Bioökonomie im Selbststudium: Nachhaltigkeit und ökologische Bewertung [1. Aufl.] 9783662613825, 9783662613832

Der menschengemachte Klimawandel, knapper werdende natürliche Ressourcen und eine stetig wachsende Weltbevölkerung sind

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Bioökonomie im Selbststudium: Nachhaltigkeit und ökologische Bewertung [1. Aufl.]
 9783662613825, 9783662613832

Table of contents :
Front Matter ....Pages i-v
Einführung in die Nachhaltigkeit (Christine Rösch, Rüdiger Schaldach, Jan Göpel)....Pages 1-11
Normen, Indikatoren und Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens (Christine Rösch, Rüdiger Schaldach, Jan Göpel)....Pages 13-24
Zielkonflikte zwischen Nachhaltigkeitszielen der Bioökonomie und öffentlicher Diskurs (Christine Rösch, Rüdiger Schaldach, Jan Göpel)....Pages 25-32
Methoden zur ökologischen Bewertung (Christine Rösch, Rüdiger Schaldach, Jan Göpel)....Pages 33-55
Fallstudien (Christine Rösch, Rüdiger Schaldach, Jan Göpel)....Pages 57-75
Back Matter ....Pages 77-88

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Zertifikatskurs Bioökonomie

Christine Rösch Rüdiger Schaldach Jan Göpel

Bioökonomie im Selbststudium: Nachhaltigkeit und ökologische Bewertung

Zertifikatskurs Bioökonomie

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16188

Christine Rösch · Rüdiger Schaldach · Jan Göpel

Bioökonomie im Selbststudium: Nachhaltigkeit und ökologische Bewertung

Christine Rösch Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Karlsruhe, Deutschland

Rüdiger Schaldach Center for Environmental Systems Research (CESR), Universität Kassel Kassel, Deutschland

Jan Göpel Center for Environmental Systems Research (CESR), Universität Kassel Kassel, Deutschland

ISSN 2524-7107 ISSN 2524-7115  (electronic) Zertifikatskurs Bioökonomie ISBN 978-3-662-61382-5 ISBN 978-3-662-61383-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61383-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stephanie Preuß Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhaltsverzeichnis

1 Einführung in die Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Definition und historische Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Nachhaltigkeitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3 Dimensionen der Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.4 Strategien zur Erreichung von Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.5 Nachhaltigkeit und Bioökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2 Normen, Indikatoren und Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.1 Normen nachhaltigen Wirtschaftens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.2 Nachhaltigkeitsindikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.3 Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3 Zielkonflikte zwischen Nachhaltigkeitszielen der Bioökonomie und öffentlicher Diskurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3.1 Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3.2 Zielkonflikte im Klimaschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.3 Zielkonflikte bei der Nutzung von Land- und Wasserressourcen . . . . 27 3.4 Zielkonflikte beim Schutz von Biodiversität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3.5 Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.6 Gesellschaftlicher Diskurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 4 Methoden zur ökologischen Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4.1 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4.2 Ökologische Bewertung des Konsums auf nationaler Ebene. . . . . . . . 35 4.3 Bewertung auf Technologie und Produktebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 5 Fallstudien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5.1 Ökobilanzierung des bioliq®-Verfahrens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5.2 Analyse einer zukünftigen Biomasseproduktion in Brasilien. . . . . . . 65 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

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Einführung in die Nachhaltigkeit

Das Konzept der Nachhaltigkeit hat sich aus einer Handlungsanleitung für die Forstwirtschaft zu einem global anerkannten Ziel-Konsens entwickelt. Das gilt spätestens, seit die Vereinten Nationen die universellen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) beschlossen und vereinbart haben, diese gemeinsam zu erreichen (UN 2017). Dennoch gibt es eine große Diskrepanz hinsichtlich dessen, was als nachhaltig bezeichnet wird. Nicht alles, was sich nachhaltig nennt, erfüllt die ökonomischen, ökologischen und sozialen Anforderungen der Nachhaltigkeit. Die Entwicklung nachhaltiger Wirtschaftsweisen und Gesellschaften bringt Veränderungen mit sich und erhöht die Komplexität von politischen und strategischen Entscheidungen. Das liegt an der Vielschichtigkeit der Systeme und deren nichtlinearen und dynamischen Interaktionen und Rückkopplungen sowie Zielkonflikten. Hinzu kommt, dass die Umsetzung des Leitbilds einer nachhaltigen Entwicklung von einem grundlegenden Dilemma geprägt ist. Mit seinen positiven Zielsetzungen wie Umweltschutz oder globale Gerechtigkeit stößt es auf breite Zustimmung. Wenn es jedoch darum geht, betriebliche und volkswirtschaftliche Prozesse oder gar individuelles Verhalten zu ändern, entstehen massive Interessenskollisionen auf unterschiedlichen Ebenen.

1.1 Definition und historische Entwicklung Der Begriff der Nachhaltigkeit geht auf den Freiberger Oberberghauptmann Carl von Carlowitz (1645–1714) und die Waldwirtschaft zurück (Carlowitz HC 2000). Carlowitz zufolge sollte in einem Wald nur so viel abgeholzt werden wie nachwachsen kann. Damit sollte der Raubbau am Wald verhindert und seine Regenerationsfähigkeit sichergestellt werden. Die Rede war von einer „klugen“ Art der Waldbewirtschaftung und einer „nachhaltenden“ Nutzung des Waldes. Das Prinzip Nachhaltigkeit sollte sicherstellen, dass ein regeneratives, natürliches

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Rösch et al., Bioökonomie im Selbststudium: Nachhaltigkeit und ökologische Bewertung, Zertifikatskurs Bioökonomie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61383-2_1

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1  Einführung in die Nachhaltigkeit

System in seinen wesentlichen Eigenschaften dauerhaft erhalten bleibt. Damit war der Grundstein zum Verständnis von Nachhaltigkeit als ressourcenökonomisches Prinzip gelegt. Deutlich weiter als die auf natürliche Ressourcen begrenzte Sichtweise von Carlowitz geht die Definition der sogenannten Brundtland-Kommission, die ihren Ursprung im Brundtland-Bericht von 1987 hat. Unter Vorsitz der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland wurde im Bericht der „World Commission on Environment and Development“ (WCED 1987) erstmals folgende Definition von Nachhaltigkeit festgeschrieben: „Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Inhaltlich ist bei dieser Definition der Aspekt der räumlichen wie zeitlichen (zwischen heutigen und zukünftigen Generationen) Gerechtigkeit maßgebend. Vorrangiges Ziel ist eine gerechtere Verteilung von Wachstum und Wohlstand sowie der Lebenschancen und -qualität, damit die Kluft zwischen reichen Industriestaaten und armen Entwicklungsländern nicht weiter zunimmt. Die Brundtland-Definition ist seit den 1980er Jahren das politische Leitprinzip für eine nachhaltige Entwicklung. Einige Jahre später verständigte sich die internationale Staatengemeinschaft auf der UN-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro auf das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development). In der Rio-Deklaration von 1992 wird hervorgehoben, dass die Ressourcen der Erde künftig so zu nutzen seien, dass alle Länder gerechte Entwicklungschancen erhalten, ohne dass dadurch die Entfaltungschancen zukünftiger Generationen geschmälert würden (UN 1992). Im Jahr 2000 wurde auf der Millenniumskonferenz der Vereinten Nationen die Millenniumserklärung mit vier programmatischen Handlungsfeldern für die internationale Politik definiert: • • • •

Frieden, Sicherheit und Abrüstung, Entwicklung und Armutsbekämpfung, Schutz der gemeinsamen Umwelt und Menschenrechte, Demokratie und gute Regierungsführung.

Aus dieser Erklärung leitete eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der UNO, der Weltbank, der OECD und mehreren NGOs im Jahr 2001 acht internationale Entwicklungsziele ab, Diese acht Ziele für das Jahr 2015 wurden als MillenniumEntwicklungsziele (englisch: Millennium Development Goals, MDGs) bekannt (Abb. 1.1). Die Umsetzung der von Kritikern als überambitioniert und unrealistisch bezeichneten MDGs stellte die Weltgemeinschaft vor enorme Herausforderungen. Auch wurde bemängelt, dass die Industriestaaten den Entwicklungsländern mit den Millenniumszielen vorschreiben würden, was diese zu tun hätten. Dennoch konnten die UN nach Ablauf des gesteckten Zeitraums von 15 Jahren eine positive Bilanz zum Erreichen der MDGs ziehen (Vereinte Nationen 2015).

1.1  Definition und historische Entwicklung

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Abb. 1.1  Millennium-Entwicklungsziele für das Jahr 2015. (Quelle: Vereinte Nationen 2015)

In Anlehnung an den Entwicklungsprozess der MDGs und mit der Überzeugung, dass sich die globalen Herausforderungen nur gemeinsam lösen lassen, wurde im Jahr 2015 von den Vereinten Nationen die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung beschlossen. Im Unterschied zu den MDGs, die insbesondere für die Entwicklungsländer relevant waren, gilt die Agenda 2030 für alle Staaten gleichermaßen, also für Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländer. Das Kernstück der Agenda 2030 bildet ein ehrgeiziger Katalog mit 17 Zielen für

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1  Einführung in die Nachhaltigkeit

Abb. 1.2   Nachhaltigkeitsziele „Sustainable Development Goals“ der Vereinten Nationen (Grafik: Bundesregierung)

nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs), die bis 2030 umgesetzt werden sollen (UN 2017; Abb. 1.2). Die 17 SDGs berücksichtigen erstmals alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit: Soziales, Umwelt, Wirtschaft. Sie sind gleichwertig, unteilbar und bedingen einander. Die 17 SDGs wurden in 169 Unterziele aufgeteilt. Dazu gehören 232 Indikatoren, die Auskunft über den Grad der Zielerreichung geben sollen. Dieser globale Indikatorenrahmen wurde von der „Inter-Agency and Expert Group on SDG Indicators (IAEG-SDGs)“ entwickelt und von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Juli 2017 verabschiedet (UN 2017).

1.2 Nachhaltigkeitspolitik Die deutsche Nachhaltigkeitspolitik orientiert sich – abgestimmt mit der europäischen und internationalen Politik – an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen. In ihrem Zentrum steht die „Nationale Nachhaltigkeitsstrategie“ mit konkreten Zielen und klar definierten Indikatoren zur Messung der Zielerreichung (Bundesregierung 2016). Die Bundesregierung berichtet alle vier Jahre und das Statistische Bundesamt seit 2006 alle zwei Jahre über den Fortschritt bei der Erreichung der Ziele. Verschiedene Institutionen – darunter auch der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) – haben die Aufgabe, die Nachhaltigkeit zum Grundprinzip unseres gesellschaftlichen und individuellen Handelns zu ent-

1.3  Dimensionen der Nachhaltigkeit

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wickeln. Neben der Bundesregierung verfügt auch die Mehrzahl der Bundesländer über eigene Nachhaltigkeitsstrategien und -ziele. Ein Blick in den aktuellen Indikatorenbericht 2018 zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (Destatis 2018) zeigt, dass für mehr als ein Drittel der Indikatoren (24 von 65) die von der Bundesregierung angestrebten Ziele bereits erreicht wurden oder bei gleichbleibender Entwicklung erreicht werden können. Das betrifft z. B. den Ausbau erneuerbarer Energien. Hingegen würden für 28 Indikatoren – darunter auch die Treibhausgasemissionen und der Anteil an ökologisch bewirtschafteten Flächen – die jeweiligen Ziele verfehlt, weil die Entwicklung zwar in die gewünschte Richtung zeigt, aber zu langsam vorangeht. Bei 8 Indikatoren entwickelt sich der Trend in die falsche Richtung, entfernt sich vom Ziel. Das trifft beispielsweise auf den Verbrauch von Primärenergie und von Flächen für Siedlung und Verkehr zu. In der Europäischen Union wurde zur Messung der Fortschritte bei der Erreichung der SDGs ein strukturierter Satz von Indikatoren erarbeitet (Eurostat 2018a). Jedem SDG sind 6 Indikatoren zugeordnet, mit Ausnahme der Ziele 14 und 17, die nur 5 Indikatoren haben. 42 der 100 Indikatoren sind multifunktional, also mehr als einem SDG zugeordnet. Wie das Statistische Bundesamt auf Bundesebene, führt Eurostat eine regelmäßige Berichterstattung sowie ein Monitoring des EU-SDG-Indikatorensatzes im EU-Kontext durch (Eurostat 2018b). Das Monitoring enthält eine statistische Bewertung der Indikatoren bezogen auf den kurzfristigen (in den letzten fünf Jahren) Trend und sofern die Daten verfügbar sind die langfristige Entwicklung in den letzten 15 Jahren. Die Entwicklung der Indikatoren wird auf der Grundlage spezifischer quantitativer Regeln dargestellt. Bei Indikatoren, für die es quantitative EU-Ziele gibt, wird der Fortschritt in Bezug auf diese Ziele analysiert. Dies gilt für 17 der 100 Indikatoren, vor allem in den Bereichen Klima, Energieverbrauch, Bildung, Armut und Beschäftigung. Alle anderen Indikatoren werden nach der Richtung und Geschwindigkeit der Veränderung analysiert. Die Trends der Indikatoren werden visuell in Form von Pfeilen dargestellt.

1.3 Dimensionen der Nachhaltigkeit Zur Veranschaulichung des Konzepts der Nachhaltigkeit haben sich verschiedene Schemata herausgebildet. Die bekanntesten grafischen Darstellungen sind: das Drei-Säulen-Modell (Abb. 1.3), das Schnittmengen-Modell und das Nachhaltigkeitsdreieck. Im Drei-Säulen-Modell wird das Dach „Nachhaltigkeit“ von den Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales getragen, wobei alle drei Dimensionen gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Um dem Prinzip von Nachhaltigkeit gerecht zu werden, sollen die drei Dimensionen integriert betrachtet werden. Dies wird mit dem Schnittmengen-Modell illustriert. Im Kern ist das Nachhaltigkeitskonzept ein normatives, ethisch-moralisches Leitbild, das handlungsleitenden Charakter hat und Orientierungshilfe gibt. Seine

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1  Einführung in die Nachhaltigkeit

Abb. 1.3  Die drei Säulen der Nachhaltigkeit. (Grafik: Institut Bauen und Umwelt e. V. Berlin)

Charakteristika sind vor allem seine globale Gültigkeit und sein intra- und intergenerationeller Gerechtigkeitsansatz, sowie sein partizipativer Ansatz. Dies zeigt sich an den vier Prinzipien der Nachhaltigkeit: • Intragenerationelle Gerechtigkeit: Weltweit sollen alle Menschen dieselben Möglichkeiten haben, das heißt zum Beispiel, eine Inderin hat dieselben Rechte und Chancen wie ein US-Amerikaner. • Intergenerationelle Gerechtigkeit: Zwischen den Generationen darf es keine Diskriminierung geben, das heißt, die heutige Generation darf nicht auf Kosten der nachfolgenden Generationen leben. • Ganzheitlichkeit: Die drei Nachhaltigkeitsdimensionen (sozial, ökologisch, ökonomisch) sind gleichgewichtig und integrativ zu betrachten. • Partizipation: Alle Betroffenen und Verantwortlichen sind in Beratungs- und Entscheidungsprozesse einzubeziehen.

1.4 Strategien zur Erreichung von Nachhaltigkeit Zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele werden drei unterschiedliche Leitstrategien diskutiert: Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. Unter der Effizienzstrategie versteht man, dass für die Herstellung eines Produkts oder die Bereitstellung einer Serviceeinheit weniger Ressourcen (Rohstoffe und Energie) als bislang benötigt werden. Diese Strategie gilt in der Wirtschaft und Gesellschaft als anschlussfähig, da hierdurch Kosten, Ressourcenverbräuche und Umweltbelastungen verringert werden können. Der Effizienzstrategie wird ein hohes Potenzial zugeschrieben (Huber 1995). Vertreter dieser Richtung sind der Auffassung, dass eine Verdopplung des Wohlstands bei halbiertem Naturverbrauch möglich ist (Weizsäcker et al. 1995). Die Kritiker

1.4  Strategien zur Erreichung von Nachhaltigkeit

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der Effizienzstrategie sind weniger euphorisch und warnen davor, ihre Wirkung für nachhaltiges Wirtschaften zu überschätzen. Sie verweisen auf ReboundEffekte, welche dazu führen können, dass Effizienzgewinne geringer ausfallen oder sogar überkompensiert werden (Paech 2012; Santarius 2014). Wenn nämlich ein Gut oder eine Dienstleistung durch eine Effizienzsteigerung billiger wird, führt das zu einem Anstieg der Nachfrage nach diesem Gut oder dieser Dienstleistung. Dieser Rebound-Effekt führt dazu, dass das Einsparungspotenzial von Effizienzsteigerungen nicht oder nur teilweise ausgeschöpft werden kann. Darüber hinaus birgt die Effizienzstrategie die Gefahr, dass möglicherweise „das Falsche“ perfektioniert wird, und alte Technologien weiter optimiert werden, anstatt neue Technologien auf der Basis erneuerbarer Energien zu entwickeln. Ein Beispiel dafür ist die Fokussierung auf mit Diesel oder Benzin betriebene Verbrennungsmotoren, die immer effizienter werden und weniger Treibstoff pro Fahrleistung benötigen. Diese Effizienzsteigerung wird für eine höhere Fahrleistung genutzt, so dass durch diesen Reboundeffekt der erhoffte Beitrag zum Klima- und Umweltschutz dadurch nicht realisiert werden kann. Während die Effizienzstrategie mengenorientiert ist – weniger Ressourcenverbrauch bei mehr Ertrag – hat die Konsistenzstrategie die Veränderung der Qualität der anthropogen bedingten Stoff- und Energieströme zum Ziel. Dies bedeutet die Substitution der meist auf fossilen Ressourcen aufbauenden Stoffe, Produkte und Technologien durch solche, die konsistent mit natürlichen Stoffkreisläufen sind, d. h. im Einklang mit jenen in der Natur ablaufen (Grunwald 2017). Diese Substitution setzt geschlossene Stoff- und Energieströme und ein hohes Potenzial für Produkt- und Prozessinnovationen voraus. Ziel des Ansatzes ist ein grundlegender Systemwechsel auf der Ebene der Technik und Ressourcen und die Substitution bestehender industrieller Prozesse durch innovative, naturintegrierte und ökologisch nachhaltige Konzepte und Verfahren (Enquete-Kommission 1996). Damit einher geht eine fundamentale Veränderung heutiger Produktionsweisen, eine Art grüne industrielle Revolution. Von der Konsistenzstrategie werden ein großes Problemlösungspotenzial sowie eine größere Reichweite sowie tiefergreifende Veränderungen als von der Effizienzstrategie erwartet. Die Politikstrategie Bioökonomie der Bundesrepublik Deutschland (BMBF 2010; BMEL 2014) verfolgt konsequent den Konsistenzansatz, indem sie auf eine umweltverträgliche wirtschaftliche Entwicklung im Einklang mit biogenen Stoffströmen abzielt. Bei der Suffizienzstrategie geht es um sozial- und umweltverträgliche Obergrenzen für wirtschaftliche Prozesse und Aktivitäten. Dieser Strategie liegt die Annahme zugrunde, dass weniger mehr ist und Lebensqualität wichtiger und befriedigender ist als Wirtschaftswachstum (Linz 2012). Über diese Strategie wird eine leidenschaftliche und emotionale Debatte geführt (Sedláček 2012). Die Kritiker attestieren der Suffizienzstrategie ein relativ geringes Einsparpotenzial und ein geringes soziokulturelles Anschluss- und Resonanzpotenzial. Die Befürworter sind dagegen der Meinung, dass die Suffizienzstrategie ein notwendiger Baustein der Nachhaltigkeitspolitik ist, die Berechtigung dort hat, wo die Effizienz- und Konsistenzstrategie an ihre Grenzen stoßen. Das Konzept der

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1  Einführung in die Nachhaltigkeit

Postwachstumsökonomie orientiert sich an der Suffizienzstrategie (Schneidewind 2017). Ziel des Konzepts ist eine Wirtschaft ohne Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und der teilweise Rückbau industrieller und global arbeitsteiliger Wertschöpfungsprozesse zugunsten lokaler und regionaler Selbstversorgungsstrukturen (Schneidewind und Zahrnt 2013). Damit einher geht eine sozial-ökologische Transformation der Produktions- und Lebensweise und eine Reduktion von Produktion und Konsum (Schneidewind et al. 2014).

1.5 Nachhaltigkeit und Bioökonomie Die bioökonomischen Forschungs- und Politikziele Deutschlands sind dokumentiert in zwei Strategiepapieren: der „Nationalen Forschungsstrategie Bioökonomie 2030 – Unser Weg zu einer bio-basierten Wirtschaft“ (BMBF 2010) und der „Nationalen Politikstrategie Bioökonomie. Nachwachsende Rohstoffe und biotechnologische Verfahren als Basis für Ernährung, Industrie und Energie“ (BMEL 2014). In der nationalen Politikstrategie Bioökonomie sind folgende vier Kernziele der Bioökonomie formuliert: • die nationale Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen Nahrungsmitteln gewährleisten und zur Welternährung einer wachsenden Menschheit beitragen, • die Versorgung mit nachhaltig erzeugten nachwachsenden Rohstoffen für die stoffliche und energetische Verwendung sicherstellen, • den Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland erhalten, und • die Biodiversität und die Bodenfruchtbarkeit sowie das Klima schützen. Zur Umsetzung dieser Ziele hat die Bundesregierung folgende Leitgedanken formuliert: • Die Nahrungsmittelproduktion hat Vorrang vor der Rohstofferzeugung für Industrie und Energie. • Nutzungspfade mit einem höheren Wertschöpfungspotenzial sind zu bevorzugen. • Die Kaskaden- und Koppelnutzung von Biomasse soll realisiert werden. • Die Wettbewerbsfähigkeit der Bioökonomie in Deutschland soll gestärkt und die Potenziale auf den internationalen Märkten ausgebaut werden. • Fachkräfte sollen ausgebildet werden. • Die Rahmenbedingungen für die Nutzung von Schlüsseltechnologien der Bioökonomie und ihr Transfer in die wirtschaftliche Nutzung sollen verbessert werden. • Steigende gesellschaftliche Anforderungen an den Umwelt-, Klima-, Naturund Tierschutz sowie an soziale Standards sollen eingehalten werden. • Nachhaltigkeitsstandards sind auch in Produzentenländern außerhalb der EU einzuhalten.

1.5  Nachhaltigkeit und Bioökonomie

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• Die Zusammenarbeit von politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, ökologischen und sozialen Akteuren zur Entwicklung der Bioökonomie ist notwendig. Die Politikstrategie Bioökonomie verfolgt ökologische, ökonomische und soziale Ziele. Dies wird deutlich, wenn man die Ziele der Bioökonomie an den UN-Nachhaltigkeitszielen (SDGs) spiegelt (Fritsche und Rösch 2017). Eng mit der Bioökonomie verbunden sind folgende dieser Ziele: • SDG 2: Kein Hunger, Ernährungssicherheit, bessere Ernährung, nachhaltige Landwirtschaft • SDG 3: Gesundheit und Wohlergehen • SDG 6: Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser • SDG 7: Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie • SDG 8: Menschenwürdige Arbeit und nachhaltiges Wirtschaftswachstum • SDG 9: Industrie, Innovation und Infrastruktur • SDG 12: Nachhaltiger Konsum und Produktion • SDG 13: Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen • SDG 15: Landökosysteme schützen, Verlust der biologischen Vielfalt stoppen Die Reihenfolge folgt der Nummerierung der SDGs, die jedoch keine Priorisierung der Ziele impliziert. Auch zwischen den anderen SDGs und der Bioökonomie bestehen Wechselwirkungen, die allerdings nur schwach ausgeprägt sind. Betrachtet man die von der UN zur Operationalisierung der 17 SDGs entwickelten 232 Indikatoren und deren Bedeutung für die Bioökonomie, dann wird deutlich, dass rund 30 % der SDG-Indikatoren (67 von 232) von hoher Relevanz für die Bioökonomie sind. Mit der Nationalen Bioökonomiestrategie wurden die Leitlinien und Ziele der Bioökonomie-Politik festgelegt und Maßnahmen zu ihrer Umsetzung benannt (BMBF/BMEL 2020). Die Strategie baut auf der „Nationalen Forschungsstrategie Bioökonomie 2030“ und der „Nationalen Politikstrategie Bioökonomie“ auf und bündelt die politischen Aktivitäten in einem kohärenten Rahmen. Mit der Strategie werden die Voraussetzungen geschaffen, um Deutschlands Vorreiterrolle in der Bioökonomie zu stärken und die Technologien und Arbeitsplätze von morgen zu entwickeln. Die Bioökonomiestrategie adressiert ein breites Spektrum an Zielen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen und in allen wirtschaftlichen Sektoren, die sich in sechs gemeinsamen strategischen Zielen zusammenfassen lassen: • Bioökonomische Lösungen für die Nachhaltigkeitsagenda entwickeln • Potenziale der Bioökonomie innerhalb ökologischer Grenzen erkennen und erschließen • Biologisches Wissen erweitern und anwenden

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1  Einführung in die Nachhaltigkeit

• Ressourcenbasis der Wirtschaft nachhaltig ausrichten • Deutschland zum führenden Innovationsstandort der Bioökonomie ausbauen • Gesellschaft einbinden, nationale und internationale Kooperationen intensivieren Die Rolle der Bioökonomie spiegelt sich auch in der „Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie“(Bundesregierung 2016) wider. Sie adressiert mit zwei ihrer 21 Schlüsselindikatoren die Landwirtschaft, welche einen zentralen Bereich der Bioökonomie darstellt. Der Indikator „Stickstoffüberschuss“ bezieht sich auf ein wesentliches Nachhaltigkeitsproblem der Bioökonomie. Der Indikator „Anbaufläche des ökologischen Landbaus“ markiert einen möglichen Lösungsweg zur Verringerung des Stickstoffüberschusses und anderer von der Landwirtschaft verursachten Umweltbelastungen. Zwei weitere Schlüsselindikatoren stehen in starker Wechselwirkung mit den Zielen der Bioökonomie. Der erste Indikator bezieht sich auf den „Flächenverbrauch für Siedlung und Verkehr“. Er soll halbiert und bis zum Jahr 2020 auf 30 Hektar pro Tag verringert werden, um landwirtschaftliche Flächen, insbesondere solche mit fruchtbaren Böden, zu erhalten. Der zweite Indikator „Entwicklung der Artenvielfalt und Landschaftsqualität“ basiert auf der Erkenntnis, dass für einen leistungsfähigen Naturhaushalt eine Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten unabdingbar ist. Um die biologische Vielfalt zu erhalten, sind extensive, nachhaltige Formen der Landnutzung erforderlich. Seit Beginn des Nachhaltigkeitsmonitorings (seit 2005) zeigt dieser Indikator einen konstant negativen Trend, verursacht durch eine intensive landwirtschaftliche Nutzung und die damit einhergehenden großräumigen Einträge an Nährstoffen und Pflanzenschutzmitteln. Mit einem umfassenden nationalen Monitoring soll der Fortschritt des Transformationsprozesses hin zu einer nachhaltigen, biobasierten, an natürlichen Kreisläufen orientierten Wirtschaftsweise analysiert und bewertet werden. Das Monitoring soll auch eine Wissensbasis für politisches Handeln schaffen und die öffentliche Wahrnehmung der Bioökonomie fördern. Seine Ergebnisse sollen in regelmäßigen Berichten präsentiert werden, die sowohl Chancen und Potenziale als auch Fehlentwicklungen sichtbar machen. Die Politikstrategie Bioökonomie stößt nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in vielen Bundesländern auf großes Interesse. Dies zeigt sich an den föderalen politischen Strategien und Fördermaßnahmen zur Unterstützung der Bioökonomie-Akteure in den Ländern. Beispielsweise wurde 2013 in BadenWürttemberg die Forschungsstrategie Bioökonomie konzipiert (MWK BW 2013). Auch auf europäischer Ebene wird die Bioökonomie als Schlüsselstrategie für nachhaltige Entwicklung angesehen. Sie soll die Abhängigkeit von fossilen Kraftstoffen verringern, das Wirtschaftswachstum fördern, im ländlichen Raum Arbeitsplätze schaffen und die Nachhaltigkeit der Primärproduktion und der verarbeitenden Industrie verbessern. Die Europäische Kommission legte 2018 einen Aktionsplan zur Entwicklung einer nachhaltigen und kreislauforientierten Bioökonomie vor. Ziel ist es, die nachhaltige Nutzung erneuerbarer Ressourcen zu verbessern und zu erweitern, um globale und lokale Herausforderungen wie Klimawandel und nachhaltige Entwicklung anzugehen (EC 2018).

1.5  Nachhaltigkeit und Bioökonomie

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Bioökonomie ein wichtiger Bestandteil der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ist. Sie soll zum Klimaschutz und zur Diversifizierung der Rohstoffbasis und zur Entwicklung eines nachhaltigen und ressourceneffizienten Wirtschaftssystems beitragen, die Wettbewerbsfähigkeit verbessern, die Wertschöpfung steigern und im ländlichen Raum Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen. Gleichzeitig soll vermieden werden, dass die Biomasseproduktion für energetische und stoffliche Nutzung in Konkurrenz mit der Lebensmittelproduktion tritt, die Bodenfruchtbarkeit und die Biodiversität gefährdet sowie die Luft- und Wasserqualität verschlechtert werden.

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Normen, Indikatoren und Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens

2.1 Normen nachhaltigen Wirtschaftens Normen sollen zu einer nachhaltigen Entwicklung auf der Unternehmensebene beitragen. Sie berücksichtigen die Belange der Verbraucher und legen darüber hinaus Anforderungen an den Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutz fest. Normen werden von Experten oder in einem Multistakeholder-Prozess entwickelt. Sie stellen Lösungen für technische, umweltbezogene und soziale Fragen im Managementprozess von Unternehmen dar. Sie erübrigen Detailregelungen in Rechtsvorschriften, indem sie für Unternehmen anwendbare terminologische Grundsätze, materielle Anforderungen und Grenzwerte definieren, die wiederum z. B. im Rahmen einer Zertifizierung zur Anwendung kommen können. Darüber hinaus werden durch Normen Messverfahren standardisiert. Hierdurch werden Aussagen z. B. zur sozialen Konformität oder zur Sicherung einer definierten Umweltqualität über Unternehmensgrenzen hinweg vergleich- und überprüfbar. Als Resultat der Anwendung von Normen verringern Unternehmen bspw. ihre negativen Umweltwirkungen und erfüllen Anforderungen von Mitarbeitern, Kunden und Stakeholdern. Die Einhaltung von Normen wird über die Nachhaltigkeitsberichterstattung nach außen kommuniziert. Seit 2017 verpflichtet die CSR-Richtlinie 2014/95/EU der Europäischen Union (vgl. Deinert und Schrader 2015) große kapitalmarktorientierte Unternehmen sowie Banken und Versicherungen mit mehr als 500 Mitarbeitern zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, also zu einer Einbettung einer „Nicht-finanziellen Erklärung“ in den Lagebericht. In dieser nicht-finanziellen Erklärung muss „mindestens auf Umwelt-, Sozial- und Arbeitnehmerbelange, auf die Achtung der Menschenrechte und auf die Bekämpfung von Korruption und Bestechung“ (CSR-Richtlinie 2014/95/EU) eingegangen werden. Dabei müssen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Rösch et al., Bioökonomie im Selbststudium: Nachhaltigkeit und ökologische Bewertung, Zertifikatskurs Bioökonomie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61383-2_2

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2  Normen, Indikatoren und Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens

die Unternehmen ihre diesbezüglichen Vorkehrungen und Maßnahmen berichten und die Entwicklungen mit Kennzahlen beschreiben. Werden keine dieser Vorkehrungen und Maßnahmen verfolgt, muss erläutert werden weshalb. In § 289c des Handelsgesetzbuches werden die Inhalte dieser nicht-finanziellen Erklärung detailliert aufgeführt. Sie sind im Internet frei zugänglich (https://www.gesetzeim-internet.de/hgb/__289c.html). Es existieren verschiedene Ansätze und Leitlinien für eine korrekte Nachhaltigkeitsberichterstattung von der nationalen bis auf die internationale Ebene. Diese greifen die im Gesetz beschriebenen Anforderungen auf und konkretisieren sie durch die Festlegung von Indikatoren. Ein Beispiel hierfür sind die Global Reporting Initiative (GRI) Leitlinien, der internationale „QuasiStandard“ für die Nachhaltigkeitsberichterstattung (https://www.globalreporting. org/standards).

2.2 Nachhaltigkeitsindikatoren Dieses Kapitel basiert auf den Arbeiten von Egenolf und Bringezu (2019) im Rahmen der BMBF-geförderten Projekte „SYMOBIO“ (SYstemic MOnitoring and modelling of the German BIOeconomy) und „BEPASO“ (Bio Economy PAthways and SOcietal transformation strategies). Darin wurde ein umfassendes Rahmenwerk zur Bewertung der Nachhaltigkeit der Bioökonomie entwickelt (vgl. hierzu auch Abschn. 1.4). Egenolf und Bringezu (2019) gehen davon aus, dass seit einigen Jahren unbeabsichtigte und unerwünschte Nebeneffekte der Bioökonomie zunehmen. „Weltweit expandiert die landwirtschaftliche Anbaufläche auf Kosten natürlicher Ökosysteme, wie tropischer Regenwälder, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren und mit Energie zu versorgen. Dies führt unter anderem zu Verlusten an Biodiversität und zu erhöhten Treibhausgasemissionen.“ Diese Effekte treten insbesondere in den Regionen auf, die in Netto-Verbrauchsländer, wie beispielsweise Deutschland, exportieren. Dies wird in bestehenden Ansätzen einer Nachhaltigkeitsbewertung aber zumindest nicht ausführlich und umfassend genug berücksichtigt. Ausgehend von den drei Säulen der Nachhaltigkeit, formulieren die beiden Autoren deshalb zunächst Leitziele der Bioökonomie (Abb. 2.1). Dabei ergänzen sie die den drei Säulen zugeordneten Leitziele (Adler et al. 2015) um integrative Leitziele, die in den Schnittflächen der drei Säulen wiederzufinden sind. Diese sind von besonderer Bedeutung, da ihre quantitative Reichweite und Fluktuation auch auf Zielkonflikte innerhalb des Zielsystems der Bioökonomie hinweisen kann (vgl. Kap. 4 ff.). Für eine Quantifizierung dieser Leitziele sind Indikatoren nötig. In Tab. 2.1 wird eine Auswahl möglicher Indikatoren für die Leitziele der Schnittmengen zwischen den Säulen der Nachhaltigkeit präsentiert. Außerdem werden in Tab. 2.1 weitere Kriterien, die auch explizit im Themenkatalog der SDGs erwähnt sind,

2.3  Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens

15

Abb. 2.1  Schlüsselziele der Bioökonomie. (Quelle: Egenolf und Bringezu 2019)

aufgeführt und zusammen mit den jeweiligen SDG-Zielen angegeben. Die rechte Spalte zeigt mögliche Datenquellen für die Indikatorquantifizierung. Hinsichtlich der Indikatoren für die Ernährungssicherheit der FAO [3] wird ein international etablierter Indikatorensatz ausgewählt. Ein weiterer Satz von Indikatoren misst die Ressourcenfußabdrücke.

2.3 Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens 2.3.1 Grundlagen Eine Zertifizierung1 von Produkten und Produktionsweisen bietet eine Chance, die Produktion und Nutzung biogener Rohstoffe (vornehmlich Agrar- und Forstbiomasse) in sozial- und umweltverträglicher Art und Weise zu organisieren. Allerdings sind hierfür gewisse Rahmenbedingungen unerlässlich (Klemisch und

1Definition:

„Maßnahme durch einen unparteiischen Dritten, die aufzeigt, dass ein angemessenes Vertrauen besteht, dass ein ordnungsgemäß bezeichnetes Erzeugnis, Verfahren oder eine ordnungsgemäß bezeichnete Dienstleistung in Übereinstimmung mit einer bestimmten Norm oder einem bestimmten anderen normativen Dokument ist.“ „(DIN EN ISO/IEC 17.000:2004 Konformitätsbewertung)“.

16

2  Normen, Indikatoren und Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens

Potter 2006). Damit eine Zertifizierung eine positive Wirkung entfalten kann, müssen zum einen Nachhaltigkeitsanforderungen an die Produktion und Verarbeitung von Biomasse inhaltlich konkret ausgestaltet sein, zum anderen müssen die jeweils angewendeten Kriterien und Standards auch jederzeit nachweisbar und überprüfbar sein. Sind die Nachhaltigkeitsanforderungen zu niedrig und/ oder ungeeignet für das jeweilige Produkt oder den jeweiligen Prozess, bleibt die Steuerungswirkung im Sinne einer nachhaltigen Produktion und Verarbeitung gering. Werden dagegen anspruchsvolle Standards unzureichend umgesetzt oder sind die Sanktionsmechanismen ineffektiv, ist die Zertifizierung nicht hinreichend glaubwürdig (Seeberg, 2013). Genau wie eine Zertifizierung ist auch eine Hersteller- oder Selbsterklärung, die von einem Unternehmen selbst erstellt wird,

Tab. 2.1  Integrative Leitziele, Kriterien und Nachhaltigkeitsindikatoren Integrative Leit- Kriterien ziele Entwicklung ländlicher Räume (LR)

Vermeidung von Flächendegradation

SDG

Leitindikator

Skalenlevel/ Quelle

Arbeitsbedingungen LR

9.1, 11.2

Zugang öffentlicher Transport

National [1]

Beschäftigung LR

(8.5)

Anzahl Angestellte in LR in Vollzeitäquivalenten

National [1]

Mehrwert LR

(9.3)

Mehrwert ausgesuchter National [1] Bioökonomiesektoren LR

Flächenkonsum 2.4, 14.5, 15.1, 15.3

Verhältnis Landnutzungskategorie zu Gesamtlandfläche Anteil degradierter landwirtschaftlicher (lw.) Fläche

National/EU/ inter-national [2] International [3]

Landnutzungswandel

Verlust lw. Fläche Verlust Waldfläche

National/EU/ inter-national [2]

Verlust lw. Fläche Verlust Waldfläche

National/EU/ inter-national [2]

2.4, 15.1, 15.2, 15.3

Indirekter Landnutzungswandel Ernährungs sicherheit

Ernährungssituation

2

FAO Indikatoren Ernährungssicherheit

International [3]

Preisentwicklung

2.c

Entwicklung Verbraucher preise Nahrungsmittel

National [1] EU [4] International [3]

Selbstversorgungsrate

National [5] Deckung Nahrungsmittelkonsum durch inländische Produktion (Fortsetzung)

2.3  Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens

17

Tab. 2.1  (Fortsetzung) Integrative Leit- Kriterien ziele Nachhaltige Produktion; Nachhaltige Infrastruktur; Nachhaltiger finaler Konsum

SDG

Leitindikator

Skalenlevel/ Quelle

Ressourcen Input und Konsum

8.4, 12.2

Landwirtschaftlicher Flächenfußabdruck Landfußabdruck Waldfußabdruck Klimafußabdruck Materialfußabdruck

– – – – International [6]

Ressourcen produktivität

12.2

Gesamtrohmaterial produktivität

National/EU [4]

Abfallentsorgung

Abfallmenge Recyclingrate Siedlungsabfall

National [1]

Produktionskaskaden

Biomasseeinsatzfaktor National [7]

Zertifizierung

Anteil zertifizierter Produkte im Endverbrauch

National [8]

[1]: Statistisches Bundesamt (Destatis) Database. Available online: https://www.destatis.de/DE/ ZahlenFakten/Datenbanken/Datenbanken.html (accessed on 5 November 2018) [2]: Center for Environmental Systems Research (CESR) LandSHIFT. Available online: https:// www.uni-kassel.de/einrichtungen/en/cesr/research/projects/finished/landshift.html (accessed on 5 November 2018) [3]: FAO. FAOSTAT. Available online: https://www.fao.org/faostat/en/#data (accessed on 5 November 2018) [4]: European Commission EUROSTAT. Available online: https://ec.europa.eu/eurostat/de/data/ database (accessed on 5 November 2018) [5]: Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) Nationale Versorgungsbilanzen. Available online: https://datenzentrum.ble.de/versorgung/ (accessed on 5 November 2018) [6]: International Resource Panel (IRP) Global Material Flows Database. Available online: https://www.resourcepanel.org/global-material-flows-database (accessed on 5 November 2018) [7]: Fehrenbach, H.; Köppen, S.; Breitmayer, E.; Essel, R.; Baur, F.; Kay, S.; Wern, B.; Bienge, K.; von Geibler, J.; Kauertz, B.; et al. 2 BIOMASSEKASKADEN Mehr Ressourceneffizienz durch Stoffliche Kaskadennutzung von Biomasse-von der Theorie zur Praxis. Available online: https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Forschungsdatenbank/fkz_3713_44_100_ biomassekaskaden_bf.pdf (accessed on 5 November 2018) [8]: BMWI Biomassestrom-Nachhaltigkeitsverordnung (BioSt-NachVO). Available online: https://www.erneuerbare-energien.de/EE/Redaktion/DE/Standardartikel/biomassestrom_ nachhaltigkeitsv.html (accessed on 5 November 2018)

eine Form der Konformitätsbewertung. Allerdings mangelt es einer Herstellererklärung oft an Glaubwürdigkeit, da die Objektivität nicht gewährleistet ist und Außenstehende nicht nachvollziehen können, ob die Anforderungen tatsächlich erfüllt sind. Eine Zertifizierung soll diesem Problem entgegenwirken, indem sie durch eine unabhängige dritte Partei durchgeführt wird. Allerdings ist der Begriff Zertifizierung nicht geschützt, sodass diese von jeder Person oder Organisation

18

2  Normen, Indikatoren und Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens

durchgeführt werden kann, auch wenn deren Neutralität bzw. Objektivität nicht sichergestellt ist (Förstner und Köster 2018). Die Zertifizierung von Biomasse unterscheidet sich von der Zertifizierung anderer Produkte und Dienstleistungen2. Generell sind Aus- und Wechselwirkungen von Landnutzung, der Grundlage für eine Produktion von Biomasse, hochgradig komplex und nur schwer in quantifizierbare und praxistaugliche Kriterien und Indikatoren übersetzbar. Dies ist für eine wirksame und glaubhafte Zertifizierung aber erforderlich. Viele Effekte treten nicht als messbares Ereignis auf der jeweils relevanten Produktionsfläche auf, sondern erst auf anderen Ebenen oder im Zusammenhang mit weiteren Faktoren. So müssen zum Beispiel Verlagerungs- und Verdrängungseffekte, das Recht auf Nahrung im globalen Kontext sowie die Beanspruchung/Verminderung von Biodiversität über die eigentliche Produktionsfläche hinaus berücksichtigt werden (Förstner und Köster 2018).

2.3.2 Arten von Zertifizierungssystemen mit Nachhaltigkeitszielen Es existiert kein einheitliches System für eine Kategorisierung von Zertifizierungssystemen mit Nachhaltigkeitszielen. Am ehesten lässt sich die Zertifizierung nach den zu untersuchenden Produktions- und verarbeitenden Systemen einteilen (Abb. 2.2). Kategorisiert man die Zertifizierung nach dem Adressatenkreis, unterscheidet man drei Zertifizierungssysteme: Initiativen, Business-to-Business und Business-to-Consumer. Initiativen sind heterogene Gruppen von Akteuren, die sich zusammenfinden, um ein gemeinsames Ziel zu realisieren. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „Multi-Stakeholder-Initiativen“ oder „Roundtables“. Beispiele dafür sind die „Global Reporting Initiative“ (GRI), die Initiative Nachhaltige Rohstoffbereitstellung für die stoffliche Biomassenutzung (INRO) sowie die „Better Cotton Initiative“ (BCI). Initiativen tragen Nachhaltigkeitskriterien und Indikatoren zusammen, die entweder auf einen bestimmten Aspekt ausgerichtet sind (BCI)

2Durchführung

einer Zertifizierung von Biomasse, Bioenergie und auf Biomasse basierten Produkte nach den „International Sustainability & Carbon Certification“ (ISCC) Systemen (https://www.iscc-system.org/process/overview/): Audit der Nachhaltigkeitsanforderungen vor Ort: Überprüfung der Landnutzung und implizierter Landnutzungsänderungen mithilfe von Datenbanken und Satellitenbildern. Überprüfung der Systemdokumentation. Massenbilanz-Verifizierung: Prüfung der Eingangs- und Ausgangsströme die dem zu zertifizierenden Produkt zuzuordnen sind. Überprüfung der Zuverlässigkeit und Nachhaltigkeit des unternehmenseignen Bilanzierungssystems. Berechnung und Überprüfung der erzielten Treibhausgaus- (THG) Einsparung nach der ISCC THG-Berechnungsvorschrift.

Abb. 2.2  Übersicht über Zertifizierungssysteme mit Nachhaltigkeitszielen. (Eigene Darstellung); (ISCC: International Sustainability and Carbon Certification; FSC: Forest Stewardship Council; PEFC: Programme for the Endorsement of Forest Certification Schemes; asc: Aquaculture Stewardship Council; MSC: Marine Stewardship Council; RTRS: Round Table on Responsible Soy; RSB: Round Table on Sustainable Biofules; RSPO: Round Table on Sustainable Palm Oil)

2.3  Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens 19

20

2  Normen, Indikatoren und Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens

oder die Nachhaltigkeit als Gesamtkonzept widerspiegeln sollen (GRI). Sie dienen auch als Austauschplattform über Nachhaltigkeitsziele. Business-to-Business (B2B) Zertifizierungssysteme sind auf den Austausch der Bescheinigung einer nachhaltigen Wirtschaftsweise zwischen wirtschaftenden Unternehmen meist einer Produktionskette ausgerichtet. Sie basieren auf einem normativen Rahmenwerk, also einer Sammlung von Indikatoren und Kriterien. In den meisten Fällen wird hier gemäß eines anerkannten Akkreditierungsstandards zertifiziert (z. B. ISO 19011). Als Ergebnis einer erfolgreichen Zertifizierung erhält das teilnehmende Unternehmen ein Zertifikat, das anderen Teilnehmern einer Produktionskette die Nachhaltigkeit des Produktes/der Produktion des betreffenden Unternehmens bescheinigt. Die Teilnahme an solchen Systemen ist meist freiwillig. Beispiele sind „GlobalG.A.P.“ und „REDcert“. Business-to-Consumer (B2C) Zertifizierungssysteme versprechen den Konsumenten bestimmte Produkteigenschaften. Durch ein Label wird dem jeweiligen Produkt eine gewisse Qualität zugeschrieben und an den Konsumenten kommuniziert. Außerdem drücken die Anbieter des Produktes den Konsumenten gegenüber eine gewisse Transparenz bezogen auf die Erstellung des Produktes aus. Ein Zertifizierungsverfahren kann hierfür eine Voraussetzung sein, ist aber nicht in jedem Fall zwingende Voraussetzung. Praktisch jeder Wirtschaftende kann seine Produkte selbst „labeln“, auch wenn dadurch eine Neutralität und Objektivität des entsprechenden Labels nicht garantiert werden kann. Beispiele sind „Blauer Engel“, „Bioland“, „Demeter“ sowie das „Forest Stewardship Council“ (FSC).

2.3.3 Beispiel: Zertifizierung der Soja-Lieferkette Grundsätzlich gibt es für jeden bioökonomisch relevanten Wirtschaftssektor auch ein eigenes Zertifizierungssystem, das sich explizit mit einem bestimmten Produkt oder einer bestimmten Teilproduktionskette beschäftigt. Gleichzeitig gibt es aber auch Zertifizierungssysteme, die sich über eine gesamte Produktionskette mit allen relevanten Produktionsschritten an ganz unterschiedlichen Orten dieser Erde befassen, um eine ganzheitliche Bewertung der Nachhaltigkeit eines Produktes über Systemgrenzen hinweg zu ermöglichen. Ein Beispiel hierfür ist das Zertifizierungssystem ISCC (International Sustainability & Carbon Certification). Im Folgenden soll am Beispiel einer ISCC Zertifizierung für Soja gezeigt werden, wie eine typische biobasierte Lieferkette zertifiziert wird (Abb. 2.3). Biobasierte Lieferketten sind vielfältig und haben oft internationale Strukturen. Lieferketten bestehen aus verschiedenen Elementen, beginnend mit der Erzeugung/ Kultivierung der Biomasse durch den Landwirt und endend mit der Verarbeitung der Biomasse (ein bis mehrere Verarbeitungsschritte) zu einem biobasierten Produkt. Lieferketten können auch Händler und/oder Lagerhäuser einschließen. Im ersten Produktionskettenschritt, dem Anbau von Soja auf der Soja-Farm, ist durch den Landwirt eine Selbsterklärung einzubringen, die eine Nachverfolgbarkeit nachhaltig produzierter Biomasse über eine zu zertifizierende

Abb. 2.3  Schema der ISCC Zertifizierung einer Lieferkette für Soja. (Eigene Darstellung)

2.3  Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens 21

22

2  Normen, Indikatoren und Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens

Abb. 2.4  Überwachung und Kontrolle im Zertifizierungsprozess. (Quelle: BLE (eigene Darstellung))

Produktionskette hinweg ermöglicht. Diese umfasst Angaben zum landwirtschaftlichen Betrieb (Name, Adresse, Feldfrüchte, Größe, etc.), der angewendeten Berechnungsmethode für Treibhausgasemissionen (THG-Emissionen) und die Zustimmung zu Audits durch eine Zertifizierungsstelle. Darüber hinaus ist eine Nachhaltigkeitserklärung zu erstellen, die es ermöglicht, Daten bezüglich der Herkunft der Biomasse und Daten bezüglich der Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien über die gesamte zu zertifizierende Produktionskette in einheitlicher Form weiterzuleiten. Die Ausstellung eines Zertifikats durch eine Zertifizierungsstelle ist zum Zeitpunkt der Biomasseproduktion noch optional. Sämtliche gesammelte Daten (Selbsterklärung, Dokumentation des Audits, Nachhaltigkeitserklärung) werden zu jedem Schritt in der Produktionskette an das jeweilige Zertifizierungssystem weitergeleitet. Ab dem ersten Verarbeitungsschritt der erzeugten Biomasse (Ölmühle) ist ein Zertifikat, welches jederzeit öffentlich eingesehen werden kann, verbindlich erforderlich. Weiterhin ist ab dem ersten Verarbeitungsschritt auch die Dokumentation des erfolgten Audits, im Falle einer Zertifizierung nach ISCC, durch die Zertifizierungsstelle öffentlich zugänglich zu machen. Der Nachhaltigkeitsnachweis muss jeweils dort ausgestellt werden, wo ein finales Produkt dem Markt übergeben wird. Es umfasst Daten zum finalen THG-Wert des Produktes über die gesamte Produktionskette hinweg, Daten bezüglich der Produzenten, der eingesetzten Rohmaterialien sowie deren Herkunft. Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) betreibt zur Sammlung und statistischen Auswertung dieser Nachweise die Datenbank „Nabisy“ (NachhaltigeBiomasse-System).

2.3  Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens

23

2.3.4 Beispiel: Zertifizierung von Bioenergieträgern Zertifizierungen, die die Einhaltung einer gesetzlichen Vorgabe gewährleisten sollen, müssen auf diese Aufgabe hin kontrolliert und überwacht werden. Seit Anfang 2011 gelten in Deutschland Nachhaltigkeitsvorschriften für wichtige Branchen der Bioenergie. Die deutschen Verordnungen für Biokraftstoffe und für flüssige Biomasse zur Stromproduktion leiten sich aus der 2009 verabschiedeten EU-Richtlinie zu Erneuerbaren Energien (englisch: Renewable Energy Directive, RED) ab, die EU-weit in nationales Recht übertragen werden muss. An diesem Beispiel soll im Folgenden illustriert werden, wie und wo im Produktionsprozess die Kontrolle und Überwachung der Einhaltung der betreffenden Rechtsvorschrift gewährleistet wird.

2.3.4.1 EU-Nachhaltigkeitskriterien Um zu garantieren, dass die Nutzung von Bioenergieträgern einen Vorteil in Bezug auf das Klima, die Umwelt und die Natur schafft, hat die Europäische Union mit der Richtlinie 2009/28 Nachhaltigkeitskriterien eingeführt (EU 2009). Diese Nachhaltigkeitskriterien für die Bioenergie setzen verpflichtende Anforderungen für Anbau und Weiterverarbeitung. Wer in der EU Bioenergieträger nutzt, muss nachweisen, dass er die Anforderungen einhält. Festgelegt sind Anforderungen zu: 1. Treibhausgasverringerung: Biokraftstoffe müssen mindestens 35  % THG-Emissionen gegenüber fossilen Kraftstoffen reduzieren (ab 2017: 50 %). Nur dann werden sie auf das EU-Ziel von 10 % Anteil Erneuerbarer Energien im Verkehrssektor angerechnet. 2. Bilanzierung: Die geforderte Reduktion von THG-Emissionen durch einen bestimmten Biokraftstoff kann durch Standardwerte ermittelt werden, die in der entsprechenden Richtlinie beschrieben sind. Der Anbieter kann auch selbst durch spezifische Berechnungen nachweisen, dass die geforderte THG-Reduktion erbracht wird. 3. Landnutzungsänderungen: Die Nutzung von Biomasse aus Naturschutzgebieten, internationalen Schutzgebieten und Gebieten mit hoher Biodiversität und hohem Kohlenstoffgehalt (z. B. Wälder, Moore) ist nicht erlaubt. Grundsätzlich müssen Landnutzungsänderungen, die nach dem 1. Januar 2008 stattgefunden haben, berücksichtigt werden. Die Richtlinie fördert den Anbau von Biomasse auf degradierten Flächen (z. B. Brachflächen). Der Anbau steigert dort die Kohlenstoffbindung des Bodens und verhindert Erosion. Ressourcen für die Produktion von Biokraftstoffen, die auf solchen Flächen gewonnen werden, können in der THG-Bilanzierung mit einer erhöhten Treibhausgasverringerung eingebracht werden. 4. Sozialstandards: Die EU-Kommission muss dem Europäischen Rat und dem Europaparlament u. a. über die Einhaltung von Arbeits- und Sozialstandards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) berichten, z. B. zur Freiheit gewerkschaftlicher Organisation.

24

2  Normen, Indikatoren und Zertifizierung nachhaltigen Wirtschaftens

2.3.4.2 Durchführung: Überwachung und Kontrolle Für die Überwachung und Kontrolle der kompletten Anbau-, Liefer- und Herstellungskette sind unabhängige Zertifizierungssysteme und -stellen zuständig. Die für Zertifizierungssysteme und -stellen zuständige Behörde ist die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE). Sie erkennt diese nach erfolgter Überprüfung in erster Instanz an und überwacht im Weiteren die zuvor anerkannten Zertifizierungsstellen. Mit dem Ziel, auf allen Stufen einen physischen Ausgleich zertifizierter und nicht zertifizierter Ware sicherzustellen, sieht die Biokraftstoff-Nachhaltigkeitsverordnung in Deutschland einen Massenbilanzzeitraum von drei Monaten vor. Dies bedeutet, dass ein Unternehmen am Ende dieses Bilanzzeitraums sicherstellen muss, dass die als zertifiziert abgegebene Menge (z. B. Raps, Rapsöl, Biodiesel) nicht größer ist als die eingegangene Menge. Der Nachweis über die Einhaltung der Nachhaltigkeitsverordnung wird jeweils von einem vorgelagerten Bestandteil in der Produktionskette (z. B. Ölmühle für die Herstellung von Biodiesel) der Biomasse ausgestellt und weitergeleitet. Unabhängige Zertifizierungsstellen überwachen die Zertifizierung der einzelnen Bestandteile der Produktionskette mit Ausnahme des Biomasseanbaus (freiwillige Zertifizierung).

3

Zielkonflikte zwischen Nachhaltigkeitszielen der Bioökonomie und öffentlicher Diskurs

3.1 Grundlagen Wenn man einen genauen Blick auf die im Rahmen der nationalen Politikstrategie Bioökonomie veröffentlichten Anforderungen an einen Wandel von einer fossilbasierten hin zu einer bio-basierten Wirtschaftsweise wirft, wird man schnell Hinweise auf Zielkonflikte finden. Als Anforderungen formuliert die Politikstrategie (BMEL 2014): 1. sichere Versorgung der Bevölkerung in Deutschland mit Lebensmitteln hoher Qualität und darüber hinaus, im Rahmen der Möglichkeiten, Leistung eines Beitrags zur Sicherung der Welternährung 2. Stärkung des Wandels von einer auf überwiegend fossilen Rohstoffen basierenden Wirtschaft zu einer zunehmend auf nachwachsenden Ressourcen beruhenden, rohstoffeffizienten Wirtschaft 3. langfristig gesicherte Versorgung mit nachwachsenden Ressourcen für eine nachhaltige, effiziente und ressourcenschonende stoffliche und energetische Nutzung auf der Grundlage verlässlicher Rahmenbedingungen 4. nachhaltige Nutzung nachwachsender Ressourcen unter Erhaltung der Biodiversität und der Bodenfruchtbarkeit 5. Schutz des Klimas 6. Stärkung der Innovationskraft und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschafts- und Forschungsstandorts Deutschlands 7. Sicherung und Schaffung von Beschäftigung und Wertschöpfung, gerade auch in ländlichen Räumen 8. nachhaltiger Konsum der Verbraucherinnen und Verbraucher als Teil der Wertschöpfungskette der Bioökonomie

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Rösch et al., Bioökonomie im Selbststudium: Nachhaltigkeit und ökologische Bewertung, Zertifikatskurs Bioökonomie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61383-2_3

25

26

3  Zielkonflikte zwischen Nachhaltigkeitszielen der Bioökonomie ...

Daraus leiten sich folgende mögliche Zielkonflikte ab (BMEL 2014): • Konkurrierende Ansprüche an Flächennutzungen für die Nahrungs- und Futtermittelerzeugung, für die Erzeugung nachwachsender Rohstoffe zur stofflichen oder energetischen Nutzung sowie für Infrastruktur und Siedlungen • erforderliche Produktionssteigerungen zur Deckung einer steigenden Nachfrage nach Biomasse bei gleichzeitig steigenden Umwelt- und Naturschutzanforderungen • Konflikte bei der Nutzung von Biomasse mit den Zielen des Umweltschutzes • wachsende Konkurrenz zwischen der stofflichen und energetischen Biomassenutzung • Import von Biomasse nach Deutschland und Vermeidung von negativen sozialen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen mit negativen Folgen für die Ernährungssicherung in den Produzentenländern

3.2 Zielkonflikte im Klimaschutz Das Wirtschaften auf der Basis von Biomasse ist nicht per se klimaneutral (Fritsche und Rösch 2017). Eine klimaneutrale Kreislaufwirtschaft würde erfordern, dass im Rahmen einer aktuellen Nutzung von Biomasse nur so viel CO2 freigesetzt wird, wie auch durch zukünftige Produktion (Anbau) von Biomasse wieder aus der Atmosphäre gebunden werden kann. Dem stehen folgende Betrachtungen entgegen. Landnutzungsänderungen durch die Entwaldung oder die Nutzbarmachung von Grünland führen zu einer Reduktion der CO2-Aufnahmefähigkeit auf den betroffenen Flächen (IPCC 2011). Durch Landnutzungsänderungen werden nicht nur oberirdisch (Verbrennung und Zersetzung von Biomasse) CO2 freigesetzt, sondern auch eine Freisetzung von organisch gebundenem Kohlenstoff aus den Böden angeregt (vgl. Chaplin-Kramer et al. 2015; Schaldach et al. 2017; Göpel et al. 2018). Man unterscheidet zwischen direkten und indirekten Landnutzungsänderungen: Direkte Landnutzungsänderungen bezeichnen die unmittelbare Umwandlung eines natürlichen Ökosystems zur landwirtschaftlichen Nutzung, etwa die Abholzung eines tropischen Regenwaldes zur Anlage einer Weidefläche. Demgegenüber sind indirekte Landnutzungsänderungen charakterisiert durch räumliche Verdrängungseffekte und damit wesentlich schwieriger zu identifizieren und quantifizieren. Beispielsweise wird eine bestehende Ackerfläche, auf der bisher Nahrungsmittel angebaut wurden, zum Anbau von Zuckerrohr für die Produktion von Bioethanol als Kraftstoff umgewidmet. Für den Anbau der weiterhin benötigten Nahrungsmittel wird im Zuge dessen Wald gerodet, um neue Ackerflächen zu schaffen. In diesem Fall würde für die Produktion des Biokraftstoffs keine direkte Landnutzungsänderung verzeichnet, da unmittelbar kein natürliches Ökosystem für den Anbau von Zuckerrohr umgewandelt wird, wohl aber eine indirekte Landnutzungsänderung, da durch die Verdrängung der bestehenden Nutzung die Rodung einer zusätzlichen Waldfläche erfolgt. An einem Beispiel in Brasilien konnten etwa

3.3  Zielkonflikte bei der Nutzung von Land- und Wasserressourcen

27

Lapola et al. (2011) zeigen, dass Kohlendioxidemissionen aus indirekten Landnutzungsänderungen die Emissionen aus direkten Landnutzungsänderungen bei weitem übersteigen können. Im Bioökonomiekontext sind Fragen zu Treibhausgasemissionen aus Landnutzungsänderungen insbesondere relevant zur Analyse der CO2 Einsparpotenziale durch Biokraftstoffe (Fargione et al. 2008). Zusätzliche Emissionen auf dem gesamten Lebensweg von Biomasse („cradle to grave“) führen zu einer Verschiebung der CO2 Bilanz hin zu positiven Emissionen, die aber keine Rolle bei der Erstellung von Ökobilanzen spielen (DBFZ 2015). Nicht nur Emissionen in Form von CO2, sondern auch Emissionen in Form von Methan (CH4) und Lachgas (N2O) spielen im Anbauprozess von Biomasse eine nicht unerhebliche Rolle (Schaldach et al. 2017; Göpel et al. 2018). Sie entstehen bei einer Umwandlung von Flächen, aber auch im Rahmen der Bewirtschaftung von Flächen, etwa bei der Düngung (N2O).

3.3 Zielkonflikte bei der Nutzung von Land- und Wasserressourcen Vor etwa 10.000 Jahren, mit der Domestizierung von Tieren und Pflanzen, begann die anthropogene Veränderung der Landschaft aufgrund landwirtschaftlichen Managements natürliche Feuer als Hauptursache für Landnutzungsänderungen abzulösen (Ramankutty et al., 2006). Die dadurch ausgelöste Dynamik hat in den vergangenen 200 Jahren durch die Nutzung fossiler Brennstoffe als Energieträger, den Einsatz neuer landwirtschaftlicher Technologien sowie die industrielle Herstellung von Düngemitteln in Geschwindigkeit und Umfang erheblich zugenommen (Ramankutty & Foley, 1999). Heute haben anthropogene Aktivitäten 38,5 % (FAOSTAT 2013) der Erdoberfläche in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt, um eine wachsende Bevölkerung mit Nahrung zu versorgen. Allerdings werden nur etwa 35 % der weltweiten Pflanzenproduktion direkt als Nahrungsmittel genutzt, 62 % dagegen für Futtermittel und weitere 3 % für Bioenergie und Biomaterialien. Geht man nun von einer stetig wachsenden Weltbevölkerung aus, muss man auch von einem Wachstum der Flächen ausgehen, die dazu dienen, diese Menschen mit Nahrung und Rohstoffen zu versorgen (Godfray et al. 2010a, Godfray et al. 2010b). Dem gegenüber stehen Flächenbedarfe für Siedlungen und Infrastrukturen (WBGU, 2016) die durch den globalen Trend der Urbanisierung verstärkt werden. Allein in Bezug auf die Konkurrenz zwischen diesen beiden Formen der Nutzung von Land besteht in der Zukunft erhöhtes Konfliktpotenzial. Aber auch innerhalb der Landwirtschaft selbst besteht eine Flächenkonkurrenz, nämlich zwischen dem Anbau von Nahrungsmitteln und Rohstoffen (vgl. Thrän et. Al. 2015, Piotrowski et al. 2016, Kummamuru 2016). Ferner hat die Flächenkonkurrenz um den Anbau von Biomasse auch eine soziale Dimension. Unter dem Begriff „land grabbing“ versteht man die Inbesitznahme von Landflächen in Entwicklungsregionen durch finanzstarke Investoren oder Unternehmen, welche eigentlich der Ernährungssicherung der lokalen Bevölkerung hätte dienen sollen.

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3  Zielkonflikte zwischen Nachhaltigkeitszielen der Bioökonomie ...

Weltweit erhöht sich auch die Nachfrage nach Wasser für Landwirtschaft, verarbeitende Industrien und Energiewirtschaft. Die Bereitstellung von Biomasse für eine stoffliche und energetische Nutzung treibt diese Nachfrage nach der Ressource Wasser zum Teil erheblich (vgl. Alcamo et al. 2007). Grundsätzlich haben wir weltweit ausreichende Wasserressourcen, um aktuelles und zukünftiges Wirtschaften zu gestalten. Problematisch ist die lokal und regional stark schwankende Verfügbarkeit dieses Wassers. Gerade in warmen und ariden Regionen der Erde kann diese steigende Nachfrage nach Wasser zu erheblichen Problemen führen, wenn man annimmt, dass bei anhaltendem Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum die Wasserentnahmen bis 2050 um 55 % ansteigen (z. B. WWAP 2014). Nicht nur die Menge des nachgefragten Wassers für die Landwirtschaft und Industrie steht in einem Konflikt mit der für Menschen generell zur Verfügung stehenden Menge an Wasser. Auch die Qualität des Wassers wird durch eine wirtschaftliche Nutzung erheblich beeinflusst (vgl. Reder et al. 2015).

3.4 Zielkonflikte beim Schutz von Biodiversität Vom Menschen verursachte Veränderungen der Biosphäre haben zu einem erheblichen Verlust an Biodiversität geführt (Gibson et al. 2011; Newbold et al. 2015). Der Prozess der Veränderung der Naturlandschaft durch den Menschen und der daraus resultierende Verlust an Biodiversität ist ein Phänomen, das hauptsächlich auf die Expansion und Intensivierung der Landwirtschaft zurückzuführen ist. Gleichzeitig aber bedeutet ein Wachstum der Landwirtschaft aber auch eine Zunahme an Einkommen und damit Lebensqualität für die ansässige Bevölkerung. Ein Beispiel: Martinelli et al. (2010) argumentieren, dass das Wachstum der Landwirtschaft in Brasilien von einer massiven Abholzung begleitet wird, welche sich insbesondere im Zeitraum von 1970 bis zum Ende des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts stark gesteigert hat. Eine Fläche von 18,8 % des ursprünglichen brasilianischen Amazonasgebiets wurde seit 1970 abgeholzt (INPE 2013). Der hauptsächliche Grund für diese Landnutzungsdynamiken im brasilianischen Amazonasgebiet, welches sich durch ihre artenreiche Landschaft (Jenkins et al. 2015) auszeichnet, waren die Umwandlung natürlicher Ökosysteme in kultivierte Flächen. Dies bedeutete einen erheblichen Verlust an Biodiversität (Newbold et al. 2015; Chaplin-Kramer et al. 2015). Die Landwirtschaft spielt allerdings eine wichtige Rolle in Bezug auf das brasilianische Bruttoinlandsprodukt und in Bezug auf die Biomasseexporte Brasiliens in entwickelte Wirtschaftsregionen der Erde. Bei 39 % der aus Brasilien ausgeführten Waren handelt es sich um Agrarrohstoffe und -produkte (WTO 2016). Dieser starke Beitrag des Agrarsektors zur wirtschaftlichen Gesamtleistung Brasiliens hat sich positiv auf den sozialen Wohlstand des Landes ausgewirkt. Dadurch wurde das Einkommen von 29 Mio. Menschen erheblich gesteigert, womit diese Menschen nun nicht mehr als von Armut gefährdet oder betroffen gelten. Die Ungleichheit (gemessen am Gini-Koeffizienten) wurde um 11 % auf 0,515 gesenkt. Das Einkommensniveau der ärmsten 40 % stieg im Durchschnitt

3.5 Lösungsansätze

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um 7,1 %, verglichen mit einem Einkommenswachstum von 4,4 % der übrigen Bevölkerung (Weltbankgruppe 2016). Die globale Nachfrage nach landwirtschaftlichen Erzeugnissen wird in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich kontinuierlich steigen (Alexandratos und Bruinsma 2012), getrieben durch das globale Bevölkerungswachstum und die steigende Pro-Kopf-Nachfrage nach Nahrungsmitteln, Futtermitteln, Energiepflanzen und Holz (Godfray et al. 2010a; Godfray et al. 2010b). Darüber hinaus wird die Nachfrage nach Nahrungsmitteln pro Kopf voraussichtlich durch Änderungen der Ernährungsgewohnheiten weiter erhöht (Weltbankgruppe 2016). Diese Entwicklungen werden höchstwahrscheinlich zu einer weiteren Ausdehnung und Intensivierung der landwirtschaftlichen Fläche in tropischen Ökosystemen auf Kosten der natürlichen Vegetation und der Biodiversität führen (Laurance et al. 2014).

3.5 Lösungsansätze Zur Lösung solcher Zielkonflikte können Prinzipien für die Bioökonomie aufgestellt werden, an denen der Wandel zu einer biobasierten Wirtschaft sich orientieren soll. Ein Beispiel dafür sind die Grundsätze, die vom „Standing Committee of Agricultural Research“ (SCAR 2015) erarbeitet wurden: • Nahrungsmittel zuerst: das Primat der Ernährungssicherheit gewährleisten • Nachhaltige Erträge: dafür sorgen, dass Erntemengen nicht die Regenerationsfähigkeit der Anbauflächen beeinträchtigen • Kaskadennutzung: die Biomasse zuerst für das nutzen, was den höchsten Wert erzielt • Kreislaufwirtschaft: Produktionsabfälle reduzieren, wiederverwenden und recyceln • Vielfältigkeit: den Ausstoß, das Ausmaß, die Verfahren und die Technik der Produktion diversifizieren Dass der Ernährungssicherheit und nachhaltigen Erträgen zum Beispiel höhere Priorität gegenüber der stofflichen und energetischen Nutzung von Biomasse eingeräumt wird, stellt sicher, dass die Bioökonomie ihre Ziele auf lange Sicht verwirklichen kann und gleichzeitig das globale Recht auf adäquate Versorgung mit Lebensmitteln gewahrt bleibt (Bröring et al. 2017). Neben der Befolgung dieser Prinzipien, deren erfolgreiche Umsetzung mit einer freien Marktwirtschaft nur dann vereinbar ist, wenn sie auch wirtschaftlich sind, können auch Öko-Innovationen mögliche Konflikte zwischen verschiedenen Zielen überwinden. „Öko-Innovation ist jede wirtschaftlich motivierte Innovation, die einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung des Ziels einer nachhaltigen Entwicklung leistet, indem sie die Auswirkungen unserer Produktionsweisen auf

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3  Zielkonflikte zwischen Nachhaltigkeitszielen der Bioökonomie ...

die Umwelt verringert, die Widerstandsfähigkeit der Natur gegenüber Umweltbelastungen stärkt oder zu einer effizienteren und unsichtigeren Nutzung von natürlichen Ressourcen führt.“ (Europäische Kommission 2009; Kramer 2010) Dieser Definition ist zu entnehmen, dass bei einer Öko-Innovation Zielkongruenz zwischen der ökologischen und ökonomischen Dimension der Nachhaltigkeit besteht. Auch die Zertifizierung von Biomasse (siehe Abschn. 3.2) stellt einen solchen Lösungsansatz dar. Durch eine Zertifizierung wird schon im Ursprungsland der Biomasse sichergestellt, dass die Produktion nach sozial- und umweltverträglichen Maßgaben stattfindet. Darüber hinaus wird über die gesamte Produktionskette hinweg sichergestellt, dass sämtliche Ver- und Bearbeitungsschritte bis hin zum finalen Produkt diesen Maßgaben entsprechen.

3.6 Gesellschaftlicher Diskurs Die impliziten Zielkonflikte der Bioökonomie haben vor allem in Deutschland zu einer Diskussion darüber geführt, ob die Bioökonomie als Nachhaltigkeitsvision oder als „Irrweg“ (Gottwald und Krätzer 2014) zu betrachten sei. Für welche Betrachtungsweise man sich entscheidet, hängt auch davon ab, welchen Teil des Begriffs „Bioökonomie“ man betont. Die Betonung auf „Bio“ legt nahe, dass die Bioökonomie eine Ökologisierung der Ökonomie anstrebt und der Schlüssel für eine nachhaltige, klimaverträgliche und von fossilen Ressourcen unabhängige Wirtschaft ist. Die Betonung auf „Ökonomie“ legt nahe, dass es um eine konsequente wirtschaftliche Nutzung der natürlichen Ressourcen und eine Ausbeutung des Lebens geht (Gottwald und Krätzer 2014). Hinter diesen beiden Lesarten liegen diametrale Wertvorstellungen, die unterschiedliche Sichtweisen auf die Bioökonomie nach sich ziehen. Ob die Bioökonomie als Nachhaltigkeitsvision oder Irrweg bezeichnet wird, hängt auch davon ab, welche Systeme, Technologien, Prozesse und Produkte gemeint sind und auf welcher Ressourcenbasis diese aufbauen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Verwirklichung der Bioökonomie ist, dass die mit der Landwirtschaft verbundenen Herausforderungen trotz schlechter werdenden Voraussetzungen (z. B. Klimawandel, Bodenknappheit, Wassermangel) zu bewältigen sind. Angesichts des züchterisch-technischen Fortschritts in der Nahrungsmittelproduktion könnte dies gelingen. Dies zeigen die in den letzten Jahrzehnten erzielten Ertragszuwächse in der Landwirtschaft. Aus ökologischen Gründen und um deren Akzeptanz in der Bevölkerung zu verbessern, ist es das Ziel der Bundesregierung, die Nachhaltigkeit der landwirtschaftlichen Biomasseproduktion mit Innovationen und technischem Fortschritt, insbesondere durch Biotechnologie und digital gestützter Präzisionslandwirtschaft, zu verbessern, ohne vom Streben nach maximalen Erträgen und Gewinnen abzulassen. Durch gentechnische Optimierung von Pflanzen mit Verfahren der Genomeditierung soll die Effizienz der Photosynthese und Resilienz der Pflanzen gesteigert und die Qualität der Nahrungsmittel verbessert werden. Satellitendaten, Computerprogramme und individuell

3.6  Gesellschaftlicher Diskurs

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zusammengestellte Betriebsmittelpakete sowie neue Züchtungsverfahren, Biokatalysatoren und biosynthetisch erzeugte Produkte sollen die Effizienz und Konsistenz der Bioökonomie verbessern und dazu beitragen, dass diese nachhaltiger werden. Kritiker dieses Ansatzes gehen davon aus, dass solche High-Tech-Lösungen nicht ausreichen, um die Landwirtschaft insgesamt und dauerhaft nachhaltiger zu machen (Gottwald und Krätzer 2014). Ihrer Ansicht nach bedarf es einer ganzheitlichen Umstellung der Bioökonomie auf ökologischen Landbau mit veränderten Verfahren und geringeren Erträgen. Damit würde die Bioökonomie dazu beitragen, dass einer der Schlüsselindikatoren der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie erreicht wird. Auf diese Weise könnte die Bioökonomie ihr Nachhaltigkeitsversprechern einlösen, die Grundprinzipien des grünen Wachstums (Steigerung der Ressourceneffizienz, geschlossene Stoffkreisläufe und regenerative Energien) umzusetzen und durch die Nutzung natürlicher Ressourcen wirtschaftliches Wohlergehen im Einklang mit Natur- und Umweltschutz zu erreichen. Das Beispiel Bioenergie zeigt freilich, dass die Bioökonomie bereits heute maßgeblich zur Erreichung nationaler Nachhaltigkeitsziele beiträgt. Sie ist nicht nur für knapp 40 % aller Treibhausgas-Einsparungen aus erneuerbaren Energien verantwortlich, sondern lässt sich durch ihre Vielseitigkeit in fester, flüssiger und gasförmiger Form nutzen, ist natürlich speicher- und regelbar und kann wetterabhängige Energiequellen wie Wind und Sonne ergänzen. Über den inländischen Biomasseanbau und die Nutzung von Abfällen aus der Agrar- oder Lebensmittelproduktion ermöglicht die Bioökonomie eine regionale Wertschöpfung auf Flächen oder aus Stoffströmen, die (noch) nicht (mehr) genutzt werden. Zukünftig kann die nachhaltige Wirtschaftsweise und regionale Wertschöpfung durch eine Orientierung an natürlichen Stoffkreisläufen und der Kaskaden- und Koppelnutzung weiter verbessert werden indem ein bio-basiertes Produkt zuerst und danach noch mindestens einmal stofflich genutzt wird, bevor es als Energieträger eingesetzt wird. So kann der Ressourceneinsatz verringert und Konkurrenzen zwischen unterschiedlichen Nutzungszwecken vermindert werden. Mit solchen neuen Wertschöpfungs- und Logistikketten können Arbeitsplätze in ländlichen Regionen erhalten werden. Dies macht die Bioökonomie nicht nur wissenschaftlich und wirtschaftlich, sondern auch politisch attraktiv. Dennoch werden im gesellschaftlichen Diskurs bezüglich einer Bioökonomie (soweit deren Konzept überhaupt schon bekannt ist) meist eher deren Negativmerkmale in den Vordergrund gestellt. Als Beispiel kann man hier den Tank-Teller Diskurs anführen, der sich basierend auf der Wahrnehmung entwickelt hat, dass Flächen für die Produktion von Raps und ähnlichen pflanzlichen Rohstoffen für eine Produktion von Biotreibstoffen zu Kosten von Flächen für die Produktion von Nahrungs- und Futtermitteln geht. Ein weiteres Beispiel ist der öffentliche Diskurs zum Einsatz von gentechnologisch veränderten Pflanzensorten. Erst vor kurzem hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass der Einsatz von Genscheren (vgl. CRISPR-Cas) als gentechnologische Methode zu werten ist, obwohl er lediglich die natürlich vorkommende Mutation nachahmt, also es zu keinem künstlichen Einsetzen von Erbinformationen in die Pflanze kommt. Dies bremst die

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3  Zielkonflikte zwischen Nachhaltigkeitszielen der Bioökonomie ...

Agrarentwicklung in der EU deutlich aus und macht eine nachhaltige Produktion von Biomasse durch eine nachhaltige Steigerung der Pflanzenerträge auf lange Sicht schwierig. Durch diese Negativität des Diskurses wird viel Potenzial verschenkt. „Um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern, muss ein gesamtgesellschaftlicher Strukturwandel gelingen, der ökonomisches Wachstum und ökologische Verträglichkeit miteinander verknüpft und soziale Belange berücksichtigt. Der Transformationsprozess in Wirtschaft und Gesellschaft kann daher nur ganzheitlich erfolgen.“ heißt es in der nationalen Politikstrategie (BMBF und BMEL 2014). Dazu ist es erforderlich, die Zivilgesellschaft in Form eines Entwicklungsdiskurses in die Ausgestaltung der Bioökonomie einzubinden. Das könnte den Diskurs positiver gestalten. Eine solche Bottom-Up-Einbindung wurde anfangs allerdings versäumt. Die bisherige Politikstrategie ist eher einem Top-Down Diktat entsprungen, das stark von wirtschaftlichen Interessengruppen, hauptsächlich aus dem Agrar- und Energiebereich, beeinflusst ist. Zur Lösung dieses Missstands beziehen aktuell immer mehr Forschungsprojekte die gesellschaftliche Meinung und den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung in ihre Überlegungen und Methoden ein. Hierbei kann man grob zwischen zwei Herangehensweisen unterscheiden. Zum einen verfolgt man das Ziel, verschiedene Entwicklungswege hin zu einer biobasierten Wirtschaft auf ihre gesellschaftliche Akzeptanz hin zu untersuchen. Zum anderen versucht man, die Öffentlichkeit in den Gestaltungsprozess einzubeziehen. Optimal werden beide Ansätze gleichzeitig bedient, um auf der Grundlage einer Akzeptanzforschung eine gesamtgesellschaftliche Transformation hin zu einer Bioökonomie zu gestalten und zu begleiten. Beispiele für solche dafür sind unter anderem die Projekte: • Kommunikation und Partizipation für die gesellschaftliche Transformation von Bioökonomie (BioKompass); Senckenberggesellschaft, Frankfurt • Bioökonomie und soziale Ungleichheiten; Friedrich-Schiller Universität Jena • Szenarien einer Bioökonomie 2050 – Potenziale, Zielkonflikte, Lösungsstrategien (BEPASO), Thünen-Institut für Marktanalyse, Braunschweig.

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Methoden zur ökologischen Bewertung

4.1 Übersicht Einen Rahmen zur Analyse der Wirkbeziehungen zwischen Mensch und Umwelt bietet der Driver-Pressure-State-Impact-Response (DPSIR) Ansatz (Abb. 4.1). Das Konzept wurde Ende der 90er Jahre entwickelt und bereits für eine große Anzahl von Analysen im Kontext der vereinten Nationen und der Europäischen Umweltagentur genutzt (EEA 1995, EEA 1999). Verursacher von Umweltbelastungen (Driver) sind demnach menschliche Aktivitäten, die Druck auf die Umwelt ausüben. Hierunter fallen verschiedene Wirtschaftssektoren, aber auch der Konsum privater und öffentlicher Haushalte. Die resultierenden Umweltbelastungen (Pressures) können unterteilt werden in Entnahmen aus der Umwelt/Ressourcennutzung (z. B. Biomasse, Mineralien, Brennstoffe) und Emissionen von flüssigen, gasförmigen und festen Stoffen in die Umwelt. Beide Belastungspfade tragen dazu bei, dass sich der Zustand der Umwelt (State) verändert, etwa durch die Zunahme der Konzentration von klimawirksamen Gasen wie CO2 und N2O in der Atmosphäre oder den Verlust von Biodiversität in einem durch intensiven Ackerbau beeinflussten Ökosystem. Diese Zustandsänderungen wiederum können negative Auswirkungen (Impacts) auf die menschliche Gesellschaft (z. B. verminderte Nahrungsproduktion auf degradierten Böden), die Ökonomie (z. B. Kosten zur Aufbereitung von verunreinigtem Trinkwasser) und die Umwelt (z. B. Eutrophierung von Gewässern) nach sich ziehen. Individuen, Gesellschaften, Unternehmen und politische Institutionen können dann im Idealfall mit geeigneten Maßnahmen (Responses) auf diese Auswirkungen reagieren. Dieses Schema lässt sich am Beispiel des Klimawandels veranschaulichen. Durch die Verbrennung fossiler Energieträger (Kohle, Gas, Erdöl) zur Erzeugung von Strom und Wärme (Verursacher) gelangen Treibhausgase in die Atmosphäre

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Rösch et al., Bioökonomie im Selbststudium: Nachhaltigkeit und ökologische Bewertung, Zertifikatskurs Bioökonomie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61383-2_4

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4  Methoden zur ökologischen Bewertung

Abb. 4.1  Driver-Pressure-State-Impact-Response (DPSIR) Schema. (Eigene Darstellung)

(Belastung), wo sie zu einer Erhöhung der Treibhauskonzentration und zu einer Veränderung der Prozesse des globalen Klimasystems beitragen (Zustand). Die folgenden Klimaänderungen können in Regionen wie dem Mittelmeerraum dazu beitragen, dass häufiger auftretende Dürreereignisse zu verringerten Ernteerträgen in der Landwirtschaft führen (Moriondo et al. 2011). Mögliche Maßnahmen sind dann die Anpassung der landwirtschaftlichen Produktion an die veränderten Rahmenbedingungen, etwa durch Bewässerung, oder eine Ausrichtung am Klimaschutz durch die Verringerung der Treibhausgasemissionen, beispielsweise durch die Nutzung regenerativer Energien (z. B. Olesen et al. 2011; Mathiesen et al. 2011). Dem DPSIR-Schema folgende Analysen können auf verschiedene Problembereiche fokussieren und auf unterschiedlichen Betrachtungsebenen durchgeführt werden. In den folgenden Abschnitten werden methodische Ansätze zur ökologischen Bewertung 1) des Konsums auf nationaler Ebene sowie 2) auf Technologie- und Produktebene vorgestellt. Zu beachten ist in beiden Fällen, dass die betrachteten Variablen nicht nur lokal entstehen, sondern im Rahmen der Herstellungs- und Distributionsprozesse räumlich an verschiedenen Orten auf der Erde.

4.2  Ökologische Bewertung des Konsums auf nationaler Ebene

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4.2 Ökologische Bewertung des Konsums auf nationaler Ebene 4.2.1 Grundlagen In der globalisierten Wirtschaft wird Biomasse nicht ausschließlich in den Ländern, in denen sie verbraucht wird, produziert, sondern zunehmend als Rohprodukt oder eingebettet in Zwischen- und Endprodukte aus anderen Regionen der Welt importiert. Entsprechend entstehen die mit der Produktion oder Verarbeitung einhergehenden Umweltwirkungen an unterschiedlichen Orten der Erde, die durch Handel und die entsprechenden Materialflüsse miteinander verknüpft sind (Tukker und Dietzenbacher 2013). Beispiele hierfür sind der Flächenverbrauch in Brasilien zum Anbau von Soja, das als Kraftfutter zur Fleisch- und Milchproduktion nach Deutschland und China exportiert wird (Lathuillière et al. 2014) oder der Verlust von Biodiversität in Indonesien durch die Umwandlung von Regenwald in Plantagen zur Produktion von Palmöl als wichtigen Grundstoff für die Lebensmittel- und Kosmetikindustrie (Biermann et al. 2011; Fitzherbert et al. 2008; Lenzen et al. 2012). Im Gegensatz zu Abschn. 4.3, in dem der Fokus auf Methoden zur ökologischen Bewertung von Technologien und einzelnen Produkten liegt, steht an dieser Stelle der private und staatliche Konsum innerhalb eines Landes im Zentrum (Peters 2008). Der Konsum an Biomasse berechnet sich aus den Importen als Rohstoff sowie in Form von Zwischen- oder Endprodukten plus der genutzten inländischen Biomasse minus der Exporte von Biomasse, wiederum als Rohstoff und eingebettet in Produkte bzw. Zwischenprodukte. In Bezug auf das DPSIR Schema ist hier also der Konsum, durch Haushalte sowie durch die Industrie, als Verursacher (Driver) zu betrachten. Zur Quantifizierung der durch Konsum entstehenden Umweltbelastungen haben sich „Umwelt-Fußabdrücke“ als Indikatoren etabliert. Sie erfassen sowohl die Umweltbelastungen innerhalb des Landes, in dem der Konsum erfolgt, als auch in den Ländern in dem die (biogenen) Rohstoffe und Zwischenprodukte erzeugt werden. Der Begriff wurde in den 1990er Jahren von den Wissenschaftlern Mathis Wackernagel und William Rees geprägt. Ihr Konzept des „Ökologischen Fußabdrucks“ beschreibt eine Methode zur Erfassung der Land- und Wasserflächen, die notwendig sind, um den Ressourcenverbrauch eines Menschen, einer Gesellschaft oder eines Wirtschaftssektors zu decken und den entstehenden Abfall aufzunehmen (Rees und Wackernagel 1996; Wackernagel et al. 1999). In den folgenden Jahren wurde dieser Ansatz in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten ausdifferenziert (Galli et al. 2012; Hoekstra und Wiedmann, 2014). Im Kontext der Diskussion über eine nachhaltige Entwicklung werden beispielsweise auf Ebene der Europäischen Union in der „Roadmap für Ressourceneffizienz“ Fußabdrücke für die Bereiche Land, Wasser, Kohlenstoff und Material als Leitindikatoren (Dashboard-Indikatoren) genutzt (European Commission 2011; Tukker et al. 2016). Vereinheitlichte Berechnungsvorschriften, etwa in Form von

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4  Methoden zur ökologischen Bewertung

ISO-Normen, gibt es im Bereich der Fußabdruck-Analysen bisher selten. Ansätze dazu etwa im Bereich des Wasserfußabdrucks eignen sich nicht nur für konsumorientierte Analysen, sondern finden auch für die in Abschn. 4.3 vorgestellte technologie- und produktbezogene Betrachtungsweise im Kontext von Lebenszyklusanalysen (LCA) Anwendung (Čuček et al. 2012). Der folgende Abschnitt beschäftigt sich zunächst mit den grundlegenden Methoden zur Berechnung von konsumorientierten Fußabdrücken. Anschließend werden exemplarisch Beispiele zur Berechnung von Fußabdrücken als Indikator für die Inanspruchnahme von Land und Wasser sowie für die Emission von Treibhausgasen und Ressourcennutzung vorgestellt (Galli et al. 2012), die für die Nachhaltigkeitsbewertung der Bioökonomie eine entscheidende Bedeutung haben. Den Abschluss bilden eine kritische Betrachtung der Aussagekraft und der Unsicherheiten dieser Indikatoren.

4.2.2 Methoden zur Berechnung von Fußabdrücken Zur Berechnung von Konsum orientierten Fußabdrücken können drei Typen von methodischen Ansätzen unterschieden werden (Giljum et al. 2013). Dies sind 1) Koeffizienten basierte Methoden, 2) verschiedene Formen der ökonomischen Input-Out Analyse sowie 3) hybride Methoden, welche Elemente aus den beiden vorgenannten Ansätzen miteinander kombinieren. Alle Ansätze beruhen dabei auf dem Grundgedanken, dass die Umweltbelastungen entlang der Wertschöpfungsketten der konsumierten Produkte quantifiziert werden. Koeffizienten-basierte Methode Hierbei handelt es sich um einen Bottom-up-Ansatz, der zur Beschreibung der Umweltbelastungen spezifischer Produkte auf bereits vorhandene Informationen in Form von numerischen Koeffizienten zurückgreift. Mögliche Quellen sind Datenbanken, beispielsweise EcoInvent (Wernet et al. 2016), die im Rahmen von Life Cycle Assessment Analysen aufgebaut wurden und Informationen zu den Umweltbelastungen entlang der Lebenszyklen verschiedenster Produkte beinhalten. Die Summe der Umweltbelastungen durch den Konsum eines Produkts, der dessen Fußabdruck entspricht, wird durch Multiplikation der konsumierten Menge des Produkts mit den jeweiligen Koeffizienten errechnet. Informationen über Herkunft und die konsumierte Menge eines Produkts werden in der Regel aus Handelsdaten abgeleitet, wie sie beispielsweise in Form der Handelsstatistik der vereinten Nationen angeboten werden (UN COMTRADE 2018). Diese enthält Informationen über Importe und Exporte von mehr als 200 verschiedenen Agrarprodukten und Rohstoffen. Dieser hohe Detailgrad wird zusammen mit dem sehr einfachen transparenten Berechnungsansatz als ein wichtiger Vorteil der Koeffizienten basierten Methode betrachtet (Giljum et al. 2013). Die Qualität der Analyseergebnisse ist abhängig von der Qualität der vorhandenen Koeffizienten. Allerdings werden in solchen Datenbanken komplexere Wertschöpfungsketten nur unzureichend abgebildet. Indirekt importierte Rohstoffe, die über ein oder

4.2  Ökologische Bewertung des Konsums auf nationaler Ebene

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mehrere Drittländer bzw. in Zwischen- und Endprodukten eingebettet eingeführt werden, können somit nur eingeschränkt ihrem Produktionsort zugeordnet werden, wodurch die geographische Zuordnung der Umweltbelastungen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist. Abb. 4.2 verdeutlicht diesen Zusammenhang. Aufgrund dieser Limitierungen findet der Koeffizienten basierte Ansatz vornehmlich Verwendung bei der Analyse der Umweltbelastungen von Rohstoffen, etwa Agrargütern, die direkt aus einem Ursprungsland importiert wurden. So kann beispielsweise für Soja, welches aus Brasilien nach Deutschland exportiert wird, mit den in den FAO-Statistiken aufgeführten Informationen über die mittleren Ernteerträge in Brasilien recht einfach abgeschätzt werden, wieviel Fläche Ackerland für die Produktion der exportierten Menge dort in Anspruch genommen wird. Ökonomische Input–Output-Analyse Die Input–Output-Rechnung ist eine ökonomische Methodik zur Darstellung der produktions- und gütermäßigen Verflechtungen einer Volkswirtschaft bzw. zwischen verschiedenen Volkswirtschaften. Grundlage sind nationale Input–Output Tabellen (IOT), die von den zuständigen Statistikämtern in der Regel jährlich erstellt werden. Eine IOT auf nationaler Ebene stellt die Waren- und Dienstleistungsströme zwischen unterschiedlichen Wirtschaftssektoren der betrachteten Volkswirtschaft sowie die Güterströme zwischen ihr und der übrigen Welt innerhalb eines Jahres dar. Als Input werden Vorleistungen, also Güter bezeichnet, die im Zuge der Produktion verarbeitet, verbraucht und umgewandelt werden. Output sind demzufolge die

Abb. 4.2  Bruttoexporte und Handel als Wertschöpfung (Tukker et al. 2016). (Import von Land C aus Land B 110 Einheiten. Wertschöpfung 100 Einheiten in Land A, 10 Einheiten in Land B. Wertschöpfung in Land A hängt somit hauptsächlich von Importen von Land C ab, nicht von Land B. Emissionen aufgrund von Importen von Land C finden hauptsächlich in Land A statt, obwohl die Importe aus Land B stammen.)

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4  Methoden zur ökologischen Bewertung

produzierten Güter, die konsumiert oder exportiert werden. Die Darstellung dieser Sachverhalte erfolgt größtenteils in monetären Einheiten. In der Bundesrepublik Deutschland ist das Statistische Bundesamt für die Erstellung dieser Daten im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung verantwortlich. Es unterscheidet dabei 71 Gütergruppen sowie 71 Produktions- und 59 Wirtschaftsbereiche (Statistisches Bundesamt 2010). Um internationale Verflechtungen über internationalen Handel abbilden zu können, ist eine Erweiterung dieses Ansatzes, hin zu Multiregionale Input–Output-Modellen (MRIO) notwendig (Tukker et al. 2016). Darin werden die IOT der verschiedenen Staaten mit internationalen Handelsdaten zusammengeführt, um ein globales Bild der Verflechtungen zwischen Produktion und Konsum herzustellen. Der große Vorteil dieses Ansatzes ist seine interne Konsistenz, da die unterschiedlichen Datenquellen in einem Modell harmonisiert werden. Mathematisch formal werden IOT- und MRIO-Modelle als Matrizen abgebildet. Mit mathematischen Operationen, die auf diese Matrizen angewendet werden, ist es möglich, für jedes Produkt, das beispielsweise in Deutschland konsumiert wird, zu bestimmen, welche Inputs in welchen Sektoren für seine Herstellung aufgewendet wurden. Im Gegensatz zur Koeffizienten basierten Methode können zur Berechnung von Fußabdrücken damit auch Zwischenprodukte sowie komplexe Liefer- und Wertschöpfungsketten analysiert werden. Mittlerweile sind eine Reihe von MRIO Modellen mit integrierten Umweltdaten verfügbar. Eine detaillierte Übersicht findet sich u. a. in Tukker und Dietzenbacher (2013). Zwei Beispiele sind die World Input–Output Database (WIOD) (Timmer et al. 2012) und EXIOBASE (Stadler et al. 2018). EXIOBASE wurde im Rahmen eines EU Forschungsprojekts entwickelt. Das Modell unterscheidet 44 Länder und geographische Regionen sowie 163 Wirtschaftsbereiche und 200 Produktgruppen. Umweltbezogene Informationen umfassen Angaben zu den Bereichen Energie, Agrarproduktion und Ressourcenextraktion. Sowohl WIOD als auch EXIOBASE beinhalten zudem Zeitreihen von Daten (WIOD: 1995–2009; EXIOBASE: 1995– 2011) und ermöglichen damit detaillierte Analysen der historischen Entwicklung. MRIO-Modelle haben zwei wichtige Limitierungen. Zum einen ist dies ihre, verglichen mit internationalen Handelsstatistiken, starke Aggregation geographischer Regionen, ökonomischer Sektoren und Produkte. Zum anderen erweist sich die Übersetzung ihrer monetären Informationen in physikalische Masseflüsse oftmals als problematisch. So finden sich in einer MRIO z. B. Informationen darüber, dass für 1000 $ Weizen von Land A nach Land B exportiert wird; ohne Kenntnis der zum Zeitpunkt der Transaktion aktuellen Marktpreise pro Mengeneinheit lässt sich daraus aber keine Anbaufläche ableiten. Hybride Ansätze Hybride Ansätze kombinieren die Stärken der Koeffizienten basierten Methode und der Input–Output-Analyse. Typischerweise wird zur Berechnung der Fußabdrücke von wenig prozessierten Produkten oder Rohstoffen die Koeffizienten basierten Methode genutzt, die einen hohen Detailgrad auf Produktebene aufweist. Demgegenüber kommt für aufwendige Produkte, die über verschiedene Zwischenschritte

4.2  Ökologische Bewertung des Konsums auf nationaler Ebene

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an verschiedenen Orten der Erde gefertigt werden, die Input–Output-Analyse in Form von MRIO Modellen zur Anwendung (Bruckner et al. 2015; Fischer et al. 2017). Beispiele sind Textilien aus Baumwolle oder chemische Produkte in denen Pflanzenöle enthalten sind.

4.2.3 Landfußabdruck Landnutzung beschreibt die Art wie der Mensch die Erdoberfläche bewirtschaftet und spielt bei der Betrachtung der Nachhaltigkeit von Bioökonomie eine zentrale Rolle (vgl. Abschn. 3.3). Der Landfußabdruck einer Nation beschreibt die im Inland und Ausland in Anspruch genommenen Flächen zur Biomasseproduktion für den inländischen Konsum. Zunächst erfolgt dabei keine weitere Differenzierung der Qualität dieser Flächen in Bezug etwa auf ihre Bedeutung für Biodiversität oder ihre Anfälligkeit für Erosion. Übersichten über aktuelle Arbeiten zu Landfußabdrücken finden sich in Bruckner et al. (2015) und O’Brien et al. (2015). Es wird unterschieden zwischen Fußabdrücken für Ackerland, Weideland und Wald. Dabei kommen alle drei im vorigen Abschnitt vorgestellten Berechnungsansätze zum Einsatz. Informationen zur Ausdehnung von Ackerflächen sowie zu Ernteerträgen verschiedener Feldfrüchte pro Flächeneinheit in den einzelnen Ländern finden sich u. a. in den statistischen Daten der FAO (UN FAOSTAT 2018). Die Abschätzung des Umfangs von Weideflächen sowie der zur Holzgewinnung genutzten Flächen ist demgegenüber mit erheblichen Unsicherheiten behaftet (Bruckner et al. 2015). Im Bereich der Forstnutzung haben sich daher Methoden etabliert, die über den rein flächenbasierten Ansatz hinausgehen und den Forstfußabdruck als Anteil des als Rundholz extrahierten Anteils des Nettobiomassezuwachses von Waldflächen bestimmen (O’Brien et al. 2018). Eine umfassende Studie zum Landfußabdruck der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union (EU 28) wurde im Auftrag des Umweltbundesamtes durchgeführt (Fischer et al. 2017). Methodisch verfolgt die Arbeit einen hybriden Analyseansatz für eine Zeitreihe zwischen den Jahren 1995 und 2010. Zur Quantifizierung des Im- und Exports von wenig prozessierter Biomasse, beispielsweise in den Bereichen Nahrungsmittel oder einfacher Holzprodukte werden Handelsstatistiken verwendet, während stark prozessierte Produkte (z. B. in der chemischen Industrie) mit dem MRIO Modell EXIOBASE analysiert werden. Es werden Fußabdrücke für die Bereiche Ackerland, Weideland und Wald bestimmt. Mit der Studie konnte gezeigt werden, dass der Flächenfußabdruck eines jeden Deutschen in Bezug auf Ackerfläche 2693 m2 und in Bezug auf Weidefläche 1655 m2 beträgt. Jeweils ein Viertel der Ackerfläche werden dabei für pflanzenbasierte Nahrungsmittel und Bioenergie bzw. andere non-food Produkte genutzt. Den überwiegenden Anteil machen Futterpflanzen zur Erzeugung von tierischen Produkten wie Fleisch und Milch aus. Etwa die Hälfte der gesamten in Anspruch genommenen Ackerfläche liegt im Ausland. Der gesamte Forstfußabdruck von Deutschland betrug laut den Studienergebnissen etwa 300.000 km2 im Jahr 2010, wobei nur 25 % der zur Holzproduktion in Anspruch genommenen Waldfläche

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4  Methoden zur ökologischen Bewertung

in Deutschland lag. Wichtigste Importeure waren die Staaten der Europäischen Union sowie weitere Europäische Staaten. Diese Ergebnisse verdeutlichen nochmals die Bedeutung einer umfassenden Betrachtung von Handelsströmen. Mittlerweile gibt es eine Reihe von Studien, die bei der Analyse des Landfußabdrucks über eine rein flächenhafte Betrachtung hinausgehen und Zusammenhänge zwischen der in Anspruch genommenen Fläche und den damit einhergehenden Umweltwirkungen abbilden (siehe auch Fischer et al. 2017b). So analysieren Lenzen et al. (2012) basierend auf einem MRIO Modell den Zusammenhang zwischen Welthandel von Agrargütern und der Bedrohung von Biodiversität. Chaudhary et al. (2017) nutzen einen Koeffizienten basierten Ansatz zur Analyse der Auswirkungen von nationalem Holzkonsum und dem Verlust an Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen. Ebenfalls einen Koeffizienten basierten Ansatz verwenden Kastner et al. (2011), um den Zusammenhang zwischen internationalem Holzhandel und der Entwicklung von Waldflächen in den jeweiligen Export- und Importländern zu untersuchen.

4.2.4 Wasserfußabdruck Die Versorgung der Menschheit mit Süßwasser ist eine zentrale Zukunftsaufgabe. Darüber hinaus muss sichergestellt werden, dass in den Oberflächengewässern ausreichend Wasser in entsprechender Qualität zum Erhalt der aquatischen und semi-aquatischen Ökosysteme verbleibt (Poff und Zimmerman 2011). Prozesse der Bioökonomie haben Auswirkungen sowohl auf Wasserentnahmen als auch auf Wasserqualität. So steht in vielen Fällen beispielsweise die Entnahme von Wasser zur Bewässerung von landwirtschaftlich genutzten Flächen, auf denen Biomasse angebaut wird, in direkter Konkurrenz zu den Bedarfen von Haushalten und Industrie. Verschiedene Studien gehen davon aus, dass die eingesetzte Menge an Bewässerungswasser in den kommenden Jahrzehnten zunehmen wird (Rockström et al. 2007). Als Hauptgründe werden der Klimawandel mit regional abnehmenden Niederschlagsmengen sowie ein stetig wachsender Bedarf nach Agrargütern genannt. Diese Entwicklungen werden mit großer Wahrscheinlichkeit u. a. in Asien zu höherem Wassermangel und Wasserstress beitragen (Fant et al. 2016). Auswirkungen, insbesondere der Landwirtschaft, auf Wasserqualität finden sich in Einträgen von toxischen Substanzen etwa in Form von Pestiziden (Morrissey et al. 2015; Stehle und Schulz 2015) sowie von ausgewaschenen Nährstoffen (Phosphor, Stickstoff) aus Düngemitteln, wobei letztere zur Eutrophierung von Gewässern beitragen können (Dupas et al. 2015). Der Wasserfußabdruck quantifiziert die Menge an Süßwasser, die direkt und indirekt zur Erzeugung der in einem Land konsumierten Güter und Dienstleistungen aufgewendet wird. Dabei wird zwischen einer verbrauchenden und einer degradierenden Wassernutzung unterschieden. Die Bestimmung der verbrauchenden Wassernutzung unterscheidet zwischen grünem und blauem Wasser (siehe Falkenmark und Rockström 2006). Blaues Wasser wird Oberflächengewässern oder dem Grundwasser zur Nutzung entnommen. Demgegenüber wird grünes Wasser,

4.2  Ökologische Bewertung des Konsums auf nationaler Ebene

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über die Pflanzenwurzeln dem Bodenwasserspeicher entnommen. Der Wasserbedarf einer Feldfrucht auf einer nicht bewässerten Ackerfläche wird nach dieser Logik vollständig über grünes Wasser gedeckt, das durch Niederschläge in den Bodenwasserspeicher gelangt. Im Bewässerungsfeldbau wird ein Teil des grünen Wassers durch Wasserentnahmen aus Oberflächengewässern oder dem Grundwasserleiter, also durch die Nutzung von blauem Wasser bereitgestellt. Im Gegensatz dazu beschreibt der Grauwasser-Fußabdruck die degradierende bzw. verschmutzende Wassernutzung. Er ist definiert als die Menge an Wasser, die notwendig wäre, um durch Verdünnung die Schadstoffkonzentration von verunreinigtem Wasser unter die gesetzlichen Grenzwerte zu verringern. Alle drei Komponenten dieses Fußabdrucks lassen sich als Wasservolumina quantifizieren. Eine der umfassendsten Studien zur Quantifizierung von nationalen Wasserfußabdrücken findet sich in Mekonnen und Hoeckstra (2011) sowie Hoeckstra und Mekonnen (2012). Darin wurde zunächst der Wasserfußabdruck der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion innerhalb einzelner Nationen bestimmt. In einem zweiten Schritt erfolgte dann die Berechnung sogenannter virtueller Wasserflüsse zwischen Import- und Exportnationen. Methodisch ist die Studie dem Koeffizienten basierten Ansatz zuzuordnen, da sie intensiv auf Handelsdaten zugreift und diese dann mit entsprechenden Informationen zur Wassernutzung verknüpft. Die Ergebnisse deuten auf eine besondere Wichtigkeit des Wasserfußabdrucks für die Betrachtung der Bioökonomie hin. Über 90 % des globalen Wasserfußabdrucks können demnach der Landwirtschaft, also direkt oder indirekt der Erzeugung von Biomasse, hauptsächlich in Form von Getreide und tierischen Produkten (Fleisch, Milch) zugeordnet werden. Weiterhin werden 20 % des gesamten Wasserfußabdrucks durch den globalen Handel bestimmt. Eine Substitution von fossilen durch biogene Rohstoffe könnte demnach zu einer Erhöhung des Wasserfußabdrucks beitragen. Wie auch der Landfußabdruck lässt der Wasserfußabdruck, wie er oben beschrieben wird, keine Aussagen darüber zu, welche Folgen mit der Wassernutzung für eine bestimmte Region verbunden sind. An diesem Punkt setzen die Arbeiten von Pfister et al. (2009) und Boulay et al. (2011) an. Sie erweitern das Konzept dahin, dass der Beitrag zum regionalen Wasserstress in die jeweilige Betrachtung miteinfließt. Wasserstress wird für jedes Wassereinzugsgebiet ermittelt als der Quotient aus Wassernutzung und hydrologischer Wasserverfügbarkeit (Boulay et al. 2011), bzw. Wasserentnahme und hydrologischer Wasserverfügbarkeit (Pfister et al. 2009). Ihren Ursprung haben diese Arbeiten im Bereich der LCA.

4.2.5 Treibhausgasfußabdruck Der Treibhausgasfußabdruck umfasst alle Treibhausgasemissionen, die direkt und indirekt mit dem Konsum von Produkten in einem Land in Verbindung stehen (Wiedmann und Minx 2008). Damit unterscheidet sich dieser Ansatz stark von der Vorgehensweise zur Bilanzierung im Rahmen der Berichterstattung der Treib-

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4  Methoden zur ökologischen Bewertung

hausgasemissionen auf Ebene des UN Klimaprotokolls, die eine territoriale Sichtweise vorgibt und die Emissionen, die innerhalb eines Landes entstehen erfasst. Der Treibhausgasfußabdruck ordnet entstehende Emissionen im Gegensatz dazu nicht dem Hersteller eines Produkts, sondern dem Konsumenten zu. Im Bereich der Lebenszyklusanalyse gibt es bereits etablierte Methoden zur Berechnung des Treibhausgasfußabdrucks. Dies sind u. a. der PAS 2050 Standard (BSI 2008), der „Product Life Cycle Accounting and Reporting Standard“ entwickelt vom World Resources Institute (WRI) und dem World Business Council for Sustainable Development (WBCSD) (WRI und WBCSD 2011) sowie den ISO 14067 Standard für den Kohlenstofffußabdruck von Produkten (ISO 2012). Erfasst werden neben Kohlendioxid (CO2), das z. B. bei Verbrennungsprozessen entsteht, auch andere Treibhausgase. Im Bereich der Landwirtschaft, und damit von besonderer Relevanz für die Bioökonomie, sind dies Lachgas (N2O) und Methan (CH4). Während das erstgenannte im Zuge der Stickstoffdüngung von Acker- und Weidefläche entsteht, sind ein Großteil der Methanemissionen auf die Haltung von Wiederkäuern als Nutztiere sowie, insbesondere in Asien, auf den Anbau von Nassreis zurückzuführen (Cai et al. 1997). Beide Gase sind wesentlich wirksamer für den globalen Treibhauseffekt als Kohlendioxid (Lachgas: Faktor 265; Methan: Faktor 28), sodass, auch wenn die tatsächlich emittierten Mengen in der Regel weit unter den Kohlendioxidemissionen liegen, eine Berücksichtigung erfolgen muss. Zur Berechnung des Treibhausgasfußabdrucks erfolgt eine Normierung der Emissionsmengen der beiden Gase auf das Treibhauspotenzial von Kohlendioxid. Als Maßeinheit für den Fußabdruck wird CO2-Äquivalent genutzt. Der Treibhausgasfußabdruck weist eine starke Querverbindung zum Landfußabdruck auf. Denn die Umwandlung von natürlichen Ökosystemen in Acker- und Weideland ist in der Regel mit Kohlendioxidemissionen aus den biogenen Kohlenstoffspeichern in Boden und Vegetation verbunden (Houghton et al. 2012). Dabei wird zwischen direkten und indirekten Landnutzungsänderungen unterschieden (vgl. Abschn. 3.2). Der Treibhausgasfußabdruck ist Bestandteil der umweltökonomischen Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes (Statistisches Bundesamt 2018), wobei die Berichterstattung sowohl die entstehungsseitigen Emissionen auf dem Territorium der Bundesrepublik als auch die konsumbezogenen Emissionen im Sinne des Treibhausgasfußabdrucks umfasst. Der Treibhausgasfußabdruck wird in diesem Beispiel mit einem hybriden Ansatz berechnet. Zur Veranschaulichung zeigt Abb. 4.3 die direkten und indirekten Kohlendioxidemissionen in Deutschland nach beiden Berechnungsansätzen. Entstehungsseitig entfallen 203 Mio. Tonnen auf private Haushalte und 738 Mio. Tonnen auf inländische Produktionsbereiche. Weitere 469 Mio. Tonnen entstehen außerhalb der Bundesrepublik bei der Herstellung von Gütern, die nach Deutschland exportiert werden. In der konsumorientierten Berechnung wird deutlich, dass durch den Inlandskonsum insgesamt 858 Mio. Tonnen Kohlendioxidemissionen erzeugt werden. Auf Konsumgütern der privaten Haushalte entfallen dabei 421 Mio. Tonnen der Kohlendioxidemissionen, von denen 152 Mio. Tonnen im Ausland und 269 Mio. Tonnen im Inland entstehen.

4.2  Ökologische Bewertung des Konsums auf nationaler Ebene

43

Abb. 4.3  Direkte und indirekte CO2-Emissionen in Deutschland 2014 (Statistisches Bundesamt 2018)

4.2.6 Materialfußabdruck Ein wichtiges Kennzeichen der globalen ökonomischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ist ein stetiger Zuwachs der Nutzung natürlicher Ressourcen zur Produktion von Gütern und zur Bereitstellung von Dienstleistungen (Giljum et al. 2015). Dies umfasst neben Biomasse und Wasser insbesondere nichtregenerative Ressourcen wie Metallerze, nicht-metallische Mineralien (z. B. Sand, Kies) und fossile Energieträger. Hieraus ergeben sich gerade für die Europäische Union Fragestellungen des Zugangs zu Ressourcen und einer zunehmenden Abhängigkeit von Importen (Calvo et al. 2016). Weiterhin sind mit der Förderung bzw. Produktion von Rohstoffen eine Reihe negativer Folgen für die Umwelt verbunden. Beispielsweise sind Goldminen verantwortlich für Schwermetallbelastungen von Gewässern und Böden (Adler et al. 2007) und die Braunkohleförderung im Tagebau für die Zerstörung ganzer Landschaften (Larondelle und Haase 2012). Zur Verringerung der Rohstoffnutzung kommt, neben einer höheren Effizienz, der Abfall- und Kreislaufwirtschaft eine besondere Rolle zu (Haas et al. 2015). Durch die Wiederverwendung von Produkten (z. B. Pfandflaschen) und durch Recyclingprozesse bestehen erhebliche Potenziale, den Einsatz von Primärrohstoffen und damit auch die Abhängigkeit von Importen sowie negative Umweltfolgen bei der Ressourcenförderung zu vermindern.

44

4  Methoden zur ökologischen Bewertung

Der Material-Fußabdruck (englisch: Raw Material Consumption, RMC) beschreibt analog zu den in den vorigen Abschnitten beschriebenen Indikatoren die Gesamtmenge an Rohstoffen zur Deckung der Endnachfrage nach Gütern und Dienstleistungen innerhalb eines Landes, unter Berücksichtigung der direkt importierten Rohstoffe sowie den indirekt in Form von Produkten und Zwischenprodukten importierten Rohstoffmengen (Giljum et al. 2015). Aufgrund der komplexen Einbettung verschiedener Rohstoffe in Produkten und Zwischenprodukten eignen sich zur Berechnung insbesondere MRIO Modelle und hybride Ansätze (Lutter et al. 2016). Der RMC als konsumorientierter Indikator steht anderen Indikatoren der Materialflussanalyse gegenüber, die beispielsweise den inländischen Materialkonsum (englisch: Domestic Material Consumption, DMC) oder den gesamten Materialeinsatz (TMR), der sowohl die genutzten als auch ungenutzten Materialien berücksichtigt, die entlang der Wertschöpfungsketten der in einem Land verarbeiteten bzw. konsumierten Waren und Dienstleistungen entnommen werden (UBA 2018). Die Bedeutung des Materialfußabdrucks als Indikator für die Bioökonomie liegt darin, dass er die Ressourceneffizienz und die Substitution von nicht erneuerbaren Ressourcen messen kann. In einer umfassenden Studie, deren Bezugsjahr 2008 ist, zeigen Wiedmann et al. (2015) anhand des Materialfußabdrucks, dass eine Entkopplung zwischen Ressourcenproduktivität und Wirtschaftswachstum auf der Ebene von Staaten aus der konsumorientierten Sichtweise in geringerem Maße stattfindet als dies mit anderen Materialflussindikatoren bisher beschrieben wurde. Weiterhin wird deutlich, dass ein zunehmender Wohlstand zu einer Verlagerung der Ressourcenentnahme aus dem Inland in andere Weltregionen führt. Das Umweltbundesamt veröffentlicht regelmäßig Berichte über die Nutzung natürlicher Ressourcen in Deutschland (UBA 2018). Neben Informationen zum Flächen-, Treibhausgas- und Wasserfußabdruck enthält dieser Bericht umfassende Information zu Materialflüssen. Der Materialfußabdruck für Deutschland betrug demnach im Jahr 2014 1,3 Gigatonnen bzw. umgerechnet 16,1 t pro Kopf. Seit 2000 ist dieser Wert um 17 % gesunken. Die größten Anteile des Rohstoffkonsums nehmen nicht-metallische Mineralien mit 45 %, fossile Energieträger mit 29 % und Biomasse mit 21 % ein. Als wichtigste Produktgruppen nennt der Bericht Produkte auf Basis von Biomasse, beispielsweise im Lebensmittelbereich, sowie Produkte, die im Bauwesen eingesetzt werden. Dies zeigt sehr deutlich den Stellenwert, welche die Bioökonomie in Bezug auf die Rohstoffnutzung heute schon einnimmt.

4.2.7 Kritische Reflektion: Anwendung und methodische Probleme Ein Anwendungsfeld der Umwelt-Fußabdrücke liegt im Bereich der Bewertung und des Monitorings der Nachhaltigkeit der Bioökonomie auf nationaler Ebene. Egenolf und Bringezu (2019) haben dazu das in Abschn. 2.2 vorgestellte Konzept

4.2  Ökologische Bewertung des Konsums auf nationaler Ebene

45

entwickelt. Eine Grundvoraussetzung für die Etablierung eines kontinuierlichen Monitorings ist es, die zugrundeliegenden Daten und damit auch die verwendeten MRIO-Modelle zeitlich und methodisch konsistent fortzuschreiben. Neben der Datenanalyse kommt in einem solchen Monitoring der Bewertung der Ergebnisse eine zentrale Rolle zu. Die deutsche Politikstrategie Bioökonomie in Zusammenhang mit den UN Nachhaltigkeitszielen und den Zielen zur Steigerung der Ressourceneffizienz können dabei zur Orientierung dienen. Allerdings gibt es bisher weder in Deutschland noch auf internationaler Ebene einen politischen Konsens darüber, welche Zielwerte für die Umwelt-Fußabdrücke angestrebt werden sollen. In der wissenschaftlichen Literatur finden sich allerdings eine Reihe von Studien, die Vorschläge dafür machen (O’Neill et al. 2018; Häyhä et al. 2016). Ein wichtiges Element, auf das diese Studien aufbauen, ist dabei das Konzept der Planetaren Grenzen, das Steffen et al. (2015) ausführlich beschreiben. Sie definieren darin neun Bereiche, sogenannte Kontrollvariablen, für die bestimmte Grenzen der Belastbarkeit nicht überschritten werden sollten, um die Stabilität und Funktionalität des Systems Erde in einem Rahmen aufrecht zu erhalten, der auch für künftige Generationen günstig ist. Diese Kontrollvariablen umfassen Klimawandel, Intaktheit der Biosphäre, Neue Substanzen und Lebensformen, Ozonverlust in der Stratosphäre, Aerosolgehalt der Atmosphäre, Versauerung der Meere, Biogeochemische Flüsse, Süßwassernutzung und Landnutzungswandel. Für Gemeingüter wie die Atmosphäre können diese Belastungsgrenzen auf globaler Ebene abgeleitet werden. In einem zweiten Schritt müssen diese Grenzen dann als Zielwerte für die nationale Ebene operationalisiert werden, etwa in Form von maximalen Pro-Kopf-Werten der Ressourcen-Inanspruchnahme. So argumentieren O’Neill et al. (2018), dass zur Stabilisierung der globalen Erwärmung auf + 2 °C zwischen 2011 und 2100 maximal 1000 Gt des Treibhausgases CO2 zusätzlich in die Atmosphäre emittiert werden dürfen, was gleichmäßig verteilt auf eine Weltbevölkerung von ungefähr 7 Mrd. Menschen ein Emissionskontingent von 1.61 t CO2 pro Person im Jahr entspricht. Für andere Bereiche (z. B. Süßwassernutzung und Biodiversität) sind demgegenüber aufgrund der großen naturräumlichen Heterogenität Betrachtungen von Zielgrößen auf regionaler Ebene notwendig. Neben der Definition geeigneter Bewertungsmaßstäbe gibt es eine Reihe methodischer Probleme, die eine Nutzung der Fußabdruckindikatoren erschweren und aus denen sich der Bedarf nach weiteren Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zu diesem Thema ableiten lässt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich für die Berechnung der Fußabdruckindikatoren, im Gegensatz zum Life Cycle Assessment (LCA), noch keine verbindlichen Standards etabliert haben, wodurch die Vergleichbarkeit verschiedener Studien erheblich erschwert wird. So gibt es große Unterschiede in den Ergebnissen zwischen den drei methodischen Ansätzen und auch die unterschiedlichen MRIO-Modelle weisen große Differenzen in ihrer räumlichen Auflösung und Unterteilung von Produkten und Wirtschaftssektoren auf (Bruckner et al. 2015; Inomata aund Owen 2014). Gerade

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4  Methoden zur ökologischen Bewertung

für eine Betrachtung von Aspekten der Bioökonomie ist dies von besonderer Bedeutung, da zu erwarten ist, dass in der stofflichen Nutzung Biomasse zunehmend mit anderen Rohstoffen wie Metallen kombiniert wird. Budzinski et al. (2017) diskutieren die Problematik einer unzureichenden Auflösung von Produkten und Sektoren im Bereich der Holznutzung in Deutschland. Ein weiterer wichtiger Punkt zielt auf die Analyse der durch die Fußabdrücke erzeugten Umweltfolgen. Hier weisen u. a. Verones et al. (2017) darauf hin, dass neben einer Betrachtung des Drucks, der beispielsweise durch die Inanspruchnahme von Land oder Wasser auf die Umwelt ausgeübt wird, auch die damit einhergehenden Folgen etwa für Biodiversität oder Bodenerosion stärker berücksichtigt werden sollten. Fischer et al. (2017b) schlagen vor diesem Hintergrund Ansätze für eine Erweiterung des Landfußabdrucks vor.

4.3 Bewertung auf Technologie und Produktebene Es bedarf einer umfassenden, methodisch konsistenten und transparenten Methode, um bewerten zu können, wie nachhaltig ein Bioökonomie-Produkt oder -Prozess oder eine bioökonomische Dienstleistung ist. Im Fokus sollte dabei die ökologische Bewertung stehen, da es das vorrangige Ziel der Politikstrategie Bioökonomie ist, zum Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutz beizutragen. Diese Anforderungen werden von der systematischen Lebenszyklusanalyse (Englisch: Life Cycle Assessment oder abgekürzt LCA) erfüllt (Goedkoop et al. 2017). Die LCA oder Ökobilanzierung ist eine in der Wissenschaft und Wirtschaft übliche und bewährte Methode, um die Umweltauswirkungen eines Produkts oder Prozesses strukturiert und über den ganzen Lebensweg hinweg zu analysieren und quantifiziert zu bewerten (Klöpffer und Grahl 2009). Für die Lebenszyklusanalyse müssen Daten aller Materialien und Verarbeitungsprozesse über deren gesamten Lebensweg ermittelt werden: Daten zu Rohstoffgewinnung und Transporten, Herstellungs- und Verarbeitungsprozessen, Hilfs- und Betriebsstoffen, zur Nutzungsphase sowie zur Entsorgung des Produkts bzw. Materials, aber auch zu allen bei der Herstellung anfallenden Abfällen. Das Denken in Lebenszyklen (Life Cycle Thinking) erweitert nicht nur den Betrachtungshorizont, sondern auch die Anzahl der Bewertungskriterien erheblich. Bei der Bewertung der Biomassebereitstellung zur Herstellung von Biokraftstoffen werden beispielsweise neben den CO2-Emissionen der Traktoren auch andere klimarelevante Emissionen (z. B. aus der Düngung der Energiepflanzen mit Stickstoff) sowie weitere Umweltauswirkungen (z. B. die eutrophierende Wirkung der Düngung) einbezogen. Vereinfacht gesagt beruht eine LCA auf der Vernetzung einer großen Zahl von Subsystemen, die wiederum auf einer Vielzahl an Prozessen und Produktionen beruhen, die für sich genommen nicht ausreichen, den Einfluss eines Produktes oder eines Prozesses auf den Verbrauch an Ressourcen oder die Belastung der

4.3  Bewertung auf Technologie und Produktebene

47

Umwelt und der menschlichen Gesundheit adäquat abzubilden (Kloepffer 2008). Die LCA aggregiert und konzeptualisiert Daten aus unterschiedlichen Bereichen, um die Wirkungen eines Produkts oder eines Prozesses umfassend darstellen und bewerten zu können. Aus diesem Grund findet dieser Ansatz trotz seiner Komplexität sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft breite Anwendung. Mit Hilfe einer LCA kann die Umweltverträglichkeit von verschiedenen Produkten oder Prozessen, welche die gleiche Funktion erfüllen, verglichen werden. Die Methode eignet sich zur Hotspot-Analyse, das heißt zur Identifizierung der Potenziale und Schwachstellen eines Produkts oder eines Prozesses (z. B. hoher Energiebedarf) und zur Bewertung von Änderungen oder prospektiven Entwicklungen der Technologie mit dem Ziel, das Produkt oder den Prozess nachhaltiger zu gestalten (Heijungs et al. 1992). Die LCA schafft so die ökologische Grundlage für strategische Entscheidungen während des Designprozesses von Produkten oder der Optimierung von Prozessen. Darüber hinaus werden LCAErgebnisse auch für Zertifizierungen und für Werbezwecke genutzt. Die Durchführung von Lebenszyklusanalysen ist seit 1997 durch die International Standardisation Organisation (ISO) genormt und erfolgt auf Basis der Normen ISO 14040 und ISO 14044 (DIN 2006 und 2006a). Der Aufbau einer Ökobilanz und das Vorgehen bei deren Erstellung ist in vier Phasen aufgeteilt (Abb. 4.4).

4.3.1 Zieldefinition und Systemgrenzen Die Zieldefinition beinhaltet die genaue Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes. Dazu gehören Ziel und Zweck der Bilanz, die funktionelle Einheit und die Beschreibung der Methodik der Modellierung und Wirkungsabschätzung. Die Wirkungsabschätzung erfolgt auf Grundlage der Sachbilanz (Inventar der Inputund Outputströme), das sogenannte Lebenszyklusinventar (Life Cycle Inventory – LCI) des zu untersuchenden Systems. Die Interpretation der Ergebnisse der

Abb. 4.4  Die vier Phasen einer Ökobilanz (Grafik: Bundesamt für Umwelt, Schweiz)

48

4  Methoden zur ökologischen Bewertung

Wirkungsabschätzung mit Blick auf die Ziele und den Zweck der Ökobilanz erfolgt in der letzten Phase der LCA. Gemäß der Fragestellung werden zuerst das Ziel der Analyse und das Untersuchungsdesign der Ökobilanz festgelegt. Im LCA-Design werden der geographische Rahmen und die Systemgrenzen festgelegt. Die Wahl des Untersuchungsrahmens und insbesondere der Systemgrenzen kann entscheidend für das Ergebnis sein, denn hier wird definiert, welche Prozesse betrachtet werden und welche nicht.

4.3.2 Funktionelle Einheit und Allokation Bei der Definition der funktionellen Einheit, auf welche die Umweltwirkungen bezogen werden, muss gewährleistet sein, dass diese beim Vergleich von Produkten so gewählt wird, dass die jeweils gleiche Funktion erfüllt wird. Dies ist nicht immer möglich durch Wahl einer einfachen Mengeneinheit (z. B. kg oder l), da je nach Produkt bei dessen Herstellung oder Nutzung unterschiedliche Mengen zur Erzielung einer bestimmten Funktion erforderlich sein können. Modellierungstechnisch ist es unerwünscht, dass es mehr als ein Produkt gibt, da die LCA sich auf eine funktionelle Einheit bezieht und Nebenprodukte das Ergebnis verfälschen würden. Wenn aber bei einem Prozess neben dem zu bilanzierenden Hauptprodukt weitere Produkte (Neben- oder Koppelprodukte) entstehen, dürfen die Umweltwirkungen nicht ausschließlich dem Hauptprodukt zugerechnet werden, sondern müssen auf alle Produkte aufgeteilt werden. Dieser Vorgang wird als Allokation bezeichnet. Solche Zurechnungsvorschriften sind in der Kostenrechnung bei Koppelprozessen üblich. Die Allokation kann nach dem Prinzip der Masse oder chemisch-physikalischer Gesetzmäßigkeiten (Stöchiometrie), aber auch anhand ökonomischer Erwägungen durchgeführt werden. Welche die jeweils „richtige“ ist, kommt auf das definierte Ziel der Ökobilanz an.

4.3.3 Sachbilanz und Wirkungsabschätzung Für die Sachbilanz werden alle Input- und Outputströme innerhalb des festgelegten Untersuchungsrahmens und der definierten Systemgrenzen erfasst. Dazu zählen die verwendeten Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe für die Rohstoffgewinnung sowie die Herstellungs-, Verarbeitungs-, Transport- und Entsorgungsprozesse. In der Praxis sind viele dieser für die Erstellung vollständiger Masse- und Energiebilanzen notwendigen Daten nicht bekannt. Deshalb wird eine größtmögliche Annäherung versucht. Ökobilanzsoftware (z. B. Umberto®, SimaPro®, GaBi® oder openLCA) erleichtert diesen Bearbeitungsschritt enorm, indem ein Produktsystem mit in einer Datenbank hinterlegten Material- und Prozessmodulen modelliert wird. Mit der Modellierung der Energie- und Masseströme wird eine möglichst

4.3  Bewertung auf Technologie und Produktebene

49

umfassende, detailgenaue und praxisrelevante Erfassung aller Entnahmen aus der Umwelt sowie aller Umweltbelastungen durch Emissionen und Abfälle angestrebt. In der Sachbilanz werden die einzelnen Parameter aufsummiert und für die Wirkungsabschätzung klassifiziert. Die Erstellung einer Sachbilanz ist ein iterativer Prozess, denn es kann erforderlich sein, den Datensatz zu verändern und mehrere Schleifen zu drehen, um interpretierbare Ergebnisse zu erhalten. Häufig muss auch mit Annahmen gearbeitet werden, da bestimmte Daten nicht verfügbar sind oder ermittelt werden können. Diese Annahmen müssen transparent gemacht werden. Ein wesentlicher Aspekt der Ökobilanzierung ist die Zuordnung von Emissionen und Ressourcenverbräuchen zu unterschiedlichen Umweltwirkungskategorien (z. B. Klimawandel, Eutrophierung) und die Aggregation von Umweltwirkungen zu den entsprechenden Indikatorwerten (z. B. Treibhauspotenzial, Eutrophierungspotenzial). Dieser Schritt wird bei der Wirkungsabschätzung geleistet, indem Informationen aus der Sachbilanz auf wenige Parameter verdichtet werden. Die Aggregation innerhalb dieser Wirkungskategorien erfolgt durch Multiplikation der einzelnen Input- und Outputgrößen mit wissenschaftlich abgesicherten Gewichtungsfaktoren für die jeweiligen Schadstoffe. Für eine Gesamtbewertung können die einzelnen Wirkungskategorien untereinander gewichtet und in einer Rangfolge angeordnet werden. Meist bilden umweltpolitische Grundsätze die Grundlage für Gewichtungsfaktoren. Nach Ermittlung der Gewichtungen für die einzelnen Kategorien können entsprechend den Ergebnissen Ansätze für eine ökologische Verbesserung ausgearbeitet werden. Für die Wirkungsabschätzung kann zwischen verschiedenen Methoden gewählt werden, die sich hinsichtlich Umfang und Vorgehen bei der Charakterisierung und Gewichtung unterscheiden. Für die Wirkungsabschätzung im Rahmen von Ökobilanzen stehen problemorientierte Methoden (z. B. CML-2001; ILCD 2011) sowie schadensorientierte Methoden (z. B. Eco-indicator 99) zur Verfügung. Mittels problemorientierter Ansätze (Midpoint Methoden) werden die Beiträge zu ausgewählten Umweltproblemen (z. B. Klimawandel oder Versauerung) quantifiziert, während bei den schadensorientierten Ansätzen (Endpoint-Methoden) die resultierenden Schäden (z. B. in Bezug auf die menschliche Gesundheit) quantifiziert werden (vgl. Abb. 4.5). Beispielhaft werden drei gängige Methoden erläutert: • • • •

CML 2001 (problemorientiert) ReCiPe 2009 (problem- und schadensorientiert) ILCD 2011 (problem- und schadensorientiert) Eco-indicator 99 (schadensorientiert

Die in den Niederlanden entwickelte CML-Methode (Guinée 2002, 2016) geht auf das Centrum voor Milieukunde (CML) der Universität Leiden zurück. Hier wurde sie 1992 von Heijungs et al. (1992) veröffentlicht und im Jahr 2000 einer grundlegenden Überarbeitung unterzogen. Die Wirkungsabschätzung wird bei

50

4  Methoden zur ökologischen Bewertung

Abb. 4.5  Der Midpoint und Endpoint Ansatz zur Bewertung von Umweltwirkungen auf Basis von Lebenszyklusinventaren (Grafik: Clausthaler Umwelttechnik-Institut GmbH, ClausthalZellerfeld)

der CML-Methode durch eine wirkungsorientierte Klassifizierung der Stoff- und Energieströme durchgeführt. Dafür werden die Daten den folgenden Wirkungskategorien (Basiskategorien) zugeordnet (Guineé 2002): • • • • • •

Erschöpfung abiotischer Ressourcen (Abiotic Depletion Factor, ADF). Landnutzung – Nutzungskonkurrenz (Land occupation) Klimawandel (Global Warming Potential, GWP). Ozonabbau (Stratosphäre) (Ozone Depletion Potential, ODP). Humantoxizität (Human Toxicity Potential, HTP). Aquatische Ökotoxizität (Fresh Water Aquatic EcoToxicity Potential, FAETP, Marine Aquatic EcoToxicity Potential, MAETP). • Terrestrische Ökotoxizität (Terrestrial EcoToxicity Potential, TETO). • Bildung von Photooxidantien (Photochemical Ozone Creation Potential, POCP). • Versauerung (Acidification Potential, AP). • Eutrophierung (Eutrophication Potential, EP). Mit dem ReCiPe-Ansatz (Goedkoop et al. 2017) ist eine Auswertung auf Midpoint-Ebene (vergleichbar mit CML) mit 8 Midpoint Indikatoren wie auch auf Endpoint-Ebene mit 3 Endpoint Indikatoren (basierend auf den Schutzgütern menschliche Gesundheit, Ökosystemqualität und Ressourcenentwertung) möglich. Das Joint Research Center (JRC) der Europäischen Kommission hat das International Reference Life Cycle Data System (ILCD) Handbook ent-

4.3  Bewertung auf Technologie und Produktebene

51

wickelt, um die Datenerhebung für Verbrauchs- und Erzeugungsstrukturen und die Datenaggregation zu vereinheitlichen (EU-JRC 2011). Das Handbuch bietet Leitlinien für die Durchführung von Lebenszyklusanalysen zur Quantifizierung der Emissionen, des Rohstoffverbrauchs und der Umweltauswirkungen von Produkten. Durch den Bezug auf Ökobilanzdatenbanken wurde ein gemeinsamer Standard geschaffen, der als ILCD-Standard bezeichnet wird. In Tab. 4.1 sind die 16 Midpoint-Umweltwirkungskategorien und Indikatoren nach ILCD-Handbuch der Europäischen Kommission aufgeführt. Gemäß EU-JRC 2011 werden die Indikatoren und die entsprechenden Methoden der Wirkungsabschätzung wie folgt klassifiziert: I: empfohlen und zufriedenstellend, II: empfohlen, aber verbesserungsbedürftig, III: empfohlen, aber mit Vorsicht anzuwenden, Interim: nicht empfohlen. Das ILCD-Handbuch gibt für die 16 Midpoint-Kategorien auch Empfehlungen für die Verwendung von Endpoint Indikatoren: Lediglich für die drei Kategorien Particulate Matter, Photochemical Ozone Formation und Human Toxicity werden im ILCD-Handbuch Methoden und Indikatoren für die EndpointBetrachtung empfohlen (vgl. EU-JRC 2011). Mit Hilfe der schadensorientierten Methode Eco-indicator 99 werden für verschiedene Umweltwirkungen die damit verbundenen Schäden für die menschliche Gesundheit, Ökosysteme und Ressourcen abgeschätzt. Die Modellierung dieser Schäden erfolgt mittels Schadensindikatoren. Im Rahmen der Wirkungsabschätzung werden die Ergebnisse der Sachbilanz einer der insgesamt zehn Wirkungskategorien zugeordnet, die wiederum zu einer der drei Schadenskategorien gehören (vgl. Tab. 4.2), und der jeweilige Schadensindikator-Wert wird ermittelt. Durch Normalisierung und Gewichtung der Schadensindikatoren wird schließlich ein aggregierter Wert als Ergebnis der Bewertung gebildet, der in der Einheit Ecoindicator 99 points (EI 99 points) ausgedrückt wird (vgl. Goedkoop und Spriensma 2001). Die Aggregation der Umweltauswirkungen einzelner Stoffe über die Schadenskategorien der Endpoint Indikatoren erfolgt analog zu den anthropogen definierten Schutzgütern (menschliche Gesundheit, Ökosysteme, Ressourcen) welche die Grundlagen für gesellschaftliche Entscheidungsprozesse darstellen. Bei der Zuordnung von Substanzen zu Wirkungskategorien muss beachtet werden, dass manche Stoffe verschiedene Umweltauswirkungen haben können. Beispielsweise trägt Stickstoff in Stickoxid-Verbindungen (NOx) sowohl zur Versauerung als auch zur Überdüngung bei. Durch die automatische Berechnung der Wirkungsindikatorwerte kann dies ohne Aufwand berücksichtigt werden. Allerdings sind dadurch die tatsächlichen Hintergründe und Zusammenhänge der Umweltwirkmechanismen oft nicht mehr präsent, was eine Interpretation der Ergebnisse erschwert oder zu falschen Schlussfolgerungen führen kann.

4.3.4 Interpretation der Ergebnisse Die Ergebnisse der Ökobilanz und ihre Aussagekraft hängen wie bei jeder quantitativen Modellierungsmethode vom Untersuchungsrahmen, den System-

4  Methoden zur ökologischen Bewertung

52

Tab. 4.1  Umweltwirkungskategorien, Midpoint-Indikatoren und Klassifizierung nach ILCDHandbuch der Europäischen Kommission (EU-JRC 2011) Impact Category

Indicator

Unit

Class

Acidification (Acid)

Accumulated Exceedance (AE)

Mole H+ eq

II

Climate Change (CC)

Global Warming Potential (GWP100)

kg CO2 eq

I

Ecotoxicity (terrestrial and marine)

No methods recommended

Interim

Ecotoxicity freshwater (Ecotox- Comparative Toxic Unit for fw) Ecosystems (CTU-e)

CTUe

II/III

Human toxicity – cancer effects Comparative Toxic Unit for (HT-c) Humans (CTU-h)

CTUh

II/III

Human toxicity – non-cancer effects (HT-nc)

CTUh

II/III

Comparative Toxic Unit for Humans (CTU-h)

Ionizing radiation – ecosystems No methods recommended (IR-ecosys)

Interim kg U235 eq

II

Ionizing radiation – human health (IR-hh)

Human exposure efficiency relative to U235 (HExp-U235)

Eutrophication, aquatic (Eutrfw/Eutr-mar)

Kg p eq/kg N eq Fraction of nutrients reaching freshwater/marine end compartment (FN-fw/FN-mar)

II

Ozone depletion (OD)

Ozone depletion potential (ODP)

I

Particulate matter/Respiratory inorganics (PM)

Intake fraction for fine particles kg PM2.5 eq (IF-FP)

kg CFC-11 eq

I

Photochemical ozone formation Tropospheric ozone (POF) concentration increase (TOC)

kg C2H4 eq

II

Resource depletion – mineral, fossils and renewables (RD)

Scarcity (Scarc)

kg Sb eq

II

Eutrophication, terrestrial (Eutr-ter)

Accumulated Exceedance (AE)

Mole N eq

II

Land use (LU)

Soil Organic Matter (SOM)

kg C deficit

III

Resource depletion – water (RD-water)

Water use related to local scarcity of water (WU)

m3 water eq

III

4.3  Bewertung auf Technologie und Produktebene

53

Tab. 4.2  Schadens- und Wirkungskategorien der Methode EI 99 (vgl. Goedkoop und Spiensma 2001) Menschliche Gesundheit

Ökosystem-Qualität

Ressourcen

Atemwegserkrankungen

Landnutzung

Abbau von Mineralien

Abbau der Ozonschicht

Versauerung und Eutrophierung

Abbau fossiler Brennstoffe

Ionisierende Strahlung

Ökotoxizität

Klimawandel Kanzerogenese

grenzen und den expliziten und systemimmanenten Modellannahmen sowie von der Qualität jedes einzelnen Datensatzes und der Anschlussfähigkeit an andere Datensätze ab. Viele Analysen bauen auf verfügbaren kommerziellen Datenbanken auf, da die Recherche oder Erhebung der benötigten Datensätze zeit- und kostenaufwendig ist. Diese werden von Verbänden und von wissenschaftlichen Organisationen gepflegt und enthalten Tausende von Datensätzen aus allen Sektoren der Wirtschaft. Ein prominentes Beispiel ist die ecoinvent Datenbank, ein derzeit weltweit führendes Datensystem des schweizerischen ecoinvent-Zentrums (Swiss Center for Life Cycle Inventories). Die erste Version von ecoinvent (v1.0) aus dem Jahr 2003 wurde mehrfach aktualisiert und die aktuelle Version v3.2 umfasst mehr als 4000 Datensätze. Aufgeführt werden Sachbilanzdaten zu unterschiedlichsten Prozessen aus bspw. Landwirtschaft, Bergbau verarbeitende Industrie, Energiewirtschaft, Abfallentsorgung, Baugewerbe, Transport, Elektronik und Metallverarbeitung, die mit Industriedaten von unabhängigen Experten erstellt wurden. Dennoch ist die Datengrundlage für die Ökobilanzierung verbesserungswürdig, denn die in der Datenbank hinterlegten Datensätze haben unterschiedliche Qualitäten sowie zeitliche und räumliche Bezüge. Diese Problematik wird verschärft, wenn ein innovatives Produkt oder ein neuer Prozess bewertet werden soll. Da es sich bei den Datensätzen um im besten Fall aktuelle Daten handelt (diese können jedoch auch einige Jahre alt sein), kann damit keine prospektive Bewertung durchgeführt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die in den Datenbanken hinterlegten Daten oder Datensätze keine einzelnen Primär- oder Sekundärdaten sind (wie z. B. Emissionen aus einem Kraftwerk), sondern jeder LCA-Datensatz ein kleines Modell darstellt, das den ihm zugrundliegenden Prozess (z. B. die Transformation von Materie und Energie in Emissionen) mittels linearer Koeffizienten beschreibt. Die modellierten Prozesse können beliebig skaliert werden. Die Datensätze sind also teilweise selbst das Ergebnis komplexer Modellierungen. Aufgrund dieser Komplexität bedarf es beim Einsatz der LCA-Methode in der Beratung und Entscheidungsunterstützung besonderer Sorgfalt sowohl bei der Modellierung der Prozesse und dem implizit linearen Umgang mit Umwelteffekten und Wirkungszusammenhänge als auch bei der Interpretation der Ergebnisse.

54

4  Methoden zur ökologischen Bewertung

4.3.5 Lebenszykluskostenrechnung und soziale Lebenszyklusbetrachtung Die ganzheitlichen Kosten (Lebenszykluskosten) eines Produktes oder Prozesses sind nicht identisch mit dessen Herstellungskosten und dem Verkaufspreis. Um die Lebenszykluskosten zu berechnen, bedarf es der zusätzlichen Berücksichtigung der Kosten der Nutzungsphase sowie der Kosten am Ende der Nutzungsdauer (insbesondere Abholungs-, Entsorgungs- und Recyclingkosten). Auch die Kosten, die durch externe Effekte der Umweltbelastung entstehen, gehören dazu. Die Lebenszykluskostenrechnung (englisch: Life Cycle Costing, abgekürzt LCC) bezieht diese Faktoren bei der Berechnung der Kosten für ein Produkt mit ein. Sie ist ein Verfahren zur lebenszyklusorientierten Kostenbewertung von Investitionsalternativen (Okano 2001; Korpi und Ala-Risku 2008; Swarr et al. 2011). Dabei werden zu bewertende Investitionsalternativen mit gleicher Funktionalität aus Lebenszykluskostensicht betrachtet und einer vergleichenden Bewertung sowohl aus Beschaffungs- als auch aus Entwicklungsperspektive unterzogen. Die LCCMethode ist gut kombinierbar mit der Ökobilanzierung. Problematisch gestalten sich unter Umständen jedoch die Datenerfassung und -prognose. Mit der LCA und LCC stehen bewährte Methoden für die Beantwortung ökologischer und ökonomischer Fragestellungen zur Verfügung. Für die Erfassung der sozialen Auswirkungen von Produkten und Prozessen und die Entwicklung eines LCA-basierten Nachhaltigkeitsansatzes wurden verschiedene Initiativen unternommen (Kloeppfer 2010; Finkbeiner et al. 2010), jedoch existiert bisher noch kein etablierter Ansatz. Mit Hilfe der sozialen Lebenszyklusbetrachtung (englisch: Social Life Cycle Assessment, abgekürzt S-LCA) können die sozialen und soziologischen Aspekte von Produkten, ihre tatsächlichen und potenziellen positiven sowie negativen Auswirkungen entlang des Lebenszyklus‘ bewertet werden. (Ciroth und Eisfeldt 2016). Dabei geht es um die Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen, Herstellung, Vertrieb, Nutzung, Wiederverwendung, Wartung, Recycling und Endlagerung (Andrews et al. 2009). Die S-LCA verwendet generische und standortspezifische Daten, kann quantitativ, semi-quantitativ oder qualitativ sein und ergänzt die LCA und LCC (UNEP/SETAC 2009). Die Ergebnisse einer S-LCA liefern „Denkanstöße“ und können für eine Entscheidung hilfreich sein. Die S-LCA Methode orientiert sich im Aufbau an der genormten Vorgehensweise im Rahmen einer LCA: die Festlegung von Ziel und Untersuchungsrahmen, die Sachbilanzierung sowie die Wirkungsabschätzung. Phasenübergreifend erfolgt die an Zielen und Adressaten angepasste Auswertung und Darstellung der Ergebnisse der einzelnen Arbeitsschritte. Obwohl die S-LCA wie die LCA dem ISO 14040 Rahmenwerk folgt, unterscheiden sich einige Aspekte. Die UNEP/SETAC-Leitlinien für die soziale Lebenszyklusbewertung von Produkten schlagen eine Methodik zur Erstellung von Lebenszyklusinventaren vor. Es wird eine Sachbilanz für Indikatoren

4.3  Bewertung auf Technologie und Produktebene

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(z. B. Anzahl der geschaffenen Arbeitsplätze) erstellt, die mit den Wirkungskategorien (z. B. lokale Beschäftigung) verknüpft sind, die sich auf fünf Hauptakteursgruppen beziehen: Arbeitnehmer, Verbraucher, lokale Gemeinschaft, Gesellschaft und Wertschöpfungsakteure (Benoît Norris et al. 2013). Die Kritik am S-LCA-Ansatz bemängelt die hohe Anzahl an empirisch nicht validierten Indikatorsätzen, das Fehlen einer standardisierten Messmethode für qualitative sozioökonomische Indikatoren sowie die Problematik, die festgestellten sozialen Auswirkungen qualitativ zu bewerten (Subramanian et al. 2018). Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass die soziale Realität die Wahl der Indikatoren und die Bewertung ihrer Ausprägungen beeinflusst. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass die Herstellung von Produkten in Industrieländern mit hochentwickelten Sozialstandards und -systemen anders zu bewerten ist als in Entwicklungsländern. Auch zwischen einzelnen Regionen eines Landes können solche Bewertungsunterschiede auftreten. Der Einsatz quantitativer empirischer Untersuchungen zur Identifizierung relevanter sozialer, soziologischer oder sozioökonomischer Indikatoren und die adäquate und verlässliche Messung der Ausprägungen einzelner Indikatoren stellt eine weitere Herausforderung dar.

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Fallstudien

In diesem Kapitel wird die Anwendung der zuvor behandelten Methoden der ökologischen und prospektiven Abschätzungen der Umweltauswirkungen technischer und räumlicher Entwicklungen im Kontext der Bioökonomie anhand der beiden Fallstudien 1) Ökobilanzierung des bioliq®-Verfahrens und 2) Analyse einer zukünftigen Biomasseproduktion in Brasilen erläutert und ausgeführt.

5.1 Ökobilanzierung des bioliq®-Verfahrens Die Herstellung und Nutzung von Biokraftstoffen ist im Vergleich zu fossilen Kraftstoffen deutlich teurer, da die Preise, die damit verbundenen Umweltauswirkungen nicht berücksichtigen. Dies führt dazu, dass trotz staatlicher Förderung der Anteil an Biokraftstoffen am Kraftstoffverbrauch relativ gering ist. Eine Ausweitung der gegenwärtigen Herstellung von Bioethanol und Biodiesel ist aus politischer und gesellschaftlicher Sicht jedoch nicht wünschenswert, da hierfür Pflanzen verwendet werden, aus denen Nahrungsmitteln hergestellt werden können. Um eine Konkurrenz um Ackerflächen oder Biomasserohstoffe oder Nachteile für den Naturschutz zu vermeiden, soll die Produktion von Biokraftstoffen vor allem auf der Nutzung von land- und forstwirtschaftlichen Reststoffen aufbauen. Um sicherzugehen, dass durch die Technologien zur Herstellung von Biokraftstoffen die gewünschten Umweltziele (Verringerung der Treibhausgasemissionen und Klimaschutz) erreicht werden und gleichzeitig keine nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt entstehen, werden diese noch vor einer kommerziellen Nutzung anhand der LCA-Methode bewertet.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Rösch et al., Bioökonomie im Selbststudium: Nachhaltigkeit und ökologische Bewertung, Zertifikatskurs Bioökonomie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61383-2_5

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5 Fallstudien

5.1.1 Biokraftstoffproduktion mit land- und forstwirtschaftlichen Reststoffen Land- und forstwirtwirtschaftliche Reststoffe, die hohe Gehalte an Lignocellulose aufweisen, wie beispielsweise Stroh oder Waldrestholz, eignen sich zur Herstellung nachhaltiger Biokraftstoffe (Henrich et al. 2015). Diese sogenannten Biokraftstoffe der zweiten Generation aus Rest- und Abfallstoffen unterscheiden sich von den Biokraftstoffen der ersten Generation aus Raps (zur Herstellung von Biodiesel) oder Getreide und Zuckerrüben (zur Herstellung von Bioethanol) dadurch, dass sie nicht mit der Nahrungsmittelproduktion um knappe Ackerflächen konkurrieren. Stroh ist ein Nebenprodukt, das beim Anbau von landwirtschaftlichen Nutzpflanzen, hauptsächlich Getreide, anfällt und neben dem Erhalt der Humusbilanz und zum Erosionsschutz von Ackerböden nur in geringen Mengen in der Tierhaltung (z. B. als Einstreu in der Pferdehaltung) oder beim Anbau von Sonderkulturen (z. B. Pilze oder Erdbeeren) benötigt wird. Je nach Fruchtfolge und Viehbesatz eines Betriebs wird das auf den Feldern verbleibende Stroh zum Erhalt des Humusgehalts gehäckselt und in den Boden eingearbeitet. Die für die Biokraftstoffproduktion theoretisch verfügbare jährliche Strohmenge hängt primär vom Umfang der Getreidefläche und von anbautechnischen und wirtschaftlichen Faktoren ab, die wiederum durch die Rahmenbedingungen der EU-Agrarpolitik bestimmt werden. Die stofflich und energetisch nutzbare Strohmenge hängt außerdem von den klimatischen Bedingungen in der Wachstums- und Strohbergungsperiode ab und kann um bis zu 30 % schwanken. Das Potenzial von Stroh ist nicht identisch mit den anfallenden Strohmengen. Der pressbare Strohanteil ohne Stoppel und sonstige Verluste liegt je nach Standort und Produktionsverfahren in einer Größenordnung von 4 bis 6 t/ha (Kappler 2008). In etwa ein Drittel des theoretischen Strohpotenzials steht für eine nachhaltige Nutzung zur Verfügung, da Stroh wie oben beschrieben teilweise in der Tierhaltung und für gärtnerische Zwecke verwendet wird und für den Erosionsschutz und den Erhalt des Humusanteils im Boden wichtig ist (Haase et al. 2016). Dieser Strohertrag ist flächenspezifisch deutlich geringer als der Biomasseertrag bei Energiepflanzen. Stroh kann hochautomatisiert in Form von eckigen Großballen (Format: 1,2 × 1,2 × 2,4 m, Gewicht: rd. 500 kg, Heizöläquivalent: rd. 200 l) mit speziellen LKWs transportiert werden. Zur Deckung des Bedarfs einer großtechnischen Biokraftstoffanlage müsste das Stroh aus weitläufigen Gebieten gesammelt und über lange Distanzen transportiert werden (Kappler 2008). Um den Transportaufwand und den damit verbundenen Energiebedarf und Ausstoß an Emissionen zu verringern, wird das Stroh im bioliq®-Verfahren, das am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) entwickelt wurde, in dezentralen Pyrolyseanlagen zu einem energiereichen, für den wirtschaftlichen Transport über weite Strecken geeigneten Zwischenprodukt verflüssigt (Dahmen et al. 2012). Diese aus Pyrolysekondensaten und Kohle bestehende Flüssigkeit, auch Biosyncrude genannt, wird zu einer großen

5.1  Ökobilanzierung des bioliq®-Verfahrens

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zentralen Vergasungs- und Syntheseanlage transportiert. Dort wird der Biosyncrude vorgewärmt und in einen druckbeaufschlagten Flugstromvergaser gepumpt, mit Sauerstoff zerstäubt und bei mehr als 1.200 °C in ein nahezu teerfreies, methanarmes Synthesegas umgewandelt (Dahmen et al. 2017).

5.1.2 Lebenszyklusorientierte Bewertung der Biokraftstoffproduktion aus Stroh Die Nachhaltigkeitsbewertung des bioliq®-Prozesses basiert auf einer detaillierten Modellierung der Stoff- und Energieflüsse und einer prospektiven ökologischen und ökonomischen Lebenszyklusanalyse (LCA und LCC) unter Einbeziehung aller relevanten vor- und nachgelagerten Prozessketten. Das Bewertungssystem umfasst neben den Umweltindikatoren nach EU-JRC 2011, ökonomische Indikatoren (z.  B. Kraftstoffproduktionskosten) sowie verschiedene soziale Indikatoren (z. B. Technologieakzeptanz, Innovationspotenzial, inländische Wertschöpfung). Gemäß den internationalen Normen ISO 14040 und 14044 wird im Rahmen der ökologischen Bewertung der Lebenszyklus des erzeugten Biokraftstoffs als sogenanntes Produktsystem abgebildet (vgl. DIN EN ISO 14044, 2006 und DIN EN ISO 14040, 2006). Alle damit verbundenen Inputs und Outputs, d. h. Energie, Rohstoffinput und Emissionen, werden quantifiziert und im Rahmen des so genannten Life Cycle Inventory (LCI) zusammengefasst. Dieses Inventar bildet die Grundlage für das anschließende Life Cycle Impact Assessment (LCIA). Im bioliq®-Verfahren werden aus biogenen Reststoffen Kraftstoff, Strom und Wärme erzeugt. Die jährlichen Emissionsäquivalente der bioliq®-Prozesskette (Herstellung und Nutzung von Kraftstoff, Strom und Wärme) werden mit den jährlichen Emissionsäquivalenten ausgewählter Referenzprozesse verglichen, die jeweils die gleiche Menge an Kraftstoff, Strom und Wärme produzieren. Es wird eine Cradle-to-Grave-Analyse durchgeführt, welche die Bereitstellung von Biomasse, die Verarbeitung der Biomasse zu Kraftstoff und Strom sowie den Kraftstoffverbrauch beim Fahren mit dem PKW umfasst. Für die Sachbilanzanalyse wird die Software openLCA in der aktuellen Version (hier v1.6.3) zusammen mit der ecoinvent Datenbank (aktuelle Version v3.3) (vgl. ecoinvent Centre 2007) eingesetzt. Die Sachbilanz umfasst Informationen über Ressourcenverbrauch und Emissionen für jeden Prozessschritt mit entsprechenden vor- und nachgelagerten Prozessen entlang der Wertschöpfungskette. Die Systemgrenzen der Ökobilanz (LCA) sind in Abb. 5.1 dargestellt. Als Referenzprozesse werden die konventionelle Stromerzeugung, die konventionelle Benzinherstellung und die Nutzung von konventionellem Benzin in einem Pkw betrachtet. Für die Ökobilanz werden die LCI-Ergebnisse (z. B. CO2-, CH4-Emissionen) den entsprechenden Wirkungskategorien (z. B. Klimawandel) zugeordnet. Durch so genannte Charakterisierungsmodelle werden die LCI-Ergebnisse in Indikatorwerte (z. B. CO2-Emissionsäquivalente) umgewandelt. Als optionaler Bestandteil einer Ökobilanz können Indikatorwerte verschiedener Wirkungskategorien

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5 Fallstudien

Abb. 5.1  LCA-Systemgrenzen des untersuchten bioliq®-Prozesses (Haase und Rösch 2018)

normiert, gewichtet und gruppiert werden (vgl. DIN EN ISO 14044, 2006). Für die Ökobilanz stehen sowohl wirkungsorientierte als auch schadenorientierte Ansätze zur Verfügung. Erstere bestimmen den Beitrag der LCI-Ergebnisse zu Umweltproblemen, die sogenannte Midpoints innerhalb der Ursache-Wirkungskette sind. Letztere bestimmen den Beitrag der LCI-Ergebnisse zu Umweltschäden, die sogenannte Endpoints innerhalb der Ursache-Wirkungskette sind. Entsprechend der Empfehlung des International Life Cycle Data Handbook der Europäischen Kommission (EU-JRC 2011) wird zur Bewertung die Midpoint Methode unter Verwendung der Software openLCA verwendet (vgl. GreenDelta 2017). Nachfolgend werden Ergebnisse für diejenigen 10 Wirkungskategorien die von EU-JRC 2011 in die Kategorie I (empfohlen und zufriedenstellend) und II (empfohlen, aber verbesserungsbedürftig) eingestuft wurden, mit den zugrundeliegenden Methoden und Indikatoren vorgestellt. Die Charakterisierung der bioliq®-Prozesskette sowie die Prozessparameter und die Modellierung der Masse- und Energieströme der Biomasseumwandlungsschritte basieren auf Trippe et al. (2010, 2011 und 2013) und Trippe (2013). Für die Modellierung des gesamten Lebenszyklus wurden, soweit möglich, spezifische Datensätze für Deutschland (DE) aus der Datenbank ecoinvent herangezogen. Wenn keine Datensätze für Deutschland verfügbar sind, werden Datensätze für die Schweiz (CH), Europa (RER) oder weltweite Datensätze (GLO) aus der Datenbank ecoinvent herangezogen.

5.1.3 Modellierung der bioliq®-Prozesskette Die bioliq®-Prozesskette umfasst die in Abb. 5.1 dargestellten Prozessschritte: • Strohbereitstellung (inklusive Pressen, Beladen und Transport der Strohballen zur Pyrolyseanlage), • Pyrolyse des Strohs (inklusive Konditionierung, d.h. Trocknung und Zerkleinerung sowie Verbrennung des Pyrolysegases),

5.1  Ökobilanzierung des bioliq®-Verfahrens

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• Vergasung des Biosyncrudes (inklusive des Transports von der dezentralen Pyrolyseanlage zum zentralen Vergaser und Gasbehandlung), • Kraftstoffproduktion (Dimethylether (DME)-Synthese und anschließende Benzin-Synthese) und Stromerzeugung in einem Gas- und DampfturbinenKombikraftwerk (GuD) • Kraftstoffnutzung in einem Personenkraftwagen (Pkw). In Abb. 5.2 sind die Biomasse-Konversionsschritte und die wichtigsten Stoff- und Energieströme für die Basiskonfiguration dargestellt (Haase und Rösch 2018). Bei einer angenommenen Vergaserleistung von 1.000 MW werden rund 30 t/h Kraftstoff und 132 MW Strom erzeugt. Bei der Wärmeerzeugung wird davon ausgegangen, dass die bei der Verbrennung des Pyrolysegases entstehende Wärme ausreicht, um den Wärmeträger für die Pyrolyse zu erwärmen. Die berechnete Abwärme wird als interner Wärmeverlust behandelt. Beim Strom wird davon ausgegangen, dass der Bedarf für die Biomasse-Konversionsschritte (71 MW) intern gedeckt ist, d. h. ca. 61 MW elektrischer Strom im Überschuss generiert wird. Nachfolgend wird die Modellierung der gesamten Prozesskette erläutert (vgl. Haase und Rösch 2018 und 2019). Für den Prozessschritt Biomasse- bzw. Strohbereitstellung wird angenommen, dass das Reststroh auf dem Feld gepresst wird, die Ballen auf einen Traktor mit Anhänger geladen und zur Pyrolyseanlage transportiert werden und die durchschnittliche Transportstrecke vom Feld zur Pyrolyseanlage 30 km beträgt (Trippe 2013). Für die Modellierung der Biomassebereitstellung werden die ecoinvent Datensätze „Ballenpressen, CH“, „Ballenbeladung, CH“ und „Transport, Traktor und Anhänger, Landwirtschaft, CH“ verwendet. Da Stroh als ungenutzter Reststoff behandelt wird, werden die Umweltauswirkungen des Getreideanbaus vernachlässigt, d. h. nicht allokiert.

Abb. 5.2  Prozessketten und Systemschnittstellen des bioliq® Prozesses (Haase und Rösch 2018)

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5 Fallstudien

Die Konditionierung (Zerkleinerung auf 5 bis 10 cm Spreu und Trocknung von 15 % auf 8 % Wassergehalt) und die anschließende Pyrolyse erfolgen dezentral. Um genügend Biosyncrude für die Versorgung eines zentralen Vergasers bereitzustellen, werden mehrere Pyrolyseanlagen benötigt. Das Pyrolysegas wird zur internen Wärmerückgewinnung verbrannt und deckt den Wärmebedarf für die Trocknung der Biomasse und die Beheizung des Wärmeträgers für die Pyrolyse. Es wird angenommen, dass der Strombedarf der Biomassekonditionierung und der Pyrolyseanlagen intern gedeckt wird (Überschussstrom aus dem GuD-Prozess). Der Biosyncrude, bestehend aus Pyrolyseöl und Koks, wird per Bahn zum zentralen Vergaser transportiert. Die durchschnittliche Transportstrecke wird mit 250 km angenommen (Trippe 2013). Für die Modellierung des Transports per Bahn werden die ecoinvent Datensätze „Transport, Güterzug, Elektrizität, CH“, „Transport, freight train, diesel, Europe without Switzerland“ und „Transport, Güterzug, Diesel, mit Partikelfilter, CH“verwendet. Das Vergasungsmittel (O2) wird von einer Luftzerlegungsanlage bereitgestellt und das Rohsynthesegas in einem Gasreinigungsschritt (Nasswäscher) gereinigt. Für die Behandlung von Filterstäuben wird der ecoinvent Datensatz "Behandlung von Filterstäuben aus Al-Elektrolyse, Reststoffdeponie, CH" modifiziert. Unter Verwendung dieses Datensatzes können Chrom, Blei, Nickel und Vanadium als Spurenmetallpartikel betrachtet werden. Es wird davon ausgegangen, dass der Strombedarf der Vergasungsstufe intern gedeckt wird (Überschussstrom aus dem Kraft-Wärme-Kopplung (KWK)-Prozess). Der Hauptteil des Strombedarfs (80 %) der Vergasungsstufe wird für die Luftzerlegung gebraucht. Für die Vergasung werden etwa 50 Nm3/h Erdgas als Hilfsstrom benötigt. Für die Modellierung in openLCA wird der Datensatz „Markt für Erdgas, Hochdruck, DE“ verwendet. Die Abwasserbehandlung wird mit dem Datensatz „Leitungswassererzeugung, konventionelle Behandlung, CH“ berücksichtigt. Für die Schlacke wird angenommen, dass sie für den Straßenbau eingesetzt werden kann. Für den Abtransport wird ein Transport per Bahn über eine Distanz von 100 km unterstellt (zur Modellierung des Bahntransportes siehe Transport Slurry). Für die Kraftstoffsynthese wird der Syntheseweg Kraftstoff über die DMESynthese bei 80 bar betrachtet. Für die Abwasserbehandlung wird der Datensatz „Leitungswassererzeugung, konventionelle Aufbereitung, CH“ und für die Kühlwasserversorgung der Datensatz „Markt für Leitungswasser, CH“ verwendet. Es wird davon ausgegangen, dass gasförmige Syntheseprodukte in einer KWK-Anlage zur Stromerzeugung verbrannt werden. Für die Modellierung der GuD-Anlage wird der Datensatz „Stromerzeugung, Erdgas, GuD-Kraftwerk, DE“ angepasst (fossile CO2-Emissionen werden auf null gesetzt), da biogene CO2-Emissionen sowie die CO2-Assimilation aus der Atmosphäre vernachlässigt werden. Für die Modellierung der Nutzungsphase des Benzins aus der bioliq®Prozesskette werden die Datensätze „Transport, PKW, groß, Benzin, EURO 4, RER“ und „Transport, PKW, klein, Benzin, EURO 5, RER“ angepasst (die Lieferketten für Benzin sind ausgeschlossen, fossile CO2-Emissionen werden auf null gesetzt). Ersteres dient dem Vergleich mit dem Einsatz von konventionellem Benzin in einem Pkw (Vergleich nach Kraftstoffmenge), letzteres dem ­Vergleich

5.1  Ökobilanzierung des bioliq®-Verfahrens

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mit einem Elektroauto (Vergleich nach gefahrenen Kilometern). Es wird angenommen, dass die Nutzung von Benzin aus dem bioliq®-Prozess mit Ausnahme von fossilem CO2 die gleichen Emissionen verursacht wie fossiles Benzin. Für die Modellierung des Anlagenbaus/-rückbaus werden die ecoinvent Datensätze „Gebäude, Halle, Holzbau, CH“ (Biomassedepot), „Chemische Fabrik, Organik, RER“ (Anlagen zur Zerspanung, Trocknung, Pyrolyse, Synthese), „Stahl, unlegiert, RER“ (Wärmeträgerstahlkugeln in Pyrolyseanlage), „Synthesegasfabrik, Synthesegasfabrik, CH“ (Vergasungsanlage) verwendet. Für die Luftzerlegungsanlage wird der Datensatz „Luftzerlegung, kryogenisch, Sauerstoff, flüssig RER“ so modifiziert, dass nur der Anlagenbau berücksichtigt wird.

5.1.4 Vergleich der bioliq®-Prozesskette mit Referenzprozessen Für eine vergleichende Ökobilanz werden die Umweltwirkungen der Produktion und Nutzung von Strom und Benzin aus der bioliq®-Prozesskette mit Referenzprozessen verglichen (vgl. Abb. 5.3). Als Referenzprozess für die Herstellung von konventionellem Benzin wird der Datensatz „Markt für Benzin, schwefelarm, CH“ verwendet. Der Vergleich basiert auf der Produktionsmenge von Benzin, d. h. die jährliche Produktion von Benzin aus der bioliq®-Prozesskette (211 kt) wird mit der Produktion der gleichen Menge konventionellen Benzins verglichen. Für die Modellierung der konventionellen Stromerzeugung wird der deutsche Stromerzeugungsmix (Hochspannung) für das Jahre 2015 mit Hilfe von ecoinvent Datensätzen modelliert (Haase und Rösch 2019). Die Anteile an der Bruttostromerzeugung pro Energieträger basieren auf Pregger et al. 2019. Der Vergleich basiert auf der Produktionsmenge an elektrischem Strom, d. h. die jährliche Netto

Abb. 5.3  Vergleich der Umweltwirkungen der Herstellung von Benzin und Strom mit dem bioliq® Prozess und der konventionellen Benzin- und Strom produktion (Eigene Darstellung)

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5 Fallstudien

produktion von Strom aus der bioliq® Prozesskette (ca. 426 GWh) wird mit der Produktion der gleichen Menge konventionellen Stroms verglichen. Für die Modellierung der Nutzung von konventionellem Benzin in einem Pkw wird der Datensatz „Transport, PKW, Großraum, Benzin, EURO 4, RER“ angepasst (die Lieferketten für Benzin werden ausgeschlossen). Die Emissionsäquivalente der bioliq® Prozesskette werden in Abb. 5.3 für 10 nach EU-JRC 2011 empfohlene Wirkungskategorien und Indikatoren mit der Referenzprozesskombination verglichen. Während für die Kategorie Klimawandel (CC) die Vorteile von strohbasiertem Benzin offensichtlich sind, zeigen die Ergebnisse für die übrigen Wirkungskategorien ein gemischtes Bild. Für das Basisjahr 2015 weist das strohbasierte Benzin im Vergleich zur Referenz für insgesamt sechs der zehn Kategorien (Climate Change – CC, Acidification – Acid, Ionising Radiation – IR-hh, Ozone Depletion – OD, Particulate Matter – PM, Eutrophication freshwater – Eutr-fw) geringere Umweltwirkungen auf. Es ist zu beachten, dass für die Kategorien Eutrophication marine – Eutr-mar, PM, Photochemical Oxidant Formation – POF die Unterschiede zwischen der bioliq®Prozesskette und der Referenz sehr gering (