomex – hätte sie vor Kaufabschluss gemäß § 812 zurückfordern können? Hätte sie überhaupt die Leistung ver­ weigern können? Ich möchte diese Fragen verneinen, zumal ich damit der Praxis wohl am nächsten komme. Was also war dann der Rechtsgrund der Lieferung? Ich glaube doch, dass sich die Gerichte, die bloß auf § 151 ab­ stellen, sich die Sache etwas zu leicht gemacht haben. Allerdings wird in meinem Fall die Lage komplizierter dadurch, dass die Oficomex der Verkäufer war, aber dieses Problem habe ich außer acht gelas­ sen, um allgemein auf die Bedeutung von Zuweisungen durch Ernährungs­ stellen hinzuweisen. Dass Erich Voegelin mit seinem Buch in ein Wespennest gestochen hat, war mir klar, ein amerikanischer Bekannter hat das ja auch bestätigt. Das erhöht noch den Wert dieser Schrift. Ich glaube, dass die Begriffsbildung, die Erich Voegelin vorgenommen hat, sich als sehr fruchtbar erweisen wird, obwohl noch einige Differenzierungen vorzunehmen sind. Das schmälert gewiss nicht den Wert des Buches. Seine Darlegungen über Hobbes haben mir sehr zugesagt, doch hat Erich Voegelin die Frage, ob Hobbes in der konkreten Situation überhaupt Ideen berücksichtigen konnte, leider nicht beantwortet. In der Stromeyerschen Dissertation über das Werden des französischen Staa­ tes283 habe ich gefunden, dass Gegner der Monarchie die Existenz des Staa­ tes unabhängig vom Monarchen bejaht haben – musste da Bodin nicht die Unterscheidung verneinen? Sie haben in Ihrer „Diktatur“ einen Hinweis auf diese Frage gegeben,284 vielleicht kann ich sie einmal im Zusammenhang beantworten. Mit Hobbes wird es sich in vielem ähnlich verhalten haben. Voegelin hätte die konkrete Situation des Hobbes noch eingehender untersu­ chen müssen – aber vielleicht hat er das in seinem großen Werk getan. 282  Oficomex = Office du Commerce Extérieur, war das Pendant zur JEIA für die französische Zone, wurde am 1. Okt. 1948 in die JEIA eingegliedert. 283  Gerd Stromeyer, Frankreich im Übergang vom Ständestaat zum Absolutismus, Göttingen 1941. 284  s. Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränittsge­ dankens bis zum proletarischen Klassenkampf, 8. korr. Aufl., Berlin 1994, S. 19 f.



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Was die abendländische Eschatologie angeht, so hat Marc Bloch, den ich sehr schätze (wissen Sie, in welch schmählicher Art er umgebracht wurde?285), in seinem Buch „La Société féodale“ auch einiges darüber geschrieben. Er hat vor allem die geistige und politische Lage um 900–1000 unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. Sollten Sie Näheres darüber wissen wollen, so ge­ be ich Ihnen gern Bescheid. Ich habe mir das von Voegelin zitierte Buch von Jakob Taubes bestellt.286 Das ist wohl der Mann, dessen Brief an Mohler ich lesen durfte?287 Ich habe kürzlich Nicolaus Sombart nach dem Stand seiner Arbeit gefragt. Er ist sehr zuversichtlich. Auf das Ergebnis seiner Untersuchungen bin ich sehr gespannt. Ich dränge ihn dauernd, sich den Linkshegelianern zu widmen. Befindet sich in Ihrer Bibliothek der Aufsatz von Ernst Benz „Nietzsche und Bauer“?288 Ich habe in einem Nietzsche-Aufsatz Voegelins zu ersten Mal von dieser Verbindung erfahren! Mit herzlichem Gruß stets Ihr [hs.:] Roman Schnur 59. 1953-05-03 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14228, ms.

Mainz, den 3. Mai 1953 Sehr geehrter Herr Professor! Leider war ich durch widrige Umstände verhindert, nach Köln zu kommen. Ich hätte mir sehr gern den Vortrag von Herrn Professor Schneider angehört. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich Ihnen eine falsche Nachricht gab, als ich Ihnen mitteilte, bei Marc Bloch sei etwas über den Katechon zu finden. Ich 285  s.

Anm. zu Nr. 29. Taubes, Abendländische Eschatologie, Bern 1947 [u. ö.]. 287  Gemeint ist der Brief von Taubes vom 14. Feb. 1952, BW Taubes, S. 130–137. Schmitt hat diesen Brief, in dem Taubes sein fasziniert-kritisches Verhältnis zu Schmitt beschreibt, vielfach Bekannten zu lesen gegeben. Der Publizist Armin Moh­ ler (1920–2003), seit dem gemeinsamen Studium in Zürich mit Jacob Taubes be­ freundet, stand wegen seiner Dissertation über die Konservative Revolution, für die er Schmitt glaubte vereinnahmen zu können, in engem Kontakt mit Schmitt; BW Mohler; van Laak, S. 256–262. 288  Ernst Benz, Nietzsche und Bruno Bauer, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 56, 1937; auch in: ders., Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der Kirche, Leiden 1956, S. 104–121. 286  Jacob

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hatte das Buch telefonisch aus Merzig bestellt, doch konnte ich den Aus­ druck Katechon nicht finden. Marc Bloch schreibt zwar einiges über die Schrecken des Jahres Tausend, doch taucht in diesem Zusammenhang das Wort Katechon nicht auf. Bloch erwähnt die Weltende-Stimmung von Otto von Freising und meint, diese Ideen seien nicht allein die Ideen von „Clercs“ gewesen, vielmehr habe der Gedanke an das nahe Reich des Antichrist alle Gemüter beherrscht.289 Ich darf einen Satz wörtlich bringen: „Dans les Hon­ grois, rapporte Rémy d’Auxerre, d’innombrables personnes croyaient re­ connaître le peuple de Gog et Magog, annonciateurs de l’Antichrist.“290 An Literatur zu diesem Thema ist unter anderem zitiert: Ernst Wadstein, Die eschatologische Ideengruppe: Antichrist-Weltsabbat-Weltende und Weltge­ richt,291 sowie ein Aufsatz von Filippo Ermini in der Ehrengabe für K. Stre­ cker, Studien zur lateinischen Dichtung des Mittelalters.292 Ich bedaure, Ihnen keine bessere Auskunft geben zu können. Sollten Sie dennoch das Werk von Marc Bloch einsehen wollen, so lassen Sie mich es bitte wissen. Vielleicht kann ich Sie in Heidelberg treffen. Würden Sie mir bitte Ihre dortige Anschrift mitteilen? Ich habe noch eine Frage, für deren Beantwortung ich Ihnen sehr dankbar wäre: Kennen Sie einen Karl Riedel, von dem ich eine Übersetzung von Sieyès293 und Mariana294 vor mir habe? Der Mariana-Übersetzung hat er ei­ nen langen Aufsatz über den christlichen Staat der Neuzeit vorausgeschickt. Dort werden Hegel, Strauß, Bauer und Feuerbach behandelt. Erschienen ist das Buch 1843.295 Stets Ihr ergebener [hs.:] Roman Schnur 289  Otto von Freising (1112/13–1158), Bischof, Historiker und Geschichtstheologe, der in Friedrich Barbarossa den Friedensherrscher und Aufhalter des Antichrist sah. 290  Marc Bloch, La societé féodale, tome 1, Paris 1939, S. 92. Gog und Magog sind die Streiter, die mit Satan am Jüngsten Tag in den Kampf ziehen (Off 20,8). 291  Ernst Wadstein, Die eschatologische Ideengruppe. Antichrist – Weltsabbat – Weltende und Weltgericht. In den Hauptmomenten ihrer christlich – mittelalterlichen Gesamtentwickelung, Leipzig 1896. 292  Filippo Ermini, La fine del mondo nell’ anno mille e il pensiero di Odone di Cluny, in: Studien zur lateinischen Dichtung des Mittelalters. Ehrengabe für Karl Stre­ cker zum 4. Sept. 1931. Hrsg. von W. Stach und H. Walther, Dresden 1931, S. 29–36. 293  Emmanuel Joseph Sieyès (1748–1836), Politiker, Theoretiker der Französi­ schen Revolution, betonte, dass es vor der Verfassung eine verfassunggebende Gewalt („pouvoir constituant“) geben muss. 294  Juan de Mariana (1536–1624), span. Historiker und Staatstheoretiker, Befür­ worter des Tyrannenmords. 295  Es handelt sich um zwei Bücher: Karl Riedel (Hrsg.), Immanuel Sieyes’ Theo­ rie der Volksvertretung in der constitutionellen Monarchie nach dessen politischen



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60. 1953-05-29 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14229, ms.

Mainz, den 29.5.1953 Eisgrubweg 7

[darunter von C. S.:] b. 3/6 u. stenogr. Notiz

Sehr geehrter Herr Professor! Soviel ich der Notiz von Herbert Nette in der FAZ entnehmen konnte, haben Sie doch nicht in Herrenalb gesprochen. Den Grund dafür kenne ich zwar nicht, doch vermute ich, dass wieder gewisse Leute interveniert haben.296 Ich möchte Ihnen heute mitteilen, dass ich einen Kollegen veranlasst habe, über das Thema „Rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug“ zu promovieren (bei Herrn Professor Hettlage, wo ein anderer Kollege über „Gerichtsfreie Ho­ heitsakte“ promovieren will). Der Kollege hat nach der Lektüre Ihres Gut­ achtens zum Hessischen Sozialisierungsstreit gemeint, es lasse sich nicht mehr viel über das Thema schreiben; ich habe ihn jedoch zur Fortsetzung seiner Arbeit aufgemuntert, weil die Hessische Sozialisierung nicht der einzi­ ge Fall des Verfassungsvollzuges ist, und ich es für wichtig halte, dass auch die anderen akuten Fälle in den von Ihnen dargestellten Zusammenhang ge­ bracht werden. Ich möchte Sie daher um Ihre Meinung zu dieser Arbeit bit­ ten. Ist es noch möglich, von den Buderuswerken einen Abdruck Ihres Gut­ achtens zu erhalten? Was die Hegelforschung angeht, so darf ich Ihnen mitteilen, dass ich die Schrift von Eric Weil „Hegel et l’État“ gekauft habe.297 Wenn Sie sie lesen wollen, so lassen Sie es mich bitte wissen. Ebenso habe ich eine sehr wert­ Schriften

dargest., Darmstadt 1843. Juan de Mariana, Von dem Könige und des Kö­ nigs Erziehung. Mit Untersuchungen über den christlichen Staat der Neuzeit von Karl Riedel, Darmstadt, 1843. – Karl Riedel (1804–1878), Junghegelianer. 296  Schmitt war von Hans Schomerus, dem Leiter der Evangelischen Akademie Herrenalb, zu einer Tagung am 7.–10. Mai 1953 über „Konservative und Reaktionä­ re“ eingeladen und um ein Referat zum Thema „Der Antichrist und die Schöpfung“ gebeten worden, was zurückging auf eine gemeinsame Diskussion mit Wilhelm Sta­ pel über den Katechon 1942. Nach Protesten von Adolf Arndt, Gustav Heinemann, Walter Strauss u. a. ordnete der württembergische Landesbischof Julius Bender an, dass Schmitt ausgeladen wurde; s. BW Forsthoff, S. 396 f. – Herbert Nette (1902– 1994) war Feuilleton-Redakteur der FAZ und ab 1954 Lektor des Eugen DiederichsVerlags; 57 Briefe (1948–1980) im Nl. Schmitt; s. auch BW Journalisten, S. 100–102, Schmittiana VII, S. 321–323. 297  Eric Weil, Hegel et l’État, Paris 1950.

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volle Thèse von Gilbert Picot über „Cardin Le Bret et la théorie de la sou­ véraineté“ erworben.298 Ich habe Herrn Professor Bader gebeten, mir die Möglichkeit einer Besprechung dieser Schrift in der Savigny-Zeitschrift zu geben. Über seine Antwort werde ich Sie informieren. Mit herzlichem Gruß bleibe ich stets Ihr ergebener [hs.:] Roman Schnur 61. 1953-06-03 Carl Schmitt an Roman Schnur 130, hs.

Pl. 3/6 53 Mein lieber Roman Schnur, am Sonntag den 17. Mai war ich abends in Mainz, bei Prof. Lortz und eini­ gen anderen Freunden. Ich konnte Sie leider nicht mehr erreichen und muss­ te am anderen Morgen weiterreisen. Über Herrenalb mündlich; Ihre Vermu­ tung trifft zu; der Querschütz ist: Staatssekretär im B[undes]Justizmi[nisterium] Walter Strauss;299 dies vertraulich zu Ihrer Information. Ich füge 1 Exemplar meines Hess. Soz. Gutachtens bei. Über das Problem ist noch ungeheuer viel zu sagen; fragen Sie nur in Mainz selbst a) zu Art. 9 Abs. 2 des Bonner Gr. Ges. b) zu Art. 29 der Verf. Rheinland-Pfalz (konfes­ sionelle Schule); außerdem: Gleichberechtigung der Frau etc.; das Problem der automatisch geltenden Verfassungsbestimmung ist doch das große Pro­ blem des inner(west)deutschen Verfassungsrechts. Nochmals: es ist noch ungeheuer viel dazu zu sagen; allerdings nicht im Stil einer DGB- oder StGB-Dissertation. Weil, Hegel et l’état würde ich gerne sehen, aber erst später. Auch Picot. Kön­ nen Sie mir Maurice Duverger, les partis politiques besorgen (Armand Colin);300 298  Gilbert Picot, Cardin Le Bret (1558–1655) et la doctrine de la souveraineté, Nancy 1948. – Cardin Le Bret, franz. Jurist, Verteidiger der absoluten Stellung des Monarchen. 299  Walter Strauss (1900–1976), Jurist und CDU-Politiker, von 1949 bis 1963 Staatssekretär im Bundesjustizministerium, danach Richter am Europäischen Ge­ richtshof. Strauss wurde 1935 als „jüdisch-versippt“ aus dem Dienst des Reichswirt­ schaftsministeriums entlassen, seine Eltern in Theresienstadt ermordet. 300  Maurice Duverger, Les partis politiques, Paris 1951 [u. ö.] – Maurice Duverger (1917–2014), franz. Jurist und Politikwissenschaftler, lehrte an vielen Universitäten in Frankreich, Österreich, Israel, der Schweiz und USA.



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und mir aus meiner Bibliothek noch 1 Expl. Kendziora (Diss. über den Begriff der pol. Partei) besorgen? Vielen Dank. Die „Zeit“ hat eine interessante Kontroverse mit der Rh. Pf. Regierung (In­ nen M.) über Art. 9 Abs. 2 gehabt.301 Ist das Ihrem Kollegen nicht bekannt? Die Kontroverse wird fortgesetzt. Ohne mehr für heute. Herzlich Ihr C. S. [Nachschrift:] Im August kommt Mme. Ponceau für einen Monat nach Baden Baden; wahr­ scheinlich werde ich sie dort treffen. Haben Sie Hans Schneider über B ­ VerfGer. in der NJW gelesen?302 62. 1953-06-06 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14230, ms.

Mainz, den 6. Juni 1953 Sehr geehrter Herr Professor! Ich danke Ihnen recht herzlich für die Übersendung Ihres Gutachtens und den aufschlussreichen Brief. Ich werde meinem Kollegen noch einmal die Wichtigkeit seiner Arbeit an Herz legen. Ich glaube, dass er seine Sache or­ dentlich macht, soweit sich das Thema überhaupt in einer Dissertation er­ schöpfend behandeln lässt. Den Aufsatz von Herrn Professor Schneider habe ich mit großer Aufmerk­ samkeit gelesen. Er ist ausgezeichnet. Ich empfand ihn als eine wirkliche Erfrischung. Vor allem hat mir gefallen, dass Herr Professor Schneider sich weder scheute, auf die Bedeutung Ihrer Arbeiten offen hinzuweisen, noch den Kommentar von Geiger,303 den ich nur teilweise kenne, scharf zu kriti­ sieren. Zu dem Vorschlag, die Verfassungsrichter durch die Spitzen der Justiz wählen zu lassen, kann ich aber nur sagen, dass dann nach kurzer Zeit der 301  Art. 9, Abs. 2 GG sieht ein Verbot verfassungsfeindlicher Vereinigungen vor. Auf dieser Basis verbot das Bundesverfassungsgericht 1952 die rechtsextreme Sozia­ listische Reichspartei (SRP). Gegen die ebenfalls rechtsextreme Deutsche Reichspar­ tei (DRP) wurde 1953 ein Verbotsverfahren erwogen, jedoch nicht eingeleitet. 302  Hans Schneider, Betrachtungen zum Gesetz über das Bundesverfassungsge­ richt, in: NJW, 1953, S. 802–806. 303  Willi Geiger, Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951. Kommentar, Berlin/Frankfurt 1952.

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Sturm auf diese Stellungen beginnen wird, die heute noch relativ neutral besetzt sind. Glauben Sie nicht, dass dann auch die Chefpräsidentenstellen endgültig nach dem Beuteprinzip aufgeteilt werden? Das könnte der Justiz ungeheuer viel schaden. Das Bundesverfassungsgericht ist nun einmal eine Instanz, die im Zentrum des pluralistischen Systems steht und die man, koste es, was es wolle, okkupieren wird. Das ist nun einmal das Schicksal einer hochpolitischen Einrichtung. Ob man es wagen soll, auch die Spitzen der Rechtsprechung in den politischen Kampf einzubeziehen, ist eine Frage, de­ ren Beantwortung von der Einschätzung der Fähigkeiten unserer Parteien abhängt. In dieser Hinsicht allerdings traue ich ihnen sehr viel zu. Das also zum gutgemeinten Vorschlag von Professor Schneider. Dieser Tage habe ich mit Herrn Professor Bader, der nach Zürich gehen wird, eingehend über persönliche Angelegenheiten gesprochen. Ich habe ja meinen Dienst als Hilfsassistent am juristischen Seminar begonnen, der am 30. September zu Ende sein wird. Von diesem Zeitpunkt an soll es nur noch Vollassistenten geben. Dafür will man vor allem Herren haben, die sich ha­ bilitieren wollen. Als ich mich bei Herrn Professor Welter, dem Seminardi­ rektor, vorstellte, hat er mich nach Habilitationsplänen gefragt.304 Mir kam diese Frage sehr ungelegen, denn ich vermag noch keineswegs zu sagen, ob ich es wagen kann, mich auf eine Habilitation vorzubereiten. Schließlich bin ich noch Referendar und noch keine 26 Jahre alt. Überdies habe ich noch nichts veröffentlicht, so dass ich mich weder an Ihr Urteil noch an das anderer zuständiger Herren halten kann. Um mir allerdings nicht eine mög­ liche Assistentenstelle entgehen zu lassen, habe ich Herrn Welters Frage einstweisen positiv beantwortet. Herr Professor Bader nun hat geraten, mich langsam und sicher auf eine Habilitation vorzubereiten. Er ist auch bereit, mir die Savigny-Zeitschrift für geeignete Arbeiten offenzuhalten. Einstwei­ len soll ich eine Besprechung über das erwähnte Buch von Picot schrei­ ben. – Sie werden sicher verstehen, dass ich in dieser wichtigen Frage noch unent­ schlossen bin. Es geht schließlich um eine Sache, bei der es nicht darauf ankommt, was man will, sondern was man kann. Gerade deshalb habe ich sehr erhebliche Bedenken. Vielleicht habe ich in nächster Zeit einmal Gele­ genheit, mit Ihnen über diese Sache sprechen zu dürfen. Ich reise am 12. Ju­ ni auf einige Tage nach Hamburg zu einer Tagung der 1. Vorsitzenden der Referendar-Verbände. Das Buch von Duverger werde ich bestellen. Ich hoffe, es in etwa vier Wo­ chen Ihnen schicken zu können. Es ist auch noch eine kleine Schrift von 304  Erich Welter (1900–1982), Ökonom, Direktor des Seminars für Rechts- und Wirtschaftswissenschaft der Univ. Mainz.



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Waline „Les partis contre la République“ erschienen, die ich bisher nicht auftreiben konnte.305 Von Rougier besitze ich „La France à la recherche d’une constitution“ (1952), das in vieler Hinsicht aufschlussreich ist.306 Rou­ gier ist der Meinung, dass Frankreich seit 1939 kein Rechtsstaat mehr ist. Eine Besserung der Verhältnisse erhofft er von der Ausdehnung der richter­ lichen Prüfungszuständigkeit auf die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze. Leider verwechselt Rougier in einem fort Rechtsstaat mit Demokratie, so dass er die Probleme, die durch das Fortschreiten der Gesellschaft entstanden sind, nicht richtig sieht: die Demokratie ist durch die Stärkung des Rechts­ staats noch keineswegs gesichert. Ansonsten ist die Schrift recht interessant. Die Dissertation von Johanna Kendziora werde ich Ihnen am Montag schi­ cken. Heute nachmittag konnte ich leider nicht in die Bibliothek des Instituts gehen, weil niemand mehr im Hause war. Ich darf Ihnen noch mitteilen, dass ich dabei bin, meinen Freund Schröter, den ich Ihnen seinerzeit vorstellen durfte, zu überreden, eine Dissertation zu schreiben über das Thema „Staat und Gesellschaft bei Rudolf von Gneist“. Da einige Professoren mehr oder weniger die Themen akzeptieren, die von den Kandidaten vorgeschlagen werden, wird Herr Schröter mit diesem The­ ma wohl angenommen werden (er will zu Herrn Professor Hettlage gehen). Ich hoffe, dass die Wahl des Themas Ihre Zustimmung findet. Schreiben Sie mir doch bitte, welches Ihre Meinung ist. In der Hoffnung, Sie bald wieder sehen zu dürfen bin ich stets Ihr ergebener [hs.:] Roman Schnur Mainz, Eisgrubweg 7

305  Marcel Waline, Les partis contre la république. Préface de René Capitant, Paris 1948. – Marcel Waline (1900–1982), von 1936 bis 1974 Prof. für Öffentliches Recht in Paris, Berater de Gaulles. Schnur schrieb zum Gedenken an Waline: „Im Schatten der Katastrophe“, in: Die Verwaltung, 1983, S. 243–248. 306  Louis Rougier, La France a la recherche d’une constitution, Paris 1952. – L ­ ouis Rougier (1889–1982), polit. Philosoph.

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1953 – Roman Schnur an Carl Schmitt

63. 1953-06-25 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14231, ms.

Mainz, den 25. Juni 1953

[daneben stenogr. Notiz von C. S.]

Sehr geehrter Herr Professor! Erst von einigen Tagen bin ich in den Besitz einer Schrift gelangt, die Ihnen dem Titel nach wohl bekannt sein wird: Marcel Waline, Les partis contre la république, Paris 1948. Dem Titel kann man bereits den Inhalt der Schrift entnehmen. Ich halte die Broschüre (etwa 160 Seiten) für außerordentlich wichtig, nicht zuletzt, weil Waline doch ein sehr angesehener Jurist ist. Es ist mir nicht möglich, Ihnen den Inhalt auch nur in etwa detailliert wiederzuge­ ben. Ich bin jedoch gerne bereit, Ihnen die Schrift zu besorgen. Sie kostet nur rund 4 DM. Duvergers Buch über die politischen Parteien werde ich Ihnen morgen schi­ cken. Es kostet 14 DM. Vielleicht interessiert es Sie zu wissen, dass in der Reihe der Cahiers de la Fondation Nationale des Sciences Politiques bereits eine Auseinandersetzung eines jungen Gelehrten namens Lavau mit dem Werke Duvergers erschienen ist.307 Die Schrift hat 165 Seiten Umfang und kostet rund 6 DM. Ferner ist noch zu haben: La Response de Jean Bodin à M. de Malestroit, hgg. von Henri Hauser (1932).308 Die Ausgabe ist, soweit ich das beurteilen kann, sehr schön und von Hauser mit einer guten Einleitung versehen worden. Den neuen Aufsatz von Herrn Professor Hans Schneider habe ich mit viel Interesse gelesen. Erst allmählich tritt die überaus große Bedeutung Ihres Gutachtens zutage. Man wird ohne Übertreibung sagen müssen, dass dieses Gutachten die wichtigste staatsrechtliche Publikation nach dem Kriege ist. Mein Kollege Ellscheid, der an der Dissertation über das große Thema arbei­ tet, bestätigt mir das beinahe täglich. Herr Professor Hettlage hat eine Hausarbeit über den Schulstreit in Rhein­ land-Pfalz schreiben lassen.309 Ich bin gespannt, ob das Problem richtig er­ 307  Georges E. Lavau, Partis politiques et réalités sociales. Contribution à une étude réaliste des partis politiques. Préf. de Maurice Duverger, Paris 1953. 308  Jean Bodin, La response de Jean Bodin à M. de Malestroit: 1568. Avec une introd., des notes et 3 facs. de l’éd. originale. Hrsg. von Henri Hauser. Nouvelle éd., Paris 1932. 309  1953 tobte in Rheinland-Pfalz eine erbitterte Auseinandersetzung über die in der Landesverfassung festgeschriebene Bekenntnisschule.



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kannt wird. Soviel ich gehört habe, steht Herr Professor Hettlage mit Herrn Süsterhenn in guter Verbindung…310 Bei meiner neuen Tätigkeit als Assistent am Seminar musste ich bereits schlimme Beobachtungen machen. So legte ein Professor Triepels Rede „Staatsrecht und Politik“ zur Makulatur.311 Der 1. Seminarassistent wusste nicht, was die Receuil des Cours sind. Er meinte, es seien Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs. (Wir besitzen Band 2–67). Er meint auch, die Anschaffung der Nachkriegsbände sei nicht wichtig. Ebenfalls brauche das Juristische Seminar nicht die „Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht“ zu halten. (Wir besitzen fast alle Vorkriegsbände). Das Seminar brau­ che auch kein Lehrbuch wie etwa Colombos-Higgins, The International Law of the Sea.312 Auch Wade-Philipps, Constitutional Law, sei nicht notwen­ dig …313 So könnte ich die Beispiele fast beliebig vermehren. Ich kann Ihnen sagen, dass ich geradezu erschrocken bin. Wenn man dann noch hören muss, dass der Assistent unseres Professors für Rechtsgeschichte Mitteisʼ „Staat des Hohen Mittelalters“314 nicht gelesen hat und noch nie etwas von Brunners „Land und Herrschaft“ gehört hat, dann kann man fast verzweifeln. Eine aufschlussreichere Mitteilung für Sie aber: Herr Professor v. d. Heydte hat den Seminardirektor, Prof. Dr. Welter, gebeten, unbedingt Ihre Verfas­ sungslehre anzuschaffen; denn es ließe sich ohne dieses Buch nicht auf dem Gebiet des Staatsrechts arbeiten! Indem ich Sie bitte, diese Mitteilungen vertraulich zu behandeln, bleibe ich stets Ihr ergebener [hs.:] Roman Schnur Mainz, Juristisches Seminar der Universität (Ich gebe Ihnen diese Anschrift, weil ich demnächst umziehe.)

310  Adolf Süsterhenn war von 1951–1961 Präsident des Verfassungsgerichtshofs und des Oberverwaltungsgerichts von Rheinland-Pfalz. 311  Heinrich Triepel, Staatsrecht und Politik. Rede beim Antritte des Rektorats der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. Okt. 1926. 312  Alexander Pearce Higgins/C. John Colombos, The international Law of the sea, 3. rev. ed., London [u. a.] 1954. 313  E. C. S. Wade/G. Godfrey Phillips, Constitutional and administrative law, 9. ed. by A. W. Bradley, London [u. a.] 1977. 314  Heinrich Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters. Grundlinien einer verglei­ chenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters, Leipzig 1940 [u. ö.].

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64. 1953-07-21 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14232, ms.

Mainz, den 21. Juli 1953

[daneben von C. S.:] b. 25/7 53 Eisgrubweg 7

Sehr geehrter Herr Professor! Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung, dass ich mich in Düsseldorf nicht von Ihnen verabschiedet habe. Wahrscheinlich wird Ihnen Fräulein Anima das Dilemma geschildert haben, in dem ich mich befunden habe. Und Sie werde sicher auch wissen, dass es mir schwer gefallen hat, in Düsseldorf zu blei­ ben.315 Vor einigen Tagen habe ich die Bekanntschaft von Professor Martin Göhring gemacht.316 Ich habe ihm meine Dissertation überreicht. Dabei stellte ich zu meiner Freude fest, dass Herr Göhring ein guter Kenner der französischen Deutschlandpolitik ist. Wir sprachen auch über die Legisten, über die ich ja zunächst promovieren wollte. Heute kann ich schon sagen, dass Herr Göhring an diesem Thema sehr interessiert ist. Vielleicht kann ich nach dem Examen seine Hilfe (das Institut verteilt Stipendien) für eine größere Darstellung der Legisten erhalten. Für den nächsten Band der Savigny-Zeitschrift, germ. Abt., darf ich zwei Besprechungen machen. Herr Professor Bader, der sich wirklich für mich einsetzt, gibt mir die Gelegenheit, allmählich Fuß zu fassen. Es handelt sich bei den zu besprechenden Büchern um Picots Buch über den Juristen und Politiker Cardin Le Bret317 und um eine Schrift über Unterhalt und Fürsorge im französischen Gewohnheitsrecht des 13. und 14. Jahrhunderts.318 Dieses 315  In den Düsseldorfer Rheinterrassen richtete die Academia Moralis am 11. Juli 1953 eine Feier zum 65. Geburtstag Schmitts aus. Aus diesem Anlass entstand eine Festschrift, die nicht im Druck erschien; das umfangreiche, gebundene Typoskript liegt im Nl. Schmitt (RW 265–21368). Schnur war hier mit einem Aufsatz über Ma­ xime Leroy vertreten; van Laak, S.  55 f.; Mehring, S. 497 f. Im Anschluss an die Düsseldorfer Feier haben Anima und einige Freunden in Plettenberg weiter gefeiert; s. folgenden Brief. 316  Martin Göhring (1903–1968), auf Frankreich spezialisierter Historiker, wurde 1951 Direktor der Abteilung für Universalgeschichte am Institut für Europäische Ge­ schichte in Mainz. 317  Die Besprechung Schnurs erschien nicht in ZRG, sondern in: HJB 75, 1955, S. 433–436. 318  Schnur besprach: Jean de Laplanche, La „Soutenance“ ou „Pourvénance“ dans le droit coutumier franҫais au XIIIe et XIVe siècles, Paris 1952, in: ZRG, Germ.



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Buch werde ich nur kurz besprechen, während ich das Picotsche Buch auf etwa 3 Druckseiten besprechen möchte. Vor allem möchte ich die Auseinan­ dersetzung über den Absolutismus etwas anfachen, denn allmählich sind die Voraussetzungen für eine fruchtbare Absolutismus-Forschung wieder gege­ ben. Mir liegt besonders daran, den Absolutismus unter dem Gesichtspunkt Dezisionismus und konkretes Ordnungsdenken zu betrachten und zu betonen, dass man in Frankreich über den Dezisionismus nicht hinausgekommen ist, obwohl es nach 1650 nicht mehr viel zu dezidieren gab – im Gegensatz zu Preußen, wo die Hohenzollern wirklich zur Ordnung vorgestoßen sind. Herr Professor Bader hat eine Einladung der Jean-Bodin-Gesellschaft zur diesjährigen Tagung in Brüssel an mich weitergeleitet. Er konnte sie nicht annehmen, weil er zur Zeit der Tagung (21.–29.9.) nach Zürich umzieht. Das Thema: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt. Ich werde, falls ich hingehe, der einzige deutsche Teilnehmer sein. Es sprechen Professoren aus allen europäischen Ländern. Natürlich wäre für mich die Teilnahme an dieser Tagung sehr wichtig, zumal ich versuchen könnte, auch die deutschen Sach­ kenner an die Jean-Bodin-Gesellschaft heranzubringen. Allerdings werde ich mir die Zusage noch überlegen, weil ich auf eigene Kosten nach Brüssel reisen müsste. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich Ihre Ansicht über diese Sache wissen ließen. Schließlich sind Sie schon lange (Ehren-)Mitglied der Jean-Bodin-Gesellschaft – ich meine der nicht sichtbaren Jean-BodinGesellschaft (vielleicht hätte ich besser gesagt: der Jean-Bodin-Gemein­ schaft). Sodann habe ich noch eine sehr wichtige Sache: Möglicherweise, sogar sehr wahrscheinlich, wird sich Kiepenheuer und Witsch entschließen, Walines kleine Schrift: Les partis contre la République, in deutscher Übersetzung herauszubringen.319 Übersetzer wäre im günstigen Falle Dr. Hans Naumann, den Sie ja flüchtig kennen. Vielleicht müsste ich das Vorwort schreiben, ob­ wohl es besser wäre, wenn z. B. Herr Professor Forsthoff ein Vorwort verfas­ sen würde. Ich werde Ihnen über diese Sache rechtzeitig Mitteilung machen, doch bitte ich Sie, vorerst die Angelegenheit geheimzuhalten. Ich weiß nicht, ob es taktvoll ist, Sie um Ihre Meinung über meine Studie über Maxime Leroy zu bitten. Aber da ich der jüngste Teilnehmer der Fest­ schrift bin, möchte ich keinen mangelhaften Beitrag veröffentlichen. Ich werde noch einige Hinweise in Fußnoten geben, vor allem will ich noch da­ rauf hinweisen, dass das Interesse am reibungslosen Funktionieren des ser­ Abt. 71, 1954, S. 510–513. – Im folgernden Jahr besprach er: Marcel David, La Sou­ veraineté et les limites juridiques du pouvoir monarchique du IXe au XVe siècle. Annales de la Faculté de Droit et des Sciences politiques de Strasbourg, T. 1, Paris 1954, in: ZRG, Germ. Abt. 72, 1955, S. 359–362. 319  Dazu kam es nicht.

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vice public das Interesse an der Außenpolitik fast ganz absorbiert, d. h. auch in der Außenpolitik denkt man in den Kategorien des service public, wofür die Denkweise Scelles bezeichnend ist. Truyol hat in der Revue de droit int. publ. auf die Zusammenhänge Scelles mit Duguit hingewiesen.320 In der „Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff“ haben Sie ja auch bereits auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht. Bezeichnend ist auch, dass ­Scelle Proudhons Principe fédératif einleiten wird!321 Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass sich Maxime Leroy, nach 1925 etwa, vom Syndikalismus distanzierte, zu einer Zeit, in der Hau­ riou bereits auf die Seite des Staats gegangen war. Während Hauriou seinen frühen pluralistischen Standpunkt aufgab (er ging schließlich durch die Schu­ le Steins und Gneists) und zum Staat sich wendete, vollzog Maxime Leroy diesen Schritt nicht, sondern begann seine historischen Studien. Es wäre übrigens eine reizvolle Aufgabe, einmal zu untersuchen, wie viele große Köpfe sich vom Sozialismus und Syndicalismus distanzierten, als sie sahen, dass die sozialen Gruppen sich immer mehr verfestigten und damit die freie Wahl zwischen verschiedenen sozialen Gebilden, die ja die Recht­ fertigung des Pluralismus bildet, unmöglich machten. Es ist doch erstaunlich, dass Leute wie Robert Michels, Hauriou, Leroy und andere, ja selbst Laski diesen Wandel der sozialen Bewegung beobachteten und, bis auf Laski, ihre Konsequenzen zogen. Darauf werde ich allerdings in meinem Beitrag nicht hinweisen, denn das gehört nicht mehr zum eigentlichen Thema. Die Bibliographie von Piet Tommissen ist für mich sehr wichtig, ich habe da viele Entdeckungen gemacht.322 Vor allem sind mir viele Ihrer Aufsätze doch noch unbekannt. Ich werde Herrn Tommissen noch auf einige Schriften über

320  António Truyol y Serra, Doctrines contemporaines du droit des gens, in: Revue générale de droit international public 3, 1951 (auch selbständig erschienen, Paris 1951). 321  Pierre-Joseph Proudhon, Du principe fédératif et oeuvres diverses sur les pro­ blèmes politiques européens: Introductions. I. Fédéralisme et Proudhonisme par Georges Scelle. II. Le fédéralisme dans l’oeuvre de Proudhon par J.-L. Puech et Théodore Ruyssen. La fédération et l’unité en Italie. Nouvelles observations sur l’uni­ té italienne. Du principe fédératif. France et Rhin (Fragments) (Oeuvres complètes de P.-J. Proudhon/Nouv. éd. 14), Paris 1959. 322  Piet Tommissen (1925–2011), Nationalökonom und Soziologe, Pionier der Schmittforschung; 223 Briefe, 15 Postkt., 3 Telegr. (1950–1983), 3 Briefe von Schmitt im Nl. Schmitt. Für die Schmitt-Festschrift von 1953 hatte Piet Tommissen einen ersten „Versuch einer Carl-Schmitt-Bibliographie“ erarbeitet; er erschien als Veröf­ fentlichung der Academia Moralis 1953 in Kommission beim Verlag Röhrscheid in Bonn; in überarbeiteter Form dann in: Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburts­ tag, dargebracht von Freunden und Schülern. Hrsg. von Hans Barion, Ernst Fortshoff, Werner Weber, Berlin 1959, S. 273–330.



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Sie hinweisen. Er hat Polaks und Mayers (Hans Mayer) Schriften übersehen,323 auch wäre ein Hinweis auf Werner Kägis Habilitationsschrift angebracht.324 Mit dieser Schrift habe ich viel Freude gehabt, denn Kägis Auseinanderset­ zung mit Ihnen und seine Anerkennung Ihrer Leistungen sind zum größten Teil frei von Ressentiments. Leider verkennt er häufig Ihren Standpunkt. Statt Ihnen die Mitschuld am Niedergang des Normativismus vorzuwerfen, hätte er besser darauf hingewiesen, dass Sie die Konsequenzen aus dem be­ reits erfolgten Niedergang des Normativismus gezogen haben. Darüber ließe sich unendlich viel sagen… Indem ich auf Ihre freundliche Antwort warte, bin ich ergebenst Ihr [hs.:] Roman Schnur 65. 1953-07-25 Carl Schmitt an Roman Schnur 132–133, hs.

Plettenberg, 25/7 53 Mein lieber Roman Schnur, Ihr Brief vom 21. Juli gibt mir Anlass, Ihnen für Ihre Glückwünsche zu mei­ nem Geburtstag und insbesondere für Ihren Beitrag zu der „Epirrhosis“ herzlichen Dank zu sagen. Ich habe mich so gefreut, dass Sie am 11. Juli in Düsseldorf dabei waren und habe es bedauert, dass Sie abends nicht mit den andern jüngeren Freunden – Nicolaus Sombart, H. Kesting, H. Popitz,325 P. Scheibert usw. – nach Plettenberg kommen konnten, um sich den fabelhaf­ ten Sketch anzusehen, den man dort aufführte und der den Titel trug: Einer bleibt übrig.326 Ihren Beitrag habe ich mit großer Freude gelesen. Er gibt ein klares Bild der Lage und müsste eigentlich jeden Juristen und jeden am öffentlichen Leben 323  Karl Polak, Die Weimarer Verfassung. Ihre Errungenschaften und Mängel, Berlin 1948, S. 46–49. Hans Mayer, Karl Marx und das Elend des Geistes, Meisen­ heim 1948, S. 48 ff. 324  Werner Kaegi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates. Unter­ suchungen über die Entwicklungstendenzen im modernen Verfassungsrecht, Zürich 1945 (reprograph. Nachdr. Darmstadt 1971). – Werner Kaegi (1901–1979), schweiz. Historiker. 325  Heinrich Popitz (1925–2002), jüngster Sohn von Johannes Popitz und seit Kindheitstagern mit der Familie Schmitt bekannt, 1959 Prof. für Soziologie in Basel, seit 1964 in Freiburg; 17 Briefe, 4 Postkt. (1944–1958) im Nl. Schmitt. 326  s. Schmittiana VI, S. 300–302.

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interessierten Europäer beschäftigen. Es ist mir erst bei der Lektüre dieses sachlichen Aufsatzes recht zum Bewusstsein gekommen, mit welcher Dreis­ tigkeit die in Deutschland maßgebenden Professoren das französische Den­ ken vernachlässigt und ignoriert haben; ihren dummen Positivismus lassen sie heute naturrechtlich unterwandern, statt die Augen auf zu machen. Ich hoffe, dass Ihr Aufsatz bald erscheint und seine Wirkung tut. Lassen Sie sich von Ihrer eigentlichen Arbeit an einem Buch nicht zu sehr durch viele kleine Aufsätze etc. abhalten! Dafür, dass Sie P. Tommissen eini­ ge Hinweise geben wollen, bin ich Ihnen sehr dankbar. Wenn das Institut für Europ. Geschichte Ihnen ein Stipendium geben soll (was sehr zu wünschen wäre), dürfen Sie auch Prof. Lortz nicht vernachlässigen. Aus Paris erhielt ich Nachricht von Mme Ponceau, dass sie vom 3.–30. Au­ gust in Baden-Baden ist. Wahr[scheinlich] muss ich dann für einige Tage dorthin fahren. Ich würde dann nach Mainz kommen und versuchen, Sie zu treffen. Wir können uns dann auch über die Jean-Bodin-Gesellschaft unter­ halten. Die meisten solcher Gesellschaften sind in festen Händen und können einen unabhängigen Mann wie mich nicht vertragen. Es wird noch lange dauern, bis die Folgen der Jahre 44/45, résistance und Remigration, einiger­ maßen geheilt sind. Werner Kaegi’s Buch werde ich mir besorgen. Den Duverger habe ich erhal­ ten, aber wohl noch nicht bezahlt. Welche Schriften von Polak und Hans Mayer meinen Sie? Ich hoffe, dass Sie die Feier auf der Rheinterrasse in Düsseldorf in guter Erinnerung behalten und dass wir uns bald zu einem ausführlicheren Ge­ spräch treffen werden. Stets Ihr alter Carl Schmitt 66. 1953-07-27 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14233, ms.

Mainz, den 27. Juli 1953 Sehr geehrter Herr Professor! Für Ihren freundlichen Brief danke ich Ihnen herzlich. Ihre Bemerkungen zu meinem Beitrag haben mich von einer großen Sorge befreit. Mit Recht haben sie darauf hingewiesen, wie sehr die deutsche Staatsrechts­ lehre die französischen Denker vernachlässigt hat. Hauriou z. B. ist eine



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wahre Fundgrube für jeden Staatsrechtler. Aber auch das französische Verwal­ tungsrecht könnte uns viele Aufschlüsse geben. Ich denke nur an den Wandel des Begriffes der services publics und an die Organisationsformen der Ver­ waltung wie établissement public, gemischtwirtschaftliche Unternehmen etc. Es ist geradezu frappant, welche Parallelen sich zum deutschen Verwaltungs­ recht ergeben. Der einzige Deutsche, der auf diese Erscheinung hinweist, ist Herr Forsthoff. Nach meiner Meinung müsste das Arch. f. öff. Recht viel mehr auf diese Dinge hinweisen. Die Revue de droit public ist in dieser Hinsicht, auch noch in anderer, wesentlich besser als das Archiv, in dem eine gewisse Inzucht getrieben wird. Vielleicht kann ich wieder ein Doktorthema „verge­ ben“, wie das mir bereits zweimal gelungen ist. Dann soll der Kollege über den Wandel des Begriffs der services publics promovieren. Bei meinen völkerrechtlichen Studien bin ich bei der Lehre von der Anerken­ nung hängengeblieben. Ich habe kaum eine schwierigere Materie gefunden. Wahrscheinlich ist die Lehre auf diesem Gebiet verworren, weil man an den Tatsachen vorbeigeht. Ich habe auch auf die Kritik Wehbergs an Ihrer Dar­ stellung der Lehren Ayalas und Gentilisʼ327 (Mangel an Zitaten) hin deren Werke selbst studiert. Ihre Hinweise auf Ayalas Leistungen sind völlig rich­ tig. Das II. Kapitel des 1. Buches ist wirklich eine große Leistung, nicht humanistisch, sondern juristisch im wirklichen Sinne des Wortes. Auch der Hinweis auf die Formalisierung des Kriegsbegriffes ist zutreffend. (I, II, 34). Wichtig: eoque sensu iustum bellum dicitur, quod publice legitimeque geritur ab iis, qui belligerandi ius habent.328 Auch Ihre ausgezeichneten Darlegungen über Gentilis sind hieb- und stich­ fest. Vor allem Ihre Hinweise auf die relativierenden Zweifel des Humanisten haben mir sehr gut gefallen: Et vero in facto proprio nec nostris probari ig­ norantia solet. Sed in alieno facto est, quod in aliis est statibus. Huc adigit nos humanae nostrae conditionis infirmitas: per quam sunt nobis in tenebris omnia: et purissimum illud, atque verissimum iustum ignoratur, quod non ferret duos litigare iuste … (I, VI, 46, 47).329 327  Hans Wehberg, Vom Jus Public um Europaeum, in: Die Friedens-Warte, 1951, H. 4, S. 305–314. – Die Völkerrechtler Balthasar Ayala (1548–1584), und Albericus Gentilis (1552–1608) waren für Schmitt wichtige Gewährsleute für die Umwandlung mittelalterlicher gerechter Kriege in nicht diskriminierende Staatenkriege; statt an den Grund wird der Krieg von ihnen an die Form gebunden. Schmitt zitiert aus folgenden Büchern: Balthasar Ayala, De jure & officiis bellicis, & disciplina militari, libri III, Antwerpen 1597 (moderne lat.-engl. Ausg. Wahington 1912); Albericus Gentilis, De jure belli, libri III, Hanau 1598 (moderne lat.-engl. Ausg. Oxford 1933); vgl. Nomos, S.  123 ff. 328  „in dem Sinn wird ein Krieg gerecht genannt, weil er öffentlich und den Geset­ zen gemäß geführt wird von denen, die das Recht haben, Krieg zu führen“. 329  „Und in der Tat ist es nicht üblich, Unwissenheit in unseren eigenen Taten zu beweisen. Aber anders ist es in anderen Staaten. Hierzu zwingt uns die Unsicherheit

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Angesichts dieses Hinweises auf die conditio humana, die ja zum christli­ chen Menschenbild gehört, ist mir erst klar geworden, wie unchristlich die Vertreter des modernen bellum iustum denken, selbst wenn sie katholische Hausjuristen sind. Vermisst habe ich im „Nomos der Erde“ einen kurzen Hinweis auf die völ­ kerrechtlichen Ideen der französischen Revolution. Der Aufsatz von Redslob über dieses Thema ist wirklich schreckenerregend: Er begrüßt diese Ideen als Fortschritt!330 Ich glaube, dass die Ideen der Revolutionäre und der Leute der Restauration auf dem Gebiete der Intervention manchen Aufschluss über die Herkunft der modernen Interventionslehre geben können. Schließlich brach schon damals der Bürgerkrieg durch und wurde der Staatenkrieg zurückge­ drängt. Allerdings brauchen zwischen den Revolutionslehren und der moder­ nen Interventionslehre keine Vaterschaftsbeziehungen zu bestehen: Die Ähnlichkeit beruht auf der Erscheinung des Bürgerkriegs. Ich habe in meiner Dissertation, die ich Ihnen demnächst schicken werde, darauf hingewiesen, dass sich die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland nach 1648 ebenfalls auf festgefrorener Bürgerkriegsebene abspielten: Daher die Garan­ tie der Verfassung durch die ausländischen Mächte. – Vielleicht darf ich mich bei Ihrem angekündigten Besuch in Mainz, auf den ich mich sehr freue, mit Ihnen über dieses Thema unterhalten. Das Buch von Duverger ist bezahlt, denn Sie hatten mir bei der Bezahlung von Bodins Werken 15 DM zuviel geschickt. Von Marcel Waline habe ich einen schönen Brief erhalten. Er beklagt sich darüber, dass seine Schrift „Les partis contre la République“ im Ausland mehr geschätzt wird als in Frank­ reich. Auch dort scheint der Prophet im eigenen Lande nichts zu gelten. Die Arbeit meines Bekannten über den rechtsstaatlichen Verfassungsvollzug macht gute Fortschritte. Ich diskutiere häufig mit ihm. Vor einigen Tagen erst stießen wir auf die Frage, ob der Richter auf Grund der Verfassung Ansprü­ che schaffen kann, wenn doch die Staatsaugaben nur durch Gesetz festgelegt werden können. Ausgaben können nur von demjenigen gemacht werden, der auch die Einnahmen bestimmt? Ihren Hinweis, mich nicht durch kleine Ar­ beiten von einer großen Arbeit abhalten zu lassen, habe ich mit allem Ernst angenommen. Leider werde ich vor dem Assessor-Examen wenig für eine große Arbeit tun können. Da ich aber bis zum Beginn einer solchen Arbeit wenigstens einige Veröffentlichungen vorlegen möchte, bin ich gezwungen, einige kleinere Arbeiten zu machen. Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, dass unseres menschlichen Daseins, durch die wir alle in Finsternis sind, und uns das Reinste und höchste Rechte unbekannt ist, welches zweien nicht erlauben würde, gerecht zu streiten.“ 330  Robert Redslob, Völkerrechtliche Ideen der französischen Revolution, in: Fest­ gabe für Otto Mayer zum 70. Geb. 29. März 1916, Tübingen 1916, S. 273–301.



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ich hier in Mainz allein bin und die zuständigen Leute erst einmal auf mich aufmerksam machen muss. Wenn ich nämlich nach dem großen Examen ein Stipendium haben will, muss ich einige kleine Nachweise bringen. Ich werde jedoch auf keinen Fall die große Arbeit vernachlässigen. Wenn es Ihnen möglich ist, dann senden Sie mir bitte wieder Ihren Aufsatz über die Legis­ ten, denn hier ist kein Exemplar davon aufzutreiben. Die Schriften von Hans Mayer und Karl Polak sind:

H. M., Karl Marx und das Elend des Geistes, Meisenheim 1948 K. P., Die Weimarer Verfassung, Berlin 1950

Sollten sie Ihnen nicht zugänglich sein, so schicke ich sie Ihnen gerne. Mit freundlichem Gruß stets Ihr ergebener [hs.:] Roman Schnur 67. 1953-08-31 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14234, ms.

Mainz, den 31. August 1953 Nik. Beckerstraße 10 I [daneben von C. S.:] b. 18/9331 u. stenogr. Notiz

Sehr geehrter Herr Professor! Anbei übersende ich Ihnen ein Exemplar meiner Dissertation.332 Ich darf Sie bitten, die ziemlich zahlreichen Schreibfehler wohlwollend zu übersehen. Auch im theoretischen Teil der Arbeit sind Stellen, die ich heute anders ­schreiben würde. Ich habe diesen Teil der Arbeit vor etwa einem Jahr ge­ schrieben. Den im „Nomos“ zitierten Aufsatz von Edwin D. Dickinson über die Trans­ formationslehren habe ich mittlerweile gelesen.333 Er gefällt mir recht gut. Doch glaube ich, dass das Verdienst, auf die naturrechtlichen Grundlagen des Satzes „international law is a part of the law of the land“ hingewiesen zu 331  Fehlt.

332  Die ms. Fassung befindet sich mit stenogr. Anm. Schmitts auf separatem Blatt im Nl. Schmitt (RW 0260–29). 333  Im Nomos (S. 119) zitiert Schmitt: Edwin de Witt Dickinson, International Per­ sonal Analogy, in: The Yale Law Journal 22, 1916/17, S. 564–589. Diesen Aufsatz meinte Schnur jedoch nicht, s. folgenden Brief.

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haben, nicht Dickinson, sondern Triepel zukommt, der in seinem berühmtern Werk bereits auf den Wandel der Theorien hingewiesen hat.334 Ich habe gerade in der Anerkennungslehre festgestellt, wie wichtig es ist, den geschichtlichen Wandel von Theorien im Auge zu behalten. Wenn man liest, wie Fischer-Williams in seiner Haager Vorlesung335 die konstitutive Theorie ablehnt mit dem Hinweis, die Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns hätten bis zur Anerkennung doch nicht ohne Völkerrecht sein können, weil sie, d. h. deren Bewohner vorher noch den Schutz des Völkerrechts genossen hätten, so sieht man, dass zwischen einem solchen Fall und dem eines erst zum Staat im europäischen Sinne gewordenen Gebietes doch erhebliche Unter­ schiede bestehen. Wo es kein europa-zentrisches, sondern nur noch ein uni­ versalistisches Völkerrecht gibt, ist die konstitutive Lehre abzulehnen. Dann gibt es keinen „Klub“ mehr, in den jemand aufgenommen werden kann. Es sei denn, man führt an Stelle der Unterscheidung im Jus publicum europae­ um zwischen Staaten und Nicht-Staaten die (von den USA gewünschte) Un­ terscheidung zwischen freiheitlichen und nicht-freiheitlichen Staaten ins Völkerrecht ein. Dann sind die freiheitlichen wieder in einem Klub, so dass die Aufnahme der Anderen wieder konstitutiv wirkt, weil vor der Anerken­ nung die Anderen ohne Recht sind. Ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass über die Geschichte der Anerkennung etwas Grundlegendes geschrieben wird. Sonst bleibt die Lehre von der Aner­ kennung in fruchtlosen Thesen und Anti-Thesen stecken. Wie fruchtbar der Hinweis auf die geschichtliche Entwicklung ist, haben Sie bei der Darstellung der Staaten-Sukzession bewiesen.336 Das haben Ihre Kri­ tiker ja auch anerkannt. Wenn man im Ausland vom „Nomos“ keine Notiz nimmt, so ist es kein Wunder, dass Ihre Ergebnisse dort nicht ausgewertet werden. Das gilt natürlich auch für die Interventionstheorien. Ein Mann wie Georg Stadtmüller schreibt eine Geschichte des Völkerrechts, ohne sich bis dato überhaupt als Kenner dieser Geschichte ausgewiesen zu haben.337 – Ich erlaube mir, Sie auf das Septemberheft von „Wort und Wahrheit“ auf­ merksam zu machen. Dort soll eine Glosse von mir über die französische Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899 [u. ö.]. Fischer Williams (1870–1947), Völkerrechtler. „Haager Vorlesung“ be­ zieht sich vermutlich auf: John Fischer Williams, The new doctrine of „recognition“, in: Problems of peace and war (Transactions of the Grotius Society 18), London 1933, S. 109–129 („Read before the Grotius Society on June 30, 1932“). Vgl. C. Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, 2. Aufl. 1988, S. 26, Anm. 26. 336  Nomos, S.  165 ff. 337  Georg Stadtmüller (1909–1985), Historiker, schrieb: Geschichte des Völker­ rechts, 1: Bis zum Wiener Kongreß (1815), Hannover 1951. 334  Heinrich 335  John



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Krise erscheinen.338 Sie ist Gelegenheitsarbeit. Sie hatte ursprünglich eine andere Form und teilweise einen anderen Inhalt; ich habe sie dann für die Zeitschrift umgeschrieben. Hoffentlich gefällt sie Ihnen. Erfreulich für mich ist der Wunsch der Redaktion von „Wort und Wahrheit“, mit mir in Verbindung zu bleiben. Ich hätte große Lust einen Aufsatz zu schreiben, der den Titel tragen könnte „Gewerkschaft und Staat. Zur Staats­ lehre des DGB“. In den „Gewerkschaftlichen Monatsheften“ ist einiges über dieses Thema erschienen. Auch die anderen Publikationen des DGB sowie einige bedauerliche Urteile von Arbeitsgerichten sind aufschlussreich. Vor allem hat mich erschreckt, dass ein Gericht dem DGB das Recht zuspricht, in Notlagen einen politischen Streik zu inszenieren.339 Das Recht, darüber zu entscheiden, soll natürlich beim DGB liegen. Gerade um solche Situationen zu überwinden, wurde der moderne Staat (Bodin etc.) geschaffen. Ich verste­ he nicht, weshalb Juristen, die doch dem Staate zugeordnet sind, gegen sol­ che Theorien nicht energisch einschreiten! Demnächst bestimmen auch noch die Gewerkschaften, was „öffentlich“ ist. Dann zieht der Jurist sich am bes­ ten aus der Öffentlichkeit zurück! Mit herzlichem Gruß bin ich stets Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 68. 1953-09-23 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 579 Nr. 335, ms.

Mainz, den 23. September 1953 Sehr geehrter Herr Professor! Für Ihren sehr schönen Brief vom 18. September danke ich Ihnen herzlich. Es freut mich sehr, dass Ihnen einige Stellen meiner Dissertation gefallen.340 Mit dem theoretischen Teil bin ich selbst recht unzufrieden, weil ich die Verbindung zum anderen Teil der Arbeit nicht gefunden habe. Eigentlich wollte ich den theoretischen Teil ganz knapp machen. Als ich mich mehr in Schnur, Nicht nur die ‚Vierte Republik‘, in: WuW 8, 1953, S. 792 f. Streik der Zeitungsbetriebe 1952 urteilte das Freiburger Landesarbeitsge­ richt, dass der Zeitungsstreik rechtswidrig ist, politische Streiks aber nicht grundsätz­ lich verfassungswidrig sind. 340  Schnur reichte 1953 seine Dissertation „Der Rheinbund von 1658 in der deut­ schen Verfassungsgeschichte“ ein. Sie erschien im folgenden Jahr im Bonner Verlag Röhrscheid als Band 47 der Reihe „Rheinisches Archiv“. 338  Roman 339  Zum

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die verfassungsrechtlichen Probleme jener Zeit vertiefte, merkte ich, dass fast jeder Autor etwas anderes schreibt und ich deshalb meine Ansichten darlegen müsste. Für Kenner der Verfassung des Reiches ist der theoretische Teil weitgehend überflüssig. Ich aber wusste nicht, ob ich in der Kommission Kenner haben werde. Hinweise auf den Regensburger Reichstag von 1630 habe ich mehrmals ge­ funden, doch weil sie inhaltlich übereinstimmen, habe ich nur das eine Zitat gebracht. Vor dem Ausnahmezustand hatte man wirklich große Angst. Das rechtfertigt nicht, dass man deshalb die Augen verschloss und ihn überhaupt nicht sehen wollte. Was meinen Hinweis auf den Aufsatz von Dickinson betrifft, so bitte ich um Verzeihung, dass ich den falschen Aufsatz zitiert habe. Ich meinte nämlich den Aufsatz von Dickinson, den Sie im Beitrag zur Streit-Festschrift anfüh­ ren.341 Ich habe inzwischen erfahren müssen, welche Abgründe die Anerkennungs­ lehre hat. Bei Kunz habe ich allerdings einige brauchbare Hinweise gefun­ den.342 Leider behandelt er absichtlich nicht die Aufnahme in die Völker­ rechtsgemeinschaft, sondern bloß die Anerkennung von neuen Staaten auf altem Völkerrechtsgebiet. Dadurch geht seinen Darlegungen viel verloren, denn gerade die Vergleiche hätten die Unterschiede deutlich gemacht. Das Werk von Lauterpacht ist in mancher Hinsicht aufschlussreich, doch über­ sieht Lauterpacht das Entscheidende, indem er die beiden Arten der Anerken­ nung nicht unterscheidet.343 Das entsprechende Werk des Chinesen Chem ist vom (rot-)chinesischen Standpunkt geschrieben und deshalb nicht ohne Rei­ ze.344 In dem Buch von Spiropoulos über die de-facto-Regierung steht der schöne Satz: „Allerdings praktisch-politisch stellt sich die Wilsonsche Forde­ rung der Legalität … als reine Erpressung dar.“345 Ob der Verfasser heute noch zu seinem Wort steht?

341  Beitrag zur Streit-Festschrift: Carl Schmitt, Über die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Rechtssystems; jetzt in: PuB, S. 297–308. Schmitt zitiert hier (S. 300) den „außerordentlich interessanten Aufsatz ‚Changing Concepts and the Doctrine of Incorporation‘ (American Journal of International Law 1932, S. 239–260“ von Di­ ckinson. 342  Josef Laurenz Kunz (1890–1970), österr.-amerik. Völkerrechtler. Schnur be­ zieht sich hier auf sein Buch „Die Anerkennung von Staaten und Regierungen im Völkerrecht (Handbuch des Völkerrechts Bd 2, Abt. 3)“, Stuttgart 1928. 343  Hersch Lauterpacht (1897–1960), österr.-brit. Völkerrechtler. Hier ist die Rede von „Recognition in international law“, Cambridge 1948 [u. ö.]. 344  Nicht ermittelt. 345  Iohannis G. Spyropoulos, Die de facto-Regierung im Völkerrecht (Beiträge zur Reform und Kodifikation des Völkerrechts, 2), Kiel 1926, S. 46.



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Ich habe Herrn v. d. Heydte angeregt, im Wintersemester ein Seminar über ausgewählte Entscheidungen des StJGH346 und des IGH abzuhalten. Ich wer­ de dabei assistieren, d. h. bei der außerwissenschaftlichen Tätigkeit des Herrn v. d. Heydte werde ich das Seminar alleine abhalten dürfen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich Ihre Meinung über diese Sache wissen ließen. Aus bestimmten Gründen muss ich hier einmal mit den Wölfen heulen. Über die erwähnte Angelegenheit in der Zeitschrift „Wort und Wahrheit“ kann man nur den Kopf schütteln. Um so erstaunter ist es, dass Herr Schul­ meister meine Glosse akzeptiert hat, obwohl ich auf meine Verbindung zu Ihnen hingewiesen habe.347 Leider erscheint sie doch erst im Oktober-Heft, weil sie erst Ende August in Wien eingegangen ist. Hoffentlich hat man dies­ mal nichts gestrichen. Es sind einige Formulierungen in der Glosse, auf die es mir entscheidend ankommt. So habe ich geschrieben, dass die Frage „Par­ teienstaat oder was sonst?“ irreführend ist und an Demagogie grenzt. Nach der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer möchte ich gerne mit Herrn Forsthoff Verbindung aufnehmen, um ihn darauf hinzuweisen, dass entgegen seinen Darlegungen auch Frankreich in der Krise der Organisation der services publics steckt.348 Herr Forsthoff hat keine neuere Literatur be­ nutzt, so dass er die Entwicklung, die unter Pétain einsetzte, nicht übersehen konnte. Die Leitungsverbände etc. haben auch in Frankreich die Juristen vor große Schwierigkeiten gestellt. Es ist sogar eine sehr beachtliche Thèse über dieses Thema geschrieben worden: Les crises de la notion d’établissement public von Drago.349 Waline hat ein Vorwort dazu geschrieben. Diesen Ge­ lehrten lerne ich immer mehr schätzen. Er kommt in der Denkweise sehr an Herrn Forsthoff heran. (Im übrigen dürfte er gaullistischen Ideen nahe ste­ hen – er ist mit René Capitant befreundet!350). Ich habe beim Archiv ange­ fragt, ob man dort einen kleinen Aufsatz veröffentlichen will, der auf die 346  Gemeint

wohl: StGH = Staatsgerichtshof. Schulmeister (1886–1969), österr. Journalist, von 1947 bis 1968 Mithrsg. und Chefredakteur von WuW; vgl. oben Nr. 67. 348  Auf der Staatsrechtslehrertagung 1953 in Bonn hielt Forsthoff den Vortrag „Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates“; vgl. Meinel, S. 369 ff. 349  Roland Drago, Les crises de la notion d’établissement public. Préface de M. Marcel Waline, Paris 1950. 350  René Capitant (1901–1970), lernte Schmitt 1931 kennen und war mit ihm wäh­ rend eines Studienaufenthalts in Berlin bis 1938 in einem intensiven Gespräch, wurde 1939 Prof. für Öffentliches Recht in Straßburg. Im Krieg schloss er sich der Résis­ tance an, wurde Mitarbeiter de Gaulles, Justizminister unter Pompidou und Couve de Murville. Seit 1951 war er auch Prof. an der Universität Paris. Schmitt und Capitant schätzten sich ungeachtet politischer Gegensätze sehr, Capitant übersetzte Schmitt, den er mit Maurice Hauriou verglich, ins Französische; 2 Briefe (1933, 1938) im Nl. Schmitt. 347  Otto

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französischen Schwierigkeiten auf dem Gebiet der Verwaltungsorganisation hinweisen soll. Leider habe ich bis jetzt noch keine Antwort erhalten. Sollten Sie auf einer Durchreise in Frankfurt sein, so wäre ich froh, wenn ich Sie dort sprechen könnte. Die Entfernung von Mainz nach Frankfurt ist ge­ wiss kein Hindernis. Mit herzlichem Gruß bin ich stets Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 69. 1953-10-10 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14235, ms.

Mainz, den 10. Oktober 1953 Sehr geehrter Herr Professor! Ich erlaube mir heute, Sie auf Folgendes hinzuweisen: Wie ich gehört habe, haben Sie Herrn Joachim Kaiser auf dessen Besprechung des Buches von Mendelssohn einen Brief geschrieben, in welchem Sie der Besprechung zu­ gestimmt haben.351 Da Herr Kaiser zu dem Adorno-Kreis in Frankfurt gehört, befürchte ich, dass Ihr Brief möglicherweise an eine falsche Adresse, um es so auszudrücken, geraten ist. Sollte Herr Adorno irgendwie von diesem Brief Kenntnis erlangt haben, so wäre das wohl nicht gerade günstig.352 Diesen Hinweis erlaube ich mir, weil ich die Verhältnisse in Frankfurt etwas kenne und Sie davor warnen möchte.

351  Joachim Kaiser (1928–2017), Musik- und Literaturkritiker. In seinem Buch „Der Geist in der Despotie“ (Berlin 1953) untersucht Peter de Mendelssohn die Rolle der Schriftsteller Hamsun, Giono, Jünger und Benn während des Dritten Reiches und fällt harsche Urteile. Dazu schrieb Joachim Kaiser in der FAZ vom 3. Okt. 1953: „Das Unbehagen, das auch profaschister Einstellung unverdächtige Leser angesichts einer solchen Überprüfung spüren, findet seinen Grund eben darin, dass nicht Bücher, sondern Menschen beurteilt, verurteilt wurden, und zwar von einem Richter nicht gleichen Ranges. […] Mendelssohn kennt kein Innehalten, er ist vielmehr froh, die Totschlagformel gefunden zu haben und benutzt sie unablässig.“ Daraufhin schrieb Schmitt am 3. Okt. 1953 an Kaiser und bedankte sich für dessen Besprechung; RW 265–13134. 352  Theodor W. Adorno (1903–1969), Philosoph, Soziologe, Musikkritiker. Joa­ chim Kaiser machte Adorno auf sich aufmerksam mit seiner Besprechung von Ador­ nos „Philosophie der neuen Musik“ (in: Frankfurter Hefte 6, 1951, S. 435–440). Da­ raufhin entstand ein näherer Kontakt.



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Die Redaktion von „Wort und Wahrheit“ hat an meiner Glosse nichts gestri­ chen. Auf einen Aufsatz über die Staatsauffassung des DGB legt sie augen­ blicklich keinen Wert, weil ja „Verhandlungen“ im Gange seien und man diese nicht stören soll. Zu dieser Äußerung ist wohl ein Kommentar über­ flüssig. Frau Grewe hat mir mitgeteilt, dass das Archiv des öffentlichen Rechts an einem kurzen Aufsatz über die Krise des Begriffs der services publics in Frankreich sehr interessiert sei.353 Ich habe daraufhin den Aufsatz niederge­ schrieben. In einigen Tagen werde [ich] Ihnen einen Durchschlag des Manu­ skripts schicken dürfen. Allerdings hat es mit kurzen Aufsätzen über so schwierige Themen immer seine besondere Bewandtnis. Geht man jedoch zu sehr ins Einzelne, dann interessiert es den Leser wenig, so dass die Absicht des Verfassers nicht durchdringt. Ich glaubte aber doch, den Aufsatz in seiner jetzigen Form abfassen zu können, damit überhaupt bei uns falsche Vorstel­ lungen beseitigt werden und man sich etwas mehr für das französische öf­ fentliche Recht erwärmt. Ich bedauere sehr, dass Herr Professor Weber keine größere Schrift über das Gebiet der Verwaltungsorganisation vorlegt. Er wäre sicher der berufene Mann dazu. Frankreich verfügt augenblicklich über drei neue Lehrbücher des Verwal­ tungsrechts. Der Stand der Diskussion über gewisse Probleme ist dort so, dass man die Franzosen nur beneiden kann. Ob sich nicht einmal deutsche und französische Verwaltungsjuristen über die gemeinsamen Probleme unter­ halten könnten? Die Frage nach der Abgrenzung des öffentlichen vom privaten Recht ist in Frankreich genauso wichtig wie bei uns. Man hat jedoch dort klar erkannt, worauf die Schwierigkeiten der Trennung beruhen. Bei uns sind es noch immer fast nur Ihre Schüler. Die anderen diskutieren häufig im luftleeren Raum. Vielleicht könnte man doch die kompetenten Juristen beider Länder in ein Gespräch bringen. Wo für „europäische“ Propagandareden so viel ausge­ geben wird, könnte man für eine wirklich wissenschaftliche Tagung auch etwas ausgeben. Mit vorzüglicher Hochachtung bin ich Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur

353  Marianne Grewe, geb. Partsch (1913–2004), Juristin unsd Verlegerin, Ehefrau von Wilhelm Grewe, Mitherausgeber des AöR.

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1953 – Roman Schnur an Carl Schmitt

70. 1953-10-19 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14236, ms.

Merzig, den 19.10.1953 Sehr geehrter Herr Professor! Ich erlaube mir, Ihnen eine Abschrift des Aufsatzes zu überreichen, den ich dem Archiv des öffentlichen Rechts einsenden möchte.354 Für eine kritische Stellungnahme wäre ich Ihnen sehr dankbar. Der Aufsatz hat mehr als eine schwache Stelle … Doch glaubte ich, den Aufsatz überhaupt einmal schreiben zu sollen, damit die irrtümliche Behauptung Herrn Forsthoffs in seinem Lehrbuch (2. Aufl. S. 281) beseitigt wird.355 Gewiss hätte ein erfahrener Lehrer des öffentlichen Rechts den Aufsatz besser geschrieben, aber vergleichende Arbeit, wie Sie sie so vorzüglich geleistet haben, steht heute anscheinend nicht hoch im Kurs. Ich selbst wollte mit diesem Aufsatz eine Parallele zu dem Aufsatz über Maxime Leroy geben – auf dem Gebiete des Verwaltungsrechts. Aller­ dings wird man wohl merken, dass ich das hier behandelte Gebiet nicht so lange kenne wie das Werk Maxime Leroys. Ich habe mich gefreut zu lesen, dass das Darmstädter Gespräch nicht hervor­ ragend war.356 Wenn Leute ein Gespräch beginnen, sollten sie nicht verges­ sen, dass man etwas zu sagen haben muss. Die meisten der Teilnehmer am Darmstädter Gespräch werden wohl nur wenig zu sagen haben. Hans Naumann wird demnächst die Besprechung des „Nomos“ für die Zeit­ schrift „Diogenes“ fertigstellen. Ehe er mit der Niederschrift beginnt, werde ich eingehend mit ihm über den „Nomos“ diskutieren.357 Seine Besprechung von Hendrik de Mans Erinnerungen in der FAZ werden Sie ja gelesen haben.358 Schnur, Zur Krise des Begriffs der services publics; s. Nr. 49. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 2. durchges. Aufl., München 1951. Auf S. 281 heißt es, dass das französische Verwaltungsrecht im Vergleich zum deutschen sich in einer wesentlich günstigeren Lage befinde, „weil ihm in den servi­ ces publics ein gefestigter Gesamtbegriff öffentlichen Rechts zur Verfügung steht“. Das weist Schnur (AöR 79, 1953/54, S. 419) als veraltet zurück. 356  Die Darmstädter Gespräche fanden seit 1950 unregelmäßig statt. Vom 26. bis 28. Sept. 1953 standen sie unter dem Thema „Individuum und Organisation“. Die Diskussionsleitung lag bei Th. W. Adorno; zu den Teilnehmern gehörten auch Sava Kličković und Armin Mohler, von denen Schmitt vielleicht informiert worden war. 357  Eine Besprechung des „Nomos“ durch Hans Naumann ist nicht bei AdB nach­ gewiesen. 358  Hendrik de Man (1885–1953), sozialistischer Theoretiker, Politiker und Publi­ zist; seine Erinnerungen „Gegen den Strom. Memoiren eines europäischen Sozialis­ 354  Roman 355  Ernst



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Von Hohoff ist ein Aufsatz im Hochland über das „Magische Ich Ernst Jün­ gers“ angekündigt worden.359 Der Titel verspricht einiges. Hoffentlich hält der Aufsatz, was der Titel verspricht. Indem ich Ihre Kritik am übersandten Aufsatz erwarte bin ich stets Ihr [hs.:] Roman Schnur P. S. Ab 26.10. bin ich wieder in Mainz 71. 1953-10-23 Carl Schmitt an Roman Schnur RW 265 Nr. 13499, ms. (Durchschlag); Orig. fehlt

23.10.53 Lieber Roman Schnur. Das Manuskript Ihres verwaltungsrechtlichen Aufsatzes über service public habe ich mit großem Nutzen gelesen; die deutschen Juristen müssten Ihnen dankbar dafür sein. Natürlich ergeben sich jetzt tausend neue Fragen, aber es ist schon ein gutes Werk, einen eisernen Vorhang etwas zu lüften. Soll ich das Manuskript zurückschicken? Ich wollte heute nur den Empfang bestäti­ gen und Ihnen einen Durchschlag meines Schreibens an Joachim Kaiser zu Ihrer Information schicken.360 Ich kenne ihn nicht persönlich und dachte mir, er gehörte zu der Gruppe Nette, Robert Held361 und andern von der Feuille­ ton-Redaktion der FAZ, mit denen ich gut bekannt bin und die ich für an­ ständige Menschen halte. Sollte Herr Joachim Kaiser das nicht sein, so wäre es auch kein Unglück für mich. Wenn er nicht einmal merkt, dass der Brief für ihn eine Probe bedeutet, ist es gleichgültig, was er damit macht. Hoffentlich bald mehr. Für heute nur diese Mitteilung und viele herzliche Grüße Ihres alten [o. Unterschrift] ten“ erschienen 1953. Naumanns Besprechung erschien unter dem Titel „Sozialist, Reaktionär, Ketzer?“ im Literaturblatt der FAZ vom 17. Okt. 1953. (Frdl. Mitteilung von Peter Hoeres). 359  Curt Hohoff, Das magische Ich bei Ernst Jünger, in: Hochland 46, 1953/54, S. 81–92. 360  s. oben, Nr. 69. 361  Robert Held (1922–1986), Journalist, von 1962 bis 1974 Feuilletonchef der FAZ.

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72. 1953-10-26 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14237, ms.

Mainz, den 26.10.1953 Nik. Beckerstraße 10 I Sehr geehrter Herr Professor! Für Ihren Brief vom 23.10. danke ich Ihnen herzlichst. Ich habe einige Tage Urlaub in Merzig verbracht und habe nun noch einige freie Tage hier in Mainz. Das Manuskript meines Aufsatzes benötige ich nicht. Ich darf Sie bitte, es zu behalten. Sollte Herr Grewe den Aufsatz annehmen, so werde ich allerdings noch einige Änderungen im Text vornehmen. Auch warte ich noch die Stel­ lungnahme von Marcel Martin, Maître des requêtes au Conseil d’État, ab, dem ich ebenfalls eine Abschrift des Manuskripts geschickt habe.362 Mit diesem Herrn habe ich einen Briefwechsel begonnen, der sehr fruchtbar für mich sein wird. Herr Martin beherrscht die deutsche Sprache sehr gut. Unter anderem haben wir die Frage erörtert, ob man nicht eine Arbeitstagung deut­ scher und französischer Juristen des öffentlichen Rechts anregen sollte. Herr Martin ist bereit, die nötigen Schritte in Frankreich, wo er einen nicht unbe­ deutenden Einfluss hat, zu unternehmen. Nun muss ich sehen, dass ich ge­ eignete deutsche Juristen mit Herrn Martin zusammenbringe. Ich habe bereits Herrn Grewe wegen dieser Sache geschrieben. Vielleicht lässt sich etwas machen. Die Abschrift Ihres Briefes an Joachim Kaiser ist mir sehr willkommen. Ich verstehe nicht, wie er diesen sachlichen Brief beanstanden konnte. Natürlich werde ich Hans Naumann vom Inhalt dieses Briefes Kenntnis geben, damit er noch einmal mit Herrn Kaiser sprechen kann. Wenn sich gewisse Leute über den Brief aufregen sollten, dann können das wirklich nur arme Tröpfe sein, die nichts gelernt haben. Wenn Sie das Oktober-Heft von „Wort und Wahrheit“ nicht besitzen, geben Sie mir bitte Bescheid. Ich werde versuchen, von der Redaktion noch ein Heft zu bekommen. Sie hat mir nur zwei Belegexemplare geschickt. In der Hoffnung, Sie bald wiederzusehen, bin ich Ihr ergebener [hs.:] Roman Schnur

362  Marcel

Martin (1916–2009), franz. republikanischer Politiker.



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73. 1953-10-29 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14238, ms.

Mainz, den 29.10.1953 Nik. Beckerstraße 10 I Sehr geehrter Herr Professor! Wenn ich Ihnen schon wieder einen kurzen Brief schicke, dann bitte ich Sie vielmals um Verzeihung, dass ich Ihre kostbare Zeit in Anspruch nehme. Aber ich wollte Ihnen doch eine Mitteilung machen, die Sie wohl interes­ siert. Im „Hüter der Verfassung“, S. 137,363 Fußn., zitieren Sie einen wichtigen Satz von Bodin und sagen, dass dieser zwischen auctoritas und potestas gut unterschieden habe. Bei der Lektüre des „Methodus“ (Ausg. Mesnard)364 ist mir hingegen aufgefallen, dass Bodin in diesem Werk die beiden Begriffe nicht trennt, sondern sie nebeneinander gebraucht, wobei ich sogar der Mei­ nung bin, dass er auctoritas im gleichen Sinne wie potestas verwendet. Ich meine den Abschnitt S. 173 ff. „quid magistratus“, besonders aber S. 177 ff. „status romanorum“. Selbst auf S. 179, linke Spalte ganz oben, dürfte er mit auctoritas auch nur potestas bzw. imperium meinen, weil der Ausdruck auc­ toritas für den Senat mit einer Steigerung der Befugnisse an imperium steht. Da Sie ja ebenfalls die Mesnard’sche Ausgabe besitzen, wäre es mir eine Freude, wenn Sie diese Stelle nachprüfen könnten und mir Ihre Meinung mitteilen würden. Besonders reizvoll ist es zu sehen, wie der Übersetzer ebenfalls Schwierigkeiten hat und jedenfalls in der Terminologie noch weni­ ger scharf ist als Bodin. Leider verfüge ich selbst nicht über eine Ausgabe der „Six livres“, so dass ich im Augenblick die Frage nicht weiter verfolgen kann, inwieweit Bodin in diesem Werk auctoritas von potestas durchgehend trennt. Es ist wirklich ein großer Mangel, dass eine Neuausgabe der „Six livres“ noch nicht vorliegt. Ich werde beim Verlag in Paris anfragen, wann der zweite Band der Oeuvres erscheinen wird. Mit freundlichem Gruß stets Ihr [hs.:] Roman Schnur 363  Schnur

schreibt versehentlich „197“. Bodin, La méthode de l’histoire. Trad. … et présentée par Pierre Mes­ nard, Paris 1941. 364  Jean

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74. 1953-11-30 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14239, ms.

Mainz, den 30.11.1953 Nik. Beckerstraße 10 I Sehr geehrter Herr Professor! Ich darf Ihnen heute mitteilen, dass das völkerrechtliche Seminar bei Herrn Professor v. d. Heydte bereits begonnen hat. Allerdings war Herr v. d. Heyd­ te bei der Eröffnungsansprache so wenig vorbereitet, dass es eine schlimme Panne hätte werden können, wenn die Teilnehmer einiges vom Völkerrecht wüssten. So aber blieb es bei dem Gefühl, dass es mit dem Völkerrecht eine komische und unverständliche Sache sein müsse. Den Umstand, dass Herr v. d. Heydte sich um die Einzelheiten des Seminars wenig kümmert, habe ich benutzt, um den Teilnehmern Literaturhinweise zu geben. Natürlich habe ich an erster Stelle den Nomos der Erde empfohlen, den dann einige Herren so­ gleich gelesen haben. Der Erfolg war der, dass nach einer Völkerrechtsvorle­ sung von Herrn v. d. Heydte, in welcher er sagte, Sie stellten den nackten Raum vor das Recht, ein Student im Hörsaal öffentlich erwiderte, er glaube nicht, dass Sie dem Recht eine solche Stelle zuweisen würden, dieses Prob­ lem lasse sich nicht so einfach auf eine Antithese bringen. Eine Antwort da­ rauf wurde nicht gegeben. Vor allem den Referenten über Schuldenhaftung bei Staatensukzession, Anerkennung, Verstaatlichung, Panamerikanismus und Monroedoktrin habe ich den Nomos besonders empfohlen. Herr v. d. Heydte beschäftigt sich vielleicht etwas zu wenig mit dem „alten Völ­ kerrecht“. Er meint, ein Buch wie das von G. A. Walz über Völkerrecht und staatliches Recht sei völlig veraltet.365 Ich bin gespannt, was er in dem Grundriss des Völkerrechts bringen wird, den er im Winter schreibt. Für die Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte werde ich endlich doch Maxime Leroys „Histoire des Idées sociales“ besprechen dür­ fen.366 Da hier in Mainz der Redakteur des Archivs für Rechts-und Sozial­ philosophie sitzt, werde ich versuchen, in dieser Zeitschrift Voegelins „New Science of Politics“ zu besprechen, damit dieses Buch etwas mehr bekannt wird. Ob Voegelins große Geschichte der politischen Ideen schon heraus ist, entzieht sich meiner Kenntnis.367 365  Gustav Adolf Walz, Völkerrecht und staatliches Recht. Untersuchungen über die Einwirkungen des Völkerrechts auf das innerstaatl. Recht, Stuttgart 1933. 366  Schnur besprach: Maxime Leroy, Histoire des idées sociales en France, in: VSWG 41, 1954, S. 177–180.



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Über die augenblickliche politische Situation bin ich wirklich erfreut. Sie entspricht genau dem, was ich mir seit langem gewünscht habe. Leider wei­ sen unsere Zeitungen nicht deutlich genug auf den Zusammenbruch einer „europäischen“ und „deutschen“ Außenpolitik hin, deren Grundlagen offenes Nichts oder mit religiös-humanitären Phrasen verbrämtes Nichts ist. Es be­ steht jedoch die große Gefahr, dass man eher Unheil anrichten wird, als einzugestehen, dass man keine, aber wirklich gar keine Konzeptionen hat. Ich darf hier noch etwas nachtragen und zwar einen Brief eines Deutschen an einen Russen aus dem Jahre 1821: „Vous avez le bonheur de posséder une patrie qui occupe une si grande place dans le domaine de l’histoire mondiale et qui, sans doute, possède une desti­ nation encore beaucoup plus haute. Les autres États, semblerait-il, ont déjà plus ou moins atteint le but de leur évolution; peut-être, plusieurs parmi eux auraient-ils déjà passé le point culminant de celle-ci et leur état serait devenu statique; tandis que la Russie, peut-être déjà la puissance la plus forte parmi les autres, porterait dans son sein une possibilité énorme de sa nature in­ time.“368 Sie wissen sicher, dass der Briefschreiber Hegel war. Brief an Üxküll vom 28.11.1821. Das Zitat, ins Französische übersetzt, fand ich in Eric Weil, Hegel et l’État.369 Mit freundlichem Gruß bin ich stets Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 75. 1953-12-04 Carl Schmitt an Roman Schnur 127–128, hs., Postkt.

4/12 53 Mein lieber Roman Schnur, ich hatte gehofft, Sie am 21/11 in Köln zu sehen (Ac.[ademia] Mor.[alis] Vortrag Scheibert, der übrigens fabelhaft war, wie eine fliegende Unter­ 367  Eric Voegelin, The new science of politics. An introduction, Chicago 1952 (­Bespr. Schnurs nicht ersch.). Voegelins achtbändige „History of political ideas“ ist 1997–1999 bei Univ. of Missouri Press (Columbia) erschienen. 368  Ab „tandis que“ von C. S. angestr. 369  Eric Weil, Hegel et l’état, Paris 1950, S. 102. Original in: Friedhelm Nicolin/ Johannes Hoffmeister (Hrsg.), Briefe von und an Hegel, Bd. 4/2, Hamburg 1981, S.  297 f.

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tasse);370 am 12. oder 13/12 werde ich in Koblenz sein. Heute will ich vor allem den Empfang Ihres Briefes vom 30/11 bestätigen (die Stelle aus dem Hegel-Brief ist sehr wichtig; wie ist denn das Buch von Eric Weil?) und Sie um einen Gefallen bitten: Könnten Sie mir baldigst 2 Exemplare von Heft 5/53 der Zeitschrift „Besinnung“, Verlag Glock & Lutz, Nürnberg besorgen, wo ein Aufsatz von P. Erich Przywara „Botschaft“ stehen soll mit einer Stel­ lungnahme zum „Nomos der Erde“?371 Legen Sie den Betrag bitte aus. Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür; es gibt in Mainz sicher eine Buchhandlung, die solche Literatur besorgt (hier gibt es das nicht). Nehmen Sie sich Zeit und lesen das Nomos-Corollarium „Nehmen – Teilen – Weiden“ in Ruhe durch; dort ist viel Gold vergraben, wer es findet, der soll es haben.372 Wört­ licher Satz aus der Sylvester-Predigt 1946 des H. Herrn Erzbischofs von Köln, Joseph Kardinal Frings: „Der Einzelne darf in der Not nehmen, was er zur Erhaltung des Lebens und der Gesundheit notwendig hat, wenn er es nicht erarbeiten oder erbitten kann.“373 Welcher Redakteur des Arch.[iv]  f.[ür] Rphi.[Rechtsphilosophie] sitzt in M.[ainz]? Klug hat Maiwald vor 2 Jahren schriftlich mitgeteilt, die Red. des Arch. f. Rphi. betrachte es als eine Ehrenkränkung der Mitglieder der Vereinigung, ein Buch von mir (es handelt sich um den Nomos) zu besprechen.374 In dem Dilemma zwischen Totschlagen und Totschweigen haben sie sich für Totschweigen entschieden, wodurch sie von den Totschlägern fortwährend paralysiert werden. Schwieri­ ger Fall; homo homini Radbruch!375 Die Zeitschrift, in der mein Coroll. steht, ist sehr sympathisch; mit dem Herausgeber, Dr. Rolf Hinder in Bad Godesberg, Römerstr. 11, müssten Sie einmal in Kontakt treten. 370  Peter Scheibert hielt in den Capary-Braustuben in Köln den Vortrag „Von Ba­ kunin zu Lenin“. 371  Erich Przywara, Botschaft – eine Bücherschau, in: Die Besinnung, 1953, H. 5. – Der Jesuit E. Przywara (1889–1972) war Schmitt seit 1928 bekannt und von ihm hoch geschätzt; für seine Festschrift „Der beständige Aufbruch“ (Nürnberg 1959) schrieb Schmitt „Nomos – Nahme – Name“ (jetzt in: SGN, S, 573–591). 372  Carl Schmitt, Nehmen / Teilen / Weiden, in: Gemeinschaft und Politik 1, 1953, H. 3, S. 17–27. (jetzt in VA, S. 489–504). Schmitt wollte den Text als 7. Corollarium zum „Nomos der Erde“ verstanden wissen. 373  Josef Frings (1887–1978), von 1942 bis 1969 Erzbischof von Köln, 1946 zum Kardinal ernannt. Das Wort „fringsen“ für Mundraub ging in in der Folge seiner Syl­ vesterpredigt in die deutsche Sprache ein. 374  Ulrich Klug (1913–1993), Jurist, Politiker. Sein Brief an Maiwald ist abge­ druckt in: Schmittiana V, S. 189. 375  Gustav Radbruch (1878–1949), Strafrechtler und Rechtsphilosoph, Reichsjus­ tizminister in der Weimarer Republik. Die erstmals am 23. Apr. 1948 im Glossarium auftauchende Formel „homo homini Radbruch“ gebrauchte Schmitt öfter. 1928 hatte er an Radbruch geschrieben: „Die Auseinandersetzung mit Ihnen wird bei mir sehr langsam gehen, weil es sich nicht um billige Diskussionen, sondern um seinsmäßige Verschiedenheiten handelt.“ (zit. nach FoP, S. 952).



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Ich bin durch einen Gipsverband am linken Fuß (Fersen-Sehnen-Entzündung) behindert; hoffe aber nächste Woche wieder aufstehen zu können. Am 14/12 abends will der Hess. Rundfunk meinen Vortrag „Der Nomos der Erde“ sen­ den (20 Minuten). Günther Krauss schreibt mir zu dem Satz von der „Unter­ wanderung mit naturrechtlichen Generalklauseln“: „Diese Unterwanderung ist bei uns (durch das GG) positives Gesetzt.“ Richtig; origineller Fall von „Rückverweisung“!! Positivierung (Verdeutlichung!!) durch dieses made law (und police mad law)!!! Herzlich Ihr alter Carl Schmitt 76. 1953-12-06 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14240, ms.

Mainz, den 6.12.1953 Sehr geehrter Herr Professor! Für Ihre Karte danke ich Ihnen recht herzlich. Wenn die Post nur wüsste, was für Handgranaten, sogar geballte Ladungen, sie befördert! Wegen Ihrer Krankheit habe ich mir zunächst Sorgen gemacht. Doch war ich nach mehrmaligem Lesen Ihrer Karte guter Hoffnung, weil die Karte so vol­ ler Energie ist, dass die Krankheit nicht lange dauern wird. Für den Sonderdruck bin ich Ihnen sehr dankbar. In diesem Aufsatz steckt so viel drin, dass ich Ihnen heute meine Meinung darüber noch nicht mitteilen kann. Nur eines möchte ich sagen: Der Hinweis auf S. 24, Fußnote, vor al­ lem im Französischen sei der Zusammenhang zwischen social und société noch deutlich, entspricht der Auffassung Maxime Leroys über die Idées so­ ciales. Ohne die Beachtung dieses Zusammenhangs ist Maximes großes Werk gar nicht zu verstehen. Vor allem ist nicht zu verstehen, weshalb die Franzosen bei der Darstellung der Geschichte der Idées sociales mit Descar­ tes beginnen. Auch Maxime Leroy weist in einem fort darauf hin, dass beim utopischen Sozialismus der Fortschrittsglaube außerordentlich stark ist.376 Zum Vortrag von Herrn Scheibert konnte ich aus mehreren Gründen nicht kommen. Ich hätte mir sehr gerne den Vortrag angehört.

376  Der

Satz ist von C. S. am Rand angestr. mit stenogr. Notiz.

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Gestern habe ich den Redakteur des Archivs für Rechst- und Sozialphiloso­ phie, Privatdozent Dr. Viehweg besucht.377 Er war in den dreißiger Jahren in Berlin. Mit Otto von Schweinichen war er, angeblich, befreundet.378 Auch an Herrn Krauss will er sich erinnern. Er will Rechts- und Sozialphilosoph sein, hat jedoch von Maxime Leroy und Voegelin noch nichts gehört. Überhaupt scheint er gar nicht zu wissen, was Sozialphilosophie ist. Entsprechend sind denn auch die Hefte des Archivs, ganz abgesehen von der Ortslosigkeit der Mitarbeiter. Er erzählte mir dauernd etwas von Grundlagenforschung, doch verstand ich nicht, was er damit meinte. Von Saint-Simon, Fourier, Proudhon hat er mal irgendwo die Namen gehört, wie’s scheint. Mehr aber auch nicht. Sie können sich vorstellen, dass das Gespräch mit ihm für mich recht un­ fruchtbar war. Die von mir zitierte Hegel-Stelle ist in der neuen zweibändigen Ausgabe der Briefe Hegels enthalten, doch ist der Brief nur teilweise wiedergegeben. Er dürfte meines Erachtens doch ein Beweis dafür sein, dass auch Hegel zum mindesten geahnt hat, welche Rolle Russland spielen sollte. Ich möchte so­ gar sagen, dass Hegel es klar gesehen hat. Das Buch von Eric Weil hat sich enge Grenzen gesetzt: nämlich darauf hinzuweisen, dass Hegel völlig zu Unrecht als Philosoph irgendeiner Reaktion angesehen wird. (Soweit das heute eine enge Grenze ist!) Ich kann Ihnen die Schrift empfehlen. Eigent­ lich ist es für uns Deutsche traurig, dass ein französischer (oder elsässischer) Jude Hegel verteidigt, während bei uns niemand dazu den Mut findet. Ich habe ernstlich vor, einmal einen Aufsatz mit dem Thema zu schreiben: Von Hegel zu Werner Weber (L. v. Stein, Gneist,379 Carl Schmitt). Ich kenne kaum eine Schrift, die so von Gneist beeinflusst ist wie die kürzlich erschie­ nene Aufsatzsammlung von Werner Weber.380 Professor Jacques Ellul381 (Bordeaux) teilte mir mit, dass einer [seiner] Schüler demnächst eine exzellente Thèse über „Bodin et la Democratie“ 377  Theodor Viehweg (1907–1988), Jurist, habilitierte sich 1953 in Mainz, dort Privatdozent, 1959 a.o., 1966 bis 1972 o. Prof. für Rechtsphilosophie und -soziologie, begründete 1949 zusammen mit Rudlof Laun das „Archiv für Rechts- und Sozialphi­ losophie“ neu. 378  Otto von Schweinichen (1911–1938), Jurist, Schüler und Mitarbeiter Schmitts, leitete ab 1936 das ARSP. 379  Rudolf von Gneist (1816–1895), Jurist und Politiker, seit 1858 Prof. für Zivil­ recht und Pandekten an der Berliner Universität, langjähriger Präsident des Deutschen Juristentages, 1859 Abgeordneter im Preußischen Landtag, 1867 Reichstagsabgeord­ neter, 1875 Richter am preuß. Oberverwaltungsgericht, Mitbegründer und erster Prä­ sident des Vereins für Socialpolitik. Gneist hatte wesentlichen Anteil an den preußi­ schen Verwaltungs- und Justizreformen. 380  Werner Weber, Staats- und Selbstverwaltung in der Gegenwart, Göttingen 1953. 381  Jacques Ellul (1912–1994), franz. Soziologe und Theologe.



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veröffentlichen werde.382 Ferner will ein Roger Labrousse ein Buch über Thomas Hobbes publizieren.383 Sodann ist 1950 ein Buch von Titone, La politica dellʼ erà [sic!] barocca erschienen.384 Ich werde nach dem Examen versuchen, Italienisch zu lernen, damit ich die italienischen Schriften über die politische Philosophie des 16. und 17. Jahrhunderts lesen kann. Gestern erhielt ich ein neues englisches Buch von Chr. Morris, Political Thought in England, Tyndale to Hooker.385 Es scheint sehr aufschlussreich zu sein. Es beginnt: „In one sense sixteenth-century Englishmen had no po­ litical theory whatsoever, for they had no theory of what we call the State. The theories they had were theories of Society.“ Weiter: „Bitterness was all the more inevitable because sixteenth-century conflicts were conflicts about the eternal verities … Fanaticism and intolerance were the price paid for such grandeur … An important part of Humanism was its belief that men were educable and that, given the right education for the right people, the whole of society might be regenerated and replanned. An educationalist is always more than half a planner.“ In der wichtigen Bibliographie werden zitiert: Tillyard, Shakespeare’s History Plays, London 1944,386 und John Pal­ mer, Political Characters of Shakespeare, London 1945. Kennen Sie diese beiden Bücher? Ich habe über die Fernleihe die von Ihnen im „Leviathan“ zitierte Schrift von Paul Ritterbusch, Kiel 1938, nicht erhalten können, weil eine Schrift mit ei­ nem solchen Titel nicht erschienen sei. Können Sie mir nähere Angaben machen?387 Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür. Am Freitag habe ich zum ersten Male ein Schauspiel von Sellners Ensemble gesehen, und zwar als Gastspiel in Mainz Schillers „Wallenstein“.388 Das 382  Léon Desplanques, La République de Johan Bodin. Souveraineté et démocra­ tie, 2 vol., Thèse de doctorat en Droit, Université de Bordeaux 1950. Zu einer Buch­ veröffentlichung kam es nicht. 383  Roger Labrousse (1908–1956), franz. Jurist, Prof. in Argentinien. Gemeint ist wohl sein Aufsatz „Hobbes et l’apologie de la monarchie“, in: Revue française de science politique 3, 1953, S. 471–490. 384  Virgilio Titone, La Politica dell’età barocca, Caltanissetta 1950. 385  Christopher Morris, Political thought in England. Tyndale to Hooker, London 1953 [u. ö.]. 386  E. M. W. Tillyard, Shakespeare’s history plays, London 1944 [u. ö.]. 387  Der von Schmitt im „Leviathan“ in der Anm. auf S. 35 zitierte Titel „Der tota­ le Staat bei Thomas Hobbes“ von Paul Ritterbusch (Typoskr. in der UB Kiel) ist nicht im Druck erschienen. Es handelt sich um den Vortrag, den Ritterbusch auf dem Hobbes-Kongress im April 1938 in Kiel unter dem Titel „Die Totalität des Staates bei Hobbes“ gehalten hat. 388  Rudolf Sellner (1905–1990), Theaterregisseur und Dramaturg, wurde 1951 In­ tendant in Darmstadt, wo Anima Schmitt 1952/53 eine Ausbildung zur Bühnenbildne­ rin machte.

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1953 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Stück dauerte 4 ¼ Stunde. Es war wirklich eine hervorragende Aufführung. Es ist fast unglaublich, was ein guter Regisseur aus einem Ensemble heraus­ holt, das keinen einzigen Star hat. Ich glaubte, das Geschick Wallensteins aus unmittelbarer Nähe zu erleben. Als Wallenstein rief: „Man will mich umbrin­ gen, weil ich den Frieden will!“ hat es mich bis ins Innerste getroffen. – Was soll ich Ihnen mehr über die Aufführung berichten …389 Die von Ihnen gesuchte Zeitschrift werde ich besorgen und sogleich an Sie schicken lassen. Für Ihren freundlichen Hinweis auf die Zeitschrift „Gemeinschaft und Poli­ tik“ bin ich Ihnen dankbar. Doch werde ich vor dem Examen keine größere Sache bearbeiten können, weil mir die Ruhe dazu fehlt. Ich brauche ein halbwegs gutes Examen, damit ich für alle Fälle gesichert bin. Mit herzlichem Gruß bin ich immer Ihr [hs.:] Roman Schnur 77. 1953-12-19 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14241, ms.

Mainz, den 19.12.1953 Nik. Beckerstraße 10 I Sehr geehrter Herr Professor! Es war wirklich schlimm, wie ich am Montag stets an Ihnen vorbeigelaufen bin. Im falschen Eifer rief meine Wirtin mich gleich nach Ihrem Weggang am Gericht an und schickte mich zu Frau Schmitz. Dort erfuhr ich dann, dass Sie mich suchten. Als ich dann abends das Radio einschalten wollte, musste ich feststellen, dass es nicht in Ordnung war. Um 21.30 Uhr war es repa­ riert!390 Herr Krauss hat mir zwar eine Einladung nach Köln zum Vortrag von Herrn Schelsky geschickt, doch werde ich, nicht zuletzt der für mich doch hohen Unkosten wegen, leider nicht nach Köln kommen können.391

389  Dazu

stenogr. Notiz von C. S. am Rand. nicht ermittelt. 391  Helmut Schelsky (1912–1984), Soziologe, 1948 Prof. in Hamburg, seit 1960 an der Universität Münster; 12 Briefe (1948–1983, davon 1 veröff. in BW Journalis­ ten) im Nl. Schmitt. Schelsky hielt im Rahmen der Academia Moralis in Köln am 9. Jan. 1954 den Vortrag „Der Realitätsverlust der modernen Gesellschaft“. 390  Rundfunksendung



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Der Verlag Röhrscheid wird wahrscheinlich meine Dissertation publizieren, und zwar im Rheinischen Archiv, einer Buchreihe. Die Drucklegung hängt allerdings noch von der Gewährung eines Druckkostenzuschusses ab, den man jedoch bald zu erhalten hofft. Herr Grewe hat mir leider noch nicht mitgeteilt, ob er meinen Aufsatz über die services publics bringen wird. Ich werde ihn um Bescheid bitten, denn ich habe keine Lust, meine Sache hängen zu lassen, während er seine Ange­ legenheiten mit allem Ehrgeiz betreibt. Ansonsten gibt es im Augenblick keine Neuigkeiten in Mainz. Nach den Ferien werden im völkerrechtlichen Seminar die Enteignung im Völkerrecht (incl. Verstaatlichung) und die Gerichtsbarkeit über fremde Staaten als wich­ tigste Themen behandelt. Da die Begriffe auf diesen beiden Gebieten in den letzten Jahren sehr fließend geworden sind, werde die Seminarstunden recht interessant werden. Den Aufsatz von Herrn Krauss über Naturrecht und Verteidigungsbereitschaft habe ich mit Interesse gelesen, kann Herrn Krauss aber nicht zustimmen.392 Soviel möchte ich sagen, dass ein echter Notstand, der ein Übergehen der Verfassungsbestimmungen rechtfertigen könnte, in keiner Weise vorliegt. Dass Leute sagen, das Grundgesetz müsse geändert, besser: ergänzt werden (auf welche Weise?), ist doch keine Notlage! Ob das Naturrecht, das Herr Krauss beschwört, sagt, dass der Bundeskanzler allein befugt sei, eine Wehr­ macht aufzustellen, ist doch nicht anzunehmen. Das Naturrecht besagt nur: Jedem Staat eine Wehrmacht. Wie er sie bekommen soll, regelt das Natur­ recht doch nicht, will es gar nicht regeln. Erst wenn man sich über das Ver­ fahren nicht einigen könnte und dadurch eine direkte Gefahr entstehen würde, könnte das Naturrecht wieder eingreifen. Ich glaube doch sagen zu dürfen, dass Herr Krauss dies zu Unrecht übersehen hat, weil er vielleicht zu punk­ tuell gedacht hat. Ich vergaß noch zu sagen, dass im Seminar auch die Frage behandelt wird, welche Wirkung die Aufnahme in internationale Organisationen hinsichtlich der Anerkennung hat. Diese Frage ist schwer, und ihre Behandlung wäre eine schöne Aufgabe. Leider ist in den bisherigen Erörterungen das Stichwort „Homogenität“ nicht, wenigstens nicht deutlich, gefallen. Indem ich Ihnen angenehme Feiertage wünsche, bleibe ich stets Ihr ergebener [hs.:] Roman Schnur

392  Möglicherweise: Günther Krauss, Deutschland und das Problem der Neutrali­ tät, Typoskr., 12 Bl., im Nl. Schmitt, RW 265–20524.

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1954 – Roman Schnur an Carl Schmitt

78. 1954-02-13 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14242, hs., Briefkt.

Mainz, den 13.II.1954 Sehr geehrter Herr Professor, Da es mir, nach dem so inhaltsreichen Gespräch, noch nicht möglich ist, ei­ nen Brief zu schreiben, bitte ich Sie herzlich, mit dem umstehenden Proud­ hon-Zitat vorliebzunehmen. „Non seulement, dirai-je à Vattel, la guerre doit être considérée des deux parts comme également juste, elle est juste, elle ne peut pas ne pas être juste des deux parts, puisque, si elle était injuste d’un côté, ou de tous les deux, elle ne serait plus la guerre; puisque alors la société serait établie sur l’injus­ tice, et que la civilisation se développerait au hasard de la violence et de la trahison, puisque, sans cette justice égale, il n’y aurait pas de différence entre le brigandage et la guerre, et qu’il suffirait à toute bande de malfaiteurs de dénoncer à la société qui la poursuit l’état de guerre, pour se ménager, après la défaite, une amnistie.“ La Guerre et la Paix, ed. Moysset, Paris 1927, S. 102. Mit herzlichem Gruß bin ich stets Ihr ergebener Roman Schnur P. S. Sind Ihnen auch Pr’s Äußerungen über Hobbes bekannt?

79. 1954-03-15 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14243, ms.

Mainz, den 15.3.1954 Nik. Beckerstraße 10 I

[darunter von C. S.:] b. 29/3 54 u. stenogr. Notiz

Sehr geehrter Herr Professor, Ich möchte Ihnen heute kurz mitteilen, dass ich glaube, über Dr. Viehweg einiges erreichen zu können. Er hat sofort eine größere Rezension von Dr. Kesting über Herrn Popitz’ neues Buch angenommen.393 Er ist auch be­



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reit, einen größeren Aufsatz von Dr. Kesting über das Thema „Die Überho­ lung der Utopien durch die Eschatologien im 19. Jhdt.“ zu veröffentlichen.394 Hans Naumann wird Weils Schrift über „Hegel et l’État“ und Maxime Leroys großes Werk besprechen.395 (Seine 60-Minuten-Sendung für den NWDR über die Remigranten ist bald fertig.) Ich hoffe, auch Herrn Dr. Koselleck für eine Mitarbeit am Archiv gewinnen zu können. Er könnte eigentlich Voege­ lins schönes Buch eingehend besprechen. Mit Nicolaus Sombart rechne ich jedoch nicht mehr. Er schrieb mir, dass er einstweilen der reinen Forschung den Rücken kehren werde, denn die Kunst gehe nach Brot. Danach geht allerdings auch manches Andere. Im übrigen meint er, Sie würden ihn ausnehmend ungnädig behandeln.396 Was mich angeht, so bin ich mitten in der Examens-Vorbereitung. Am 20. April gehe ich auf 6 Wochen zum Lehrgang – nicht nach Jüterbog, son­ dern auf Burg Kochem. Meine kleineren Arbeiten habe ich untergebracht; Herr Professor Aubin wird in der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirt­ schaftsgeschichte meine Leroy-Besprechung bringen,397 während Herr Vieh­ weg in einem 8–10 seitigen Referat einige wichtige französische Bücher über die Geschichte der politischen Ideen besprochen haben möchte.398 Ich werde nach dem Examen mit dieser Kleinarbeit aufhören, die ja nicht produktiv ist, sondern gewissermaßen eigene Lesefrucht darstellt. In den nächsten Tagen wird das Heft 3 ArchöffR erscheinen. Selbstverständ­ lich werde ich Ihnen sofort einen Sonderdruck schicken. Bis dahin bleibe ich Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur

393  Heinrich Popitz, Der entfremdete Mensch. Zeitkritik und Geschichtsphiloso­ phie des jungen Marx, Basel 1953. Die Besprechung von Kesting erschien in: ARSP 41, 1954, S. 126–129. 394  Hanno Kesting, Utopie und Eschatologie. Zukunftserwartungen in der Ge­ schichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, in: ARSP 41, 1954, S. 202–230. Es handelt sich um einen Extrakt von Kestings unveröffentlichter Heidelberger Dissertation von 1952. 395  Naumann besprach in ARSP nur das Hegel-Buch: ARSP 42, 1956, S. 116–121. 396  Vgl. dazu BW Sombart. 397  Hermann Aubin (1885–1969), Historiker, 1925 Prof. in Gießen, 1929 in Bres­ lau, 1946 in Hamburg. Hrsg. der VSWG, wo in Nr. 2, 1954, S. 177–180 Schnurs Besprechung von Maxime Leroy, Histoire des idées sociales en France (Bd. 1 und 2) erschien. 398  Roman Schnur, Neues französisches Schrifttum zum Verwaltungsrecht, in: Ver­ waltungsarchiv 40, 1957, S. 277 ff.

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P. S. Möglicherweise wird doch noch das Hobbes-Buch von Herrn Professor Schelsky erscheinen. Ich sprach eingehend mit Hans Naumann über das Ma­ nuskript. Darauf schrieb dieser an Herrn Nette, der ja Lektor bei Diederichs ist. Jetzt hat Herr Nette von Herrn Schelsky das Manuskript angefordert, der es auch eingeschickt hat. Libelli habent sua fata.399 80. 1954-03-29 Carl Schmitt an Roman Schnur 134, hs.

Plettenberg I, 29/3 54 Mein lieber Roman Schnur, vielen Dank für Ihre Scheiben vom 15/3! Ich werde heute für 8–10 Tage nach Schmitten (Taunus) fahren und dort Park-Hotel Wenzel wohnen (Tel. 291). Ob ich nach Mainz komme, weiß ich noch nicht. Auf Ihre weite­ ren Nachrichten bin ich sehr gespannt. Den Schätzel-Skandal werden Sie in der „Zeit“ (18/3, 25/3 hier die unwahrscheinlich dumme Antwort Schätzels) verfolgt haben.400 Für heute nur diese Mitteilung. Wissen Sie, dass Josef Kaiser sich in Bonn habilitiert hat und zugleich in der Rechtsabteilung des A. A. ist? Stets Ihr alter Carl Schmitt

399  Die Rede ist von Schelskys Königsberger Habil.-Schrift von 1940 („Thomas Hobbes – eine politische Lehre“), die erst 1981 bei Duncker & Humblot in Berlin im Druck erschien. 400  Walter Schätzel (1890–1961), Völkerrechtler, von 1942 bis 1945 Ordinarius in Marburg, 1946 bis 1950 in Mainz, 1950 bis 1958 in Bonn. Schätzel hatte eine Über­ setzung der „Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens“ von Hugo Gro­ tius veröffentlicht (Tübingen, 1950) und mit einer Einleitung versehen. In der „Zeit“ vom 18. März 1954 wurde die Qualität der Übersetzung scharf kritisiert. Für Schmitt war diese sowie die Vitoria-Übersetzung Schätzels (Tübingen 1952) „der übelste wis­ senschaftl. Skandal, den ich in meinem ganzen wissenschaftlichen Dasein erlebt habe. Aber sie dürfen heute ‚mir‘ und ‚mich‘ verwechseln, ohne sich die Qualifizierung zu einem Ordinarius der Geisteswissenschaften zu verscherzen. Mir ekelt.“ BW Mohler, S. 151. Vgl. auch Schmitts Notizen dazu in RW 265–20353.



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81. 1954-04-03 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14244, ms.

Mainz, den 3.4.1954 Nik. Beckerstraße 10 I Sehr geehrter Herr Professor, Ich danke Ihnen vielmals für Ihren Brief vom 29.3. Sie werden ja im Taunus sicher schöne Tage zur Erholung haben. Seit zwei Wochen bin ich am Oberlandesgericht. Dort lerne ich, soweit ich das überblicken kann, recht viel. Da der 1. Senat, dem ich zugeteilt bin, die Amtshaftungssachen entscheidet, bleibe ich in der Materie. Es gibt sehr inte­ ressante Prozesse. Wenn ein besonders wichtiger vorkommt, erlaube ich mir, Ihnen davon Kenntnis zu geben. Mein erster Vortrag vor dem Senat fiel gut aus, so dass ich wenigstens einen guten Start hatte. Der Präsident war Regi­ mentskommandeur – es geht also bei uns hart her. Herr Krauss hat mir seine Staatsrechts-Vorlesung geschickt, die ich in den nächsten Tagen durchlesen möchte.401 Dass Herr Kaiser auch im AA sitzt, war mir nicht bekannt. Herr Krauss teilte mir auch mit, dass Ihre Verfas­ sungslehre wohl bald erscheinen werde. Dann wird man demnächst in Bun­ destagsdebatten noch mehr mit Ausdrücken, die in Ihrem Hauptwerk vor­ kommen, seine Intelligenz beweisen wollen. Die Popitz-Besprechung von Herrn Kesting ist bereits im Satz. Auch Herr Koselleck wird am Archiv für RuSPh mitarbeiten. Wenn ich richtig infor­ miert bin, wird auch Herr Krauss hier und da etwas fürs Archiv schreiben. Herr Popitz macht im Augenblick nicht mit. Wenn Herr Koselleck mit seiner Dissertation fertig ist, wird Viehweg sie teilweise abdrucken. Herr Koselleck hat ein Thema bearbeitet, das mich außerordentlich interessiert.402 Wie ich Ihnen bereits schrieb, werde ich vorerst meine Arbeit auf das Exa­ men ausrichten. Mich interessiert zwar das Thema Der Begriff des gerechten 401  Günther Krauss hielt an der Mittelrheinischen Verwaltungs- und Wirtschafts­ akademie in Bonn Vorlesungen über Staatsrecht. 402  Reinhart Koselleck, der für seine Dissertation zunächst den Titel „Dialektik der Aufklärung“ wählte, bis er entdeckte, dass dieser Titel schon vergeben war (Adornos Buch erschien in Amsterdam 1947). Daraufhin legte er die Arbeit unter dem Titel „Kritik und Krise. Eine Untersuchung der politischen Funktion des dualistischen Weltbildes im 18. Jahrhundert“ 1954 in Heidelberg vor; im Druck erschien sie erst 1959 bei Alber in Freiburg, jetzt erweitert und mit geändertem Untertitel („Ein Bei­ trag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt“). Zum Einfluss Schmitts auf dieses Buch vgl. BW Koselleck (auch das Nachwort des Hrsg., S. 416 ff.).

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Krieges in der frz. Revolution sehr, doch werde ich entsprechende Studien für später zurückstellen. Ich kenne über dieses Thema zwei Aufsätze (von Redslob und Mirkine-Guetzévitch), deren Ahnungslosigkeit und Dummheit kaum zu ertragen sind. Um rechtzeitig mich gemeldet zu haben, habe ich bei den zuständigen fran­ zösischen Behörden um ein Stipendium von einigen Monaten in Paris im nächsten Jahr nachgesucht. Man hat mir gute Versprechungen gemacht; so­ weit ich mich auskenne, pflegt man sie dort zu halten. Ich habe deshalb schon jetzt vorgefühlt, weil ich im nächsten Jahr nur einen Antrag für 1956 stellen könnte. Ich benötige allerdings für Januar nächsten Jahres Empfeh­ lungen von französischen Gelehrten, doch dürfte es mir leicht fallen, diese beizubringen. Das dritte Heft des ArchivsöffRecht ist noch immer nicht erschienen. An­ scheinend hat Herr Grewe keine Zeit (teilweise verständlich), das Heft druckfertig zu machen. So komme ich leider um die Chance, ihn rechtzeitig M. Martin vom Conseil d’État zu schicken, der mich um einen Sonderdruck bat, weil er demnächst öffentlich über die französische Verwaltungsreform spricht und den Aufsatz dort verwenden möchte.403 Den beiliegenden Kor­ rekturbogen lege ich zu Ihrer Kenntnis vor; wenn Sie ihn gelesen haben, mögen Sie ihn bitte zurückschicken. Indem ich Ihnen schöne Tage in Schmitten wünsche, bleibe ich stets Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 82. 1954-06-06 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14245, ms.

Merzig, den 6.6.1954 Sehr geehrter Herr Professor, Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung, dass ich erst heute auf Ihre Karte404 antworte. In den letzten Tagen auf Burg Cochem war es mir nicht möglich, zum Schreiben Zeit zu finden, denn man versuchte im Endspurt das nachzu­ holen, was man vorher versäumt hatte. Nunmehr habe ich einige Zeit, hier in Merzig, wo am Mittwoch mein Vater begraben wird. Er ist nach langem Leiden, er erlitt neun Hirnschläge in 16 Wochen, erlöst worden …. 403  Die

Rede ist von Schnurs Aufsatz über die services publics.

404  Fehlt.



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Ich freue mich außerordentlich, dass die Verfassungslehre wieder erschienen ist.405 Sobald es meine Lage erlaubt, werde ich sie mir kaufen. Es war ein trefflicher Gedanke, dieses Buch in der alten Fassung zu veröffentlichen. Eines ist jetzt sicher: Man wird Sie weniger ausplündern können, weil Ihre Gedanken den Leuten greifbarer sind. Dennoch glaube ich kaum, dass man in der sog. westdeutschen Öffentlichkeit besondere Notiz von der Neuauflage des Buches nehmen wird. Für diese Annahme eine vertrauliche Mitteilung: Ich lernte einen sehr gescheiten Staatsanwalt kennen, der mit Mallmann be­ kannt ist.406 Er wollte in der JZ „Die Lage der europäischen Rechtswissen­ schaft“ besprechen. Mallmann ging nicht darauf ein, weil er der Ansicht ist, das beste Mittel, Sie zu bekämpfen, sei, Sie totzuschweigen. Der gleiche Staatsanwalt berichtete mir von ähnlichen Äußerungen anderer Leute und der allgemeinen Praxis, sich vor offenen Auseinandersetzungen zu drücken. Er sagte mir, man wisse genau, dass man sich mit Ihnen deshalb nicht auseinan­ dersetze, weil man Ihnen nicht gewachsen sei. Mir waren diese Äußerungen eines Mannes, der Ihnen in Manchem recht kritisch gegenübersteht, sehr wichtig. Ich gebe Ihnen seine Anschrift und bitte Sie, ihm bei Gelegenheit einen Sonderdruck eines Aufsatzes zu schicken. Erwähnen Sie, wenn Sie die Güte haben, ihm zu schreiben, bitte nicht die Mallmannsche Äußerung: Staatsanwalt Heinz Bindokat, Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach.407 Von Maxime Leroy habe ich wieder Post erhalten. Ich hatte ihm einen Kor­ rekturbogen meiner Rezension der beiden ersten Bände der Histoire des Idées sociales geschickt. Er bedankte sich recht erfreut und versprach, mir den soeben erscheinenden dritten Band zu schicken. Er teilte mir mit, dass er den vierten Band bereits begonnen habe. Ich verstehe wirklich nicht, dass ein Achtzigjähriger noch so viel geistige Kräfte besitzen kann. In dem vierten Band soll u. a. der Einfluss von Marx in Frankreich behandelt werden. Hoffentlich ist es Maxime vergönnt, auch diesen Band noch zu be­ enden. Ich werde den dritten Band wohl auch besprechen, und zwar wieder in der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.408 Über das AöR bin ich etwas verstimmt. Obwohl ich der Korrektur entneh­ men konnte, dass mein Aufsatz im dritten Heft erscheinen sollte, ist dieses Heft ohne ihn erschienen. Wie Mallmann mir mitteilte, soll er voraussichtlich im vierten Heft erscheinen, und zwar im Juli. Wenn ich diese Verzögerung

Schmitt, Verfassungslehre, 2. unveränd. Aufl., Berlin 1954. Mallmann (1908–1982), Jurist, Lektor des Verlags J. C. B. Mohr in Tübingen und Mitherausgeber von JZ und AöR, 1957 Prof. für Öffentl. Recht in Frankfurt, 1965 in Gießen. Vgl. Glossarium, S. 248 und 493, BW Forsthoff. 407  Heinz Bindokat (geb. 1911), zuletzt Oberstaatsanwalt in Koblenz. 408  Besprechung Schnurs in: VSWG 42, 1955, S. 68–70. 405  Carl

406  Walter

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vorausgesehen hätte, so hätte ich den Aufsatz, etwas verkürzt, an Herrn Ule geschickt.409 Einen Herrn Dr. Sauter, der in Mainz promoviert haben soll, kenne ich nicht. Ich habe einige Kollegen befragt, denen er aber auch nicht bekannt ist. Das Buch selbst kenne ich nicht, weil ich seit März nicht mehr in der Seminarbi­ bliothek war. Von Leo Strauß und Kojève ist eine Schrift über die Tyrannei erschienen, die ich in einigen Tagen erhalten werde.410 Ich werde Ihnen dann sogleich mit­ teilen, was es damit auf sich hat. Eigentlich müsste es etwas sein, doch kann man nicht immer auf den bloßen Namen gehen. Vor wenigen Tagen habe ich aus der Textsammlung Le Cri de la France zwei Bände mit Texten erhalten: Gnostiques de la Revolution, Saint Martin und Fabre d’Olivet.411 Leider bin ich noch nicht dazu gekommen, mir die Bände anzusehen. Sie kosten zusammen 8 DM etwa, so dass ich die Anschaffung riskieren konnte. Der Titel hatte mich dazu veranlasst. Ansonsten weiß ich nichts Neues mitzuteilen. Ich bin jetzt im Endstadium der Ausbildung, die im September zu Ende sein wird. Da heißt es leider, von „unproduktiven“ Geschäften zu lassen und sich dem Handwerk zu widmen, zumal weiterhin mit aller Schärfe geprüft wird. Ich werde Ihnen in Kürze von Mainz aus schreiben. Mit herzlichem Gruß bin ich stets Ihr ergebener [hs.:] Roman Schnur

409  Carl Hermann Ule (1907–1999), seit 1955 Prof. für Öffentl. Recht, insberson­ dere Verwaltungsrecht an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer und verantwortlicher Redakteur von „Deutsches Verwaltungsblatt“; 1 Brief (1956) im Nl. Schmitt. 410  De la Tyrannie = On tyranny. An interpretation of Xenophon’s „Hiéron“ par Leo Strauss; traduit de l’anglais par Hélène Kern. Précédé de Hiéron de Xénophon; et suivi de Tyrannie et sagesse par Alexandre Kojève, Paris 1954. 411  Gnostiques de la Revolution ist ein Obertitel; als Bd. 1 erschien: André Tanner, Claude de Saint-Martin. Choix de textes et introduction (Le cri de la France, 27), Paris 1946. Bd. 2: André Tanner, Fabre d’Olivet. Choix de textes et introduction (Le cri de la France, 28), Paris 1946.



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83. 1954-07-31 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14246, ms.

Mainz, den 31. Juli 1954 Nik. Beckerstr. 10 I Sehr geehrter Herr Professor, Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. In den letzten Wochen vor den Gerichtsferien gab es am Senat sehr viel Arbeit, denn der Senat wollte, soweit nur möglich, nichts über die Ferien schleppen. Da gab es auch für die Referendare mehr Arbeit als sonst. Auch hat mich der Tod meines Vaters verständlicherweise von der Beschäftigung mit manchen Dingen abgehalten. Zur Zeit bin ich mit einer sehr schweren Rezension für die ZRG beschäftigt. Ich soll für den nächsten Band von Marcel David, La Souvéraineté et les ­limites juridiques du pouvoir monarchique du IXe au XVe siècle, besprechen. Sie können sich vorstellen, dass dieses Buch mir sehr viel Arbeit macht.412 Überdies hat 1952 P. E. Schramm413 in der ZRG einem anderen Buch des Verfassers eine Rezension von 6 Seiten gewidmet, so dass ich nunmehr höchste Sorgfalt walten lassen muss. Mit einer bloßen Inhaltsangabe ist es bei diesem Buch nicht getan. Es wird Sie sicher interessieren, dass David im einleitenden Kapitel fast 90 Seiten dem Thema auctoritas und potestas im Mittelalter widmet. Das ist meines Wissens die bisher umfangreichste Be­ handlung dieses Themas. Leider sind die Arbeiten von Holtzmann in den Anfängen geblieben.414 Was sich an Schwierigkeiten bei der Anwendung moderner Begriffe auf das Mittelalter ergibt, werden Sie ja noch besser wis­ sen als ich. Mich erstaunt nur, dass bei David auctoritas nicht im Zusammen­ hang mit dem Reich als Aufhalter auftritt. Auch kommt nicht genug heraus, dass die Verwirrung der beiden Begriffe zu Beginn des 13. Jh.s nicht mehr in Verbindung gebracht wird mit der Rezeption des Römischen Rechts, das ja spätrömisches Recht war und selbst zwischen auctoritas und potestas nicht mehr unterschieden hat (über dieses Faktum gibt es die gute Schrift von

412  In:

ZRG, Germ. Abt. 72, 1955, S. 359–362. Ernst Schramm (1894–1970), einer der einflussreichsten Historiker der Nachkriegszeit, lehrte von 1919 bis 1970 als Prof. der mittleren und neueren Ge­ schichte und der Historischen Hilfswissenschaften an der Universität Göttingen; 3 Briefe (1950–1963) im Nl. Schmitt. 414  Robert Holtzmann (1873–1946), Mittelalterhistoriker, Prof. in Gießen, Breslau, Halle und Berlin. 413  Percy

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Magdelain, Auctoritas principis, Paris 1947). Jedenfalls werde ich mit dem Buch von David noch sehr viel Arbeit haben. Ein anderes Buch interessiert Sie vielleicht auch: James E. King, Science and Rationalism in the Government of Louis XIV, 1661–1683, Baltimore 1949. Für die Geistesgeschichte sind vor allem Kap. I (Introduction) und Kap. II, The impact of Science and Rationalism on political philosophy in the 17th century (zus. 63 S.) [hs. Zusatz:] wichtig. In diesem Zusammenhang ist ein Wort eines französischen Historikers, V. L. Tapié, über Richelieu und Louis XIII aufschlussreich, das sinngemäß etwa so lautet: „R. et L. XIII ont eus le choix entre l’existence de la France et sa mort. Ils ont choisis l’existence.“415 Ich entnahm das einer Rezension. Hof­ fentlich schafft die UB das Buch bald an. Herr Koselleck hat mich auf das kleine Buch von H. Butterfield, Diplomacy, Christendom and War aufmerksam gemacht.416 Sollten Sie dieses interessan­ te Buch nicht besitzen, so schicke ich es Ihnen gerne für geraume Zeit. Ebenfalls in England und auch 1953 ist ein Vortrag von Georges Davy (in Französisch), Hobbes et J.-J. Rousseau, Oxford Clarendon Press, erschie­ nen.417 Ich hoffe, die Schrift in einigen Wochen zu besitzen. Ich habe nun endlich einen guten Importeur von englischen und amerikanischen Büchern gefunden: Buchvertrieb Pressler, Essen, Alfredstraße 57. Wenn Sie englische Bücher bestellen wollen, so möchte ich Ihnen dieses Haus dafür empfehlen. In der Revue franҫaise des sciences politiques, vol. IV, 1954, S. 252 ff., ist ein Aufsatz von Polin erschienen: Sur la signification de la paix d’après la philosophie de Hobbes.418 Ich kenne ihn noch nicht, doch wollte ich Ihnen einen Hinweis geben. Von Maxime Leroy ist der dritte Band der „Histoir des Idées sociales“ er­ schienen, der eine Fülle guter Beobachtungen und Formulierungen enthält. Ich habe auch diesen Band für die VSWG rezensiert. Eine Kritik von Hans Naumann wird im Archiv RechtsSozPh erscheinen.419 Wegen einer Rezension hatte ich mit Prof. Paul Bastid, der ein Buch „Les Institutions politiques de la monarchie parlementaire franҫaise“ veröffentlicht

Tapié, La France de Louis XIII et de Richelieu, Paris 1952. Butterfield, Christianity, diplomacy and war, London 1953. 417  Georges Davy (1883–1976), Prof. für Soziologie an der Sorbonne. 418  Raymond Polin (1910–2001), 1945 Prof. für politische Philosophie in Lille, seit 1961 an der Sorbonne, deren Präsident er 1976 wurde; 2 Briefe (1955, 1960) im Nl. Schmitt. 419  Schnurs Rezension in: VSWG 42, 1955, S. 68–70. Hans Naumann hat das Buch nicht rezensiert. 415  Victor-Lucien 416  Herbert



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hat, einen kurzen Briefwechsel.420 Ich vertrat dort die Ansicht, dass die wechselnden Verfassungsverhältnisse in Frankreich darauf zurückzuführen seien, dass dort der Begriff des Staates nicht seine Wirksamkeit entfaltet ha­ be.421 Bastide schrieb mir zurück, dass das Element der Stabilität und Konti­ nuität in der Administration zu suchen sei, der es allein zu verdanken sei, wenn Frankreich trotz allem nicht der inneren Auflösung entgegengehe. Dieser Hinweis war für mich, in dieser Präzision doch recht neu.422 Meist gibt man für die Tatsache, dass das Land dennoch politisch existiere, andere Erklärungen. Diese mögen wohl teilweise zutreffen, doch fehlt ihnen die Überzeugungskraft, zumindest für den Juristen. In einem anderen Buch habe ich für Sie einen wichtigen Hinweis gefunden: Grundlage der neuen Gesellschaft (der von 1789 ff.) sei in starkem Maße die Enteignung des Adels und der Kirchen gewesen (une autre nationalisation).423 Der Beginn der neuen Gesellschaft setzt demnach eine neue Vermögensnah­ me voraus. Ihr Nomos, um es so zu sagen, war denn auch im Wesentlichen das Eigentum. Es war selbst unter der Restauration so stark, dass die Wieder­ gutmachung in Form einer Entschädigung in Geld und nicht in Rückübertra­ gung erfolgte. – Ich bitte Sie auch am Ende des Briefes um Verzeihung – diesmal dafür, dass ich Ihnen nichts Wichtiges mitteilen konnte. Die Vorbereitung auf das Exa­ men beansprucht mehr Kräfte, als ich anfangs glaubte. Mit herzlichen Grüßen Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur

420  Paul Bastid (1892–1974), franz. Jurist und Politiker; das genannte Buch er­ schien in Paris 1954. 421  Von C. S. am Rand angestr. und stenogr. Notiz. 422  „neu“ von C. S. unterstr. und Fragezeichen am Rand. 423  Von C. S. am Rand angestr. und stenogr. Notiz.

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1955 – Roman Schnur an Carl Schmitt

84. 1955-03-10 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14247, ms.

Paris 6e, den 10.3.1955 17, Rue Git-le-Coeur

[darunter von C. S.] b. 14/4 55 u. stenogr. Notiz

Sehr geehrter Herr Professor, Ich bitte Sie um Verzeihung dafür, dass ich solange nichts von mir hören ließ. Die Vorbereitungen zum Assessor-Examen haben mich so sehr bean­ sprucht, dass ich kaum dazu kam, mich mit anderen Dingen als mit dem Examensstoff zu befassen. Ich habe endlich das Examen hinter mir, und zwar mit „befriedigend“. Mein Gesuch um Einstellung in den Staatsdienst der In­ neren Verwaltung läuft noch. Ich wurde Herrn Krauthausen vorgestellt, der sich sehr für meine hier in Paris vorzubereitende Arbeit interessierte.424 Er will mich sogleich einstellen und mich bis zum ersten August ohne Gehalt beurlauben. Wahrscheinlich werde ich bald einem Ministerium überwiesen. Ich selbst habe von Herrn Krauthausen einen sehr guten Eindruck gewonnen. Ich habe nicht verfehlt, auf meine Beziehung zu Ihnen hinzuweisen. Wie Sie wohl bereits wissen, will ich hier eine Arbeit über die völkerrechtli­ chen Ideen der Französischen Revolution vorbereiten. Die Arbeit scheint mir fällig zu sein. Was bisher über dieses Thema geschrieben wurde, stand noch nicht unter dem Eindruck von zwei Weltkriegen, bzw. von dessen fehlenden echten Friedensschlüssen. Ich glaube, hier wertvolles Material zu finden. Seit einigen Wochen bin ich Redaktionssekretär am Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Trotz der Bedenken, die Sie seinerzeit über die Zeitschrift geäußert haben, habe ich das Angebot Viehwegs angenommen, weil ich glaubte, auf diesem Weg für etliche jüngere Leute den Weg zu dieser Zeit­ schrift ebnen zu können. Inzwischen haben die Herren Krauss, Kesting, Ko­ selleck sowie Sombart ihre Mitarbeit zugesagt und auch bereits Arbeiten eingeschickt. Herr Kaiser wird ebenfalls am Archiv mitarbeiten. Ich habe inzwischen auch von etwa 10 französischen Gelehrten Zusagen erhalten, u. a. von Kojève, Ellul, Cuvillier,425 Polin, Derathé426 und Rubel,427 einem ausge­ zeichneten Marx-Kenner. Ich erwarte eine Zusage auch von Herrn Ripert, der 424  Udo Krauthausen (1894–1969), Ministerialdirektor im Innenministerium von Rheinlanmd-Pfalz. 425  Armand Cuvillier (1887–1973), franz. Philosoph und Soziologe. 426  Robert Derathé (1905–1992), franz. Philosoph, Spezialist für Rousseau. 427  Maximilien Rubel (1905–1996), österr.-franz. marxistischer Soziologe.



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soeben ein neues Buch veröffentlicht hat: Les forces créatices du droit.428 Ich kenne es noch nicht. Inzwischen war ich auch bei Maxime, der kaum gealtert ist, trotz seiner 82 Jahre. Er muss von irgendeinem Emigranten in seiner Meinung über Sie beeinflusst worden sein, er sprach von Ihrem Verhalten hier in Frankreich während des Krieges. Ich werde ihn bei nächster Gelegenheit um Angabe von Einzelheiten bitten. Kojève teilte mir mit, dass er dabei ist, ein großes Hegel-Buch zu vollenden. Es soll eine mise-à-jour der Hegelschen Ideen werden. Ich werde mir erlau­ ben, Ihnen mitzuteilen, wann das Buch erscheint. Meine überarbeitete Dissertation ist soeben bei Röhrscheid erschienen. Ich werde Ihnen natürlich ein Exemplar schicken. In der HZ 179, S. 200, soll Herr Prof. Hubatsch meine Arbeit sehr zerrissen haben.429 Ich kenne die Kritik noch nicht, weil dieses Heft der HZ nicht ausliegt. Man teilte es mir brieflich mit, und zwar von der Leitung des Rheinischen Archivs. Ich kann allerdings nicht verstehen, weshalb die Arbeit unwissenschaftlich sein soll. Nach Äußerungen von Ihnen, der Herren Bader, Wehberg und Hartung430 glaubte ich, die Arbeit zur Veröffentlichung freigeben zu können. Dass sie kein Meisterstück ist, weiß ich zur Genüge. Ich würde heute, nach bald drei Jahren, manches anders formulieren. Möglicherweise habe ich nicht genug betont, dass die Arbeit nicht rein historisch ausgerichtet ist. Ich bin gespannt zu erfahren, was Herr Hubatsch mir vorwirft. Wissen Sie, dass Peter Schneider (Tübingen) eine Habilitations-Arbeit vorbe­ reitet, die sich mit Ihrem oeuvre befasst?431 Ich bin gespannt darauf. Natür­ lich werde wir sie im Archiv eingehend würdigen lassen, entweder von Herrn Ripert, Les forces créatrices du droit, Paris 1955. Hubatsch (1915–1984), Historiker, hat am angegebenen Ort eine eben­ so kurze wie vernichtende Kritik geschrieben und Schnur bescheinigt, dass er als wissenschaftlicher Anfänger, was Aufbau, Durchführung und Ergebnisse anbelangt, überfordert gewesen sei. 430  Fritz Hartung (1883–1967), Historiker mit Schwerpunkt Verfassungsgeschich­ te, 1922 Prof. in Kiel, von 1923 bis 1949 in Berlin. 431  Peter Schneider (1920–2002), schweizer Jurist, hatte sich schon 1953 kritisch zu Schmitt geäußert (Schmittiana IV, S. 227–248), habilitierte sich 1955 bei Carlo Schmid in Tübingen mit der Arbeit „Ausnahmezustand und Norm. Eine Studie zur Rechtslehre von Carl Schmitt“ (Stuttgart 1957), wurde 1956 Ordinarius für Öffentl. Recht in Mainz. Schmitt hat sich im Glossarium wiederholt sehr kritisch mit ihm befasst; der Brief, den er Schneider zu seinem Buch schrieb, ist ein Kunstwerk von beißender Kritik unter Wahrung der höflichen Form (Kopie bei den Schmitt-Briefen im Nl. Schnur). Vgl. auch BW Mohler, S. 143 ff., 238 f. (Abdruck des Briefes); BW Huber S.  374 ff. 428  Georges 429  Walther

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1955 – Carl Schmitt an Roman Schnur

Krauss oder von Herrn Kaiser. Jedenfalls von einem Herrn, der Ihrem Werk nicht mit Vorurteilen gegenübersteht. Indem ich Sie bitte, den ziemlich schlechten Brief, der am Abend bei klei­ nem Licht geschrieben worden ist, zu entschuldigen, bleibe ich in steter Hochachtung Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 85. 1955-04-14 Carl Schmitt an Roman Schnur 216–217, hs.

Plettenberg, 14/4 55 Lieber Dr. Roman Schnur, waren Sie über Ostern in Paris? Ich wollte Ihnen seit langem schreiben, aber vorher zweierlei abwarten: Ihre Dissertation und den Sonderdruck meines Beitrags für die Ernst-Jünger-Festschrift.432 Beides ist bisher nicht eingetrof­ fen. Deshalb schreibe ich jetzt, um nicht länger mit der Antwort auf Ihren Brief vom 10. März zu warten. Die Besprechung von Prof. Hubatsch kenne ich noch nicht. Es wäre wichtig zu wissen, ob sie spezielle Motive und Absichten hat. Das kann ich von Plettenberg aus schwer erfahren. In Göttingen kenne ich niemand, der mich darüber informieren könnte. Werner Weber ist sehr verschlossen,433 Smend434 intrigant, die ganze Universität, wie alle übrigen in Deutschland, durchsetzt mit stummen Feindschaften und dem, was man auf spanisch „interes crea­ dos“ nennt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich auf dem Laufenden 432  Carl Schmitt, Die geschichtliche Struktur des heutigen Weltgegensatzes von Ost und West. Bemerkungen zu Ernst Jüngers Schrift ‚Der gordische Knoten‘, in: Armin Mohler (Hrsg.), Freundschaftliche Begegnungen. Festschr. für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1955, S. 135–167 (jetzt in: SGN, S. 523–551). Schmitt schickte den Sonderdruck am 16. Apr. 1955 (vgl. RW 265–19600). 433  Das Verhältnis Webers zu Schmitt, das in den vierziger Jahren eng und fami­liär war (vgl. BW Duschka), kühlte in den fünfziger Jahren ab, wofür Günther opportu­ nistische Gründe bei Weber vermutet; Günther, S. 138 f. 434  Rudolf Smend (1882–1975), Staats- und Kirchenrechtler, Ordinarius 1911 in Tübingen, 1915 in Bonn, wo ihm Carl Schmitt 1922 nachfolgte, als Smend nach Berlin wechselte. Von dort musste er 1935 auf politischen Druck nach Göttingen aus­ weichen. Schmitt hatte zunächst ein freundschaftlich-kollegiales Verhältnis zu ihm, das dann durch sein NS-Engagement beendet wurde; TB IV und V, BW Smend.



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hielten und glaube nicht, dass Sie in der Sache wegen des Wertes Ihrer Dis­ sertation besorgt zu sein brauchen. Joseph Kaiser ist also jetzt Ordinarius in Freiburg. Das hat sehr schnell ge­ gangen. Peter Schneider kenne ich nicht persönlich, und er kennt mich weder persönlich noch sachlich. Seine Besprechung meiner „Lage der europäischen Rechtswissenschaft“ (in Dölles Intern. Privat-Rechtl. Zeitschrift) sucht die offensichtliche Inkompetenz durch antifaschistische Gesinnungstüchtigkeit überzukompensieren.435 Was Sie mir von Maxime Leroy schreiben tut mir leid. Es bestätigt aber die Hemmung, die ich hatte, und die mich trotz aller Verehrung abhielt, nach Paris zu fahren und ihn zu besuchen. Maxime Leroy weiß, dass Frankreich nach 1815 durch die Remigranten zugrunde gerichtet worden ist. Die heutige Rolle der Remigranten objektiv zu beurteilen, fehlt ihm wohl die existenzielle Überlegenheit. Mein „Verhalten“ in Frankreich liegt in dem gedruckten Vortrag vom Oktober 1942 zu Tage.436 Das ist alles. In Ernst Jüngers „Strahlungen“ kann man es nachlesen. Oder verwechselt er mich wieder mit Carlo Schmid?437 Wer weiß, was die Giftstreuer dem alten Mann in die Ohren geblasen haben. Es hat wenig Sinn, damit zu kämpfen. Auf das Hegel-Buch Kojèveʼs bin ich gespannt. Machen Sie Kojève auf Nehmen / Teilen / Weiden aufmerksam (inzwischen auch in der Revue Inter­ nationale de Sociologie in Rom erschienen; ich schicke Ihnen gern einige Sonderdrucke)438 und sagen Sie ihm, durch seine „Introduction“ sei mir klar geworden, dass Hegels Phänomenologie eine fabelhafte Gott-Nahme ist. Er kann genug Deutsch, um das zu verstehen. Jedenfalls versteht er es eher als der arme Herr Spranger.439 Ich war lange nicht in Mainz. Meine dortigen Bücher habe ich billig an einen Antiquar (Kerst in Frankfurt) verkauft. Auf diese Weise sind sie wenigstens

435  Peter Schneiders Rezension in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 18, 1953, S. 560–564. 436  Schmitt meint seinen Vortrag über die französischen Legisten, s. oben, Nr. 6. 437  Während Carl Schmitt zur Zeit der deutschen Besetzung nur besuchsweise in Frankreich war, war Carlo Schmid von 1940 bis 1944 Kriegsverwaltungsrat in Lille. 438  Carl Schmitt, Nehmen / Teilen / Weiden. Ein Versuch, die Grundfragen jeder Sozial- und Wirtschaftsordnung vom Nomos her richtig zu stellen, in: Gemeinschaft und Politik. Zeitschr. für soziale und politische Gestaltung 1, 1953, H. 3, S. 17–27 (jetzt in: VA, S. 489–504). Der Aufsatz erschien 1954 auch in: Revue internationale de sociologie 1, 1954, H. 1. 439  Eduard Spranger (1882–1963), Philosoph und Pädagoge, seit 1919 Prof. an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, 1945 kommissarischer Rektor, seit 1946 Prof. in Tübingen. Nach Kriegsende befragte Spranger Schmitt wegen seines NSEngagements, womit die freundschaftliche Beziehung beendet war; vgl. ECS, S. 9–12; BW in: Schmittiana NF II, 2014, S. 130–152.

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endlich katalogisiert worden.440 Wenn ich Ihnen bei Herrn Dr. Zimmer441 oder Krauthausen helfen kann, tue ich das gern. Alle guten Wünsche für Ihre Tätigkeit in Paris und die herzlichsten Grüße Ihres alten Carl Schmitt 86. 1955-04-15 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14248, ms.

Paris 6e, den 15.4.1955 17, Rue Git-le-Coeur

[daneben von C. S. umfangr. stenogr. Notiz]

Sehr geehrter Herr Professor, Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Brief, den ich mit Spannung erwartet hatte. Leider kann ich Ihnen z. Z. kein Exemplar meiner Dissertation von hier aus schicken, weil ich hier keines besitze und Ihnen von Mainz aus nicht gerne ein Exemplar ohne Widmung zukommen lassen möchte. Ich hoffe, in etwa zwei Wochen Ihnen von hier aus ein Exemplar mit Widmung zusenden zu können. Mit Kojève hoffe ich in Kürze sprechen zu können. Deshalb wäre ich froh, wenn Sie mir zwei Sonderdrucke von „Nehmen, Teilen, Weiden“ zuschicken könnten. Ich habe mein eigenes Exemplar verliehen, es aber nicht mehr zu­ rückbekommen. Von Ihrer Bibliothek besitze ich noch einige Bücher. Bitte teilen Sie mir mit, wohin ich sie schicken lassen soll. Meine eigene kleine Bibliothek kann ich hier ziemlich aufbessern, soweit das Geld reicht. Man findet hier mitunter noch wertvolle Sachen, wenngleich der Büchermarkt bei weitem nicht mehr das bietet, was er früher einmal bieten konnte.

440  Die Amerikaner haben die beschlagnahmten Bücher Schmitts katalogisiert, diesen Katalog aber nicht mit der Bibliothek zurückgegeben, und im Mainzer Institut für Europäische Geschichte wurden sie nicht katalogisiert. Von den vier hektogra­ phierten Verkaufslisten, die das Antiquariat Kerst 1954 anfertigte, ist nur eine erhal­ ten; diese provisorische Verzeichnung ist auch kaum als „Katalog“ anzusehen. Vgl. dazu Schmittiana NF I, S. 257–332. 441  Aloys Zimmer (1896–1973), Jurist, von 1951 bis 1957 Innen- und Sozialminis­ ter in Rheinland-Pfalz. Zimmer war 1924 in Bonn von Schmitt promoviert worden; 4 Briefe (1927–1953) im Nl. Schmitt; s. TB III.



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Zu Maxime gehe ich gelegentlich – allerdings werden die Gespräche mit ihm langsam unfruchtbar, weil er sehr alt ist. Er hat im März das 83. Jahr er­ reicht! Dass die Remigranten nach 1815 Frankreich zugrunde gerichtet ha­ ben, war lange Zeit auch meine Meinung. Ich habe sie nach Beau de Lomé­ nies Buch „Les responsabilités des dynasties bourgeoises“, das ein sehr wichtiges Buch ist, etwas korrigieren müssen.442 De Loménie weist nämlich nach, dass zu den Scharfmachern nach 1815 viele Leute gehörten, die nach 1795 bis 1815 ihr großes Geschäft gemacht hatten und nun nachweisen woll­ ten, dass sie schon immer dagegen gewesen seien. Dass diese Leute viel Schaden angerichtet haben, lässt sich leicht erkennen, wenn wir unsere Leute betrachten, die nach 1945 ihre antifaschistische Gesinnung entdeckt haben.443 Das Buch von de Loménie wird hier systematisch totgeschwiegen. Die Schwerindustrie wollte die gesamte Auflage aufkaufen, was ihr aber, gottlob, nicht gelang. Vielleicht schreibt Nicolaus fürs Archiv eine Notiz über das Buch – wo, wenn nicht bei uns, sollte er es sonst tun? Ich habe meine Studien über das Völkerrecht der Revolution für einige Wo­ chen aus technischen Gründen zurückstellen müssen und habe mich deshalb den Politiques gewidmet, jener Gruppe von Männern, die nach 1572 die Bürgerkriege beenden wollten. Ich habe hinreißend interessantes Material gefunden, das ich in einem kleinen Aufsatz auswerten möchte. Für mich ist das Wichtigste, dass gerade große Juristen den Bürgerkrieg entideologisie­ ren, will sagen: enttheologisieren wollten.444 Allgemein bekannt ist ja Bo­ dins Rolle. Aber ich fand, dass vielleicht andere große Juristen noch wir­ kungsvoller gearbeitet haben: Loisel,445 Coquille,446 Pithou,447 du Vair448 usw. Alles Juristen in hohen Stellungen, miteinander befreundet, sehr gelehrt und – der größte Teil, wie ich glaube, trotz dem Anschein nicht mehr katho­ lisch. Pithou war 1572 noch Calvinist – man verfolgte ihn deswegen. Er konnte sich soeben im Hemd aufs Dach retten und sich unter Lebensgefahr zu seinem katholischen Freunde Loisel flüchten, der ihn dann einige Monate 442  Emmanuel Beau de Loménie, Les Responsabilités des dynasties bourgeoises, Bd. 1–4, Paris 1947–1963. 443  Von C. S. „nach 1945“ unterstr. und am Rand: „sehr gut 1943“. 444  Von C. S. angestr. und am Rand: „ Silete theologi!!“ 445  Antoine Loisel (Losellus) (1536–1617), franz. Jurist, Rechtsberater des hohen Adels, Generalstaatsanwalt, enger Freund von Pithou; vgl. R. Schnur, Die französi­ schen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg, S. 31–40. 446  Guy Coquille (1523–1606), franz. Jurist, Advokat des Parlaments. 447  Pierre Pithou (1539–1596), franz. Jurist, ursprünglich Calvinist, konvertierte 1573 zum Katholizismus. Seine wertvolle Bibliothek (viele Handschriften) wurde nach der Bartholomäusnacht geplündert, Reste befinden sich heute in der Biblio­ thèque Nationale. 448  Guillaume du Vair (1551–1621), franz. Bischof, Essayist und Staatsmann.

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versteckte. Später konvertierte er. Blieb während der Liga in Paris,449 wo er seines Amts enthoben und verdächtigt wurde, politique zu sein.450 Seine au­ ßerordentlich wertvolle Bibliothek wurde in der Bartholomäusnacht geplün­ dert – sie war seine Rettung, denn sie hielt die Verfolger ab, ihn weiter zu jagen. 1582 ging er mit der Chambre de Justice in die Guyenne,451 zusam­ men mit Loisel. Dieser hielt bei der Eröffnung der Sitzungen jeweils An­ sprachen über aktuelle Themen. Montaigne war natürlich mit diesen Leuten gleich bekannt – Gleichgesinnte finden sich meist rasch.452 Eine dieser An­ sprachen hielt Loisel über die Amnestie.453 Ich kann Ihnen sagen, dass ich von deren Lektüre hingerissen war. Ein Buchhändler wird mir ein Exemplar verkaufen – ich will die Ansprache drucken lassen, notfalls auf eigene Kos­ ten. Obgleich während der Liga Pithou in Paris blieb, hat man ihn später in Ehren behandelt, ja ihn sogleich wieder eingesetzt. Du Vair blieb auch in Paris, auch ohne Sanktionen, während der Liga bedroht, verdächtigt; er schrieb nachher die klassische Verteidigung der Dagebliebenen, über die ich referieren werde. Bei den Siegern natürlich auch Hochgekommene, Louis Servin (konvert.), mit 34 Jahren Advocat du Roi, kein guter Charakter, der aber sah, wo er hingehen musste, um letzten Endes Erfolg zu haben.454 Andere, unerbittliche Sieger, wie de Clary, der eine wuchtige Ansprache über die „Entnazifizie­

449  In den Konfessionskriegen in Frankreich entstand 1576 die Heilige Liga (Sainte Ligue), in der sich katholische französische Adelige gegen die calvinistischen Huge­ notten verbündeten. Nach der Konversion Heinrichs IV. 1593 verlor die Liga an Be­ deutung. 450  Als „politiques“ wird eine Gruppe von französischen Juristen und Politikern bezeichnet, die nach einem Ausweg aus den Konfessionskriegen suchte durch Stär­ kung der absoluten Zentralgewalt und Verdrängung der Religion aus der Politik. Da­ durch sind sie die Vorreiter des konfessionell neutralen Staates. Schmitt hat sich in seinem Vortrag in Paris 1942 („Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten“) mit dem Thema befasst, woran Schnur sich mit seinem Beitrag zur Fest­ schrift Schmitts 1959 anschloss. Diesen Aufsatz arbeitete er dann zur selbständigen Publikation aus: Roman Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bür­ gerkrieg des 16. Jahrhunderts. Ein Beitr. zur Entstehungsgesch. des modernen Staates, Berlin 1962. 451  Frühneuzeitliche Provínz im Südwesten Frankreichs; durch Schaffung der De­ partements in Folge der Französischen Revolution aufgelöst. 452  Michel de Montaigne (1533–1592), Essayist, skeptischer Philosoph. 453  Antoine Loisel, De l’Amnestie ou oubliance des maux faits et receus pendant les troubles, et à l’occasion d’iceux. Remonstrance faite en la ville d’Agen, à l’ouverture de la cour de justice, Paris 1584. 454  Louis Servin (1555–1626), franz. Jurist, Advokat am Parlament in Paris; über ihn s. R. Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg, 35 f., Anm. 46.



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rung“ des Parlaments hielt.455 Heinrich IV. machte nicht mit, lediglich 4 oder 5, die sich wirklich kompromittiert hatten, wurden nicht mehr eingestellt. Bodin war bei dem ganzen Rennen nicht mit dabei, Laon war Nebenfront,456 wie überhaupt Bodin seltsamerweise überhaupt nicht zitiert wird. Möglicher­ weise war seine religiöse Indifferenz so offensichtlich, dass man sich mit Zitaten nicht kompromittieren wollte. Servin war wohl ebenfalls areligiös, Pithou und Loisel wohl noch Gläubige. Pithous großes Buch ist jedenfalls ein echtes politisches Buch, keine systematische Abhandlung.457 Eine Ten­ denz gegen die Kirche als politische Macht ist überall, auch bei den frommen Katholiken, zu erkennen. Der Staat besitzt als einziger politische Macht, auf die Nation bezogen, alle anderen Machtträger werden nicht anerkannt, die Kirche ist ein Interessenverband, eine Sekte, wie sie einer nannte, die wie alle Sekten politisch gefährlich werden kann … Ich kann hier nicht über die vielen interessanten Dinge berichten, die ich kennengelernt habe, vielleicht habe ich den Stil eines Briefes bei weitem überschritten. Ich wollte Ihnen nur eine Andeutung davon geben, was sich hier zu jener Zeit entwickelte. Jede systematische Behandlung von staatsthe­ oretischen Fragen fehlt, wenn man von einigen Ausnahmen absieht. Diejeni­ gen Fragen stehen im Vordergrund, die in keiner Systematik stehen – Bürger­ kriegsprobleme, also: wie verhält sich der Dagebliebene, wie hat sich der Sieger zu verhalten usw. Diese Fragen aber sind für eine Staatslehre genauso wichtig wie die systematischen, die sich leicht beantworten lassen in Zeiten einiger Stabilität. Hier wird die Staatslehre existentiell, entzieht sie sich jeder angeblichen Entpolitisierung. Die Bewegung hört mit dem Sieg Richelieus völlig auf, der Gegner ist weggefallen, die eigenen Begriffe somit auch. Die Juristen werden Routine-Juristen, die Söhne der einstmals Großen wollen den Lohn des Sieges einstecken, das Amt ist nur noch Pfründe. Die Justiz erstickt, das politische Leben auch, bis 1789 die Wendung bringt. Diese Dinge werden hier kaum gewürdigt, nicht erkannt – ein Zeichen dafür, dass Frankreich politisch wirklich am Ende ist. Diese Überzeugung habe ich gewinnen müssen, in einigen Gesprächen mit wichtigen Leuten. Als ich eini­ gen Leuten sagte, dass mich die Reden von Anarchasis Cloots über den Krieg für die Freiheit an Goebbels-Reden erinnern würden, haben sie mich

455  François de Clary (ca, 1550–1627), franz. Jurist, Präsident des Parlaments von Toulouse. 456  Bodin war zu der Zeit Staatsanwalt am Gericht in Laon. 457  Vermutlich ist das politische Pamphlet gegen die spanische Liga gemeint, das Pithou mit anderen Autoren 1593 anonym unter dem Titel „Satyre Ménippée“ veröf­ fentlichte; s. unten Nr. 114.

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nicht verstanden.458 Sie meinten, ich wolle doch hoffentlich nicht den Krieg von 1939–45 verherrlichen … So bleiben mir als eigentliche Gesprächspart­ ner hier Loisel, Pithou, du Vair, die mich besser verstehen als meine franzö­ sischen Zeitgenossen. Ich habe schon manch langen Spaziergang mit Ihnen gehabt … Ich bleibe stets Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 87. 1955-04-16 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14249, hs., Postkt.

Paris 6e, den 16.4.1955 17, Rue Git-le-Coeur Sehr geehrter Herr Professor, Ich möchte Ihnen sofort für den Sonderdruck aus der Jünger-Festschrift herz­ lich danken. Mir sind bei der ersten Lektüre einige Bemerkungen eingefallen, die ich Ihnen brieflich mitteilen möchte. Vor einigen Tagen habe ich den folgenden Satz eines katholischen Staats­ rechtslehrers gefunden: „Comme Antée, le choix ne retrouve sa force que par l’étroit contact avec la terre.“459 Herr Kaiser hat mir soeben mitgeteilt, dass er hier in Paris ist. Ich werde ihn zu Anfang nächster Woche treffen. Kennen Sie übrigens das Buch von Jacques Ellul, La Technique ou l’enjeu du Siècle? Ellul ist Professor an der juristischen Fakultät in Bordeaux. Mit herzlichen Grüßen bin ich Ihr sehr ergebener Roman Schnur

458  Anarchasis Cloots (1755–1794), aus niederländischem Adel stammender, im preußischen Kleve geborener Adeliger, der in Frankreich zum Revolutionär wurde und mit seinen Schriften zu einem der heftigsten Vertreter der Revolution zählt, was ihn schließlich unter die Guillotine brachte. 459  Der aus der griechischen Mythologie bekannte Riese Antaios war der Sohn von Gaia, der Göttin der Erde.



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88. 1955-04-20 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14250, hs.

Paris 6e, den 20.4.1955 Sehr geehrter Herr Professor, Als Dank für die Sonderdrucke möchte ich Ihnen einige Stellen aus dem Testament Pithous in französischer Übersetzung mitteilen.460 I. Au milieu des trahisons et des perfidies du siècle le plus corrompu, j’ai été, autant qu’il m’a été possible, Esclave de ma parole. X. La Patrie a concentré toutes mes affections. XI. Préférant par goût, une vie labourieuse à l’éclat des honneurs et des dignités: j’ai mieux aimé éclairer les autres que les dominer. XIII. J’ai desiré la guérison et le retablissement de l’État, mais je ne l’ai desiré [que] par les moyens les plus simples, les plus doux, les plus ordinaires. XIV. La paix, quelles qu’en fussent les conditions, m’a toujour paru préferable à la guerre, et aux dissensions, quoique plusieurs gens de biens puissent penser le contraire. XVII. J’ai craint et éviter le danger des vaines questions, et des disputes trop subti­ les sur les chose de Dieu. XXI. Mes plus beaux jours ont été ceux que j’ai eu le bonheur de donner à l’État, ou à mes amis. 460  „Testament Pithous“ von C. S. unterstr. und am Rand: „1587“. Im Nl. Schmitt befindet sich der Durchschlag einer ms. Abschrift des ganzen Testaments mit roten Unterstreichungen Schmitts, RW 265–21251.

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1955 – Carl Schmitt an Roman Schnur

Venez, Seigneur, et répendez sur moi les trésors de vos miserecordes. J’ai écrit ceci à Paris, le premier Novembre, jour de ma naissance, en 1587. Aus: Grosley, Vie der Pierre Pithou, Paris 1756, vol. 2, S. 88 ff. (Ohne Kommentar von Ihrem Roman Schnur) 89. 1955-04-26 Carl Schmitt an Roman Schnur 218–219, hs.

Plettenberg, 26/4 55 Lieber Roman Schnur, die Stellen aus dem Testament Pithou’s sind mir sehr nahe gegangen. Es ist merkwürdig, aber auch natürlich, dass die Zeit des konfessionellen Bürger­ krieges Sie mehr fesselt, als die der großen Revolution. Die Analogien zur Gegenwart drängen sich auf. Ich weiß nicht, ob Sie meinen Aufsatz „Die Prägung des französischen Geistes durch den Legisten“ kennen. [am Rand:] (Aufsatz aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern von 1942; im gleichen Heft ein Beitrag von Montherlant.461) Darin ist auch ein Kapitel über Bodin und seine Zeitgenossen.462 Aus dieser Zeit stammt das europäische Staats­ recht; seine Parole ist das „Silete theologi!463 Die heutige Unterwanderung mit sog. Naturrecht durch Typen à la Frh. von der Heydte ist eine unverant­ wortliche Fälschung. Sind Bodin’s Six Livres de la République in der großen Ausgabe der Presses Universitaire des France erschienen? Corpus général des Philosophes Fran­ çais. Sie haben mir einmal die Methode de l’histoire (t. V, 3) besorgt. Ich hätte auch gern die andern inzwischen erschienenen Bände.464 Aber auch das Buch von Beau de Loménies würde mich sehr interessieren. Können Sie nicht Armin Mohler darauf aufmerksam machen, damit er es in der „Tat“ bespricht? 461  Henry de Montherlant (1895–1972) franz. Schriftsteller; in „DeutschlandFrankreich“ (Jg. 1, 1942, H. 2, S. 109–117) veröffentlichte er: „Fragments d’un jour­ nal de guerre 1940“. 462  Kap. V im Legisten-Aufsatz. 463  Die von Schmitt öfter zitierte Parole „Silete theologi in munere alieno“ (Schweigt, Theologen, in Dingen, von denen ihr nichts versteht) ist ein Zitat des frühneuzeitlichen Völkerrechtlers Albericus Gentilis. 464  In dieser Reihe sind keine weiteren Tätel von Bodin erschienen.



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Die Erfahrung, die Sie in Paris machen, kenne und teile ich seit 1945. Man will die eigentliche Erkenntnis, die uns die 12 Jahre Hitler-Zeit verschafft haben, nicht sehen; man will Wiedergutmachung und Entschädigungsansprü­ che konstruieren; man sitzt auf seiner Rache wie auf einer guten Beute; alles andere ist uninteressant. Lesen Sie nur die Entscheidungsgründe des Beam­ ten-Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 1953.465 Als ich sie gelesen hatte, erkannte ich unsere wirkliche Verfassung. Die Zeit der „Politiciens“466 ist eine Fundgrube. Deshalb hat mich Ihr Brief vom 15/4 so lebhaft interessiert und beschäftigt. Ich fand übrigens sehr schö­ ne Hinweise in dem Buch des Advokaten Fernand Payen, Le Barreau et la Langue Française, Paris (Grasset) 1939, den ich in meinem Legisten-Aufsatz auch zitiert habe. Lassen Sie sich aber nicht von Ihrem eigentlichen Thema ablenken. Ich wollte Sie nochmals auf Rüdiger Altmann hinweisen (Marburg, Lahn, Gutenbergstr. 18), den ich für einen der bedeutendsten jungen Juristen meiner Bekanntschaft halte.467 Die Arbeit (Dissertation) über Demokratie und öffentliche Meinung ist glänzend; er arbeitet jetzt an der Habilitations­ schrift über Kompromiss und Verfassung. Auf Ihren Bericht über Kojève bin ich neugierig. Schreiben Sie mir ausführlich, auch über sein äußeres Erschei­ nungsbild. Sein Verständnis für Nehmen / Teilen / Weiden wird für mich ein Kriterium sein. Ich hatte Besuch von dem Oberregierungsrat Dr. Ernst Kern, Bundesinnen­ ministerium, der oft in Paris ist (Thema: Beamtentum bei den IntegrationsGebilden); haben Sie ihn einmal gesehen? Es ist der Mühe wert, mit ihm zu sprechen. Zur Zeit ist er in Genf.468

465  Gegen die gesetzliche Regelung der Beamtenversorgung von 1951 klagte eine Gruppe betroffener Beamter. Mit Urteil vom 17. Dez. 1953 stellte das Bundesverfas­ sungsgericht fest, dass alle Beamtenverhältnisse mit dem 8. Mai 1945 erloschen sei­ en, das Gesetz von 1951 daher eher eine wohltätige, als gezwungene Überleitung sei. Die Entscheidung wurde auführlich begründet. Vgl. van Laak, S. 123–125. 466  Schmitt verwendet „politiciens“ im Sinne von „politiques“; vgl. dazu Schnur, unten Nr. 115. 467  Rüdiger Altmann (1922–2000), Jurist und politischer Schriftsteller, studierte während des Krieges bei Schmitt. Seine Dissertation von 1954 bei Wolfgang Abend­ roth hatte das Thema „Das Problem der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die moderne Demokratie“, ein Habilitationsvorhaben zum Thema „Kompromiss und Ko­ alition“ zerschlug sich. Vgl. van Laak, S. 262–265. 468  Ernst Kern (1923–1989), Jurist, seit 1950 Haushaltschef der OECD in Paris, später Ministerialbeamter im Bundesinnenministerium, Beiträger zur Schmitt-­ Festschr. von 1959; 55 Briefe, 3 Postkt. (1951–1981) im Nl. Schmitt.

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1955 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Schade, dass Sie den Frankfurter Sender in Paris nicht bekommen! Morgen, (Mittwoch) abend wiederholt man mein Gespräch über Land und Meer auf UKW.469 Indem ich Ihnen für Ihren Brief vom 15. April nochmals besonders danke, bleibe ich mit allen guten Wünschen und herzlichen Grüßen Ihr alter Carl Schmitt

90. 1955-05-01 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14251, ms.

Paris 6e, den 1.5.1955 17, Rue Git-le-Coeur

[daneben u. am Ende von C. S. umfangr. stenogr. Notizen]

Sehr geehrter Herr Professor, Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Brief. Es freut mich sehr, dass Sie verste­ hen, weshalb mich die zweite Hälfte des 16. Jh.s so beschäftigt. Der Hinweis auf das Buch von Payen war mir sehr wichtig. Ich habe vor drei Jahren zum letzten Mal Ihren berühmten Aufsatz über die Legisten gelesen. Er ist ja nur sehr schwer zu finden. Für mich war die erneute Lektüre von Mannheims Ideologie und Utopie recht fruchtbar.470 Für die Erfassung der gegenwärtigen Situation des politischen Denkens in der Bundesrepublik sind Mannheims Erkenntnisse geradezu entscheidend. Ich hoffe, über diese An­ deutung hinaus demnächst Näheres dazu sagen zu können. Ich danke Ihnen auch sehr für den Hinweis auf Herrn Altmann, den ich be­ reits wegen der Mitarbeit am Archiv angeschrieben habe. Die Freude, in Herrn Kaiser einen fruchtbaren Mitarbeiter gefunden zu haben, wird leider nur kurz sein, weil er jetzt noch weniger Zeit als vorher haben wird. Wegen der Rezension eines großen Buches über Laski habe ich Herrn Fleig ange­

469  Das im hessischen Rundfunk gesendete Gespräch fand Schmitt „grossartig vor­ getragen“ (BW Mohler, S. 192); dasTyposkr. der Sendung liegt im Nl. Schmitt, RW 265–21788. 470  Karl Mannheim (1893–1947), Soziologe; sein wissenssoziologisches Werk „Ideologie und Utopie“ erschien erstmals 1929.



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schrieben, und zwar auf Grund eines Hinweises von Armin Mohler.471 Den rasanten Aufsatz von Nicolaus Sombart über St. Simon und Comte kennen Sie sicher im Manuskript. Wir veröffentlichen ihn am 1.8.472 Herr Koselleck bespricht u. a. das Buch von Butterfield (am 1.6.) und das Buch von Kirk, The Conservative Mind from Burke to Santayana. Ferner werden u. a. rezen­ siert: das neue Buch von Hans Freyer,473 von Ellul, La technique ou l’enjeu du siècle, Strauss-Kojève, De la tyrannie (von Herrn Scheibert) usw. Von Bodins Werken ist kein weiterer Band erschienen. Wie ich erfahren ha­ be, verzögert sich die Sache dadurch, dass es dem Herausgeber schwerfällt, den richtigen Text der Six livres auszuwählen. Ich meine, er sollte die beste französische Ausgabe und die lateinische Ausgabe bringen. Kennen Sie übrigens die Referate der Semaines Sociales 1954: Crise du Pouvoir et Crise du Civisme?474 Sie enthalten das Beste, was nach 1945 über die Lage des Staates in Frankreich gesagt worden ist. Sodann hat mir die Verlegerin von Bertrand de Jouvenel mitgeteilt, dass dessen Buch „De la Souveraineté“ im Juni erscheinen wird (Librairie de Medicis). Soll ich Ihnen ein Exemplar davon schicken? Mit diesen Tagesnachrichten bleibe ich Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur

471  Hans Fleig (1916–1988), England-Korrespondent der Züricher Zeitung „Die Tat“; 43 Briefe, 3 Postkt., 1 Telegr. (1949–1975) im Nl. Schmitt; BW Journalisten; zum Verhältnis Schmitts zu Fleig vgl. vor allem BW Mohler. 472  Nicolaus Sombart, Vom Ursprung der Geschichtssoziologie, in: ARSP 41, 1955, S. 459–510. 473  Hans Freyer (1887–1969), Soziologe, Philosoph, Historiker, seit 1922 Prof. in Kiel, 1925 Leipzig, 1938 Budapest, 1945 wieder Leipzig, dort 1947 entlassen, 1953 bis zur Emeritierung 1963 in Münster. Schmitt lernte Freyer 1929 bei der Tagung der Kantgesellschaft in Halle kennen und blieb bis zu dessen Tode mit ihn befreundet; 7 Briefe, 1 Postkt. (1942–1960) im Nl. Schmitt; van Laak, S. 97–99. 474  Crise du pouvoir et crise du civisme. Compte rendu in extenso (Semaines so­ ciales de France, 41e session, Rennes, 1954), Paris und Lyon 1954.

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1955 – Carl Schmitt an Roman Schnur

91. 1955-05-04 Carl Schmitt an Roman Schnur 022–023, hs.

Plettenberg, 4/5 55 Mein lieber Roman Schnur, zunächst möchte ich Ihnen mitteilen, dass Herr Oberregierungsrat Dr. Ernst Kern am 16/5 für 3–4 Tage nach Paris kommt. Er würde sich freuen, wenn er Sie bei dieser Gelegenheit sehen und sprechen könnte; auch ich würde mich darüber freuen, denn er ist einer der bedeutendsten Kenner des öffent­ lichen Rechts in Theorie, Geschichte und Praxis; dazu im Gespräch lebendig und fruchtbar. Er wohnt: Hotel Beauséjour, Paris 17e, 19 Avenue de Wagram, Tel. Ètoile 1044. Dann muss ich Ihnen für Ihr Schreiben vom 1.5. und den beigefügten Son­ derdruck Ihres Besprechungsbeitrages herzlich danken.475 Sie können sich denken, welche wohlschmeckende und nahrhafte Speise das für mich ist. Wie viele Leute in Deutschland mögen Ihnen für diese saubere, anständige und erstklassige Vermittlung französischen Geistes die Dankbar­ keit erweisen? Ich müsste einen viel zu langen Brief schreiben, um Ihnen alles mitzuteilen, was mir bei der Lektüre dieses überreichen Aufsatzes ein­ gefallen ist. Ihre Information über R. Polin war mir so wichtig, dass ich das Buch gerne kaufen würde; aber auch die Kritik von Leo Strauss möchte ich lesen und das Heft der Critique bestellen. Lässt sich das machen, und wie soll ich Ihnen das Geld schicken? Auch die andern (Derathé, Chevallier,476 Labrousse) interessieren mich, wie alles über Hobbes. Für mich ist es ein großes Erlebnis zu erfahren, dass jetzt das Hobbes-Interesse allgemein ein­ setzt. Erinnern Sie sich des Schlusses meines Büchleins von 1938 über den Leviathan: Non jam frustra doces, Thomas Hobbes!477 Zu meiner Freude sah ich aus der Inhaltsübersicht, dass Hanno Kesting seinen Aufsatz jetzt herausgebracht hat.478 Hoffentlich schickt er mir einen Sonder­ druck, womit ich nicht sagen will, dass ich es ihm verarge, wenn er es nicht tut. R. Altmann könnte doch auch ein Kapitel seiner Dissertation über „das 475  Roman Schnur, Neue französische Beiträge zur Geschichte der politischen ­Ideen (1950–1953), in: ARSP 41, 1954, S. 260–267. 476  Jean-Jacques Chevallier (1900–1983), Jurist und Historiker, 1926 bis 1942 Prof. in Grenoble, dann bis zur Emeritierung 1970 in Paris. 477  „Du lehrst nicht vergeblich.“ 478  Hanno Kesting, Utopie und Eschatologie. Zukunftserwartungen in der Ge­ schichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, in: ARSP 41, 1954, S. 202–230. Ein Son­ derdruck befindet sich im Nl. Schmitt.



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Problem der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die Demokratie“ in dieser Weise publizieren. Oder einen Aufsatz über Eric Voegelins The New Science of Politics, Chicago 1952 und seinen Begriff von Repräsentation schreiben. Allerdings hat heute niemand Zeit, die jungen Leute noch weniger als die al­ ten. Ich habe Zeit, dank der Bosheit meiner Verfolger, sie meinten es böse, aber wieder einmal – wie schon 19479 ‒ wandte Gott es zum Guten. Es ließ sich nicht vermeiden, dass ich mich bei dem Thema Hobbes an eini­ ge Stellen von Ex Captivitate Salus erinnerte. Zu Buch über „Tyrannie et Sagesse“ von Leo Strauss und Kojève müssten Sie einmal Ex Captivitate Seite 21 aus meiner „Antwort an Karl Mannheim“ lesen (Winter 1945/46). Heute ist es nicht mehr schwer, Gescheites zu dem Thema zu sagen. A propos Kojève: Sie schreiben nichts von ihm; ich wollte Sie bitten, meinen Wunsch, dass Sie ihm einmal das Problem der Nahme erwähnen, nicht missverstehen. Ich kenne ihn nicht und überlasse alles Ihrer Kenntnis der Sachlage und der Personen. Es darf unter keinen Umständen der Eindruck entstehen, als wollte ich mich an ihn herandrängen. Ich habe da schlimme Erfahrungen gemacht. Es gibt einen Typ – ich hoffe nicht, dass K. dazu gehört – der solche Annä­ herungen provoziert und dann triumphierend verkündet, man habe sich in würdeloser Weise an ihn angebiedert. Also Vorsicht. Herr Dr. Joh. Winckelmann, der jetzt bei Siebeck Max Webers Staat und Gesellschaft (endlich in brauchbarer Ausgabe) ediert,480 hat eine interessante Arbeit über Legalität und Legitimität geschrieben.481 Möglicherweise kommt er für Sie in Betracht (Oberursel/Taunus, Uhlandstraße 12). Nochmals herzlichen Dank! Viele Grüße und guten Erfolg für Ihre Arbeit! Denken Sie an Ihre Habil. Schrift und lassen Sie sich nicht von der Redak­ tions-Arbeit auffressen! Es wäre traurig, wenn Sie das Mallmann-Schicksal erlitten!482 Davor möge Sie ein Schutzengel bewahren! Stets Ihr alter Carl Schmitt 479  Die Jahreszahl ist nicht klar zu lesen, doch meint Schmitt die öffentlichen An­ griffe gegen ihn in der SS-Zeitschrift „Das schwarze Korps“ vom 3. und 10. Dez. 1936. 480  Johannes Winckelmann (1900–1985), begründete bei der Bayerischen Akade­ mie der Wissenschaften das Max-Weber-Archiv und gab 1956 eine um zahlreiche Fehler bereinigte Ausgabe von Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“ heraus. Schmitt, der den bisherigen Umgang mit Webers Werk als „Skandal“ heftig kritisierte (s. BW Mohler, S. 212), besprach Winckelmanns neue Ausgabe in: HPB 4, 1956, S. 195 f. 481  Johannes Winckelmann, Legitimität und und Legalität in Max Webers Herr­ schaftssoziologie, Tübingen 1952. 482  Walter Mallmann war lange Verlagslektor und Zeitschriften-Redaktor, bevor er eine Professur bekam.

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[Nachschrift:] Wenn Sie Zeit haben, lesen Sie beil. Aufsatz, Seite 14 f., 17 f.; und geben Sie ihn Dr. Kern, der ihn mir zurückgeben soll; ich habe nur noch dieses Exem­ plar! Sehr interessieren würde mich die von Ihnen in Ihrem Aufsatz Seite 260 Mitte erwähnte Diskussion über die Herkunft Bodins in der Genfer Bib­ liothèque (vgl. S.  Anm. meines Legisten-Aufsatzes!483) 92. 1955-05-06 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14252, ms.

Paris, den 6.5.1955 Sehr geehrter Herr Professor, Für Ihren Brief danke ich Ihnen herzlichst. Um gleich zur Hauptsache zu kommen: Ich war heute mittag bei Kojève.484 Ich hatte ihm vorige Woche mit einem Heft des Archivs gleich Ihren Sonder­ druck geschickt. Er lud mich zu einem Gespräch ein und fügte seinem Brief an mich den Brief an Sie bei, den ich dann auch gleich weitergeleitet habe. Das Gespräch mit Kojève, der in der Außenhandelsabteilung des Wirtschafts­ ministeriums arbeitet, war für mich außerordentlich anstrengend.485 Denn Kojève ist ein Mann, der sehr reflektiert angelegt ist. Da ich selbst noch lange nicht so weit bin, war es für mich eine große Mühe, ihm zu folgen. Dass er ein vertrauenswürdiger Mann ist, möchte ich durchaus annehmen. Er steht als Hegelianer viel zu hoch, um in Dingen wie Emigration, Remigra­ tion, Kollaboration und Kompromittierung Sprengstoff für Bosheiten zu se­ hen. Als lieber Gott in der Loge des Welttheaters steht er über diesen Dingen. Wenn er Ihrem Verhalten gegenüber etwas auszusetzen hätte (er hat darüber nicht besonders gesprochen), so wäre es höchstens der Vorwurf, nicht esote­ risch genug in gefährlicher Zeit gedacht zu haben. Das habe ich seinen allge­ 483  Es geht um die Frage der jüdischen Herkunft Bodins, die Schmitt 1936 noch annahm, 1942 in seinem Legisten-Aufsatz aber zurückwies; vgl. SGN, S. 199 f. mit der Anm. 23 auf S. 200 und der Anm.13 von G. Maschke auf S. 213. 484  Seine Beziehung zu Kojève hat Roman Schnur dargestellt in: Schmittiana VI, S. 57–63; dort auch der Briefwechsel Schmitts mit Kojève, S. 100–124. 485  In der Schilderung seiner Begegnung mit Kojève heißt es am Schluss: „Die Bekanntschaft mit Alexandre Kojève hat mir rechtzeitig klar gemacht, daß man die eigenen Grenzen erkennen und sich bemühen muß, innerhalb dieser Grenzen die ei­ genen Möglichkeiten wahrzunehmen. Ich verdanke Kojève auch die Einsicht, daß dies nicht wenig sein muß.“



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meinen Ausführungen entnommen. Im übrigen kennt er Ihr Werk aus der Zeit vor 1945 gut genug, um sich ein Bild von Ihnen zu machen. Kojève wirkt außerordentlich kraftvoll, von einer ungeheuren Energie be­ seelt. Das äußere Erscheinungsbild kann ich schwerlich beschreiben, er äh­ nelt etwas Sartre auf manchen Photos, doch hat er härtere Gesichtszüge. Ich sprach mit ihm über die verschiedensten Dinge, vor allem über Ihr Wort von der Gottnahme. Er verstand es nach meiner Andeutung im Brief nicht ganz, so dass ich ihm Ihre Ansicht klarmachte. Daraufhin sagte er, dass Sie die Sache vollständig verstanden hätten. Den meisten Kritikern sei entgan­ gen, was er habe sagen wollen, selbst sonst sehr gescheiten Leuten. Abgese­ hen von persönlichen Bekannten habe nur ein englischer Kritiker gemerkt, worauf seine Hegelinterpretation hinauslaufe, doch habe er sogleich die Sa­ che, d. h. seine Erkenntnis von Kojèves Absichten, (wohl bewusst) kaschiert. Er fand, daß Kesting mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit seiner Interpre­ tation gefolgt sei.486 Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass das Archiv demnächst noch Präziseres in dieser Richtung bringen werde. Im übrigen habe ihm ein Bekannter eine Stelle aus Hegels Pariser Tagebüchern gezeigt, aus denen hervorgehe, dass Heine Hegel verstanden habe. Als nämlich je­ mand Heine um Geld angehalten habe (ich gebe die Äußerung sinngemäß wieder), habe dieser gesagt, seit er Hegel nicht mehr folge, sei er kein Gott mehr, so dass für das Almosen oder Geschenk das Gebäude um die Ecke (die Kirche) der richtige Ort sei. Kojève sagte auch, dass allmählich die Zeit gekommen sei, vernünftige Neu­ interpretationen der Geistesgeschichte, vor allem des 17., 18. und 19. Jh.s, vorzunehmen. Ich erwiderte ihm, dass es einige Leute in Deutschland gebe, die geeignet seien, dieses Werk zu beginnen (Toynbee schätzt er, wie nicht anders zu erwarten war, gering ein487). Als er mich fragte, was ich von seinem Aufsatz „Tyrannie et Sagesse“ halte, antwortete ich, er habe mich keineswegs schockiert: Ich hielte seinen Aufsatz für überzeugender als die beiden Beiträge von Strauss. Darauf meinte er, wenn Hegel und er, was er annehme, recht hätten, könnte das gar nicht an­ ders sein. Im übrigen findet er die Entgegnung Straussens etwas schwach. 486  Bezieht sich auf die Dissertation Kestings, die nur in einem Extrakt veröffent­ licht wurde: Hanno Kesting, Utopie und Eschatologie. Zukunftserwartungen in der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, in: ARSP 41, 1954, S. 202–230. 487  Arnold J. Toynbee (1889–1975), engl. Historiker und Geschichtsphilosoph, der die Geschichte unter dem Aspekt von „Challenge and Response“ sah. Schmitt urteilte rigoros kritisch über ihn: „Alles was er schreibt, jeder Satz und jeder Tonfall, jede Formulierung und jeder Ausblick trägt den fatal-faden süßlichen Beigeschmack der Euthanasie.“ (Glossarium, S. 179).

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Er fragte mich, als wir über Bruno Bauer sprachen, ob ich nicht jemanden ansetzen könnte, über Bauer und Stirner488 zu schreiben. Das wäre eine sehr fruchtbare Sache, vorausgesetzt, dass der Betreffende Hegel kenne. Ich möchte damit meine Schilderung abbrechen, weil ich Einzelheiten nicht mehr genau wiedergeben kann. Abschließend möchte ich nur noch sagen, dass er neben Ihnen der Einzige ist, der mir im Gespräch eine ungeheure Hochachtung abgewonnen hat, der mir die Überzeugung gegeben hat, dass ich keineswegs mithalten kann. Sie können sich denken, dass ich nach einem solchen Gespräch (es dauerte eine Stunde) sehr erschöpft bin, (vielleicht so wie ein Mystiker nach einer Vision). An Herrn Winckelmann, dessen Buch bei uns demnächst besprochen wird, habe ich bereits geschrieben. Herrn Altmann bat ich, uns einen Teil seiner Arbeit zu überlassen. Ich hoffe, dass beide Herren mitarbeiten werden. Nico­ laus Sombart fragte ich, ob er Poppers Buch (The open society) und Voege­ lins Buch in einem Aufsatz unter dem Aspekt der offenen Gesellschaft be­ handeln will. Das würde nicht ausschließen (falls Sombart dazu bereit ist), dass Herr Altmann den besonderen Aspekt der Repräsentation bei Voegelin behandelt. Das Buch bietet für sehr viele und fruchtbare Erörterungen An­ lass. Ich habe auch unseren Verleger angehalten, ob er das Buch nicht über­ setzen lassen will. Was die Beschaffung der von Ihnen erwähnten Bücher angeht, so dürften keine Schwierigkeiten bestehen. Wir können die Sache so einrichten, dass Sie deutsches Geld an meine Frau schicken, die in Mainz wohnt (sie kommt demnächst für 2 bis 3 Wochen hierher). Ich schicke bereits mit gleicher Post den Polin an Sie ab, er kostet, nach dem hiesigen Kurs, 13,60.489 Wenn es Ihnen möglich ist, überweisen Sie bitte diesen Betrag an meine Frau (Ep­ pichmauergasse 1) noch vor dem 15. d. M., damit sie das Geld mitbringen kann. Ich bin nämlich leider hier auf jeden Pfennig angewiesen – ich lebe von Stipendien. Um einzelne Überweisungen zu vermeiden, wäre es viel­ leicht angebracht, dass Sie einen größeren Betrag übersenden, mit dem ich dann die Bücher kaufen kann. Der Labrousse ist allerdings noch nicht er­ schienen. Ich kündige Ihnen jedoch das Buch von de Jouvenel, De la Souver­ aineté, an, das im Juni erscheint. Die Verlegerin gibt mir eins der ersten ­Exemplare. Sie wird mich möglicherweise noch mit de Jouvenel bekannt machen. Sehr wahrscheinlich interessiert Sie der Jouvenel auch …

488  Max Stirner (1806–1856), Hegel-Schüler, Philosoph eines extremen Individua­ lismus, war eine Pubertätsliebe Schmitts. 489  Raymond Polin, Politique et philosophie chez Thomas Hobbes (Bibliothèque de philosophie contemporaine), Paris 1953.



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Für die Adresse von Herrn Kern danke ich Ihnen sehr – ich werde versuchen, ihn sprechen zu können. Leider kenne ich seine Arbeiten nicht. Das AssessorExamen hat mich doch etliche Monate wissenschaftlicher Tätigkeit gekostet. Über meine größere Arbeit berichte ich in einem kommenden Brief. Ich bin jetzt dicht am Thema. Es fesselt mich mehr, als ich annahm. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass ich beginne, in den Mechanismus der Ent­ wicklung hineinzuschauen, und nun gerne mehr sehen möchte. Die wichtigs­ te Frage ist für mich die: Was war der eigentliche Grund für den Umschlag der humanitären Weltbeglückungsideen in die handfeste Machtpolitik der Männer nach der Gironde? Man hat das bisher nicht erklären können, und spricht von irgendwelchen ungünstigen äußeren Umständen, z. B. davon, dass die Offensive der Koalition die Revolution gezwungen habe, vorerst die großen neuen Ideen aufzugeben. Diese Erklärung ist schon deshalb unhalt­ bar, weil die neuere französische Forschung nachgewiesen hat, dass die Girondisten den Krieg gegen die Revolution provoziert haben, und zwar ­ durch den Gebrauch der humanitären Weltbeglückungsideen! Da scheint mir der Ansatz für eine Erklärung zu liegen, die logisch wirklich befriedigt. Ich schließe den Brief mit der Versicherung, dass ich stets Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur bleibe. 93. 1955-05-11 Carl Schmitt an Roman Schnur 066, hs.

Plettenberg, 11/5/55 Lieber Dr. Roman Schnur, für Ihre Vermittlung und Übermittlung des Briefes von Kojève muss ich Ih­ nen besonders danken. Es ist erstaunlich, wie schnell und sicher Kojève versteht und „nimmt“, im Sinne des com-prendre; eine wahre Erquickung nach den Erfahrungen, die man in der Sandwüste des heutigen Universitäts­ betriebes täglich machen muss. Ich habe ihm gleich geantwortet und auch den auf Seite 165 meines Ost-West-Aufsatzes angemeldeten Anspruch auf § 247 von Hegels Rechtsphilosophie unterbreitet, ihn übrigens auch auf Goe­ thes großes Napoleon-Gedicht von 1812 (auf Seite 146) hingewiesen.490 Jetzt 490  Auf S. 165 der Jünger-Festschrift (Freundschaftliche Begegnungen, Frankfurt a. M. 1955) spricht Schmitt davon, dass die §§ 243–246 von Hegels Rechtsphilosphie ihre Entfaltung im Marxismus gefunden haben, wogegen der folgende § 247, der die

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bin ich gespannt, was aus dieser ungewöhnlichen Beziehung wird, ob sie nur augenblicklich ist, oder ob sie sich als fruchtbar erweist. Jedenfalls haben Sie, lieber Herr Dr. Schnur, hier ein entscheidendes Verdienst, und wenn die Besprechung für Sie sehr anstrengend war, muss ich Ihnen um so dankbarer sein. Vielen Dank auch für das Hobbes-Buch von R. Polin, in dem ich schon viel gelesen habe. Es ist verständig und vernünftig, auf typisch französische Art, die Kritik an Leo Straussʼ These (Entwicklung Hobbes von honneur-Natur zu crainte-Vernunft) ist im Wesentlichen richtig, verfehlt aber doch ein wichti­ ges Moment; die Widerlegung von Straussens These, dass Hobbes bereits das „bürgerliche“ Denken vorweggenommen habe, ist ganz dumm. Ich lese aber gern in dem Buch, das mit sauberer Handschrift geschrieben ist. Schließlich und vor allem muss ich Ihnen für die Zusendung Ihrer Disserta­ tion danken, die ein schönes Buch geworden ist. Über die Widmung und die Nennung meines Namens im Vorwort habe ich mich ganz besonders gefreut. Zu der Nennung meines Namens, selbst zu einer korrekten und im Grunde selbstverständlichen Zitierung, gehört im heutigen Deutschland persönlicher Mut. Sie wissen das. Ich möchte aber nicht, dass Ihnen daraus Nachteile entstehen. Darum habe ich auch ein Interesse daran, die Hintergründe der Kritik von Hubatsch zu erfahren,491 zunächst natürlich erst einmal Ihren Text und Inhalt. Ich hoffe aber trotzdem, dass Ihnen die Nennung meines Namens nicht allzu sehr schadet. Joseph Kaiser scheint es nicht verübelt worden zu sein, dass er sich in seiner „Politischen Klausel“ auf mich bezogen und mit mir auseinandergesetzt hat.492 Ihr Buch über den Rheinbund hat die Historiker vielleicht wegen seiner Tei­ lung in einen Theoretischen und einen „Darstellenden“ Teil geärgert. Ich kenne diesen Ärger der Historiker aus eigener Erfahrung, z. B. mit Fritz Hartung.493 Wenn es nur das ist, was Hubatsch bewegt, ist die Sache leicht zu heilen und genügt ein persönliches Gespräch.

industrielle Entwicklung der maritimen Existenz zuordnet, bisher nicht in seiner Trag­ weite erkannt sei. Auf S. 146 zitiert Schmitt aus Goethes Napoleon-Gedicht: „Wor­ über trüb Jahrhunderte gesonnen / Er übersieht’s im hellsten Geisteslicht. / Das Klein­ liche ist alles weggeronnen / Nur Meer und Erde haben hier Gewicht.“ Schmitts Brief vom 9. Mai 1955 an Kojève in: Schmittiana VI, S. 101. 491  s. oben, Nr. 84. 492  Joseph H. Kaiser, Die Politische Klausel der Konkordate, Berlin/München 1949. 493  Bezieht sich vor allem auf die Kritik Fritz Hartungs an: Carl Schmitt, Staatsge­ füge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, Berlin 1934. Vgl. Fritz Hartung, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches, in: Historische Zeitschrift 151, 1935, S. 528–544; dazu die Bemerkungen Günter Maschkes in seiner Neuausga­



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Ihrer Frau habe ich gleich 100 Mark geschickt, für den Polin. Mit den weite­ ren Bücherkäufen brauchen Sie sich nicht zu eilen. Wenn der überschüssige Teil des Geldes Ihnen als Erleichterung einer momentanen Lage erwünscht ist, benutzen Sie ihn unbedenklich als solchen. Montag reise ich mit Forsthoff nach Oberbayern zu einer Tagung.494 Pfings­ ten hoffe ich wieder in Plettenberg zu sein. Herzliche Grüße und Wünsche, auch für den Pariser Aufenthalt Ihrer Frau. Stets Ihr alter Carl Schmitt [Nachschrift am Rand:] Den Oberregierungsrat Dr. Ernst Kern müssen Sie wirklich kennen lernen. Ich habe Ihnen seine Arbeit geschickt; Sie können sie als Geschenk behal­ ten.495 Kern liest übrigens in Speyer, von Bonn aus. 94. 1955-05-25 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14253, ms.

Paris, den 25.5.1955

[darunter von C. S.:] b. 31/5 u. stenogr. Notiz

Sehr geehrter Herr Professor, Für Ihren Brief danke ich Ihnen mit etwas Verspätung. Da meine Frau hier eingetroffen ist, habe ich einige Tage ihr ganz gewidmet, denn sie kennt sich in Paris nicht aus. Das Geld ist eingetroffen, d. h. es ist bereits hier. Ich werde es nach und nach für Ihre Buchwünsche verwenden. Das Buch von Chevallier werde ich in Kürze schicken. Ich bemühe mich auch, das Heft der Zeitschrift „Critique“ zu bekommen, in dem die Strauss-Rezension des Buches von Polin enthalten ist. Inzwischen haben mir einige Herren auf meinen Sonderdruck aus dem be (Berlin 2011), S. 48 und XXXVII, vgl. besonders den hier zitierten Aufsatz von Hans-Christof Kraus. 494  Forsthoff hielt am 19. Mai in Bad Reichenhall einen Vortrag und hatte Schmitt eingeladen, mit ihm zu fahren und ein paar Tage in seinem Ferienhaus in Törwang zu verbringen; s. BW Forsthoff, S. 110–112. 495  Ernst Kern, Moderner Staat und Staatsbegriff. Eine Untersuchung über die Grundlagen und die Entwicklung des kontinental-europäischen Staates, Hamburg 1949.

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ARSP ebenfalls geantwortet. Prof. Cuvillier fand die Verteilung der Akzente richtig, den Hinweis auf Polins Fehler allerdings etwas hart. Herr Prof. Scheuner interessiert sich lebhaft für die Bodin-Ausgabe. Ich freue mich, dass meine Hinweise in Deutschland doch fruchten, doch ist es eigentlich traurig, dass ein großes deutsches juristisches Seminar erst jetzt von dem 1951 erschienenen ersten Band der Bodin-Ausgabe etwas erfährt. Früher si­ gnalisierten sich die Gelehrten solche wichtige Neuerscheinungen sofort (z. B. Baluze an Conring, an einen der Carpzovs etc.). Ich habe Herrn ORR Dr. Kern getroffen. Wir sprachen allerdings nur kurz miteinander. Da er je­ doch demnächst noch einige Male nach Paris kommt, werden wir Zeit zu ausführlichem Gespräch haben. Ich finde seine Studie, für deren Übersen­ dung ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet bin, außerordentlich wichtig. Sie ist eine der wenigen wirklich guten staatstheoretischen Arbeiten aus der Zeit nach 1945. Ich ärgere mich, dass ich sie nicht in meiner Dissertation erwähnt habe. Mit den Herren Dres. Winckelmann und Altmann habe ich jetzt Kontakt. Beide Herren wollen am Archiv mitarbeiten. Herr Winckelmann sogar dem­ nächst mit einem Aufsatz. Herr Altmann wird das Buch von Ranney, Re­ sponsible Party Government, besprechen. Ich warte noch auf eine Antwort von Dr. Hans Fleig, den ich bat, das Buch von Deane, The political ideas of Harold Laski, Columbia U. P. 1955, zu besprechen. Dieses Buch halte ich für sehr wichtig. Es hat ein glänzendes Schlusskapitel, in dem Laski sehr gut charakterisiert wird (Titel: The unfulfilled promise). Dort wird der Wille Laskis, Graue Eminenz zu spielen, deutlich gekennzeichnet (man könnte sa­ gen: Laski suchte die Macht, ohne deren Verantwortung tragen zu wollen). Am erfreulichsten in meiner Arbeit für das Archiv ist die Bereitschaft von Jacob Taubes, in Zukunft mitzuarbeiten. Er schrieb mir einen sehr schönen Brief.496 Gleichzeitig mit dem Brief schickte er einen Aufsatz ab, der den Titel trägt: The historical function of reason. Es handelt sich um einen Vor­ trag, der in den philosophischen Klubs von Harvard und Yale gehalten wur­ de. Nach dem Redaktionsplan wird der Aufsatz am 1.10.1955 erscheinen.497 496  BArch N 1472/3. – Jacob Taubes (1923–1987), Judaist und Philosoph, seit seinem Studium in Zürich mit Armin Mohler befreundet, wodurch er schon früh ein fasziniert-distanziertes Verhältnis zu Schmitt hatte, 1949 Dozent in New York, 1951 bis 1953 in Jerusalem, 1956 Prof. für Religionsgeschichte und Religionsphilosophie an die Columbia University, 1966 Ordinarius für Judaistik und Hermeneutik an der FU Berlin, intensive Auseinandersetzung mit Carl Schmitt; vgl. BW Taubes; Muller. 497  Jacob Taubes, Four ages of reason. For Max Horkheimer on his sixtieth birth­ day 1955, in: ARSP 42, 1956, S. 1–14. Auf Deutsch erschienen in: Jacob Taubes, Vom Kult zur Kultur. Bausteine zu e. Kritik der histor. Vernunft, München 1996, S. 305–318. Taubes hatte Schwierigkeiten, den Aufsatz, der der in den USA vorherr­ schenden analytischen Philosophie konträr war, in amerikanischen Zeitschriften un­



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Weniger erfreulich ist die Mitteilung, die ich Ihnen jetzt mache. Ich bitte Sie, diese Sache aus handfesten Gründen vertraulich zu behandeln: Mit Genehmi­ gung von Herrn Dr. Krauss möchte ich demnächst meinen Aufsatz über Maxime Leroy in dem Archiv veröffentlichen. In Erwartung des großen Bu­ ches von Herrn Kaiser glaube ich, dass der Zeitpunkt gekommen ist, diesen Aufsatz zu publizieren.498 Das Archiv hat in der letzten Nummer bereits zwei Aufsätze aus Ihrer Festschrift veröffentlicht, und zwar mit dem Hinweis dar­ auf, dass diese Arbeiten für die Festschrift bestimmt sind.499 Es entzieht sich einstweilen meiner Kenntnis, ob aus dem Herausgeberstab der Internationa­ len Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (der sich ansonsten gott­ lob wenig um das Archiv kümmert) Stimmen gegen diese neue Richtung des Archivs laut geworden sind. Da die Herren Kaufmann500 und Spranger zu dem Herausgeberstab gehören, wäre das nicht unmöglich. In Anbetracht die­ ses Umstandes habe ich die Absicht, bei meinem Aufsatz die Herkunft nicht anzugeben. Dies ist Ihnen gegenüber nicht aufrichtig. Darüber bin ich mir im Klaren. Deshalb biete ich Ihnen an, einen anderen Aufsatz für die Festschrift nachzuliefern.501 Auch dieses Angebot ist unhöflich. Ich weiß es leider nur zu gut. Doch habe ich mich zu diesem Schritt entschlossen, weil ich die neue Richtung des Archivs nicht gefährden will. Ich hätte in jeder anderen Zeit­ schrift gesagt, woher der Aufsatz kommt. Als Vertreter des Redaktors möch­ te ich es nicht angeben. Ich will den genannten Herren keine Gelegenheit geben, mich und noch mehr: Herrn Viehweg anzugreifen. Da ja demnächst etliche Herren aus Ihrem Bekanntenkreis bei uns Aufsätze publizieren, darf ich als Vertreter des Redaktors nicht mit offenen Karten spielen. Die Vorbe­ reitungen für die Mitarbeit der Herren Sombart, Scheibert, Koselleck, Tau­ bes, Winckelmann, Altmann und auch Kern zwingen mich, meinerseits den terzubringen; vgl. Muller, S. 312–314. Weitere Aufsätze von Taubes, der stark mit dem gesprochenen, aber schwach mit dem geschriebenen Wort war, sind in ARSP nicht erschienen. 498  Es handelt sich um Schnurs Beitrag in der ungedruckten Festschrift für Carl Schmitt von 1953, für die Günther Krauss offenbar Herausgeberrecht hatte: Roman Schnur, Über Maxime Leroy, in: ARSP 41, 1955, S. 511–527. Bei dem „großen Buch“ von Kaiser handelt es sich um: Joseph H. Kaiser, Die Repräsentation organi­ sierter Interessen, Berlin 1956. Gegenüber Kaiser war Schnur misstrauisch, weil er ihn im Verdacht hatte, seine Arbeit ausgewertet zu haben, ohne ihn zu nennen; vgl. unten, Nr. 126. 499  Es handelt sich um: Luis Legaz y Lacambra, Die Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft, in: ARSP 41, 1954, S. 165–180; José Caamaňo Martínez, Der traditionalistische Staat bei Vázquez de Mella, in: ebd., S. 247–259 (beide Auf­ sätze aus dem Spanischen übers. von Günther Krauss). 500  Erich Kaufmann (1880–1972), Staats- und Völkerrechtler, Politikberater. Schmitt hatte zu seinem Bonner Kollegen zunächst ein freundschaftliches, dann aber sehr kritisches Verhältnis; vgl. TB IV und V. 501  Offenbar war daran gedacht, die Festschr. von 1953 noch zu veröffentlichen.

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l’homme au masque zu spielen.502 Ich weiß nicht, ob Sie das verzeihen können, mir lässt die Situation keine andere Möglichkeit. Dass ich persönlich nicht fürchte, meine Bekanntschaft mit Ihnen zu zeigen, beweise ich stets, wenn ich nicht im Archiv publiziere. Ich habe auch in einer größeren Rezen­ sion für die ZRG auf Ihren „Nomos der Erde“ hingewiesen.503 Mit freundlichen Grüßen bin ich stets Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 95. 1955-05-31 Carl Schmitt an Roman Schnur 064, hs.

Plettenberg, 31/5/55 Lieber Dr. Roman Schnur, wegen der Nennung oder Nicht-Nennung meines Namens überlasse ich Ih­ nen jede Entscheidung. Ich habe Ihnen (wie jedem meiner jüngeren Freunde) meinen Standpunkt schon vor Jahren erklärt: Cache ton nom et répand ton esprit. Meine Verfolger sind viel zu wenig interessant, als dass man sie rei­ zen sollte.

Die bloße Nennung meines Namens Bewirkt die Sprengung ihres Rahmens.

Da wollen wir ihnen ihren Vernichtungs-Eifer nicht übel nehmen. Vielen Dank für das Rousseau-Buch von Derathé.504 Mit Polin bin ich in einen interessanten Briefwechsel geraten; ich habe ihm auch den Nomos der Erde geschickt (wegen seiner Bemerkung Seite 88, dem Naturzustand des Hobbes fehle die Beziehung zur geschichtlichen Wirklichkeit; unter Hinweis auf S. 64 des Nomos: amity line); das scheint ihn zu interessieren. Von Ko­ jève erhielt ich einen zweiten, langen Brief. Es ist ein Vergnügen, mit ihm zu diskutieren.

502  Anspielung auf Maxime Leroy, Descartes, le philosophe au masque, Paris 1929; Schmitt hat das mehrfach zitiert; vgl. Leviathan, S. 44; ECS, S. 87 f. 503  Schnur rezensierte: Marcel David, La souveraineté et les limites juridiques de pouvoir monarchique du 9e au 15e siècle (Annales de la faculté de droit et des scien­ ces politiques de Strasbourg 1), Paris 1954, in: ZRG, Germ. Abt. 72, 1955, S. 359 ff. 504  Robert Derathé, Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps, Paris 1950.



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Haben Sie Sprangers wahrhaft erbärmlichen Aufsatz in der Universitas „Mein Konflikt mit der Nat. Soz. Regierung“ gelesen?505 Da werden Sie verstehen, dass ich weder mich noch jemand andern mit ihm aufhalten möchte. Für heute nur diese eilige Antwort auf Ihren Brief vom 25/5! Ich komme eben von einer Reise nach Süddeutschland zurück, wo ich Forsthoff und Maunz506 getroffen habe. Stets Ihr alter Carl Schmitt

96. 1955-06-01 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14254, ms.

Paris, den 1.6.1955 Sehr geehrter Herr Professor, Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Brief, der mich sehr beruhigt hat. Die Sache wird also so ablaufen, wie ich es Ihnen mitteilte. Ich freue mich sehr, dass Sie mit Kojève und Polin so gut ins Gespräch gekommen sind. Polin sitzt ja auch in einer wichtigen Organisation: Er ist Generalsekretär des Ins­ titut International de Philosophie politique. Möglicherweise werde ich Polin demnächst treffen und mit ihm besprechen, wie man deutsche Gelehrte in diesem Institut zur Wirkung kommen lassen kann. Natürlich werde ich diese Gelegenheit nützen und Herren nennen, die etwas mehr Geist haben als die­ jenigen, die sich an leichten Hetzen und bequemen Verleumdungen beteiligen. Vor einigen Tagen durfte ich mit Herrn Prof. Rivero507 sprechen. Er war bis vor kurzem in Poitiers und hat seine Familie noch nicht hier. Er wohnt bei seinem Lehrer Achille Mestre, der heute 81 Jahre alt ist. Ich fragte Herrn Rivero ausdrücklich nach Herrn Mestres Wohlbefinden, weil Sie sich einmal bei mir nach ihm erkundigten. Herr Rivero sagte mir, ich könne Ihnen aus­ richten, dass Herr Mestre heute noch so vital sei wie um 1930, als Sie ihn 505  Eduard Spranger, Mein Konflikt mit der national-sozialistischen Regierung 1933, in: Universitas 10, 1955, S. 457–473. 506  Theodor Maunz (1901–1993), 1935 a.o. Prof. für Staats- und Verwaltungsrecht in Freiburg, ab 1952 Ordinarius in München, von 1957 bis 1964 auch bayerischer Kultusminister, Mitverfasser und Kommentator des Grundgesetzes; 39  Briefe, 4  Postkt. (1935–1983) im Nl. Schmitt; vgl. Schmittiana IV, S. 266–269. 507  Jean Rivero (1910–2001), von 1939 bis 1954 Prof. für Öffentliches Recht in Poitiers, danach in Paris.

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1955 – Roman Schnur an Carl Schmitt

wahrscheinlich kennenlernten (möglicherweise im Institut international de Droit publique, wo Rivero als junger Mann bei Mestre war). Über den wei­ teren Inhalt des Gesprächs, der sich auf den Wissenschaftsbetrieb bezog, werde ich Ihnen später berichten. Mit kommt es heute vor allem darauf an, Sie darüber zu informieren, dass Plon endlich eine der großartigen Schriften Cochins neu aufgelegt hat: La Révolution et la Libre-Pensée (600 ffs. nur!).508 Mit dieser Auflage erreicht die Schrift erst ihr sechstes Tausend. Die Gründe für diese niedrige Auflage liegen auf der Hand. Aber könnte nicht Herr Prof. Franz im Historisch-Poli­ tischen Buch die Neuauflage für Deutschland anzeigen?509 Da Nicolaus Sombart für das Archiv einen kleinen Artikel über die Soziologie der Revo­ lution von 1789 unter besonderer Berücksichtigung des Werks von Beau de Loménie schreiben möchte, werde ich ihn bitten, den Artikel auf Cochins Werk auszudehnen, damit die beiden Männer, die am meisten für die Wand­ lung unseres Bildes von der Revolution getan haben, zusammenfassend ge­ würdigt werden.510 Im übrigen: In der Revue de l’Institut Napoléon ist ein Aufsatz von Granger erschienen: N. et la Mer (Oktober 1954). Er ist zwar wenig dokumentiert (ich werde in meiner großen Arbeit etliches zu diesem Thema sagen und es belegen), doch hat der Autor die Dinge verhältnismäßig gut erkannt.511 Er weist vor allem darauf hin, dass Napoleon zu sehr Médi­ terranéen gewesen sei, um mit den Problemen des Ozeans fertig zu werden. Ich möchte jetzt nur noch mitteilen, dass ich über die Zuspitzung der Napo­ leonischen Kriege zum Kampf Land – Meer viel Material gefunden habe, das ich gründlich auswerten möchte. Man begann etwa 1796 das entschei­ dende Problem zu sehen, dann wurde es nach 1800 noch klarer erkannt. Auf die Verbindung von Schiffahrt und Industrie wird öfter hingewiesen. In eini­ 508  Im Pariser Verlag Plon erschien die Neuauflage von: Augustin Cochin, La Ré­ volution et la libre-pensée. La socialisation de la pensée (1750–1789), la socialisation de la personne (1789–1792), la socialisation des biens (1793–1794), Paris 1955. – Augustin Cochin (1876–1916), franz. Historiker der Revolution von 1789. 509  Günther Franz (1902–1992), Historiker mit dem Schwerpunkt Agrargeschichte, seit 1935 Prof. in Heidelberg, 1936 Jena, 1941 Reichsuniversität Straßburg, nach 1945 entlassen und wegen seiner NS-Belastung erst wieder 1957 an der Landwirt­ schaftlichen Hochschule in Stuttgart-Hohenheim eingestellt, deren Rektor er von 1963 bis 1967 war. 1950 war er Mitbegründer der Ranke-Gesellschaft und leitete das von dieser herausgegebene Rezensionsorgan „Das Historisch-Politische Buch“, in dem auch Schmitt veröffentlichte. 510  Weder ist im HPB Cochin angezeigt, noch hat Nicolaus Sombart in ARSP über 1789 geschrieben. 511  Joseph Granger, Napoléon et la mer, in: Revue de l’Institut Napoléon, 1954, Nr. 53, S. 113–127. Schnur schrieb zu dem Thema: „Land und Meer – Napoleon gegen England. Ein Kapitel der Geschichte internationaler Politik“, in: ZfP 8, 1961, S. 11–29 (auch in: R. Schnur, Revolution und Weltbürgerkrieg, Berlin 1983, S. 33–58).



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gen aufschlussreichen Schriften kann man allerdings erkennen, wie man in vieler Hinsicht noch rein landgebunden dachte: Die geplante Invasion wird als typischer Landkrieg aufgefasst. Ein Autor sagte etwa so: Wir werden England nicht auf dem Meer schlagen, sondern in London (es war ein ehe­ maliger Generalstabsoffizier). Wichtig für die Gesamtsicht ist die Tatsache, dass die Autoren und Politiker, die den Gegensatz Land – Meer erkannten, meist nicht Leute waren, die bereits 1789–1794 dabei waren, selbst nicht solche, die sich über den Thermidor gerettet haben. Mitunter waren es Abge­ ordnete der dem Meer zugewandten Départements. Über die Neutralität im Seekrieg ist natürlich auch geschrieben worden, mitunter sehr Gescheites. Interessant ist, dass man die französische Acte de Navigation nicht durchhal­ ten konnte, weil sich herausstellte, dass die tatsächlichen Voraussetzungen dafür nicht gegeben waren.512 Bei meinen Untersuchungen fällt mir besonders auf, wie sich die Denkrich­ tungen mit den Schichten, die die Revolution führten, jeweils änderten. Im­ merhin möchte ich jetzt schon die These aufstellen und untermauern, dass der Kampf Frankreich – England ein Kampf der französischen Bourgeoisie gegen das englische Bürgertum war. Der blocus continental ist auch als Mit­ tel zur Erringung der wirtschaftlichen Vorherrschaft Frankreichs auf dem Kontinent verhängt worden. Diese Tatsache passt gut in Loménies Schau der Dinge. Die französische Bourgeoisie muss durch den Blocus ungeheuer viel verdient haben. Heute habe ich durch einen glücklichen Zufall eines der Hauptwerke von Fay513 erwischt – allmählich bekomme ich die für meine große Arbeit wich­ tigsten Bücher zusammen. Die Arbeit kann heute keine Arbeit auf positivis­ tischer Grundlage mehr sein. Denn was heißt eigentlich: Völkerrechtliche Ideen der Revolution? Das kann nur ein Arbeitstitel sein, die Arbeit selbst bewegt sich nicht auf positivistischer Grundlage. Nach dem „Nomos der Erde“ ist es nicht mehr möglich, Arbeiten über die Geschichte des Völker­ rechts in bisheriger Art zu schreiben. Mit herzlichen Grüßen stets Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 512  Die 1651 erlassenen und bis 1854 geltenden englischen Schiffahrtsgesetze („Navigation Acts“) erlaubten die Einfuhr von Gütern nach England nur auf engli­ schen Schiffen und waren ein entscheidender Grund für Englands Aufstieg zur See­ macht. Mit Gesetz vom 21. Sept. 1793 wollte Frankreich entsprechend handeln. 513  Bernard Faÿ (1893–1978), franz. Historiker, vor allem der Revolution von 1789, 1932 Prof. am Collège de France, 1940 Direktor der Bibliothèque Nationale, wo er eine Freimaurer-Dokumentation erstellte, die zu Deportationen führte, nach 1945 wegen Kollaboration verurteilt; 1 Brief (1941) im Nl. Schmitt.

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1955 – Roman Schnur an Carl Schmitt

97. 1955-06-11 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14255, ms.

Paris, den 11.6.1955

[darunter von C. S.:] 1) Nehmen T. W., 2) , 14/6 R. Schnur514/Taubes

Sehr geehrter Herr Professor, Ich möchte Ihnen in Kürze mitteilen, dass ich nochmals einen Brief von Herrn Taubes erhalten habe, über den ich mich sehr gefreut habe. Herr Tau­ bes wird in Zukunft ein fester Mitarbeiter des Archivs sein. Er hat uns neben seinem Aufsatz noch eine eingehende Kritik des großen Buches von Przywara (Humanitas) geschickt, die hart, aber fair ist.515 Wir werden sie sehr wahrscheinlich in Kürze veröffentlichen. Gleichzeitig hat er mir angeboten, in Form eines Aufsatzes das Buch von Leo Strauss, Natural Right and History, zu besprechen, in dem er, über Kojève von Hegel kom­ mend, sich mit Strauss auseinandersetzen will. Natürlich habe ich sofort zu­ gesagt.516 Ich berichtete ihm auch, dass Sie mit Kojève in einem wichtigen Briefwech­ sel stünden. Seine Antwort: „Was Sie über den Briefwechsel Kojève – Schmitt schreiben, regt mich auf. Denn (wenn ich etwas unbescheiden richten darf) zu diesem Austausch treffen sich doch zwei Eingeweihte.“ Sie können sehen, dass ich versuche, die Fäden etwas dichter zu spannen, damit das Gewebe des wirklichen Geistes sichtbarer wird. Taubes verlor harte Worte über den Betrieb an den amerikanischen Universitäten, an denen ein übler status-quo-Geist herrsche, der frische Luft nicht zulasse. Marcuse wolle nach Deutschland zurück, weil es ihm zu „langweilig“ sei.517 Dem Brief habe ich entnommen, dass Taubes offensichtlich die Aufsätze „Nehmen, Teilen, Weiden“ und den Aufsatz aus der Jünger-Festschrift nicht

514  Fehlt.

515  Erich Przywara, Humanitas. Der Mensch gestern und morgen, Nürnberg 1952. Ob diese Rezension erschienen ist, bleibt unklar; bei Muller ist sie nicht nachgewie­ sen. 516  Briefe von J. Taubes im Nl. Schnur, BArch N 1472/3. Die genannten Texte von ihm wurden in ARSP nicht veröffentlicht. 517  Herbert Marcuse (1898–1979), Philosoph und Soziologe, hatte in den USA Schwierigkeiten wegen seines marxistischen Engagements; die Brandeis-Universität entließ ihn 1965 aus seiner Professur. Er ging aber dann nicht dauerhaft nach Deutsch­ land zurück.



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kennt. Könnten Sie ihm vielleicht noch Sonderdrucke schicken? Ich glaube, sie sind bei ihm sehr gut aufgehoben.518 Heute habe ich einen Brief von J. J. Chevallier bekommen, der sich lobend über meinen Aufsatz im Archiv ausspricht. Meinen Hinweis darauf, ob er nicht besser Hegel statt Fichte ausgewählt hätte, beantwortet er damit, dass er nach Abschluss des Buches das deutsche Denken von Hegel bis Max We­ ber erst richtig bewundern gelernt hätte, „et je souhaite comme vous un essor nouveau de cette pensée, affranchie des sombres servitudes des Pouvoirs in­ tolérants, dont toute cultur[e] quelle qu’elle soit est aujoudhui menacée!“ Ich hoffe, auch Herrn Chevallier noch als Mitarbeiter für das Archiv gewinnen zu können. Auch habe ich vor, in Kürze an Herbert Marcuse zu schreiben. Herr Viehweg schreibt noch an Herrn Kirchheimer, damit die Runde voll wird.519 Demnach müsste eigentlich in Zukunft das Archiv die Zeitschrift sein, die zu lesen sich noch lohnt. Ich finde für meine große Arbeit jetzt täglich wichtiges Material, dessen Auswertung geraume Zeit beanspruchen wird. Eine der wichtigsten Einsich­ ten, die ich gewinnen konnte ist die, dass diejenigen Franzosen, die erkann­ ten, worauf es im Kampf Frankreichs gegen England ankam, fast ausschließ­ lich Leute waren, die von 1790–1796 etwa nicht im Vordergrund standen, also wohl keine Anhänger der Libre Pensée waren.520 Aber die Libre Pensée hat ihre Kraft in den USA entfaltet und verdirbt dort noch heute eine realis­ tische Sicht der Dinge, zumindest in der offiziellen Propaganda. Wie weit wir Deutsche von unserem geschichtlichen Auftrag entfernt sind, beweist dann nichts besser als die Tatsache, dass wir jetzt in dem gleichen Trend sind. Mit herzlichen Grüßen bin ich Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur

518  Schmitt

hat das umgehend erledigt, s. Versandliste, RW 265–19600. Kirchheimer (1905–1965), Staats- und Verfassungsrechtler, wurde von Schmitt 1928 in Bonn promoviert, emigrierte 1933 zunächst nach Paris, dann in die USA. Obwohl Marxist, hatte Kirchheimer zu seinem Lehrer ein freundschaftliches Verhältnis, das bis Ende der 50er Jahre anhielt, als Kirchheimer die Dissertation von George Schwab an der New Yorker Columbia-Universität ablehnte, da sie gegenüber Schmitt zu unkritisch sei; 12 Briefe, 1 Postkt. (1931–1961) im Nl. Schmitt. 520  Freidenkerbewegung, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts von Frankreich aus verbreitete. 519  Otto

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1955 – Roman Schnur an Carl Schmitt

98. 1955-06-18 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14256, ms.

Paris, den 18.6.1955

[daneben von C. S.:] 1) Emge , 2) Moncada .

Sehr geehrter Herr Professor, Ich muss Ihnen herzlich dafür danken, dass Sie mich beim Verlag Kröner für ein Buch vorgeschlagen haben, das die größte Bedeutung haben kann. Es ehrt mich sehr, dass Sie gerade mich vorgeschlagen haben. Sie werde sich vorstellen können, dass mich der Brief des Verlags Kröner in große Unruhe versetzt hat. Ich habe mir eine Bedenkzeit erbeten, damit ich mich in aller Ruhe entscheiden kann.521 Abgesehen von der Frage, ob der Stand meines Wissens eine solche Arbeit ermöglicht, beschäftigt mich besonders die Frage, ob ich Zeit habe, ein sol­ ches Buch zu schreiben. Zunächst einmal muss ich die große, hier begonne­ ne, Arbeit zu Ende führen. Gewiss schließt das nicht aus, dass ich gleichzei­ tig an dem geplanten Buche arbeiten könnte. Die Kardinalfrage ist vielmehr die, ob mir dazu genügend Zeit gegeben wird. Die Niederschrift der Kapitel über [das] 16., 17. und 18. Jahrhundert würde, soweit ich das jetzt bereits sagen kann, nicht besonders viel Zeit in Anspruch nehmen, weil ich mich fast täglich mit den Fragen beschäftige, die in jener Zeit zu beantworten waren. Wesentlich mehr Mühe werden das 19. Jh. und das 20. Jh. verlangen, denn die Distanz dazu zu gewinnen, ist überaus schwer. Aber möglicherwei­ se wäre auch diese Aufgabe zu lösen, wenn ich nicht damit rechnen müsste, vom Innenministerium so weit von Mainz entfernt versetzt zu werden, dass ich den Abend nur benutzen kann, um mich von Dienst und Fahrt auszuru­ hen. Ein Freund von mir, Herr Schroeter,522 den Sie in Mainz einmal gesehen haben, arbeitet zur Zeit beim Regierungspräsidium in Koblenz, obwohl er verheiratet ist und ein Kind hat. Er fährt früh am Morgen von Mainz weg und kommt um 19 Uhr etwa nach Hause. Sollte man mit mir ähnlich verfah­ ren, so werde ich so ziemlich alle Pläne aufgeben müssen, jedenfalls für die 521  Schmitt hatte dem Kröner-Verlag Schnur als Verfasser einer Geschichte der modernen Staatstheorien vorgeschlagen, was Schnur mit dem Hinweis auf seine „der­ zeitige berufliche und wissenschaftliche Lage“ ablehnte. Stattdessen schlug er dem Verlag vor, eine Auswahl von Lorenz von Stein und Bruno Bauer herauszubringen. Vgl. Brief Schnurs an den Alfred Kröner Verlag vom 26. Juni 1955; BArch N 1472/2, und Durchschlag mit Anm. Schmitts in RW 265–14257. 522  Hans Wolfgang Schroeter, später Ministerialrat.



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Zeit der Ausbildung an der „Front“. Nur dann, wenn man mich in Mainz und Umgebung arbeiten ließe, bliebe mir genügend Zeit, meiner Arbeit nachzu­ gehen. Möglicherweise könnte ich diese Gefahren für meine Arbeit vermei­ den, indem ich versuche, einen verhältnismäßig gutbezahlten Posten als As­ sistent an der Fakultät zu finden. Mich zieht es jedoch wenig zu solcher oft subalterner Arbeit. Vor allem aber möchte ich praktisch in der Verwaltung arbeiten, denn ohne eine gewisse Kenntnis der Praxis sind vor allem heutzu­ tage theoretische Arbeiten unfruchtbar. Ich müsste unter den gegebenen Umständen Ihre Hilfe, die Sie mir seinerzeit freundlicherweise angeboten haben, in Anspruch nehmen und Sie bitten, zur gegebenen Zeit bei Herrn Krauthausen ein Wort dafür einzulegen, dass man mich an den Landratsäm­ tern in Oppenheim oder Bingen beschäftigt. In Mainz selbst befindet sich ja ein Regierungspräsidium, in dem gewiss Assessoren arbeiten. Ich denke, dass ich in etwa 10 Tagen dem Verlage antworten werde. Er hat mich um ein kurzes Exposé gebeten für den Fall, dass ich den Vorschlag annehme. Ich kann aber schon jetzt sagen, dass ich davon abraten werde, Texte aufzunehmen. Für eine brauchbare Auswahl von Texten ist der Raum viel zu gering. Ich möchte stattdessen lieber eine geschickt aufgebaute Bib­ liographie anbieten, mit denen die Leser mehr anfangen könnten als mit viel zu kurzen Textstücken. – Meine Arbeit in der Bibliothèque Nationale läuft, wie ich glaube, im Augen­ blick auf Hochtouren. Ich habe gerade in den letzten Tagen nochmals sehr wichtiges Material gefunden. Man hat in dieser Zeit sogar schon erkannt, welche Gefahr vom Osten drohte. Ich muss hinzufügen: Man sprach damals allgemein nicht vom Osten, sondern vom Norden, wenn man Russland mein­ te (dies ist für die heutige Begriffsbildung gewiss nicht uninteressant). Als England und Russland 1812 gemeinsam gegen Frankreich zogen, hat man hier wie in der Verzweiflung gerufen: Die Kultur Europas wird von den Bar­ baren des Meeres und des Landes bedroht. Auf dem beiliegenden Blatt habe ich einige der vielen interessanten Stellen wiedergegeben, die ich bisher ge­ funden habe. Ich möchte sie Ihnen schon jetzt mitteilen, weil ich glaube, dass sie für Sie von besonderem Interesse sind. Was mir vor allem auffiel: Dass Barère, ein ehemaliges Mitglied des Comité du Salut public, eine so großartige Sicht der Dinge entwickelt hat.523 Er schrieb das erwähnte Buch allerdings in der Zeit nach seinem Sturz, gewissermaßen als Belasteter. Falls ich Zeit habe, werde ich mich noch eingehend nach seinen biographischen Einzelheiten erkundigen, die mir hochinteressant zu sein scheinen. Ich habe 523  Bertrand Barère (1755–1841), Politiker der Franz. Revolution, Mitglied im Wohlfahtsausschuss (Comité du Salut public), schrieb „La Liberté des Mers, ou le gouvernement anglais dévoilé“ (Paris 1798).

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1955 – Roman Schnur an Carl Schmitt

auch weiterhin festgestellt, dass man den entscheidenden Schritt Englands zur maritimen Existenz in Cromwells Navigation Act gesehen hat. Ich bleibe mit herzlichen Grüßen Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur P. S. Ich zeige für „Wort und Wahrheit“ die Neuauflage von Cochins erwähntem Buch an. Schulmeister bemüht sich, bei Herder eine Übersetzung zu veran­ lassen – dies alles trotz meiner Abneigung gegen den jetzigen Kurs der Zeitschrift, aber Cochin ist wichtiger als meine Abneigung.

99. 1955-06-27 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14258, ms.

Paris, den 27.6.1955 Sehr geehrter Herr Professor, Seit meinem letzten Brief habe ich zwei Gelehrte kennenlernen dürfen, die Ihnen dem Namen nach gewiss nicht unbekannt sind. In der vorigen Woche habe ich Herrn Polin besucht, der hier in Paris wohnt. Ich lernte einen sehr freundlichen Herrn im Alter von etwa 45 Jahren kennen, der sich im Habitus ziemlich stark von den üblichen Philosophie-Professoren Frankreichs unter­ scheidet. Er hat sich nicht vom Geist der E[cole] N[ormale] S[uperieure] einfangen lassen. Sein Urteil über Denker, über die wir gesprochen haben, scheint mir ohne Vorurteil zu sein. Wir sprachen natürlich auch kurz über sein Hobbes-Buch. Er wird diesem Buch ein weiteres über Locke folgen lassen. Er glaubt, einige bedeutende Züge im Denken Lockes etwas klarer als bisher geschehen herausarbeiten zu können. Er erwähnte auch Ihre freund­ liche Sendung. Leider hat er Ihr Buch noch nicht ganz gelesen, weil er als Mitglied der zentralen Habilitationskommission soeben mit den Prüfungen beschäftigt ist. Herr Polin wird dem Archiv bald einen Aufsatz überlassen können. Er hat übrigens die berühmten Vorlesungen Kojèves gehört, deren Niederschrift ja das großartige Buch ist.524 Ich werde Herrn Polin vor meiner Abreise nochmals sprechen dürfen. Auf jeden Fall werde ich mit ihm in Ver­ 524  Alexandre Kojève hielt an der École pratique des hautes études in Paris zwi­ schen 1933 und 1939 Vorlesungen über Hegel, die bahnbrechend waren für die fran­ zösische Hegel-Rezeption. Daraus entstand das Buch „Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la phénoménologie de l’esprit“, Paris 1947.



1955 – Roman Schnur an Carl Schmitt215

bindung bleiben, weil er sich sehr für das geistige Leben in Deutschland in­ teressiert, (er beschwerte sich ziemlich heftig über den mangelnden Kontakt). Heute lernte ich Bertrand de Jouvenel kennen. Das ist ein Mann von großem Format. Er dürfte so um die 50 Jahre alt sein, mit weißem struppigem Haar und einem weißen Kinnbart. Er ist ein richtiger Grandseigneur, der geistig vollkommen unabhängig ist. Aus Frankreich während des Krieges in die Schweiz gezogen, weil er als nicht ganz „arischer“ Mann Gefahr befürchten musste, blieb er dort bis 1948, ‒ weil die „Befreier“ ihn als Faschisten ver­ schrieen. Heute wohnt er auf einem Schloss an der Oise und redigiert hier in Paris einen Wirtschaftsdienst für Industrielle. Leider versteht er kaum ein Wort Deutsch, was er selbst als großes Handicap ansieht. Er ist darauf ge­ fasst, dass man ihn wegen seines neuen Buches „De la Souveraineté“, in dem er den Begriff der Autorität lang erörtert, als Faschisten hinstellen wird. Ich habe ihm gesagt, dass ich seine Ausführungen über die Autorität sowie über Descartes und Hobbes für sehr gut finde und dass man in Deutschland das Buch richtig verstehen wird. Ich musste ihm dann über die geisteswissen­ schaftliche Forschung in Deutschland berichten. Vor allem interessierte er sich für die Soziologie. Natürlich habe ich ihm gleich die Bücher von Bed­ narik und Schelsky genannt.525 Auf der Stelle fragte er bei seinem Verlag an, ob dieser nicht das Buch von Schelsky über die Arbeiterjugend übersetzen lassen wolle. Leider lehnte der Verlag ab. Daraufhin bat er mich, einen Be­ kannten dafür zu gewinnen, einen größeren Aufsatz in Französisch zu schrei­ ben, in dem die Ergebnisse beider Bücher der französischen Öffentlichkeit, d. h. hier in diesem Fall: der fortschrittlich gesinnten Industrie, zugänglich gemacht werden und zwar gegen ein verhältnismäßig hohes Honorar. Ich habe bereits deswegen an Dr. Hans Naumann geschrieben, der zur Zeit in Ascona ist. De Jouvenel bat mich dann, noch auf einen Amerikaner zu warten, und zwar auf den Chefredaktor der Zeitschrift „Confluence“. Als dieser kam, machten wir ein Gespräch für morgen aus. Herr de Jouvenel bat mich, vor meiner Abreise nochmals mit ihm zu spre­ chen und lud mich zum Essen ein. Glücklicherweise hatte ich mein Exemplar des Buches von Ernst Kern dabei, von dem ich ihm dann berichtete. Er inte­ ressierte sich außerordentlich für die Ausführungen Ernst Kerns und bedau­ erte es, dass die wissenschaftliche Welt heute weniger Kontakt als im 17. Jahrhundert habe. Damals, so sagte er, wäre ein offensichtlich so wichti­ ges Buch bald in Frankreich bekannt gewesen. Er meinte dann noch, dass die Revue franҫaise de Science politique sehr schlecht sei. Ich habe ihn mit dem 525  Karl Bednarik, Der junge Arbeiter von heute – ein neuer Typ, Stuttgart 1953; Helmuth Schelsky (Hrsg.). Arbeiterjugend gestern und heute. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen, Heidelberg 1955.

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1955 – Carl Schmitt an Roman Schnur

Hinweis getröstet, dass die entsprechende deutsche Zeitschrift noch schlech­ ter sei. Zum Abschluss teilte mir Herr de Jouvenel noch mit, dass es sich am 4. Juli entscheiden werde, ob Raymond Aron einen Lehrstuhl an der Sorbonne er­ halte.526 Wir werden im Archiv wahrscheinlich noch in diesem Jahr einen Aufsatz de Jouvenels veröffentlichen können. Im Nachtrag: Herr Polin meinte, er erinnere sich daran, dass Sie ein „conser­ vateur“ gewesen seien. Herr de Jouvenel meinte, es sei ein großer Unsinn, jemanden wegen seines politischen Verhaltens moralisch zu verurteilen und wies auf das Verhalten Constants während der Hundert Tage hin.527 Mit die­ ser gewiss interessanten Nachricht verabschiede ich mich als Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 100. 1955-09-20 Carl Schmitt an Roman Schnur 135, hs.

Pl. 20/9 55 Mein lieber Roman Schnur, ich habe mich noch nicht einmal für den (mir sehr wertvollen) Leo-StraussAufsatz bedankt und werde jetzt durch Ihre dankenswerte Zusendung auf eine beschämende Weise an meine Unterlassung erinnert.528 Aber ich lebe hier so einsam und in voller obscurité, dass Sie Nachsicht haben dürfen.529 Wie geht es Ihnen? Vor allem beruflich? Sind Sie mit Worms zufrieden? Was macht das Archiv? Übrigens schrieb mir Prof. Cabral de Moncada aus 526  Raymond Aron (1905–1983), franz. Philosoph und einflussreicher politischer Denker, bekam gegen Widerstände von links 1955 eine Professur an der Sorbonne; 11 Briefe (1954–1979) im Nl. Schmitt. 527  Benjamin Constant (1767–1803), Staatstheoretiker und liberaler politischer Schriftsteller, wurde 1802 von Napoleon kaltgestellt, schloss sich ihm während der „Hundert Tage“, also der erneuten Herrschaft Napoleons vom 1. März bis zu seiner endgültigen Niederlage in der Schlacht bei Waterloo am 22. Juni 1815, wieder an. In dieser Zeit ließ Napoleon von Constant eine neue, liberale Verfassung erarbeiten. 528  Unklar, was die Sendung enthielt. 529  Schmitt berief sich häufig auf Rivarol: „L’obscurité protège mieux que la loi“. Mit Jünger, der Rivarol übersetzte, stritt er um die richtige Übersetzung von obscu­ rité; vgl. BW EJünger, S. 283 ff.



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Coimbra,530 er wisse gar nicht, dass er Mit-Herausgeber des Archivs ist. Aber die Unterdrückung meines Namens machen wohl nicht die Mit-Heraus­ geber, wenigstens nicht die Mehrzahl, auch Emge531 nicht; das betreiben eifrige Bravos532 wie Klug und geübte Charaktermörder auf eigene Faust. Ich habe noch ein Exemplar des Aufsatzes oder Vortrages, auf den der mir zugesandte Artikel Bezug nimmt, und schicke ihn, wenn er Sie interessiert, als Drucksache. Er ist leider nur zu aktuell. Während des Vortrages (April 1925 im Saal des Bürgervereins in Köln) saß der damalige Oberbürgermeis­ ter Adenauer rechts neben mir, als Leiter der Versammlung und sprach seine Zustimmung und Anerkennung aus, was damals sehr auffiel.533 Herzliche Grüße und Wünsche Ihres alten Carl Schmitt

101. 1955-10-04 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14259, Postkt., ms.

Mainz, den 4.10.1955 Sehr geehrter Herr Professor, Auf der Speyrer Tagung konnte ich kurz mit Herrn Prof. Forsthoff sprechen. Er wird für das Archiv das große Buch von Eschenburg, Staat und Gesell­ schaft in Deutschland, besprechen.534 Herr Kirchheimer hat seine Mitarbeit erneut zugesagt. Morstein-Marx535 will zwei Aufsätze einsenden, einen bald, 530  Luis Cabral de Moncada (1888–1974), portug. Rechtsphilosoph, den Schmitt 1943 kennenlernte und mit dem er in der Folge korrespondierte; BW Cabral; Schmit­ tiana VI, S. 242. 531  Carl August Emge (1886–1970), Rechtsphilosoph, bis 1945 Kollege Schmitts an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, wurde 1934/35 Herausgeber des ARSP, nach dem Kriege Ordinarius in Würzburg. 532  „Bravo“ (ital.) = „Räuber“. 533  Schmitt hielt am 14. Apr. 1925 auf der Jahrtausendfeier der Rheinlande im Auftrag der Zentrumspartei in Köln vor großem Publikum den Vortrag „Die Rhein­ lande als Objekt internationaler Politik“; er erschien im gleichen Jahr im Druck (jetzt in: FoP, S. 26–50). Vgl. TB IV, S. 3. 534  Rezension von Forsthoff in: ARSP 44, 1958, S. 457–458. – Theodor Eschen­ burg (1904–1999), Jurist und Politikwissenschaftler, seit 1952 Prof. für Politikwissen­ schaf in Tübingen; 2 Briefe (1929, 1930) im Nl. Schmitt. 535  Fritz Morstein Marx (1900–1969), Jurist, Verwaltungsdienst in Hamburg, 1933 Emigration in die USA, Prof. in Princeton und New York, 1962 Rückkehr nach

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1955 – Roman Schnur an Carl Schmitt

den andern im nächsten Jahr. Themen: 1. Einengung der Freiheit durch die bürokratische Gestaltung der öffentlichen Gewalt, 2. die Notwendigkeit, alle staatsbürgerliche Freiheit mit der Grundfreiheit zur verantwortlichen Selbst­ bestimmung der für den Einzelnen verbindlichen Wertwelt in Verbindung zu setzen. Von Monnerot erhalten wir einen Aufsatz über die politischen Theo­ rien des 17. Jahrhunderts (möglicherweise über Hobbes). Mit herzlichen Grüßen stets Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 102. 1955-11-06 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14260, ms.

Mainz, den 6.11.1955 Eppichmauergasse 1

[daneben von C. S.:]

Sehr geehrter Herr Professor, Von Herrn Krauss, der soeben aus Spanien zurückgekehrt ist, erfuhr ich, dass Sie in Düsseldorf einen großartigen Vortrag über Hamlet gehalten haben. Darf ich von Ihnen erfahren, wo der Vortrag gedruckt erscheinen wird? Ich möchte natürlich auch diesen Vortrag, wie alles von Ihnen, kennenlernen.536 Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir Ihre Ansicht über den Aufsatz mitteilen würden, den ich Ihnen vor einiger Zeit übersenden durfte. Leider habe ich noch immer keine Möglichkeit, meine in Paris begonnenen Arbeiten fortzusetzen, weil der Neubau, in dem unsere Wohnung liegen wird, noch immer nicht fertig ist. Ich hoffe, am 14. Dezember, dem Tag der kirchlichen Trauung, dort einziehen zu können. So reicht denn meine Freizeit aus, mich weiterhin dem Archiv zu widmen. Wir haben sehr unangenehme Schwierigkeiten mit dem Verleger, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt und schon wieder ein Heft mit einer Ver­ spätung von vier Monaten herausbringt. Das ist uns um so peinlicher, als wir Deutschland und Prof. für Vergleichende Verwaltungswissenschaft und Öffentliches Recht in Speyer; Schnur sprach 1969 die Gedenkrede auf ihn, in: Verwaltungsarchiv 61, 1970, S. 114–125. 536  Am 30. Okt. 1955 hielt Carl Schmitt in Düsseldorf einen Vortrag über Hamlet, was er dann in seinem Buch „Hamlet oder Hekuba“ (1956) näher ausführte.



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in der letzten Zeit wieder etliche interessante Stücke erhalten haben und in den kommenden Wochen noch weitere gute Manuskripte erwarten. Hans Naumann lernte in Paris Monnerot persönlich kennen, der sich zur Zeit mit der politischen Philosophie des 17. Jahrhunderts beschäftigt. Monnerot will uns einen Aufsatz zur Verfügung stellen. Naumann verwies ihn an Sie – ich nehme an, dass er Ihnen bereits geschrieben hat.537 Er hat die Absicht, Sie aufzusuchen, um sich mit Ihnen über Hobbes zu unterhalten. Wir haben noch etliche ähnliche gute Nachrichten, doch sind wir durch den Verleger daran gehindert, bereits in Kürze dem Publikum gute Hefte vorzulegen. Erfreulich ist es, dass wir immer mehr jüngere Mitarbeiter gewinnen können, die die Diskussion doch mehr beleben als Leute, die seit einer mittelmäßigen Habi­ litationsarbeit kaum noch etwas Anregendes geschrieben haben. Wenn ich mich nicht sehr irre, kommt demnächst ein Heft, dessen Mitarbeiter im Durchschnitt knapp vierzig Jahre alt sind. So ergibt sich denn eine etwas seltsame Situation: Von Ordinarien bekommen wir weniger Arbeiten, wäh­ rend die Zahl der jüngeren Mitarbeiter ständig zunimmt. Von Herrn Arndt haben wir gerade eben eine Rezension von Heimanns Buch Vernunftglaube und Religion erhalten, in der er den armen Mann fair aber böse hernimmt.538 Herr von Platen hat eine sehr interessante Kritik von Merleau-Pontys Les aventures de la dialectique geschickt, sie umfasst 10 Seiten, der eine ausführ­ liche Besprechung von Lukácsʼ letztem Buch folgen soll.539 Glücklicherwei­ se sind die neuen Manuskripte mehr auf eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus gerichtet. Das ist ja auch eine der wenigen lohnenden Diskussio­ nen. Herr Gehlen will de Jouvenels neues Buch besprechen – es müsste eine wichtige Sache werden.540 – So kommen wir den endlich aus einem geradezu magischen Kreis von Mitarbeitern heraus, um das Freie zu gewinnen. Hof­ fentlich ist das Echo auf die kommenden Hefte stark, damit auch die Mitar­ beiter weiterhin bei der Sache bleiben. Ich selbst werde Bigne de la Villeneu­ ves Buch, das ich Ihnen bereits anzeigte, besprechen. Möglicherweise wird die Rezension umfangreich. Das Buch stammt von einem Einzelgänger (ei­ nem Katholiken), der sich herzlich wenig von der hergebrachten liberalen 537  Im Nachlass Schmitts findet sich kein Brief von Jules Monnerot, auch hat er nicht im ARSP publiziert. 538  In: ARSP 42, 1956, S. 583–585. Eduard Heimann (1889–1967), Nationalöko­ nom, religiöser Sozialist; BW mit Schmitt (1928) in Schmittiana NF III, S. 131, 230–232. – Hans-Joachim Arndt (1923–2004), Politikwissenschaftler, nach schwieri­ ger Karriere wurde er 1968 Ordinarius in Heidelberg; 42 Briefe, 2 Postkt., 1 Telegr. (1955–1978) im Nl. Schmitt. 539  Alexander von Platen, Die Abenteuer der Dialektik, in: ARSP 42, 1956, S. 86– 97; Platens Lukács-Rezension ebd., S. 277–284. – A. v. Platen (geb. 1921) wurde 1950 in Bonn in Philosophie promoviert, arbeitete als Übersetzer. 540  Arnold Gehlen besprach: Bertrand de Jouvenel, De la souveraineté (Paris 1955) in: ARSP 43, 1957, S. 154–158.

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Vernebelung politischer Begriffe stören lässt.541 Ob das, was er anbietet, nun besser ist, mag dahinstehen. Erfreulich ist schon die Säuberung einer reich­ lich stickigen Luft. Es ist übrigens interessant zu wissen, dass der Autor ein Schüler von Carré de Malberg542 ist – die Ansichten Beider stehen sich oft schroff gegenüber. B. legt großen Wert auf terminologische Sauberkeit, ohne aber an die Schärfe des Begriffs heranzukommen, die man bei Max Weber und bei Ihnen findet. Leider beschäftigen sich die von Berufswegen kompe­ tenten Herren wenig mit dem Kardinalproblem, wissenschaftliche Begriffe von der self-interpretation der Gesellschaft (im Sinne Voegelins) zu scheiden. Darüber einmal etwas zu arbeiten, wäre sehr verdienstlich – aber ich selbst habe dafür vorerst weder das Können, noch die Gelegenheit. Übrigens eine für Sie gewiss wichtige Sache: Von Joseph Dunner (weiland Presseoffizier in München) ist soeben erschienen: Baruch Spinoza and Wes­ tern Democracy.543 Ein höchst kurioses Buch, für die Erkenntnis einer gewis­ sen Denkweise bedeutend. Als ich darin herumblätterte fiel mir Hamanns Golgatha und Scheblimini ein, den ich sogleich wieder las. Dieser Aufsatz gehört in ein Lesebuch der politischen Literatur.544 In der übernächsten Woche treffe ich Ernst Kern, der sich ebenfalls für die Arbeit des Archivs interessiert. Leider kommt er einige Tage zu spät, um an einem Treffen von Mitarbeitern des Archivs teilzunehmen, zu dem eingela­ den sind: Altmann, Winckelmann, Naumann, Pähler,545 Kesting, Sombart, Koselleck, Krauss und Scheibert. Wie mir Herr Kern in Paris mitteilte, berei­ tet er eine Arbeit über den modernen Staat vor. Er möchte von mir einige Hinweise auf Literatur haben. Ich hoffe, dass mich Herr Kern auch einmal besucht, wenn ich in der neuen Wohnung bin, wo ich endlich wieder einmal

541  Marcel de La Bigne de Villeneuve (1889–1958), Jurist, Prof. an der Université catholique in Angers. Schnur meint wahrscheinlich sein Buch „L’ activité étatique. But, pouvoir, fonctions de l’État. Domaine de l’État“, Paris 1954. Eine Einzelbespre­ chung von ihm gibt es nicht. 542  Raymond Carré de Malberg (1861–1935), franz. Verfassungsjurist. 543  Joseph Dunner (Dünner) (1908–1978), dt.-amerikan. Politikwissenschaftler, emigrierte 1933 über die Schweiz in die USA, im 2. Weltkrieg US-Soldat, wurde 1945 Leiter der Press Control Section für München und Oberbayern, 1946 wieder in USA, Prof. in New York. Sein Buch „Baruch Spinoza and Western Democracy. An Interpretation of His Philosophical, Religious and Political Thought“ erschien 1955 in New York. 544  Johann Georg Hamann (1730–1788), Philosoph, Kritiker Kants und der abs­ trakten Verstandesphilosophie seiner Zeit, der er Gefühl, Sinnlichkeit, Glauben als Erkenntnisquelle gegenüberstellte. Schmitt argumentiert in seinem „Leviathan“ mit Hamanns „Golgatha und Scheblimini“ gegen Moses Mendelssohn; vgl. Leviathan, S. 93. 545  Karl Heinz Pähler (geb. 1921), Soziologe.



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meine Bücher aufstellen kann. Aber auch so werde ich ihm einige Hinweise geben können. An Kojève habe ich noch nicht geschrieben. Ein Brief an ihn, der über bloße Mitteilung von news hinausgehen soll, muss sehr gründlich sein – Kojève ist ein echter Gesprächspartner, der sorgsam dem Vortrag des anderen Partners folgt. Natürlich möchte ich gerne wissen, wann er sein Hegel-Buch abschlie­ ßen wird. Mit Taubes hatte ich einen kurzen Briefwechsel über Kojève, in dem Taubes bestätigt, dass die Konsequenz von Kojèves Denken die Aus­ löschung des eschaton sein muss.546 Leider hatte ich bei den beiden Treffen mit Kojève nicht Zeit genug, mit ihm auch darüber zu sprechen (obgleich wir beim zweiten Mal vier Stunden zusammensaßen). Was Ihre wohl noch immer existierenden Pläne einer Reise nach Paris an­ geht: Ich meine, dass Sie bei den Leuten um Bertrand de Jouvenel mit großer Hochachtung aufgenommen werden. Aron braucht Sie ja nicht unbedingt bei Ihren Feinden vorzustellen. Es gibt auch in Paris genug Leute, mit denen man diskutieren kann – Polin und Kojève zählen dazu. Und wenn Sie im kommenden Jahr nach Paris reisen sollten, so kann ich Ihnen bereits etliche Herren nennen, die sich gewiss sehr freuen würden, Sie zu sehen. Schließlich ist ja auch noch Mestre da, der sich von keinem in seiner Meinung beeinflus­ sen lässt. Sollten sich Ihre Reiseabsichten verdichten, so stehe ich Ihnen gern mit einigen bescheidenen Ratschlägen zur Verfügung. Ich bleibe mit herzlichen Grüßen stets Ihr ergebener [hs.:] Roman Schnur

103. 1955-11-08 Carl Schmitt an Roman Schnur 205–208, hs.

Plettenberg, 8/11 55 Mein lieber Roman Schnur, aus Ihrem Schreiben vom 6/11 entnehme ich, dass die geplante Tagung mit Ihren Mitarbeitern noch nicht stattgefunden hat. Ich bin sehr begierig, Weite­ res über den Fortgang Ihrer Archiv-Arbeit zu erfahren; der Ansatz, den ich 546  eschaton = die letzten Dinge. Kojève sah unter Berufung auf Hegels Ge­ schichtsphilosophie in der homogenen Weltgesellschaft Ziel und Ende der Geschich­ te, womit auch die Eschatologie an ihr Ende kommt.

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aus Ihren bisherigen Mitteilungen erkenne, ist sehr gut und übertrifft alle meine Erwartungen. Natürlich wird bald ein Gegenstoß einsetzen, wenn die Herren der bisherigen Situation das neue Leben bemerken. Dann müssen Sie einen kritischen Moment überstehen und darauf gefasst sein. So dumm und interesselos in Dingen wissenschaftlicher Betrachtung diese Leute sind, so hellhörig und aufmerksam sind sie, wenn es sich darum handelt, Fruchtab­ treibungen und Character-assassination zu organisieren. In solchen schönen Künsten sind sie große Meister. Aber Sie sind noch jung genug, um sich nicht fürchten zu brauchen, und ich bin alt genug, um mich nicht mehr fürchten zu müssen. Ich bin Ihnen für Ihre Mitteilung, insbesondere auch für den letzten Brief (vom 6/11) sehr dankbar und hoffe, dass sich der Kreis Ihrer Freunde und Mitarbeiter inner­ lich festigt. Die Zustände an den deutschen Universitäten sind trostlos. Die Redaktion von Christ und Welt will sich mit dem Problem Föderalismus und Universität beschäftigen. Dieses Problem inkarniert sich im Augenblick in der Figur des Freiherrn Prof. von der Heydte. Die sorgfältige Besprechung seines Souveränitätsbuches durch Heimpel in den Gött.[ingischen] Gel.[ehr­ ten] Anzeigen, die normalerweise einen Skandal entfesseln müsste, wird nicht hindern können, dass er nach München kommt. Haben Sie sie gelesen? Ich kann Ihnen eine Photokopie liefern.547 Inzwischen habe ich noch einen jedenfalls sehr tüchtigen jungen Völker­ rechtler bemerkt: Dr. Winfried Dallmayr, Augsburg, Annastr. 11. Er hat mir den Entwurf seiner Dissertation geschickt, die große geistesgeschichtliche Kenntnisse zeigt. Persönlich kenne ich ihn nicht. Er war mit einem Stipen­ dium im Sommer an der Universität Turin.548 Das Exemplar meines Vortrages von 1925 über die Rheinlande als Objekt der Internationalen Politik, der für die Abstimmung über das Saarstatut so unheimlich aktuell war, befindet sich in der Hand von Dr. Altmann in Mar­ burg.

547  Der Historiker Hermann Heimpel (1901–1988) unterzog v. d. Heydtes „Ge­ burtsstunde des souveränen Staates“ (1952) in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 208, 1954, S. 197–221 einer vernichtenden Kritik, die mit dem Satz schließt: „Leider zeigt fast jede Nachprüfung, daß der Verf. nicht genügend an jene wissenschaftliche Tradi­ tion gebunden ist, die sich auch im kleinen der Wahrheit verpflichtet weiß.“ Schmitt erhielt eine Fotokopie von E.-W. Böckenförde, s. BW Böckenförde, S. 49 f. 548  Winfried (Fred) R. Dallmayr (geb, 1928), dt.-amerikan. Philosoph, wurde 1955 in München promoviert mit der juristischen Dissertation „Pränationale, internationale und supranationale Organisation. Versuch einer Stilgeschichte und einer Stillehre“. In Turin studierte er 1955 bei Norberto Bobbio, später lehrte er in USA; 16 Briefe (1954–1958) im Nl. Schmitt.



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Ihre Besprechung von Marcel David hat mir große Freude gemacht und mich außerordentlich über die neue Literatur informiert.549 Spricht R. Folz (L’idée de l’Empire) tatsächlich von κατέχων?550 Dann würde ich mir das Buch kommen lassen. Und hat es Sinn, die Korrespondenz mit Polin zu pflegen? Ich schrieb ihm gern wegen seines Aufsatzes über den Begriff des Friedens bei Hobbes,551 aber Sie kennen ja meine Hemmungen gegenüber Paris. Ver­ gessen Sie nicht die elementare Gültigkeit des Satzes, der meine Verfolger jetzt verfolgt: Wenn C. S. das nicht ist, was diese Verfolger von ihm behaup­ tet haben, was sind sie dann?552 Es ist richtig, dass „wichtige Fragen bisher beiläufig in Fußnoten behandelt“ sind. Aber was sollte ich 1928 anderes tun? Allmählich dämmert doch – trotz Herrn Peter Schneider – die Erkenntnis, was die Verfassungslehre von 1928, in der sie das Wort „Autorität“ im Sachregister finden, für die damalige Si­ tuation bedeutete (vgl. Deutsches Verw. Blatt, Sept. 55);553 aber welche un­ dankbare Situation war das damals, und wie verzweifelt ist sie heute, wo alle jene Demokraten von 1928 als Sieger auftreten, und plötz­ lich auch noch den zweiten Weltkrieg gewonnen haben, gemäß der großen Parole: Das soziale Ideal ist der siegreiche Krieg!554 Besteht Aussicht, dass wir uns einmal wiedersehen? Wie ist Ihre neue Adres­ se? Den Hamlet-Vortrag lasse ich abschreiben. Über den Plan einer Reise nach Paris nächstens mehr! Stets Ihr Carl Schmitt 549  Schnur besprach: Marcel David, La souveraineté et les limites juridiques du pouvoir monarchique du XIe au XVe Siècle, in: ZRG, Germ. Abt. 41, 1954 (Sonder­ dr. im Nl. Schmitt). 550  Robert Folz, L’idée d’Empire en occident du Ve au XIVe siècle, Paris 1953. – Robert Folz (1910–1996) franz. Mittelalterhistoriker, seit 1952 Prof. in Dijon. 551  Raymond Polin, Sur la signification de la paix d’après la philosophie de Hob­ bes, in: Revue Française de Science Politique 4, 1954, S. 252–277 (Sonderdr. mit Widmung im Nl. Schmitt). 552  Abgewandeltes Zitat aus der Autobiographie von Henry Adams. Im Original lautet das Zitat: „if Mr. Lincoln was not what they said he was what were they?“ (The education of Henry Adams, Boston 1961, S. 131). Neben dieser Ausgabe (RW 265– 27833) besaß Schmitt auch eine mit Anmerkungen versehene von 1927, (RW 265– 24954). Im Nomos (S. 299) zitiert er: „if the foe is not what they say he is, what are they?“; auch für Widmungen verwendete er das Zitat. 553  Wahrscheinlich gemeint: Werner Gross, Die Entwicklung des öffentlichen Rechts, in DVBL 70, 1955, S. 595–596, wo die letzten zwei Jahre des Bundestags bilanziert werden, in denen zwar 202 Gesetze beschlossen wurden, doch „fehlen lei­ der immer noch Regelungen, die für die Konsolidierung unserer staatlichen und wirt­ schaftlichen Ordnung unentbehrlich und für unsere gesellschaftliche Aufrüstung not­ wendig sind“. 554  Schmitt zitiert hier Erich Kaufmann; vgl. Carl Schmitt, Antworten in Nürnberg, Berlin 2000, S. 53, Anm. 2.

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Anl. zum Schreiben vom 8/11 55 1) Pähler hat in der letzten Nummer von Civis einen höchst intelligenten Aufsatz über Pressure Groups geschrieben.555 2) Andersch hat die Ballade vom Reinen Sein im letzten (4.) Heft der Texte und Zeichen abgedruckt.556 3) Die Besprechung von Ehmkes Verfassungsänderung durch Sen. Präs. W. Gross im Deutschen Verwaltungsblatt Nr. 17, 1/9 55, müssen Sie lesen; wer bespricht Ehmke bei Ihnen? ebenso: Besprechung von Winckelmann Legitimität und Legalität durch Gehlen.557 4) Herr Dr. Sladeczek, Tübingen, Schulberg 6, könnte über Widerstandsrecht schreiben; sehr interessante Tübinger Dissertation; sehr interessantes Schick­ sal (zuerst Promotions-Versuch in der Ostzone, Leipzig);558 5) Nochmals: Michel Mourre über Lamennais ist wichtig (ich habe freilich viele Einwände);559 Lamennais, der (damals verfolgte) Vater der christlichen Demokratie. 6) Lassen Sie Altmann über Schelsky einen Aufsatz schreiben; könnte sehr interessant werden; 7) Aus Ernst Kerns „Rechtsstellung des europäischen Beamten“ ließe sich vielleicht ein schöner Archiv-Aufsatz machen, der bei Ihnen mehr Resonanz fände als in der heutigen Publikation bei Beck;

555  Karl H. Pähler, Über die sogenannten „pressure-groups“, in: Civis mit Sonde, 1955, H. 11, S. 60–62. 556  Erich Strauß (d. i. Carl Schmitt), Die Sub-stanz und das Sub-jekt. Ballade vom reinen Sein, in: Civis vom 9.6.1955; wieder abgedr. ohne Verfasserangabe in: Texte und Zeichen 1, 1955, S. 522–525; auch in BW Mohler, S. 192–198 (hier mit Verfas­ serangabe „Bert Ibsenstein“). 557  Horst Ehmke (1927–2017), Staatsrechtler und Politiker. In seiner Dissertation „Grenzen der Verfassungsänderung“ (1953) kritisierte er Schmitt; in ARSP wurde die Arbeit nicht besprochen. Die Besprechung Gehlens von Winckelmanns Buch in: DVBL 70/17 vom 1.9.1955, S. 577. 558  Heinz Sladeczeks juristische Dissertation „Über das Widerstandsrecht. Versuch einer Darstellung seiner Problematik angesichts seines Wiederauflebens in einigen deutschen Nachkriegsverfassungen“ wurde 1950 von der Universität Leipzig nicht angenommen; in Tübingen wurde er dann 1955 mit der Arbeit „Zur Problematik des Widerstandsrechts in der Gegenwart. Eine rechtstheoretische Studie“ promoviert. 559  Michel Mourre (1928–1977), autodidaktischer Philosoph und Historiker, verur­ sachte 1950 in Paris einen Skandal, als er in der Ostermesse in der Kathedrale Notre Dame in einem Mönchshabit die Kanzel bestieg und den Tod Gottes verkündete. Er schrieb mehrere Bücher, darunter: „Lamennais ou l’hérésie des temps modernes“ (Pa­ ris 1955); vgl. BW Mohler; Glossarium.



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8) Taubes hat einen erstaunlichen Aufsatz zur politischen Theologie der De­ mokratie geschrieben und in USA veröffentlicht (These: die politische Theo­ logie der Demokratie stammt von den Sekten, allgemeines Priestertum etc [)]560 Sehr richtig; aber das Ergebnis wäre doch Jan Bockelsons Wieder­ täuferregiment in Münster 1533/35 als Modell der Demokratie. 9) Von Joseph Kaiser habe ich lange nichts mehr gehört; ist seine Habil. Schrift (Organisation von Interessen) schon erschienen?561 10) Brüning hat am 26/11 1955 70. Geburtstag.562 11) Das Buch von Joseph Dunner über Spinoza würde ich gern einmal sehen.

C. S.

104. 1955-11-16 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14261, ms.

Mainz, den 16.11.1955 Eppichmauergasse 1

[daneben von C. S. Notiz, teilw. stenogr.]

Sehr geehrter Herr Professor, Ich danke Ihnen für Ihren überaus reichen Brief herzlichst. Er kam gerade zur rechten Zeit: Am Samstag fand die angekündigte Besprechung statt. Zu meinem Erstaunen kamen alle eingeladenen Herren bis auf Krauss und Kes­ ting, die verhindert waren. Es waren also da: Altmann, Winckelmann, Pähler, Sombart, Scheibert, Koselleck, Trusen, Naumann, Bindokat, Viehweg und ich. Wir saßen im Weinhaus Rebstock, in dem auch Sie sich aufzuhalten vorzogen, wenn Sie in Mainz waren. Der genius loci wirkte sich gut aus: Wir waren nach kurzer Zeit in gutem Kontakt, und ich kann sagen, dass jeden­ falls die Redaktion sehr zufrieden ist. Es ist gewiss manche Verbindung ge­ schaffen worden, die dauern wird. Ich freute mich sehr, mit Herrn Winckel­ mann in ein Gespräch zu kommen. Herr Altmann beeindruckte mich sehr, und in Herrn Pähler haben wir ebenfalls einen tüchtigen Mitarbeiter aus 560  Jacob Taubes, On the symbolic of modern democracy, in: Confluence 4, Nr. 1, 1955, S. 58–69 (Sonderdr. mit Widmung des Verf. im Nl. Schmitt). 561  Kaisers Habil.-Schr. „Die Repräsentation organisierter Interessen“ erschien 1956 bei Duncker & Humblot in Berlin. 562  Heinrich Brüning (1885–1970), Zentrumspolitiker, 1930–32 Reichskanzler, emigrierte 1934 in die USA. Schmitt hatte ein freundlich-distanziertes Verhältnis zu ihm; 4 Briefe (1955) im Nl. Schmitt; TB IV und V.

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1955 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Marburg. Nachdem Herr Viehweg die Lage des Archivs geschildert hatte, sprachen die einzelnen Vertreter der Disziplinen, die bei uns berücksichtigt werden, über diejenigen Probleme, mit denen sich das Archiv dringend zu befassen habe. Das war hochinteressant. Herr Pähler begann die Diskussion. Es stellte sich bald heraus, dass 1. die Soziologie sich mit Erscheinungen befassen muss, die bisher vernachlässigt wurden, 2. die Staatstheorie die von der Soziologie gewonnenen Ergebnisse gründlich auswerten muss. Konkret heißt das: Die Soziologie muss vordringlich die gesellschaftlichen Gruppen­ bildungen untersuchen, um der Staatstheorie Möglichkeiten zu zeigen, wie diese Gruppen überhaupt zu integrieren sind. Dabei ist man sich im klaren, dass Schelskys Soziologie wenig Früchte trägt! Gleichfalls ist eine Auseinan­ dersetzung mit Forsthoff und Weber nötig, um ihnen zu zeigen, dass sie nicht wissen, wie denn der von ihnen beschworene Staat eigentlich aussehen soll. Im Grunde läuft das für die Staatstheorie darauf hinaus, mehr oder weniger alle überkommenen Begriffe umzuprägen. Das aber wird schwerlich im wis­ senschaftlichen Betrieb geschehen können. Daran wäre die Frage zu knüpfen, auf welcher materiellen Basis außerhalb des Betriebs die schwere Arbeit er­ ledigt werden kann. Hier zeigt sich, dass die deutsche Gesellschaft gegenüber der freien Forschung insofern völlig versagt, als sie bei weitem nicht genü­ gend Mittel für die freie Forschung bereitstellt. Die Amerikaner sind uns in­ soweit sehr überlegen. Ein Publikationsorgan für dergleichen Arbeiten steht ja im Archiv bereit, aber dessen schlechte finanzielle Lage ist leider nicht dazu angetan, mit einigen Honoraren den Mitarbeitern zu helfen. Private Fonds haben wir nicht – private Förderer wären dringend nötig. Aber wo findet man sie? Gewiss, man könnte über offizielle Institute, Organisationen einiges Geld bekommen, aber dieses Geld ist meistens mit Bedingungen verbunden, die wir nicht akzeptieren können. Solange Mitarbeiter wie Alt­ mann, Naumann, Pähler, ja fast alle vom engeren Kreis, materiell nicht son­ derlich gesichert sind, ist es ein hartes Verlangen, gute Aufsätze bei uns zu veröffentlichen. – Dergleichen Dinge wurden also auch besprochen, und es war bitter zu sehen, dass kaum ein Ausweg besteht. Jedenfalls aber hat sich nunmehr ein Kern gebildet, der fest genug sein dürfte, um den Isolierungs­ versuchen der offiziellen Inhaber wissenschaftsbetrieblicher Macht Wider­ stand entgegenzusetzen. Für die Redaktion heißt das: Soviel Offizielle wie erträglich zu bringen, damit wir die anderen Arbeiten unterbringen können. Zu Ihrem Brief: Herr Pähler wird mir den Sonderdruck seines Aufsatzes in der „Civis“ schicken. Dieser Aufsatz ist eine etwas popularisierende Fassung eines Aufsatzes, der demnächst im Archiv erscheinen wird.563 Das Buch von Ehmke ist bei uns nicht besprochen worden – für eine Rezension ist es jetzt 563  Karl Heinz Pähler, Verein und Sozialstruktur. Versuch einer soziologischen Analyse, in: ARSP 42, 1956, S. 197–227.



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zu spät, zumal uns der Verlag nunmehr kein Besprechungsexemplar überlas­ sen wird.564 Eigentlich wäre Herr Sladeczek für die Rezension der geeignete Mann. Herr Gehlen bespricht de Jouvenels neues Buch, das dieser ihm auf meine Anregung hin (mit Widmung) schickte.565 Herr Sladeczek hat mir inzwischen geantwortet. Er schickte mir die zweite Hälfte seiner Arbeit. Ich finde sie außerordentlich reich an fruchtbaren Ge­ danken. Seine Thesen über den Wandel des Widerstandsrechts in der Neuzeit halte ich für richtig, wundere mich nur, dass er nicht Otto Brunner zitiert hat (und Ernst Kern). Ich werde mit ihm ein besonderes Thema absprechen, über das er mit uns einen Aufsatz schreiben wird (wieder die Frage: wie können wir finanziell helfen?). Er will auch Bücher für uns besprechen. Als erstes Buch möchte ich ihm Lange, Wissenschaft im totalitären Staat, schicken.566 Er kennt sich darin ja gut aus. – Von Herrn Dallmayr habe ich noch keine Antwort. Herrn Kern treffe ich am nächsten Dienstag. Den Aufsatz von Tau­ bes kenne ich – interessant, wie fast alles, was er schreibt. Wir haben zwei Manuskripte von ihm und erwarten ein drittes Manuskript. Von Joseph Kaiser habe ich lange nichts mehr gehört. Über ihn fielen am Samstag ziemlich harte Worte. Er scheint nunmehr sozial und geistig gesättigt zu sein. Wenn das der Fall sein sollte, tut es uns nicht leid, dass er von uns nichts mehr wissen will.567 Seine große Arbeit ist noch nicht erschienen – sie wird sehr kritisch besprochen werden, womöglich von Herrn Altmann.568 Ich werde Armin Mohler bitten, er möge Michel Mourre, den ich persönlich kenne, veranlassen, uns sein Buch zu schicken. Nur weiß ich noch nicht, wer der geeignete Rezensent ist. Aber das wird sich schon finden – Herr Spae­ mann wäre ein geeigneter Mann, wenn er mir nur geantwortet hätte.569 Oder meinen Sie, dass Mirgeler, der ja im „Merkur“ einige gute Bemerkungen anbrachte, dieses Buch besprechen könnte?570 564  Horst Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, Berlin 1953. – Stenogr Notiz von C. S. am Rand. 565  Arnold Gehlen besprach: B. de Jouvenel, De la souveraineté, in: ARSP, 43, 1957, S. 154–158. 566  Max G. Lange, Wissenschaft im totalitären Staat. Die Wissenschaft der sowjet. Besatzungszone auf dem Weg zum ‚Stalinismus‘, Stuttgart und Düsseldorf 1955. 567  Stenogr Notiz von C. S. am Rand. 568  Joseph H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, Berlin 1956. Das Buch wurde in ARSP nicht besprochen. 569  Von C. S. am Rand: „Ja“. – Robert Spaemann (1927–2018), Schüler von Joa­ chim Ritter, Prof. für Philosophie in Stuttgart, Heidelberg und München; 17 Briefe (1951–1970) im Nl. Schmitt. 570  Von C. S. am Rand: „Ja“. – Albert Mirgeler (1901–1979), Historiker; 8 Briefe, 2 Postkt. (1928–1968) im Nl. Schmitt. Mirgeler hat in ARSP nicht veröffentlicht. Das Lamennais-Buch von Mourre wurde in ARSP nicht besprochen.

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Meinen Sie, man könne Brüning bitten, das von uns angeforderte Buch von Beloff, Foreign policy and democratic process, zu besprechen? Vom Betrieb her gesehen, dürfte das keine Schwierigkeiten bereiten, denn er liest ja in Köln.571 Das zu Ihrem Brief. Eine Frage, die ich schon oben andeutete, ist gründlicher Erörterung wert: Herr Winckelmann meinte, wir sollten bei Unesco oder Europarat anfragen, ob man uns finanziell unterstützen könne. Herr Scheibert erwiderte, dass die Forschungsgemeinschaft uns mehr zahlen könne, soviel, dass wir pro Seite etwa 5 DM bezahlen könnten. Ich halte Scheiberts Anregung für richtiger. Aber 5 DM pro Seite genügen in manchen Fällen eben nicht. Wenn ein jun­ ger Mitarbeiter für einen Vortrag 200 oder 300 DM erhält, den er in einem bestimmten Blatt publizieren muss, können wir nicht verlangen, dass er bei uns den gleichen Vortrag für 70 oder 80 DM publiziert, weil jeder von uns jungen Leuten mit dem Pfennig rechnen muss. Herr Winckelmann meinte daraufhin, man solle einen privaten Förderkreis gründen. Das wäre gewiss das Richtige. Aber offiziell über IVR und Archiv geht das nicht.572 Wenn ein solcher Kreis zustande käme, so dürfte er unter den heutigen Umständen nach außen nicht hervortreten. Die Kopfjäger im offiziellen Betrieb würden uns alsbald den Weg versperren. Ich meine, eine private Unterstützung könn­ te nur versteckt laufen, nicht einmal über den Verlag.573 Möglich wäre ein Ehrenabonnement, das etwa 80 oder 100 DM kosten würde, über dessen Betrag die Redaktion verfügen müsste. Die für uns zur Zeit wichtigste Auf­ gabe aber besteht darin, einen Prospekt herauszubringen, der in deutscher Sprache eine Auflage von 1000 haben müsste, in Englisch und Französische von 300 bzw. 200. Aber die IVR-Kasse scheint leer zu sein. Der jetzige Ver­ lag gibt nichts aus, ein neuer wird ebenfalls nicht bereit sein, etwa 500 DM in die Werbung hineinzustecken. Herr Viehweg und ich können auch nichts mehr hergeben, weil 1. Herr Viehweg über 300 vor einigen Jahren in das Archiv steckte, und 2. wir beide laufend Geld aus eigener Tasche für das Archiv ausgeben, weil der Verlag uns die Spesen nicht mehr ersetzt. Der Entwurf des Prospekts ist fertig. Er wird vier Seiten umfassen. Wir entneh­ men etlichen Nachrichten aus dem In- und Ausland, dass wir die Auflage bei 571  Von C. S. am Rand: „nein“. Schnur ist hier nicht richtig informiert: Heinrich Brüning hatte von 1951 bis zu seiner Emeritierung 1953 eine Professur für Politische Wissenschaft in Köln inne, kehrte aber 1955 in die USA zurück. Max Beloff, Foreign policy and the democratic process, Baltimore 1955, wurde von Helmut Rumpf be­ sprochen in: ARSP 42, 1956, S. 453–455. 572  Stenogr. Notiz von C. S. am Rand. – Die IVR war Herausgeberin u. a. von ARSP. 573  Stenogr. Notiz von C. S. am Rand.



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einiger Werbung von 450 auf 1000 erhöhen könnten. Wir wissen, dass wir auch in Deutschland mit einer Werbung Erfolg haben könnten. Aber uns fehlen sogar die Mittel für den geplanten Prospekt. Die Mitgliedschaft in der IVR ermöglicht den Bezug des Archivs für 28 DM pro Jahresband, zu einem erträglichen Preis. Es geht nunmehr einfach darum, das Archiv überhaupt einmal bekannt zu machen. Deshalb erlaube ich mir die Frage, ob Sie wis­ sen, wo man eine Spende von 500 DM auftreiben kann. Ich frage bewusst gerade Sie, weil Sie ja in der Industrie zahlreiche Bekannte haben, die geis­ tiger Arbeit gegenüber aufgeschlossen sind. Hoffentlich hört sich meine Frage nicht als Betteln an – es ist schlimm genug, dass wir soweit sind, dass ich fragen muss. Aber die Möglichkeiten, die wir nunmehr im Archiv haben, veranlassen mich, womöglich über die Grenzen des Schicklichen hinauszu­ gehen. Es ist ein Jammer, dass eine deutsche wissenschaftliche Zeitschrift, die im Ausland einen großen Namen hat (besonders in Spanien), gewisser­ maßen vor dem Konkurs steht. Natürlich wird sich von den herrschenden Leuten niemand beeilen, einem potentiellen geistigen Gegner auch noch zu helfen. Aber gibt es nicht doch noch Leute in Deutschland, die der Ansicht sind, dass Geld verpflichtet? Über diese Dinge würde ich gerne einmal mit Ihnen sprechen. Die derzeiti­ gen persönlichen Umstände erlauben eine Reise nach Plettenberg nicht. Sollten Sie jedoch demnächst einmal in Frankfurt sein, so schreiben Sie mir bitte, ob ich Sie dort besuchen darf. Mit herzlichen Grüßen Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 105. 1955-12-01 Carl Schmitt an Roman Schnur 136–137, hs.

Plettenberg, den 1. Dezember 1955 Mein lieber Roman Schnur. Ihre Frage nach den Möglichkeiten, für Sie und Ihren Kreis bessere Arbeitsund Publikationsbedingungen zu schaffen, beschäftigt mich seit Wochen, seitdem ich Ihr letztes Schreiben erhielt. Aber Sie haben recht, wenn Sie sa­ gen, dass man über solche Dinge nur mündlich sprechen kann. Ich würde gerne die Gelegenheit zu einer Besprechung benutzen, wenn Sie Zeit haben. Leider ist das Sauerland sehr abgelegen und im Winter kaum befahrbar, und

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1955 – Carl Schmitt an Roman Schnur

ich entschließe mich in meinem Alter nicht mehr leicht zu einer Reise. Es kommt hinzu, dass ich kein rechtes Bild von Ihrer gegenwärtigen Zeiteintei­ lung habe. Tagsüber sind Sie doch wahrscheinlich vom Verwaltungsdienst in Anspruch genommen. Dazu kommt der bevorstehende Umzug in die neue Wohnung. Es ist also wohl besser, wenn wir mit Plänen für eine Besprechung noch etwas warten. Die Beiträge, von denen Sie sprechen, sind relativ bescheiden. Trotzdem werde ich niemals für das Archiv als solches etwas tun können. Alles aber, was ich für Sie und Ihre Mitarbeiter tue, kommt im Ergebnis nur diesem Archiv zugute, das Sie hochbringen, für das Sie arbeiten, und dessen Früchte weder Sie noch Ihre Freunde ernten, sondern die Nutznießer der heutigen Lage Deutschlands und des deutschen Volkes. Das ist das Traurige Ihrer Bemühungen. Sie sagen: „Es geht nunmehr einfach darum, das Archiv über­ haupt einmal bekannt zu machen.“ Jawohl, aber das Archiv ist in festen Händen; auch wenn es Ihnen gelingt, es bekannt und berühmt zu machen, bleibt es in diesen festen Händen. Alle Denkbarkeiten des Verhältnisses von Besitzer und Arbeiter, Hegelisch: Herr und Knecht, sind von den erfahrenen Routiniers des heutigen Besitzes längst einkalkuliert. Ich bewundere Ihren Fleiß und den Erfolg, den Sie bereits aufzuweisen haben. Aber alles dient dem Archiv, dessen Beherrscher meine übelsten Verfolger sind.574 Die als Mit-Herausgeber figurierenden Namen scheinen nur Aushängeschilder zu sein. Moncada schrieb mir, er wisse von nichts. An Emge, der mir seine Publikationen schickt, der aber auch als Mit-Herausgeber figuriert, möchte ich nicht schreiben, weil er im Ernstfall doch auf die Seite der Verfolger tritt. Solange also nicht klar ist, was das „Archiv“ eigentlich ist, wird es schwer werden, unter der Hand etwas dafür zu tun. Aber wir müssen einmal in Ruhe darüber sprechen. Ich wollte Ihnen heute nur kurz erklären, warum es mir schwer wird, Ihnen auf Ihre Vorschläge zu antworten. Jetzt nur noch einige Einzelheiten: Von Brüning, der ziemlich krank ist, kann man keinen Beitrag erhoffen. Für das Buch von M. Mourre wäre Spaemann sehr gut; auch Mirgeler; dieser vielleicht noch freier, weil nicht Konvertit. Joseph Kaiser schrieb mir, er wolle mich in den Weihnachts­ ferien hier besuchen. Winckelmann kommt mit Frau um den 10. Dezember herum. Einen Brief von Dallmayr schicke ich mit, zur Kenntnisnahme mit der Bitte um Rückgabe. Von Monnerot habe ich nichts gehört (erklärlich). Hätte es Sinn, Jouvenel das Machtgespräch zu schicken (über Sie)? Slade­ czek schrieb mir einen interessanten Brief. Haben Sie das Atom-Krieg-Heft von R. Hinders Politik & Gemeinschaft gelesen? E. van Loen hat auch im 574  Schmitt

Brief.

meinte wohl Erich Kaufmann und Eduard Spranger; s. folgenden



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NWDR zwei Vorträge darüber gehalten; er ist ein nature’s Hegelian, wenn ich so sagen darf.575 Für heute noch alle guten Wünsche Ihnen und Ihrer Frau für Ihre neue Woh­ nung, deren Adresse Sie mir bald mitteilen müssen. Stets Ihr alter Carl Schmitt 106. 1955-12-20 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14262, ms.

Mainz, den 20.12.1955 Hindenburgstr. 40

[daneben stenogr. Notiz von C. S.]

Sehr geehrter Herr Professor, Meine Frau und ich danken Ihnen von ganzem Herzen für die Grüße zu un­ serer Vermählung.576 Die Brautmesse fand nicht im eigentlichen Dom, son­ dern in der Sakramentskapelle statt, dem ältesten Teil des Doms. Ich bin sehr froh, dass wir nunmehr unter einem festen Dache sind. Die Wohnung ist recht nett, und ich hoffe, Sie eines Tages hier empfangen zu können. Auch für Ihren Brief habe ich Ihnen herzlich zu danken. Es ist schade, dass die finanzielle Hilfe für das Archiv jedenfalls nicht vom Ruhrgebiet kommt. Einstweilen helfen wir uns weiter mit Geld aus eigener Tasche. Leider oder Gottseidank (wie man will) kann ich Ihre Ansicht, das Archiv sei ein Blatt, von Charaktermördern herausgegeben und geleitet, nicht ganz teilen. Leute wie Kaufmann und Spranger haben keinerlei Einfluss auf die Redaktion. Die Teilnahmslosigkeit dieser Leute am wirklichen geistigen Geschehen kommt uns sehr zugute. Überdies haben deren Günstlinge so schlechte Aufsätze ge­ schickt, dass ich mit Leichtigkeit „unsere“ Leute lancieren konnte. Viehweg hat erkannt, dass ich ihm beste Qualität liefere. So ist z. B. der Rezensionsteil von 42,1, das Ende Januar erscheinen soll, nach meiner Meinung sehr or­ 575  In der von dem Geosoziologen Rolf Hinder herausgegebenen Zeitschrift „Ge­ meinschaft und Politik“ hatte Schmitt 1953 „Nehmen / Teilen / Weiden“ veröffent­ licht. Das Heft 8/9 stand 1955 unter dem Titel „Atomkrieg. Grundlegende Informa­ tionen“. – Ernst van Loen ist ein Pseudonym für Ernst Hermann Bockhoff (1911– 1996), den Schmitt 1933 in Köln kennen lernte, wo er NS-Studentenführer war. Bockhoff änderte 1945 seinen Namen und war publizistisch tätig; TB V, S. 292; 12 Briefe, 3 Postkt., 2 Telegr. (1938–1978) im Nl. Schmitt; vgl. BW Mohler, S. 210. 576  Fehlt.

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dentlich. Zwei Bücher über Hegel werden besprochen, Scheibert bring eine Rezension (und im gleichen Heft einen Aufsatz), von Taubes wird dort ein Aufsatz publiziert usf. Heft 42,2, das soeben abgeschlossen wird, enthält ebenfalls einige gute Beiträge. Immerhin ist die Auflage seit meiner Mitar­ beit um 70 gestiegen – wir haben 90 Abonnements mehr als das AöR. Ich hoffe, im kommenden Frühjahr einen Aufsatz (Vorabdruck eines Buchkapi­ tels) von Norbert Bobbio zu bekommen, über den Dr. Dallmayr ja auch einen Aufsatz schreiben wird.577 Kürzlich traf ich Dr. Kern, der mir erzählte, dass er wahrscheinlich in Paris einen hochdotierten Posten übernehmen werde. Er will uns demnächst einen Aufsatz zur Verfügung stellen. Ich selbst werde wahrscheinlich meinen Beruf ebenfalls in gewisser Hinsicht wechseln. Vor einigen Tagen lud mich Prof. Ule zu einem Gespräch ein und fragte mich, ob ich nicht ab 1.4.56 Assistent in Speyer werden wolle. Diese Position gäbe mir Zeit und Möglichkeiten, mich zu habilitieren, sei es in Mainz oder an einer anderen Universität. Er meinte, dass ich neben der Ver­ waltungsarbeit schwerlich eine Habilitation vorbereiten könne. Auf diesen Vorschlag habe ich noch nicht geantwortet. Ich will die Sache gründlich überlegen. Prof. Ule sprach auch schon mit Herrn Krauthausen über mich, der ihm sagte, er wolle mich im kommenden Jahr im Ministerium verwen­ den. Die Speyerer Tätigkeit würde den Vorteil bieten, dass ich fünf Monate im Jahr in meiner Wohnung arbeiten und während der Semester von Freitag bis Montag in Mainz sein könnte. Neben diesem auf Dauer berechneten Vor­ haben läuft noch ein anderer Plan: Ich habe gute Aussicht, im kommenden Jahr am Harvard Summer Seminar teilzunehmen. Nicolaus Sombart nahm in diesem Jahr teil. Ich habe den Direktor des Seminars in Paris kennengelernt. Natürlich lockt es mich, die USA auf zwei Monate zu besuchen. Ich möchte auch gerne Kirchheimer und Taubes persönlich kennenlernen. Das sind so die Probleme, mit denen ich mich in nächster Zeit beschäftigen muss. Ich hoffe, dass ich sie richtig lösen werde. Indem ich Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest wünsche, bleibe ich stets Ihr [hs.:] Roman Schnur

577  Winfried Dallmayr, Studie über Noberto Bobbio, in: ARSP 42, 1956, S. 403– 428. – Norberto Bobbio (1909–2004), seit 1948 Ordinarius für Rechstphilosophie in Turin. Schmitt schätzte ihn als Hobbes-Kenner; vgl. BW Bobbio.



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107. 1956-01-03 Carl Schmitt an Roman Schnur 203–204, hs., Ansichtskt. Magdeburg, Alter Markt, Reiterdenkmal Kaiser Otto

3/1 56 Mein lieber Roman Schnur, vielen Dank für Ihr Schreiben vom 20/12 und Ihre Festtagswünsche, die ich – post festum, aber nicht weniger herzlich – erwidere. Heute nur die Mitteilung, dass ich am Freitag, 6. Januar, abends in Wiesbaden bei dem Gespräch über Hans Freyers Theorie des gegenwärtigen Zeitalters anwesend sein werde (bei Dr. Franzen, Gluckstr. 7) und mich sehr freuen würde, dann oder im Laufe des folgenden Tages eine Stunde mit Ihnen sprechen zu ­können. Ich weiß noch nicht, in welchem Hotel ich wohne, bin aber über Dr. Franzen zu erreichen. Ich muss noch nach Frankfurt und Oberursel; ob ich nach Mainz kommen kann, ist unsicher. Hoffentlich also auf ein gutes Wiedersehen in Wiesbaden! Alles weitere mündlich! Ihnen und Ihrer Frau die besten Grüße und Wünsche Ihres alten Carl Schmitt

108. 1956-01-13 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14264, ms.

Mainz, den 13.1.1956 Hindenburgstr. 40 Sehr geehrter Herr Professor, Ich darf Ihnen nochmals von ganzem Herzen für den herrlichen Abend dan­ ken, den ich mit Ihnen verbringen durfte. Er gab mir viele Anregungen, die ich fruchtbar zu machen hoffe. Inzwischen habe ich eine Karte von Herrn Winckelmann erhalten. Herr Win­ ckelmann will uns ein Manuskript übersenden, sobald die Besprechung sei­ nes Buches, die Herr von Platen geschrieben hat, bei uns erschienen ist. Da es sich nur um Tage handeln kann, bis das betreffende Heft erscheint, hoffe ich, dass wir das Manuskript, das einen sehr interessanten Titel führt, in Kür­

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ze erhalten.578 Wir haben nun erreicht, dass bereits der neue Jahrgang bei Luchterhand erscheint. Dieser günstige Umstand erlaubt uns endlich eine vernünftige Planung. So können wir uns an feste Erscheinungsdaten halten, für deren pünktliche Einhaltung der Verlag Gewähr bietet. Das heißt dann auch, dass Herrn Pählers Aufsatz spätestens im Mai erscheint, ebenso Herrn Arndts Kritik an Altmanns Dissertation.579 Herr Gunst wird wahrscheinlich die soeben erschienene Schrift von Wilhelm Wengler, Der Begriff des Politischen im internationalen Recht, besprechen.580 Ich denke, dass diese Schrift zu einer interessanten Besprechung Anlass gibt. Die Arbeit von Herrn Rumpf ist inzwischen hier eingetroffen.581 Es steht al­ lerdings noch nicht fest, wer sie rezensieren wird. Werner Weber hat es ab­ gelehnt, die Aufsatzsammlung von Abendroth zu besprechen …582 Wegen der Finanzierungsfrage werde ich mich demnächst mit Herrn Win­ ckelmann unterhalten. Es müsste doch möglich sein, monatlich 300 DM zu bekommen, mit denen die Redaktion schon viel anfangen könnte. Aber nur die Redaktion! Mein Aufsatz über Maxime Leroy wird in Kürze erscheinen. Mit den besten Grüßen Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 578  Die Besprechung von Winckelmanns Buch „Legitimität und Legalität in Max Webers Herrschaftssoziologie“ erschien in: ARSP 41, 1955, S. 595–598. Im folgen­ den Jahrgang erschien dann: Johannes Winckelmann, Die Herrschaftskategorien der politischen Soziologie und die Legitimität der Demokratie. Von den strukturbedingten Risiken der Massendemokratie, in: ARSP 42, 1956, S. 383–401. 579  Karl H. Pähler, Verein und Sozialstruktur. Versuch einer soziologischen Analy­ se, in: ARSP 42, 1956, S. 197–227. Hans-Joachim Arndt, Öffentlichkeit als Staats­ ersatz, in: ARSP 42, 1956, S. 239–247. 580  Wilhelm Wengler (1907–1995), Prof. für internationales und ausländisches Recht an der FU Berlin. Die Besprechung von Dietrich Gunst in: ARSP 43, 1957, S. 135–139. Gunst wurde 1953 in Kiel promoviert und war Rechtsanwalt, 1959 wur­ de er Generalsekretär der IVR. 581  Helmut Rumpf, Regierungsakte im Rechtsstaat. Rechtsvergleichende Beiträge zu einer Untersuchung des Verhältnisses von Politik und Recht, Bonn 1955. – H. Rumpf (1915–1986), Jurist, von Schmitt 1939 promoviert, 1951 Habilitation in Heidelberg, bis 1958 dort Privatdozent, dann bis 1965 Konsul in Mailand, seit 1966 Dozent, 1968 Honorarprof. in Bochum; 56 Briefe, 3 Postkt., 2 Telegr. (1943–1981) im Nl. Schmitt, s. auch Schmittiana VII, 2001, S. 369–372. 582  Wolfgang Abendroth/Herbert Sultan, Bürokratischer Verwaltungsstaat und so­ ziale Demokratie. Beiträge zu Staatslehre und Staatsrecht der Bundesrepublik, Han­ nover/Frankfurt a. M. 1955. – W. Abendroth (1906–1985), marxistischer Jurist und ­Politikwissenschaftler, im NS inhaftiert, von 1950–1972 Ordinarius für Politikwissen­ schaft in Marburg.



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109. 1956-02-01 Carl Schmitt an Roman Schnur 140–141, hs., Postkt.

1/2 56 Mein lieber Roman Schnur, in diesen letzten Wochen war ich ganz von der fürchterlichen Arbeit absor­ biert, die der Abschluss und die Satzfertigmachung eines Hamlet-Manuskrip­ tes mit sich brachten. Jetzt bin ich soweit und werde meine Briefschulden allmählich abtragen können. Heute nur ein Wort des Dankes für Ihren Brief und eine Bitte: Könnten Sie mir 2 Exemplare der Nr. 1 der Beilage zur Staats-Zeitung für Rheinland-Pfalz vom 15. Januar 1956 besorgen? (Proble­ me der Sozialordnung, mit einem Aufsatz von Gehlen über „Soziologische Voraussetzungen im gegenwärtigen Staat“?583 Vielen Dank und herzliche Grüße Ihres alten Carl Schmitt 110. 1956-02-15 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14265, ms.

Mainz, den 15.2.1956 Hindenburgstr. 40 Sehr geehrter Herr Professor, Ich danke Ihnen vielmals für die Karte – die beiden Nummern der Staatszei­ tung habe ich bestellt. Sie werden in den nächsten Tagen bei Ihnen eintreffen. Die gröbste Arbeit mit dem Archiv dürfte nunmehr vorüber sein. Ab 1.1.1956 werden wir vom Verlag Luchterhand betreut, der viel leistungsfähiger ist als Hain584 das war und die Hefte auch wieder in ansprechenderem Gewande herstellen wird. Bei der Erledigung der restlichen Geschäfte mit Hain konnte ich zu meiner Freude feststellen, dass wir im vergangenen Jahrgang die Zahl 583  Arnold Gehlen, Soziologische Voraussetzungen im gegenwärtigen Staat, in: Probleme der Sozialordnung. Referate des 21. Staatswissenschaftlichen Fortbildungs­ kursus der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Beilage zur Staats‑Zei­ tung für Mitteilungen für Rheinland‑Pfalz, 15. Jan. 1956, 1, S. 320–339. 584  Der 1946 gegründete Ein-Mann-Verlag Anton Hain in Meisenheim am Glan.

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der Abonnements um über 20 % erhöhen konnten. Nach Japan sollen nun­ mehr fast 40 Hefte geliefert werden, wie denn überhaupt das Ausland fast die Hälfte sämtlicher Abonnements aufnimmt. Natürlich gehen auch Hefte nach Russland, einige 20 nach Italien. Auffallend war, dass viele Neubestellungen nach der Auslieferung von 41/2 eintrafen, in dem die beiden spanischen Auf­ sätze und der Beitrag von Herrn Kesting abgedruckt waren. Das dürfte ein Zeichen dafür sein, dass man merkt, aus welcher Richtung der frische Wind weht. Ich glaube nicht, dass Ihre pessimistisch gefärbte Meinung über unsere zu­ künftige Arbeit das Rechte trifft – vergessen Sie bitte nicht, dass der engere Mitarbeiterkreis durchschnittlich etwa 35 Jahre alt ist – es verschwinden also eher die Alten als der „letzte Schüler von Carl Schmitt“.585 So sind in den letzten Wochen wieder etliche jüngere Herren der IVR beigetreten: Krauss, Koselleck, Sombart, Naumann, Kesting usw. Das ist eine Minorität, die stark genug ist, um für die Zukunft Einseitigkeiten zu verhindern. Diese Bremse wäre natürlich noch stärker, wenn eben noch mehr jüngere Herren der IVR beitreten würden. Ich denke, dass auch in dieser Hinsicht die Zeit für uns arbeitet. Von Herrn Dallmayr haben wir ein Manuskript über Freiheit und Gleichheit bei Tocqueville erhalten, ferner eine eingehende Besprechung des Buches von Gulick, Europe’s Classical Balance of Power (natürlich werden Sie in der Besprechung zitiert). Da nunmehr die Hefte regelmäßig erscheinen, wird es nicht allzu lange dauern, bis wir die Beiträge von Herrn Dallmayr veröf­ fentlichen können.586 Von Herrn Kesting werden wir in den nächsten Monaten einen weiteren Auf­ satz erhalten. Auch Herr Altmann will bald seinen Beitrag über die Illegalität fertigstellen.587 Leider warten wir noch immer auf einen Beitrag von Herrn Koselleck – können Sie ihn vielleicht anregen, die Sache vorwärtszutreiben?588 Es wäre gut, wenn sein Aufsatz bald käme, damit wir die kommenden Hefte mit den richtigen Leuten füllen können. Denn wenn von ihnen wenig kommt, muss eben der eine oder andere mediokre Aufsatz gebracht werden, denn das 585  Laut Tagebuch von Schmitt hat Erich Kaufmann gesagt: „es werde nicht eher anständiges Staatsrecht in Bonn geben, als bis der letzte Schüler von Carl Schmitt verschwunden ist“; TB V, S. 120. 586  Einen Aufsatz über Tocqueville hat Dallmayr in ARSP nicht veröffentlicht. Die Besprechung von Edward Vose Gulick, Europe’s classical balance of power (1955) erschien in ARSP 43, 1957, S. 305–310. 587  Hanno Kesting veröffentlichte: „Zur Geschichtsphilosoph von Karl Marx“ in ARSP 43, 1957, S. 545–554, sowie eine Besprechung von Herbert Marcuse „Reason and revolution“ (2. Aufl. 1954) in ARSP 42, 1956, S. 581–583. Rüdiger Altmann lie­ ferte keinen Beitrag. 588  Außer Besprechungen hat Koselleck keinen Text in ARSP veröffentlicht.



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lässt sich bei einer Zeitschrift nicht vermeiden. Ich setze noch große Hoff­ nung auf einen Aufsatz von Robert Spaemann, der mir mitteilte, er wolle einen Beitrag über die Ursprünge der Soziologie in der Restauration schrei­ ben – also im Vergleich mit Herrn Sombarts Aufsatz das Gegenstück.589 Schließlich will Herr Sladeczek, wenn er seine beruflichen Angelegenheiten geregelt hat, ebenfalls ein Aufsatz-Manuskript (ein zurechtgemachtes Kapitel seiner Dissertation) einsenden.590 Würden diese angekündigten Arbeiten bis zum 1.5. etwa hier eintreffen, so könnten sie wohl noch sämtlich im Jahrgang 42 erscheinen. Ich meine, dass wir dann wirklich Beachtliches veröffentlichen könnten. In Anbetracht des hohen Exports haben wir Verpflichtungen zu erfüllen, deren Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Schließlich habe ich noch eine Bitte: Bisher ist es mir nicht gelungen, die Anschrift von Herrn Professor Freyer zu bekommen. Hätten Sie die Güte, sie mir zu schicken? Ich möchte gerne mit ihm Verbindung aufnehmen. Für heute bleibe ich mit den besten Grüßen stets Ihr [hs.:] Roman Schnur 111. 1956-03-25 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14266, ms.

Mainz, den 25.3.1956 Hindenburgstr. 40

[daneben Notiz von C. S. sowie:] b. 28/4 56

Sehr geehrter Herr Professor, Ich darf Ihnen die für mich erfreuliche Mitteilung machen, dass ich sehr wahrscheinlich in den nächsten Tagen als Assistent an die Verwaltungshoch­ schule Speyer abgeordnet werde, und zwar werde ich Herrn Prof. Ule assis­ tieren. Die Zeit der Abordnung wird zwei Jahre betragen. Ich freue mich sehr, in Speyer engeren Kontakt mit den Herren Gehlen und Kern zu bekom­ 589  Robert Spaemann promovierte 1951 mit der Dissertation „Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien über L. G. A. de Bonald“; sie erschien 1959 im Kösel-Verlag München. Einen Aufsatz zu diesem Thema hat Spae­ mann im ARSP nicht veröffentlicht. 590  Heinz Sladeczek, Zum konstitutionellen Problem des Widerstands, in: ARSP 43, 1957, S. 367–398.

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1956 – Roman Schnur an Carl Schmitt

men. Herr Kern schrieb mir, dass er sich bei Herrn Forsthoff habilitieren wolle.591 Was meine Pläne für die Mainzer Fakultät angeht, so werde ich mich bald entscheiden müssen, welches Thema ich nehmen werde. Da es bei der heuti­ gen Situation unserer Fakultäten wenig Zweck hat, ein historisches Thema zu wählen, muss ich nach einem „zeitgemäßen“ Thema Umschau halten. Natür­ lich liegen die Themen über Fragen des geltenden Rechts auf der Straße, doch kann ich mich nicht entschließen, gleich eine Arbeit zu wählen, die ein System darstellt (die Kräfte, die Herr Menger hat, fehlen mir dazu).592 Ich habe mir deshalb überlegt, ob es nicht möglich wäre, eine Arbeit in Angriff zu nehmen, deren Titel so lauten könnte: Die politische Funktion des Wortes „politisch“.593 Im ersten Teil könnte man untersuchen, was man im geltenden öffentlichen Recht (Strafrecht eingeschlossen) mit dem Wort „politisch“ meint, um dann in einem zweiten Teil auf die Geschichte einzugehen, wobei ich mit etwa 1560 beginnen würde. Bei dieser Arbeit könnte ich mich für das 16. Jh. auf meine Pariser Studien, für das 18. Jh. auf Herrn Kosellecks Arbeit stützen. Natürlich würde ich wesentliche Anregungen in Ihren Werken fin­ den. Mit der anthropologischen Fragestellung, die sich aus den Untersuchun­ gen ergäbe, würde ich die Arbeit abschließen. Mit dem ersten Teil könnte ich meine Reverenz vor den Positivisten machen – wenngleich er mehr deskrip­ tiver Art sein würde. Genaueres habe ich mir noch nicht überlegt – ich muss darüber noch mit Herrn Armbruster sprechen. Darf ich Sie um Ihre Meinung fragen, was Sie grundsätzlich von dem erwähnten Thema halten? Vielleicht ergibt sich bald eine Möglichkeit, mit Ihnen über diese Sache zu sprechen. In der vergangenen Woche traf ich Herrn Krauss, der beruflich in Worms zu tun hatte. Er vertrat eine Sache vor dem Kreisrechtsausschuss, den ich leite. Wir verbrachten den Nachmittag gemeinsam in Worms und Mainz. Ich fand Herrn Krauss in guter Stimmung, ruhiger, als ich ihn bisher kannte. Herr Winckelmann, den ich in Kürze zu sehen hoffe, hat uns einen Aufsatz eingeschickt, der sich nochmals mit Problemen der Legalität und der Legiti­ mität beschäftigt. Wir werden ihn so rasch wie möglich veröffentlichen.594

591  Obwohl Forsthoff die wissenschaftliche Qualifikation Kerns hoch schätzte (s. BW Forsthoff, S. 115 f.), kam es nicht zur Habilitation. 592  Christian-Friedrich Menger (1915–2007) habilitierte sich 1954 in Münster mit der Arbeit „System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Eine verwaltungs­ rechtliche und prozeßvergleichende Studie“ (Tübingen 1954). Von 1955 bis 1961 war er Ordinarius in Speyer. 593  Von C. S. stenogr. Notiz am Rand. 594  s. oben, Nr. 108.



1956 – Roman Schnur an Carl Schmitt239

Herrn Schulmeister machte ich auf Herrn Gehlens Vortrag aufmerksam. Er schrieb daraufhin umgehend nach Speyer, um die Erlaubnis von Herrn Gehlen zu bekommen. In „Wort und Wahrheit“ würde der Vortrag eine größere Reso­ nanz finden als in der Staatszeitung, wo er ziemlich unbemerkt bleiben wird.595 Ich erlaube mir, Sie auf den 6. Band des Traité de Science politique von Burdeau596 aufmerksam zu machen, der soeben bei der Librairie Générale de Droit et de Jurisprudence erschienen ist. Der Titel dieses Bandes lautet: La Démocratie gouvernante, son assise sociale et sa philosophie politique. So­ weit ich das im Augenblick schon beurteilen kann, liegt hier die modernste Darstellung der gegenwärtigen Verfassungslage vor. Bereits die einleitenden Abschnitte (Une époque de transition, und L’institutionalisation des équi­ voques) enthalten wichtige Beobachtungen. Ich glaube, bei uns hat nur Herr Gehlen die Dinge so deutlich gesehen wie Burdeau. Die deutsche Staatslehre könnte bei Burdeau sehr viele Hinweise finden – schon allein deshalb, weil er sich mehr Zeit nimmt als sie, um die grundlegenden politischen Fragen studieren zu können. Schließlich: von Kojève erhielt ich einen Brief, in dem er zu Ihren Ausfüh­ rungen über den „Namen“, die ich ihm, wahrscheinlich sehr unvollständig, übermittelte, kurz Stellung nimmt. Er ist sehr daran interessiert, darüber wenigstens brieflich mit Ihnen zu diskutieren. Übrigens, könnte der RheinRuhr-Club nicht Kojève zu einem Vortrag einladen? Er ist doch ein bedeu­ tender Wirtschaftsfachmann, der über das Punkt 4-Programm wichtige Aus­ führungen machen könnte.597 In der Hoffnung bald zu hören wie es Ihnen geht, bin ich stets Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur PS. Die Wiss. Buchgesellschaft hat sich auf mein Drängen hin entschlossen, Gneists „Rechtsstaat“ und L. v. Steins „Geschichte der sozialen Bewegung“ auf das kommende Subskriptionsprogramm zu setzen.598 595  Arnold Gehlen, Industrielle Gesellschaft und Staat. Über einige Triebkräfte des politischen Lebens der Gegenwart, in: Wort und Wahrheit 11, 1956, S. 665–674. 596  „von Burdeau“ am Rand hs. ergänzt. Der mehrfach nachgedruckte Bandtitel lautet: „La démocratie gouvernante son assise sociale et sa philosophie politique“. – Georges Burdeau (1905–1988), franz. Verfassungsrechtler und Politikwissenschaftler. 597  Bezieht sich auf die Antrittsrede des amerikanischen Präsidenten Truman vom 20. Jan. 1949, in der es u. a. heißt: „Fourth we must embark on a bold new program for making the benefits of our scientific advances and industrial progress available for the improvement and growth of underdeveloped areas.“ (Frdl. Hinweis von Da­ nilo Scholz). 598  Stenogr. Notiz von C. S. am Rand. – Rudolf von Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, erschien 1958 als fotomechanischer Nach­

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1956 – Carl Schmitt an Roman Schnur

112. 1956-03-26 Carl Schmitt an Roman Schnur 138–139, hs.

Pl. 26/3 56 Mein lieber Roman Schnur, Ihre Mitteilung über Speyer macht mir die größte Freude; ich hatte noch dieser Tage ein Gespräch mit einem Kenner der heutigen Lage des öffent­ lichen Rechts und seiner wissenschaftlichen Vertretung, und habe es dabei bedauert, dass ich Ihren Namen noch nicht nennen konnte, weil Sie noch nicht habilitiert sind. Das kommt nun hoffentlich in absehbarer Zeit. Was das Thema angeht, von dem Sie mir schreiben, so finde ich es nur unter bestimmten Voraussetzungen praktisch. (Dass es mich wissenschaftlich auf höchste interessiert, wissen Sie; ich bin übrigens in der demnächst erschei­ nenden Hamlet-Abhandlung kurz darauf zu sprechen gekommen, wie Sie sehen werden). Also unter der Voraussetzung, dass Sie an eine aktuelle Frage anknüpfend beginnen, was leicht möglich ist angesichts der vor kurzem er­ schienenen Abhandlungen über den Begriff des Politischen von W. Wengler, Der Begriff des Politischen im Internationalen Recht; H. Rumpf, Regierungs­ akte;599 O. Kirchheimer, Politische Justiz.600 Ich glaube, für einen Vorschlag bei Armbruster ist eine solche Anknüpfung unbedingt notwendig; ein bloßer Ausblick am Schluss würde ihm, als Praktiker, wohl nicht genügen. Abgese­ hen von diesem Vorbehalt finde ich das Thema sehr gut und halte es für ein Zeichen echt wissenschaftlicher Betrachtungsweise, besonders auch gegen­ über Wengler, dessen (in der Sammlung Recht & Wirtschaft erschienenen) Abhandlung in scharfsinnigen Querulierungen eines positivistisch verkniffe­ nen Normativisten untergeht und ganz steril bleibt. Auf den Aufsatz von Winckelmann freue ich mich sehr. Haben Sie inzwi­ schen die fabelhafte Edition von Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft, druck der 2. Aufl. bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft; Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 3 Bde, erschien 1959 ebd. 599  Helmut Rumpf, Regierungsakte im Rechtsstaat. Rechtsvergleichende Beiträge zu einer Untersuchung des Verhältnisses von Politik und Recht, Bonn 1955. 600  Das Buch „Political justice“ von Otto Kirchheimer erschien erstmals 1961, Schmitt meinte hier: Otto Kirchheimer, Political justice, in: Social Research 22, 1955, S. 377–398, in deutscher Übersetzung erstmals erschienen in: Sociologica. Aufsätze, Max Horkheimer zum sechzigsten Geburtstag gewidmet, Frankfurt/M, 1955, S. 171– 199 (Sonderdr. im Nl. Schmitt). Kircheimers Buch befindet sich mit Anm. im Nl. Schmitt (RW 265–25665); Schmitt hat es auch rezensiert, in: HPB 10, 1962, S. 94.



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mit dem tollen Textfehlerberichtigungsverzeichnis (Seite 929–948) gesehen? Textfehler, nicht Druckfehler! Über 1000! Eigentlich ein Skandal. Eigentlich müsste man aus Anlass dieser Edition eine große internationale Max-WeberFeier veranstalten.601 Dass Gehlens Aufsatz weiter bekannt wird, als es durch die Rh[einland-] Pf[älzische] Staatszeitung geschieht, ist gut. Dass es durch „Wort und Wahr­ heit“ geschieht, ist ein betrübliches Symptom für unsere heutige Art von Publizität. Bd. 6 der Traité de Science politique von Burdeau habe ich mir bestellt. Vor einigen Tagen erhielt ich Lucien Goldmann, Le dieu caché bei Pascal und Racine,602 der mir wegen meiner Shakespeare-Hamlet-Abhandlung wichtig ist, den ich aber nicht mehr einarbeiten kann, weil mein Buch schon fertig und umgebrochen ist. Übrigens ist es vielleicht besser so, denn eine Ausein­ andersetzung mit Marxisten und Georg-Lukacz-isten kann man nicht beiläu­ fig vornehmen. Für die Anregung wegen Kojève besonderen Dank! Ich habe bereits – gleich­ zeitig mit diesem Brief an Sie – an den Rhein-Ruhr-Club geschrieben. Viel­ leicht kann ich auch noch andere Einladungen vermitteln. Ihre Vorschläge für die Wiss. Buchgesellschaft erinnern mich daran, dass man es vor einigen Jahren dort abgelehnt hat, meine „Verfassungslehre“ aufzunehmen. Inzwi­ schen ist nicht nur der Neudruck 1954 erfolgt, sondern die neue Auflage schon fast wieder vergriffen (bei einem Preis von 26 DM!) und überlegt der Verleger, wie er mir schreibt, wieder einen neuen Neudruck. Alles weitere hoffentlich bald mündlich. Ich muss diesen Freitagabend, Kar­ freitag 30/3, Anima in Bonn abholen; sie kommt nach 8 Monate langem Aufenthalt in Spanien zurück. Ich selber muss im Mai ins Ausland reisen; habe hier in der Gegend im April einen Vortrag; erwarte (für den 15/10 ­April) Altmann und Frau hier zu Besuch und quäle mich mit der heutigen Lage des Problems der verfassunggebenden Gewalt. Wissen Sie darüber etwas Neues?

601  Bei Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“ handelt es sich nicht um ein von Weber autorisiertes Werk, sondern um eine Kompilation heterogener, teilweise älterer und unveröffentlichter Texte, die Marianne Weber 1922 unter diesem Titel herausgab. 1956 legte Johannes Winckelmann eine gründlich durchgesehene und kor­ rigierte Ausgabe vor, die er 1972 nochmal revidierte. Auch diese Ausgabe geht noch von einem einheitlichen Werk aus, was inzwischen durch die textkritische Gesamt­ ausgabe der Werke Webers überholt ist. 602  Lucien Goldsmann (1913–1970), rumän.-franz. marxistischer Philosoph und Literatursoziologe, sein Hauptwerk „Le dieu caché“ erschien 1955, dt. 1973 bei Luchterhand unter dem Titel „Der verborgene Gott. Studie über die tragische Weltan­ schauung in den Pensées Pascals und im Theater Racines“.

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Ich lese gerade die gute Arbeit (im Manuskript), die der Göttinger Assistent Dr. Henke zu diesem Thema geschrieben hat.603 Vielen Dank für Ihr Schreiben und herzliche Wünsche für ein schönes Oster­ fest! Vor allem aber guten Erfolg in Ihrem neuen Wirkungskreis! Stets Ihr alter Carl Schmitt [Nachschrift:] Habe ich mich schon für Ihren Aufsatz „Über Maxime Leroy“ bedankt? Dann muss ich es hiermit nachholen. N. Sombarts Aufsatz ist glänzend und müsste einen Sturm entfesseln, wenn nicht bei uns alles konformistisch ver­ klemmt wäre.604 113. 1956-04-29 Carl Schmitt an Roman Schnur 220, hs.

Plettenberg San Casciano den 29/4 56 Lieber Dr. Roman Schnur, inzwischen habe ich vom Rhein-Ruhr-Club die Nachricht erhalten, dass er mich bittet, die Verbindung mit Kojève aufzunehmen und auch wegen des Themas mit ihm zu verhandeln. Ich schreibe ihm gleichzeitig und danke Ih­ nen nochmals für die gute Anregung.605 Hoffentlich kommen nicht wieder Querschüsse von Bonn, wo der Konformismus giftige Blüten treibt, umso giftiger, je substanz-, idee- und phantasieloser dieser Konformismus ist, da er sich ja nicht gut einfach als Neothomismus geben kann. Inzwischen las ich das Buch von Lucien Goldmann über Pascal und Racine, das meine alte Liebe zu beiden, besonders aber zu Racine geschürt hat. Lei­ der konnte ich das Buch nicht mehr in mein Hamlet-Buch einarbeiten. Dieses Hamlet-Buch soll bald erscheinen; Sie erhalten es gleich. Bei Goldmann 603  Wilhelm Henke (1926–1992), promovierte 1955 in Göttingen mit der Disserta­ tion „Die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes“ (erschienen Stuttgart 1957), habilitierte sich 1964 bei Werner Weber, von 1967 bis 1989 Ordinarius in Er­ langen; 15 Briefe (1956–1965) im Nl. Schmitt. 604  „Vom Ursprung der Geschichtssoziologie“, s. oben, Nr. 90. 605  Schmitt schrieb am 11. Mai 1956 an Kojève und schlug ihm vor, „über das Problem der underdeveloped regions“ zu sprechen, was Kojève umgehend akzeptier­ te; vgl. Schmittiana VI, S. 116 ff.



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finden sich Stellen über die Juristen des 17. Jahrhundert und auch den Be­ griff „politisch“, die Sie wahrscheinlich interessieren würden (z. B. S. 116 Anm., 126 Anm.); übrigens auch in meinem Hamlet-Buch. Ich hatte vor, am 20. April nach Wiesbaden zu kommen, wurde aber durch einen kleinen Unfall daran gehindert. Haben Sie Ihre Arbeit über die politi­ sche Funktion des Wortes „politisch“ schon begonnen? Das Buch von Bur­ deau habe ich bestellt, aber noch nicht erhalten. Auch Renaudet über Machi­ avelli habe ich mir hierher (nach San Casciano) bestellt.606 Die Besprechung von René König habe ich gelesen. Meiner Ansicht nach müssten Nicolaus Sombart und H. J. Arndt antworten. Wenn König von dem „saloppen Stil der beiden Sombarts“ spricht, so muss ich sagen, dass dieser Stil auch an seinen schlimmsten Stellen wahres Gold ist gegen den SchleimStil Königs mit seiner sich spreizenden Informiertheit, die einer politisieren­ den Pseudo-Wissenschaft als elendes Feigenblatt dient.607 Können Sie nicht den großartigen Aufsatz von Nicolaus S. „Vom Ursprung der Geschichtssoziologie“ zum Mittelpunkt einer Diskussion machen und Herrn Spaemann (vom Verlag Kohlhammer, Konvertit) dazu einladen? Ich habe zu diesem Zweck Spaemanns Aufsatz über Bonald (Juli 1951von Wort und Wahrheit) an R. Altmann geliehen, der mich voriges Wochenende hier besucht hat. Herzliche Grüße Ihres alten Carl Schmitt

606  Augustin Renaudet (1880–1958), franz. Frühneuzeithistoriker. In Schmitts Bib­ liothek findet sich von ihm „Machiavel (Leurs Figures)“, 6. éd. rev. et augm., [Paris] (1956). 607  René König (1906–1992), Soziologe, seit 1949 Prof. in Köln. Hier ist seine Besprechung von „Einführung in die Soziologie“ gemeint, in: Kölner Zeitschr. für Soziologie und Sozialpsychologie 8, 1956, H. 1 (Kopie im Nl. Schmitt). Bei dem von Alfred Weber herausgegebenen Buch war Nicolaus Sombart Mitarbeiter, wozu Schmitt ihm schrieb: „Dich mit einem solchen Lemurentyp in einem Gespann zu se­ hen, tut mir weh.“; BW Sombart, S. 84.

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114. 1956-05-06 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14267, hs., Postkt.,

Mainz, den 6.5.1956 Sehr geehrter Herr Professor, Vorerst herzlichen Dank für Ihren Brief! Ich möchte heute kurz mitteilen, dass Herr Spaemann vor einigen Monaten versprach, sich mit Herrn Som­ barts Aufsatz auseinanderzusetzen. Nunmehr warte ich mit Spannung auf sein Manuskript.608 Heft 42/1 ist bereits ausgeliefert. Es enthält u. a. Herrn Scheiberts Aufsatz, Naumanns Weil-Besprechung, Schillings Freyer-Besprechung und Gehlens harte Pareto-Anzeige. Winckelmanns Aufsatz geht in Kürze in Druck. Päh­ lers Aufsatz sowie Arndts Auseinandersetzung mit Altmanns Dissertation erscheinen in 4 Wochen.609 Von Speyer aus, wo ich am Montag Herrn Kern treffe, schreibe ich ausführ­ licher. Mit herzlichen Grüßen stets Ihr Roman Schnur 115. 1956-05-12 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14268, hs.

Mainz, den 12.5.1956 Sehr geehrter Herr Professor, Leider komme ich erst heute dazu, Ihnen zu antworten. Von Speyer konnte ich das, wider Erwarten, nicht tun. Der Semesterbeginn bringt viel Arbeit, die zum großen Teil auf den Assistenten lastet. 608  Schnur

wartete vergeblich. Scheibert, Nihilismus und Revolution. Varfolomej Zajcew, in: ARSP 42, 1956, S. 31–40; Hans Naumann, Besprechung von Eric Weils „Hegel et l’état“, in: ebd., S. 116–121; Kurt Schilling, Besprechung von Freyers „Theorie des gegenwärti­ gen Zeitalters“, in: ebd., S. 145–150; Arnold Gehlen, Besprechung von Vilfredo Pare­ tos „Allgemeine Soziologie“, in: ebd., S. 151–152; Hans-Joachim Arndt, Öffentlich­ keit als Staatsersatz, in: ebd., S. 239–247. 609  Peter



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Es freut mich außerordentlich, dass Sie mit Kojève ernsthafte Verhandlungen führen können. Wissen Sie, dass seine Introduction zum großen Teil über­ setzt bei Kohlhammer liegt, der sich noch nicht entschieden hat, ob er die Übersetzung in diesem oder im kommenden Jahr auf den Markt bringen soll?610 Können Sie vielleicht bei Kohlhammer nachstoßen? Im „Merkur“ (Heft 5) wird Kojève ebenfalls erwähnt. Der Hinweis kam ge­ rade rechtzeitig. Es scheint so, dass bei uns Kojève allmählich bekannt wird – den Fachphilosophen allerdings, soweit ich sehe, weniger. Die beten lieber andere, harmlosere Götter an. Herr Naumann hat die Übersetzung von Gehlens Vortrag abgeschlossen. Ich werde mit ihm die Übersetzung noch einmal durchgehen. Möglicherweise erscheint der Text dann im Juni. – Soeben erhielt ich vom Verlag Diederichs ein Besprechungsexemplar Ihres neuen Buches.611 Auf Seite 65 nennen Sie die Politiker „politiciens“. Gegen diesen Ausdruck habe ich einige Bedenken. Soweit mir erinnerlich, taucht selbst in den zeitgenössischen Schriften fast stets, wenn nicht: nur, das Wort „politiques“ auf. „Politiciens“ scheint mir neueren Ursprungs zu sein und dürfte die Berufspolitiker meinen.612 So nennen Allen und Weill die Politiker nur „les politiques“. Eine wichtige Quelle, die Ausgabe von 1726 der „Satyre Menippée“ (3 vol.), kennt im Register nur das Stichwort „politique“ und nennt sie im 1. Band 9-mal, im 2. Band 15-mal, im 3. Band 17-mal. Auch das weitere zeitgenössische Schrifttum spricht von „politiques“: P. de Dieu­ donné, La vie et condition des Politiques et Athéistes de ce temps, Paris 1589, B.N. Lb 34 624; und anon., La Foi et Religion des Politiques de ce temps, Paris 1588, B.N. Lb 34 439; ferner Jean Piganat, L’Aveuglement et grande inconsidération des Politiques …, Paris 1592, Lb 35 435.613 – 610  Die deutsche Übersetzung von Kojèves „Introduction à la lecture de Hegel“ erschien 1958 bei Kohlhammer unter dem Titel „Hegel. Eine Vergegenwärtigung sei­ nes Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von Iring Fetscher. Aus d. Franz. übers. von Iring Fetscher umd Gerhard Lehmbruch“. 611  Carl Schmitt, Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Düssel­ dorf/Köln 1956. 612  Schmitt hat diese Kritik angenommen: In seinem Handexemplar (RW 265 Nr. 24327) ist „politiciens“ in „politiques“ korrigiert, was Gerd Giesler in seine berei­ nigte Ausgabe (Stuttgart 2017) übertragen hat. Dagegen blieb „politiciens“ im Legis­ ten-Aufsatz unkorrigiert (vgl. SGN, S. 196 f., 200, 203). 613  John William Allen, A history of political thought in the sixteenth century, Lon­ don 1928 [u. ö.]; Georges Weill, Les théories sur le pouvoir royal en France pendant les guerres de religion, Paris 1892; Satyre menippée de la vertu du Catholicon d’Espagne et de la tenue des Etats de Paris. Es handelt sich um eine nach dem grie­ chischen Kyniker Menippos von Gadara benannte Satire auf die katholische Liga und eine Abwehr spanischer Ansprüche auf Frankreich, die 1593 entstand und 1994 erst­

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Wie gefällt Ihnen Heft 42/1? Im übernächsten Heft publizieren wir Aufsätze u. a. von Winckelmann, Morstein-Marx, Dallmayr und (nochmals) Taubes. Während Heft 42/2 in wenigen Tagen ausgedruckt werden soll, wird Heft 42/3 in Kürze gesetzt werden. Es scheint nun endlich die Sache in die richti­ gen Bahnen geraten zu sein! Freilich müssen wir noch bekannter werden, damit der Verlag in keiner Weise schwankt. Erfreulich ist, dass immer mehr „Alte“ abspringen und die „Jungen“ nach vorn drängen. Herr Kern macht jetzt endlich ein Manuskript druckreif. Mit Herrn Gehlen stehen wir wegen eines weiteren Aufsatzes in Verhandlungen. Mit den besten Grüßen stets Ihr ergebener Roman Schnur

116. 1956-05-26 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14269, ms.

Speyer, den 26.5.1956 Hochschule für Verwaltungswissenschaften Sehr geehrter Herr Professor, Leider erreichte mich Ihre Karte614 zu spät, als dass ich Sie noch hätte anru­ fen können. So gerne ich nach Frankfurt gekommen wäre – leider war ich am Donnerstag durch meine Dienstgeschäfte verhindert, Speyer zu verlassen. Das Semester läuft ja geradezu auf Hochtouren. Ich assistiere nicht nur Herrn Ule, sondern helfe auch Herrn Kern bei der Durchführung von zwei Veran­ staltungen: 1. bei seinem Kolloquium über den Strukturwandel der modernen Verwaltung, das ich viermal allein abhalte, sodann bei dem verwaltungswis­ senschaftlichen Seminar. Diese Veranstaltungen sind gut besucht, doch glau­ be ich, dass Herrn Kerns Wechsel nach Paris für seine wissenschaftliche Tätigkeit vorerst jedenfalls nicht von großem Erfolg sein wird. So kann er in diesem Semester nur alle zwei Wochen nach Speyer kommen. Das ist in Anbetracht der Wichtigkeit dieses einen Semesters in Speyer für die Referen­ dare etwas zu wenig. Im übrigen gilt ja für den gesamten Betrieb, dass die Zeit der Ausbildung in Speyer für die Referendare zu kurz ist. Das liegt an mals im Druck erschien. Verfasser waren mehrere französische Priester und Juristen („politiques“); moderne wiss. Ausgabe von Martial Martin, Paris 2007. 614  Fehlt.



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den unsinnigen Ausbildungsordnungen, die die Justizverwaltungen diktieren und die die Innenministerien, wie es scheint, ohne großen Widerspruch hin­ nehmen. Das ist um so bedauerlicher, als die Hochschule seit über einem Jahr im steten Aufstieg begriffen ist, und wenn nicht alles täuscht, wird das öffentliche Recht im Wintersemester noch stärker vertreten sein. Etwaige Fehlbesetzungen gehen nur auf das Konto des föderativen Proporzes, den die Hochschule allein nicht eliminieren kann. Überdies finden die Referendare die tauben Stellen schnell heraus und quittieren dementsprechend. Ich habe Zeit und Muße, meinen privaten Geschäften nachgehen zu können. Die Arbeit mit Herrn Ule läuft vorzüglich, er handelt rasch, und das hat für den Assistenten außerordentliche Vorteile. So kann ich meine Studien über Revolution und Völkerrecht (1789–1815) vorwärtstreiben, ohne dass ich die Redaktionsarbeit für das Archiv vernachlässigen muss. Und die Ferien stehen mir fast ganz zur freien Verfügung. Was das Archiv angeht, so werden Sie am letzten Heft gesehen haben, dass die Dinge, bis auf einige technische Kleinigkeiten, ins Lot zu kommen schei­ nen. Wenn ich richtig Bescheid weiß, sind vier der sechs Autoren nicht über 35 Jahre alt. Der Verlag treibt seit wenigen Wochen eine intensive Werbung, um die Auflage entscheidend zu erhöhen. Das Ergebnis steht noch aus, doch stehen wir ja bereits jetzt mit der Auflage an der Spitze der rechtswissen­ schaftlichen Quartalszeitschriften. Für den neuen Jahrgang habe ich schon etliche gute Zusagen: So werden wir Aufsätze bekommen von den Herren Koselleck, Kesting, Sombart, Slade­ czek, Kern, und wohl auch von Spaemann. Möglicherweise stelle ich den geplanten Aufsatz über „Juristen und Bürgerkrieg“, der sich mit dem Zeit­ raum von 1580–1595 befasst, dem Archiv zur Verfügung. Die Rezensionen werden sich ebenfalls sehen lassen können. In den letzten Heften waren eini­ ge gute enthalten. – Leider fällt Herr Naumann für uns aus, es geht ihm finanziell nicht gut. Zur Zeit macht er Lexikon-Arbeit für die Büchergilde Gutenberg. Es ist ein Jam­ mer, zusehen zu müssen, dass ein so bedeutender Mann journalistische Schinderarbeit leisten muss. Er hat zwar einen großen Leidensgenossen in der Geschichte, der fast ein Lexikon allein schrieb,615 doch kann diese Tatsa­ che seine Bekannten keineswegs trösten. Bisher habe ich mich leider verge­ bens nach einem Posten für ihn umgeschaut – er benötigt ja nicht viel, die Hauptsache ist ein gewisses fixes Einkommen. Wenn Sie, sehr geehrter Herr Professor, wieder in diese Gegend kommen, so wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich vorher benachrichtigen wollten. 615  Gemeint wohl Pierre Bayle (1647–1706) mit seinem „Dictionnaire historique et critique“.

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1956 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Ich werde dann das Mögliche unternehmen, um Sie endlich wieder einmal treffen zu können. Mit den besten Grüßen stets Ihr [hs.:] Roman Schnur 117. 1956-07-11 Carl Schmitt an Roman Schnur 142, hs.

11/7 56 Lieber Dr. Roman Schnur, könnten Sie mir nach Heidelberg, Karlsplatz 3, c/o Anima Schmitt, Nachricht geben, ob Sie in den Tagen Ende Juli, Anfang August in Mainz sind und wir uns dort treffen können? Ich möchte 1–2 Tage dort verbringen und Prof. Arnold Schmitz besuchen. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns ein paar Stunden in Ruhe unterhalten könnten. Vielen Dank für Ihr letztes ­Schreiben und herzliche Grüße Ihres alten Carl Schmitt [auf der Rückseite:] Hieroglyphe der Westlichen Welt.616 118. 1956-08-10 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14270, ms.

Mainz, den 10.8.1956 Hindenburgstr. 40

[daneben stenogr. Notiz von C. S.]

Sehr geehrter Herr Professor, Gestern sprach ich per Telefon mit Herrn Gehlen. Er bedankt sich sehr für die hochinteressante Mitteilung, das Ganze war ihm bisher unbekannt. Er bat 616  Im Zusammenhang mit seiner Shakespeare-Beschäftigung ordnete Schmitt in diesen Jahren die Figur des entscheidungsschwachen Hamlet bestimmten historischen Ereignissen und Figuren zu. Das stellte er graphisch dar, wobei die historischen Per­ sonen wechseln; Wiedergabe z. B. in: Glossarium, S, 349, BW Mohler, S. 220, BW EJünger, S. 310, BW Sombart, S. 88.



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mich, Sie freundlichst zu grüßen (er ist seit zwei Wochen krank). Haben Sie die gute Besprechung seines Buches in der „Welt“ gesehen?617 In einer der letzten Nummern des „Times Literary Supplement“ ist diejenige Nummer der Revista besprochen, in der Ihr Hamlet-Aufsatz steht.618 Andere Aufsätze werden kurz erwähnt, über den Ihren wird kurz referiert, ohne Stel­ lungnahme, lediglich mit dem Wort „most curious“, das ich nicht genau übersetzen kann. Vor kurzem erhielt das Archiv ein Manuskript von Prof. Kobayashi619 (To­ kio) über die Idee des Gemeinwohls, in welchem auch Sie zitiert werden (Verfassungslehre): …vortrefflich dargestellte Lehre Carl Schmitts… Die Stelle bezieht sich auf die Einteilung der Grundrechte. Möglicherweise wer­ den wir den Aufsatz publizieren.620 Vor einigen Wochen hat ein Bekannter bei Armbruster mit einer Arbeit über die Montanunion promoviert, in wel­ cher er Ihr Gutachten zum Sozialisierungsstreit benützt, um auf den rechts­ staatlichen Verfassungsvollzug hinzuweisen.621 Seine Bemerkung, mit dem Hinweis auf die Stellung des Richters im englischen Recht sei das Problem nicht erledigt, wurde von Armbruster handschriftlich mit „gut“ angestrichen. Ich habe den jungen Doktor gebeten, Ihnen ein Exemplar der sonst nicht überragenden Arbeit zuzusenden. Er wird meiner Bitte in einigen Wochen nachkommen, wenn die Arbeit vervielfältigt ist. Darf ich Sie nochmals ergebenst bitten, mir kurz den Legisten-Aufsatz zu überlassen? Ich bin dabei, meine Studie niederzuschreiben und möchte kei­ neswegs Ihren Aufsatz übergehen, der im Grunde zu der mir wichtigsten Literatur über das Thema gehört. Hätten Sie die Güte, das Manuskript mei­ nes Aufsatzes sehr kritisch zu überprüfen? Ich wäre Ihnen für diesen Dienst sehr dankbar, damit nicht übelwollende Kritiker die mir wichtig scheinende Arbeit an unwesentlichen, aber vermeidbaren Fehlern aufhängen. Sie haben ja von Herrn Krauss gehört, wie man heutzutage bespricht.

617  Nicht

ermittelt. der „Revista de Estudios Políticos“ (Januar-Februar 1956, S. 59–91) er­ schien: Carl Schmitt, Hamlet y Jacobo I de Inglaterra (Politica y literatura). 619  Naoki Kobayashi (1921–2020), studierte 1956 bis 1956 in Deutschland, seit 1961 Ordinarius für Staatsrecht an der Universität Tokio. Wahrscheinlich ist sein (deutschsprachiger) Aufsatz „Über die Idee des Gemeinwohls. Eine rechtsphilosophi­ sche Betrachtung einer Rechtsidee im Zusammenhang mit dem sozialgeschichtlichen Sein“ von 1956 gemeint, den Kobayashi 1960 dann in einer Zeitschrift der Universi­ tät Tokio publizierte (frdl. Mitteilung von Hajime Konno über G. Giesler). 620  Der Aufsatz blieb in ARSP unpubliziert. 621  Guido Weinard, Wesen und Aufgaben des Gerichtshofes der Montanunion. Diss. jur. Mainz 1956. 618  In

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Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich mich erst dann wieder melde, wenn ich die Arbeit über die Juristen des 16. Jh.s beendet habe? Mit den besten Grüßen stets Ihr [hs.:] Roman Schnur

119. 1956-08-13 Carl Schmitt an Roman Schnur 143–144, hs.

Plettenberg 13/8 56 Lieber Roman Schnur, besten Dank für Ihr Schreiben vom 10/8! Für die Übermittlung an Herrn Gehlen bin ich Ihnen besonders dankbar. Er ist – wenigstens für mich – sehr schwer zugänglich;622 ich möchte aber das Meinige tun, um das schwere Unrecht zu mildern, das ihm fortwährend von Minderwertigen angetan wird und unter dem er mehr leiden muss als ich in meiner Lage, der ich ja doch schon „beyond the line“ bin.623 Die most curious Notiz in Times Lit.[erary] Suppl.[ement] habe ich bemerkt. Anscheinend hat der Referent keine Ahnung von dem Stand des HamletProblems. „Curious“ würde ich hier mit „interessant“ in der doppelwertigen Bedeutung übersetzen. Übrigens ist der bisherige Direktor der Revista de Estudios Politicos, mein alter Freund J. Conde (vgl. beil. Legisten-Aufsatz S. 18, Verbindung mit meinem Leviathan p. 68), der vorzügliche Übersetzer

622  Arnold Gehlens Verhältnis zu Schmitt trübte sich in dieser Zeit ein; die Korre­ spondenz riss 1956 ab. Auf dem 70. Geburtstag Freyers hielt Gehlen einen Vortrag, (vgl. A. Gehlen, Ein wahrhaft lebendiger Geist. Zum 70. Geburtstag Hans Freyers, in: FAZ vom 2. Aug. 1957), worüber Gehlen am 3. Aug. 1957 an Schelsky berichtet: „Mein Vortrag […] kam gut an, aber schlecht bei C. S., der gerade ausgerechnet HEGEL entdeckt hat und ihn nun allen Leuten oktroyieren will. Er ging mir schreck­ lich auf die Nerven, ich fand ihn in einem noch nicht erreichten Grade giftspritzend, missgünstig und anmassend, immerfort einem seine ‚Entdeckungen‘ zumutend. Schon der Hamlet war doch eine aufgebauschte Bagatelle.“ (Univ.- und Landesbibliothek Münster, Nl. Schelsky, Kapsel 23, 030). In einem Brief an Forsthoff vom 12. Juli 1973 nennt Gehlen als Grund seiner Entfremdung von Schmitt „das Gefühl, daß er nicht nur seine, sondern auch die Gedanken anderer Leute ordnen wollte“ (zit. nach Meinel, S. 45, Anm. 195). 623  Arnold Gehlen bekam in der Bundesrepublik nie einen seinem Rang entspre­ chenden Lehrstuhl.



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meiner Schriften ins Spanische, dieser Tage Botschafter in Manila (Philippi­ nen) geworden und aus Madrid abgereist. Für mich ein großer Verlust.624 Ich füge noch ein Exemplar des Hess. Soz. Gutachtens über Rechtsstaatli­ chen Verfassungsvollzug zur beliebigen Verwendung bei. Auf die Dissertati­ on über Montan-Union bin ich gespannt. Pressler hat vorzüglich reagiert; vielen Dank!625 Rüdiger Altmann hat für „Christ und Welt“ noch eine Besprechung des Hamlet-Hekuba-Buches ge­ schrieben (nach der in „Civis“), die bald erscheinen soll.626 Dieser Tage er­ schien sogar ein Vertreter des „Spiegel“ hier, der einen Artikel darüber vor­ bereitet.627 Die „Hamlet-Kurve“ und die „Hieroglyphe der Westlichen Welt“ müssen natürlich Augstein sehr erregen;628 aber ich fürchte, der – eventuel­ le – Spiegel-Aufsatz wird doch nur team-work sein. Immerhin ist das Inte­ resse und die Aufmerksamkeit des „Spiegel“ beachtlich; er hat ja auch über Gehlen einen Aufsatz gebracht.629 Die Besprechung von Hans Naumann über das Marxismus-Buch von Stern­ berg630 in der FAZ hat mich wieder an die traurige Lage unserer heutigen deutschen Intelligenz erinnert. Was kann man da nur tun? Würden Sie die beiliegende „Eröffnung eine Diskussion über Hamlet-Hekuba“ mit meinen besten Grüßen und Wünschen an Herrn Naumann weitergeben?631 624  Francisco Javier Conde (1908–1974), span. Jurist, Philosoph und Diplomat. Conde war Schüler von Hermann Heller wie von Carl Schmitt und übersetzte Schmitts „Begriff des Politischen“, den „Leviathan“ und einige seiner Aufsätze ins Spanische. Schmitt rezensierte 1936: F. J Conde, El pensamiento politico de Bodino, in: Deut­ sche Juristenzeitung 41, 1936, Sp. 181–182 (jetzt in: C. Schmitt, Ges. Schriften 1933–1936, Berlin 2021, S. 323–324. Politisch wandelte Conde sich vom Sozialisten zum Franquisten; er starb als spanischer Botschafter in Bonn; BW Conde (weitere 12 Briefe von Conde im Nl. Schmitt). Vgl. TB V; Schmittiana III, S. 17 f. 625  Karl H. Pressler (1926–2009), Antiquar und Verleger in München; vgl. Nr. 83. 626  Rüdiger Altmann, Hamlet als mythische Situation. Zu Carl Schmitt: Hamlet oder Hekuba – Der Einbruch der Zeit in das Spiel, in: Civis 3, Nr. 18, Juni 1956, S. 39; ders., Wahrheit durch Zweifel – Carl Schmitt stellt die Frage: Hamlet oder Hekuba?, in: Christ und Welt vom 28. März 1957. 627  „Hamlet – Die Mutter ist tabu“, in: Der Spiegel 35 vom 29. Aug. 1956, S. 41– 42. 628  Rudolf Augstein (1923–2002), Journalist, Gründer und Herausgeber des „Spie­ gel“; 8 Briefe, 4 Telegr. (1952–1974) im Nl. Schmitt; BW Journalisten. 629  In der Nr. 27 vom 3. Juli 1956 des „Spiegel“ erschien eine Besprechung von Gehlens „Urmensch und Spätkultur“ unter dem Titel „Die Kunst zu überleben“. 630  Fritz Sternberg, Marx und die Gegenwart. Entwicklungstendenzen in der zwei­ ten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, Köln 1955. 631  Es handelt sich um Schmitts Eröffnungsrede zu einem Diskussionsabend am 12. Juni 1956 im Haus des Verlegers Eugen Diederichs in Düsseldorf; sie wurde veröffentlicht unter dem Titel „Was habe ich getan?“; sie wurde veröffentlicht unter

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Auf Ihren Wunsch schicke ich Ihnen den Sonderdruck meines LegistenAufsatzes, mein letztes Exemplar, mit der Bitte, es gut zu hüten und mir nach Beendigung Ihres Aufsatzes zurückzuschicken. Ich lasse die 4 Briefe, die ich bisher darin aufbewahrte, in dem Sonderdruck: von Smend, Koscha­ ker, Fritz Neubert632 (der jetzt eine Festschrift zum 70. Geburtstag von der Freien Universität Berlin erhalten hat) und Wieacker.633 Wenn es Sie interes­ siert, können Sie diese Briefe lesen; sie sind zum Teil lesenswert. Von den stenographischen Notizen möchte ich Ihnen die von Berber634 übersetzen: der deutsche Typ ist der „Geheimrat“, der wesentlich der Verwaltung, nicht der Justiz zugeordnet ist; und die von Neef635 (vom NS-Beamtenbund): die deutschen Richter sind 1930 in einer Zeit voller Koalitionsfreiheit aus eige­ nem Antrieb in den Reichsbund der höheren Beamten eingetreten. In der Tat wichtig: die deutschen Richter haben sich nie als „magistrature“ im Gegen­ satz zu dem „eigentlichen“ Beamtentum gefühlt. Der „Legisten-Aufsatz“ liest sich heute beinahe unheimlich. „Echo wächst vor jedem Worte.“636 Le­ sen Sie einmal über Algerien Seite 26!637 Wegen politique und politiciens wollen wir nicht streiten; ich glaube gern, dass Sie recht haben. Das Heft des Archivs, das Sie mir versprochen haben, ist noch nicht ange­ kommen. Leihen Sie mir wenigstens ein Exemplar. Koselleck hat mir einen Sonderdruck seiner Butterfield-Besprechung geschickt.638 Rüdiger Altmann’s dem Titel „Was habe ich getan?“ in: Schmittiana V, S. 13–19 (jetzt in der von Gerd Giesler korr. und erw. Ausgabe von „Hamlet oder Hekuba“, Stuttgart 2017, S. 75–80). 632  Fritz Neubert (1886–1970), Romanist, 1923 Prof. in Breslau, 1943 Berlin, 1949 Berlin (FU); 1 Brief (1942) im Nl. Schmitt. 633  Franz Wieacker (1908–1994), Rechtshistoriker, 1937 a.o., 1939 o. Prof. in Leipzig, 1948 Freiburg, von 1953 bis 1973 in Göttingen; 9 Briefe (1935–1944) im Nl. Schmitt. 634  Friedrich Berber (1898–1984), wurde 1940 Prof. für Völkerrecht in Berlin und Berater Ribbentrops, 1945 entlassen, ab 1954 Nachfolger Erich Kaufmanns in Mün­ chen; 3 Briefe (1938–1942) im Nl. Schmitt. 635  Hermann Neef (1904–1950), wurde 1933 Vorsitzender des Deutschen Beam­ tenbundes und Mitglied der Akademie für Deutsches Recht, wo er den Ausschuss für Beamtenrecht leitete. 636  Zitat aus dem „1933“ überschriebenen Eingangsgedicht zu „Der christliche Epimetheus“ von Konrad Weiß (Berlin 1933). 637  s. jetzt SGN, S. 207. 638  Reinhart Koselleck besprach: Herbert Butterfield, Christianity, Diplomacy and War. (The Beckly Social Service Lecture), London 1953 (in: ARSP 41, 1955, S. 591– 595). Schmitt hatte dazu am 12. Juli 1956 an Koselleck geschrieben: „Die Bespre­ chung von Butterfield scheint mir trotz des teilweisen Desaveu, das Sie ihr unter dem persönlichen Eindruck des Autors zu geben suchen, richtig und notwendig, weil die Engländer die spezifisch kontinentale Leistung des gehegten Landkrieges endlich begreifen sollten und der Mißbrauch der Christlichkeit als evasive Ausflucht nicht länger geduldet werden darf.“ BW Koselleck, S. 125.



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Civis-Aufsatz füge ich ebenfalls bei; vielleicht interessiert sie [sic] Hans Naumann. Alle guten Wünsche für Ihre Arbeit. Zu Ihrem Manuskript werde ich mich gern offen und unumwunden äußern. Herzliche Grüße Ihres alten Carl Schmitt 120. 1956-08-16 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14271, ms.

Mainz, den 16.8.1956 Hindenburgstr. 40 Sehr geehrter Herr Professor, Lassen Sie mich auf dem Fuße für die überaus wertvolle Sendung danken. Den Aufsatz von Rüdiger Altmann habe ich sofort gelesen. Ich finde ihn großartig und dem Gegenstand gewachsen. Ob die Richter des Bundesverfas­ sungsgerichts den Schlußsatz überhaupt verstehen? Ich bedaure es immer mehr, dass Herr Altmann sich noch nicht bereit erklärt hat, auf den Beitrag von Arndt zu antworten. Den Aufsatz über die Legisten habe ich geradezu verschlungen, vielleicht zum 10. Male. Er ist für mich einer der besten historischen Aufsätze, die ich überhaupt kenne. Die beiliegenden Briefe waren recht aufschlussreich, insbe­ sondere der Brief von Herrn Smend,639 während der von Herrn Wieacker640 mir am meisten zu sagen scheint. Ich selbst werde meine Studie im Grund­ sätzlichen ganz auf Ihren Aufsatz stützen. Mir kommt es darauf an, einige Details des modernen Staatsgedankens sowie das persönliche Schicksal der politiques etwas herauszuarbeiten. Leider muss ich jetzt das Gutachten für Herrn Ule abschließen, zu gerne hätte ich schon heute mit der Niederschrift der Studie begonnen. Sehr gerne leite ich die Eröffnung einer Diskussion an Hans Naumann wei­ ter. Er ist vorerst, solange er in Frankfurt fest Geld verdient, guter Laune, aber im Dezember will er dort seine Arbeit beenden. Das einzig Richtige für ihn wäre ein freiberufliches Lektorat, das ihm monatlich 400 bis 500 DM einbringen würde. Was er über diese Summe hinaus zum Leben benötigt, 639  Smend

an Schmitt, 9. Jan. 1942, in: BW Smend, S. 108–110. an Schmitt, 25. Aug. 1942, RW 0265–17976.

640  Wieacker

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verdient er durch seine Mitarbeit bei der FAZ und beim Rundfunk. Es wäre großartig, wenn Sie mir bei der Suche641 nach einer passenden Stelle für Hans Naumann behilflich sein könnten. Das Heft des Archivs, das ich Ihnen zugesagt hatte (42/2), muss in den nächsten Tagen bei Ihnen eintreffen. Der Werbeleiter des Verlags wird es gerade Ihnen gerne schicken: Sie kennen ihn nämlich persönlich, es ist der Sohn von Ferdinand Fried, also von Herrn Berger.642 In Kürze werde ich ihn nochmals treffen. Er möchte sich mit mir über Sie unterhalten … Mit herzlichen Grüßen stets Ihr [hs.:] Roman Schnur 121. 1956-09-01 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14272, ms.

Mainz, den 1.9.1956 Hindenburgstr. 40

[daneben von C. S.:] b. 4/9 56

Sehr geehrter Herr Professor, Beiliegend übersende ich Ihnen eine Abschrift des Manuskripts meines Auf­ satzes. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es sehr kritisch kommentieren und lesen würden. Es enthält etliche gedankliche und sprachliche Unebenheiten. Ich selbst habe das Originalmanuskript bei der Hand, das ich inzwischen weiter bearbeiten werde. Die gröbsten sprachlichen Schnitzer werde ich wohl finden, auch korrigiere ich die Fußnoten noch. Der derzeitige Zustand der Fußnoten ist auf mein mangelhaftes Maschinenschreiben zurückzuführen. Was die Gestaltung der Gedankenführung angeht, so habe ich im Augenblick nicht genügend Abstand, um gute Veränderungen anzubringen. Die Arbeit an diesem Aufsatz hat mich sehr angestrengt.643 641  Im

Orig. „Hilfe“. Fried ist ein Pseudonym des Journalisten Ferdinand Friedrich Zim­ mermann (1898–1967), von 1953 bis 1967 leitender Wirtschaftsredakteur der „Welt“. Mit dem Geschäftsführer des Luchterhand Verlages Fritz Berger war er nicht iden­ tisch. 643  Es handelt sich um Schnurs Arbeit über die Juristen im französischen Bürger­ krieg des 16. Jahrhunderts, die 1959 in der Festschrift Carl Schmitt und in erweiterter Form 1962 als selbständige Veröffentlichung erschien: R. Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts. Ein Beitr. zur Entste­ hungsgesch. des modernen Staates, Berlin 1962. 642  Ferdinand



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Das Manuskript ist für eine der üblichen Zeitschriften zu umfangreich ge­ worden. In die Sav.-Zeitschr. möchte ich es nicht geben, dort sitzt kein Poli­ tique, im HJb ist es auch nicht gut aufgehoben. Überdies möchte ich es, aus ganz bestimmten politischen Gründen, so rasch wie möglich veröffentlichen. So käme wohl nur die Möglichkeit in Frage, den Aufsatz in Form einer Bro­ schüre zu publizieren. Da ich mich aber noch nicht darum bemüht habe, wer den Aufsatz nehmen könnte, wäre ich Ihnen auch für einen Hinweis in dieser Richtung sehr zum Dank verpflichtet. Die Höhe des Honorars soll keine Rolle spielen, es kommt mir darauf an, dass die Broschüre billig wäre. Erlauben Sie, sehr geehrter Herr Professor, dass ich damit den Brief beende. Ich habe eben erst die Niederschrift des Maschinenmanuskripts abgeschlos­ sen und bin sehr müde. Mit den besten Grüßen bin ich stets Ihr Ihnen ergebener [hs.:] Roman Schnur 122. 1956-09-04 Carl Schmitt an Roman Schnur 025–026, hs.

Plettenberg, 4/9 56 Lieber Roman Schnur, ich habe Ihren Aufsatz gleich verschlungen; er ist aufregend und eine vor­ zügliche wissenschaftliche Arbeit zugleich. Aber wie soll man ihn als Bro­ schüre veröffentlichen? Ich dachte an Vorwerk, der auf mich hört;644 aber der allgemeine Titel „Jurist und Bürgerkrieg“ ist zu allgemein; man müsste (um nicht à la Freiherr von der Heydtesche Angebereien zu wiederholen) sagen: die Juristen im (konfessionellen) Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts; oder Frankreichs. Das allgemeine Problem ist ja nicht behandelt. Es würde, wie die Publikation der Margret Boveri bei Rowohlt zeigt,645 großes Interesse erregen. Aber Ihr Aufsatz behandelt doch nur einen bestimmten Zeitabschnitt. Dieser ist freilich typisch und von fundamentaler Bedeutung. Aber das muss 644  Friedrich Vorwerk (1893–1969), Inhaber des gleichnamigen Verlags in Stutt­ gart, mit Schmitt seit den späten 20er Jahren bekannt; 21 Briefe, 1 Telegr. (1928– 1965) im Nl. Schmitt, davon 2 veröff. in: Schmittiana III, S. 159–162; TB V, passim. 645  Margret Boveri (1900–1975), Journalistin, schrieb „Der Verrat im XX. Jahr­ hundert“ (4 Bde, Hamburg 1956–1960). Das Buch erlebte hohe Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Boveris Briefwechsel mit Schmitt mit ausführlicher Einleitung von Christian Tilitzki in: Schmittiana VII, S. 281–308.

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ein kundiger Leser sich selber hinzudenken. Beamter in Staatskrisen (Titel mit „und“ sind meist nicht gut) ist m. E. doch auch nicht dasselbe wie Jurist im Bürgerkrieg. Kurz – ich spreche immer nur unter dem Gesichtspunkt, ei­ nen Verleger zu finden – es käme höchstens die Mohrʼsche Reihe Recht und Staat in Betracht; diese nimmt das aber nur, wenn Sie es als Antrittsvorlesung oder ähnlich präsentieren. Wir wollen nächstens ausführlicher darüber spre­ chen. Ich bin 13.–15. September in Heidelberg und will spanischen Freunden (die zum Rechtshistorikertag nach Freiburg kommen) Speyer zeigen. Könn­ ten wir uns dann eine Stunde sehen? Das Testament Pithou’s müssen Sie meiner Ansicht nach unbedingt ins Deut­ sche übersetzen.646 Es ist wirklich ganz herrlich. Ich meine, der Aufsatz müsste doch einen Verleger finden. Eben höre ich, dass ein Journalist wie Ernst Niekisch, der keiner wissenschaftlichen Lektüre, viel weniger eines exakten Begriffes fähig ist, bei Beck (!) ein Buch über den „Clerc“ veröffent­ licht hat, offenbar inspiriert durch meinen Aufsatz über das Zeitalter der Neutralisierungen (1929), welchen Aufsatz er aus Gesprächen mit mir genau kennt.647 Lassen Sie sich das Buch doch gleich kommen und vergleichen Sie einmal damit jenen Aufsatz, der auch in den Positionen und Begriffen abge­ druckt ist, dort über den Clerc S. 125 („Die typische Erscheinung der Clerc“). Heute nur diese Empfangsanzeige, zugleich meinen Dank für Heft 2 des Archivs. Von Winckelmann habe ich seinen Gehlen-Aufsatz erhalten;648 auch die Sonder-Besprechung von Günther Krauss.649 Teilen Sie mir mit einer Zeile auf einer Postkarte mit, wie es mit der Möglichkeit eines Treffens in Speyer oder Mainz oder Frankfurt steht. Herzlich Ihr Carl Schmitt

646  s.

oben, Nr. 88. von Schmitt: „Titel des Buches: Der Gesichtskreis (mit einem Aufsatz Der Clerc)“. Bei dem in München 1956 erschienenen Buch handelt es sich um eine Festschrift für Joseph Drexel zum 60. Geburtstag, in der Ernst Niekisch den Aufsatz „Der Clerk. Seine Gestalt und seine Funktion“ beigesteuert hat (S. 23–63). 648  Johannes Winckelmann, Die Herrschaftskategorien der politischen Soziologie und die Legitimität der Demokratie. Von den strukturbedingten Risiken der Massen­ demokratie, in: ARSP 42, 1956, S. 383–401. 649  Günther Krauss besprach: J. Soder, W. Schätzel und H. Wehberg, Die Idee der Völkergemeinschaft. Francisco de Vitoria und die philosophischen Grundlagen des Völkerrechts. (Völkerrecht und Politik, Bd. 4), in: ARSP 42, S. 442–449. 647  Fußnote



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123. 1956-09-07 Carl Schmitt an Roman Schnur 203–204, hs., Postkt.

7/9 56 Besten Dank für Ihre Karte,650 lieber Roman Schnur! Aber wie erreicht man Sie in Speyer? Ich werde Donnerstagabend in Heidelberg eintreffen (Hotel Holländer Hof, an der alten Brücke) und werde mit meinen beiden Spaniern (darunter ein berühmter Jurist, Romanist, Álvaro d’Ors, Sohn des weltbe­ rühmten Schriftstellers Eugenio d’Ors)651 wahrscheinlich erst Samstagvor­ mittag nach Speyer kommen können. Wenn Sie es für richtig halten, würde ich auch Prof. Ule besuchen; oder Gehlen? Jedenfalls wäre ich Ihnen dank­ bar, wenn Sie mir mitteilen wollten, wie Sie dort zu erreichen sind, eventuell auch telefonisch. Auf Wiedersehn! Ihr Carl Schmitt [Nachschrift:] Ich denke, dass wir in Speyer (eventuell Mainz) auch über den JuristenAufsatz sprechen können. 124. 1956-10-10 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14273, ms.

Mainz, den 10. Oktober 1956 Hindenburgstr. 40 [darüber von C. S.:] b. 11/10 56

Sehr geehrter Herr Professor, Erlauben Sie bitte, dass ich Ihnen heute einige Neuigkeiten mitteile, von denen ich annehme, dass sie Sie interessieren.

650  Fehlt.

651  Álvaro d’Ors (1915–2004), span. Jurist und klass. Philologe, den Schmitt 1944 kennen lernte; vgl. BW d’Ors. Der Vater Eugenio d’Ors (1882–1954) war Jurist, Phi­ losoph und (katalanischer) Schriftsteller. Schmitt lernte ihn 1929 in Barcelona kennen und freute sich sehr über den Aufsatz, den dʼOrs im folgenden Jahr über ihn in der Pariser Wochenschrift „Les Nouvelles littéraires“ veröffentlichte; vgl. Schmittiana V, S. 299–304; TB V, S. 21, 23 f.

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1956 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Vor kurzem schickte uns Georg Lenz die Besprechung Ihres Hamlet-Buches, die zwar nicht das Letzte herausgeholt hat, doch sehr positiv ist.652 Für den Herder-Verlag, Staatslexikon, werde ich vorerst den Artikel „Bodin“ schreiben.653 Man ist vor kurzem mit der Bitte um Mitarbeit an der Neuauf­ lage des Staatslexikons an mich herangetreten. Dann traf soeben der erste Band von Voegelins großem Werk ein. Er trägt den Titel: Israel and Revelation. Das Werk erscheint bei der Louisiana Uni­ versity Press (Preis des ersten Bandes: 7.50 Dollar). Ich habe sofort an To­ pitsch geschrieben, damit er die Besprechung übernimmt.654 Ferner erschien vor kurzem bei Vrin Eric Weils „Philosophie politique“, ein Buch, das Hans Naumann besprechen will. Ich bin sehr gespannt auf dieses Buch. Gefällt es mir, so werde ich mich um eine deutsche Übersetzung be­ mühen.655 Von Herrn Legaz y Lacambra ist eine längere Besprechung des letzten Bu­ ches von Reibstein eingetroffen.656 Ich hoffe sehr, dass Herr Krauss das Manuskript bald übersetzen kann. Die Gehlen-Besprechung von Altmann habe ich gelesen.657 Er hat das Buch in großen Teilen nicht verstanden, und dieses Faktum kann er mit Geistrei­ cheleien nicht übergehen. Herr Altmann sollte sich einmal ein halbes Jahr in ein Amtsgericht oder ein Landratsamt setzen, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Wir wollen unbedingt Peter Schneiders Buch dazu benutzen, eine Diskussion im Archiv über Sie zu veranlassen. Darüber werde ich noch Ausführliches schreiben. Das Buch ist noch nicht erschienen. –

652  In:

ARSP 43, 1957, S. 158 f. Bd. 2, 6., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., Freiburg 1958 (darin Art. „Bodin“, Sp. 102 f.). 654  Ernst Topitsch (1919–2003), österr. Soziologe. Seine Besprechung erschien in: ARSP 43, 1957, S. 445–449. Das Buch erschien auf Deutsch unter dem Titel „Israel und die Offenbarung“, München 2005. 655  Die Besprechung von Naumann erschien nicht. „Philosophie politque“ erschien 1964 auf Deutsch („Philosophie der Politik“) als Nr. 15 der Reihe „Politica“ im Luchterhand-Verlag. 656  Ernst Reibstein (1901–1966), Staats-und Völkerrechtler, Journalist, veröffent­ lichte „Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca“, Karlsruhe 1955. Luis Legaz y Lacambra (1906–1980), span. Staatsrechtler und Rechtsphilosoph, be­ sprach das Buch in: ARSP 43, 1957, S. 455–458. 657  Altmann besprach: Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Die Besprechung konnte nicht bibliographiert werden; im Nl. Schmitt findet sich nur der Schluss, ohne weiteren Hinweis (RW 265–20481). 653  Staatslexikon,



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Schließlich: ARSP 42/3 ist seit kurzem vergriffen! Obwohl der Verlag mit dem anhaltenden Eingang von Neuabonnements rechnete, hat er unseren Erfolg doch unterschätzt. Uns soll dies recht sein. Es geht täglich ein neues Abonnement ein! Demnächst will ich einen Brief schreiben, der nicht so unpersönlich gehalten ist. Stets Ihr ergebener [hs.:] Roman Schnur 125. 1956-10-11 Carl Schmitt an Roman Schnur 027–028, hs.

Plettenberg, 11/10 56 Lieber Herr Dr. Schnur, Ihr Brief vom 10/10 ist voll von äußerst interessanten Informationen, vielen Dank! Ich nehme an, dass Sie an der Staatsrechtslehrertagung teilnehmen; wenn Sie dort den Assistenten von Prof. H. J. Wolff (Münster),658 den Refe­ rendar Ernst-Wolfgang Böckenförde sehen, müssen Sie einmal mit ihm spre­ chen; er ist ein hervorragender junger Jurist, den Sie auch zu einem Aufsatz oder einer Besprechung für Ihr Archiv einsetzen könnten.659 Er wohnt Wiesbaden-Sonnenberg, Gartenstr. 16, bei Wesen, während der Tagung, sonst München 19, Nibelungenstr. 14 II bei Janssen. Zu dem Erfolg des Archivs herzlichen Glückwunsch! Enhorabuena!660 Das ist wirklich ein ermutigender Aufstieg. Und wenn die morschen vénérables auf der Umschlagseite sich das Verdienst daran zuschreiben, um so besser! Ich muss morgen nach München und an den Staffelsee reisen, um den armen, schwerkranken P. Erich Przywara noch einmal zu sehen. Als Reiselektüre nehme ich 3 Hefte von Monde Nouveau mit, in denen ein Aufsatz von 658  Hans Julius Wolff (1898–1976), Verwaltungsrechtler, Habilitation 1929 in Frankfurt, sollte hier eigentlich Hermann Heller nachfolgen, wurde aber auf Grund seiner NS-Distanz nicht auf einen Lehrstuhl berufen, lehrte von 1935 bis 1940 in Riga und von 1941 bis 1945 in Prag, seit 1948 Prof. für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie in Münster; 5 Briefe, 1 Postkt. (1928–1960) im Nl. Schmitt. 659  Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019), Staatsrechtler, Rechtsphilosoph, Verfassungsrichter, informeller Schüler und enger Vertrauter Carl Schmitts, arbeitete zu dieser Zeit an seiner zweiten, historischen Dissertation bei Franz Schnabel in München; BW Böckenförde. 660  Enhorabuena = span. „Gratulation“.

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1956 – Carl Schmitt an Roman Schnur

­ eorges Bataille über Souveränität veröffentlicht sind [sic!], von denen Ni­ G colaus Sombart mit allerhöchsten Superlativen schwärmt. Kennen Sie ­Georges Bataille?661 Der Aufsatz ist tatsächlich aufregend (Souveränität – Subkjektivität); er würde durch einige Kenntnisse der staats- und völker­ rechtlichen Theorie noch weit eindrucksvoller werden. Von Michel Mourre erhalte ich regelmäßig (alle zwei Wochen) „nouveau régime“, das ich gern lese.662 Die Bücherbestellungen bei Pressler funktio­ nieren gut. Wenn Sie Hans Naumann sehen, sagen Sie ihm bitte, dass ich den Aufsatz von Cioran bald zurückschicke.663 Sonderbar, dass das Buch von Peter Schneider immer noch nicht erschienen ist. Der Titel „Norm und Ausnahme“ scheint anzudeuten, dass er sich mit dem Problem der Souveränität beschäftigt. Kennen Sie das Hamlet-Sonett von Bert Brecht? Lassen Sie es sich von Koselleck geben! Hamlet = der bürgerliche Widerstand gegen Hitler!!664 Adlai Stevenson, der Hamlet von Illinois, wird eo ipso den Wahlkampf gegen den alten Eisenhower nicht ge­ winnen.665 Ihren Juristen-Aufsatz lese ich sehr gerne öfters. Er ist wirklich höchst ak­ tuell ohne grobe Überdeutlichkeit. Man müsste eine Art Insel-Bücherei der Geisteswissenschaften haben; dort wäre er als Kabinettstück am Platze. Darf ich ihn vertrauenswürdigen Bekannten zu lesen geben? Viele Grüße und beste Wünsche Ihres alten Carl Schmitt 661  Georges Bataille (1897–1962), franz. Philosoph und Schriftsteller. Ein Sonder­ druck des Aufsatzes befindet sich mit Anmerkungen im Nl. Schmitt. Zu Sombarts Äußerungen und Schmitts Reaktion s. BW Sombart, S. 90. 662  „Nouveau régime. Pour une politique positive“ war eine von Michel Mourre herausgegebene kurzlebige französische Zeitschrift; ein Exemplar im Nl. Schmitt. 663  Émile Cioran (1911–1995), rumän.-franz. pessimistischer Essayist. Als Stipen­ diat der Humboldt-Stiftung 1933 bis 1935 in Berlin hat er, wie er an Schmitt schreibt, dessen Vorlesungen gehört. Schmitt wurde aber wohl erst nach dem Krieg auf Cioran aufmerksam; das früheste Buch, das er von Cioran besaß ist „Précis de decomposi­ tion“ (Paris 1949). 1950 schickte er dem Autor zunächst das Typoskript „Weisheit der Zelle“ und kurz darauf „Ex Captivitate Salus“ und „Donoso Cortés in gesamteuro­ päischer Interpretation“, wofür Cioran sich umgehend bedankte. Er sei, schrieb er an Schmitt, „frappé de la similitude de nos goûts“. Die 2 Briefe Ciorans unter RW 265–2545 und 2546. 664  Bertolt Brecht „Über Shakespeares Stück ‚Hamlet‘ “, in: ders., Gesammelte Gedichte, Frankfurt a. M. 1981, S. 608 f. Für Koselleck schien das Gedicht auf „die Widerstandsbewegung liberaler Observanz“ hinzuweisen; vgl. BW Koselleck, S. 128. 665  Adlai Stevenson (1900–1965), US-Politiker, war von 1949 bis 1952 Gouver­ neur von Illinois und trat dann als Präsidentschaftkandidat der Demokratischen Partei an, als der er 1952 und 1956 jeweils gegen Dwight D. Eisenhower verlor.



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P. S. 1) Könnte nicht das Archiv, bei weiterem Wachstum, eine Schriften- oder Beilagenreihe für größere Abhandlungen machen; darunter z. B. Ihre Ab­ handlung über die Juristen? 2) Die Freiburger Antrittsvorlesung von Josef Kaiser überwindet die ameri­ kanische Begriffslosigkeit und findet den Anschluss an unsere juristisch verfassungsrechtliche Gestaltung zurück.666 3) Ich habe in Mainz in der Stadtbibliothek einige kostbare Stunden mit den Bodin-Ausgaben (insbes. der von Osswald Mompelgart [d. i. Johann Oßwaldt aus Mumpelgart] verbracht.667 4) Was mag bei der Maßnahme-Diskussion der Staatsrechtslehrer-Tagung herausgekommen sein?668 5) H. J. Schoeps hat sich über die Zeit Schleichers sehr gut geäußert (Rund­ funk Südwest); sein Buch (30 Jahre) kenne ich noch nicht.669 6) Gehlen darf sich weder über Altmann noch über Winckelmann ärgern. Winckelmanns Unterscheidung von Wert- und Zweck-Rationalismus hat schon Max Weber selbst als einer „schicksalhaften“ Auflösung verfallen be­ zeichnet usw.

666  Joseph H. Kaiser, Prolegomena zu einer Rechtslehre von Gesellschaft und Staat, in: Freiburger Dies Universitatis 4, 1955/56; ein Sonderdr. im Nl. Schmitt. 667  Jean Bodin, Respvblica. Das ist: Gründtliche vnd rechte Vnderweysung oder eigentlicher Bericht in welchem außführlich vermeldet wirdt wie nicht allein das Re­ giment wol zubestellen sonder auch in allerley Zustandt so wol in Krieg vnnd Wider­ wertigkeit als Frieden vnd Wolstand zu erhalten sey … auß Lateinischer vnnd Frant­ zösischer Sprach in … Teutsch gebracht: Durch … Johann Oswaldt, Mumpelgart [= Montbéliard] 1592. Erste deutsche Übersetzung der „Six livres de la république“. 668  Die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer tagte am 10./11. Ok. 1956 in Mainz. Thema war: „Das Gesetz als Norm und Maßnahme“, womit man an den Art. 48 der Weimarer Verfassung, die sog. Diktaturgewalt des Reichspräsidenten, an­ knüpfte. Schmitt hatte sich dazu 1926 dezidiert geäußert; vgl. SGN, S. 38–43. 669  Hans-Joachim Schoeps (1909–1980), seit 1947 Prof. für Religions- und Geis­ tesgeschichte in Erlangen, war nationalkonservativer Jude. Sein Radiofeature hatte den Titel: „Das letzte Vierteljahr der Weimarer Republik im Zeitschriftenecho“ (­Typoskr. im Nl. Schmitt, RW 265–20932). 1956 veröffentlichte Schoeps Memoiren unter dem Titel „Die letzten dreißig Jahre“.

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1956 – Roman Schnur an Carl Schmitt

126. 1956-10-13 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14274, ms.

Mainz, den 13.10.1956 Hindenburgstr. 40 Sehr geehrter Herr Professor, Haben Sie herzlichen Dank für Ihre freundlichen Zeilen. Ich hoffe inständig, dass sich der verehrte Pater Przywara wieder erholt und so unserem Geistes­ leben erhalten bleibt. Vielen Dank auch für den Hinweis auf Herrn Böckenförde – leider fand ich Ihren Brief vor, als die Tagung bereits beendet war. Mit gleicher Post schrei­ be ich bereits Herrn Böckenförde an. Ja, die Staatsrechtslehrer-Tagung brachte viel Versprechendes und viel Enttäuschendes. Zunächst äußerte Herr Kaiser mir gegenüber seinen Unwillen wegen meiner Besprechung seiner Bonner Antrittsvorlesung.670 Er hat im Laufe der Tagung mit mir nicht mehr über das Archiv gesprochen. Ich nehme nicht an, dass es deshalb eingehen wird. – Das Referat von Herrn Menger schien mir recht mittelmäßig zu sein, ich habe nicht mehr erwartet.671 Herr Wehrhan schlug sich tapfer und mach­ te sehr beachtliche theoretische Ausführungen, die bewiesen haben, dass ein theoretisch geschulter Mann zu dergleichen Themen eben doch mehr zu sa­ gen weiß als ein trockener Positivist.672 Die Aussprache war, bis auf Herrn Forsthoffs Beitrag, ausgesprochen schlecht, Herr Scheuner redete, bevor er nachgedacht hatte und wiederholte, was man bei Ihnen in viel besserer Form finden kann. Herr Forsthoff wird Ihnen darüber Näheres ja gewiss mittei­ len.673 Die beiden Referate am folgenden Tag fand ich gut, Herr Krüger hatte den Mut, die Sache staatstheoretisch zu betrachten.674 Wenngleich [ich] in etlichen Punkten anderer Meinung bin als er, möchte ich doch die Art des Vortrags sehr loben. Herr Ule glänzte mit positiv-rechtlichen Überlegungen, die die Sache gewiss vorangetrieben haben.675 Leider hat er die Institutions­ lehre von Hauriou doch nicht aufgegriffen, wiewohl ich ihm die Sache mundgerecht serviert hatte. Offensichtlich hatte er Angst vor der eigenen 670  Schnurs

Besprechung in: ARSP 42, 1956, S. 260–263. Referat hatte das Thema „Das Gesetz als Norm und Maßnahme“. 672  H. Wehrhan hielt das Korreferat zu Menger. 673  Vgl. BW Forsthoff, S. 128. 674  Herbert Krüger sprach über: „Das Gesetz als besonderes Gewaltverhältnis“. – Herbert Krüger (1905–1989), seit 1951 Ordinarius für Staats- und Völkerrecht in Hamburg; 4 Briefe (1935–1968) im Nl. Schmitt. 675  Carl-Hermann Ule hielt das Korreferat zu Krüger. 671  Mengers



1956 – Roman Schnur an Carl Schmitt263

Courage bekommen. Werner Weber leistete den bei weitem besten Diskus­ sionsbeitrag. Was u. a. die Herren Merk, Ermacora,676 Pfeiffer,677 Better­ mann678 und vor allem Friesenhahn679 sagten, war, ich sage es wohlüberlegt, ganz enttäuschend schlecht. Ein guter Assessor hätte Besseres gesagt, bzw. es vorgezogen, überhaupt nichts zu sagen. Herr Ipsen gefiel mir in der Dis­ kussion recht gut. Überhaupt machte er auf mich einen lebhaften Eindruck.680 Das wichtigste Ereignis war für mich ein Gespräch mit Herrn Forsthoff. Es hat mir außerordentlich wohl getan, und ich glaube, dass ich dieses Gespräch nicht vergessen werde. Mehr Wärme und Offenheit habe ich bisher kaum gefunden. Er will in Zukunft am Archiv mitarbeiten, zunächst das Buch von Eschenburg besprechen.681 Er sagte mir, dass ich mich ohne weiteres in Hei­ delberg habilitieren könnte, wenn ich nicht eine völkerrechtliche Arbeit vor­ bereiten würde. Herr Mosler blockiere jeden Versuch, der nicht von ihm ge­ steuert werde.682 Herr Forsthoff sagte mir auch, dass man genau wisse, dass ich ja nicht Schüler von Armbruster sei. Ich habe mit aller Deutlichkeit ge­ merkt, dass es unter Studenten dieses Rechtslehrers keine Halbstarken geben könne: Wer echte Autorität erleben will, kann das bei Herrn Forsthoff tun.683 Ein, wie mir scheint, wichtiges Fazit habe ich aus der Tagung gezogen: Dass ich es mit einem guten Teil dieser Herren aufnehmen kann. Diesem Teil ge­ genüber darf man nicht mit Leistung operieren, sondern mit der entsprechen­ den Taktik, weil sie das Andere nicht verstehen. – 676  Felix Ermacora (1923–1995), österr. Staatsrechtler und Politiker, 1957 Prof. in Innsbruck, ab 1964 in Wien. 677  Gerd Pfeiffer (1919–2007), seit 1955 Oberregierungsrat beim Bundesverfas­ sungsgericht, später Richter am Bundesgerichtshof, 1977 dessen Präsident. 678  Karl August Bettermann (1913–2005), Richter und seit 1956 Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht an der FU Berlin. 679  Ernst Friesenhahn (1901–1984), Staats- und Kirchenrechtler, Assistent Schmitts in Bonn und von ihm 1927 promoviert, bekam wegen seiner NS-kritischen Haltung Probleme mit seiner Karriere und erhielt erst 1946 eine Bonner Professur, von 1951 bis 1963 Richter am Bundesverfassungsgericht; 16 Briefe, 8 Postkt. (1929–1983) im Nl. Schmitt. 680  Hans Peter Ipsen (1907–1998), seit 1939 Prof. für Öffentliches Recht in Ham­ burg; 44 Briefe, 6 Postkt., 1 Telegr. (1945–1982) im Nl. Schmitt. 681  s. oben, Nr. 101. 682  Hermann Mosler (1912–2001), Prof. für Völkerrecht in Heidelberg, seit 1954 dort auch Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 1959 Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, 1976 Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. 683  Diese Wertschätzung beruhte auf Gegenseitigkeit. Forsthoff schrieb am 8. Juli 1957 an Schmitt: „Mit Schnur habe ich Vorbesprechungen wegen seiner Habilitation geführt und mein Einverständnis dazu erklärt, ihn hier für die Lehrtätigkeit in Speyer zu habilitieren. Bei jedem Zusammensein mit ihm habe ich einen gleich vorzüglichen Eindruck von ihm.“ BW Forsthoff, S. 132.

264

1956 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Wir wollen schon seit langem Beihefte zum Archiv herausgeben, aber der Vertrag gibt dem Verleger das Ablehnungsrecht, und wie zur Zeit die Dinge liegen, wird er davon regen Gebrauch machen. Wir müssten die Reihe mit einem Beitrag eines bekannten Mannes beginnen, und es würde mich freuen, wenn wir dort Herrn Forsthoffs langen Aufsatz über die Institutionslehre (1944) bringen könnten.684 Den würde der Verlag gewiss nehmen. Selbstverständlich können Sie das Manuskript meines Aufsatzes vertrauens­ würdigen Bekannten zu lesen geben, doch wäre es mir lieb, wenn Herr Kai­ ser das Manuskript nicht zu Gesicht bekäme. Ich werde das Gefühl nicht los, dass er mein Leroy-Manuskript, das er 1953 in die Hand bekam, in nicht fairer Weise ausgewertet hat. Ich will mich darüber nicht näher auslassen, habe aber gute Anhaltspunkte für meine Meinung. Ich bin bereit, seine Frei­ burger Antrittsvorlesung im gleichen Geist der „Fairness“ zu besprechen! Schließlich bin ich nicht der Erste, der sich über Herrn Kaisers Mangel an Fairness beklagt (Werner Weber weiß Bescheid!). Ich habe das Manuskript weiter überarbeitet. So habe ich eine Neuausgabe von Du Vairs „Constance“ aus dem Jahre 1915 gefunden,685 deren Einleitung geschichtliche Parallelen zieht – falscher konnten sie wohl nicht gezogen werden! Die beiliegenden Blätter enthalten Notizen über das behandelte Thema. No­ tizen, die vorerst nicht mehr sind, als ungeordnete und nicht ausgebaute Er­ gebnisse von Überlegungen, die ich nicht erst während der Staatsrechts­ lehrertagung angestellt habe. Ich möchte sie Ihnen vorlegen, damit Sie sagen können, ob es sich lohnt, den Ansatz fortzuspinnen. Ich wäre Ihnen auch diesmal für kritische Bemerkungen sehr dankbar. Sollte sich der Ansatz für gut erweisen, so bin ich bereit, ihn in verhältnismäßig kurzer Zeit auszuar­ beiten. Die Publikation würde keine Schwierigkeit machen, denn der Aufsatz befasst sich ja mit „positivem“ Recht. Doch möchte ich die Sache nicht zer­ reden und mich deshalb auf etwa 25 Seiten beschränken. – Mit den besten Grüßen bin ich stets Ihr ergebener [hs.:] Roman Schnur P. S. Ich bitte um gelegentliche Rücksendung des beigelegten Durchschlags.

684  Unveröffentlichte Arbeit von Forsthoff, s. dazu Meinel, S. 279  ff. Im Nl. Schmitt finden sich das Typoskript (RW 0265–19786) wie auch separate Notizen dazu (RW 265–19785). 685  Guillaume Du Vair, Traité de la constance et consolation ès calamitez pub­ liques écrit par Guillaume du Vair pendant le siège de Paris de 1590. Éd. par Jacques Flach et F. Funck-Brentano, Paris 1915.



1956 – Roman Schnur an Carl Schmitt265

127. 1956-10-15 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14275, ms.

Speyer/Mainz, den 15. Oktober 1956 Hindenburgstr. 40 [daneben Notiz von C. S.]

Sehr geehrter Herr Professor, als ich heute mit Herrn Ule die Staatsrechtslehrertagung besprach und er mir das Manuskript meines Juristen-Aufsatzes mit der Bemerkung zurückgab, in ihm seien ausgezeichnete Aspekte für eine Verfassungsgeschichte des moder­ nen Staates enthalten, kamen wir nochmals auf die Frage meiner Habilitation zu sprechen. Er sagte mir in aller Offenheit, dass er es für falsch alte, dass ich meine Laufbahn bei einem Mann wie Armbruster beginnen wolle. Zudem sei noch lange nicht sicher, was die maßgebenden Leute zu Peter Schneiders Buch sagen würden. Denn wenn dieser wirklich versuche, Ihre Theorien vom Psychologischen (C. G. Jung) zu erfassen, so werde er, Ule, das seine tun, damit solchem Treiben ein lautes „Nein!“ entgegengesetzt werde. Mich dann mit zwei solcher Herren zu belasten, halte er für ungut. Wir sprachen also über andere Möglichkeiten, wobei ich ihm offen sagte, dass Herr Forsthoff mir mitgeteilt habe, er werde mich mit einer staats- oder verwaltungsrecht­ lichen Arbeit jederzeit habilitieren. Darauf meinte er, ob ich nicht doch ein anderes Thema für die Habilitation wählen wolle, das derzeitige Thema kön­ ne ich später immer noch bearbeiten. Dieser Hinweis hat mich den ganzen Abend, wie Sie gewiss verstehen werden, sehr beschäftigt. Nun habe ich mich schon oft mit dem Thema „Verfassung, Gesetz, Verwal­ tung“ befasst. Ich verstehe darunter einen Ausbau vor allem Ihres Gutachtens im Hess. Sozialisierungsstreit, der Forsthoffschen Gedanken zum Begriff des „Sozialen Rechtsstaats“ und der Gedanken Hans Schneiders zur Gleichbe­ rechtigung. Ich wollte ja, wie ich Ihnen einmal im Gespräch mitteilte, über die rechtliche Qualität des Begriffs „Sozialer Rechtsstaat“ ohnehin einen Aufsatz schreiben. Ich glaube, dass dieses Thema, richtig begrenzt, einer Habilitationsarbeit wert wäre. Es wäre gleichzeitig vieles über den Wert der Verfassung zu sagen, gerade heute, wo viele Staatsrechtler nicht mehr wis­ sen, wozu eigentlich der Staat eine Verfassung hat. Natürlich würde ich von Beginn an die Grenzen des Feldes abstecken, um nicht ins Uferlose zu gera­ ten. Da ich mich mit diesem Thema nebenher seit einigen Jahren befasse, würde es mir möglich sein, die Arbeit darüber in einem Jahr oder etwas mehr abzuschließen. Einen Wälzer würde ich ohnehin nicht abfassen.

266

1956 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Nach meiner Verehrung für Sie, sehr geehrter Herr Professor, werden Sie es verstehen, dass ich Ihnen außerordentlich dankbar wäre, wenn Sie mir bald Ihre Meinung zu meiner Absicht mitteilen wollten. Sollten Sie die Wahl des Themas für gut heißen, so würde ich mich sofort mit Herrn Forsthoff in Verbindung setzen, um die Sache endgültig zu klären. Vielleicht könnten Sie dann gleichzeitig an Herrn Forsthoff schreiben. Ich selbst werde ihm einen Durchschlag der leicht geänderten Fassung des Juristen-Aufsatzes nächste Woche zur Einsicht schicken, er interessiert sich bereits dafür. Den Abgang von Mainz werde ich leicht finden, wenn die Sache mit Heidelberg sicher ist. Ich kann mit ruhigem Gewissen Armbruster sagen, dass mir der Versuch der Habilitation an einer Universität, die einen Mann wie Schneider duldet, der Sie in einer mir unerträglichen Form angegriffen hat, eine Kränkung Ihrer Person sein würde. Damit hätte ich ihn nicht direkt getroffen und käme so glatt, wenn man das so nennen will, aus der Sache heraus.686 Ich habe Herrn Ule gefragt, ob er damit einverstanden wäre, wenn ich einen Aufsatz über die staatstheoretische Grundlage des besonderen Gewaltverhält­ nisses versuchen würde. Er begrüßte mein Vorhaben um so mehr, als er ja auf eine solche Begründung, dem Zweck seines Korreferats entsprechend, verzichtet habe. Falls der Aufsatz zur Publikation geeignet und nicht zu lang sei, könne man ihn ja im DVBL publizieren. – Herr Staatssekretär Krauthausen ließ anfragen, ob ich bereit sei, auf der nächsten Tagung der rheinland-pfälzischen Regierungsräte und -assessoren über das Thema zu sprechen: Die Bedeutung des Übergangs von der Admi­ nistrativ-Justiz zur Verwaltungsgerichtsbarkeit, wobei es letztlich um den Wandel der Staatsauffassung gehe. Da mich das Thema reizt und ich nicht als Regierungsassessor sondern als Angehöriger der Hochschule reden soll, habe ich zugesagt – Indem ich mit größter Spannung auf Ihre Antwort warte, bin ich wie stets Ihr sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur

686  Stenogr.

Notiz von C. S. am Rand.



1956 – Carl Schmitt an Roman Schnur267

128. 1956-10-21 Carl Schmitt an Roman Schnur 029–030, hs.

Plettenberg, 21/10 56 Mein lieber Dr. Roman Schnur, gestern Abend bin ich von meiner Reise aus Oberbayern hierher zurückge­ kehrt. Die Reise war sehr ergiebig; außer der Begegnung und den Gesprä­ chen mit P. Przywara habe ich in Murnau und in München viele alte Bekann­ te getroffen. Herrn Böckenförde sah ich auch; wir haben mit Prof. Maunz zusammen zu Mittag gegessen, wobei er von der Tagung in Mainz erzählte; in allem wesentlichen mit denselben Bewertungen wie Sie in Ihrem Bericht, für den ich Ihnen herzlich danke. Ihr Exposé über „Institutionenlehre und besonderes Gewaltverhältnis“ schi­ cke ich hier zurück; ich habe es mit großem Interesse gelesen und halte es für den ersten Ansatz einer wichtigen Klärung. Geschichtlich müsste man erst einmal sorgfältig die Entstehung des Begriffs „Bes. G.“ untersuchen, die politischen Motive (Kommandogewalt – Armee als großer Fall!), die völlig verschiedenen Beziehungen, Hegungen und Institutionen, die aus einer nega­ tiven Gemeinsamkeit heraus unter687 diesem sehr allgemeinen Begriff eines „Besonderen“ zusammengefasst werden; dann ergeben sich sehr verschiede­ ne typische Fälle, die heute ohne Rücksicht auf das ursprüngliche Motiv der Zusammenfassung getrennt zu beachten sind. Wie gesagt, Ihr Exposé ist ein guter Ansatz dazu. Von Herrn Böckenförde habe ich auch die Mainzer The­ sen zu dem Thema. Nun aber der Haupt-Grund Ihres Schreibens und meiner eiligen Antwort. Ich werde gleich an Forsthoff schreiben.688 Von Armbruster dürfen Sie erst dann weggehen, wenn Sie bei Forsthoff sicher sind (soweit das bei den akademi­ schen Zuständen überhaupt möglich ist). In der Begründung Ihres Wegganges von Armbruster können Sie das Buch von Peter Schneider erst dann geltend machen, wenn Sie es gelesen haben. Bisher liegt es noch nicht vor. Auf mei­ ne Person würde ich mich an Ihrer Stelle bei A. nicht beziehen. Solange das Buch Peter Schneiders nicht vorliegt, muss man ihm die Chance der Anstän­ digkeit geben. Wenn er sie verspielt, wie Frh. v. d. Heydte das getan hat, umso schlimmer für ihn. Das Thema „Verfassungsvollzug“ halte ich für das große Thema der heutigen Verfassungslage. Deshalb fände ich es als Habilitationsschrift für Sie denk­ 687  Im

Orig. „und“. nicht in BW Forsthoff.

688  Brief

268

1956 – Carl Schmitt an Roman Schnur

bar gut geeignet. Ich weiß nicht, ob Herr Forsthoff das Thema schon hat behandeln lassen. Auch weiß ich nicht, wie viele Kandidaten für eine Habi­ litation sich zur Zeit in Heidelberg befinden. Eben deshalb muss ich erst an Forsthoff schreiben, ehe ich Ihnen einen bestimmten Rat geben kann. Es versteht sich von selbst, dass es für Sie besser wäre, von Heidelberg (statt von Mainz) aus zu starten, auch dass ich es Ihnen raten würde, wenn man ohne Rücksicht auf die Situation raten dürfte; aber auch hier erhebt sich das selbständige Eigen-Problem des Vollzuges. Auf Ihren bei Ule zu publizierenden Aufsatz zum Thema „besonderes Ge­ waltverhältnis“ bin ich gespannt. Das Thema: Bedeutung des Übergangs von Administratur-Justiz zur Verwaltungsgerichtsbarkeit ist ebenfalls sehr auf­ schlussreich. Es fehlt wahrhaftig nicht an Aufgaben und Problemen, und man kann nur hoffen, dass der vorhandene Wille, mit ihnen fertig zu werden, nicht in dem Sumpfe eines faulen Konformismus und einer bösartigen Medio­krität verendet. Über das, was Sie mir von Prof. Ule geschrieben haben, war ich besonders erfreut. Seine klare Stellungnahme und sein mutiges Eintreten werden sich durchsetzen. Die Entwicklung des Problems Peter Schneider wollen wir in Ruhe abwarten. Dieses, lieber Roman Schnur, als eilige Antwort auf Ihre eilige Anfrage. Hoffentlich ist es klar genug. Die Antwort Forsthoffs teile ich Ihnen sofort mit. Von Dallmayr erhielt ich aus Augsburg den Sonderdruck seines BobbioAufsatzes.689 Der Aufsatz ist gut, instruktiv und sehr verdienstlich; die Apo­ logie Kelsens fand ich unnötig.690 Von Otto Brunner (Hamburg) erhielt ich einen sehr bedeutenden Aufsatz über Monarchie, aus der Festgabe für Theo­ dor Mayer.691 Noch eine Bemerkung: Bei Hauriou findet sich keine verfassungsrechtliche Lehre von der institutionellen Garantie! Ich selber bin erst von dieser Lehre aus auf die Lehre Haurious gestoßen. Haben Sie den Aufsatz „Freiheitsrech­ te und institutionelle Grantieen der Reichsverfassung“ von 1931? Er enthält 689  s.

oben Nr. 106. Kelsen (1883–1973), österr. Staats- und Völkerrechtler, Architekt der österr. Verfassung, wurde aus seiner Kölner Professur 1933 vertrieben, zuletzt Prof. in Berkeley, bedeutender Vertreter des Rechtspositivismus und damit Gegner Carl Schmitts; 9 Briefe (1932) im Nl. Schmitt. 691  Otto Brunner, Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft, in: Aus Verfassungs- und Landesgeschichte. Festschrift zum 70. Geburtstag von Theodor Mayer, T. 1: Zur allgemeinen Verfasungsgeschichte, Lindau/Konstanz 1954, S. 293– 304. 690  Hans



1956 – Roman Schnur an Carl Schmitt269

doch auch gegenüber dem Handbuch des Staatsrechts-Aufsatz über Grund­ rechte von 1932 interessante Ausführungen.692 Ich schicke ihn Ihnen gern. Herzliche Grüße und Wünsche Ihres alten Carl Schmitt 129. 1956-10-30 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14276, hs.; Postkt.

Mainz, den 30.10.56 Sehr geehrter Herr Professor, Bitte verzeihen Sie mir, einem derzeit Kranken, diese Form der Antwort auf Ihren liebenswürdigen Brief. Ich schreibe Ihnen dazu, wenn ich wieder ge­ sund bin. Am Samstag fand die erwähnte Sitzung statt, zu welcher 19 Leute gekommen waren: Arndt, Sombart, Koselleck, Winckelmann, Krauss, Nau­ mann, Conrady,693 Sladeczek. Ob die Gespräche etwas einbrachten, weiß ich nicht, weil ich der Sitzung mit hohem Fieber beiwohnte, das teilweise 39° erreichte und mich fast zu Boden warf. Aber einer der Herren wird Ihnen sicherlich Näheres berichten. Stets Ihr Ihnen ergebener Roman Schnur694

692  Carl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfas­ sung, in: Rechtswissenschaftliche Beiträge zum 25jährigen Bestehen der HandelsHochschule Berlin, Berlin 1931, S. 1–31 (auch separat erschienen; jetzt in: VA, S. 140–173); ders., Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfas­ sung, in: G. Anschütz und R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 2, Tübingen 1932, S. 572–606 (jetzt unter dem Titel „Grundrechte und Grund­ pflichten“ in: VA, S. 181–231). 693  Möglicherweise ist Dieter Conrad (1932–2001) gemeint, der in Heidelberg 1965 mit einer juristischen Diss. promoviert wurde. 694  Darunter von C. S. stenogr. Notiz sowie: „b. 3/11 56“.

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1956 – Roman Schnur an Carl Schmitt

130. 1956-11-03 Carl Schmitt an Roman Schnur 203–204, hs., Postkt.

3/11 56 Lieber Roman Schnur, nehmen Sie Ihre Unpässlichkeit nicht zu leicht und kurieren Sie den Anfall gut aus! Ich schreibe Ihnen gleich, wenn ich von Prof. F[orsthoff] eine kon­ krete Antwort habe. Gestern hatte ich Besuch von Nicolaus S[ombart], der auf der Durchfahrt nach Bad Meinberg (Soziologentag) einige Stunden bei mir war. Das Buch von Peter Schneider scheint noch nicht erschienen zu sein; Hauptsache, dass er die Ernennung zum Ordinarius in der Tasche hat; wir andern können unsere Neugierde ja noch etwas gedulden. Leider war Nicolausʼ Bericht von Ihrer Tagung sehr summarisch; ich wüsste gern mehr. Beste Wünsche für Ihr Befinden und herzliche Grüße Ihres alten Carl Schmitt 131. 1956-11-29 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14277, ms.

Mainz, den 29.11.1956 Sehr geehrter Herr Professor, Erst heute komme ich dazu, Ihnen wieder zu schreiben. Ich habe turbulente Wochen hinter mir. Das Semester in Speyer nimmt mich stark in Anspruch, zumal ich in wenigen Tagen mein Kolloquium über das Berufsbeamtentum in England, Frankreich und den USA zu einer Vorlesung umstellen musste, die 2stündig alle vierzehn Tage stattfindet. Etwa 50 Referendare und einige Assessoren hören diese Vorlesung, die jeweils zwischen der Vorlesung von Ernst Kern über die Institution des Berufsbeamtentums liegt. Dann war ich eine Woche lang in Berlin, wo ich an der inzwischen lebhaft diskutierten Tagung des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland“ teilnahm.695 695  Das „Kuratorium Unteilbares Deutschland. Ausschuss für Fragen des Wieder­ vereinigung e.V“ war 1954 gegründet worden, um den Gedanken der Wiedervereini­ gung wach zu halten; „lebhaft dikutierten“ meint wohl den Umstand, dass Bundes­ kanzler Adenauer dem Verein reserviert gegenüberstand und von der Tagung 1956 abgeraten hatte.



1956 – Roman Schnur an Carl Schmitt271

Schließlich läuft die Arbeit der Zentralstelle für Verwaltungsvereinfachung an, deren Sekretär ich bin.696 Jetzt endlich legt sich die bei Semesterbeginn übliche Arbeit, so dass ich mich wieder mehr eigenen Arbeiten widmen kann. Ich nehme gern Ihr Angebot, Ihre bekannte Studie über die institutionellen Garantien zu leihen an, denn ich habe bisher nur unter sehr ungünstigen Umständen diese Arbeit einsehen können. Ich wäre Ihnen deshalb sehr dank­ bar, wenn Sie sie mir zusenden wollten. Der Legisten-Aufsatz liegt bei der Redaktion der ZgesStW in Münster, wo die Entscheidung darüber gefällt wird, ob er in dieser Zeitschrift veröffent­ licht werden soll. Herr Bader teilte mir mit, er könne in der ZRG 1958 er­ scheinen, doch riet mir Herr Ule ab, den Aufsatz in einer so wenig gelesenen Zeitschrift herauszubringen. Inzwischen hat mir Herr Stödter mitgeteilt, er wolle sich das (noch immer nicht erschienene) Buch von Peter Schneider ansehen, um dann zu entschei­ den, ob er es besprechen wolle. Es hat mich sehr gefreut, dass Herr Stödter so positiv auf meine Frage geantwortet hat. Er hat die nötige Unabhängigkeit vom Wissenschaftsbetrieb, um offen sprechen zu können.697 Herr Krauss und Herr Scheibert sind dabei, in Köln eine selbständige Sek­ tion der IVR zu gründen. Sie wird Vorträge und Diskussionen veranstalten. Herr Gunst bemüht sich, in Wiesbaden für den Raum Mainz und Wiesbaden, eine Sektion auf die Beine zu stellen, und mit Herrn Koselleck werde ich in Kürze entsprechende Verhandlungen in Heidelberg führen. Das Interesse für solche selbständige regionale Arbeit ist da, es kommt nur darauf an, die Leu­ te zu finden, die dieses Interesse in gewisser Weise institutionalisieren kön­ nen. Der Vorstand der IVR scheint von solcher Arbeit weniger zu halten als wir – aber das ist nur ein Beweis mehr für die Notwendigkeit, bei der Vor­ standswahl im nächsten Jahr die Konsequenzen zu ziehen, und das wird mit Hilfe der Sektionen leichter fallen. Ich habe bisher das Interesse von Mittel­ mäßigen, die dank guter Beziehungen arrivierten, an echten Diskussionen nie überschätzt, möchte aber sagen, dass ich nicht glaubte, es sei so gering, wie es sich jetzt zeigt. Die vermeintlich Schlauen sollen bis zur Vorstandswahl 696  Die Geschäftstselle für Verwaltungsvereinfachung wurde vom rheinland-pfälzi­ schen Ministerpräsident Altmeier eingerichtet und war bei der Staatskanzlei in Mainz angesiedelt. 697  Stödter besprach das Buch in: ARSP 44, 1958, S. 603–608. Unabhängig war Stödter, weil er sein Geld als Reeder verdiente. An Schnur schrieb er am 9. Sept. 1957: „Daß meine Kritik des Schneider’schen Buches vielleicht auch in die Politisie­ rung der Diskussion hineingerät, macht mir wirklich nichts aus, Ich würde diese Konsequenz im Gegenteil nur aufschlussreich und amüsant finden. Man lernt seine Pappenheimer, sofern man sie noch nicht kannte, auf diese Weise kennen.“ BArch N 1472/3.

272

1956 – Carl Schmitt an Roman Schnur

ruhig meinen, sie könnten allein hinter den Kulissen schieben. Wir sind wohl stark genug, bei diesem Spiel mitzumischen. – Schließlich möchte ich noch eine Angelegenheit klar stellen, die seit gerau­ mer Zeit der Klärung bedarf: Bei dem Druck des Scheibertschen Aufsatzes ist seinerzeit der Hinweis darauf unterblieben, dass er aus der unveröffent­ lichten Festschrift für Sie stammt.698 Diese Unterlassung ist nicht auf Herrn Scheibert zurückzuführen. – Von Herrn Forsthoff habe ich noch keine Nachricht erhalten. Bis zum nächsten Brief bin ich mit herzlichen Grüßen stets Ihr [hs.:] Roman Schnur 132. 1956-12-29 Carl Schmitt an Roman Schnur 211–212, ms.

29/12 56 Neujahrsgruß 1957 links: rechts: jetzt ist die zeit gekommen wie ist mein herz beklommen die alles unrecht heilt wie sind wir eingekeilt es wird nicht mehr genommen es wird nicht mehr genommen es wird nur noch geteilt es wird nur noch geteilt [hs.:] Für Roman Schnur mit herzlichen Wünschen für das kommende Jahr! [Anlage, ms.:]

Carl Schmitt (zum Neujahrsgruß 1957)

Für Roman Schnur mit herzlichen Wünschen für das kommende Jahr! 29/12 56 Carl Schmitt Brief folgt! Es ist mir gelungen, für Kojève einen Vortrag im Rhein-RuhrClub zu organisieren (Mitte Januar); vielen Dank für Ihre Anregung!

698  Die Rede ist von Scheiberts im Brief Schnurs vom 6. Mai 1956 genannten Aufsatz. Scheibert hat allerdings nicht zu der unveröffentlichten Festschrift beigetra­ gen.



1957 – Roman Schnur an Carl Schmitt273

133. 1957-01-03 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14263, ms.

Mainz, den 3.1.1956699 Hindenburgstr. 40 Sehr geehrter Herr Professor, Haben Sie herzlichen Dank für den schönen Neujahrsgruß, der die politische Lage so treffend wiedergibt. Eine kürzere Prognose lässt sich nicht denken – eigentlich wäre es ein guter Merkspruch für greise Leute zugleich. Leider kann ich mit solchem Neujahrsgruß nicht aufwarten, aber ich darf Ihnen von Herzen beste Gesundheit im neuen Jahr wünschen. Alles andere Wünschens­ werte zu erreichen, liegt, so möchte ich meinen, irgendwie in unserer Hand. Es freut mich außerordentlich, dass Kojève nun doch nach Düsseldorf kommt. Wann findet denn der Vortrag statt?700 Da ich die Bräuche des Clubs nicht kenne, weiß ich nicht, ob ich kommen darf – doch wäre es auch unge­ wiss, ob ich überhaupt kommen könnte, weil mich der Betrieb in Speyer, wie ich Ihnen bereits mitteilen musste, sehr beschäftigt. Auf alle Fälle wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Kojève fragen wollten, ob er den Vortrag dem Archiv zum Abdruck überlassen möchte. Er hatte vor einige[r] Zeit eine halbe Zusage gemacht, doch entzieht es sich meiner Kenntnis, ob er aus dieser halben Zusage eine ganze machen will. Geht das MS zum 10. Februar bei uns ein, können wir es im Maiheft publizieren. – Endlich habe ich Ernst Kern auf einen bei uns abzuliefernden Aufsatz fest­ nageln können. Ich meine, es war nötig, ihn einmal zu veranlassen, etwas Abgeschlossenes zu Papier zu bringen. Denn er bleibt vielleicht zu viel im Programmatischen, was auf die Dauer nicht fruchtbar sein kann. Voraussicht­ lich wird er das MS bis zum Sommer einreichen. Da ich mit ihm eng zusam­ menarbeite, kann ich ihm ja auf den Fersen bleiben. Leider habe ich bisher Ihren großen Aufsatz über die institutionellen Garan­ tien vergeblich gesucht. Deshalb wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir Ihr Exemplar für kurze Zeit überlassen könnten. Den Sonderdruck Ihres Legis­

699  Es

muss „1957“ heißen. sprach am 16. Jan. 1957 im Düsseldorfer Rhein-Ruhr-Klub zum Thema „Kolonialismus in europäischer Sicht“; der Vortrag, dessen Mitschnitt und Veröffent­ lichung Kojève „sehr dringen abgelehnt“ hat (s. unten, Nr. 135) findet sich in: Schmittiana VI, S. 125–143; vgl. auch Schmitts Bericht über die Veranstaltung an N. Sombart in: BW Sombart, S. 97–99. 700  Kojève

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1957 – Roman Schnur an Carl Schmitt

ten-Aufsatzes schicke ich Ihnen in einigen Tagen. Es lagen einige Briefe bei, die ich, Ihr Einverständnis voraussetzend, mit großem Interesse gelesen habe. Nach dem Besuch von Eric Voegelin werde ich Ihnen meine Eindrücke mit­ teilen. Mit herzlichen Grüßen stets Ihr [hs.:] Roman Schnur 134. 1957-03-16 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14278, ms.

Mainz, den 16.3.1957 Hindenburgstraße 40

[darüber stenogr. Notiz von C. S.]

Sehr geehrter Herr Professor, Zunächst darf ich Ihnen mitteilen, dass ich mit Herrn Professor Forsthoff die Frage meiner Habilitation besprochen habe. Bis auf das Einverständnis von Herrn Prof. Hans Schneider, dem ich mich demnächst vorstellen möchte, ist wohl alles im positiven Sinne geklärt worden. Das Thema der Arbeit liegt noch nicht fest, doch wird die Arbeit Studien zum Begriff des Gesetzes im Hinblick auf die Form und den Formwert des Gesetzes enthalten. Sobald ich die Grundzüge des Themas herausgearbeitet habe, werde ich mir erlauben, Ihnen Näheres mitzuteilen, vielleicht nehme ich mir auch die Freiheit, nach Plettenberg zu kommen, sofern Sie damit einverstanden sind. Soeben schicke ich ein Rezensionsexemplar des Buches von Peter Schneider an Herrn Prof. Stödter ab. Herr Prof. Stödter will zunächst prüfen, ob er das Buch besprechen kann, doch hoffe ich sehr, dass er die Besprechung über­ nehmen wird. Dies wäre mir besonders deshalb lieb, weil er völlig unabhän­ gig ist und somit bei seiner Kritik keine Rücksichten zu nehmen braucht. Ich habe Herrn Stödter anheimgestellt, entweder eine normale Rezension oder eine Abhandlung zu schreiben. Ich erwarte täglich das längst fällige Heft des Archivs, in dem der große Aufsatz von Otto Kirchheimer über den Wandel der Opposition steht. Ich übertreibe wohl nicht, wenn ich meine, dass dieser Aufsatz das Beste ist, was nach dem Krieg über die Opposition geschrieben worden ist.701 701  Otto Kirchheimer, Vom Wandel der politischen Opposition, in: ARSP 43, 1957, S. 59–86.



1957 – Carl Schmitt an Roman Schnur275

Der Legisten-Aufsatz erscheint Ende April, Anfang Mai. Er macht in der ZgesStW 37 Seiten aus. Das Testament Pithous musste ich leider redaktio­ nellen Bedenken opfern. Mit den besten Grüßen stets Ihr [hs.:] Roman Schnur 135. 1957-03-18 Carl Schmitt an Roman Schnur 146–147, hs.

Plettenberg, 18/3 57 Lieber Roman Schnur, ich bin sehr glücklich, dass die Frage Ihrer Habilitation jetzt in Fluss kommt. Wenn Sie meinen, dass es Sinn und Zweck hat, dass ich an Prof. Hans Schneider schreibe, tue ich das gern. Ich hatte seit Wochen eine Reise nach Frankfurt und Heidelberg geplant, aber ich war krank und kaum reisefähig. Mitte Januar habe ich mich überangestrengt. Der Vortrag Kojève in Düssel­ dorf, der sehr gut verlaufen ist, hat mich viele Anstrengung gekostet, weil ich mich für das Gelingen verantwortlich fühlte. Kojève musste als Beamter des Quai d’Orsay vorsichtig sein. Die Diskussion musste sehr behutsam gesteu­ ert werden usw. Die Gespräche mit Kojève waren großartig.702 Aber er gibt nichts schriftlich. Auf meinen Aufsatz will er nicht schreiben (alles mit Rücksicht auf seine amtliche Stellung), und eine Tonbandaufnahme seines Vortrages, die vorbereitet war, hat er sehr dringend abgelehnt.703 Weiteres erzähle ich Ihnen mündlich. Auf Ihren Legisten-Aufsatz freue ich mich; auch auf den Aufsatz von Otto Kirchheimer. Ich war voriges Wochenende in Münster, im Collegium Philo­ sophicum von Prof. J. Ritter,704 wo H. Winckelmann (vorzüglich) über Max Weber sprach mit erstklassiger Diskussion, in der sich ein Assistent des His­

702  Zum

Inhalt der Gespräche s. Glossarium, S. 354–356. Vortrag wurde aber 1998 veröffentlicht, s. oben, Nr. 133. 704  Joachim Ritter (1903–1974), seit 1946 Ordinarius für Philosophie in Münster, begründete das sog. Collegium Philosophicum, in dem sich ein Kreis von bedeuten­ den Schülern zusammenfand, die „Ritter-Schule“, die zwischen Herkunft und Zukunft die praktische Philosophie vertrat. Mit seinem Vortrag trat Schmitt erstmals nach 1945 wieder in einer Universität auf. Vgl. Briefwechsel mit der Einleitung von Mark Schweda in: Schmittiana NF II, S. 201–274; van Laak, S. 192–200. 703  Der

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torikers Conze,705 der jetzt nach Heidelberg geht, Stuke mit Namen, als guter Kenner von Lorenz Stein und Bruno Bauer erwies.706 Das könnte ein Autor für Sie werden. E. W. Böckenförde, der in München im Seminar von Prof. Schnabel707 und B[undes]Verf[assungsgerichts-]Präsident Wintrich708 arbei­ tet, hat seine Dissertation über den Gesetzesbegriff druckfertig gemacht und dem Verlag Mohr geschickt.709 Dort, in Münster, war noch ein junger Theo­ loge, Rainer Specht, der höchst interessant über F. Suarez und G. Vasquez gearbeitet hat.710 Die Atmosphäre war wunderbar; wissenschaftlich und aka­ demisch. Ich lege die Skizze des systematischen Anmarsches zu meinem Thema bei.711 Auf Kojève, der seinem Düsseldorfer Vortrag Nehmen / Tei­ len / Weiden zugrundegelegt hatte, konnte ich in Münster gut Bezug nehmen. Besten Dank, dass Sie Peter Schneiders Buch an Stödter geschickt haben! Ich lese in dem Buch herum und möchte die eigentliche Intention verstehen, namentlich die Frage nach dem „Arcanum“ Carl Schmitts auf Seite 86 oben. Was ist der Sinn einer solchen esoterisch klingenden Frage? Im übrigen überwiegt bisher der Eindruck, dass ich als alter Mann und all-round-Jurist, von einem jüngeren Mann, als schicksalbeladener Deutscher von einem schicksallosen Neutralen, als Infanterist von einem fremden Kriegberichts­ 705  Werner Conze (1910–1966), Historiker, a.o. Prof. in Münster, wurde 1957 Or­ dinarius in Heidelberg. 706  Horst Stuke (1928–1976), Historiker, wurde 1958 in Münster mit einer Disser­ tation über die Junghegelianer promoviert, ab 1972 Ordinarius für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Frankfurt. 707  Franz Schnabel (1887–1966), wurde 1936 als „klerikaler Historiker“ aus seiner Karlsruher Professur entlassen, die er 1945 zurückerhielt. Von 1947 bis 1962 war er Prof. in München, sein Hauptwerk ist die vierbändige „Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert“; 1960 promovierte er Ernst-Wolfgang Böckenförde. 708  Josef Wintrich (1891–1958), war von 1954 bis 1958 Präsident des Bundesver­ fassungsgerichts. 709  Das bezieht sich auf die juristische Dissertation (Münster 1956) von Böcken­ förde, die 1958 unter dem Titel „Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfän­ gen der dt. Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus“ nicht im Tübinger Verlag J. C. B. Mohr, sondern bei Duncker & Humblot in Berlin er­ schien. 710  Rainer Specht (geb. 1930), studierte zunächst Theologie, wandte sich dann aber der Philosophie zu und war Schüler von Joachim Ritter; wurde 1967 Prof. für Philosophie in Mannheim. – Francisco Suárez (1548–1617), Theologe, Philosoph und Jurist, Vertreter der naturrechtlichen Schule von Salamanca, zu der auch der Jurist Fernando Vázquez de Menchaca (1512–1569) gehörte. Schmitt bezieht sich auf ein Manuskript, das er dann Schnur zur Veröffentlichung im ARSP empfielt; s. unten, Nr. 138. 711  Schmitt wählte als Thema seines Vortrags „Der heutige Nomos der Erde“ (vgl. seinen Brief an Ritter vom 25. Jan. 1957, in: Schmittiana NF II, 2014, S. 230). Von dem Vortrag gibt nur die erwähnte Skizze in: RW 265–19232 und 20341, abgedruckt in: BW Mohler, S. 235 f.



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erstatter vor ein Forum gezogen werde. Aber ich warte noch ab. Sehr gefreut hat mich Scheuners sachliche Besprechung des Neudrucks der Verfassungs­ lehre in der Neuen Politischen Literatur Heft 3 (Ring-Verlag, Villingen). Dieser Tage war Hanno Kesting bei mir zu Besuch und sprach von dem Plan einer Geschichte der Geschichtsphilosophie. Ich hoffe, dass es Ihnen gut geht, lieber Roman Schnur. Geben Sie mir bald wieder Nachricht! Herzliche Grüße Ihres alten Carl Schmitt [am Rand:] In Speyer (bei Ule) hat ein Seminar über Amnestie stattgefunden; wissen Sie etwas davon?

136. 1957-03-23 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14279, ms.

Mainz, den 23.3.1957 Hindenburgstraße 40 Sehr geehrter Herr Professor, Es freut mich außerordentlich, dass es Ihnen in Münster so gut gefallen hat. Graf von Brühl, ein Speyrer Kollege, hat mir viel von der Universität Müns­ ter erzählt. Er fand vor allem das Studium bei Hans J. Wolff sehr interessant. Ob z. B. hier in Mainz eine Atmosphäre wie die von Ihnen geschilderte auf­ kommen könnte, wage ich zu bezweifeln. Die Mainzer Universität scheint sich allmählich auf den Weg nach unten zu begeben. Mit der juristischen Fakultät ist jedenfalls nicht viel Staat zu machen. – Kojève schrieb mir bereits, dass er uns leider seinen Vortrag nicht zur Verfü­ gung stellen könne. Er sei als Beamter gebunden. Ich finde Ihre Gliederung, für deren Übersendung ich vielmals danke, ganz großartig, und ich glaube, dass sie die wirkliche Lage vollkommen trifft. Die unterentwickelten Länder sind, wie es scheint, schon so weit, dass sie auch das Teilen ablehnen, und in den Teilungsabsichten der beiden Großen sieht Kojève ja auch die derzeitige historische Rückständigkeit. – Von Herrn Stödter konnte ich noch keine Antwort bekommen, denn er ist zur Zeit auf Reisen. Herr Ule sagte mir im Gespräch, nach flüchtiger Lektüre sei er von Peter Schneiders Buch enttäuscht. Was soll die bloß referierende Dar­

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stellung Ihrer Gedanken? Auf diese Weise kann man Seiten füllen, aber nichts Neues sagen. Auch Hans Naumann findet das Buch „dünn“. – Sie werde in den nächsten Tagen von Diederichs einen Sonderdruck der Be­ sprechung Ihrer Hamlet-Studie erhalten, die Georg Lenz geschrieben hat. Sie ist in dem soeben erschienenen Heft des Archivs abgedruckt.712 Lenz hat zwar nicht viel mit dem Buch anfangen können, aber er schätzt jedenfalls den Autor hoch ein, und das ist fürs Erste (im Archiv) schon einmal wichtig. Im gleichen Heft hat Kurt Schilling Herrn Gehlens letztes Buch kritisch, aber insgesamt positiv besprochen.713 Weniger wohlwollend ging Herr Schilling mit einem Buch von Friedrich um, der dann auch noch in einem Aufsatz im gleichen Heft hart mitgenommen wird.714 Herr Gehlen hat Bertrand de Jou­ venels „De la Souveraineté“ sehr wohlwollend besprochen, was mich, als Bekannten von de Jouvenel, natürlich sehr freut.715 – Für den Hinweis auf Herrn Stuke bin ich Ihnen sehr dankbar. Ich werde versuchen, vom Westdeutschen Verlag die soeben erschienene Teilausgabe von L. v. Stein (Der Begriff der Gesellschaft) zu bekommen, um sie Herrn Stuke zur Besprechung anzubieten. Eine Nachricht von Herrn Krauss hat mich etwas betrübt: Er hat leider keine Zeit, in Köln für den Raum Düsseldorf-Köln-Bonn eine Sektion der IVR zu gründen. Nun ist guter Rat teuer. Herr Scheibert wird’s allein nicht machen wollen und das Schwergewicht nach Düsseldorf zu verlegen, scheint mir doch wenig erfolgversprechend. Ich sehe also kommen, dass wir auf eine Zusammenfassung im Kölner Raum leider verzichten müssen. Hingegen hat sich in Wiesbaden eine Sektion unter der Leitung von Herrn Gunst etabliert, die eine gute Entwicklung genommen hat. Herr Koselleck, der sich um die Gründung einer Sektion in Heidelberg bemühen wollte, scheint leider schlapp zu machen. In Heidelberg hätte es immerhin einige Leute von Format gege­ ben, auch wäre z. B. Herr Sladeczek von Karlsruhe zu einem Vortrag gekom­ men.

712  ARSP 43, 1957, S. 158 f. – Georg Lenz (geb. 1890), Dr. jur. und rer. pol., Rich­ ter in Hamburg; TB V, S. 91; 2 Briefe (1933 und 1957) im Nl. Schmitt. 713  Kurt Schilling (1899–1977), seit 1949 Prof. für Philosophie in München. Er besprach „Urmensch und Spätkultur“ in: ARSP 43, 1957, S. 127–132. 714  Schilling besprach: Carl J. Friedrich Die Philosophie des Rechts in histori­ scher Perspektive (Berlin/Heidelberg 1955) in: ARSP 43, 1957, S. 142–146. Ebenda, S. 21–58, kritisiert Ludwig Freund in seinem Aufsatz „Vom Sinn und Unsinn der Theorien über den Gesellschaftwandel“ Carl J. Friedrich (S. 44). – Carl Joachim Friedrich (1901–1984), Politikwissenschaftler, seit 1936 Prof. an der Harvard-Univer­ sität, seit 1954 lehrte er abwechselnd in Harvard und Heidelberg, mit Schmitt seit den 20er Jahren bekannt; 12 Briefe (1931–1959) im Nl. Schmitt; TB IV und V. 715  ARSP 43, 1957, S. 154–158.



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Zum Abschluss darf ich Sie noch darauf hinweisen, dass in derjenigen Num­ mer des „Verwaltungsarchivs“, die im Juli erscheinen wird, ein Aufsatz von Georges Langrod über die Lage der französischen Verwaltung stehen wird, den ich für sehr wichtig halte.716 Nebenbei gesagt: Langrod zitiert ausführ­ lich meinen Aufsatz über Maxime Leroy. Es freut mich, dass der Aufsatz doch noch irgendwie erwähnt wird, nachdem Joseph H. Kaiser ihn ver­ schwiegen hatte. Ich bin mit den besten Grüßen stets Ihr [hs.:] Roman Schnur P. S. Ihren Legisten-Aufsatz schicke ich sofort ab. 137. 1957-04-09 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14280, ms.

Mainz, den 9.4.1957 Hindenburgstraße 40 Sehr geehrter Herr Professor, Es tut mir überaus leid, dass ich Sie nicht treffen konnte. Meine Frau leitete Ihre liebenswürdige Karte717 sofort nach Speyer weiter, wo sie mich freitags erreichte. Ich versuchte dann am folgenden Morgen mehrmals, Sie von ­Speyer aus per Telefon zu erreichen, doch war die Leitung des Hotels stets besetzt. Herr Gunst, der gestern bei uns war, erzählt mir einiges von Ihrem letzten Wiesbadener Aufenthalt. Dabei erfuhr ich zu meinem Leidwesen, dass Sie sich bei einem Sturz arg verletzt hätten – bitte nehmen Sie unsere herzlichsten Wünsche auf baldige Genesung entgegen. Heute kann ich Ihnen mitteilen, dass es Herrn Viehweg und mir gelungen ist, dafür zu sorgen, dass der Kongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie in diesem Jahr stattfinden kann. Die Saarbrü­ cker Fakultät hat sich bereit erklärt, die Organisation des Kongresses und noch etwas mehr zu übernehmen. Der Kongress wird im Oktober stattfinden. 716  Georges Langrod, Einige Hauptprobleme der französischen Verwaltung der Gegenwart, in: Verwaltungsarchiv 48, 1957, S. 191–218. – Georges (eigentlich: Jerzy) Langrod (1903–1990), emigrierte 1948 aus Polen nach Frankreich, wo er später Prof. für Verwaltungswissenschaften in Paris wurde. Er war auch die entscheidende Person, die Schnur den Weg nach Polen bahnte. Vgl. Frankreich, S. 23 f., 29. 717  Fehlt.

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Es ist geplant, etwa 6 Referate halten zu lassen, wobei drei Ausländer auftre­ ten werden. Herr Viehweg und ich werden auf die Auswahl der Referenten einen nicht unwesentlichen Einfluss ausüben. Gleichzeitig ist schon jetzt zu sagen, dass der Kongress möglicherweise eini­ ge Umgruppierungen in der IVR mit sich bringen kann. Ob dies in wirklich positivem Sinne der Fall sein wird, hängt von der starken Beteiligung jener Leute ab718, die sich bisher der IVR mehr oder weniger ferngehalten haben. Damit komme ich auf ein Thema zurück, das ich bereits mit Ihnen erörtern durfte. Fast sämtliche wissenschaftliche Organisationen, die nicht gerade Fachorganisationen sind wie etwa die Vereinigung der Staatsrechtslehrer, sind in der Hand von Leuten, die die Gunst der politischen Umstände nach vorn brachte. Das war ja auch bei der IVR so und konnte 1949 nicht anders sein. Inzwischen habe ich sehr viel Zeit geopfert, um in der IVR den Boden für eine Saat zu öffnen, die nicht nur in einer bestimmten Richtung wachsen soll. Der Kongress in Saarbrücken wird die Möglichkeit zu erheblichen Än­ derungen schaffen. Da abgestimmt wird, kann ich allein mit wenigen Leuten natürlich das weitere Geschick nicht bestimmen. Es hängt nunmehr alles davon ab, ob diejenigen Herren, die sich nicht mit der Gegnerschaft zu Ihnen hochgespielt haben, in Saarbrücken sein werden. Ich meine also ganz kon­ kret, dass z. B. Ihre Schüler und Schüler-Schüler in Saarbrücken erscheinen müssten, um ihre Stimme in die Waagschale zu werfen. Und wenn sie nur am entscheidenden Tage kommen (was ich allerdings wegen der Diskussio­ nen nicht für das Beste halten würde). Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass Herren wie Forsthoff, Weber, Schneider usw. vorher der IVR beitreten. Ich selbst möchte in dieser Hinsicht keine Schritte unternehmen, wäre Ihnen aber sehr dankbar, wenn Sie bei Gelegenheit in entsprechender Form den in Betracht kommenden Herren einen Wink geben könnten. Immerhin ist der Einfluss jener anderen Gruppe bereits geschwächt worden – soweit er überhaupt noch effektiv war. So ist ja Herr Darmstädter gestor­ ben.719 Herr Plessner ist ausgetreten720 – er merkte wohl mit seiner für die Dinge feinen Nase, was sich da so tut. Ich konnte ihn ja nicht am Austritt hindern. Im übrigen wird man feststellen dürfen, dass etliche der wirklich alten Herren nicht nach Saarbrücken kommen werden. 718  Im

Orig.: „statt“. Darmstädter (1883–1957), Rechtsphilosoph, habilitierte sich 1930 in Heidelberg, Privatdozent, 1935 entlassen, Emigration über Italien und die Schweiz nach England, seit 1949 Honorarprofessor in Heidelberg. Schmitt hatte Darmstädters Buch „Rechtsstaat oder Machtstaat“ (1932) als liberale Polemik kritisiert (SGN, S. 109, 121). 720  Helmuth Plessner (1892–1985), Philosoph und Soziologe, 1926 a.o. Prof. in Köln, emigrierte 1933 über die Türkei in die Niederlande, seit 1952 Prof. in Göttin­ gen. 719  Friedrich



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Darf ich Sie bitten, wegen der streng vertraulichen Mitteilungen diesen Brief nach der Auswertung zu vernichten? Mit den besten Grüßen bin ich Ihr Ihnen sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 138. 1957-08-12 Carl Schmitt an Roman Schnur 145, hs.

P1. 12/8 57 Lieber Roman Schnur, würde Sie ein Aufsatz über Voluntarismus und Intellektualismus in der Lehre vom Gesetz bei Suarez und G.Vasquez interessieren? Dann schreiben Sie bitte gleich an Herrn Dr. Rainer Specht, in Arnsberg/Westf. Kurfürstenstr. 6. Herr Dr.Specht hat darüber einige Kapitel im MS. geschrieben, die ich ein­ fach glänzend fand.721 Aber er wird wohl am 1. Oktober in einen praktischen Beruf eintreten, und deshalb wäre es gut, ihn jetzt gleich dazu zu veranlas­ sen, den Aufsatz zu schreiben. Mit Forsthoff habe ich über Ihre Habilita­ tionspläne gesprochen, und mich über sein Interesse gefreut. Dass Friesen­ hahn gegen die Peter-Schneider- Besprechung in Civis Nr. 30 einen wütenden Protest eingelegt hat, werden Sie wohl schon gehört haben. Ich bin gespannt, wie der Civis sich wehrt.722 Friesenhahn ist als Verfassungsrichter offenbar höchste Instanz auch in wissenschaftlichen Fragen. Vielleicht ergeben sich da einige neue obiter dicta.723 Herzliche Grüsse Ihres alten Carl Schmitt. 721  Der Aufsatz wurde veröffentlicht: Rainer Specht, Zur Kontroverse von Suárez und Vázquez über den Grund der Verbindlichkeit des Naturrechts, in: ARSP 45, 1959, S. 235–255. 722  Rüdiger Altmann hatte unter dem Kürzel „-d“ in Civis Nr. 30 vom Juni 1957 (S. 49) Peter Schneiders Buch „Ausnahmezustand und Norm“ sehr kritisch bespro­ chen, woraufhin Ernst Friesenhahn in der folgenden Nr. 31 (S. 71) dem Verfasser in einem Leserbrief bescheinigte, in einer „erbärmlichen Weise“ über das Buch zu urtei­ len, statt es „den Kommilitonen dringend zum Studium zu empfehlen“. Friesenhahn schließt mit der rhetorischen Frage: „Muß man aus dieser Glosse schließen, daß Sie sich ausgerechnet Carl Schmitt, den Feind des Rechtsstaates, zum Patron erkoren haben?“ Auf derselben Seite findet sich eine Entgegnung von Altmann. 723  obiter dicta = nebenbei geäußerte Meinung eines letztinstanzlichen Richters, die mit der Urteilsbegründung nichts zu tun hat.

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Sladeczek schrieb mir einen schönen Brief zu Peter Schneiders sophomori­ scher724 Orgie. 139. 1957-08-14 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14281, ms.

Mainz, den 14.8.1957 Hindenburgstraße 40

[darunter stenogr. Notiz von C. S.]

Sehr geehrter Herr Professor, Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief mit dem wertvollen Hinweis auf Dr. Specht. Ich schreibe mit gleicher Post an ihn, um ihn zu veranlassen, uns ein MS mit dem von Ihnen genannten Titel anzubieten. Hoffentlich habe ich Erfolg. Mir war der Protest Friesenhahns gegen die zutreffende Kritik von Peter Schneiders Buch im „Civis“ nicht bekannt. Aber die Intervention überrascht mich nicht. Es gibt heute nur noch ganz selten eine unabhängige, von der Macht nicht angefochtene Meinungsäußerung. Man verdeckt das auch nicht, indem man, wie Peter Schneider, auf irgendwelchen Juristentreffen für die Meinungsfreiheit eintritt. Das ist so ein machiavellistischer Zug, wie ihn alle Feinde Machiavellis und Machiavellisten an sich haben. Wir haben in Speyer die Kritik im „Civis“ mit Freuden gelesen, auch Herr Ule, der sie als gehöri­ gen Schlag gegen Peter Schneider ansah. Wie denn überhaupt Herr Ule sich in seinem Beitrag zur Speyrer Festschrift Ihnen gegenüber sehr respektvoll zeigte.725 Eine weitere Unverschämtheit Schneiders ist der Aufsatz im letzten Heft des AöR, dessen Titel eine grobe Irreführung ist.726 Nichteingeweihte glauben, dort über die Lage des Rechtsstaats von einem Ordinarius vernünftige Aus­ kunft zu erfahren und erleben dann, wie der Autor nunmehr Werner Weber und Herrn Forsthoff zu diskriminieren sucht. Dieser Mann lebt nur aus der Feindschaft zu anderen Leuten, zur Sache kommt er nicht, will es auch gar nicht, sie ist ihm nur Anlass, ad personam zu gehen, um sich dort emporzu­ 724  angeberisch.

725  Vgl. Carl Hermann Ule, Über das Verhältnis von Verwaltungsstaat und Rechts­ staat, in: 10 Jahre Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Stuttgart 1957, S. 127–165. 726  Peter Schneider, Zur Problematik der Gewaltenteilung im Rechtsstaat der Ge­ genwart, in: AöR 43, 1957, S. 1–27.



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reiben. Zwar hat er sich neulich in seinem Seminar deutlich und missbilli­ gend gegen Adenauers Äußerungen in Nürnberg ausgesprochen,727 aber ich habe bis heute nicht gesehen, dass dieser Verteidiger der Freiheit und der Demokratie sich in einer Zeitung als Rechtslehrer gegen die Verwilderung der demokratischen Sitten unmissverständlich ausgesprochen hätte! Ich hoffe sehr, dass Herr Forsthoff versteht, weshalb ich nicht in Mainz blei­ ben konnte, obwohl [m]ich Armbruster noch vor wenigen Wochen ermunter­ te, die „Sache abzuschließen“, es werde schon glatt gehen Ich bin nunmehr endgültig auf Heidelberg angewiesen – der Arm von Herrn Friesenhahn reicht weit genug, um mir überall sonst Schwierigkeiten zu machen. Über den Stand meiner Untersuchungen werde ich Ihnen in einigen Wochen Mitteilungen zukommen lassen, wenn ich mit meinem Überblick über die Geschichte des Gesetzesbegriffs, der keine komplette Studie sein soll und darf, einstweilen fertig bin. Bei meinen Bemühungen in dieser Richtung wa­ ren mir die einleitenden Sätze Ihres Vortrages ein so wichtiger Wegweiser, dass ich glaube, einiges Nützliche ausdrücken zu können. Der einzige aller Autoren des 19. Jahrhunderts, bei dem das Ideologische in seinen Studien erst sehr spät auftritt, ist Hänel, der auch deshalb keinen Erfolg hatte, weil er es primär nicht auf politische Positionen abgesehen hatte.728 Er scheint mir, soweit ich das sehe, der Einzige zu sein, der theoretisch etwas zum Gesetzes­ begriff zu sagen hatte. Aber gerade aufs Theoretische kommt es bei den staatsrechtlichen Studien zum Gesetzesbegriff eben nicht an. Ich wollte ursprünglich keine Bemerkungen über die Geschichte des Geset­ zesbegriffs machen, aber als ich las, was derzeit renommierte Autoren darü­ ber äußerten, sah ich mich doch zu Klarstellungen veranlasst. Das Kernstück der Arbeit wird natürlich sein müssen: darzustellen, was heute aus dem Ge­ setzesbegriff geworden ist. So einfach wie Kaegi kann man es sich nicht machen – es muss der ganze Komplex des Verhältnisses von staatlichem Recht zur politischen Wirklichkeit beachtet werden, sollen nicht blutleere (aber „juristische“?) Gebäude dabei herauskommen. Ich habe bereits einige Andeutungen darüber gemacht in der Besprechung der Schrift von Hennis,729 mehr darüber werde ich jetzt nicht mehr verlauten lassen (mir hat einmal 727  Auf dem außerordentlichen Landesparteitag der CSU im Juli 1957 in Nürnberg sagte Konrad Adenauer: „Nie darf die SPD zur Macht kommen. Ihr Sieg ist gleichbe­ deutend mit dem Untergang Deutschlands!“. 728  Albert Hänel (1833–1918), Staatsrechtler und liberaler Politiker, seit 1863 Prof. in Kiel. 729  Wilhelm Hennis (1923–2012), Jurist und Politikwissenschaftler, Schüler von Rudolf Smend, 1962 Ordinarius für politische Wissenschaft in Hamburg, seit 1967 in Freiburg. Schnur besprach: Wilhelm Hennis, Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, in: DVBL 72, 1957, H. 14 (Sonderdr. im Nl. Schmitt.).

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jemand etwas abgeschrieben!). Die Richtung meiner Untersuchung glaube ich als richtig bestätigt zu finden durch einen Aufsatz von Burdeau, der den aufregenden Titel trägt: Une survivance: la notion de Constitution.730 Bur­ deau scheint mir derjenige Mann in Europa zu sein, der die Lage des Staats­ rechts am besten erkannt hat. Freilich ist das schon keine Jurisprudenz im herkömmlichen Sinne mehr, aber ich frage: Was ist denn die Lehre vom Staatsrecht in einem Zeitalter, in dem die grundlegenden Begriffe brüchig geworden sind? Ob ich, wenn ich, wie angedeutet, verfahren werde, zur Handhabung des positiven Rechts konkrete Ergebnisse beisteuern kann, weiß ich noch nicht, obwohl Herr Forsthoff das gewiss gerne sehen würde. Aber wenn mir wirk­ lich eine genaue Analyse gelingen sollte, die ja sehr viel Kraft erfordert, weil sie eben nicht mit Hervorgebrachtem umgeht, sondern erst hervorbringen soll, etwas aus dunkel Geahntem hervorholen soll, ‒ wäre es möglich, dass ich keine Kraft mehr hätte, aus dem Dargestellten Schlüsse für die Behand­ lung von einzelnen Problemen des positiven Rechts zu ziehen. Ich müsste dann ja eben wieder in den magischen Kreis hineinspringen. In diesen Fragen wäre mir Ihr Rat außerordentlich wertvoll, und so werde ich mir erlauben, Ihnen in einigen Wochen die substantiierte Disposition des bisher Erreichten vorzulegen – wobei ich vielleicht die Kühnheit haben wer­ de, mit dem Wagen (wir haben uns einen billigen zugelegt) nach Plettenberg zu reisen. – Der Legisten-Aufsatz liegt noch immer bei Prof. Hoffmann in Münster, der die ZgesStW leitet.731 Er hat die Publikation schon um zwei Hefte verscho­ ben, mit der Begründung, die Unterbringung des umfangreichen Aufsatzes (37 Seiten) mache Schwierigkeiten. Kürzlich erhielt ich die Nachricht, dass er im Oktober erscheinen solle. Aber ich bin in dieser Sache nicht sicher. Wenn Sie bei Herrn Hoffmann irgendwie intervenieren könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Im halbfertigen Stadium lasse ich die Studie über die Institutionen einstwei­ len liegen, die große Arbeit geht vor. Gleichfalls bleibt im rohen Material liegen die Studie über völkerrechtliche Ideen der französischen Revolution, die ich in Paris begonnen hatte. Aber ich habe so viel gutes Material gefun­ den, dass ich sie später vollenden möchte, ‒ genau so wie eine Studie über die politische Bedeutung der Vertragstheorie, d. h. über die Zwecke, denen sie von Manegold von Lautenbach732 bis zu Rousseau diente. Dieses Thema 730  s.

unten, Nr. 141. G. Hoffmann (1903–1971), Prof. für Volkswirtschaftslehre in Münster, 1948 bis 1968 Mithrsg. der ZgesStW; 3 Briefe (1952–1953) im Nl. Schmitt. 732  Manegold von Lautenbach (um 1040–nach 1103), scholastischer Gelehrter, der im Investiturstreit entschieden die Position Papst Gregor VII. verteidigte; erstmals 731  Walther



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ist überaus schwierig zu bearbeiten, aber wenn man überhaupt die richtige Methode anwendet (die von Ihnen entwickelte nämlich), ist es nicht gar so arg. Sie sehen, sehr geehrter Herr Professor, dass ich einige Studien ausarbeiten kann, wenn mir der Sprung in Heidelberg glücken sollte. Freilich sind diese Studien auf Erkenntnis, nicht auf Auslegung gerichtet, und das ist es, was mir für die beruflichen Absichten Unbehagen bereitet. Aber ich meine, man müsste das Handwerk anderen überlassen, wenn man zur Theorie etwas bei­ tragen kann. Mit herzlichen Grüßen bin ich stets Ihr Ihnen sehr ergebener [hs.:] Roman Schnur 140. 1957-08-19 Carl Schmitt an Roman Schnur 151–152, hs.

Plettenberg, 19/8 57 Mein lieber Roman Schnur, besten Dank für Ihren Brief vom 14/8 und die (durch Dr. Gunst übermittelte) Einladung zu Ihrer Tagung in Saarbrücken.733 Ich kann natürlich dort nicht erscheinen, aber ich hoffe, dass die Tagung nach Ihren Wünschen verläuft. Am meisten freue ich [mich] darauf, dass Sie vielleicht bald nach Plettenberg kommen. Die Zuschrift Friesenhahn ist in Nr. 31 des Civis abgedruckt; er zitiert auch einen einzelnen Satz aus meinem Schreiben an Peter Schneider. Ich war ei­ nen Augenblick versucht, der Redaktion den vollständigen Text des Schrei­ bens zum Abdruck zu schicken; aber ich darf nicht den Eindruck machen, als wollte ich die Zuschrift einer Antwort würdigen. Wenn ein früherer Schüler und Assistent seinen 70jährigen Lehrer politisch in der Öffentlichkeit ver­ folgt und in aller Form zum „Feind des Rechtsstaates“ erklärt, ist das doch ein ekliges Schauspiel, an dem ich mich auch nicht durch Richtigstellungen oder Widerspruch beteiligen kann.

spricht er von der Absetzung eines seine Pflicht nicht erfüllenden Herrschers und gilt damit als Vorläufer der Theorie vom Herrschaftsvertrag. 733  Zur Tagung der IVR s. Nr. 137.

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Was Sie als Habilitationsschrift vorlegen, müssen Sie gut überlegen. Über den Gesetzesbegriff, insbesondere auch Hänel, wird E. Wolfgang Böckenför­ de ein Buch (seine Münstersche Dissertation) veröffentlichen, die Duncker & Humblot druckt (ohne Druckkostenzuschuss!).734 Die Arbeit Böckenfördes ist ausgezeichnet, geht aber leider nicht bis zur Gegenwart, sondern nur bis zum Höhepunkt des Positivismus, also Laband. Gestern hatte ich Besuch von dem Münsterschen Privatdozenten der Soziolo­ gie, J. Papalekas, der Prof. Hoffmann kennt und mit ihm wegen Ihres Aufsat­ zes sprechen will.735 Wo ist Burdeau’s Aufsatz Une Survivance erschienen, und könnten Sie ihn mir womöglich verschaffen?736 Ich brauche ihn sehr nötig. In Bd. VI seines Traité de Science politique kommt das Stichwort „survivance“ öfter vor; aber nicht so speziell mit Bezug auf den Begriff der Verfassung. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen eine Abschrift meines Schreibens an Peter Schneider geschickt habe und lege deshalb eine solche bei. Herzliche Grüße und Wünsche Ihres alten Carl Schmitt [Nachschrift:] Es würde mich interessieren, über Topitsch etwas zu hören, der einige viel­ versprechende Aufsätze veröffentlicht hat. 141. 1957-08-22 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14282, ms.

Mainz, den 22.8.1957 Hindenburgstraße 40

[darunter von C. S.:] b. 23/8 57

Sehr geehrter Herr Professor, Für Ihren liebenswürdigen Brief danke ich Ihnen herzlichst. Da die Biblio­ theken hier in Mainz Ferien machen, konnte ich die Zuschrift von Friesen­ hahn im Civis noch nicht lesen. Es ist in der Tat ein ekliges Verhalten dieses 734  s.

oben, Nr. 135. Chr. Papalekas (1924–1996), griech.-dt. Soziologe, habilitierte sich 1953 in Innsbruck, 1955 Abteilungsleiter an der Sozialforschungsstelle der Universi­ tät Münster in Dortmund, 1963 Prof. in Bochum; 24 Briefe, 10 Postkt, 2 Telegr. (1958–1978) im Nl. Schmitt. 736  s. unten, Nr. 141. 735  Johannes



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Herrn, das Sie so rügen. Aber es zeigt sich wieder: Man soll an übelwollende Menschen ganz kurz schreiben. Sie haben an Peter Schneider noch zu freundlich geantwortet, und dieser hat sich entsprechend dafür „bedankt“. Für Ihre Intervention bei Herrn Hoffmann über Herrn Papalekas, der mir über Kesting einen Aufsatz fürs Archiv versprochen hat, danke ich Ihnen vielmals. Das üble bei so langem Warten ist ja, dass die MSS von Mohr gleich gedruckt werden und dann, für den Autor meist unerreichbar, ein Jahr lang und mehr bei dem Verlag liegenleiben. So ist kürzlich ein kleines Buch über den Präsidenten Brisson erschienen, das ich jetzt nicht einmal mehr er­ wähnen kann: Ich las die Korrekturen bereits im Januar.737 Auf die Arbeit von E. W. Böckenförde bin ich sehr gespannt. Sie wird mei­ nen Absichten nicht sehr in die Quere kommen, allein schon wegen des von ihm gewählten Zeitabschnitts, sodann aber auch, weil ich annehme, dass ich ohnehin selbst über den behandelten Abschnitt der Geschichte des Gesetzes­ begriffs noch Neues sagen kann. Im übrigen ist der historische Teil nicht der Hauptteil meines Plans. Ich schicke Ihnen, wenn Sie wollen, gern den Aufsatz von Burdeau in der Mestre-Festschrift leihweise. Doch möchte ich Sie inständig bitten, die Kenntnis allein auszuwerten. Ich hatte bereits angedeutet, dass Joseph Kaiser seinerzeit das Ihnen überlassene Manuskript, das Sie ihm mit meiner Zustim­ mung überlassen hatten, ausgewertet hat, ohne in seinem Buche nur ein Wort des Dankes anzubringen. Selbst ein Hinweis auf mein Manuskript, das dann gleichzeitig mit seinem Buch erschien, ist nicht erfolgt. Wenn nun andere Leute aus den Leistungen französischer Denker Nutzen ziehen wollen, dann sollen sie sich um diese Denker bemühen und nicht meinen, der deutsche Schein-Positivismus sei der Höhepunkt politischen Denkens. Deshalb bitte ich Sie nochmals, den Burdeau-Aufsatz allein zu verwerten. – Herr Sladeczek wird Ihnen dieser Tage einen Sonderdruck seines Aufsatzes überreichen, der soeben im ARSP erschienen ist. Im nächsten Heft wird ein Aufsatz von Ernst Kern erscheinen, dem ein weiterer Aufsatz im übernächs­ ten Heft folgen soll. Beide Aufsätze halte ich für wichtig – ich darf Sie heute schon um Ihr Urteil bitten.738 – Vielleicht können auch Sie, sehr geehrter Herr Professor, Herrn Koselleck anregen, uns zum 15. November seinen Aufsatz über „Mensch und König“ 737  Paul Gambier, Au Temps de guerres de religion. Le président Barnabé Brisson ligueur (1531–1591), Paris 1957. – Barnabé Brisson (1531–1591), wurde 1580 Präsi­ dent des französischen Parlaments. 738  Heinz Sladeczek, Zum konstitutionellen Probelm des Widerstands, in: ARSP 43, 1957, S. 367–398. Ernst Kern, Zur heutigen Grundlagenproblematik des Verwal­ tungsrechts, in: ebd., S. 505–518.

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einzuschicken, der dann sofort publiziert werden wird.739 Herr Koselleck bedarf solcher Anstöße – sie lohnen sich stets sehr. Ich will ihm auch noch einmal in dieser Angelegenheit schreiben. Von Herrn Specht habe ich noch keine Antwort – auch Herr Stuke hat sich leider noch nicht auf meine Frage, ob er einen Aufsatz über Lorenz von Stein bringen kann, erklärt. – Über Herrn Topitsch kann ich Ihnen noch nichts Näheres mitteilen, aber ich werde mich gewiss in Saarbrücken länger mit ihm unterhalten können. Er hat soeben im Archiv Voegelins großes Werk t[ome] I kritisch rezensiert.740 Mit den besten Grüßen stets [hs.:] Ihr Roman Schnur 142. 1957-08-23 Carl Schmitt an Roman Schnur 149–150, hs., Postkt.

23/8 57 L. R. S., vielen Dank für Ihr Schreiben; für die leihweise Überlassung des Aufsatzes von Burdeau wäre ich Ihnen sehr dankbar; ich verspreche Ihnen gern, ihn für mich allein zu verwerten; mein akutes Interesse teile ich Ihnen gelegentlich einmal mündlich mit. Handelt es sich bei der Verwertung Ihres Ms. durch J[osef] K[aiser] um die Stellen in seinem Buch „[Die] Repr[äsentation] org[anisierter] Int[eressen]“ über Maxime Leroy, oder worum? Es würde mich interessieren. Den Civis Nr. 31 müssen Sie sich bei Gelegenheit anse­ hen; ich möchte auch wissen, wie Altmanns Antwort auf Sie wirkt. Auf die beiden Aufsätze von Sladeczek und E. Kern bin ich begierig. An Koselleck schreibe ich gleich; er hat übrigens einige außerordentlich bedeutende Buch­ besprechungen (über Eyck und Harrington) veröffentlicht; leider an wenig sichtbarer Stelle.741 Herrn Topitsch742 habe ich 1956 meine Schrift Land u. 739  Im Nachlass Kosellecks findet sich ein Konvolut zum Thema „Mensch und König“, ein Aufsatz wurde daraus nicht, auch wenn Schmitt ihn in einem Brief vom 23. Aug. 1957 nachdrücklich dazu ermunterte; vgl. BW Koselleck, S. 141 f. 740  s. Nr. 124. 741  Reinhart Koselleck besprach: Erich Eyck, Geschichte der Weimarer Republik, Bd. 2: Von der Konferenz von Locarno bis zu Hitlers Machtübernahme, ErlenbachZürich und Stuttgart 1956, in: Ruperto Carola 9, 1957, S. 269–270; sowie: Review of the political writings of James Harrington and of Richard Peters, in: NPL 2, 1957, S. 288–293.



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Meer geschickt, mit dem Hinweis darauf, dass terrane Völker soziomorph, maritime technomorph denken; doch hat er nicht reagiert; vielleicht aus Angst. Zu dem Thema „Mensch und König“ fällt mir ein, dass George Schwab743 einen (gegen Leo Strauß gerichteten) Aufsatz plant, unter dem Titel: homo homini homo. Die Arbeit von Wolfg. Böckenförde wird Ihnen nicht im Wege stehn; im Gegenteil wahrscheinlich sehr willkommen sein; er kommt Anfang September von Berlin zurück und wird dann in Münster ar­ beiten. Herzliche Grüße Ihres Carl Schmitt 143. 1957-08-24 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14283, ms. [Auf Rücks. stenogr. Notizen von C. S.]

Mainz, den 24.8.1957 Hindenburgstraße 40 Sehr geehrter Herr Professor, Auf Ihre Karte, für die ich vielmals danke, möchte ich antworten: Inzwischen habe ich „Civis“ Nr. 31 gelesen. Der Brief von Peter Schneider ist ein hilflo­ ser Versuch, die treffende Kritik von Altmann mit einem Witz abzutun. Frie­ senhahns Brief ist für mich der massivste Versuch persönlichen Terrors, den ich bisher in Deutschland erlebt habe (die Zeit vor 45 ist mir ja nicht be­ wusst). In Anbetracht dieses Umstands ist die Antwort darauf ein Beweis großen Mutes. Freilich war es nicht leicht, sich dadurch dem Angriff Friesen­ hahns zu entziehen, dass man sagte, man befasse sich nur mit dem Buche Peter Schneiders. Aber die Antwort finde ich taktisch klug – was sollte Herr Altmann nun mit Friesenhahn über Sie streiten? Jedenfalls liest sich die Ant­ wort Altmanns als eine gehörige Abfuhr für Friesenhahn – und das ist hier das Entscheidende.744 742  Im

Orig. „Topić“. Schwab (geb. 1931), amerikan. Politikwissenschaftler und Politikbera­ ter, Prof. in New York, Schmitt-Übersetzer. Seine Promotion an der New Yorker Co­ lumbia-Universität scheiterte an Otto Kirchheimer und konnte erst nach dessen Tod 1965 erfolgen. Schwab besuchte Schmitt öfter in Plettenberg und wurde zu seinem Freund und Wegbereiter in den USA; 187 Briefe, 13 Postkt., 2 Telegr. (1956–1984) im Nl. Schmitt. 744  Rüdiger Altmann hatte in Civis (Nr. 31, Juli 1957) direkt auf die Kritik Frie­ senhahns geantwortet: in der Besprechung sei es nicht um „das moralische Problem Carl Schmitt“ gegangen, sondern um die Qualität des Buches von P. Schneider. 743  George

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Bei dem erwähnten Manuskript von mir handelt es sich um den Leroy-Auf­ satz. Die Festschrift für Achille Mestre enthält etliche gute Beiträge, die für mich sehr wichtig sind. Bei dem Anblick der Photographie Mestres und der Lek­ türe des Porträts des Gelehrten wird einem wieder klar, welch ein Unter­ schied in der Regel zwischen deutschen und französischen Juristen besteht, vor allem in der Auffassung von Begriffen wie Individuum und Gemein­ schaft. – Herr Rivero sagte mir einmal in Paris, er erinnere sich gut an Ihren Besuch einer Tagung des Institut International de Droit Public, wo sich Sie mit Herrn Mestre gut unterhalten hätten. Ich kann die Festschrift einige Wochen entbehren. Selbst wenn Sie sie noch länger benutzen wollen, so stört das mich keinesfalls, weil ich die Festschrift für die Hochschule in Speyer angeschafft habe, wo ich sie jederzeit zu mei­ ner Verfügung habe. Die Besprechung brauche ich erst im Frühjahr nächsten Jahres abzuliefern. Mit den besten Grüßen bin ich stets Ihr [hs.:] Roman Schnur 144. 1957-09-14745 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14284, hs., Ansichtskt. „Burg Hochosterwitz, Kärnten“

[o. D.] Herzliche Grüße von einer sehr schönen Ferienreise durch Kärnten sendet Ihnen Ihr Roman Schnur

745  Poststempel.



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145. 1957-09-20746 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14285, hs., Ansichtskt. „Stift Heiligenkreuz, Keuzgang“

[o. D.] Herzliche Grüße vom Besuch des Stiftes Heiligenkreuznach [!], wo die Ba­ benberger begraben liegen, sendet Ihnen Ihr Roman Schnur 146. 1957-10-18 Carl Schmitt an Roman Schnur 155, hs.

18/10 57 Lieber Roman Schnur, herzlichen Dank! Auch für die schönen Karten aus Kärnten! Hoffentlich ha­ ben Sie sich gut erholt! Wie war die Tagung in Saarbrücken? Beste Grüße Ihres alten Carl Schmitt 147. 1957-10-19 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14286, ms.

Mainz, den 19.10.1957 Hindenburgstraße 40 Sehr geehrter Herr Professor, Zunächst erlaube ich mir, Ihnen kurz mitzuteilen, wie der Kongress in Saar­ brücken verlief. Eines vorweg: Nach der Meinung etlicher Teilnehmer war der Kongress sowohl für die Sache als auch für die IVR ein Erfolg. Die Auswahl der Redner, meine und Herrn Viehwegs Sache, war ziemlich glück­ lich. Die Höhepunkte waren in der Tat die Vorträge von Gehlen und Topitsch.

746  Poststempel.

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Die Diskussion blieb am Thema, Herr Laun leitete sie vorzüglich.747 Aus dem östlichen Teil Europas waren Polen und Jugoslawien vertreten.748 Sehr aufschlussreich war, dass nun niemand versuchte, die doch überall bemerk­ bare politische Einstellung des Anderen, gleich welcher Richtung, in der Diskussion zu widerlegen – jene Bekehrungsversuche, die auf wissenschaft­ lichen Kongressen so widerlich wirken. Man diskutierte offen, ja freundlich zur Sache, ob rot oder schwarz, prominent oder jung. Gerade dass sich keine Cliquen bildeten, halte ich für einen großen Vorzug des Kongresses. Die In­ ternationalität, die Herr Viehweg und ich im Archiv anstreben, kam auch auf dem Kongress zum Tragen. Damit will ich nicht sagen, dass es zu gefühlsdu­ seligen Verbrüderungen gekommen sei. Es gab wirklich Augenblicke, wo man erkennen konnte, dass auch die Rechts- und Sozialphilosophie eine in­ ternationale Wissenschaft ist. Wichtig war auch die Möglichkeit für jüngere Leute, Verbindung untereinander aufzunehmen. Leider fehlten Koselleck, Scheibert, Sombart und Kesting. Koselleck war in Ferien, Sombart „machte in Europa“.749 Von den „alten Leuten“ (Spranger, Kaufmann usw.) war natürlich niemand erschienen – Laun gehört ja zu keiner Clique, und dass Herr Emge kam, war ja zu erwarten, aber er trat nicht auf. Auch fehlten Coing,750 Fechner,751 Wolf,752 Engisch753 – man sollte eigentlich geneigt sein zu fragen, wer denn nun dort gewesen sei. Vielleicht ist die Antwort, die ich auf diese Frage vor­ wegnehmen möchte, die: Es kamen zum guten Teil Nonkonformisten und nur sehr wenige, die sich von der Teilnahme irgendeinen persönlichen Vorteil versprachen. Mir scheint es sehr wichtig zu sein, diesen Zug zu bewahren. Ich hoffe auch, dass der nächste Kongress, der 1959 (in Wien?) stattfinden wird, im gleichen Geiste verlaufen wird. Die IVR hat nunmehr Mitglieder in 27 Staaten, sie hat die Zahl der Mitglie­ der, die, bevor ich eine Arbeit begann, 91 betrug, auf über 240 erhöht. Davon 747  Rudolf Laun (1882–1975), seit 1919 Prof. für Öffentliches Recht in Hamburg, daneben auch Richter, von 1957 bis 1959 Vorsitzender der IVR. – Vgl. zum Folgen­ den auch den „offiziellen“ Bericht in: ARSP 43, 1957, S. 575–578. 748  Von C. S. „Jugoslawien“ unterstr. und am Rand: „Sava“ [Klicković]. 749  Nicolaus Sombart hatte seine wissenschaftlichen Ambitionen aufgegeben und lebte seit 1954 als Beamter beim Europarat eine „Form des Parasitentums“; BW Sombart, S. 66. 750  Helmut Coing (1912–2000), seit 1941 Prof. für Bürgerliches und Römisches Recht in Frankfurt a. M. 751  Friedrich Fechner (1902–1964), seit 1954 Richter am Bundessozialgericht. 752  Erik Wolf (1902–1977), Rechtsphilosoph, Straf- und Kirchenrechtler, seit 1930 Prof. in Freiburg. 753  Karl Engisch (1899–1990), Strafrechtler, seit 1953 Prof. in München; 3 Briefe (1951–1960) im Nl. Schmitt.



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fällt ein hoher Prozentsatz aufs Ausland. Das Archiv hat sich weiter entwi­ ckeln können, die Zahl der Abonnements liegt bereits erheblich über 400 – wenn ich richtig gezählt habe. Der Kongress hat natürlich unsere Bemühun­ gen erleichtert, den Mitarbeiterkreis noch zu vergrößern. Wir hoffen, im nächsten Jahrgang u. a. Berichte aus Portugal (Cabral de Moncada), Belgien, Jugoslawien, Italien und Polen bringen zu können. Mit Herrn Specht und Herrn Stuke habe ich nun feste Vereinbarungen getrof­ fen – wir werden, wie bisher, dem Nachwuchs das Archiv offen halten. – Meine eigene Arbeit geht langsam, aber gottlob auch stetig voran. Der Senat der Hochschule hat unsere Beschäftigung im Wintersemester dankenswerter­ weise so geregelt, dass wir Assistenten, die sich habilitieren wollen, diesmal unsere Arbeiten ohne Unterbrechung fortsetzen können. Ich selbst werde möglicherweise ein Vorergebnis, besser: ein Nebenprodukt ausfällen, und zwar in einem kleinen Vortrag, den Herr Krauss in Köln oder Düsseldorf organisieren will. Doch bin ich noch im Zweifel, ob ich so Unreifes anbieten darf: Es sei denn, der bewusste Kreis ist sehr klein, so dass es mehr zu einem Gespräch denn zu einem Vortrag kommen könnte. Es fällt mir schwer, Sie zu bitten, mir demnächst die Mestre-Festschrift zu­ rückzuschicken. Ich benötige sie in den nächsten Wochen, und zwar auch deshalb, weil ich das Speyerer Exemplar während des Semesters nicht den Referendaren entziehen möchte. Mit den besten Grüßen stets Ihr [hs.:] Roman Schnur 148. 1957-11-02 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14287, ms., Postkt.

Mainz, den 2.11.1957 Hindenburgstraße 40 Sehr geehrter Herr Professor, Soeben las ich Herrn Forsthoffs Besprechung des Schneiderschen Buches.754 Ich kenne mich nun in dieser Sache nicht mehr aus. Da ich nicht weiß, ob die Besprechung Hintergründe hat, die zu erfahren für mich, in einem Ge­ spräch mit Herrn Forsthoff, sehr wichtig ist, wäre ich Ihnen sehr dankbar, 754  In:

HPB 5, 1957, S. 307–308.

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wenn Sie mir über diese Besprechung eine entsprechende Aufklärung zu­ kommen lassen wollten. Mit ergebenen Grüßen Ihr [hs.:] Roman Schnur 149. 1957-11-05 Carl Schmitt an Roman Schnur 154, hs., Ansichtskt. „The strangers gallery, House of Commons“

5/11 57 L. R. S., ich habe die Besprechung von Forsthoff noch nicht gelesen; er sagte mir einmal vor einigen Wochen, dass es ihm leid tue, die Besprechung von Alt­ mann nicht gekannt zu haben.755 Schreiben Sie ihm doch offen Ihren Ein­ druck. Das wird das Richtige sein und ihn bestimmt nicht ärgern. Ich werde ihn erst Mitte Dezember wiedersehen. Haben Sie sein Gutachten zur Verf. Beschwerde gegen das Umsatzsteuergesetz (Anwalt: Adolf Arndt) gelesen.756 Soll ich sie [sic!] Ihnen schicken? Herzliche Grüße Ihres alten Carl Schmitt

755  Zu seiner Rezension des Schneider-Buches schrieb Forsthoff am 8. Juli 1957 an Schmitt: „Ich habe sein Buch für das Historisch-politische Buch besprochen und ärgere mich nun doch, daß ich ihn zu nobel behandelt habe …“; BW Forsthoff, S. 131. 756  Der Unternehmer Wilhelm Schulte aus Lüdenscheid klagte gegen das Umsatz­ steuergesetz, das für jede Fertigungsstufe eine Steuer vorsah und damit die weiterver­ arbeitende und zuliefernde Kleinindustrie benachteiligte (frdl. Mitteilung von Gerd Giesler). Vgl. Verortung des Politischen. Carl Schmitt in Plettenberg, Hagen 1990, S. 58 f.; BW Forsthoff S. 132.



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150. 1957-11-10 Carl Schmitt an Roman Schnur 156–157, hs.

Plettenberg, 10/11 57 Lieber Roman Schnur, hier schicke ich Ihnen eine Abschrift des Rundfunkvortrags von Walter War­ nach; die eingeklammerten Stellen sind weggeblieben, weil der geschriebene Text des Vortrags die vorgeschriebene Zeit um 6 Minuten überschritt.757 Die Sendung ist vom Süddeutschen Rundfunk Stuttgart am 9. Oktober abends auf UKW und 22.45 auf Mittelwelle (oder umgekehrt) gebracht worden; ich habe sie aber nicht selber gehört. H. J. Arndt sagte mir, dass Sie Interesse für den Vortrag haben. Altmann fand ihn gut, nur den Anfang unzweckmäßig (Verwendung des Feindbegriffs als Ausgang), und die Erwähnung des Schuldbekenntnisses überflüssig. Leider habe ich Forsthoffs Besprechung noch nicht; ich schicke (oder gebe) Forsthoff aber eine Abschrift des beil. Vortrages. Von Münster (H. J. Wolff) habe ich eine Einladung zum 19. November erhal­ ten: konstituierende Sitzung der Westf. Sektion V Rphi. [Rechtsphilosophie der IVR]. Es ist wohl besser, wenn ich nicht hingehe. Am 13. Dezember bin ich in Heidelberg (Hochzeit von Anima);758 dann sehe ich Forsthoff. Haben Sie den (sehr wichtigen) Aufsatz von E. W. Böckenförde über Kirche und Demokratie im Hochland gelesen? (Spitzenaufsatz zur Eröffnung des 50. Jahrgangs!!).759 Sie werden jetzt viel Arbeit haben. Aber gelegentlich könnten Sie mir, wenn es sich gerade ergibt, vielleicht folgenden Gefallen tun: ich habe am 29. Ja­ nuar d. J. einem Referendar namens Hans Wilms,760 der in Speyer ein Referat 757  Walter Warnach besprach: Peter Schneider, Ausnahmezustand und Norm; ­ yposkr. im Nl. Schmitt (RW 265–20165), in span. Übers. veröff. in: Revista de Estu­ T dios políticos, Mai-Juni 1958, S. 230–236. Die Sendung wurde am 9. Okt. um 20.15 auf UKW und 22.45 auf Mittelwelle ausgestrahlt (frdl. Hinweis von A. Reinthal); vgl. Brief Warnachs an Schmitt vom 6. Okt. 1957 (RW 265–17566) sowie unten, Nr. 158 und Schmittiana IV, S. 227–248. 758  Schmitts Tochter Anima heiratete den spanischen Juristern Alfonso Otero; die standesamtliche Trauung fand am 9. Dez. in Plettenberg statt, die kirchliche vier Tage später in der Heidelberger Schlosskapelle. 759  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche, in: Hochland 50, 1957, S. 4–19. 760  Hans Wilms; 2 Briefe (1957 und 1958) im Nl. Schmitt.

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1957 – Roman Schnur an Carl Schmitt

über Amnestie zu halten hatte, auf seine Bitte mein letztes Exemplar des Aufsatzes: Amnestie die Kraft des Vergessens geschickt; einen Ausschnitt aus dem „Fortschritt“; der Aufsatz ist aber auch in Christ u. Welt und im Sonntagsblatt (von Lilje) erschienen;761 und hatte Herrn Wilms gebeten, mir das Exemplar nach Gebrauch zurückzuschicken. Er hat mir aber weder den Empfang bestätigt, noch das Exemplar zurückgeschickt. Ich finde das nicht höflich von ihm, wobei ich mir bewusst bin, dass ich im heutigen Deutsch­ land nicht darauf rechnen kann, höflich behandelt zu werden, wenn ich je­ mandem einen Wunsch erfülle. Immerhin ist das Exemplar aus verschiedenen Gründen für mich wichtig. Können Sie – ohne Aufhebens von der Sache zu machen – feststellen, ob es noch möglich ist, das Exemplar zurückzuerhal­ ten? Es liegt mir wirklich nur an dem Exemplar, nicht etwa an dem Beneh­ men des mir unbekannten Herrn Wilms. Herzliche Grüße und Wünsche Ihres alten Carl Schmitt 151. 1957-11-25 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14288, ms.

Mainz, den 25.11.1957 Sehr geehrter Herr Professor, Haben Sie herzlichen Dank für Ihre liebenswürdigen Zeilen. Ich werde so­ gleich an Herrn Wilms schreiben, der ein sehr ungehobelter Bursche zu sein scheint. Inzwischen erhielt ich vom Südd. Rundfunk ebenfalls den Text der WarnachSendung, den ich umgehend an Herrn Professor Stödter nach Hamburg ge­ schickt habe. Leider liegt mir der Text des zweiten Friesenhahn-Briefes an „Civis“ nicht vor – Herr Stödter würde diesen Brief auch gerne lesen.762 761  Dieser Aufsatz, mit dem Schmitt schon in der Überschrift seine Aussage zu präzisieren sucht, ist zuerst anonym unter dem Titel „Amnestie – Urform des Rechts“ in der Zeitung Christ und Welt vom 10. Nov. 1949 erschienen, mit Korrekturen dann unter dem Titel „Amnestie ist die Kraft des Vergessens –Wann werden wir den Bür­ gerkrieg beenden?“ im Sonntagsblatt vom 15. Jan. 1950, darauf unter dem Titel „Das Ende des kalten Bürgerkrieges. Im Zirkel der tödlichen Rechthaberei – Amnestie oder die Kraft des Vergessens“ in: Der Fortschritt vom 5. Okt. 1951 (jetzt unter dem Titel „Amnestie oder die Kraft des Vergessens“ in: SGN, S. 218–221). 762  Von Schmitt „zweiten“ unterstrichen und Fragezeichen am Rand. Einen zwei­ ten Brief Friesenhahns gab es nicht.



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Herrn Forsthoff habe ich noch nicht getroffen. Sollte ich ihn demnächst se­ hen dürfen, so würde ich versuchen, das Gespräch auf die bisherigen Bespre­ chungen des Schneider-Buches zu lenken. Inzwischen habe ich die Meinung gehört, es sei vielleicht besser gewesen, wenn Herr Forsthoff, als einer Ihrer besten Schüler, überhaupt nicht dieses Buch besprochen hätte. Herr Böckenförde hatte die Güte, mir heute einen Sonderdruck seines Auf­ satzes im „Hochland“ zu schicken. Ich werde ihm meine Meinung zu diesem Aufsatz mitteilen, wobei ich glaube, dass ich im Wesentlichen zustimmen kann. Leider kann ich seine Dissertation nicht selbst besprechen. Wie ich glaube, sitzen noch mehr Leute an Arbeiten über Probleme des Gesetzesbe­ griffes, denen ich nicht gerne meine Meinung vor der Zeit bekannt geben möchte. Ich kenne nämlich inzwischen die Methoden, mit denen man hierzu­ lande arbeitet, sodass ich vorsichtiger geworden bin, zumal es ja noch einige Zeit dauern wird, bis ich mit meinen Studien fertig bin. Ich bin nun soweit, dass ich die rohe Darstellung bis zum deutschen Positivismus fertig habe. Inzwischen habe ich erkannt, wie wichtig es ist, die Zeit vor 1830 zu studie­ ren – in wichtigen Punkten sind hier die Grundlagen zum Gesetzesbegriff gelegt worden, die zu erkennen für die weitere Entwicklung unerlässlich ist. Das gilt vor allem im Hinblick auf Rousseau. Wenn man nicht erkennt, wel­ che Bedeutung die „Allgemeinheit“ des Gesetzes bei ihm hat, gelingt es nur unter größten Mühen, die Entwicklung dieses Merkmals zu verstehen. Da ich annehme, dass Herr Kern Ihnen inzwischen einen Sonderdruck seines kürzlich im Archiv erschienenen Aufsatzes geschickt hat,763 möchte ich Sie bitten, mir Ihre Meinung darüber bei Gelegenheit mitzuteilen. Die Redaktion hatte mit dem Manuskript große Mühe. Inzwischen wirkt sich [das] Echo aus, das wir gefunden haben. Wir erhalten etliche Angebote von guten Manuskripten, so dass wir wählerisch sein kön­ nen (von Hypotheken abgesehen, die erst mit dem Tode des Betreffenden erlöschen). So hat uns G. Burdeau ein Manuskript in Aussicht gestellt, eben­ so R. Polin. Herr Krauss will das berühmte Kapitel näher analysieren, in dem Montesquieu sich mit der Stellung der Justiz beschäftigt. Da auch Herr Papa­ lekas ein Manuskript (über Pareto) zugesagt hat und wir im Frühjahr auf die Beiträge der Herren Koselleck, Stuke und Specht warten können, werden wir im nächsten Jahrgang einige gute Beiträge bringen können. Ich hoffe, dass wir mit dem kommenden Band endlich den magischen Kreis der zufällig Interessierten verlassen können und zu einem überall unübersehbaren Blatt werden. Freilich hängt das auch vom Eingang der Manuskripte ab, und da­ rauf haben wir leider nur einen bescheidenen Einfluss.

763  Strich

und Notiz von Schmitt am Rand. Zum Aufsatz Kerns s. Nr. 141.

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1957 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Es ist m. E. schade, dass Sie nicht nach Münster gegangen sind. Ich meine, die dortige Sektion wird einen guten Start haben und so arbeiten, wie es sich gehört. Soviel mir bekannt ist, sind Sie gerade in Münster stets willkommen, und was will man dagegen tun, wenn die Sektion in Münster Sie aufnimmt? Überdies ist die Teilnahme an den Diskussionen einer Sektion ja nicht mit der Aufnahme in die IVR verbunden. Am nächsten Samstag treffe ich wieder Herrn Hennis, der zu uns nach Mainz kommt, um mit Herrn Viehweg und einigen Mainzer Bekannten zu diskutie­ ren. Mit den besten Grüßen bin ich stets Ihr [hs.:] Roman Schnur 152. 1957-12-12 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14289, ms.

Speyer, den 12.12.1957 Sehr geehrter Herr Professor, Ein Zufall wollte es, dass ich vor kurzem hier in Speyer Herrn Wilms traf, dem Sie den Artikel über die Amnestie überlassen hatten. Ich stellte ihn we­ gen seiner Unhöflichkeit zur Rede. Daraufhin versprach er mir, Ihnen sofort zu schreiben und den Artikel zurückzuschicken. Sollte er das bis jetzt noch nicht getan haben, so bitte ich Sie, mich das wissen zu lassen. – Vorgestern durfte ich ein längeres Gespräch mit Herrn Forsthoff führen. Wir sprachen vor allem über meine Arbeit, wobei ich ihm über das berichtete, was ich bisher erarbeitet habe. Ich glaube, dass Herr Forsthoff mit dem, was ich ihm mitteilte, zufrieden war. Mir hat die Anteilnahme von Herrn Forst­ hoff sowohl an meiner Arbeit als auch an meinen Absichten sehr wohl ge­ tan – Hier in Speyer besteht zwischen den Professoren und den Assistenten kein Kontakt, den man persönlich nennen könnte, wenn ich von Herrn Scha­ eder absehe.764 Hingegen kann ich mich mit den Herren Gehlen und Bülck765 (dessen eigentlicher Assistent erst im Frühjahr kommt) gut unterhalten. Ist es nicht etwas befremdend, dass z. B. Herr Menger sich bis heute noch nicht 764  Reinhard Schaeder (1905–1980), seit 1952 Prof. und Direktor des Wirtschafts­ wissenschaftlichen Instituts der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. 765  Hartwig Bülck (1912–1985), Prof. für Öffentliches Recht in Speyer; 1 Brief (1961) im Nl. Schmitt.



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bemüht hat, seinem Assistenten zu helfen, an einer Fakultät als Habilitand angenommen zu werden? Um so mehr freue ich mich dann, wie Sie gewiss verstehen können, auf jedes Gespräch mit Herrn Forsthoff. In diesen Tagen diktiere ich die erste Fassung des 1. Teils der Arbeit nieder – es handelt sich um knapp 50 Seiten. Ich wäre schon weiter vorangekommen, wenn Herrn Böckenfördes Arbeit vorliegen würde. Denn ich nehme an, dass es wenig Sinn hat, die Erörterungen über den Gesetzesbegriff des 19. Jh.ʼs zu fixieren, ohne Herrn Böckenfördes Arbeit von vorneherein zu berücksichti­ gen. Da ich davon ausgehe, dass dieses Buch bald erscheinen wird, hoffe ich, den zweiten Teil bis zum Ende des Semesters im Rohentwurf fertig zu haben. Bis zum Herbst könnten dann die Linien der gesamten Arbeit erkennbar sein, so dass sie 1959 abgeschlossen werden kann. Zwischendurch überarbeite ich die niedergeschriebenen Teile fortlaufend, wobei mir die kritische Lektüre von Herrn Viehweg von Nutzen sein wird. Gegen Ende dieses Semesters kann ich mit Herrn Gehlen eingehend über die Auswertung der soziologi­ schen Arbeiten über die Gegenwart sprechen – ich kann mich dadurch gegen schlimmste Fehler abschirmen. Vielleicht kann ich es erreichen, dass Herr Conze mir eine Aussprache gewährt. Damit würde ich dann weitere Siche­ rungen einbauen können. Die Beschaffung der Literatur geht verhältnismäßig glatt vonstatten. Wir haben hier in Speyer einiges, den Rest hole ich mir über die Fernleihe. Mög­ licherweise reise ich am Ende des Semesters für 10 Tage nach Paris, um dort gewisse Lücken in der Literatur zu schließen. Immerhin besitze ich selbst etliche einschlägige Werke, was die Arbeit natürlich erheblich erleichtert. Ich würde mich außerordentlich freuen, wenn ich Sie bei einem Ihrer Besu­ che im Raum Frankfurt-Heidelberg treffen dürfte, um mit Ihnen einige Pro­ bleme meiner Arbeit zu besprechen. Da ich ein Auto fahre, könnte ich Sie auch außerhalb von Mainz besuchen. Mit den besten Grüßen Ihr Ihnen stets ergebener [hs.:] Roman Schnur

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1958 – Carl Schmitt an Roman Schnur

153. 1958-05-06 Carl Schmitt an Roman Schnur 158–159, hs.

Plettenberg, den 6. Mai 1958 Lieber Herr Dr. Roman Schnur, zuerst meine herzliche Begrüßung für den kleinen Hans Ludwig, der sich so mutig auf unsern chaotischen Planeten gewagt hat!766 Hoffentlich erlebt er Zeiten, in denen die Erinnerung an unsere heutigen und gestrigen Absurditä­ ten nur noch wie ein Märchen wirkt! Und hoffentlich erfreuen sich heute schon Mutter und Kind der besten Gesundheit. Ich gratuliere Ihnen allen herzlich, mit vielen Wünschen und Empfehlungen. Ich bin Ihnen, lieber Roman Schnur, seit langem eine Antwort schuldig, vor allem auf Ihr und Prof. Ules Gutachten zu dem „Beförderungsschnitt“.767 Mir scheint, dass die institutionelle Garantie nicht recht überzeugt. Darüber wollte ich Ihnen seit Wochen schreiben, aber ich fand den Antrieb nicht. Die Fertigstellung der Sammlung verfassungsrechtlicher Aufsätze für Duncker & Humblot, die jetzt endlich erschienen ist, hat mich ganz in Anspruch genom­ men; insbesondere war das systematische Sachregister eine Heidenarbeit; dazu zahlreiche „Bemerkungen“, die das Ganze zu einem neuen Typ von Buch machen und deren Dosierung und Stilisierung ein Problem von unvor­ stellbaren Schwierigkeiten enthält. Ich habe den Verlag gebeten, Ihnen gleich ein Exemplar zu schicken. In den Monaten Juni, Juli, August werde ich in Spanien bei meiner Tochter Anima sein. Das Reisen wird mir immer schwerer, aber diese Reise kann ich nicht gut verschieben. Ich freue mich auf das Wiedersehen mit meinem Kind und meinem Schwiegersohn (ein solcher heißt auf Spanisch: hijo politico!) und hoffe mich am Meer in der Nähe von La Coruña und Cap Finisterre auszuruhen. Im übrigen mache ich in meinem Alter keine Pläne mehr. Der Tod von Friedrich Giese und Alfred Weber belehrt mich über meine wirk­ liche Situation. Alfred Weber gehörte zu meinen Verfolgern, aber diese haben ja auch ihre Rolle im Spiel der List der Idee.768 766  Hans-Ludwig Schnur, der Sohn von Roman und Hannelore Schnur, wurde am 25. April 1958 geboren. 767  Carl Hermann Ule, Die Institution des Berufsbeamtentums und der Gesetzge­ ber. Zur Verfassungsmäßigkeit des § 110 BBG (Beförderungsschnitt) (Beamtenrecht­ liche Schriftenreihe der Deutschen Postgewerkschaft, 2), Frankfurt a. M. 1958 (Exem­ plar im Nl. Schmitt, RW 265–26092).



1958 – Carl Schmitt an Roman Schnur301

Was arbeiten Sie jetzt, und wie steht es mit Ihrer Habilitation? Die verfas­ sungsrechtliche Diskussion flammt immer von neuem auf, und manchmal wirkt in meiner eben erschienenen Sammlung der alte Aufsatz-Text von 1932 aktueller als die 1957 hinzugefügte „Bemerkung“. Aber diese Aktualität ist nicht immer angenehm. Wenn man in den Drucksachen des Bundestages der 23., 25. und 26. Sitzung vom 18., 24. und 25. April die Erörterung des An­ trags auf Volksbefragung liest, kann man die Angst bekommen, angesichts der gegenseitigen Diffamierungen. Wenn das die législateurs unter sich ma­ chen, was soll dann ein wehrloser und diskriminierter Intellektueller erwar­ ten, der durch seine Kassandra-Rolle zum Sündenbock geradezu prädestiniert ist und auf dessen Kosten sich jeder selbstaufwertungsbedürftige Schwätzer einen risikolosen Mehrwert verschaffen kann. Ich habe vor, Anfang Juni von Frankfurt aus nach Madrid zu fliegen. Viel­ leicht können wir uns dann noch einmal sehen, was für mich eine aufrichtige Freude wäre. Ich gratuliere Ihnen und Ihrer Frau nochmals zu Ihrem Stammhalter und bleibe mit den besten Grüßen und Wünschen Ihr alter Carl Schmitt [Nachschrift:] In der Sammlung meiner „Verfassungsrechtlichen Aufsätze“ sind mehrere Ausführungen und Bemerkungen zum Thema „institutionelle Garantie“; auch ein Hinweis auf Ihren Plan, über Institution zu schreiben,769 ferner eine Äu­ ßerung des Unwillens über die bei Soziologen und evangelischen Theologen Mode gewordene Beliebtheit des Wortes Institution (ähnlich wie heute alles „legitim“ sagt, statt „legal“ und dadurch das dringende Problem verflacht).

768  Alfred Weber (1868–1958), Nationalökonom und Soziologe, seit 1907 Prof. in Heidelberg. Im Unterschied zu seinem Bruder Max schätzte Schmitt ihn wenig; vgl. BW Sombart, S. 84. 769  „Roman Schnur hat eine Untersuchung des Themas in Aussicht gestellt.“ (VA, S. 172).

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1958 – Roman Schnur an Carl Schmitt

154. 1958-05-22 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14290, ms.

Speyer, den 22. Mai 1958

[stenogr. Notizen von C. S. am Rand]

Sehr geehrter Herr Professor, Bitte verzeihen Sie mir, dass ich Ihren liebenswürdigen Brief mit einer gera­ dezu skandalösen Verspätung beantworte. Meine Frau und ich danken Ihnen herzlich für Ihre Glückwünsche. Der Sohn gedeiht so, wie man es sich nur wünschen kann.770 Auch danke ich Ihnen vielmals für die ehrenvolle Übersendung der Samm­ lung Ihrer Aufsätze, auf die ich außerordentlich gespannt bin. Diese Samm­ lung ist sicherlich außerordentlich wertvoll. Sie erleichtert das Arbeiten in Ihrem Werk sehr. Ich gebe gerne zu, dass der Begriff der institutionellen Garantie in dem Gut­ achten vielleicht weiter angewendet worden ist, als man dies bisher getan hat. Die Grenzen sind, wie ich meine, in dergleichen Fällen fließend. Aber ich glaube, dass es besser ist, sie ziemlich weit nach vorne zu legen, damit man unter Umständen sie immer noch auf ein erträgliches Maß zurückneh­ men kann. Bei den derzeitigen Spannungen um das Berufsbeamtentum scheint mir eine solche Denkweise eine Berechtigung zu haben. Was meine Habilitationsarbeit angeht, so kann ich berichten, dass ich nun­ mehr etwa die Hälfte des Geplanten im Entwurf fertiggestellt habe. Im Laufe des Semesters hoffe ich die Überlegungen über die andere Hälfte der Thema­ tik so weit ausreifen lassen zu können, dass ich gleich nach Semesterende mit der Niederschrift des Entwurfs beginnen kann. Ich glaube, eine ziemlich endgültige Fassung der gesamten Arbeit im Oktober spätestens abschließen zu können. Sollte der Entwurf Sie interessieren, so werde ich mir erlauben, ihn Ihnen im Herbst vorzulegen. Ich wäre Ihnen, sehr geehrter Herr Professor, sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie die Güte hätten, mich Ihrer Frau Tochter zu empfehlen. Mit ergebenen Grüßen stets Ihr [hs.:] Roman Schnur

770  Am

Rand stenogr. Notiz von C. S., wovon zu lesen „Stödter“.



1958 – Roman Schnur an Carl Schmitt303

155. 1958-06-13 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14291, ms.771

Mainz, den 13.6.1958 Hindenburgstraße 40 Sehr geehrter Herr Professor, Bitte verzeihen Sie mir, dass ich mich so spät für die Übersendung des Pfingstgrußes772 bedanke. Eine rheumatische Erkrankung, die ich noch nicht ganz überwunden habe, hat mich für einige Zeit von jeglicher Korrespondenz abgehalten. Ihr Pfingstgruß enthält die knappste und treffendste Kennzeichnung der der­ zeitigen Verfassungslage in Europa. Die Ereignisse bestätigen es täglich, nicht zuletzt der Spiegel-Artikel über de Gaulle (der übrigens erstaunlicher­ weise schon auf Ihre Aufsatzsammlung hinweist!).773 Auch zeigt sich in der gegenwärtigen Lage in Frankreich und in Deutschland, wie aktuell Ihre Schrift über Legalität und Legitimität geblieben ist. Das Operieren mit der Legitimität scheint mir übrigens, was die politischen Absichten angeht, auf der Linie der Vertragstheorien zu liegen. Die Legitimität ersetzt gewisserma­ ßen die Vertragstheorie, die ja in einer Lehre der Demokratie keinen richtigen Platz hat. Sie teilt auch das Schicksal der Vertragstheorie, nämlich stets vom Gegner der Herrschenden angewendet zu werden. – Vor kurzem fragte Dr. Rumpf an, ob er im Archiv die Sammlung Ihrer Auf­ sätze besprechen könnte. Wir wären damit einverstanden. Darf ich Sie, sehr geehrter Herr Professor, bitten, Ihren Verlag zu veranlassen, uns ein Rezensi­ onsexemplar zu schicken?774 –

771  Auf der Rücks. Brief von Auguste Schmitt an C. S. vom 14. Juni 1958, mit dem sie das Schreiben nach Santiago weiterleitete. 772  Fehlt. 773  Der „Spiegel“ vom 10. Juni 1958 enthält eine Titelgeschichte über De Gaulles Rückkehr an die Macht nach dem Scheitern der Vierten Republik. Sie beginnt mit einem Hinweis auf den Staatsstreich Napoléons III. 1851, der an das Volk appelliert habe, „die Legalität zu verlassen, um wieder zu einem Recht zu gelangen“. Dazu gibt es folgende Fußnote: „»De sortir de la legalité, pour rentrer dans le droit«, siehe Carl Schmitt, ‚Verfassungsrechtliche Aufsätze‘ “. Vgl. auch folgenden Brief von Schnur (Bastid-Zitat). 774  Helmut Rumpf besprach das Buch in: ARSP 47, 1961, S. 441–447.

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1958 – Roman Schnur an Carl Schmitt

Im August-Heft wird die Besprechung des Schneider-Buches von Herrn Stödter erscheinen. Sie ist, bei aller Höflichkeit gegenüber Herrn Schneider, im Grunde ablehnend.775 – Mit den besten Grüßen stets Ihr [hs.:] Roman Schnur 156. 1958-06-23 Roman Schnur an Carl Schmitt RW 265 Nr. 14292, ms.

Mainz, den 23.6.1958 Hindenburgstr. 40 Sehr geehrter Herr Professor, Soeben ist das für uns bestimmte Besprechungsexemplar Ihrer Aufsätze ein­ getroffen. Schon vor einiger Zeit hatte Herr Doz. Dr. Rumpf angefragt, ob er dieses Werk für uns besprechen könne. Da ich noch nicht wusste, dass Sie gerne eine Besprechung von mir im Archiv gesehen hätten, haben wir die Besprechung an Herrn Rumpf vergeben. Ich selbst werde – was ich inzwi­ schen geklärt habe – die Aufsatzsammlung für „Wort und Wahrheit“ bespre­ chen.776 Diese Lösung scheint mir auch deshalb angängig, weil ich im Archiv so wenig wie möglich veröffentlichen möchte. Ich lese seit einigen Tagen in einem Bibliotheksexemplar Ihrer Aufsatz­ sammlung. Was mich ganz besonders interessiert, sind Ihre Nachbemerkun­ gen. Diejenigen über die Auflösung des Enteignungsbegriffs sind ein ganz seltenes Meisterwerk staatsrechtlicher Literatur. An ihnen vor allem lässt sich ermessen, wie schwer es die gegenwärtige Staatsrechtslehre ohne Sie hat. Zu dem Aufsatz über das Problem der Legalität darf ich noch folgenden Hinweis geben, der Ihnen vielleicht aufschlussreich erscheint: Bastid (Paul), Les institutions politiques de la monarchie parlementaire franҫaise, Paris 1954, S. 113/114, macht Ausführungen über die Revolution von 1830. Im Zusammenhang mit dem Vorgehen des Monarchen wurde die­ sem ein „rapport justificatif“ vorgelegt, in dem es u. a. heißt: „Une démocra­ tie turbulente, qui a pénétré jusque dans nos lois, tend à se substituer au 775  Vgl.

oben, Nr. 131; Stödters Besprechung in: ARSP 44, 1958, S. 603–608. Schnur, Carl Schmitt und die Staatsrechtslehre, in: WuW 9, 1958, S. 725–727. 776  Roman



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pouvoir légitime. Elle dispose de la majorité des électeurs par le moyen de ses journaux et le concours d’affiliations nombreuses. Elle a paralysé, autant qu’il dépendait d’elle, l’exercise régulier de la plus essentielle prérogative de la Couronne, celle de dissoudre la Chambre élective. Par cela même la constitution de l’État est ébranlée: Votre Majesté seule conserve la force de la rasseoir et de la raffermir sur ses bases. Le droit comme le devoir d’en assurer le maintien est l’attribut inséparable de la souveraineté. Nul gouver­ nement sur la terre ne resterait debout, s’il n’avait le droit de pouvoir à sa propre sûreté. Ce pouvoir est préexistant aux lois, parce qu’il est dans la nature des choses.“ Bastid fährt fort: „Puis, après avoir rappelé la ‚sanction plus positive encore‘ prévue par l’article 14 de la Charte, (Anm. von mir: Le Roi … fait les règlements et ordonannces nècessaires pour l’exécution des lois et la sûreté de l’État.) le texte déclarait: >Le moment est venu de recou­ rir à des mesures qui rentrent dans l’esprit de la Charte, mais qui sont en dehors de l’ordre légal dont toutes les ressources ont été inutilement épui­ sées.< C’était déjà presque la formule de Louis-Napoléon en 1851: sortir de la légalité pour rentrer dans le droit. Les journalistes, pris directement à partie, ripostèrent aussitot. Ils décidèrent la publication d’un manifeste, que Thiers redigea en termes vehements >Le régime légal est interrompu celui de la force est commencé. Le gouverne­ ment a violé la légalité, nous sommes dispensés d’obeir … Nous lui resistons pour ce qui nous concerne; c’est à la France à juger jusqu’où doit s’étendre sa propre résistance.Supra­ nationalité