Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933 [Reprint 2014 ed.] 9783110977967, 9783598112843

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Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933 [Reprint 2014 ed.]
 9783110977967, 9783598112843

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis Band 1
Autorenverzeichnis
Emigration der Wirtschaftswissenschaften - Einleitung
Literatur
Quellen- und Abkürzungsverzeichnis
Biographische Artikel Adler - Lehmann
Adler, John Hans – Fellner, William John
Ferber, Marianne Abeles – Kahn, C(harles) Harry
Kahn, Ernst – Mises, Ludwig von
Mitnitzky, Mark – Salz, Arthur
Scheck, Herbert – Zweig, Konrad
Register der verzeichneten Personen

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Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933 Herausgegeben von Harald Hagemann und Claus-Dieter Krohn unter Mitarbeit von Hans Ulrich Eßlinger

Band 1

Adler - Lehmann

K G · Saur München 1999

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933 / hrsg. von Harald Hagemann und Claus-Dieter Krohn. Unter Mitarb. von Hans Ulrich Eßlinger. - München : Säur ISBN 3-598-11284-X Bd. 1. Adler - Lehmann. - 1999

Θ Gedruckt auf säurefreiem Papier © 1999 by Κ. G. Saur Verlag GmbH & Co. KG, München Part of Reed Elsevier Printed in the Federal Republic of Germany Alle Rechte vorbehalten / All Rights Strictly Reserved Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig Druck und Binden: Strauss Offsetdruck GmbH, Mörlenbach ISBN 3 - 598 -11284- X (2 Bände)

Inhaltsverzeichnis Band 1 Autorenverzeichnis vii Emigration der Wirtschaftswissenschaften - Einleitung ix I. Entlassung und Vertreibung ix II. Emigrierte deutschsprachige Wirtschaftswissenschaftler xii III. Institutionen und Zentren der Emigration xv IV. Auswirkungen der Emigration auf deutschsprachige Universitäten xviii V. Zufluchtsländer der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler xxiv VI. Beiträge der Emigranten zur internationalen Entwicklung ihrer Fachgebiete . . xxvi VII. Karriereverläufe der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler xxxv VIII. Zur Entstehungsgeschichte dieses Handbuchs xxxviii Literatur xli Quellen- und Abkürzungsverzeichnis xliii

Biographische Artikel Adler - Lehmann

1

Band 2 Biographische Artikel Leichter - Zweig

367

Register der verzeichneten Personen

769

Autorenverzeichnis Professor Dr. Peter S. Albin Professor Dr. Gerhard Michael Ambrosi Professor Dr. Heinz W. Arndt Dr. Helmut Arnold

Professor Dr. Gerhard Illing Dr. Hans Jaeger Dr. Christian Jansen

Professor Dr. Jürgen Backhaus Professor Dr. Haim Barkai Professor Dr. Franz Xaver Bea Dr. Dirk Becker Dr. Ulf Beckmann Dr. Ulrike Berger Professor Dr. Gudrun Biffl Dr. Wolfgang Blaas Dr. Reinhard Blomert Bettina Bonde Dr. Christian Braun Dr. Klaus-Rainer Brintzinger Dr. Matthes Buhbe Privatdozent Dr. Felix Butschek

Professor Dr. Peter Kalmbach Professor Dr. Hans Kammler Dr. Thomas Keil Professor Dr. Wolfgang Kießling Dr. Karin Knottenbauer Gabriele Köhler Dr. Ernest König Dr. Hagen Krämer Margit Kraus Professor Dr. Claus-Dieter Krohn Professor Dr. Jürgen Kromphardt Professor Dr. Michael Kniger Axel Kümmel Dr. Bernd Kulla Dr. Johann Heinrich Kumpf Professor Dr. Heinz D. Kurz

Professor Dr. Volker Caspari Dr. Günther Chaloupek Dr. Bruce Chapman

Dr. Antje Lechner Barbara Link Christian Löbke

Professor Dr. Rolf Daxhammer Dr. Robert A. Dickler Dr. Claudia Dziobek

Dr. Gerhard Mauch Beitram Melzig-Thiel Professor Dr. Gary Mongiovi Professor Dr. Julius-Otto Müller Professor Dr. Drs. h.c. Richard A. Musgrave

Professor Dr. Wolfgang Eisele Professor Dr. Drs. h.c. Gottfried Eisermann Dr. Hans Ulrich EBlinger Professor Dr. Hildegard Feidel-Merz Dr. Ulrich Fellmeth Dr. Christian Gehrke Professor Dr. Fanny Ginor Professor Dr. Jörg Glombowski Professor Dr. Harald Hagemann Professor Dr. Dr. Franz Haslinger Professor Dr. Michael von Hauff Professor Dr. Emst Helmstädter Guntram Hepperle Professor Dr. Klaus Herdzina Claudia Hirsch Professor Dr. Karl Holl Dr. Ernst Hollander Bernhard Holwegler Dr. Michael Hüther Professor Dr. Detlev Hummel

Universitätsdozent Dr. Jürgen Nautz Professor Dr. Kurt Nemitz Professor Dr. Wolfgang Nitsch Professor Dr. Hans Nutzinger Professor John Conway O'Brien Professor Dr. Sven Papcke Privatdozent Dr. Helge Peukert Professor Dr. Perry F. Philipp Professor Dr. Walter Piesch Dr. Wolfgang Pollan Professor Dr. Rudolf Richter Dr. Claudius H. Riegler Professor Dr. Heinz Rieter Professor Dr. Peter Rosner Professor Dr. Drs. h.c. Kurt Rothschild Christof Rühl Professor Dr. Warren Samuels Professor Dr. Wolf Schäfer Jürgen M. Schechler vii

Autorenverzeichnis Professor Dr. Christian Scheer Professor Dr. Gerhard Scherhorn Dr. Ulrich Scheurle Regina Schlüter-Ahrens Professor Dr. Karl-Heinz Schmidt Professor Dr. Günther Schmitt Professor Dr. Drs. h.c. Dieter Schneider Eberhard Schott Markus Schreyer Sabine Schrödl Professor Dr. Marcel Schweitzer Professor Dr. Frank Jr. Scott Dr. Eberhard K. Seifert Dr. Stephan Seiter Professor Dr. Udo Ernst Simonis Professor Dr. Peter Spahn Professor Dr. Hans Joachim Stadermann Professor Dr. Albert Steenge Professor Dr. Johann Heinrich von Stein

viii

Dr. Monika Streissler Britta Symma Professor Anthony M. Tang Ana Paola Teixeira Professor Dr. Richard Tilly Rolf Traeger Professor Dr. Paul Trappe Privatdozent Dr. Hans-Michael Trautwein Professor Dr. Gerhard Wagenhals Professor Dr. Helmut Walter Karl Weinhard Klaus Weißenberg Professor Dr. Wolfgang Wiegard Dr. Rolf Wiegert Steffen Wirth Privatdozentin Dr. Theresa Wobbe Christine Wyatt Dr. Albert Zlabinger

Emigration der Wirtschaftswissenschaften Einleitung Harald Hagemann und Claus-Dieter

Krohn

I. Entlassung und Vertreibung In den modernen Wirtschaftswissenschaften zählen die denk- und dogmengeschichtlichen Entwicklungen der eigenen Disziplin zwar zu den gelegentlichen Untersuchungsgegenständen, doch richtet sich das Interesse dabei in der Regel auf den linearen Wissens- und Erkenntnisfortschritt. Unbeachtet bleibt allzu häufig, daß die Wissenschaften - wie alle gesellschaftlichen Erscheinungen - komplexe soziale Entwicklungs- und Wandlungsprozesse durchlaufen, bestimmt von unterschiedlichen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Einflußfaktoren. Das wird etwa deutlich bei den extern induzierten säkularen Brüchen der Wissenschaftsentwicklung im deutschsprachigen Raum der dreißiger Jahre, der Vertreibung einer ganzen Wissenschaftskultur aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsbereich, von der auch die Wirtschaftswissenschaften in signifikant hohem Ausmaß betroffen waren (Krohn/von zur Mühlen u.a. 1998, S 681 ff.; Hagemann 1997). Die damit verbundenen individuellen Karrierebrüche, lebensgeschichtlichen Zäsuren und problematischen Akkulturationsprozesse nach der vielfach lebensrettenden Flucht können als Extremsituation begriffen werden, an der sich beispielhaft die externen Bedingungen wissenschaftlichen Wandels veranschaulichen lassen. Die herkömmlichen dogmenhistorischen Methoden dürften für deren Analyse kaum hinreichen. Dieses Handbuch versucht, eine Gesamtübersicht der Wirtschaftswissenschaftler zu geben, die von jenen Ereignissen betroffen wurden. Es zeigt anhand ihrer individuellen Biographien, welche außerwissenschaftlichen, politischen Gründe zu den Abbrächen von Arbeitsund Forschungszusammenhängen führten, wie die internationale Wissenschaftsgemeinschaft darauf reagierte, welche Chancen oder Negativwirkungen sich daraus ergaben und welche Folgen der mit der Wissenschaftsvertreibung verbundene intellektuelle Transfer auf die Kulturen der Zufluchtsländer hatte. Die heute angesichts der Massenwanderungen übliche Unterscheidung zwischen freiwilliger Migration, erzwungener Emigration und Vertreibung bzw. Exilierung wird in der nachfolgenden Übersicht für die Vorgänge nach der politischen Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 nicht übernommen, da einerseits die freiwillige Migration nur in wenigen Einzelfallen geschehen ist und andererseits viele Betroffene anfangs kaum wußten, ob ihre lebensrettende Flucht vorübergehend oder endgültig sein würde. Erst aus der Rückschau ist festzustellen, daß der erzwungene Weggang aus Deutschland für die übergroße Mehrheit endgültig gewesen ist, so daß hier einheitlich nur von Emigration gesprochen wird. Die Anlage des Handbuchs geht von der Annahme aus, daß Wissenschaft gleichermaßen von persönlichen, institutionellen, disziplinaren und politisch-kulturellen Rahmenbedingungen geprägt wird. Die persönliche Ebene macht den Personenkreis identifizierbar, der gezwungen wurde, Deutschland nach 1933, Österreich nach dem 'Anschluß' 1938 und die Tschechoslowakei, insbesondere die Universität Prag, nach dem Münchener Abkommen im Herbst des gleichen Jahres zu verlassen. In der Regel waren das Juden und/oder Sozialisten, zum Teil auch einige Liberale. Letztere stellten in der intellektuellen Kultur Deutschlands aber eher eine Minderheit dar; in größerem Umfang findet man sie unter den Flüchtlingen ix

Einleitung aus Österreich. Zu prüfen ist, ob eine Beziehung zwischen der politischen oder 'rassischen' Diskriminierung und bestimmten disziplinaren oder theoretischen Milieus bestand, woraus Rückschlüsse auf die Wissenschaftskultur in der Weimarer Republik und der Republik Österreich abgeleitet werden können. Die institutionelle Ebene kann darüber Auskunft geben, welche Wissenschaftsmilieus an welchen Universitäten und anderen forschungsnahen Einrichtungen dominierten, wie sich das auf die dortigen Rekrutierungen in den Jahren der Weimarer Republik sowie auf die Entlassungen nach dem sogenannten Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 auswirkte. Hier werden Korrelationen von Zugehörigkeit zu Forschungseinrichtungen, Entlassungen und anschließender Emigration deutlich. Dazu zählen auch die Umstände der Flucht. Angesichts der nahezu 3.000 entlassenen Gelehrten, von denen rund zwei Drittel Schutz jenseits der Grenzen suchten, war der Exodus eine Massenerscheinung, die international kanalisiert und finanziert werden mußte. Daß der Transfer letztlich so geräuschlos und erfolgreich geschehen konnte, ist dem Engagement der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft zu verdanken, das einzigartig in der Geschichte der erzwungenen Wanderungen ist. Erleichtert wurde diese Solidarität in den USA durch den Umstand, daß dort die nach dem Ersten Weltkrieg eingeführten, nach Herkunftsländern gestaffelten rigiden Einwanderungsquoten für Wissenschaftler nicht galten und zudem die traditionell hohe Wertschätzung für das deutsche Bildungssystem an den amerikanischen Universitäten die Aufnahme eines vertriebenen Wissenschaftlers begünstigte. Nicht von ungefähr sollten die USA zum Hauptzufluchtsland von Gelehrten aller Disziplinen werden. Seit dem Frühjahr 1933 hatten sich diverse Hilfskomitees für die vertriebenen Wissenschaftler gebildet, von denen der von William Beveridge, Präsident der London School of Economics, und dem Physiker Ernest Rutherford initiierte Academic Assistance Council (AAC) in London, seit 1936 unter dem Namen Society for the Protection of Science and Learning (SPSL), und das Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars (EC) in New York die bedeutendsten waren. In den USA existierten darüber hinaus diverse Stiftungen und Wissenschaftsfonds, die erhebliche finanzielle Mittel für die Rettungsaktionen bereitstellten. Während der AAC die Mittel im Wege einer Selbstbesteuerung der britischen Wissenschaftsgemeinschaft aufbrachte, um den vertriebenen deutschen Kollegen durch Stipendien die Fortsetzung ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu ermöglichen, konnte das EC auf die Finanzhilfen jener Stiftungen zurückgreifen, die im Vergleich zu Großbritannien Unterstützungen in ganz anderem Stil und Ausmaß erlaubten. Insbesondere ist die Rockefeiler Foundation zu nennen, die 1913 gegründet worden war. Ursprünglich auf die Förderung der weltweiten medizinischen Forschung orientiert, hatte sie angesichts der ungelösten sozialen und ökonomischen Probleme nach dem Ersten Weltkrieg die Sozialwissenschaften in ihr Programm einbezogen. Knapp 1 Million Dollar waren aus diesem Programm schon während der zwanziger Jahre auch an deutsche Sozialwissenschaftler geflossen. Wie keine andere der zumeist nur im nationalen Maßstab operierenden amerikanischen Stiftungen war die Rockefeiler Foundation mit ihrem Koordinierungsbüro in Paris so nicht nur bestens mit der Wissenschaftsdiskussion in Deutschland vertraut, zu ihrer geförderten Klientel im Bereich der Wirtschaftswissenschaften gehörten vor allem solche Gelehrten, die als erste aus ihren akademischen Positionen vertrieben wurden. Noch ehe jene neuen Hilfskomitees aktiv wurden, entwickelte die Rockefeller Foundation ein eigenes gewaltiges finanzielles Hilfsprogramm, mit dem zahlreiche 'Refugee Scholars' an Universitäten in den USA und Großbritannien piaziert werden konnten. Nach Gründung des EC spielte sich dann eine finanzielle Lastenteilung ein, deren Prinzip einfach und genial war: Die Rockefeiler Foundation wie auch das EC übernahmen jeweils die Hälfte des Gehalts eines von einer X

Einleitung Universität oder einem College gewünschten Wissenschaftlers, sofern Aussicht bestand, daß er nach einer Reihe von Jahren in den eigenen Etat übernommen werden würde (Beveridge 1959; Duggan/Drury 1948; Krohn 1987, S. 37 ff.). Die disziplinsoziologische Ebene zeigt, welche Forschungsfelder im Vergleich zu anderen besonders von der Entlassung und Vertreibung betroffen waren. Auffallend ist, daß sie in starkem Maße von Gelehrten jüdischer Herkunft repräsentiert wurden. Die Ursachen dafür sind in der brüchigen Emanzipation des 19. Jahrhunderts zu suchen. Trotz rechtlicher Gleichstellung waren ihnen verschiedene Berufsfelder, unter anderem auch universitäre Karrieren, nahezu verschlossen geblieben. Solche Diskriminierungen und die vielfaltigen weiteren sozialkognitiven Kontrollen bewirkten, daß sie quasi den gesellschaftskritischen Blick par excellence entwickelten. So ist nicht erstaunlich, daß Juden daher die modernen Sozialwissenschaften prägten. Dieses kritische Potential entfaltete sich erst nach 1918, als ihnen die Administrationen und Bildungseinrichtungen der Republik zugänglich wurden. Auch in der Ökonomie sind bestimmte Teildisziplinen auszumachen, in denen sie besonders wirksam waren. Auf der politisch-kulturellen Ebene lassen sich die spezifische Ausprägung und Bedeutung der nationalen Wissenschaftsmilieus im internationalen Vergleich ermitteln. Bis zum 18. Jahrhundert war die Kultur und waren damit auch die Wissenschaften transnational gewesen. Die Bindungen des Bürgertums an den Nationalstaat im 19. Jahrhundert zeitigte dann ebenfalls nationale Ausformungen der Wissenschaften. Die Historische Schule der Nationalökonomie in Deutschland ist das wohl beste Beispiel solcher intellektuellen Reduktionen.1 Nach 1918 hatte es zwar einen verstärkten wissenschaftlichen Austausch durch Konferenzen, Gastprofessuren, Vortragsreisen etc. gegeben, eine neue Internationalisierung der Forschung war damit allerdings erst ansatzweise eingeleitet worden. Weiter befördert wurde dieser Prozeß durch den Exodus der rund 2.000 emigrierten Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum und deren Verteilung Uber nahezu alle Regionen des Globus, zu denen nach 1940 noch weitere aus den von den deutschen Truppen besetzten Ländern kamen. Die Aufnahme dieser Wissenschaftler in den Zufluchtsländern zeigte nicht selten das Zusammentreffen unterschiedlicher nationaler Wissenschaftsstile, deren erfolgreiche Angleichung davon abhing, welche neuen intellektuellen Botschaften die Emigranten mitbrachten und damit Forschungsperspektiven und -desiderata in ihrer neuen Lebenswelt stimulieren oder ausfüllen konnten und mit welcher Problemsensitivität sie ihre eigenen theoretischen Anschauungen zu reformulieren vermochten. Damit verbunden ist die Frage nach der Wirkung der vertriebenen Wissenschaftler in den Zufluchtsländern. Die Aufnahmebereitschaft dort beruhte weniger auf moralischer und philanthropischer Opposition gegen die totalitären Regimes in Europa, sondern hatte pragmatische Gründe; man interessierte sich für die kognitiven Disziplin-Transfers, die als Bereicherung der eigenen Wissenschaftskultur wahrgenommen wurden. Exemplarisch dafür steht der schnell verbreitete Slogan des Institutsdirektors einer amerikanischen Universität: „Hitler is my best friend. He shakes the tree and I collect the apples" (Fermi 1968, S. 78). Anders ist die zügige Integration einer so großen Zahl von Flüchtlingen kaum zu erklären. Und diese Die Methoden der Historischen Schule, wie die Berücksichtigung historischer und sozialwissenschaftlicher Überlegungen und der Einbau umfangreichen empirisch-statistischen Materials, indessen beeinflußten insbesondere im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch viele amerikanische Ökonomen, die häufig zum zeitweiligen Studium nach Deutschland gingen. Dies kann illustriert werden am Beispiel von Richard T. Ely (1854-1943), der Ende der 1870er Jahre nach Deutschland ging, wo er bei Karl Knies an der Universität Heidelberg promovierte und anschließend in Berlin stärker von Adolph Wagner beeinfluBt wurde. Einige Jahre nach seiner Rückkehr in die USA gründete Ely 188S die heute weltweit dominierende American Economic Association. Zum Einfluß der 'Historischen Schule' auf amerikanisches Wirtschaftsdenken vgl. Dorfman (1955). xi

Einleitung Erwartungen schienen erfüllt worden zu sein, wie die recht bemerkenswerten Karrieren bei zahlreichen Emigranten und die von ihnen erreichten Kommunikationsanteile in der wissenschaftlichen Diskussion der einzelnen Länder - und zunehmend auch international - dokumentieren. Ohne solche Wirkungen wäre schließlich die Bereitschaft zu einer Rückkehr in die alte Heimat nach deren Befreiung 1945 größer gewesen; von allen Berufsgruppen lag die Rückkehrquote bei Wissenschaftlern - das belegen ebenfalls die Daten für die emigrierten Wirtschaftswissenschaftler - am niedrigsten.

II. Emigrierte deutschsprachige Wirtschaftswissenschaftler Die Referenzgruppe der nach 1933 entlassenen und vertriebenen Wirtschaftswissenschaftler umfaßt 253 Personen. Dazu kommen noch 75 Vertreter der sogenannten zweiten Generation, die als Schüler mit ihren Eltern oder als junge Studenten geflohen sind und später in ihren Zufluchtsländern bemerkenswerte Karrieren machten. Zum direkten intellektuellen Transfer wissenschaftlicher Botschaften nach 1933 trugen sie somit nicht bei, wenngleich auch sie für den weiteren 'brain drain* der Emigration aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsgebiet von Bedeutung sind und deshalb in die nachfolgenden Biographien aufgenommen wurden. Während die vor 1910 Geborenen in den Zufluchtsländern in der Regel an ihre im deutschen Sprachraum durchgeführten bzw. begonnenen Arbeiten anknüpften, sie vielfach infolge der Weltwirtschaftskrise und der politischen Entwicklung in Deutschland, aber auch als Ergebnis des Akkulturationsprozesses modifizierten, wurden die nach 1918 geborenen Emigranten, insbesondere im angelsächsischen Raum, nahezu ausschließlich durch die Wirtschaftswissenschaften in den Aufnahmeländern geprägt. Von besonderem Interesse ist die dazwischenliegende Altersgruppe im Grenzbereich von erster und zweiter Generation. Neben einem gerade beendeten bzw. zwangsweise abgebrochenen Studium in Deutschland oder Österreich nahmen sie meist ein zweites Studium im Zufluchtsland auf, so daß sie am Beginn ihrer akademischen Karriere mit unterschiedlichen Forschungstraditionen und Theorieansätzen vertraut wurden. Dies führte vielfach zu einer doppelten Befruchtung und einer Synthese und Weiterentwicklung konkurrierender Theorien, auch wenn nicht jeder wie Hans Singer das Glück hatte, dabei von so herausragenden Fachvertretem wie Schumpeter (Bonn) und Keynes (Cambridge) beeinflußt zu werden. 2 Im Bereich der Ökonomen aus der zweiten Generation haben wir im Zuge unseres Forschungsprozesses immer wieder Überraschungen erlebt. Die Identifikation zahlreicher Wissenschaftler, vor allem in den USA bzw. Großbritannien und Israel mit anglisierten oder hebräisierten Namen, die in jungen Jahren in ihre Zufluchtsländer gingen, kam verschiedentlich eher zufallig zustande. Zwar war dank einiger prominenter Ökonomen wie Paul Streeten ein Problembewußtsein vorhanden, aber selbst bei so bekannten Fachvertretern wie Amitai Etzioni oder Francis Seton dürfte nur wenigen Kollegen die deutsche bzw. österreichische Herkunft, geschweige denn der Geburtsname vertraut sein. Unter den emigrierten deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaftlern nehmen die österreichischen bzw. aus Österreich geflohenen Ökonomen ein quantitativ wie noch stärker qualitativ hohes Gewicht ein. Insbesondere bei den relativ zahlreichen Wissenschaftlern aus Gebieten der ehemaligen Donaumonarchie, die heute zu Ungarn, Polen, Rumänien, der Tschechischen Republik, Rußland und der Ukraine gehören, die jedoch ihre akademische Ausbildung und Karriere zu größeren Teilen in Wien absolvierten, haben sich z.T. erhebliche methodische Probleme gestellt, ob die entsprechenden Ökonomen zu der von uns untersuchten 2

xii

Zu einer Sludie dieses spezifischen Emigrationsgewinns am Beispiel von Singer vgl. Eßlinger (1999), S. 227ff.

Einleitung Grundgesamtheit gehören. Diese Probleme waren in vielen Fällen nur durch zeitaufwendige Recherchen zu lösen. Dabei haben wir unsere Daten mit der Dokumentations- und Forschungsstelle „Österreichische Wissenschaftsemigration" in Wien abgeglichen. In einer Vielzahl von Fällen konnten noch offene Fragen bei Gesprächen und Nachrecherchen in Wien, insbesondere auch an der Universität Wien und dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung geklärt werden. Die Repräsentanten der österreichischen Neoklassik bildeten zusammen mit den Vertretern der deutschen Neuklassik die intellektuell bedeutendsten Segmente unter den Mitgliedern der ersten Generation, die vor ihrer Flucht promoviert und ihre wissenschaftliche Karriere bereits begonnen hatten. Hinzu kamen Vertreter anderer Denkrichtungen und spezieller Teildisziplinen. Zu nennen sind beispielsweise marxistische Wirtschaftstheoretiker; signifikant ist hier die Gruppe der Austromarxisten, ferner Sozialpolitiker, Arbeitsmarktforscher und Agrarökonomen sowie schließlich ökonomisch arbeitende Mathematiker und Statistiker, also Repräsentanten neuer empirisch ausgerichteter und quantitativ orientierter Teildisziplinen, die sich in den zwanziger Jahren vor allem nach amerikanischem Vorbild stärker entwickelten. Sie kamen hauptsächlich aus den in der Weimarer Republik entstandenen intermediären Forschungseinrichtungen der privaten Wirtschaftsverbände und der Arbeiterbewegung wie etwa Fritz Baade, Allred Braunthal, Fritz Naphtali und andere. In diesen Zusammenhang gehört auch der privatwirtschaftlich angestellte Mitarbeiterkreis am Institut für Sozialforschung in Frankfurt mit Henryk Grossmann, Kurt Mandelbaum oder Friedrich Pollock. Zu berücksichtigen sind weiterhin wissenschaftlich arbeitende Gutachter, Journalisten etc. wie Melchior Palyi, Carl Landauer oder Gustav Stolper sowie Privatgelehrte mit anderen beruflichen Einbindungen, eine typische Erscheinung etwa für die Situation in Österreich. Schließlich fällt eine nennenswerte Gruppe aus der höheren Bürokratie auf, die nach 1918 rekrutiert worden war und die junge Funktionselite in der Weimarer Republik geprägt hatte. Ihre daraus hervorgegangenen wissenschaftlichen Arbeiten ermöglichten ihnen in den Zufluchtsländern den Einstieg in universitäre Karrieren. Die wirtschaftswissenschaftliche Emigration setzte sich also nicht nur aus Gelehrten von den Universitäten zusammen: Tabelle 1: Emigrationsprofil der nach 1933 im deutschsprachigen Raum entlassenen Wirtschaftswissenschaftler Zahl der Entlassenen - im Deutschen Reich - in Österreich - in der Tschechoslowakei - vor Emigration in anderen Ländern tätig

alle 196 50 4 3 253

- von Universitäten /Hochschulen - Studium gerade beendet - aus privaten Forschungseinrichtungen - aus der Bürokratie u.a.

148 20 57 28 253

Vertreter der zweiten Generation Biographische Einträge des Handbuchs

emigriert 169 45 4 3 221 122 20 55 24 221 = 87 Prozent

nicht emigriert 27 5 0 0 32 25 2 4 32

75 328 xiii

Einleitung Auffallend ist schließlich, daß zu den emigrierten professionellen Ökonomen ein aus elf Personen bestehender Kreis gebürtiger Russen gehörte, die überwiegend als junge Menschewisten nach der Oktober-Revolution nach Deutschland oder Österreich geflohen waren und dort sowohl in der Agrarforschung als auch in der gewerkschaftsnahen Wirtschaftsforschung arbeiteten. Sie einten nicht allein das politische Profil und teilweise abenteuerliche Biographien, durchweg waren das hochqualifizierte jüngere Leute, die der deutschen und nach 1933 auch der internationalen Forschung vor allem im Bereich der mathematischen Analyse und der Statistik wichtige Impulse gaben. Zu nennen wären etwa neben Paul A. Baran, Alexander Gerschenkron, Naum Jasny, Nathan Leites oder Mark Mitnitzky insbesondere der Lederer-Assistent Jacob Marschak, der schon in Deutschland, aber mehr noch später in den USA auf die Entwicklung der modernen Ökonometrie Einfluß nahm. Herausragend ist weiterhin Wladimir Woytinsky, der in Berlin während der zwanziger Jahre mit seinem siebenbändigen und zum Teil in andere Sprachen übersetzten Werk Die Welt in Zahlen internationale Bekanntheit gewonnen hatte. Zusammen mit Fritz Baade und Fritz Tarnow legte er Anfang der dreißiger Jahre den berühmten, nach ihren Anfangsbuchstaben benannten WTBPlan für die Gewerkschaften zur aktiven staatlichen Krisenbekämpfung vor, der beschäftigungspolitische Ideen beinhaltete, die im Einklang mit jenen von Keynes standen, um dessen Unterstützung sich Woytinsky auch bemühte. In den USA wirkte Woytinsky nach 1933 viele Jahre im Social Security Board in Washington am Aufbau der amerikanischen Sozialversicherung mit, ehe er bis zum Erreichen der Altersgrenze Leiter eines Forschungsprojekts an der Johns Hopkins University in Baltimore wurde. Erwähnt sei auch Wassily Leontief (1905-1999), der für seine in Kiel vorbereitete, später in den USA dann vollendete InputOutput-Analyse 1973 den Nobelpreis erhalten sollte. Leontief, der 1928 mit seiner Arbeit Die Wirtschaft als Kreislauf (1928) bei Werner Sombart und Ladislaus von Bortkiewicz an der Berliner Universität promovierte, arbeitete 1927-28 und - nach einer zwischenzeitlichen Tätigkeit für das Eisenbahnministerium in China - emeut 1930-31 in der Konjunkturforschungsabteilung des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Da er bereits Ende 1931 an die Harvard University ging, zählt er nicht zu den Emigranten aus Nazi-Deutschland. An dieselbe Universität wechselte nur wenige Monate später auch Joseph A. Schumpeter, über dessen Aufnahme in dieses Handbuch sich trefflich streiten ließe. Im vorliegenden Beitrag wird das bekannte Werk von Schumpeter eher knapp behandelt, dafür aber die Frage seiner Exilexistenz in das Zentrum gerückt. Auch das Beispiel des Schumpeter-Schülers Erich Schneider zeigt auf, daß es eine Reihe von Grenzfällen gibt, bei denen die (Nicht-) Aufnahme nur schwer zu entscheiden ist. Die Annahme eines Rufes an eine ausländische Universität, die einem jungen Privatdozenten die erste Professur ermöglicht, mag heutzutage nicht ungewöhnlich sein, stellte in den dreißiger Jahren aber eher eine Ausnahme dar. Inwieweit bei dieser, für die weitere Karriere eines später prominenten Ökonomen wichtigen Entscheidung auch politische Motive eine Rolle spielten, ist heute schwer einzuschätzen. 3 Klar ist jedoch, daß Jens Jessen, einer von Schneiders Vorgängern in der Leitung des Kieler Weltwirtschaftsinstituts, zwar im Gefolge der Ereignisse vom 20. Juli 1944 als Mitglied der Widerstandsbewegung verhaftet und am 30. November im Zuchthaus Plötzensee hingerichtet wurde, seine 1933 einsetzende steile Karriere jedoch dem Tatbestand zu verdanken hatte, anfangs ein führender Vertreter der nationalsozialistischen Wirtschaftslehre gewesen zu sein. Da er zudem bis in sein Todesjahr seine Berliner Professur beibehielt, ist er in dieses Röder/Strauss (1983) führen sowohl Schumpeter als Emigranten in die USA als auch Schneider als einen Wissenschaftler, der 1936 nach Dänemark emigrierte. Vgl. Band II, Teil 2. S. 1042 und 1055f. xiv

Einleitung Handbuch ebensowenig aufgenommen worden wie der ihm eng verbundene Heinrich von Stackelberg, dessen frühe Hinwendung zum Nationalsozialismus die internationale Rezeption seiner preistheoretischen Arbeiten bis heute behindert. Stackelberg, der sich zu einem Regimekritiker wandelte, nahm 1943 eine Gastprofessur in Spanien an, wo er trotz seines frühen Todes 1946 einen prägenden Einfluß auf die wirtschaftliche Theoriebildung hatte.4 In ihrer Klassifikation von Ökonomen gemäß dem Reaktionsmuster auf die nationalsozialistische Diktatur unterscheiden Rieter und Schmolz (1993, S. 95) fünf Kategorien. Auf die drei Gruppen der Vertreter einer völkischen Wirtschaftslehre, der Trittbrettfahrer und der nationalen bzw. konservativen Opportunisten ist an dieser Stelle nicht einzugehen. Während Jessen und Stackelberg den 'Renegaten' zuzurechnen sind, die jedoch weder von den Universitäten entlassen noch vertrieben worden sind, bereitete die fünfte Gruppe der 'Opponenten', die entweder aktiv gegen die Diktatur eintraten oder sich passiv vom nationalsozialistischen Herrschaftssystem distanzierten, im Einzelfall einige methodische Probleme. Dies gilt insbesondere auch mit Blick auf die nicht unproblematische Kategorie der 'inneren Emigration'. Als einer ihrer unumstrittenen Vertreter gilt Alfred Weber, der im März 1933 nicht nur selbst gegen das Hissen der Hakenkreuzfahne vorging (vgl. Nutzinger 1997), sondern dessen entschlossenem Einsatz es auch zu verdanken ist, daß nach 1945 in Heidelberg die Entnazifizierung wesentlich konsequenter betrieben wurde als an vielen anderen deutschen Universitäten. Weber ist in diesem Handbuch ebenso vertreten wie z.B. der bekannte Betriebswirt Eugen Schmalenbach, der im April 1933 von der Kölner Universität zwangsbeurlaubt wurde. Aufnahmekriterium bei den in Deutschland oder Österreich verbliebenen Wirtschaftswissenschaftlern war ihre Entlassung bzw. Vertreibung aus ihrer akademischen Position. Aus diesem Grunde sind andererseits hochgeschätzte Ökonomen, die in oppositioneller Haltung zum NS-Regime standen, nicht in dieses Handbuch aufgenommen worden. Dies gilt z.B. für die Vertreter der 'Freiburger Schule' ebenso wie für August Lösch, der in dieser Zeit die allgemeine Gleichgewichtstheorie auf den Raum anwandte und eine neue Standortlehre entwickelte. Lösch, der 1934/35 und 1936/37 mit einem Rockefeller-Stipendium zu Forschungsaufenthalten in die USA ging, blieb Privatdozent an der Universität Bonn und war als wissenschaftlicher Referent im Kieler Weltwirtschaftsinstitut tätig, verzichtete jedoch auf eine professorale Karriere. III. Institutionen und Zentren der Emigration Ökonomen zählen mit zu den Fachvertretern, die in besonderem Maße von der Vertreibung aus dem NS-Staat betroffen wurden. Dabei fallt sogleich auf, daß der Zwang zur Emigration eng mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Denkrichtungen beziehungsweise theoretischen Schulen zusammenhing. Noch in den zwanziger Jahren firmierte die Ökonomie an den meisten deutschen Universitäten als sogenannte „Staatswissenschaft". Ihre Integration in den juristischen Fakultäten weist auf eine Tradition, die nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung als Ausdruck staatlichen Handelns begriff, sondern auch die Legitimation der gesellschaftlichen Diskurse von dieser Staatlichkeit der gesellschaftlichen Organisation abhängig machte. So war im 19. Jahrhundert die sogenannte Historische Schule der Nationalökonomie entstanden, die in Opposition zur angelsächsischen klassischen Politischen Ökonomie nachzuweisen suchte, daß keine universalen ökonomischen Gesetze existierten, sondern nationale Besonderheiten den Wirtschaftsablauf bestimmten. Die Historische Schule war das intellektuelle Komplement 4

Zu einer detaillierten Studie über Leben und Werk von Heinrich von Stackelberg vgl. Möller (1992).

xv

Einleitung der merkantilistischen Staatswirtschaft im preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat, dem von ihr, zumal nach Beginn der Industriellen Revolution, die Aufgabe zugewiesen wurde, die Entwicklungsdynamik der modernen Wirtschaftsgesellschaft 'von oben' zu regulieren. Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung, konzipiert von beamteten Universitätslehrern, den sogenannten 'Kathedersozialisten', mag dafür als Beispiel genommen werden. In dieses konservative Milieu hatten zum Beispiel Juden nur selten Eingang gefunden; von den Repräsentanten der Historischen Schule in der Weimarer Republik wurden daher nur wenige entlassen - im Gegenteil, unter dem Nationalsozialismus mit seiner völkischen Autarkiewirtschaft erlebte diese Richtung noch einmal eine kurze Renaissance. Die beiden Knapp-Schüler Franz Gutmann und Kurt Singer sowie Georg Brodnitz und Rudolf Kauila waren die einzigen Entlassenen aus diesem Kreis. Von ihnen blieb der Hallenser Wirtschaftshistoriker Brodnitz im Lande - er kam später im Holocaust um -, während die anderen als isolierte Einzelgänger emigrierten; so Gutmann mit 60 Jahren erst kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 in die USA und Singer, der seit 1931 eine Gastprofessur in Japan hatte, nach dem 'Antikomintern-Pakt' zwischen Berlin und Tokio nach Australien. Als Wirtschaftswissenschaftler sind sie nicht mehr in Erscheinung getreten. Gleiches gilt für Kaulla, der schon nach Ende des Ersten Weltkrieges sein Extraordinariat aufgegeben hatte und Teilhaber einer Frankfurter Privatbank geworden war; er emigrierte in die Schweiz und lebte dort als Privatier. Durch den überragenden Einfluß der Historischen Schule hatte sich eine zweite Richtung des ökonomischen Denkens in Deutschland nie nennenswert entfalten können. Die neoklassische Markttheorie hatte sich deshalb seit Ende des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum lediglich an der Peripherie, vor allem in Österreich, ausbreiten können. Die Gründe für die Konzentration der Neoklassiker in Österreich sind darüber hinaus womöglich in der gesellschaftspolitischen Rückständigkeit Österreichs zu suchen. Noch Ende des 19. Jahrhunderts hatte die k.u.k. Monarchie industriell zu den Entwicklungsländern gehört. Das liberale neoklassische Modell hatte so auch die Funktion eines sozialen Appells an das Bürgertum, die eigenen Kräfte zu aktivieren und sich ökonomisch als Klasse gegen den mächtigen Militär- und Beamtenstaat durchzusetzen. Im Unterschied ebenfalls zur angelsächsischen Klassik, die mit ihren produktions- oder angebotsorientierten Analyseansätzen, etwa in der Preistheorie (Arbeitswertlehre), noch einen frühen Entwicklungsstand der industriellen Marktgesellschaft mit beschränktem Warenangebot und stabiler Nachfragestruktur widerspiegelte, hatte die neoklassische Revolution eine neue Sicht auf die wirtschaftlichen Zusammenhänge eröffnet. Sie argumentierte von der Nachfrageseite her; die von ihr mit dem Schlüsselwort des „Grenznutzens" formulierte subjektive Wertlehre definierte die Preisbildung nicht mehr nach den objektiven Arbeitsquanten der Güterproduktion, sondern nach den individuellen Präferenzen der Käufer. Diese methodologische Innovation zur Analyse der modernen Industriegesellschaft mit ihren immer unübersichtlicheren Märkten war seit den 1870er Jahren in Westeuropa und den USA zum beherrschenden wirtschaftstheoretischen Paradigma geworden, wohingegen ihre österreichischen Vertreter im deutschsprachigen Raum Außenseiter blieben. Die Marginalisierung in der eigenen Wissenschaftsgemeinschaft und die Behauptung gegen den Obrigkeitsstaat erklärt nicht allein die spezifische Dogmatik der deutschsprachigen Neoklassiker, die sich in den zwanziger Jahren weiter verfestigte, als auch noch die Sozialdemokratie bzw. die sozialistische Theorie öffentlich wirksam wurde, sondern auch die auffallende Tatsache, daß viele ihrer führenden Repräsentanten - etwa Ludwig von Mises, Herbert Fürth, Gottfried Haberler, Friedrich A. Hayek, Fritz Machlup, Ilse Mintz - teilweise xvi

Einleitung schon vor dem 'Anschluß' Österreichs 1938 emigrierten, einige nach Großbritannien, die Mehrheit aber in die USA. Nach dem Ersten Weltkrieg mit seinen sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen in einem bis dahin unbekannten Ausmaß begann sich das überkommene relativ statische Denken zu differenzieren. Die zwanziger Jahre wurden weltweit zur Professionalisierungs- und Differenzierungsphase in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Wohl dominierten in Deutschland unter den älteren Wissenschaftlern auch weiterhin die alten ordnungstheoretischen Lagermentalitäten jener beiden Richtungen, die sich im 'Methodenstreit' seit den 1880er Jahren nur scheinbar verständigt hatten. Als Reaktion auf die administrativen Regulierungen des sogenannten 'Kriegssozialismus' während des Ersten Weltkrieges bekannten sich jetzt auch einige jüngere Ökonomen an deutschen Universitäten zu neoklassischen Analyseansätzen, so u.a. Wilhelm Röpke in Marburg oder Walter Eucken mit seinem schulebildenden Einfluß in Freiburg. Doch angesichts der anstehenden Aufgaben bei der Lösung der wirtschaftlichen Dauerprobleme, die nach 1929 in der Weltwirtschaftskrise ihre das politische System in Deutschland und Österreich sprengenden Zuspitzungen fanden, wurden jene Ordnungstheorien zunehmend obsolet. Der Erste Weltkrieg stellte so auch für die Wirtschaftswissenschaften eine Zäsur dar. Die Kriegswirtschaft, die anschließende große Inflation und die mit den Reparationszahlungen verbundene Transferproblematik bildeten neue Herausforderungen, die theoretisch gut fundierte Problemlösungen erforderten. Jüngere Wissenschaftler wandten sich nunmehr den realwirtschaftlichen Abläufen zu, erschlossen dabei neue Forschungsfelder, neue theoretische Einsichten und methodische Instrumentarien und suchten gleichzeitig nach pragmatischen wirtschaftspolitischen Handlungsstrategien. Dabei profilierte sich eine dritte Richtung junger Hochschulabsolventen, denen die Reichsverwaltung mit ihren Demobilmachungsbehörden nach dem Ersten Weltkrieg die ersten Berufschancen geboten hatte. Dort erlebten sie hautnah die makroökonomischen Probleme beim Aufbau der Friedenswirtschaft, die fortan die wissenschaftliche Arbeit auch derjenigen prägten, die in den zwanziger Jahren universitäre Positionen übernahmen. Die bahnbrechenden Leistungen dieser Gruppe sollten sowohl in der Erforschung des industriellen Wachstums und seiner Instabilitäten wie auch in der Formulierung wirtschaftspolitischer Konzepte zur Steuerung dieser Instabilitäten bestehen. Ihre gesamtwirtschaftlichen Planungsanalysen suchten die lenkenden staatswirtschaftlichen Traditionen in Deutschland und die dezentralen markttheoretischen Ansätze der Neoklassiker mit den normativen Grundlagen der klassischen Politischen Ökonomie zu verbinden, die in aufklärerischer Absicht auch eine allgemeine Gesellschaftstheorie entworfen hatte. Insbesondere knüpften sie an die Analysen des Maschinerieproblems von David Ricardo und über die Akkumulationsprobleme und das technisch induzierte disproportionale Wachstum des modernen Industriekapitalismus von Karl Marx an, also Themen, die angesichts der hektischen Rationalisierungswellen der zwanziger Jahre und der folgenden Dauerarbeitslosigkeit brennende Aktualität gewannen. Sie lieferten damit aus heutiger Rückschau nicht allein die originellsten Beiträge zu dem in den zwanziger Jahren weltweit diskutierten neuen Forschungsfeld der Konjunkturtheorie. Ihre Analysen zum 'technischen Fortschritt' hoben die strukturellen Probleme der industriellen Entwicklung erneut in das Bewußtsein, die in der neoklassischen Euphorie über die Selbstregulierungskraft der Märkte aus dem Blickfeld geraten waren. Daher werden diese Gelehrten heute auch als Neu-Klassiker bezeichnet (vgl. Kalmbach/Kurz 1983). Sie kamen insbesondere aus dem kleinen intellektuellen Milieu, häufig jüdischer Herkunft, dem die neue Republik zum ersten Mal den Zugang zu öffentlichen Ämtern ermöglicht hatte. Auf originelle Weise verstanden es diese Ökonomen, innovative Forschungsansätze und politisches Engagement für die erste deutsche Demokratie zu verbinden. Das zeigte sich xvii

Einleitung ebenso nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, als sie - singular in der deutschen Wissenschaft und unabhängig von dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes - verschiedene Modelle 'aktiver Konjunkturpolitik' zum Abbau der Arbeitslosigkeit entwickelten. Als demokratische Sozialisten und wegen ihrer mehrheitlich jüdischen Herkunft gehörten die NeuKlassiker zu den ersten, die von den Nationalsozialisten vertrieben wurden. Waren die Jahre der Weimarer Republik noch durch die Auseinandersetzungen zwischen Neu-Klassikem und Neoklassikem geprägt (vgl. Kurz 1989), in denen die Vertreter der Historischen Schule eher an den Rand gedrängt wurden, so weisen Studien über die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im Nationalsozialismus aus, daß das Jahr 1933 eine bedeutsame Wasserscheide darstellt. Von der Vertreibung von Wirtschaftswissenschaftlern aus Deutschland und Österreich durch die Nationalsozialisten wurde die Neu-Klassik, aber auch die Neoklassik, wie z.B. die österreichische Grenznutzenschule, sehr viel stärker betroffen als der Historismus und die Romantik, von denen einige fuhrende Vertreter anfangs mit dem Nationalsozialismus sympathisierten, bevor auch bei ihnen vielfach eine Desillusionierung einsetzte. „So markierte das Jahr 1933 vor allem den Bruch mit der klassischen Tradition der deutschen Nationalökonomie, während der Historismus vergleichsweise Rückenwind erhielt. Der inszenierte Versuch aber, die nationalsozialistische Wirtschaftslehre als den legitimen Erben von Historismus und Romantik, den angeblich typisch deutschen Traditionen in der Volkswirtschaftslehre, auszugeben, blieb eine fadenscheinige Geschichtsklitterung und mußte in der Praxis scheitern. Die Entwicklung nach 1933 war keine logische Fortsetzung eines deutschen Sonderweges in der Volkswirtschaftslehre." (Janssen 1998, S. 507)

IV. Auswirkungen der Emigration auf deutschsprachige Universitäten Vergleicht man die Vertreibungen der Ökonomen von den Hochschulen, so springen sogleich auffallende Unterschiede ins Auge. Am höchsten war die Entlassungsquote an den drei Universitäten Frankfurt, Heidelberg und Kiel, den Zentren der jungen neuklassischen Forschung in den zwanziger Jahren. Während bis zum Wintersemester 1934/35 im Durchschnitt etwa 14 Prozent des Lehrkörpers an den deutschen Hochschulen aus politischen oder 'rassischen' Gründen entlassen worden waren, betrug die Quote bei den Ökonomen 24 Prozent, an jenen Universitäten aber fast 50 Prozent oder mehr: Tabelle 2: Von deutschen Universitäten entlassene und emigrierte Wirtschaftswissenschaftler Universität Frankfurt/M. Heidelberg Kiel

Lehrkörper WS 1932/33 33 11 10

Entlassungen nach 1933 13 7 5

in Prozent 40 63 50

davon Emigration 9 5 2

Diese Zahlen kontrastieren auffallend mit denen anderer Universitäten, zum Beispiel: Berlin Freiburg Hamburg München Tübingen

21 11 12 13 10

5 1 4

24 9 33

4 3

Einleitung In dieser Übersicht fällt auf, daß die Universität Frankfurt mit Abstand den größten Lehrkörper im Bereich der Wirtschaftswissenschaften hatte. Als Gründung jüdischer Kaufleute kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges sollte sie nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Antisemitismus vor allem der Erforschung der modernen Gesellschaftswissenschaften dienen. Allerdings begann sie mit dem Lehrbetrieb erst 1919, als die strukturellen Folgeprobleme des Ersten Weltkrieges den modernen Sozialwissenschaften ein grenzenloses Betätigungsfeld eröffneten. In Kiel wiederum hatte der Leiter des Instituts für Weltwirtschaft, Bernhard Harms, in den zwanziger Jahren mit Adolf Löwe, Gerhard Colm, Hans Neisser, später noch Fritz Burchardt und Alfred Kahler, gerade diejenigen jüngeren Wissenschaftler gewonnen, die ihre praktischen Erfahrungen in der Reichsverwaltung nach 1918 gesammelt hatten. Heidelberg war zweifellos in den Jahren der Weimarer Republik auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ein Zentrum intellektuellen Diskurses. Dabei spielte das im Mai 1924 gegründete und bis 1933 von Alfred Weber geleitete Institut für Sozial- und Staatswissenschaften (InSoSta), das in seinen Ursprüngen bis weit in das 19. Jahrhundert zurückreicht (vgl. Blomert/Eßlinger/Giovannini 1997) eine entscheidende Rolle. Charakteristisch für Heidelberg war die Multidisziplinarität, die enge Verbindung der Nationalökonomie mit den philosophischen Fächern und insbesondere mit der Soziologie. Dies kam auch in zahlreichen Habilitationen, wie z.B. denen von Edgar Salin oder Karl Mannheim, zum Ausdruck. Andererseits konnten im bemerkenswert wissenschaftlich wie politisch liberalen Klima in Heidelberg auch andere Positionen gedeihen. So stehen z.B. Walter Waffenschmidt und Jacob Marschak als herausragende Vertreter der modernen mathematisch orientierten Wirtschaftstheorie. Bei Marschak, der 1930 bei Emil Lederer mit einer Arbeit über die Elastizität der Nachfrage habilitierte und 1977 als President Elect der American Economic Association in Los Angeles verstarb, studierte beispielsweise der junge Richard A. Musgrave 1932/33. Die dominierende Figur in Heidelberg war in der Weimarer Zeit neben Alfred Weber jedoch Emil Lederer, der in seiner Person die Synthese zwischen der Soziologie (er verfaßte bedeutende Arbeiten Uber die moderne Angestelltenfrage) und der modernen Wirtschaftstheorie verkörperte. Lederer selbst war in der theoretischen Tradition der Österreichischen Schule der Nationalökonomie großgeworden und seit den Studententagen mit dem nur ein halbes Jahr jüngeren Schumpeter befreundet gewesen, neben dem er im Seminar von BöhmBawerk an der Wiener Universität gesessen hatte. In welchem Ausmaß die nationalsozialistische Gleichschaltung auf die republikanischen Wissenschaftszentren zielte, mag die Tatsache illustrieren, daß Kiel von dem neuen Reichserziehungsministerium als sogenannte 'Stoßtrupp-Universität' an der Grenze des Reiches ausersehen war und der Universität Frankfurt mit Ernst Krieck ein universitätsfremder, stramm nationalsozialistischer Parteigänger als Rektor verordnet wurde, der sich sogleich mit den Worten einführte: „Nicht objektive Wissenschaft, sondern heroische, kämpferische, soldatische und militante Wissenschaft zu lehren, ist das Ziel unserer Universitäten" (Das neue Tagebuch, Nr. 3/29.7.33, S. 121). Im Falle Heidelbergs taktierte das Ministerium allerdings mit Rücksicht auf das internationale Ansehen dieser Traditionsuniversität zunächst scheinbar noch zurückhaltender. Lederer war bereits zum Wintersemester 1931/32 als Nachfolger von Heinrich Herkner an die Berliner Universität gewechselt. Alfred Webers Emeritierung stand kurz bevor. Damit wurde eine Neubesetzung der beiden zentralen Heidelberger Ordinariate erforderlich. Der Einschnitt, der dann tatsächlich 1933 stattfand, fiel in Heidelberg jedoch weit gravierender aus als etwa an den anderen südwestdeutschen Universitäten Freiburg oder Tübingen. Die hohe Entlassungsquote in Heidelberg führte zu einem Umbruch in der nationalökonomixix

Einleitung sehen Forschungs- und Lehrtradition sowie einem nahezu völligen Verfall akademischer Sitten. Die unter Einschluß von Mitgliedern der aufgelösten Handelshochschule Mannheim neu gebildete staats- und wirtschaftswissenschaftliche Fakultät war den Einflüssen nationalsozialistischer Politik wesentlich stärker ausgesetzt als die konservativen, aber nunmehr stabileren Fakultäten in Freiburg und im württembergischen Tübingen. Insbesondere die Freiburger Fakultät, die innerhalb des Landes Baden derselben ministeriellen Aufsicht und Überwachung unterlag, konnte in den kritischen Jahren in formaler wie inhaltlicher Hinsicht weitgehend ihre Unabhängigkeit wahren. Auf der anderen Seite personifizierte der Betriebswirt Thoms (zugleich Leiter des neugegründeten 'Instituts für Großraumforschung'), der von 1933 bis 1945 als Dekan in Heidelberg amtierte, das Führerprinzip. Unter zahlreichen Beispielen politischer Willfährigkeit ragt das 1936 stattgefundene Habilitationsverfahren von Franz Adolf Six, der bereits seit 1935 dem SD und dem Reichssicherheitshauptamt angehörte und 1939 zum Dekan der in Berlin neugegründeten Auslandswissenschaftlichen Hochschule ernannt wurde, besonders negativ heraus (vgl. Brintzinger 1996, S. 210-213). Brintzingers differenzierte Studie verdeutlicht auch, daß die Verteidigung wissenschaftlicher Standards und hochschulpolitischer Autonomie gegenüber nationalsozialistischer Politik keine reine Frage von Partei(nicht)mitgliedschaft war. Auffällig ist die hohe Zahl Heidelberger Habilitanden in der Nazizeit, deren 'wissenschaftliche' Karriere bis auf eine Ausnahme 1945 endete. Im Gegensatz zu den Vertreibungszentren Frankfurt, Kiel und Heidelberg zeigt das Bild der anderen zum Vergleich angeführten Universitäten mit ihren weitaus geringeren Entlassungen, wie sehr das aus dem Kaiserreich überkommene Milieu der akademischen Mandarine in den Jahren der Weimarer Republik intakt geblieben war. Die Universitäten München und Tübingen beispielsweise hatten Berufungen von Juden auch nach 1918 zu verhindern gewußt, und politisch mißliebige Gelehrte - der zweite Entlasssungsgrund nach dem 'Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' - waren dort ohnehin undenkbar. Neben München und Tübingen hat es zwei weitere Universitäten gegeben, an denen niemand entlassen wurde (Bonn und Rostock); an 6 Universitäten ist wie in Freiburg jeweils einer entlassen worden (Breslau, Göttingen, Jena, Königsberg, Marburg, Würzburg); an der Universität Leipzig wurden 2 entlassen und in Halle sowie Münster jeweils 3. Von der einen Entlassung in Freiburg beispielsweise war Robert Liefmann betroffen, ein Außenseiter der Wissenschaft wie der Universität, der nur Honorarprofessor gewesen ist. Als deutschnationaler Protestant jüdischer Herkunft emigrierte er nicht; 1940 wurde er bei der brutalen Blitzaktion zur Vertreibung der badischen Juden in das französische Lager Gurs transportiert, wo er wenige Wochen später elend umkam. Allerdings zeigen sich am Beispiel der südwestdeutschen Fakultäten auch das unterschiedliche Ausmaß von Anpassung oder Widerstand während des NS-Staates sowie personelle (Dis-)Kontinuitäten 1933 bzw. 1945. So kam es zwar in Tübingen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung zu keinen Entlassungen, allerdings in den Jahren des NS-Regimes auch zu keinen Habilitationen. Während der bei Walter Eucken 1925 in Tübingen promovierte und 1932 in Freiburg habilitierte Friedrich A. Lutz seit 1938 eine Hochschulkarriere in den USA machte (wo die Universität Princeton ihn 1947 zum Professor of Economics ernannte), verzögerte sich die Karriere des in Deutschland gebliebenen Hans Peter, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ordinarius an der Universität Tübingen ernannt wurde. Peter spielte zusammen mit dem 1930 zunächst in Privatwirtschaftslehre habilitierten Erich Preiser eine besonders aktive Rolle bei der Ablösung der in Tübingen (personifiziert z.B. durch Carl Fuchs) bis Ende der zwanziger Jahre dominierenden Historischen Schule durch die moderne Wirtschaftstheorie. XX

Einleitung In Freiburg, wo lange Zeit die Vertreter der Historischen Schule vorgeherrscht hatten, ja sogar mehr ökonomische Außenseiter als in Tübingen oder Heidelberg lehrten, die sich der Verkündigung „autochthoner Botschaften" (Schumpeter) verschrieben hatten, setzte 1926 eine bedeutende Trendwende ein. Die Berufungen von Walter Eucken und Adolf Lampe führten nicht nur zu einer wesentlich stärkeren Akzentuierung der Wirtschaftstheorie, sondern auch zu einer Rekonstruktion des liberalen Paradigmas, zum langfristigen Beginn einer 'Freiburger Schule', die sich bemerkenswerterweise, entgegengesetzt zur politischen Entwicklung, gerade in jenen Jahren herausbildete, in denen der Liberalismus in Deutschland eine vernichtende politische Niederlage erlitt. Die stärkere Orientierung hin zur liberalen Wirtschaftstheorie drückte sich auch in den Habilitationen, etwa jenen von Friedrich Lutz, Bernhard Pfister oder der Habilitationsschrift von Leonhard Miksch Wettbewerb als Aufgabe (1937) aus. Bezüglich der Privatwirtschaftslehre ist bemerkenswert, daß Freiburg als erste deutsche Universität ein betriebswirtschaftliches Ordinariat errichtete (und 1920 mit Emst Walb besetzte) und darüber hinaus mit Moritz Weyermann und Hans Schönitz bereits vor dem Ersten Weltkrieg über zwei Pioniere in dieser neu aufkommenden Fachdisziplin verfügte. Andererseits spielte die Betriebswirtschaftslehre in Heidelberg bis zur teilweisen Eingliederung der Handelshochschule Mannheim in die neu gegründete Staats- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät (in das auch das InSoSta überführt wurde) im Jahre 1934 überhaupt keine Rolle. Die betriebswirtschaftlichen Lehrstühle wurden nach 194S (auch wegen des politischen Fehlverhaltens einiger Dozenten) unter dem Einfluß Alfred Webers als „Fremdkörper" empfunden und nach Mannheim zurückverlagert. Dabei spielte auch die unterschiedliche institutionelle Organisation eine entscheidende Rolle. In Heidelberg gehörte die Nationalökonomie bis 1933 und nach 1945 zur Philosophischen Fakultät. Anders als in Freiburg und Tübingen war eine Vereinigung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in einer Fakultät nie emsthaft angestrebt worden. Eine pragmatische Ausrichtung der Lehre im Hinblick auf spätere Berufstätigkeiten galt eher als unwissenschaftlich, die Kenntnis klassischer Sprachen dagegen noch Anfang der fünfziger Jahre als zwingend geboten fur einen angehenden Ökonomen. Bemerkenswert ist schließlich die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, nach eigenem Selbstverständnis die Spitze der reichsdeutschen Wissenschaften. Nimmt man die Entlassungsquote als Indikator kreativer neuer Forschungsansätze während der zwanziger Jahre, so kann die Spitzenstellung in den Wirtschaftswissenschaften nicht überwältigend gewesen sein. Schaut man genauer hin, wird jene Selbstetikettierung für diese Disziplin noch haltloser: von den 5 Entlassenen waren 2 Ordinarien (Emil Lederer und Ignaz Jastrow) und 3 Honorar- bzw. nichtbeamtete außerordentliche Professoren (Julius Hirsch, Charlotte Leubuscher, Alfred Manes). Die beiden Ordinarien kann man eigentlich kaum zum Bestand dieser Statusgruppe von insgesamt 7 Personen rechnen, denn Lederer war erst zum Wintersemester 1931/32 gegen den Widerstand der Fakultät vom Preußischen Kultusministerium nach Berlin berufen worden und Jastrow zum Zeitpunkt der Entlassung mit 79 Jahren längst Emeritus. Bis auf ihn sollten alle Entlassenen emigrieren. Schaut man sich den Altersaufbau der Ordinariengruppe an, so war Lederer mit 51 Jahren krasser Außenseiter. Abgesehen von einem weiteren Endfünfziger (Ludwig Bernhard) waren alle anderen älter als 65 Jahre. Wie an kaum einer anderen Hochschule repräsentierten die wirtschaftswissenschaftlichen Ordinarien der Berliner Universität nach dem Tode von Ladislaus von Bortkiewicz (1868-1931) wenig mehr als eine Welt von gestern, in der abgeschüttet vor neuen Einflüssen die Traditionen der Historischen Schule gepflegt wurden. Im 'völkischen Aufbruch' des Nationalsozialismus erhofften sie sich noch einmal einen intellektuellen Ansehensgewinn, wie etwa die xxi

Einleitung servilen Anbiederungspublikationen Deutscher Sozialismus von Werner Sombart und Friedrich von Gottl-Ottlilienfelds Zeitfragen der Wirtschaft. Über Bolschewismus, Autarkie und deutschen Sozialismus aus den Jahren 1933 bzw. 1934 dokumentieren. Die Bedeutung der Universitäten Frankfurt, Heidelberg und Kiel als emigrationssignifikante Hochschulzentren in den Gesellschaftswissenschaften wird unterstrichen von der weiteren Zahl emigrierter Wirtschaftswissenschaftler, also nicht allein der aus dem Hochschulbereich Vertriebenen. Mit Abstand haben in den zwanziger Jahren in Frankfurt und in Heidelberg mehr Ökonomen, die später Deutschland verlassen mußten, promoviert als an anderen Universitäten. Diese Promotionsfrequenzen bestätigen einmal mehr das reservierte Verhältnis zahlreicher Universitäten zum studierenden jüdischen und republikanischen Nachwuchs nach 1918. Darüber hinaus war Frankfurt vor 1933 durch die von dem Bankier Eugen Altschul gegründete private Gesellschaft fur Konjunkturforschung sowie den Redaktionsstab der von der Frankfurter Zeitung herausgegebenen Wirtschaftskurve ein zentraler Standort der modernen empirischen Wirtschaftsforschung gewesen, der zahlreichen jüngeren Ökonomen Beschäftigung geboten hatte (vgl. Kulla 1996). In auffallendem Kontrast dazu zeigen sich die Verhältnisse in Österreich. Augenscheinlich monopolisierte dort die Universität Wien die akademische Ausbildung. Den insgesamt 50 Emigranten, die in Wien promoviert hatten, stand lediglich einer gegenüber, der an einer anderen österreichischen Universität (Innsbruck) das Doktor-Examen abgelegt hatte. Bemerkenswert ist weiterhin, daß von der Gesamtzahl der Promotionen in Wien allein 37 in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fielen. Tabelle 3: Promotionsorte der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler Universität vor 1918 Berlin, Universität 7 Berlin, HH, LH Bonn 1 Breslau 2 Erlangen 1 Frankfurt 1 Freiburg 6 Glessen Göttingen 3 Hamburg 3 Heidelberg Jena Kiel 2 Köln Leipzig 3 Marburg 1 7 München Tübingen Würzburg 2 Wien 13 Innsbruck Prag 3 andere 7 in der Emigration promoviert nicht oder nach 1945 promoviert 62 xxii

1918-1933/38 13 6 3 4 1 15 6 1 2 2 15 3 7 4 -

1 4 3 2 37 1 3 3 16 7 159 = 221

Einleitung Die Zahl der entlassenen Wissenschaftler ist von der der Emigranten zu unterscheiden. Im Durchschnitt sind etwa 60 Prozent der entlassenen deutschen Universitätslehrer emigriert. Die hohe Emigrationsrate der Ökonomen von 87 Prozent (vgl. Tab. 1) ist mit auf die Herkunft jüngerer Wissenschaftler aus den intermediären Forschungseinrichtungen, insbesondere im Umfeld der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, zurückzuführen. Die Entscheidung zur Emigration hing auch in anderen Tätigkeitsfeldern wesentlich vom Alter der Betroffenen ab. Nicht erstaunlich ist, daß die größte Gruppe der Emigranten zwischen 24 und 33 Jahre alt war, sich also in einem Alter befand, in welchem die größte intellektuelle Mobilität und Flexibilität vermutet werden kann. Aus dieser Alterskohorte emigrierten fast alle, während sich bei den mehr als Fünfzigjährigen weniger als 60 Prozent zu diesem Schritt entschlossen haben. Tabelle 4: Altersstruktur der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler Geburtsjahr vor 1880 1880-1889 1890-1899 1900-1909 1910-1912/14

Gesamtzahl 29 58 49 91 26 253

nicht emigriert 13 10 6 3 0 32

emigriert 16 48 43 88 26 221

in Prozent 55 83 88 97 100 87

Bei solcher Altersstruktur der während der Weltwirtschaftskrise auf den Arbeitsmarkt der Zufluchtsländer drängenden emigrierten Ökonomen, die in anderen Disziplinen ähnlich aussah, wird verständlich, daß die spontan gebildeten, schnell wirksam arbeitenden Hilfskomitees für Wissenschaftler, wie auch die finanzstarke Rockefeller Foundation und andere amerikanische Stiftungen ein Engagement für die jüngere Generation ablehnten, um einheimischen Kollegen nicht die Berufsperspektiven zu nehmen. Gefördert wurden in der Regel nur hervorragende Wissenschaftler aus der mittleren Altersgruppe zwischen 30 und 50 Jahren (Duggan/Drury 1948, S. 186 ff.). Die Bedeutung der Altersvariable wird besonders von der kleinen Gruppe der Wirtschaftswissenschaftlerinnen illustriert. Von den 253 Entlassenen waren 17 weiblich, zu denen noch 2 kommen, die ihr Studium gerade abgeschlossen hatten; 5 weitere Vertreterinnen von den 75 Personen der zweiten Generation seien außerdem erwähnt. Bereits hier ist zu erkennen, daß ihr Anteil im unteren Segment der Alterspyramide anstieg. Noch deutlicher wird das innerhalb der Referenzgruppe der ersten Generation. Während von den 253 Entlassenen 87 (34 Prozent) zur Altersgruppe der mehr als Vierzigjährigen, vor 1890 Geborenen zählten, gehörten dazu nur 2 der 17 Frauen (12 Prozent). Mit zwei Ausnahmen hatten sie alle nach 1918 promoviert, was auf die Öffnung akademischer Karrieren für Frauen erst nach dem Zusammenbruch der Monarchien in Deutschland und Österreich hinweist. Von den 17 weiblichen Entlassenen, darunter 7 Hochschulangehörige (u.a. die Professorinnen Käthe BauerMengelberg, Cora Berliner, Charlotte Leubuscher, Frieda Wunderlich), 5 aus der Bürokratie oder öffentlichen Verbänden (u.a. Hertha Kraus, Käthe Leichter, Gertrud Lovasy, Ilse Mintz) und 4 aus privaten Organisationen (u.a. Martha Steffy Browne, Marie Dessauer), sind 12 emigriert. Die emigrierten Professorinnen haben ihre universitäre Karriere fortsetzen und weitere 5 überhaupt erst mit der Hochschullaufbahn beginnen können, vor allem in den USA, wo sich an den zahlreichen Mädchen-Colleges vergleichsweise günstige Berufschanxxiii

Einleitung cen für weibliches Lehrpersonal eröffneten. Nur für zwei Frauen bedeutete die Emigration den Abbruch ihrer Karriere. Andererseits hatte die Altersvariable für die hohe Sterblichkeit der 32 Nicht-Emigranten nur geringe Bedeutung; von ihnen hat nicht einmal die Hälfte die NS-Herrschaft überlebt. Allein 9 der 16 Verstorbenen sind im Holocaust umgekommen, so Georg Brodnitz, Paul Eppstein, Franz Eulenburg, Carl Grünberg, Robert Liefmann, Benedikt Schmittmann sowie mit Cora Berliner, Käthe Leichter und Cläre Tisch alle nicht emigrierten Frauen. Ferner haben Emst Griinfeld und der Österreicher Karl Schlesinger den Freitod gewählt, letzterer am Tage des 'Anschlusses' seiner Heimat an das nunmehr so genannte Großdeutsche Reich. Und auch der natürliche Tod der ehemaligen Professoren Paul Mombert kurz nach der Reichspogromnacht 1938 und Siegfried Budge 1941, dessen Frau wenig später nach Theresienstadt deportiert wurde, dürfte ursächlich mit auf die antisemitischen Exzesse des nationalsozialistischen Staates zurückzuführen sein. Der in die Niederlande emigrierte Robert Remak ist nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht ebenfalls nach Auschwitz deportiert worden.

V. Zufluchtsländer der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler Wie in den anderen Wissenschaftsdisziplinen ist die Mehrheit der Ökonomen in die Vereinigten Staaten von Amerika emigriert, entweder direkt oder nach Zwischenaufenthalten in anderen Ländern, insbesondere in Großbritannien und in lateinamerikanischen Ländern. Tabelle 5: Zufluchtsländer der Wirtschaftswissenschaftler Vereinigte Staaten von Amerika Großbritannien Schweiz, Frankreich, Niederlande Palästina Türkei Lateinamerika Australien und Neuseeland Sonstige

131 35 12

8

6 7 3 19

221 Auffallend ist, daß Frankreich sowohl bei der Emigration von Ökonomen wie auch von anderen Wissenschaftsvertretern kaum ins Gewicht fiel, während das Land andererseits Hauptziel der vertriebenen Schriftsteller und Künstler wurde. Die Sowjetunion war ebenfalls kein nennenswertes Asylland, nicht einmal für Kommunisten oder deren Sympathisanten. Lediglich Fred Oelßner, der erst nach seiner Rückkehr 1945 in die Sowjetische Besatzungszone als Ökonom in Erscheinung treten sollte, floh längerfristig dorthin, während der in Rußland geborene Paul Baran und Alfons Goldschmidt nach kurzem Aufenthalt über andere europäische Länder in die USA bzw. Mexiko weiterwanderten. Jürgen Kuczynski und Alfred Meusel hatten es gleich vorgezogen, nach Großbritannien und Dänemark zu gehen. Die überragende Bedeutung der USA als Aufnahmeland der 'Refugee Scholars' läßt sich auch an der allgemeinen Wanderungsbewegung der Emigranten ablesen. Das annähernde Gleichgewicht zwischen denen, die die USA als erstes Zufluchtsland wählten und denen, die erst auf Umwegen dorthin kamen, mag mit einen Hinweis darauf geben, wie sehr die Flucht von Ökonomen in ein europäisches Land als Sackgasse für die Karriere angesehen werden XXIV

Einleitung kann. Das Arbeitsrecht oder die Geschlossenheit des akademischen Systems dort verhinderten häufig die dauerhafte Integration von Wissenschaftlern. Tabelle 6: Mobilitätsverlauf Emigranten mit 1 Zufluchtsland mit 2 Zufluchtsländern mit 3 mit 4 und mehr"

118 72 21

10 221

Für Großbritannien allerdings ist das Bild zu modifizieren. Zwar bestand auch dort ein generelles Arbeitsverbot für Emigranten, die solidarische Selbstbesteuerung der britischen 'community of science' zur Finanzierung zusätzlicher Jobs fur die deutschen Kollegen, aus der wie angedeutet - der Academic Assistance Council hervorging, zeigt aber, wie Ausnahmen durch das Engagement von Einheimischen durchgesetzt werden konnten. So konnte der größte Teil der Wissenschaftler seine Arbeiten fortsetzen, zuweilen geschah das aber auch in Nachbardisziplinen. Fraglich ist, ob man darin einen Karriereknick sehen muß oder ob die Emigranten in solchen Fällen zu neuen Lernprozessen, zur Veränderung eingefahrener Denkschemata gezwungen wurden. Von einigen erfolgreichen Betroffenen ist dieser „ubiquitäre Zwang" schon bald als großer intellektueller Zugewinn verklärt worden (Speier 1937, S. 316 ff.). Vor solchem Hintergrund und angesichts der weltweiten Arbeitsmarktprobleme ist nicht ganz unbedeutend für die akademischen Chancen der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler gewesen, wie die ursprüngliche Ausbildung in Deutschland ausgesehen hatte. Da den jüngeren Wissenschaftlern nur in Ausnahmefällen von den Komitees geholfen wurde, war die Breite der Kompetenz ausschlaggebend für den späteren Erfolg in der Emigration. Herausragend ist auch hier wieder die Universität Heidelberg, an der augenscheinlich eine solche Ausbildung angeboten wurde. Exemplarisch genannt seien nur die beiden Schüler Lederers, Nathan Leites und Svend Riemer. Sie hatten bei ihm über monetäre Probleme sowie über die Dynamik des Konjunkturverlaufs promoviert, damals zentrale Fragen der wissenschaftlichen Diskussion. Nach Zwischenaufenthalten in einem bzw. in zwei europäischen Ländern sollten beide in den USA bedeutende Gelehrte werden: der eine als Politikwissenschaftler, der andere als Soziologe. Für ähnliche Karrierewechsel stehen auch die späteren Politikwissenschaftler Ferdinand A. Hermens und Henry Pachter, während andererseits der Jurist Peter Drucker in der Emigration zum Management-Wissenschaftler wurde. Die disziplinüberschreitende fachliche Qualifikation einiger deutscher Ökonomen wird auch von der Gruppe aus der höheren Bürokratie des Reiches und Preußens unterstrichen, die ihre akademische Karriere nach der Flucht begonnen haben. Dazu zählt zum Beispiel der Staatssekretär aus dem Reichswirtschaftsministerium Julius Hirsch, der 1933 eine Professur für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Kopenhagen erhielt und nach 1941 an der New School for Social Research in New York lehrte. Dort war auch Hans Staudinger, der ehemalige Staatssekretär im preußischen Handelsministerium, untergekommen, während Otto Nathan aus dem Reichsfinanzministerium in Princeton lehrte und Hertha Kraus aus der Wohlfahrtsverwaltung der Stadt Köln eine Professur am Bryn Mawr College bei Philadelphia übernahm. XXV

Einleitung Als ehemalige Verwaltungsbeamte allein hätten sie kaum universitäre Rufe und damit die etwa für die USA so begehrten Non-Quotavisen erhalten. Durchweg alle hatten jedoch nebenbei als Dozenten an Handelshochschulen, sozialpädogogischen Fachschulen oder an der 1919 gegründeten Hochschule für Politik in Berlin, der für die Kultur der Weimarer Republik so wichtigen Einrichtung zur politischen Erziehung für die Demokratie, gearbeitet. Diese Kombination von Theorie und beruflicher Praxis war es dann auch, welche die kleine Funktionselite aus der Weimarer Republik gerade im New Deal-Amerika, einige aber auch in der Türkei, attraktiv machte.

VI. Beiträge der Emigranten zur internationalen Entwicklung ihrer Fachgebiete Nach der quantitativen Übersicht mögen einige qualitative Aspekte den Emigrationstransfer und die Integrationsbedingungen der Ökonomen in den Zufluchtsländern illustrieren. Trotz des Schicksalsschlags, den die Vertreibung mit all ihren Ungewißheiten im Einzelfall bedeutete, ist rückblickend festzustellen, daß die große Mehrheit der geflohenen Wirtschaftswissenschaftler ihre Karriere in der Emigration, vor allem in den USA, nicht nur relativ geräuschlos fortsetzen konnte, für viele brachte die Vertreibung sogar einen bemerkenswerten Karrieresprung. Sie haben sich daher recht bald nicht mehr als Exilanten, sondern als Emigranten begriffen. Die Startbedingungen dafür waren außerordentlich günstig. Erstens hatten die weltweit ungelösten ökonomischen und sozialen Folgen des Ersten Weltkrieges die Intemationalisierung der Sozialwissenschaften eingeleitet; schon in den zwanziger Jahren begann ein intensiver grenzüberschreitender kollegialer Austausch in den einzelnen Disziplinen. Zweitens führte die Weltwirtschaftskrise nach 1929 in den westlichen Industrieländern zu einem Linksruck unter den Intellektuellen, da das Ausmaß der Krise und deren soziale Folgen kaum noch mit den Selbstheilungskräften des Marktes bekämpft werden konnten. Die planungsanalytischen Arbeiten der deutschen Neu-Klassiker stießen deshalb auf verbreitetes Interesse in den Zufluchtsländem. Insbesondere in den USA ließ der New Deal, das Wirtschaftsprogramm des neuen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der im Januar 1933 sein Amt angetreten hatte, die Nachfrage nach Fachleuten steigen, welche diesem, bis dahin in Amerika unvorstellbaren Experiment interventionsoptimistischer staatlicher Wirtschaftspolitik Konturen geben konnten. Drittens kam dort hinzu, daß vor dem Hintergrund des amerikanischen Isolationismus nach dem Ersten Weltkrieg ein großer Bedarf an Experten für die international ausgerichtete Forschung bestand, der mit Beginn des Zweiten Weltkriegs und dem Kriegseintritt der USA 1941 noch zunahm. Gerade die deutschen Demobilmachungsexperten aus der Zeit nach 1918 wurden in jenen Jahren zu vielfach konsultierten Ansprechpartnern für die Washingtoner Administration; einige von ihnen sollten als neue amerikanische Bürger auch in den USBesatzungsbehörden in Deutschland nach 1945 tätig werden. Genannt seien nur der ehemalige Kieler Finanzwissenschaftler Gerhard Colm und der frühere Berliner Bankier Raymond Goldsmith (Goldschmidt), die mit dem amerikanischen Bankier Joseph Dodge im April 1946 den berühmten Colm-Dodge-Goldsmith-Plan für die deutsche Währungsreform vorlegten (Hoppenstedt 1997, S. 157 ff.). Viertens leiteten die neuen wirtschaftspolitischen Anforderungen einer realistischen Krisenbekämpfung in den dreißiger Jahren einen grundlegenden Paradigmenwechsel der theoretischen Diskussion ein, der als 'keynesianische Revolution' international zu einem neuen Verständnis des Staates im Wirtschaftsprozeß führte. Durch aktive Konjunkturpolitik mit Hilfe staatlichen 'Deficit Spendings' und effektiver Nachfragesteigerung durch die öffentlixxvi

Einleitung che Hand sollte die Wirtschaft angekurbelt werden. Gerade deutschsprachige Ökonomen konnten zu dieser Diskussion bemerkenswerte analytische Beiträge wie auch wirtschaftspraktische Empfehlungen liefern. Jene günstigen Aufnahmevoraussetzungen machen deutlich, daß die Aktivitäten der Stiftungen und Hilfskomitees zur Rettung der Flüchtlinge vor allem nationalen Interessen entsprachen. Sie zeigen zudem, daß die Emigration keine Bewegung Einzelner war, sondern von Verbindungen und Empfehlungen abhing, die schon in Deutschland vorbereitet worden waren. Das gmppenbiographische Profil an den Universitäten wie auch die Zugehörigkeit zu bestimmten theoretischen Schulen, Richtungen oder institutionellen Einbindungen hatte sowohl in Deutschland als auch in Österreich bestimmte Netzwerke entstehen lassen, die zum einen den Weg in die Emigration ebneten und zum anderen mit darüber entschieden, wo der einzelne in den Zufluchtsländem piaziert wurde. Mit den österreichischen Neoklassikern und den deutschen Neu-Klassikern aus Frankfurt, Heidelberg und Kiel sind zwei der originellsten Netzwerke identifizierbar, die nicht nur fur unterschiedliche theoretische Hauptströmungen und kulturelle Milieus standen, sondern auch für jeweils spezifische Emigrationswege. Mit jeweils 15 bis 20 Personen waren die Kerngruppen etwa gleich groß, und ihre Repräsentanten gehörten auch der gleichen Altersgruppe an. Die Neoklassiker stellten darüber hinaus die stärkste geschlossene Gruppe unter den 42 österreichischen Emigranten neben der anderen relativ scharf konturierten Fraktion der sogenannten Austromarxisten (10 Personen), die etwa mit Eduard März, Hans (John) Mars und Adolf Sturmthal in der Emigration die neue Teildisziplin 'Labor Economics' vertraten. Zu anderen Netzwerken könnte man weiterhin die Mitarbeiter relativ homogener Institutionen zusammenfassen. Zu nennen wäre dafür beispielsweise das Berliner Institut für landwirtschaftliche Marktforschung. Für den Weg in die Emigration sind diese allerdings bedeutungslos. Die abnehmende Bedeutung der Agrarwissenschaften in der modernen Industriegesellschaft verhinderte eine schärfere Profiliening, die Anstöße für die aktuelle wirtschaftswissenschaftliche Diskussion geben konnte. Im Unterschied zu jenen beiden Netzwerken sind die Mitglieder des Berliner Instituts daher auch nicht als Gruppe, sondern als Einzelpersonen emigriert, hauptsächlich in die Türkei (Fritz Baade, Hans Wilbrandt) und in die USA (Karl Brandt, Naum Jasny, Hans Richter u.a.), wobei in den meisten Fällen der Wechsel in neue Forschungs- oder Tätigkeitsfelder als Voraussetzung für die erfolgreiche Akkulturation zu erkennen ist. Die deutschen Neu-Klassiker gehörten als Juden und/oder Sozialdemokraten zu den ersten, die von den Universitäten vertrieben wurden. Die Österreicher dagegen gingen in den Krisenjahren zwischen 1933 und 1938, also vor dem sogenannten 'Anschluß', mehr oder weniger freiwillig, nachdem sie zuvor solide Kontakte zumeist in die USA aufgebaut hatten. Und das hatte vielfach berufliche Gründe: In Wien hatten sie als Privatgelehrte gelebt, die bei den spärlichen Planstellen an den österreichischen Universitäten kaum jemals Aussicht auf eine akademische Karriere haben sollten. Den Lebensunterhalt verdienten sie sich als junge Unternehmer, als Rechtsanwälte oder als Referenten im Österreichischen Institut für Konjunkturforschung, einer privaten Gründung der Wiener Handelskammer. Wissenschaftlich arbeitete der Kreis in dem berühmten Privatseminar von Ludwig von Mises zusammen, dem intellektuellen Kopf der liberalen Ökonomen in den zwanziger Jahren, der ebenfalls nur nichtangestellter Honorarprofessor an der Universität Wien war und seinen Hauptberuf als Sekretär der dortigen Handelskammer hatte. An reichsdeutsche Universitäten berufen zu werden, hatten die Österreicher ebenfalls nur geringe Chancen. Zum Beispiel war Mises 1927 von einigen Wirtschaftswissenschaftlern der Universität Göttingen für einen vakanten xxvii

Einleitung Lehrstuhl vorgeschlagen worden, weil er nicht nur als Theoretiker qualifiziert war, sondern auch über große praktische Erfahrungen verfügte. Von der Fakultätsmehrheit wurde er jedoch gerade deswegen abgelehnt. Berufen wurde stattdessen ein Vertreter der Wirtschaftsstufenlehre, dem typischen Arbeitsfeld der Historischen Schule, dessen Stem erst während der NS-Zeit aufging (Becker u.a. 1987, S. 145). Das berufliche Profil der Österreicher sollte für ihre spätere Emigration zentrale Bedeutung haben. Ihrem wissenschaftlichen Ehrgeiz bot sich ab Mitte der zwanziger Jahre die Gelegenheit, für zwei Jahre mit einem Stipendium der Rockefeiler Foundation in die USA zu gehen. Deren sozialwissenschaftliches Förderungsprogramm gliederte sich nämlich in großzügige Zweijahres-Stipendien und finanzielle Zuwendungen an Institutionen. Die Stipendien wurden überwiegend von den Österreichern nachgefragt, die Institutionenförderung erhielten mehrheitlich die deutschen Neu-Klassiker. Das Weltwirtschaftsinstitut in Kiel etwa galt bei der Rockefeiler Foundation als 'Mekka' der Konjunkturforschung und wurde deshalb nicht nur mit mehreren 10.000 Dollar unterstützt, sondern jüngere Amerikaner wurden dorthin auch zu Studienaufenthalten geschickt. Zu den weiteren bedeutenden Zentren ihrer Förderung in Deutschland vor 1933 gehörten das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften in Heidelberg, wo unter anderem einige Lederer-Assistenten von ihr finanziert wurden, sowie die Hochschule für Politik in Berlin (Krohn 1987, S. 37 ff.). Mit den Stipendien konnten die Österreicher, genannt seien nur Gottfried Haberler, Fritz Machlup, Karl Menger, Oskar Morgenstern oder Gerhard Tintner, in den USA ein enges Netz von Kontakten knüpfen, das ihnen in den dreißiger Jahren, teilweise noch vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich, die Möglichkeit bot, ordentliche Rufe an eine amerikanische Universität zu bekommen. Ähnlich günstig waren 1933 aber auch die Startbedingungen für die Deutschen in eine neue Zukunft, als wenige Wochen nach der NSMachtübertragung der Direktor der New School for Social Research in New York, Alvin Johnson, die Chance sah, die aus Deutschland veijagten intellektuellen Potentiale nach Amerika zu holen und mit ihnen gleich eine ganze Universität zu gründen. Als engagierter New Dealer suchte Johnson diejenigen Gelehrten zu gewinnen, von denen er sich wichtige Anregungen in der Aufbruchstimmung des neuen Wirtschaftsprogramms erwartete. So entwickelte sich die schon im Herbst 1933 gebildete 'University in Exile', die spätere Graduate Faculty der New School, in kurzer Zeit nicht nur zum wichtigen Außenposten des New Deal 'brain trust', sondern zum einzigartigen Zentrum der aus Deutschland und seit 1940 auch aus anderen europäischen Ländern vertriebenen kritischen Sozial Wissenschaft. Bis 1945 sollten dort mehr als 170 Emigranten vorübergehend oder auf Dauer lehren. Finanziert wurde das Unternehmen vor allem von der Rockefeller Foundation, quasi als Anschlußfinanzierung ihrer im nationalsozialistischen Deutschland eingestellten Forschungsförderung. Kamen die Neu-Klassiker als engagierte New Dealer, so die österreichischen Neoklassiker als ebenso vehemente Anti-New Dealer, die vor allem an die konservativen Universitäten der Ostküste berufen wurden. Die Österreicher qualifizierte nicht nur ihre markttheoretische Orthodoxie, sondern auch ihre mehrheitlich nichtjüdische Herkunft. Denn Juden hatten in den dreißiger Jahren auch an den Universitäten der Ivy League keine Chancen. Während etwa Gottfried Haberler 1936 in Harvard oder Oskar Morgenstern 1938 in Princeton unterkamen, mußte Fritz Machlup, der Jude war, zunächst noch mit der Provinz in Buffalo vorlieb nehmen; erst 1947 sollte er an die Johns Hopkins University, 1960 dann nach Princeton gehen. Während die Deutschen im Krisenbekämpfungsprogramm des New Deal einen hoffnungsvollen Beginn neuer wirtschaftspolitischer Strategien sahen, für die sie zuvor in Deutschland vergeblich gekämpft hatten, und deshalb Roosevelt als eine ihrer Leitfiguren verehrten, reaxxviii

Einleitung gierten die liberalen Markttheoretiker genau entgegengesetzt. Sie hielten den amerikanischen Präsidenten und seinen jungen Beraterstab für Scharlatane, die zuweilen gar mit den Nationalsozialisten auf eine Stufe gestellt wurden. Der Österreicher Joseph A. Schumpeter, der schon 1932 von der Universität Bonn aus einen Ruf nach Harvard angenommen hatte und später als engagierter Vermittler seiner Landsleute auftrat, machte nach dem Wahlsieg Roosevelts keinen Hehl daraus, daß er dann auch in Deutschland hätte bleiben können (Krohn 1988, S. 402 ff.). 5 Sowohl der New Deal als auch das keynesianische Modell in Großbritannien sowie die verwandte 'Neue Wirtschaftslehre' der Vertreter der Stockholmer Schule, die in Schweden die praktische Wirtschaftspolitik beeinflußten (vgl. Steiger 1971), stellten eine Herausforderung für die neoklassische Mainstream-Ökonomie dar. Mit ihrer normativen Marktfixierung, ihrer deduktiven Wirklichkeitskonstruktion und ihrer disziplinaren Spezialisierung war sie gegenüber diesen neuen gesellschaftspolitisch synthetisierenden, interventionistischen und wirtschaftspraktisch orientierten Ansätzen argumentativ in die Defensive geraten. Das erklärt auch, warum gerade die orthodoxen Vertreter der Österreicher dort mit ihren polemischen Kampfschriften auf offene Ohren stießen. Genannt seien etwa Ludwig von Mises' Omnipotent Government. The Rise of the Total State and Total War von 1944 oder Friedrich August Hayeks vielzitiertes Werk The Road to Serfdom aus demselben Jahr. In späteren Jahren sollte Hayek, der bis 1950 an der London School of Economics lehrte, bevor er an die Universität Chicago wechselte, zu den geistigen Stichwortgebern des Thatcherismus werden. Demgegenüber bestätigten jene neuen wirtschaftspolitischen Aufbrüche für die deutschen Neu-Klassiker nur das, worüber sie seit den zwanziger Jahren nachgedacht hatten. Zu ihren bedeutenden Botschaften in der Emigration gehörten vor allem die Analyse der modernen Wachstums- und Konjunkturbewegung, die öffentliche Finanzwirtschaft, die Planungstheorie und die Sozialpolitik; die beiden letztgenannten Forschungsfelder waren in den USA und anderen Zufluchtsländern bis dahin kaum entwickelt. Damit trugen sie nicht nur zur theoretischen Fundierung des Roosevelt-Programms, sondern ebenso zur Modifikation und Ausdifferenzierung des keynesianischen Modells bei. Vor allem konnten die deutschen Ökonomen, genannt seien insbesondere Emil Lederer, Adolf Löwe (seit 1939 Adolph Lowe), Hans Neisser und Alfred Kähler an der New School for Social Research, mit ihrer Analyse des modernen Technologieproblems den vorrangig konjunkturell argumentierenden keynesianischen Ansatz um Wachstums- und strukturtheoretische Variablen erweitern. Im Bereich der modernen Finanzplanungstheorie sollten deutsche Ökonomen darüber hinaus wichtige Akzente setzen. Dafür stehen beispielsweise Gelehrte wie Gerhard Colm von der New School und der junge Richard A. Musgrave, der nach dem Diplom in Heidelberg schon in Harvard promovierte. Mit ihrer multiplen Theorie des öffentlichen Haushalts konnten sie die Finanzwissenschaft, die in der angelsächsischen Welt nur als Randbereich der Ökonomie wahrgenommen wurde, zu einer eigenen Teildisziplin ausbauen. Ihre Forschungen umfaßten zugleich das in den dreißiger Jahren neu erschlossene Forschungsgebiet der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, das die gesamtwirtschaftliche Struktur und ihre strategischen Daten zu bestimmen sucht, um daraus die geeigneten Zielkorridore für gleichmäßiges Wachstum, Vollbeschäftigung und Währungsstabilität zu ermitteln. Zu Schumpeters Ignoranz und politischer Naivität gegenüber der zeitgenössischen Politik, insbesondere am Ende seiner Bonner Zeit 1931/32, vgl. auch Allen (1991), Kap. 15. xxix

Einleitung Exemplarisch sei schließlich noch die Entwicklungsökonomie genannt, die als neue wirtschaftswissenschaftliche Teildisziplin unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden ist. Sie hat sich als eines jener Fachgebiete herauskristallisiert, für das deutschsprachige Emigranten bedeutende Impulse gegeben und dadurch die neue Forschungsrichtung entscheidend geformt haben. Das läßt sich bereits anhand der Nennungen in einschlägigen Werken über herausragende Wirtschaftswissenschaftler abschätzen. Lediglich zehn der hundert Ökonomen 6 , die beispielsweise in M. Blaugs Great Economists since Keynes aufgeführt sind, waren vor 1933 an deutschsprachigen Universitäten oder Forschungsinstituten tätig; sie alle verließen Deutschland oder Österreich. Dagegen liegt der Anteil der emigrierten deutschsprachigen Pioniere der Entwicklungsökonomie in fachgebietsspezifischen Publikationen bei etwa 30 Prozent (Martin 1991; Meier und Seers 1984). Als Vertreter dieser Gruppe sind insbesondere Alexander Gerschenkron, Albert O. Hirschman 7 - die auch bei Blaug aufgeführt sind -, Kurt Mandelbaum, Paul N. Rosenstein-Rodan und H.W. Singer zu nennen. Nähere Untersuchungen weisen insbesondere die Universitäten London und Oxford als institutionelle Brennpunkte aus. Rosenstein-Rodan und Mandelbaum hatten dort nach ihrer Emigration Zuflucht gefunden, wo sie die Begründer der modernen Entwicklungsökonomie wurden. Beide Universitäten waren zugleich Zentren, in denen zahlreiche Emigranten ihr im deutschsprachigen Raum begonnenes - Studium fortsetzten oder ein zweites Studium aufnahmen. Zu nennen sind hier vor allem Emigranten der zweiten Generation wie Heinz Wolfgang Arndt, Wamer Max Corden, Gerard O. Gutmann, Alexandre Kafka und Paul P. Streeten, die jene Forschungstradition aufnahmen und daher unter dem Aspekt der Fernwirkung des 'brain-drains' nicht aus einer umfassenden Betrachtung ausgeschlossen werden dürfen. Ferner sind für die Entstehung der entwicklungsökonomischen Teildisziplin die Verbindungen der deutschsprachigen Ökonomen zur konjunktur- und beschäftigungstheoretischen Debatte in der Weimarer Republik unübersehbar, die sie dann in die britische Beschäftigungsdiskussion der Kriegsjahre einbrachten. Diese Diskussion weist nicht nur eine hohe personelle, sondern auch eine inhaltliche Verzahnung mit der frühen Entwicklungstheorie auf und bildet so eine interessante Schnittstelle entwicklungstheoretischer Wurzeln mit der konjunktur- und beschäftigungstheoretischen Debatte infolge des weitreichenden Paradigmenwechsels, der durch die keynesianische Revolution ausgelöst worden ist (vgl. Eßlinger 1999). Ein weiterer Ansatzpunkt sind schließlich Elemente der russischen und deutschen Planungsdebatten Mitte bzw. Ende der 1920er Jahre. Hier finden sich bereits in den frühen entwicklungstheoretischen Arbeiten von Rosenstein-Rodan und vor allem von Mandelbaum er modellierte später einen Fünf-Jahres Plan für Südosteuropa - deutliche Hinweise auf die entwicklungsökonomische Relevanz der theoretischen Auseinandersetzung mit den Problemen des langfristigen Wachstums und der Planung in der Gründungsphase der Sowjetunion. Das reflektieren auch die Arbeiten von Hirschman, der vor seinen entwicklungsökonomischen Forschungen über Lateinamerika seit Anfang der fünfziger Jahre bereits an der Vorbereitung und Durchführung des Marshall-Plans im Federal Reserve Board mitgearbeitet hatte. 6

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Die Liste umfaSt Alexander Gerschenkron, Gottfried Haberler, Frank Hahn. Friedrich August Hayek, Albert O. Hirschman, Fritz Machlup, Jacob Marschak, Ludwig von Mises, Oskar Morgenstern und Richard A. Musgrave. Hirschman hatte 1940/41 nach der Niederlage Frankreichs als Flüchtling in Marseille unter dem Pseudonym „Beamish" dem heute legendären Varian Fry und seinem Emergency Rescue Committee bei der Rettung von hunderten der politisch gefährdeten Schicksalsgenossen assistiert (Fry 1945. S. 24 passim und Hirschman 1995).

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Einleitung Beachtenswert ist auch, daß bei den Entwicklungsökonomen die Rückwanderungsquote nach Deutschland oder Österreich mit acht Prozent erheblich unter dem Durchschnitt von 21 Prozent aller emigrierten deutschsprachigen Ökonomen lag. Einige von ihnen remigrierten zudem erst nach ihrer Emeritienmg. Auf der Basis einer noch zu leistenden detaillierten Untersuchung der Anfänge der Entwicklungstheorie als eigenständigem Fachgebiet in Nachkriegsdeutschland können Gründe für einen Rückstand der deutschen Entwicklungsökonomie zumindest unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und für die ausbleibende Remigration gerade bei den Entwicklungsökonomen neben der Altersstruktur auch in der Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Entwicklungsökonomen im angelsächsischen Raum gesehen werden. Vor allem in Großbritannien wurden bereits ab Ende der 1940er Jahre mehrere entwicklungsökonomische Lehrstühle eingerichtet und auch mit deutschsprachigen Emigranten besetzt. In den USA boten die im Aufbau befindliche UN und ihre Nebenorganisationen gerade für Emigranten - beispielhaft genannt seien hier Bert F. Hoselitz, Kafka und H. W. Singer - neben Arbeitsmöglichkeiten auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt ebenfalls ein breites wissenschaftliches Betätigungsfeld. Die jüngeren Österreicher sollten schnell Anschluß an die neuen Diskussionen in den USA finden. In den Jahren 1939-43 kam am Institute for Advanced Study in Princeton die enge Zusammenarbeit von Oskar Morgenstern, der als Nachfolger Hayeks von 1931-38 das Österreichische Institut für Konjunkturforschung8 geleitet hatte, mit dem aus Budapest stammenden Mathematiker John von Neumann zustande, das in dem gemeinsamen Werk Theory of Games and Economic Behavior (1944) kulminierte, mit dem die Spieltheorie begründet wurde. Die Spieltheorie, eine die Fachgrenzen überschreitende Disziplin, analysiert das strategische Verhalten von Individuen und Gruppen unter Unsicherheitsannahmen auf den Märkten oder überhaupt in sozialen und politischen Entscheidungssituationen und sucht nach optimalen Lösungen von Interessenkonflikten. Diese spiel- und entscheidungstheoretischen Analysen machten Morgenstern in den fünfziger Jahren auch zu einem prominenten Politikberater der amerikanischen Regierung. Das gleiche gilt für Fritz Machlup, der mit seinen Arbeiten über den internationalen Geldverkehr sowie über die Auswirkungen qualifizierten Wissens auf die technologische Entwicklung nicht nur einen großen Schülerkreis um sich sammelte, sondern in den 1960er Jahren ebenfalls ein gesuchter Experte wurde, als das globale Währungssystem der Nachkriegszeit (Bretton Woods) in die Krise geraten war. Eine Sonderstellung unter den älteren Österreichern nahm Gottfried Haberler ein, der mit seinen bereits vor der Emigration verfaßten, in viele Sprachen übersetzten Arbeiten über den internationalen Handel und - im Auftrag der Finanzsektion des Völkerbundes - über Konjunkturen und Krisen einen solchen Ruf erworben hatte, daß sich seine Tätigkeit in Harvard weniger durch neue Forschungen, sondern durch umfassende Politikberatung sowie Präsidentschaften in diversen amerikanischen und internationalen wirtschaftswissenschaftlichen Gesellschaften auszeichnete. Die 'Cowles Commission for Research in Economics' an der Universität Chicago, später in Yale, wurde seit 1943 unter der Leitung Jacob Marschaks zum Zentrum der ökonometrischen Forschung und der Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaft, die nach Kriegsende ihren Siegeszug begannen. Die bahnbrechenden Arbeiten der Cowles Commission führten zur Institutionalisierung dieser neuen Forschungsgebiete. Neben Abraham Wald oder Gerhard Tintner sammelten sich dort mit dem Niederländer Tjalling Koopmans, dem Norweger Trygve Haavelmo und weiteren hochqualifizierten jüngeren Gelehrten auch EmigranDas Wiener Institut verlor nach dem 'AnschluB' seine Eigenständigkeit und blieb bis 1945 eine Zweigstelle des Berliner Instituts, das sich im wesentlichen auf die Südosteuropa-Forschung beschränken mußte.

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Einleitung ten aus anderen, von der deutschen Wehrmacht Überfallenen Ländern. Koopmans. Marschaks Stellvertreter und Nachfolger in der Leitung (1948-54), und Haavelmo, dessen frühe Arbeiten aus den Jahren 1943/44 zur Modellierung eines simultanen Gleichgewichtssystems und zum wahrscheinlichkeitstheoretischen Ansatz in der Ökonometrie die Fundamente für die beiden Säulen legten, die zum Markenzeichen der Cowles Commission werden sollten, erhielten später ebenso den Nobelpreis wie viele jüngere Ökonomen, die eine Zeitlang bei der Cowles Commission tätig waren: die Amerikaner Kenneth Arrow, Lawrence Klein, Harry Markowitz und Herbert Simon, dessen Familie aus Deutschland stammte, ebenso wie der aus Frankreich herübergekommene Gerard Debreu und Franco Modigliani, der aus dem faschistischen Italien fliehend im selben Jahr wie sein Doktorvater Marschak in die USA gekommen war. Schon vor seiner Weiterwanderung in die USA war Marschak erster Direktor des im Oktober 1935 gegründeten Oxford Institute of Statistics (OIS) geworden, dessen Errichtung ohne die finanzielle Förderung der Rockefeller Foundation kaum möglich gewesen wäre, von der er selbst schon in Heidelberg und auch in Oxford bezahlt wurde. Das Institut erlangte unter Marschaks Leitung schnell eine hohe Reputation im Bereich theoriegeleiteter empirischer Forschung in der Wirtschaftswissenschaft. Das OIS war auch Gastgeber der sechsten Europäischen Tagung der Econometric Society, die am 26. September 1936 mit dem Symposium zu Keynes' General Theory eröffnet wurde, auf dem Harrod, Meade und Hicks ihre Interpretationen des Keynesschen Hauptwerks vorstellten. Marschak selbst setzte in seinen Oxforder Jahren seine Studien zu theoretischen und statistischen Aspekten der Nachfrageanalyse fort und publizierte 1938 einen Aufsatz über die Geldnachfrage als ein Element der Vermögenshaltung von Individuen, den ersten einer Reihe herausragender theoretischer Beiträge zur Geldhaltung als Reaktion auf Unsicherheit, dem nach Kriegsende in den USA weitere folgen sollten. Darüber hinaus publizierte er zusammen mit Helen Makower und Herbert Robinson eine Reihe von Artikeln über die Ursachen der regionalen Mobilität der Arbeit, die in ihrem empirischen Teil für Großbritannien Unterschiede in den Arbeitslosenraten als entscheidende Determinante regionaler Mobilität auswiesen. Diese Studien waren Bestandteil eines umfassenderen Forschungsprogramms, das als eine „multi-faceted attack on the problem of the business cycle" (Young/ Lee 1993, S. 125) anzusehen ist. Sie wurden in den ersten Jahrgängen der Oxford Economic Papers publiziert, einer Zeitschrift, die nicht zuletzt als Forum für die Forschungsarbeiten des Instituts neu gegründet wurde. Ab Ende November 1939 gab das OIS auch ein Diary mit aktuellen wirtschaftsstatistischen Informationen heraus, das nach Übernahme der Herausgeberschaft durch Burchardt schnell um reguläre Artikel zu einem weiteren wirtschaftswissenschaftlichen Journal erweitert wurde, ab Oktober 1940 als Bulletin erschien und heute noch als Oxford Bulletin of Economics and Statistics existiert. Während an anderen britischen Universitäten bzw. Forschungsstätten emigrierte Ökonomen nur als Einzelpersonen, aber nicht als Gruppe auftraten, dominierten Emigranten aus Mitteleuropa in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren im Forschungsstab des OIS. Dies zeigt exemplarisch die im Oktober 1944 erschienene Studie The Economics of Full Employment, die die Zielsetzung verfolgte, einen Überblick über die strategischen Faktoren einer Politik permanenter Vollbeschäftigung in Industrienationen zu geben. Mit diesem Anliegen ging die Studie über das kurz zuvor erschienene White Paper on Employment Policy der britischen Regierung, das Massenarbeitslosigkeit durch die Ergreifung antizyklischer Maßnahmen bei einsetzender Depression zu vermeiden trachtete, eindeutig hinaus. Insgesamt stammten mit den aus Deutschland emigrierten Wirtschaftswissenschaftlern Burchardt, Kurt Mandelbaum (ab 1947 Kurt Martin) und Ernst F. Schumacher, dem gebürtigen Ungarn Thomas Balogh sowie dem polnischen Ökonomen Michal Kalecki (am OIS von xxxii

Einleitung 1940-44) nicht weniger als fünf der sechs Autoren vom europäischen Festland. Schumacher, der Burchardt im Internierungslager kennengelemt hatte und auf dessen Einladung Anfang 1941 nach Oxford gekommen war, wurde vom OIS auch abgestellt, um Sir William Beveridge bei der Abfassung des weiteren Reports Full Employment in a Free Society (1944) zu unterstützen. Er ging auf dessen für die britische Regierung erstellten Bericht Social Insurance and Allied Services (1942) zurück, der mit seinen Forderungen nach Vollbeschäftigung, Mindesteinkommen und Mindeststandards für eine allgemeine Sozialversicherung die Basis für die Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit legte. In enger Zusammenarbeit mit Nicholas Kaldor, Joan Robinson u.a. entwarf Schumacher große Teile des Berichts. Darüber hinaus entwickelte Schumacher in diesen Jahren - ähnlich wie Leopold Kohr in den USA - die Grundideen seiner erst 1973 erschienenen Studie Small is Beautiful, die von der Annahme ausging, daß in der künftigen europäischen Nachkriegsordnung die nationalstaatlichen Grenzen zunehmend verschwinden und regionale sowie dezentrale Wirtschaftseinheiten an Bedeutung gewinnen würden. Auch Josef Steindl, der nach dem 'Anschluß' Österreichs 1938 emigrieren mußte und nach Oxford gekommen war, wechselte 1941 von seiner Dozentur am Balliol College an das OIS, wo er acht Jahre lang tätig war und vor allem von Kalecki beeinflußt wurde, bevor er wieder nach Wien zurückkehrte. Während des Krieges gehörte es zu Steindls regelmäßigen Aufgaben, die kriegswirtschaftlichen Anstrengungen der USA sowie anderer britischer Verbündeter wie Australien, Indien und Kanada zu analysieren. Insgesamt wird man die zügige Integration der meisten vertriebenen Wirtschaftswissenschaftler in den USA, in Großbritannien, aber auch in anderen Zufluchtsländern als Erfolgsgeschichte bezeichnen können. Nicht nur konnte der größte Teil der ehemaligen deutschen Hochschullehrer die Karriere fortsetzen, für eine auffallend große Zahl der vor 1933 in anderen beruflichen Zusammenhängen Beschäftigten eröffnete die Emigration den Wechsel in die Hochschullaufbahn. Andererseits wurden zahlreiche vertriebene Wissenschaftler im Zuge des Ausbaus staatlicher Wirtschaftsaktivitäten seit den dreißiger Jahren in die Administrationen ihrer Zufluchtsländer berufen. In Washington rückten Emigranten zuweilen bis in die höchsten Etagen der Administration, wie beispielsweise in den während der New DealJahre eingerichteten Stab der Präsidentenberater. Von symbolischer Bedeutung mag sein, daß der deutsche Neu-Klassiker Gerhard Colm von der New School ein solches Amt unter Roosevelt nach der Zwischenstation im Budgetbüro übernahm, während der aus Wien gebürtige Neoklassiker Roger Freeman und Henry C. Wallich aus Berlin von dem Republikaner Eisenhower 1953 in ein solches Amt berufen wurden. Im Zweiten Weltkrieg wurden die deutschsprachigen Ökonomen in Amerika und Großbritannien häufig zu gesuchten Experten für den 'war effort' und die europäischen Nachkriegsplanungen. In diesen Ländern haben mehr als 30 Emigranten in unterschiedlichen Kriegsbehörden mitgearbeitet. Einige von ihnen wechselten nach 1945 in die neuen internationalen Organisationen der UNO, so etwa Emst Döblin 1947, später gefolgt von zahlreichen Vertretern der zweiten Generation. Ganze Emigrantengruppen wurden zuweilen von den Forschungsinstitutionen für spezielle Untersuchungen angeworben, so etwa vom National Bureau of Economic Research für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung oder von der Brookings Institution für konjunkturtheoretische Probleme, die Entwicklung ökonometrischer Modelle und Fragen einer modernen Sozialversicherung. Diese befristeten Tätigkeiten erscheinen aus der Rückschau quasi als Vorbereitungsphase für künftige administrative Aufgaben, denn die meisten der dort Tätigen übernahmen später Aufgaben in den Washingtoner Ministerien. So leitete beispielsweise Herbert Block im State Department ab 1945 die UdSSR-Abteilung, ein Amt, das er bis 1973 innehatte. Dorthin gingen auch Kurt Braun xxxiii

Einleitung 1951 nach fast zehn Jahren in der Brookings Institution und Raymond Goldsmith, während der ältere Karl Pribram, der dort schon 1934 bis 1936 tätig gewesen war, in den folgenden sechs Jahren im neu geschaffenen Social Security Board und dann - bereits jenseits der Altersgrenze - bis 1951 für weitere neun Jahre in der U.S. Tariff Commission arbeitete. Walther Lederer hingegen reüssierte im Department of Commerce, und für Hans Adler, Hans J. Dernburg, George Garvy oder Paul Hermberg wurden Forschungstätigkeiten in der Federal Reserve Bank zum weiteren Berufsfeld. Aber auch in anderen Ländern und abgelegeneren Regionen fanden Emigranten eine vergleichsweise günstige Aufnahme, wobei sich dort ihre wissenschaftliche Tätigkeit direkt mit staatlich-administrativen und politischen Erwartungen verband. Vermittelt durch die 1933 von Flüchtlingen in Zürich gegründete Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland war noch im gleichen Jahr von der Regierung der Türkei eine sechsköpfige Emigrantengruppe von Ökonomen angeworben worden, von der man sich einen Beitrag zur Verwestlichung des Landes während der Modemisierungsdiktatur des türkischen Staatsgründers Kemal Atatürk erhoffte. Hans Wilbrandt avancierte in Ankara zum Regierungsberater, während Fritz Baade an der dortigen landwirtschaftlichen Hochschule und Gerhard Kessler, Fritz Neumark, Wilhelm Röpke sowie Alexander Rüstow an der neu gegründeten Universität Istanbul Lehrstühle übernahmen (vgl. Buhbe 1997). Insbesondere Neumark sollte dort mit der Planung des türkischen Finanz- und Steuersystems und der Ausbildung der entsprechenden Fachleute eine nachhaltige Wirkung haben. Nach seiner Rückkehr Ende der vierziger Jahre wurde er in Frankfurt zum Nestor der bundesdeutschen Finanzwissenschaft (Neumark 1980, S. 249 ff.). In lateinamerikanischen Ländern konnte eine etwa gleich große Emigrantengruppe ähnliche Positionen und Aufgaben übernehmen. Die Lehrtätigkeiten dort waren häufig sogar direkt an eine Tätigkeit als Regierungsberater oder in der Administration gekoppelt. So übernahm Friedrich Kürbs mit seiner Professur für Statistik an der Universität von San Marcos in Lima auch die Leitung des peruanischen Statistischen Büros, während sein ebenfalls dorthin berufener Kollege Bruno Moll zugleich als Regierungsberater wirkte. Das Gleiche gilt für Hermann Halberstädter an der Universidad de los Andes in Kolumbien, für Ernst Peltzer in Venezuela und Alfons Goldschmidt in Mexico. Der studierte Mediziner Richard Lewinsohn (Morus), der vor 1933 das Wirtschaftsressort der Vossischen Zeitung geleitet hatte, gründete nach seiner Weiterflucht aus Frankreich 1940 in Rio de Janeiro die Wirtschaftszeitung Conjuntura Economica, ehe er dort 1946 ebenfalls eine Professur übernahm. Ursprünglich waren auch Paul Hermberg, Alfred Manes und der junge Henry C. Wallich in lateinamerikanische Länder geflohen, aber schon nach kurzer Zeit, noch in den dreißiger Jahren, in die USA weitergewandert (von zur Mühlen 1988, S. 89, 97, 273). Anders waren dagegen die Verhältnisse in Palästina. Für die kleine dorthin emigrierende achtköpfige Gruppe, mehrheitlich dem Zionismus nahestehend, existierten angesichts der fehlenden öffentlichen Infrastruktur berufliche Perspektiven allein in der Privatwirtschaft. Lediglich Boris Brutzkus erhielt einen Ruf auf den gerade geschaffenen agrarwissenschaftlichen Lehrstuhl der 1925 gegründeten Hebräischen Universität in Jerusalem. Für viele Jahre repräsentierte dieser Lehrstuhl die nur als Nebenfach institutionalisierte Wirtschaftswissenschaft in Jerusalem, die erst nach der Gründung des Staates Israel 1948 zu einer eigenständigen Fakultät ausgebaut wurde. Brutzkus hat das allerdings nicht mehr erlebt; er war 1938 gestorben, ohne in Palästina größere Wirksamkeit entfaltet zu haben. Die Nachfolge war Adolph Lowe angetragen worden, der Anfang 1939 auch einige Monate in Jerusalem gelehrt hatte. Lowe lehnte den Ruf jedoch ab. Auf Vermittlung Jacob Marschaks wurde schließlich 1949 dessen Chicagoer Doktorand Don Patinkin langjähriger Dekan der Wirtschaftswissenxxxiv

Einleitung schaftlichen Fakultät. Nach der Staatsgründung wechselten einige der ehemaligen Emigranten in die neue Administration oder gingen in die Politik. Fritz Naphtali etwa wirkte nach vorangegangener Tätigkeit als Abgeordneter des Tel Aviver Stadtrats und der Knesset in den fünfziger Jahren als Minister unterschiedlicher Ressorts, während Ludwig Oppenheimer die Leitung der Forschungsabteilung im Landwirtschaftsministerium übernahm und Arie Gaathon als Chef des Ministerpräsidentenbüros tätig war. Gaathon, wie auch Fanny Ginor und später Michael Bruno, arbeiteten in der Forschungsabteilung der 1954 gegründeten israelischen Zentralbank.

VII. Karriereverläufe der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler Eine Übersicht über die zeigt, daß die Emigration bruch führte und sich ihre nach 1933 ihre jeweiligen

Berufsentwicklung der vertriebenen Wirtschaftswissenschaftler nur in Ausnahmefallen, bei 4 Personen, zum negativen KarriereSpur verliert; die 22 Personen, die bis 1945 verstorben sind, hatten Tätigkeiten fortsetzen können:

Tabelle 7: Karriereverläufe der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler (Stichjahr 1945) a.

b.

c.

d.

Hochschullehrer vor 1933 (122) - Karriere fortgesetzt 74 - Wechsel in andere Berufsfelder, insbesondere in die Administrationen der Zufluchtsländer 26 - vor 1945 verstorben 16 - Karriere abgebrochen 3 Vor 1933 in der Privatwirtschaft, in der Verwaltung, als Wiitschaftsjournalisten etc. Tätige (79) - Karriere fortgesetzt 21 - Wechsel in die universitäre Laufbahn 46 - vor 1945 verstorben 6 - Karriere abgebrochen 1 Vor der Emigration das Studium gerade abgeschlossen (20) - Hochschullehrer 11 - administrative und andere Tätigkeiten 9 unklare Fälle

= 119

= 74

= 20

8 221

Die erfolgreiche Akkulturation in den Zufluchtsländern mag auch daran abzulesen sein, daß von den bei Kriegsende noch lebenden 199 ehemaligen Emigranten nur wenige remigriert sind. Sieht man von 9 Personen ab, die erst in den 1960er Jahren zurückkehrten, um nach Ende des Berufslebens ihren Lebensabend in der früheren Heimat zu verbringen, so kamen zwischen 1945 und 1955 insgesamt 36 Personen, etwa zu gleichen Teilen aus der Türkei und dem Nahen Osten (9), aus den USA (11), Großbritannien (11) sowie jeweils einzelne aus weiteren Ländern (5). Relativ kehrten aus dem Hauptzufluchtsland USA also die wenigsten, aus der Türkei hingegen alle zurück. Davon übernahmen 9 in Österreich, 16 in der Bundesrepublik Deutschland und 9 in der DDR universitäre Positionen. Zwei hatten Rufe in die Schweiz erhalten. Die Remigranten in die DDR begannen dort mit Ausnahme Alfred Meusels, der schon vor 1933 eine Professur an der Technischen Hochschule Aachen hatte, überhaupt erst ihre Hochschultätigkeit. XXXV

Einleitung Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die Diskriminierungen, der sich selbst Emigranten der ersten Stunde in Großbritannien ausgesetzt sahen, sorgten dafür, daß das britische Exil auch für viele Wirtschaftswissenschaftler nur temporären Charakter besaß. Die langfristige Kräfteverschiebung zugunsten der USA wurde durch den Wegzug führender Wissenschaftler aus Großbritannien in den Jahren 1939-40 zweifelsohne gestärkt. Ein Großteil derjenigen, die blieben, wurde nach den deutschen Militärerfolgen zu Kriegsbeginn seit Mai 1940 von der britischen Regierung als 'enemy aliens' in Internierungshaft genommen: auf der Isle of Man, von wo sie z.T. in die Dominions wie Kanada weitergeleitet wurden. Hierzu gehörten selbst prominente Ökonomen wie der mit Keynes befreundete Italiener Piero Sraffa, der bereits seit 1926 in Cambridge ansässig gewesen war. Aber auch viele jüngere Deutsche oder Österreicher wie Burchardt, Heinz Wolfgang Arndt, H.W. Singer und Paul Straeten zählten zu den Internierten. 9 Zum Kreis der Betroffenen gehörten auch der herausragende Nachwuchsökonom Erwin Rothbart, der nach seinem Studium an der London School of Economics 1938 von Keynes als Forschungsassistent in Statistik an der Universität Cambridge eingestellt wurde und später als Freiwilliger in der britischen Armee in Holland fallen sollte, sowie Eduard Rosenbaum, der ehemalige Direktor der Commerzbibliothek der Hamburger Handelskammer und Bibliothekar der London School of Economics von 1935-52. Keynes, der sich nachhaltig für die Freilassung vieler internierter Ökonomen, insbesondere Sraffa, Rothbart, Singer und Rosenbaum, einsetzte und dazu bis hin zum Home Secretary intervenierte, erachtete die ganze Angelegenheit als „the most disgraceful and humiliating thing which has happened for a long time" und Schloß mit der Feststellung: „If there are any Nazi sympathisers at large in this country, look for them in the War Office and our secret service, not in the internment camps." 10 Die von Keynes ausgesprochene Hoffnung, daß der Protest in der britischen Öffentlichkeit zu einer Korrektur der Politik gegenüber den ca. 65.000 betroffenen 'enemy aliens' führen würde, erfüllte sich Ende 1940/Anfang 1941, als auch die jungen Ökonomen aus der Internierungshaft entlassen wurden. Zu den herausragenden Ökonomen, die unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme aus Deutschland nach England emigrierten, gehörten Adolf Löwe und Jacob Marschak. Beide wurden vom Academic Assistance Council bzw. der Society for the Protection of Science and Learning ebenso wie von der Rockefeller Foundation regelmäßig konsultiert, um die wissenschaftliche Qualifikation emigrierter bzw. hilfesuchender deutscher Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler zu beurteilen. Ebenso wie der mit ihm befreundete Marschak galt Löwe bei der Rockefeiler Foundation als Ά - 1 , both scientifically and from the point of view of character' 11 . Am Tag nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde Löwe in England naturalisiert: aus Adolf Löwe wurde Adolph Lowe. Zwar wurde Lowe in der nach dem Zusammenbruch Frankreichs einsetzenden Panik aufgrund der Naturalisierung nicht wie viele andere Emigranten auf der Isle of Man interniert, jedoch teilte ihm die Universität Manchester mit, daß sein Vertrag nicht verlängert werden könnte. Dies veranlaßte Lowe, ein neuerliches Angebot der 'Universität im Exil' der New School for Social Research in New York anzunehmen und mit seiner Familie auf dem Höhepunkt des U-BootKrieges in die USA überzusiedeln. Marschak seinerseits, der sich seit Dezember 1938 mit einem einjährigen Reisestipendium der Rockefeller Foundation bereits in den USA befand, kehrte nicht mehr nach England zurück. Unmittelbar nach Kriegsausbruch akzeptierte er das 9 10

"

Vgl. die autobiographischen Beiträge von Arndt. Singer und Streeten in Hagemann (1997). Brief an F.C. Scott vom 23. Juli 1940, in: The Collected Writings of John Maynard Keynes. Bd. XXII: Activities Internal War Finance, London: 1978, S. 191.

1939-45:

John Van Sickle (Paris) an die Zentrale in New York. 10. Mai 1933. Rockefeller Archive Center. Record Group 1.1. 200/109/ 539.

xxxvi

Einleitung Angebot der New School, Lehrstuhl-Nachfolger von Colm zu werden, der sich endgültig entschieden hatte, seine berufliche Karriere in der Washingtoner Administration fortzusetzen. Strittig ist, ob der international führende Wissenschaftsstandard der USA nach dem Zweiten Weltkrieg - nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften - mit auf den Einfluß der Emigranten aus den dreißiger Jahren oder, wie amerikanische Nativisten behaupten, allein auf die ökonomischen Ressourcen des Landes zurückzuführen sei. Ein Indiz mag sein, daß von den ersten 20 amerikanischen Preisträgem des seit 1969 vergebenen wirtschaftswissenschaftlichen Nobelpreises 14 nicht in den USA geboren waren. In den ersten Jahrzehnten nach 1945 wurden neben Joseph A. Schumpeter mit Gottfried Haberler, Fritz Machlup, William Fellner und Jacob Marschak ehemalige Emigranten zu Präsidenten der American Economic Association gewählt, eine Ehre, die nur den renommierten Vertretern des Faches zuteil wird (Craver/Leijonhufvud 1987, S. 173 ff.). Auffallend ist, daß mit Ausnahme Marschaks alle aus der österreichischen Tradition kamen. Das mag andeuten, daß nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der Ära Roosevelt das Pendel der wirtschaftstheoretischen Reformdebatte während der fünfziger Jahre wieder zurückschlug, Keynesianer und ehemalige deutsche Neu-Klassiker in den Hintergrund traten. Die struktur- und wachstumstheoretischen Analysen der ehemaligen deutschen Emigranten sollten erst seit den 1970er Jahren angesichts der mit den Ölpreisschocks und der mikroelektronischen Revolution erneut hervortretenden Strukturprobleme und der wachsenden Arbeitslosigkeit in den Industrieländern auf neue Aufmerksamkeit stoßen. Der triumphale Aufstieg der amerikanischen Wirtschaftswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ist nicht nur die Folge der politischen und ökonomischen Führungsrolle der USA, der pragmatischen und technologischen Orientierung der Amerikaner, sondern auch des nationalen Stils der ökonomischen Forschung, der durch ein hohes Maß an theoretischer Spezialisierung und angewandter Wirtschaftsforschung gekennzeichnet ist (Johnson 1973). Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Graduiertenausbildung an den führenden Universitäten, die den Studierenden das notwendige mathematische und ökonometrische Rüstzeug vermittelte. Die enormen Gewichtsverlagerungen, nicht zuletzt aufgrund der Emigration aus den faschistisch und stalinistisch regierten Ländern Europas in die USA, lassen sich auch quantitativ, z.B. auf der Basis des Social Science Citation Index erfassen. Während die Sowjetunion 24 ihrer 36 und Österreich-Ungarn 36 seiner 50 herausragenden Ökonomen verloren, belief sich der Wanderungsgewinn der USA insgesamt auf 161. Dies macht immerhin einen Anteil von 30 Prozent der in den USA geborenen führenden Ökonomen der Welt aus. Im Gegensatz dazu ist der Anteil des deutschsprachigen Raumes von 15 Prozent bei den Toten auf 3 Prozent unter den Lebenden zurückgegangen (Frey/Pommerehne 1988). Wenn man die Frage nach der Bedeutung emigrierter Wirtschaftswissenschaftler für die Aufnahmeländer bzw. für die internationale Entwicklung ihrer Fachgebiete stellt, muß man, abgesehen von Mises und den Ökonomen der New School, die vor allem zur Zeit des Rooseveltschen New Deals sowie in den ersten Nachkriegsjahren größere Wirkungen erzielten, insgesamt jedoch zu folgendem Schluß gelangen: „It was not, however, the transplantation of the European 'schools' that injected the Continental influence on economics in America. ... On the whole, however, those immigrants who tried to maintain their distinctly European scholarly identity appear to have been less influential on the development of the profession in America" (Craver/Leijonhufvud, 1987, S. 175). Andererseits waren viele amerikanische Universitäten nicht nur zum Ausbau umfangreicher Graduiertenprogramme auf die europäischen Immigranten zwingend angewiesen, sondern letztere trugen auch entscheidend zu vielen Innovationsschüben bei, die als zeitlich verxxxvii

Einleitung zögerter (Rück-/Transfer von Wissenschaftsinhalten nach Deutschland (und Österreich sowie anderen europäischen Ländern) in der Zeit nach 1945 als „amerikanischer" Einfluß erschienen. Exemplarisch erwähnt sei hier das finanzwissenschaftliche Werk von Richard A. Musgrave, das durch die Verbindung der stärker theoretisch ausgerichteten, untrennbar mit der allgemeinen Volkswirtschaftslehre verbundenen angelsächsischen Public Finance mit der kontinentaleuropäisch-deutschen Tradition der Finanzwissenschaft und ihrer stärkeren Betonung juristischer, soziologischer und historischer Aspekte bereichert wurde.12 Dabei kam ihm seine gründliche Kenntnis der deutschsprachigen Literatur zugute, angefangen von Knut Wickseils Finanztheoretischen Untersuchungen (1896) mit ihrem Beitrag für die moderne Theorie öffentlicher Güter (die später auch James Buchanan und den Public ChoiceAnsatz beeinflußten) bis zu der stärker theoretisch orientierten finanzwissenschaftlichen Analyse am Ende der Weimarer Republik, etwa in Colins (1927) erster systematischer Studie über die Wirkungen von Änderungen der Staatsausgaben auf den Wirtschaftskreislauf, die sich zunehmend der angelsächsischen Tradition annäherte. Musgraves The Theory of Public Finance (1959) wurde für mehr als zwanzig Jahre das finanzwissenschaftliche Standardwerk, das auch in seiner deutschen Übersetzung (1966) sehr erfolgreich war und nahezu an allen Universitäten verwendet wurde. Musgraves Unterscheidung zwischen einer Allokations-, Distributions- und Stabilisierungsabteilung des öffentlichen Haushalts hat das finanzwissenschaftliche Denken ganzer Studentengenerationen ebenso geprägt wie Auseinandersetzungen über seine multiple Theorie des öffentlichen Haushalts aufgrund bestehender Interdependenzen die Forschungsprozesse bis in die Gegenwart. Abschließend läßt sich feststellen, daß die langfristige wissenschaftliche Kräfteverschiebung zugunsten der USA aufgrund der Entlassung und Vertreibung von Wirtschaftswissenschaftlern durch die Nationalsozialisten nach 1933 zumindest enorm beschleunigt worden ist (vgl. auch Samuelson 1988, S. 319). Zugleich haben im Bereich der Ökonomie die emigrierten Wissenschaftler wesentlich zum Prozeß der stark zunehmenden Intemationalisierung der Wissenschaften nach 1945 beigetragen.

VIII. Zur Entstehungsgeschichte dieses Handbuchs Die Entstehung dieses Handbuchs geht auf das im Rahmen des Schwerpunktprogramms Wissenschafisemigration der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgeführte Projekt Die Emigration deutschsprachiger Wirtschaftswissenschaftler nach 1933 zurück. Absicht des Projektes war es, ein Gesamtbild der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler in quantitativer wie vor allem in qualitativer Hinsicht zu entwerfen. Unsere Forschungen haben schnell die Notwendigkeit einer Gesamterhebung aller von den Nationalsozialisten entlassenen und vertriebenen Wirtschaftswissenschaftler gezeigt: als notwendigen Schritt für eine fundierte Beurteilung der Wissenschaftsemigration in Abgrenzung zur Wissenschaftsentwicklung in Deutschland sowie der Beiträge der Emigranten zur Entwicklung ihrer Fachgebiete im Ausland. Ursprünglich ausgegangen wurde von einem Kreis von ca. 180 betroffenen Wirtschaftswissenschaftlern. Dabei konnte aufgebaut werden auf dem bahnbrechenden gemeinsamen Forschungsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte in München und der Research Foundation for Jewish Immigration in New York, dessen Ergebnisse im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 (Röder/Strauss 1980-83) dokumentiert sind. Die 12

Zu diesem spezifischen, aus einer fruchtbaren Synthese unterschiedlicher nationaler Traditionen resultierenden Beitrag zur Ökonomik der öffentlichen Finanzen, vgl. Musgrave (1996. 1997).

xxxviii

Einleitung Sichtung des Urmaterials dieses Projekts, frühere Forschungsarbeiten der Herausgeber sowie die systematische Auswertung der Nachlässe der emigrierten Ökonomen und detaillierte Archivrecherchen im Rahmen des DFG-Schwerpunkts brachten das überraschende - und die Notwendigkeit des Projekts zusätzlich unterstreichende Ergebnis daß rund ein Drittel unseres Personenkreises von den damaligen Handbuch-Bearbeitern nicht erfaßt worden ist. Zur Konturierung der Herkunftsmilieus und der Zufluchtsorte wurden weiterhin Recherchen über Universitäten und akademische Institutionen durchgeführt, aus denen die Flüchtlinge kamen und in denen sie nach 1933 arbeiteten (in Deutschland, Österreich sowie in den USA, in Großbritannien und Israel). Anläßlich der Tagung 'Zur deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933', die Ende September 1991 an der Universität Hohenheim in Stuttgart stattfand, wurde von uns erstmals eine biographische Gesamtubersicht emigrierter deutschsprachiger Wirtschaftswissenschaftler vorgelegt. Diese Zwischenbilanz umfaßte 292 Namen. Durch die überaus erfreuliche und positive Resonanz von Seiten der emigrierten Ökonomen selbst, aber auch durch Anmerkungen und Ergänzungen von Tagungsteilnehmern und interessierten Fachkollegen sowie durch weitere Recherchen und intensive Korrespondenzen konnte ein deutlicher Zugewinn an biographischen sowie wissenschaftlichen Daten über unsere Zielgruppe realisiert werden. Da zudem die biographische Gesamtübersicht aufgrund einer regen Nachfrage schnell vergriffen war, wurde bereits im August des nachfolgenden Jahres eine zweite erweiterte und verbesserte Auflage erstellt, die 314 emigrierte Ökonomen beinhaltete (Hagemann/Krohn 1992). Aufgrund ergänzender Informationen und zusätzlicher Nachforschungen kamen weitere achtzehn Wirtschaftswissenschaftler hinzu, während nur vier aus dieser Liste gestrichen werden mußten. Das vorliegende Handbuch umfaßt dementsprechend Beiträge über 328 Wirtschaftswissenschaftler. Sie geben Auskunft über die intellektuelle Biographie wie den akademischen und beruflichen Werdegang einschließlich der an deutschen und österreichischen Institutionen eingenommenen Positionen, Verfolgungen durch die Nationalsozialisten, die Entwicklung der Karrieren in den Zufluchtsländern, womögliche Integrationsprobleme und Akkulturationsschwierigkeiten sowie wissenschaftliche Auszeichnungen. Das Schwergewicht liegt jedoch auf der Würdigung der wissenschaftlichen Leistung, so daß im allgemeinen die Beiträge der emigrierten Ökonomen für die Entwicklung der jeweiligen Teildisziplinen der Wirtschaftswissenschaft, in denen sie vorrangig tätig waren, im Zentrum stehen. An einem Beispiel, dem der noch in der zweiten Auflage des biographischen Gesamtverzeichnisses aufgeführten Natalie Moszkowska (vgl. Hagemann/Krohn 1992, S. 196), sei der Aufwand illustriert, der zur Gewinnung biographischer Daten erforderlich werden konnte, auch wenn in diesem Fall als Ergebnis der Recherchen feststeht, daß Moszkowska weder als Emigrantin aus dem deutschsprachigen Raum gelten kann, noch im von uns zu untersuchenden Zeitraum emigriert war, wie wir aufgrund ihrer deutschsprachigen Veröffentlichungen im Referenzzeitraum ursprünglich angenommen hatten. Aufgrund der desolaten Datenlage wurden - bis dieses Ergebnis feststand - Korrespondenzen geführt mit dem Staatsarchiv des Kantons Zürich, dem Schweizerischen Wirtschaftsarchiv an der Universität Basel, dem Stadtarchiv Zürich, dem Archiv für Zeitgeschichte bei der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, dem Schweizerischen Sozialarchiv Zürich, der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich, dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund, den Gewerkschaftlichen Monatsheften in Düsseldorf und dem Verlag Musolini Editore in Turin, der 1974 eine italienische Übersetzung von Natalie Moszkowskas ökonomischem Hauptwerk veröffentlicht hatte. Das Ergebnis in diesem Fall bedeutet dennoch einen nicht unerxxxix

Einleitung heblichen Erkenntnisfortschritt, da zwar Moszkowskas ökonomische Schriften gut rezipiert worden sind, jedoch über ihren Lebensweg nichts bekannt gewesen war. Wir möchten uns bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken, ohne deren tatkräftige Mitwirkung dieses zeitaufwendige Projekt nicht realisierbar gewesen wäre. Dies gilt für die insgesamt 127 Autoren, die Beiträge zum Handbuch verfaßt haben, aber auch für alle, die im Zuge unseres Forschungsprozesses wichtige Informationen gegeben und wertvolle Hilfestellung geleistet haben. Hierzu gehören vor allem zahlreiche Mitglieder aus dem Kreis der Betroffenen selbst, die uns mit großem Engagement in zahlreichen Gesprächen und aufschlußreichen Korrespondenzen detaillierte Auskünfte gegeben haben, insbesondere die inzwischen verstorbenen Adolph Lowe, Henry W. Spiegel und Josef Steindl, ebenso wie Heinz Wolfgang Arndt, Haim Barkai, Fanny Ginor, Richard Musgrave, Kurt Rothschild, Sir Hans Singer, Wolfgang F. Stolper und Paul Streeten. Gerade durch die persönlichen Kontakte zu den Emigranten wurden weitere forschungsrelevante Anstöße gegeben, die sich außerordentlich günstig auf den Informationsaustausch zwischen den emigrierten Wirtschaftswissenschaftlern und den Projektleitern niedergeschlagen haben. Da viele emigrierte Ökonomen zueinander in einem engen fachlichen und z.T. auch persönlichen Kontakt stehen, konnte eine nicht unerhebliche positive Multiplikatorwirkung erzielt werden, aus der wir weitere für den Forschungszusammenhang verwertbare Informationen bekamen. Ferner haben die persönlichen Reaktionen, aber auch die Aufsätze der Emigranten 13 gezeigt, daß sie sich, durch unser Forschungsprojekt angeregt, selbst mit dieser Thematik verstärkt auseinandersetzten. Insgesamt haben wir dadurch wichtige Einsichten gewonnen, die aus der vorhandenen Literatur nicht zu erhalten waren. So sieht sich beispielsweise Richard A. Musgrave - durch die aus der doppelten wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung resultierende wechselseitige Bereicherung unterschiedlicher Forschungstraditionen - explizit als 'Emigrationsgewinner'. Die Kontakte mit den vertriebenen Ökonomen waren auch eine unverzichtbare Hilfe bei der Klärung der Fragen nach den Verlusten für die deutsche Wirtschaftswissenschaft durch die Emigration, des Ausmaßes der Befruchtung der Wirtschaftswissenschaft in den Aufnahmeländem, den Erfahrungen der Emigranten und den Bedingungen der Integration in den ausländischen Wissenschaftsbetrieb, emigrationsbedingten Änderungen von Forschungsschwerpunkten und Methoden sowie der Beiträge der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler zur internationalen Entwicklung ihrer Fachgebiete. Unser besonderer Dank gilt unserem langjährigen Forschungsassistenten Dr. Hans Ulrich Eßlinger für seinen unermüdlichen Einsatz. Durch seine Akribie und seine detektivische Phantasie bei den z.T. komplizierten biographischen Recherchen hat er ebenso zum erfolgreichen Abschluß des Projektes beigetragen wie durch seine intensive inhaltliche Mitarbeit, vor allem im Bereich der Entwicklungsökonomie und über den Kreis der Heidelberger Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler um Emil Lederer. Nach seinem beruflich bedingten Weggang zur Friedrich-Ebert-Stiftung hat uns in der Abschlußphase Bertram Melzig-Thiel unterstützt, dessen Engagement ebenfalls durch eine hohe Motivation geprägt war. Bedanken möchten wir uns femer bei Meike Johannsen, Barbara Link, Katrin Jaenke, Dr. Steffen Mayer, Leslie Preis, Babette Mummert und Maite Schachtebeck, die in den verschiedenen Phasen wertvolle Hilfestellung bei der Zusammenstellung und Aufbereitung des biographischen Materials sowie der redaktionellen Bearbeitung der eingehenden Beiträge geleistet haben. Schließlich bildete Frau Christine Eisenbraun in der hektischen Schlußphase den ruhenden Pol im Sekretariat.

13

xl

Vgl. z.B. die Beiträge von Arndt. Ginor. Kuczynski. Musgrave. Singer. Spiegei. Stolper und Streeten in Hagemann (1997).

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Biographische Artikel Adler - Lehmann

Adler, J o h n H a n s . geb. 16.11.1912 in Tachau (Böhmen), gesl. April 1980 in Chevy Chase, Maryland Sohn des in der Deutschen Demokratischen Freiheitspartei aktiven Fabrikanten August Adler und dessen Frau Lilly Felix. Ab 1931 studierte Adler an der Deutschen Universität Prag, wobei sein Jurastudium in den Jahren 1934 bis 1936 durch den Militärdienst in der tschechoslowakischen Armee unterbrochen wurde. 1937 schloB Adler das wiederaufgenommene Studium mit der Promotion zum Dr. iur. ab. Wohl geprägt durch sein Elternhaus war er während dieser Zeit neben seiner Tätigkeit als Redakteur für die Zeitschrift Die Wirtschaft als Mitarbeiter in der liberalen Studentengruppe 'Lese- und Redehalle deutscher Studenten' aktiv. Im darauffolgenden Jahr emigrierte Adler mittels Studentenvisum in die Vereinigten Staaten, um an der Columbia University zwischen 1938 und 1941 Ökonomie zu studieren. Neben einem Stipendium der Yale University verdiente er seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten wie z.B. als Schneeschaufler und Oblatenbäcker. 1940 erwarb Adler den Master of Arts in Yale, wo er anschließend zwei Jahre als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Internationale Studien tätig war. Weitere Stationen seines beruflichen Werdegangs waren eine Tätigkeit als Instructor am Oberlin College, Ohio und als volkswirtschaftlicher Mitarbeiter beim Federal Reserve Board, Washington, D.C. Vor seiner Promotion in Yale im Jahr 1946 zum Thema Determinants of the Volume of Foreign Trade arbeitete Adler im USKriegsministerium bei der Ausweitung der strategischen Bombardierung Deutschlands mit. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er zuerst für die USRegierung in der Alliierten Kontrollkommission in Wien tätig und trat nach einer dreijährigen Anstellung bei der Federal Reserve Bank in New York 1950 als Mitarbeiter in die International Bank for Reconstruction and Development ein. Bis zu seinem Ruhestand im Jahre 1978 bekleidete Adler hier u.a. das Amt des Direktors des Economic Development Institute (1963 - 1968) sowie des Direktors der Planungs- und Budgetabteilung. Zusätzlich war er Mitglied des Beirats der Weltbank. Nach seiner Pensionierung war Adler 1978/ 79 noch als Visiting Fellow in Oxford tätig. Adlers Beiträge zur Ökonomie sind eng verbunden mit seinen beruflichen Aufgaben bei der Federal Reserve Bank und der Weltbank. So ist ins-

besondere die 1952 erschienene Studie The Pattern of United States Import Trade since 1923 zu nennen, die er zusammen mit Eugene R. Schlesinger und Evelyn van Westerborg verfaßt hat. Im Rahmen dieser Arbeit werden die Bestimmungsgründe der amerikanischen Importe für die Zeit zwischen 1923 und 1950 unter Verwendung eigens für diesen Zweck berechneter Indexzahlen analysiert. Die Studie liefert sowohl über die mengenmäßige als auch über die regionale Zusammensetzung und Entwicklung der Importe der USA einen noch heute informativen Überblick. Der weitaus größte Teil der Veröffentlichungen Adlers beschäftigt sich jedoch mit den wirtschaftlichen Problemen von Entwicklungsländern sowie den Wegen und Strategien, die zur Überwindung der Phase der Unterentwicklung beitragen können. Zentrale Themen sind dabei die Bedeutung und die Stellung der Einkommensverteilung im Entwicklungsprozeß, die Konzeption einer adäquaten Investitionspolitik sowie die Struktur des staatlichen Budgets in unterentwickelten Volkswirtschaften. In den Ansätzen der Entwicklungstheorie stellen Investitionen einen der Faktoren dar, die für hohe Wachstumsraten und somit für einen schnellen Aufholprozeß notwendig sind. Adler weist in mehreren Beiträgen zu dieser Frage, so z.B. in Development Planning - Tool or Toy? (1975), immer wieder auf die Tatsache hin, daß ein hohes Investitionsniveau zwar eine notwendige, aber noch lange keine hinreichende Bedingung für eine erfolgreiche Entwicklung ist. Vielmehr spiele auch die Struktur der durchgeführten Investitionen eine herausragende Rolle. Eine adäquate Mischung aus öffentlichen und privaten Investitionen sei einer fast ausschließlichen Konzentration auf staatliche Kapitalbildung vorzuziehen. Interessant ist hierbei insbesondere der weite Begriff der Investition, den Adler zugrundelegt. So versteht er unter Investitionen nicht nur die Vergrößerung des Kapitalstocks und der Lagerbestände, sondern vielmehr alle Ausgaben, die dem Entwicklungsprozeß zuträglich sind, also auch Ausgaben für Gesundheit und Bildung. Im Zusammenhang mit diesem weiten Investitionsbegriff ist darüber hinaus die starke Betonung von externen Effekten bei Adler festzustellen (vgl. z.B. 1951). Für einen erfolgreichen Catching-up Prozeß muß ausreichend Social Overhead Capital gebildet werden, damit positive externe Effekte entstehen können, welche die Produktivität des privaten Kapitals erhöhen. Liegen diese nicht vor.

1

Adler, John Hans so ist nach Adler auch die These der höheren Grenzproduktivität des Kapitals, die in den kapitalarmen Ländern im Gegensatz zu den kapitalreichen Ländern vorliegen soll, nicht haltbar. Diese Argumentation findet sich dreiBig Jahre später in ähnlicher Form in den Modellen der sogenannten 'Endogenen Wachstumstheorie' wieder. Konsequenterweise folgt aus dieser Überlegung, daB zwei eng mit der Kapitalakkumulation verbundene Problembereiche zu berücksichtigen sind: die Einkommensverteilung und das staatliche Budget. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren vertrat Adler die These, daB schnelles Wachstum und die Notwendigkeit von redistributiven Maßnahmen invers miteinander verbunden sind (vgl. z.B. 1965). Konsequenterweise leitete er daraus eine fiskalpolitische Vorgehensweise ab, die mehr der Kapitalbildung als der Umverteilung verpflichtet ist. Diese Hypothese relativierte er jedoch aufgrund der Erfahrungen, die sich aus dem realiter stattfindenden Entwicklungsprozeß in der sogenannten 'Dritten Welt' ergaben (z.B. Development and Income Distribution, 1972a). Die Ausgabenseite des Budgets muB sich seiner Meinung nach stärker auf Bereiche wie Bildung, Gesundheit sowie Infrastruktur und weniger auf Militärausgaben konzentrieren. Entsprechend seiner Tätigkeit in den Jahren vor seinem Ruhestand als Direktor der Planungs- und Budgetabteilung der Weltbank bildet in den letzten Veröffentlichungen von Adler die Vorgehensweise dieser Institution in Fragen der Planung und Vergabe von Kreditmitteln den Schwerpunkt des Interesses. Adler gewährt in mehreren Beiträgen (1972c, 1977) aus erster Hand einen Einblick in die Ziele und die Kritierien der Weltbank bei der Unterstützung unterentwickelter Länder. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daB die ökonomischen Beiträge von John H. Adler in gewissem Sinne einen Spiegel der entwicklungstheoretischen und insbesondere der entwicklungspolitischen Debatte der fünfziger bis siebziger Jahre darstellen. Sie sind durch die praktische Arbeit Adlers in der Weltbank geprägt, was sich vor allem in der Tatsache zeigt, daB sie weder theorielose Politikempfehlungen noch theoretische Gedankenspiele ohne praktischen Bezug beinhalten, sondern vielmehr versuchen, einen Zusammenhang zwischen beiden Bereichen herzustellen.

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Altmann, Salomon Paul (Sally) Altmann, Salomon Paul (Sally), geb. 27.6.1878 in Berlin, gest. 7.10.1933 in Ilmenau Altmann studierte in Berlin und Freiburg zunächst Philosophie und Naturwissenschaften, widmete sich nach seiner Rückkehr nach Berlin im Herbst des Jahres 1900 jedoch ganz dem Studium der Staatswissenschaften und der Geschichte. 1906 promovierte er bei Adolph Wagner und Gustav Schmoller mit einer Arbeit Studien zur Lehre vom Geldwert zum Dr.phil. Seine Absicht, unmittelbar danach die akademische Laufbahn einzuschlagen, stellte er zunächst zugunsten der Übernahme einer Position als volkswirtschaftlicher Beamter der Handelskammer Frankfurt a.M. zurück. Aus dieser Tätigkeit heraus entstanden unter anderem die Abschnitte Handelspolitik und Geschichte der industriellen Entwicklung als Beiträge zur Geschichte der Handelskammer zu Frankfurt (1908a). Der Versuch, sich von Frankfurt aus an der Universität Heidelberg zu habilitieren, scheiterte an Altmanns außerhalb Badens gelegenem Wohnsitz. Er wurde jedoch 1907 als nebenberuflicher Dozent an die Handelshochschule Mannheim berufen und erhielt 1909 dort eine hauptamtliche Dozentur für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft übertragen. Bereits im darauffolgenden Jahr wurde Altmann an der Handelshochschule zum ordentlichen Professor ernannt Der Lehrauftrag am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften an der Universität Heidelberg, den er ebenfalls 1910 erhielt, wurde 1922 in eine Honorarprofessur umgewandelt. Sein schlechter Gesundheitszustand erlaubte es Altmann ab 1929 nicht mehr, Vorlesungen zu halten. Er wurde 1930 an der Handelshochschule Mannheim emeritiert, in Heidelberg schied er 1929/30 aus dem aktiven Lehrbetrieb aus. Dennoch war er im April 1933 seiner jüdischen Konfession wegen vom sog. 'Gesetz zur Wiederherstellung des Benifsbeamtentums' betroffen. Weitere Zwangsmaßnahmen gegen Altmann, der während des Ersten Weltkriegs organisatorisch und wissenschaftlich in der sog. 'Kriegsfiirsorge' und in der Wirtschaftspolitik tätig gewesen war, unterblieben jedoch in den letzten sechs Monaten seines Lebens. Altmanns wissenschaftliches Interesse galt zunächst der Geldtheorie, deren frühe Entwicklungsstufen - vom Altertum bis ins 16. Jahrhundert - in seiner Dissertation (1906) dargelegt wurden. In einem Beitrag Zur deutschen Geldlehre des 19.

Jahrhunderts (1908b) in der Festschrift für seinen Lehrer Schmoller gab er einen umfassenden Überblick über die kritische Haltung der Historischen Schule gegenüber der Quantitätstheorie, teilte diese Kritik selbst jedoch nicht, da die Quantitätstheorie „theoretisch einen zweifellos richtigen Kern" habe (S. 47). Das Hauptarbeitsgebiet Altmanns war jedoch ab 1910 die Finanz Wissenschaft. Mit der eng an die Arbeiten seines akademischen Lehrers Wagner angelehnten Finanzwissenschaft (1910) versuchte er, dieses Teilgebiet der Volkswirtschaftslehre einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In der Tradition der Historischen Schule stehend, konzentrierte sich das Werk sehr stark auf die Darstellung der steuererhebenden Institutionen sowie auf die spezielle Steuerlehre. Seine detaillierten Kenntnisse auch fiskalisch unbedeutenderer Steuern und Abgaben dokumentierte Altmann einige Jahre darauf durch insgesamt 27 Beiträge zum Handwörterbuch der Kommunalwissenschaft (1918-24). Das in der Finanzwissenschaft nur am Rande gestreifte Problem der Gerechtigkeit der Besteuerung wurde von Altmann 1911 in einem Aufsatz im Archiv für SozialWissenschaft und Sozialpolitik ausführlicher diskutiert. Die Untersuchung konzentrierte sich auf den Zusammenhang zwischen weltanschaulichen Positionen und den Besteuemngsprinzipen sowie verschiedenen steuerlichen Institutionen. Altmann gelangte zu dem Ergebnis, daß so viele „gerechte Besteuerungen" existierten, wie es in sich geschlossene Weltanschauungen gebe. Normative Ansätze der (Steuer-) Gerechtigkeit zu formulieren sei nicht Aufgabe der Finanzwissenschaft - diese solle sich vielmehr auf die Analyse der Ressourcenallokation und der Steuerinzidenz beschränken. Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wandte sich Altmann verstärkt gegen die historische Betrachtungsweise in der Finanzwissenschaft, denn diese müsse den neuen gesellschaftlichen Strukturen in der Weimarer Republik Rechnung tragen. „Damit hört die Finanzwissenschaft mehr und mehr auf, eine Darstellung bestehender Gesetze, eine Behandlung einzelner Reformen zu sein, und wird die Lehre von einem entscheidenden Faktor der politischen Gemeinschaft und ihrer Ideologien" (1918/19, S. 226). Die daraus abgeleitete Forderung, in der finanzwissenschaftlichen Literatur müßten nun „'wissenschaftliche Gesetze' von internationaler Gültigkeit" (ebd., S. 228) formuliert werden, konnte

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Altschul, Eugen Altmann selbst jedoch nicht mehr einlösen. Gleiches gilt für den Bereich der Wirtschaftstheorie, in dem Altmann die Notwendigkeit des Übergangs von der statischen zur dynamischen Analyse erkannte (1927, S. 16) - ein Übergang, der in der Konjunktur- und Beschäftigungstheorie u.a. in den Arbeiten seines Heidelberger Kollegen -» Emil Lederer vollzogen wurde. Altmanns Lehrtätigkeit in Mannheim und Heidelberg sowie sein sich zunehmend verschlechternder Gesundheitszustand machten es ihm jedoch unmöglich, mit eigenen Publikationen zu diesem Theoriewechsel beizutragen. Schriften in Auswahl: (1906) Studien zur Lehre vom Geldwert. Beiträge zur Geschichte und Kritik der Geld- und Werttheorie, Berlin (Diss.). [div. Abschnitte in:] Geschichte der (1908a) Handelskammer zu Frankfurt a.M., 1707-1908. Beiträge zur Frankfurter Handelsgeschichte, hrsg. von der Handelskammer zu Frankfurt a.M. Zur deutschen Geldlehre des 19. Jahr(1908b) hunderts, in: S.P. Altmann u.a. (Hrsg.): Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im neunzehnten Jahrhundert. Gustav Schmoller zur 70. Wiederkehr seines Geburtstags, Leipzig, Teil I.VI, S. 1-67. Finanzwissenschaft, Leipzig. (1910) Das Problem der Gerechtigkeit der (1911) Besteuerung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 33, S. 77-96. (1918) Die finanzpolitischen Zukunftsaufgaben Deutschlands, in: Deutscher Staat und deutsche Kultur, StraBburg, S. 372-394. (1918/19) Finanzwissenschaftliche Literatur I, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 46, S. 225-234. (1918-24) [Div. Beiträge zum] Handwörterbuch der Kommunalwissenschaft, 4 Bde., hrsg. von J. Brix u.a., Jena. Gegenwartsaufgaben des wirtschafts(1927) wissenschaftlichen Hochschul-Unterrichts. Akademische Rede, gehalten bei der Jahresfeier der Handels-Hochschule Mannheim am 9. Juli 1926, Mannheim u.a.

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Quellen: RHb.d.dt.Ges.; UAH B-3099; HldWiWi 1929. Hans Ulrich Eßlinger

Altschul, Eugen, geb. 2.4.1887 in Libau/ Lettland, gest. 26.4.1959 in Kansas City Altschul lebte seit seiner Immatrikulation an der Universität Freiburg i. Br. im Jahre 1905 in Deutschland. Er studierte in Freiburg, Leipzig und Straßburg, und zwar ursprünglich Physik, dann Philosophie, Geschichte und Nationalökonomie. 1912 promovierte er in Freiburg bei Gerhart v. Schulze-Gaevernitz mit einer Dissertation über Die logische Struktur des historischen Materialismus. Von 1913 bis 1920 war Altschul in der Vermögensverwaltung des deutsch-russischen Zukker-Großindustriellen König mit Sitz in Freiburg tätig. Anschließend war er zwei Jahre leitender Redakteur bei Buchwalds Börsen-Berichten, 1922 bis 1923 wirtschaftlicher Syndikus und Berliner Vertreter der Bankfirma Gebr. Lismann in Frankfurt a.M. sowie 1923 bis 1926 stellvertretender Direktor der Bankkommanditgesellschaft Oechelhäuser & Landi in Berlin. Auf Initiative von L. Albert Hahn, den er aus seiner Freiburger Studienzeit kannte, zog Altschul nach Frankfurt und übernahm dort die Leitung der im Juni 1926 gegründeten Frankfurter Gesellschaft für Konjunkturforschung. 1927 erhielt er an der Frankfurter Universität einen Lehrauftrag für Konjunkturforschung. 1930 wurde Altschul die venia legendi für Volkswirtschaftslehre erteilt. Die Fakultät verzichtete auf die Einreichung einer besonderen Habilitationsschrift. Die öffentliche Antrittsvorlesung hatte Die mathematische Behandlung wirtschaftsdynamischer Probleme zum Thema. Im April 1933 wurde Altschul beurlaubt und ihm durch Verfügung vom 1.9.1933 die Lehrbefugnis entzogen. William Beveridge vermittelte ihm für ein halbes Jahr einen Forschungsauftrag an der London School of Economics, ehe er im Dezember 1933 in die USA ausreisen konnte. Wesley C. Mitchell, dessen Standardwerk Business Cycles Altschul 1931 auf deutsch herausgegeben hatte, verhalf ihm zu einer Stelle beim National Bureau of Economic Research, dem Altschul bis 1939 angehörte. Daneben hatte er bis 1942 eine Gastprofessur an der University of Minnesota inne. Während des Zweiten Weltkrieges war er für verschie-

Altschul, Eugen dene Regierungsstellen tätig. 1946 erhielt er den Harzfdd-Lehrstuhl für Wirtschaftswissenschaften an der University of Kansas City. 1952/53 war Altsclul Gastprofessor der McGill University in Montreal. Seit seinen ersten wissenschaftlichen Studien befaßte sich Altschul mit Fragen der theoretischen Statistik. Neben seiner Dissertation veröffentlichte er 1913 eine programmatische Untersuchung über Die Methode der Stichprobenerhebung, mit der er nachweisen wollte, daB einige in den Naturwissenschaften erprobte mathematischstatistbche Verfahren auch in der sozialwissenschaftlichen Statistik angewandt werden müBten. Eine wissenschaftliche Laufbahn verhinderte unterdessen der Erste Weltkrieg. Altschul hatte 1914 W. Gdessnoffs Lehrbuch Grundziige der Volkswirtschaftslehre aus dem Russischen übersetzt; es konnte jedoch erst 1918 erscheinen. Seinen alten Wunsch wissenschaftlicher Betätigung konnte er sich eist 1926 erfüllen. In den sieben Jahren bis 1933 gehörte er zu den prominenten deutschen Konjunkturforschem, obwohl er mit keiner eigenen Monographie hervorgetreten ist. Das Forum für Altschul war seine Tätigkeit als wissenschaftlicher Leiter der Frankfurter Gesellschaft für Konjunkturforschung. Die Initiative für deren Gründung war von L. Albert Hahn ausgegangen; der Frankfurter Magistrat, die Universität und die Industrie- und Handelskammer waren maßgeblich beteiligt. Für umfassende statistische Untersuchungen reichten die Mittel der Gesellschaft nicht aus; ihre Hauptaufgabe bestand in der Förderung der theoretischen Konjunkturforschung. Altschul sollte selbst wissenschaftlich tätig sein, aufgrund eines Lehrauftrages an der Universität junge Konjunkturforscher ausbilden und schließlich - darin wurde vor allem der Vorteil der Gründung für die beteiligten Wirtschaftsunternehmen gesehen - in regelmäßigen Abständen vor einem Kreise von Praktikern über die jeweilige Konjunkturlage referieren. Ein enges Zusammenwirken mit der Universität war schon bei Gründung der Gesellschaft vorgesehen. Als Altschul 1930 jedoch vorschlug, die Gesellschaft an die Universität anzugliedern, drang er damit nicht durch. Dennoch war allein schon durch die personelle Besetzung der Gremien die Gesellschaft de facto ein Universitätsinstitut für Konjunkturforschung.

Zunächst war Altschul bemüht, durch Aufsätze und Vorträge der Konjunkturforschung zu größerer Popularität zu verhelfen. Wissenschaftliche Arbeiten von ihm sind eher selten, denn er bezog in den Auseinandersetzungen der Praktiker Position. Seine Beiträge erschienen vor allem im Magazin der Wirtschaft, in der Wirtschaftskurve und der Frankfurter Zeitung. In der Zeitschrift für das gesamte Mühlenwesen veröffentlichte er von 1926 bis 1930 monatlich aktuelle Analysen der Wirtschaftslage, 1929 steuerte er solche Beiträge auch für die Mitteilungen der Frankfurter Industrieund Handelskammer bei. Ein 1930 von ihm angekündigtes Werk über Die wirtschaftstheoretischen Grundlagen der Konjunkturpolitik ist nie erschienen. So nützlich solche Beiträge und Vortragsveranstaltungen für die Gesellschaft auch gewesen sein mochten - Reputation erreichten sie erst durch Publikationen, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügten und zum Teil der Konjunkturforschung neue Wege wiesen: die von Altschul herausgegebenen Veröffentlichungen der Frankfurter Gesellschaft für Konjunkturforschung, die zwischen 1929 und 1934 erschienen. In der Reihe sollten insbesondere die wirtschaftstheoretischen Grundlagen der Konjunkturforschung erörtert werden, was die Frankfurter Gesellschaft in einen gewissen Gegensatz zu dem einem extremen Empirismus verpflichteten Institut für Konjunkturforschung in Berlin brachte. Damit begann sich das Profil der Gesellschaft zu wandeln. Zwar bestand an Kritikern der in Deutschland betriebenen Konjunkturforschung kein Mangel. Doch verschaffte die Sorgfalt, mit der die Autoren der Reihe die methodischen Grundlagen der Konjunkturforschung untersuchten, ihr Anerkennung in der konjunkturtheoretischen Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre. Altschul wurde nicht müde, immer wieder die Notwendigkeit der theoretischen Fundiemng der Konjunkturforschung zu betonen. Zwar erkannte er die Notwendigkeit an, sich auf eine breite empirische Basis zu stützen. Indessen wurde es für ihn gerade durch die laufende Wirtschaftsbeobachtung deutlich, daß auf empirischem Wege die Lösung der Aufgabe nicht gefunden werden konnte. Ohne wirtschaftstheoretische Analyse hielt er eine sinnvolle Tatsachenforschung für unmöglich; ebenso betrachtete er die mathematische Statistik als ein unentbehrliches Werkzeug der Konjunkturforschung. Ein kurzer Beitrag in der

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Altschul, Eugen Festschrift für Arthur Spiethoff gehörte 1933 zu Altschuls letzten Veröffentlichungen in Deutschland. Seine Bilanz war ernüchternd, denn er mußte feststellen, daß viele Erwartungen, die an die empirisch-statistische Konjunkturforschung gestellt worden waren, sich nicht erfüllt hatten: „Die Unternehmer haben von der Konjunkturforschung Schutz gegen die Schäden des Rückschlages erwartet, in der Annahme, eine zuverlässige Prognose könnte rechtzeitige Anpassung an die Veränderung der Marktverhältnisse ermöglichen. Statt dessen konnte die Konjunkturforschung nicht einmal immer und vor allem rechtzeitig eine eindeutige Diagnose bieten" (1933a, S. 11). Kurt Riezler, der Kurator der Frankfurter Universität, zählte 1932 Altschul zu den besten Lehrkräften der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Auf dem Gebiet der Konjunkturtheorie sei er ein Mann von internationalem Ruf und Ansehen, reiner Theoretiker und politisch in jeder Beziehung von absoluter Harmlosigkeit. Diese am SchluB merkwürdig anmutende Beurteilung wird vor ihrem Hintergrund verständlicher: Altschul war aufgrund der Bildung des lettischen Staates 1920 staatenlos geworden und bemühte sich um seine Einbürgerung in Deutschland. Mit dem Weg ins Exil erübrigte sich dieses Bemühen. 1939 erhielt er die amerikanische Staatsangehörigkeit. Seine Tätigkeit in den USA deutet auf erhebliche Akkulturationsprobleme hin. Die Veröffentlichungen aus seiner Exilzeit sind spärlich. Mit einer Reihe Studies in Economic Dynamics wollte er an der University of Minnesota die Schriften der Frankfurter Gesellschaft für Konjunkturforschung fortführen. Während der sechs Jahre, die er mit dem National Bureau of Economic Research verbunden war, brachte er in einer Gemeinschaftsarbeit mit Frederick Strauss einen Beitrag im Jahre 1937 heraus. Eine zwei Jahre darauf angekündigte Untersuchung der amerikanischen Landwirtschaft ist offenbar nicht bis zur Publikationsreife gediehen. Altschuls persönliches Schicksal wird ebenfalls eine Rolle gespielt haben: 1939 verlor er seinen Sohn im Alter von dreißig Jahren, 1943 starb seine Frau. In seinen letzten Lebensjahren wandte er sich emeut den methodologischen Problemen zu, die ihn bereits in seiner Jugend beschäftigt hatten; dabei arbeitete er mit seinem Schwiegersohn, dem Mathematiker Erwin Biser, zusammen.

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Schriften in Auswahl: (1913) Die logische Struktur des historischen Materialismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 37, S. 46-87. (1913) Die Methode der Stichprobenerhebung, in: Archiv fur Rassen- und Gesellschaftsbiologie, Bd. 10. S. 110158. (1926) Konjunkturtheorie und Konjunkturstatistik, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 55, S. 60-90. (1928) Moderne Konjunkturforschung in ihrer Beziehung zur theoretischen Nationalökonomie, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 173, Nr. 2, S. 165-184. (1930) Die Mathematik in der Wirtschaftsdynamik, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 63, S. 523-538. (1933a) Aufgabe, Voraussetzungen und Grenzen der empirisch-statistischen Konjunkturforschung, in: G. Clausing (Hrsg.): Der Stand und die nächste Zukunft der Konjunkturforschung. Festschrift für Arthur Spiethoff, München, S. 11-15. (1933b) Beiträge: „Konjunkturbeobachtung", „Konjunkturpolitik" und „Konjunkturtheorie", in: Handwörterbuch des Bankwesens, hrsg. von M. Palyi und P. Quittner, Berlin, S. 307-316. (1937) Technical Progress and Agricultural Depression (zus. mit F. Strauss), New York. (1948) The Validity of Unique Mathematical Models in Science (zus. mit Ε. Biser), in: Philosophy of Science, Bd. 15, S. 11-24. (1954) Probability Models in Modem Physics and Their Methodological Significance for Social Sciences (zus. mit Ε. Biser), in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 166, S. 20-27. Bibliographie: Coenen, E. (1964): La „Konjunkturforschung" en Allemagne 1925 - 1933, Paris/Louvain.

Apel, Hans Quellen: Archiv Universität Frankfurt; Stadtarchiv Frankfun; AER; Cattell, J. (Hrsg.) (1942): Directory of American Scholars, Lancaster, P.A. Bernd Kulla

Apel, Hans, geb. 23.8.1895 in Könitz (Westpreußen), gest. 1989 in Wien Sohn der jüdischen Familie Appelbaum. Nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg studierte Apel von 1919 bis 1921 an der Universität Berlin und übernahm 1925 die Geschäftsführung eines großen Berliner Unternehmens. Apel mußte 1935 über die Niederlande nach Großbritannien emigrieren. 1937 erfolgte die Emigration in die USA. Im Jahre 1942 nahm Apel ein Graduierten-Studium an der Boston University auf, an der er 1945 bei C.P. Huse mit der Arbeit Outline of α Dynamic Theory of Income promovierte. Von 1945 an arbeitete er an der Bostoner Universität zunächst als Lecturer und als Instructor, bis er dort 1947 zum Assistant Professor ernannt wurde. Seine akademische Karriere setzte sich fort als Associate Professor am Middlebury College (1948 bis 1949) und von 1950 bis 1961 als ordentlicher Professor und Chairman der Volkswirtschaftlichen Fakultät der Universität Bridgeport (Connecticut), von der er 1961 emeritiert wurde. Apel lebte und arbeitete später u.a. wieder in Berlin. Er starb 1989 in Wien. Während die Schriften vieler Wissenschaftler vor ihrer Emigration in deutsch und danach - manchmal ausschließlich - in der Sprache ihres Zufluchtlandes abgefaßt wurden, findet sich bei Hans Apel eine umgekehrte Entwicklung. Da er seine wissenschaftliche Karriere erst in den USA begann, waren neben seiner Dissertation die ersten seiner Veröffentlichungen in englischer Sprache abgefaßt. Doch gegen Ende seiner Karriere, insbesondere nach seiner Emeritiemng, veröffentlichte Apel fast ausschließlich auf deutsch. Neben den vier Monographien, die er nach der Emeritierung noch in seiner Muttersprache verfaßte, schrieb er ab Mitte der sechziger Jahre regelmäßig in den Frankfurter Heften. Auch bei der Wahl des Forschungsgegenstandes läßt sich für die späteren Lebensjahre bei Hans Apel ein deutlicher Bruch feststellen. Zunächst veröffentlichte Apel Forschungsarbeiten zu wirtschaftstheoretischen Aspekten auf verschiedenen Gebieten. Seine wichtigste Publikati-

on hierzu erschien 1948 im American Economic Review zur 'cost-curve controversy'. Er analysierte darin die verschiedenen empirischen Studien, wie z.B. die von Hall und Hitch, die den Grenzkostenverlauf der Firma zum Gegenstand haben. Apel lehnte aufgrund der empirischen Schwächen der meisten Arbeiten das dort beschriebene Ergebnis ab, daß die Grenzkostenkurve horizontal verläuft und forderte, bei der konventionellen Auffassung der veränderlichen Grenzkosten zu bleiben. Deshalb kritisierte er auch ausführlich die Implikationen, die Befürworter dieser Studien (wie z.B. Alvin Hansen) hiervon ableiteten. Eine andere relevante wirtschaftstheoretische Arbeit beschäftigte sich mit den Auswirkungen von freiwilligen und staatlichen Beschränkungen der Lohnpolitik bei gleichzeitigem Auftreten von Rezession und Inflation, ein Thema, das erst einige Zeit später unter dem Begriff 'Stagflation' Karriere machen sollte (1960). Behandelt wurde dabei auch eine Modifikation der produktivitätsorientierten Lohnpolitik, die nach Apels Auffassung Unterschiede der sektoralen Produktivitätsniveaus berücksichtigen sollte. Wie so viele Ökonomen, die in dieser Zeit tätig waren, sind auch Apels wissenschaftliche Fragestellungen von Diskussionen im Gefolge der keynesianischen Revolution geprägt. Dies zeigt sich in Apel (1956), worin die wachstumseuphorischen Überlegungen zur Produktivitätsentwicklung mit den Warnungen vor einer möglichen mangelnden effektiven Nachfrage, die die Wachstumspotentiale unausgeschöpft ließe, verknüpft sind. Apels Forschungen wandten sich ab Mitte der sechziger Jahre einem anderen Feld zu. Fragen zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation der sozialistischen Länder und der Vergleich der konkurrierenden politischen Systeme dominierten von da an seine Schriften. Nach seiner Emeritierung 1961 reiste Apel mehrfach in diese Länder, um selber vor Ort Befragungen der Bevölkerung vorzunehmen. Die erste in der Reihe solcher Forschungen ergab sich, als er von 1962 bis 1967 die einem westlichen Beobachter nie zuvor gewährte Gelegenheit erhielt, in unüberwachten und vertraulichen Gesprächen mit fast 1000 Bewohnern der DDR Interviews über deren Lebensverhältnisse zu führen (1965 und 1967). Er kam zu dem Ergebnis, daß man in beiden politischen Lagern jeweils Opfer einer Selbsttäuschung über die Beurteilung der Lebensverhältnisse in

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A pel, Hans den Planwirtschaften war. Im Osten suche man den falschen Vergleich mit westlichen Ländern, die durch ungleiche Startbedingungen auf einem viel höheren Entwicklungsstadium waren, während man sich im Westen einrede, „die 'sozialistische' Gesellschaftsordnung sei unfähig, einen dem westlichen Standard entsprechenden allgemeinen Wohlstand zu schaffen und zu sichern" (1976, S. 20). Apel hielt es seinerzeit für nicht unmöglich, daß der Unterschied im Wohlstand der breiten Massen schon in einem weiteren Jahrzehnt verschwinden könnte. Er betonte in diesem und anderen Aufsätzen, dafi vor allem die Ungleichheit der Einkommensverteilung in den osteuropäischen Ländern wesentlich geringer sei und dafi sich z.B. in der DDR ein relativ hohes Wirtschaftswachstum unter geringeren Schwankungen und ohne Inflation vollzogen habe. Sein Fazit lautete deshalb, daß der Westen dies zur Kenntnis zu nehmen und den „alten schönen Mythos vom völligen Versagen 'sozialistischer' Wirtschaftsplanung endgültig zu begraben" hätte (1976, S. 23). Hinsichtlich der politischen Situation stellte Apel unmittelbar vor der 1967 von der DDR-Führung proklamierten 'Staatsbürgerschaft der DDR' fest, dafi im Gegensatz zu der in der Bundesrepublik verbreiteten Auffassung die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der DDR (nämlich 68-73%) sich mit ihrem Staat und Regime identifizierten (vgl. 1967). Den Erhebungen in der DDR folgten Reisen und Untersuchungen in der CSSR, Rumänien und Bulgarien sowie - für einen direkten Vergleich mit letztgenanntem Land - in Griechenland (1974). Im Alter von immerhin 80 Jahren unternahm Apel noch eine illegale Reise von mehr als sechstausend Kilometern durch die Sowjetunion, auf der er im Geheimen 200 durch eine Zufallsauswahl auf öffentlichen Plätzen, Parks oder in Gaststätten ermittelte Bürger persönlich nach ihren Lebensumständen befragte (1976). Er stellte dabei fest, daß die Behauptung, das US-amerikanische Durchschnittseinkommen sei etwa zehn bis zwanzigmal so hoch wie das sowjetische Einkommen, stark übertrieben sei. Vielmehr betrage das Einkommen eines sowjetischen Durchschnittsbürgers ca. zwei Drittel dessen, was ein Amerikaner durchschnittlich verdient. Der Einschnitt im wissenschaftlichen Wirken Hans Apels, der sich nach der Beendigung seiner akademischen Anstellung in den USA vollzog, ist von nicht geringem Ausmaß. Bewegte sich Apel

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zunächst auf traditionellen wirtschaftswissenschaftlichen Bahnen, so exponierte er sich mit dem Wechsel seines Forschungsgegenstandes politisch in einer Weise, die deutlich gegen die vorherrschende Auffassung insbesondere in der damaligen Bundesrepublik Deutschland gerichtet war. Dennoch liegt es fem, ihm eine generelle Befürwortung der sozialistischen Staaten oder gar eine Anhängerschaft von kommunistischen Ideen zu unterstellen. Vielmehr konnte Apel die politischen Systeme, die Europa in der Mine spalteten, mit einem ideologischen Abstand betrachten, den er aus seiner Emigrationszeit mitbrachte und der ihn 'open-minded' in bester amerikanischer Tradition hatte werden lassen. (Die Zeitschrift Challenge bezeichnete ihn einmal als „frequent contributor of 'troubling' articles" (Juni 1965)). Man gewinnt beim Studium von Apels Schriften vor allem den Eindruck, daß es ihm um Beiträge zum vorurteilsfreien Verständnis der politischen und sozialen Situation der dem anderen System angehörenden Länder ging; auch um damit die potentiellen Gefahren, die aus der Blockkonfrontation enstehen konnten, zu entschärfen. Als politisch unabhängiger Gelehrter scheute sich Apel auch nicht, unorthodoxe Vorschläge zu unterbreiten, wie das z.B. in der Berlin-Frage der Fall war (vgl. 1966). Mit zunehmenden Jahren stand Apel den sozialistischen Ländern jedoch auch politisch immer weniger ablehnend gegenüber, wie seine Ausführungen über die Menschenrechtsfrage zeigen (vgl. 1979). Schriften in Auswahl: (1945) Outline of a Dynamic Theory of Income, Boston University (Diss.). (1948) Marginal Cost Constancy and its Implications, in: American Economic Review, Bd. 38, No. 5, S. 870-885. (1956) Growth Trends in Productivity, Consumption, and Investment, in: Social Research, Bd. 23, S. 127-150. (1960) Prices and Wages in Recession. Legal versus Voluntary Restraints, in: Social Research, Bd. 27, H. 2, S. 157-182. (1965) Ohne Begleiter - 287 Gespräche jenseits der Zonengrenze, Köln. (1966a) Spaltung. Deutschland zwischen Vernunft und Vernichtung, Berlin. (1966b) Wehen und Wunder der Zonenwirtschaft, Köln.

Arndt, Heinz Wolfgang (1967) (1974)

(1976)

(1979)

Die DDR: 1962 - 1964 - 1966, Ber-

Diese Arbeit - lange vor W.A. Lewis' Economic

lin.

Survey 1919 - 1939 (1949) erschienen - war eine

Neue Perspektiven im Wettstreit der

der bedeutendsten systematischen ökonomischen

Systeme, in: Frankfurter Hefte, 29.

Studien über die Zwischenkriegszeit. Für die wirt-

Jg., H. 6, S. 401-413 und H. 7, S.

schaftliche Situation in Europa machte Arndt

499-511.

hauptsächlich den durch die Wirtschaftskrise in

Sowjetischer Lebensstandard. Ergeb-

den USA ausgelösten externen Schock verant-

nisse einer geheimen Umfrage, in:

wortlich, der zu sinkenden Kapitalimporten und

Frankfurter Hefte, 31. Jg.. H. 10, S.

plötzlich abbrechenden Exporten führte. Die ein-

11-23.

setzende deflationäre Spirale wurde in den mei-

Über Menschenrechte, in: Blätter für

sten Ländern durch eine restriktive Finanzpolitik

Deutsche und Internationale Politik,

verschärft. Die nationalen Regierungen reagierten

24. Jg.,S. 1219-1235.

auf die angewachsene Arbeitslosigkeit mit einer

Quellen: BHb I; Biographische Notizen in div. Ausgaben der Frankfurter Hefte. Hagen Krämer

'beggar my neighbour policy', indem sie ihre Außenhandelsbilanz auf Kosten ihrer Handelspartner zu verbessern suchten. Einige Länder versuchten, die Wirtschaft mit 'cheap money' und niedrigen Zinsen wieder anzukurbeln. Beide Maßnahmen

Arndt, Heinz Wolfgang, geb. 26.2.1915 in Breslau Der Vater, Fritz Arndt, Professor für Chemie in Breslau, wurde im April 1933 seiner teilweise jüdischen Herkunft wegen entlassen. Noch im gleichen Jahr wurde er nach England eingeladen, und die Familie emigrierte nach England. In Oxford nahm Heinz W . Arndt bald darauf am Lincoln College das Studium der Philosophie und der Wirtschaftswissenschaften auf, spezialisierte sich jedoch auf die Politischen Wissenschaften und erwarb 1936 den Bachelor of Arts mit first class honours, 1938 den Grad des Bachelor of Literature. Ein Levertiulme Forschungsstipendium ermöglichte ihm die Fortsetzung seiner Studien an der London School of Economics. 1941 erhielt er den Master of Aits und wurde anschließend Research Assistant an dem unter 'Chatham House' bekannt gewordenen Royal Institute of International Affairs (vgl. Eßlinger 1999). Im Auftrag eines Komitees für den Wiederaufbau nach dem Krieg unter dem Vorsitz von Paul N. Rosenstein-Rodan sollte Arndt eine Bestandsaufnahme der ökonomischen Lehren in den dreißiger Jahren anfertigen. Die Kommission, die aus namhaften Ökonomen wie u.a. J.M. Fleming, R.F. Harrod, H.D. Henderson und zeitweilig auch J.E. Meade und Joan Robinson zusammengesetzt war, fand allerdings über das Ergebnis der Studie keinen Konsens und beschloß deswegen, Arndt als Alleinautor von The Economic Lessons of the Nineteen-Thirties (1944) anzugeben. Damit machte Arndt sein Debüt als bald weltbekannter Ökonom.

mußten nach Arndt scheitern, weil die Ursache der Krise in mangelnder effektiver Binnennachfrage begründet lag. Aus der Krisensituation in den 1930er Jahren folgerte Arndt, daß für den geordneten internationalen Ablauf der Weltwirtschaft sowohl nationale Stabilität unter Vollbeschäftigung als auch international abgestimmte Investitions- und Handelsprogramme notwendig seien. Dem ökonomischen Vorteil der internationalen optimalen Arbeitsteilung stehe der soziale und ökonomische Nachteil der Instabilität gegenüber. Es müsse ein politischer Kompromiß gefunden werden zwischen der Unumgänglichkeit von Wandel und Anpassung über Märkte einerseits und dem Wunsch nach einer Reduktion der inhärenten Instabilität des Marktmechanismus andererseits. Arndts Lessons wurden 1963 und 1993 wiederaufgelegt sowie 1949 ins Italienische und 1978 ins Japanische übersetzt. Von 1943 bis 1946 hielt Arndt als Assistant Lecturer von John Hicks an der Universität Manchester die Vorlesungen zu dessen Buch The Social Framework und gab Kurse in makroökonomischer Theorie. Das Angebot einer Stelle als Senior Lecturer an der Universität Sydney führte ihn dann 1946 nach Australien. 1951 wurde er Ordinarius für Ökonomie am Canberra University College, wo er bis 1963 u.a. die Grundlagen der MakroÖkonomik lehrte. Von 1963 bis zu seiner Emeritierung 1980 wirkte er als Professor und Head of Department of Economics der Research School of Pacific Studies an der Australian National University in Canberra.

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Arndt, Heinz Wolfgang Sein politisches Engagement führte Arndt unmittelbar nach seiner Einwanderung zur australischen Arbeiterpartei. Als Mitglied der Fabian Society erachtete er die Umverteilung des Volkseinkommens über ein entsprechend ausgestaltetes Steuersystem fur notwendig. Ein keynesianisches Nachfragemanagement in Verbindung mit Preiskontrollen müBte die immer wiederkehrende Massenarbeitslosigkeit in kapitalistischen Systemen bekämpfen. Im Laufe der Zeit sollte Arndt von dieser Haltung jedoch zunehmend Abstand gewinnen, weil sie sich in seinen Augen für eine Volkswirtschaft wachstumshemmend auswirkt. Bis 1963 war er zusammen mit anderen 'Senior Professional Economists' informeller Berater der australischen Zentralbank. 1953 bekleidete Arndt an der University of South Carolina eine Gastprofessur. Auf dem Flug dorthin lernte er Gunnar Myrdal kennen, der Arndts Interesse auf Fragen des wirtschaftlichen Wachstums und der Entwicklung lenkte. 1960 leitete er auf Empfehlung Myrdals eine Studie der ökonomischen Kommission der Vereinten Nationen UN-ECE in Genf über Wachstum in Europa. Zeitweilig beriet er im Bereich Entwicklungspolitik tätige Unterorganisationen der Vereinten Nationen (UNCTAD, UNIDO). 1972 leitete er als Deputy Director den Bereich Länderstudien bei der OECD in Paris und verfaBte selbst die erste Studie über Australien. Von 1969 bis 1975 war er Mitglied des Governing Council des United Nations Asian Institute for Economic Development and Planning und 1980 Chairman der Expert Group on Structural Change and Economic Growth des Commonwealth-Sekretariats. 1965 gründete Arndt das Bulletin of Indonesian Economic Studies, dessen Herausgeber er bis 1983 blieb. Bis 1975 hat er zwanzig Jahre lang den Economic Record redaktionell begleitet. Seit 1987 betreut er die Zeitschrift Asian-Pacific Economic Literature, ein Forum für Ökonomen im asiatisch-pazifischen Raum. Im September 1994 ehrte ihn die Economic Society of Australia als einfluBreichsten Entwicklungsökonomen Australiens. Arndts Lebenswerk kann unter drei jeweils erweiterten Blickwinkeln gesehen werden. Die erste Sicht stellt Arndt als australischen Ökonomen dar. Im Laufe der Zeit nickte er immer mehr entwicklungsökonomische Aspekte in den Vordergrund, die ihn schließlich zu einem bekannten Entwicklungsökonomen werden ließen (vgl. 1993; vgl. auch Groenewegen/McFarlane 1990, S. 180-184).

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In seinem Spätwerk hingegen beschäftigt er sich mit der Dogmengeschichte des langfristigen Wachstums. Darüber hinaus galt Arndts Interesse seit Anfang der 1940er Jahre dem Gebiet der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Einen umfassenden Überblick über diese Arbeiten bietet seine Aufsatzsammlung Essays in International Economics, 1944 - 1994 (1996). In seiner Antrittsrede am Canberra University College 1951 mit dem Titel The Unimportance of Money und dreier darauf aufbauender Vorlesungen an der Universität von Istanbul reduzierte Arndt in seiner damaligen orthodox keynesianischen Sichtweise die Rolle der Geldpolitik auf Gewährleistung einer ausreichenden Kreditversorgung. Sein Lehrbuch The Australian Trading Banks (1960) blieb in der überarbeiteten zweiten Auflage, der noch weitere Neuauflagen folgten, bis zur Bankenreform 1980 ein Standardnachschlagewerk über das Finanzsystem. Darin finden sich kritische Gedanken und Vorstellungen zu den wechselseitigen Beziehungen zwischen Bankensystem, Kapitalmarkt und der australischen Geldpolitik. Seine frühere, interventionistische Haltung in der Wirtschaftspolitik betrachtet Arndt heute in einem dogmenhistorischen Kontext. Anläßlich eines bei der Australischen Nationalbank gehaltenen Vortrage revidierte er seine früheren Annahmen und betonte die zentrale Bedeutung der Geldpolitik für die kurzfristige Stabilisierung der Ökonomie, die Inflationsbekämpfung und die Erzielung eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts (vgl. 1992, S. 34f.). Hierin wird nicht nur seine Abkehr von linkskeynesianischen Positionen in der Geldpolitik deutlich, sondern auch die Zeitgebundenheit des ökonomischen Denkens. Zahlreiche Beiträge Arndts in den fünfziger und frühen sechziger Jahren beschäftigten sich insbesondere mit Stabilität, Wachstum und Entwicklung der jungen Industrienation Australien. Das Land sah sich typischen Entwicklungsproblemen ausgesetzt. Im wesentlichen litt es an einem inflationären Druck aufgrund der Überbeschäftigungssituation im industriellen Sektor und an massiven Zahlungsbilanzungleichgewichten. Das entscheidende Merkmal der australischen Wirtschaftspolitik war Protektionismus: Einfuhrzölle auf industrielle Fertigprodukte zur Kompensation der in zentralisierten Verhandlungen festgesetzten hohen Löhne.

Arndt, Heinz Wolfgang Noch bevor die Labour Party 1972 die lange konservative Ära in Australien für drei Jahre unterbrach, beendete Arndt seine Mitgliedschaft in der Partei. Er wandelte sich vom jungen Marxisten und langjährigen Keynesianer insbesondere im Hinblick auf weniger entwickelte Länder zum Vertreter der marktliberalen monetaristischen Theorie. Ein Sammelband seiner Werke über Australien, A Small Rich Industrial Country (1968) betont die besondere geographische Lage Australiens. Diese führe jedoch zu einer ebensolchen Verantwortung für eine Zusammenarbeit im südpazifischen Raum. Hier wird der allmähliche Wandel von einem spezifisch australischen zu einem eher südostasiatischen und pazifischen Denken deutlich. Mit zunehmender Mathematisierung der Theorie und komplizierter werdenden ökonometrischen Testverfahren wählte Arndt verstärkt das Gebiet der angewandten Feldstudie für seine Arbeit. Seine eher praxisorientierte Vorgehensweise und sein Interesse an Indonesien ließen ihn zu einer Autorität in der Entwicklungsökonomik werden. Zahlreiche Artikel im Bulletin of Indonesian Studies geben davon Zeugnis. Das Bulletin beginnt stets mit einem „Survey of Recent Developments". Mit der Machtübernahme durch Präsident Suharto war es der indonesischen Regierung gelungen, das Land ökonomisch zu stabilisieren und wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Von 1966 bis 1981 verfaßte Arndt 17 Surveys, die diese Entwicklung dokumentierten und zu deren Fertigstellung er zu Beginn jeweils vier und später zwei Wochen Indonesien bereiste. Arndt erweiterte die Theorie der internationalen Kapitalbewegungen um die Wicksellsche Unterscheidung in Markt- und natürlichen Zins. Überaus hohe Geldmarktzinsen, bedingt durch enorme Risikoprämien aus Mangel an kredittechnischen Institutionen in Entwicklungsländern, behinderten die Investitionstätigkeit. Kapitalakkumulation werde durch zu kleine Märkte wegen der geringen pro-Kopf-Einkommen und durch mangelnden Unternehmergeist erschwert. Eine Möglichkeit zur Durchbrechung dieses Teufelskreises der Armut sah Arndt in staatlich unterstützten Investitionen multinationaler Unternehmungen. Für Entwicklungsländer mit ihrer typischerweise unelastischen Angebotsstruktur und kreditrationierten Finanzmärkten sei eine rein keynesianische Politik des Demand Management verfehlt.

Ende der 1960er Jahre wandte sich die Entwicklungsökonomik von der Importsubstitution als Wachstumsstrategie der Entwicklungsländer allmählich ab. Befürwortet wurden verstärkt exportorientierte Strategien. Die von Raul Prebisch und -» Hans W. Singer aufgestellte These von der säkularen Verschlechterung der Terms of Trade und Myrdals Ansicht, internationaler Handel verstärke Ungleichgewichte zwischen unterschiedlich entwickelten Regionen, weil sich im Zentrum positive und in der Peripherie negative Effekte kumulieren, verlangten nach einer schnellen Industrialisierung der Entwicklungsländer, die durch Abschirmung junger Industrien nach außen erreicht werden sollte. Doch die für das Wachstum der jungen Volkswirtschaften unersetzbaren Importe konnten nicht ausreichend durch Exporte finanziert werden. Mit der Idee des 'General Scheme of Tariff Preferences' stellte Arndt dar, welche Güter die Industrieländer neben Rohstoffen von den Entwicklungsländern einführen sollten, damit massive Zahlungsbilanzprobleme vermieden werden konnten. Andererseits bestand die Gefahr, daB durch die Abschirmung vor internationaler Konkurrenz die Produkte der Entwicklungsländer international nicht wettbewerbsfähig waren. Arndt wies daher auf die zu kleinen, zollgeschUtzten nationalen Märkte der Dritten Welt hin, denn ihnen fehle der Zwang zum effizienten Wirtschaften und die effektive Nachfrage zur Nutzung von Skalenerträgen in der Produktion. Die Strategie der Importsubstitution raube der inländischen Wirtschaft jene Dynamik, die die kleinen Tiger im asiatischen Raum in der Tradition Japans demonstrierten. In den achtziger Jahnen publizierte Arndt einige Arbeiten, die sich im historischen Überblick mit Wachstum und Entwicklung auseinandersetzten. In The Origins of Structuralism (1985) verortete er den Ursprung des insbesondere in Lateinamerika vertretenen strukturalistischen Ansatzes bei den linken Exponenten dieser Ideen in der britischen Planung- vs. Marktdebatte der 1930er und 1940er Jahre. Der Erste Weltkrieg hatte der Weltwirtschaft einen radikalen Bruch im stetigen strukturellen Wandel gebracht. Außerordentliche außenwirtschaftliche Ungleichgewichte hatten sich aufgebaut. In dieser Situation versagte der Marktmechanismus in drei Bereichen: (1) monopolistisch verzerrte Preise setzten falsche 'Signale', (2) die Produktionsfaktoren reagierten auf Preissignale ungenügend oder gar pervers und (3)

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Arndt, Heinz Wolfgang die Produktionsfaktoren erwiesen sich als immobil (vgl. 1985, S. 151f.). Dieses Marktversagen hatte Arndt bereits in den Lessons (1944, S. 9 und 293) analysiert und damals Maßnahmen der staatlichen Wirtschaftsplanung vorgeschlagen, um diese Störungen zu beseitigen (vgl. ebd., S. 297). Somit hatte er, wie er rückblickend eher verlegen formulierte, die erste vollständige Darlegung jener Theorie geliefert, die später als Strukturalismus bekannt wurde (vgl. 1985b, S. 152), denn das Versagen der Marktkräfte, insbesondere des Preismechanismus, führte auch in den Strukturalismushypothesen der 1950er Jahre zur Forderung nach administrativen Maßnahmen mit Eingriffen in die Produktionsstmktur der Entwicklungsländer. Das Werk The Rise and Fall of Economic Growth (1978) dokumentiert die geschichtliche Entwicklung der gesellschaftlichen Beurteilung von wirtschaftlichem Wachstum in den Industrieländern. Es führt von Adam Smith über das 19. Jahrhundert bis in die frühen 1970er Jahre, in denen die Grenzen des Wachstums in den Vordergrund nickten. Am Ende plädierte Arndt für fortgesetztes Wachstum, wenn auch mehr in qualitativer als in quantitativer Hinsicht. 1987 griff er dieses Thema mit Blick auf die Entwicklungsländer in Economic Development - The History of an Idea erneut auf. Es bliebe der Dritten Welt als der großen Verliererin der 1980er Jahre allein anhaltendes Wachstum zur Steigerung des oft menschenunwürdigen Lebensstandards übrig. Stete Modernisierung durch laufende Verwendung neu entwikkelter Gerätschaften und Techniken solle auf der Mikroebene ein breites sozial ausgerichtetes Wachstum ermöglichen. Bildung, Infrastruktur und ökonomische Institutionen zur Förderung moderner Technologien würden ein 'Sustainable Growth' gewährleisten. Die Emigration erlaubte Arndt zuerst eine Ausbildung in Oxford, dann die für ihn äußerst fruchtbare Zusammenarbeit mit großen Ökonomen seiner Zeit und schließlich von Australien aus ein großes Engagement im asiatisch-pazifischen Raum auf entwicklungsökonomischem Gebiet. Die Aussparung mathematischer und quantitativer Techniken verhalfen seinen anregenden Ideen zu einer über die akademische Fachwelt hinausgehenden Verbreitung.

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Schriften in Auswahl: (1944) The Economic Lessons of the Nineteen-Thirties. Α Report Drafted by H.W. Arndt. Issued under the Auspices of the Royal Institute of International Affairs, London. (1951) The Unimportance of Money. Inaugural Lecture. Canberra University College, Canberra. (1954) A Suggestion for Simplifying the Theory of International Capital Movements, in: Economia Intemazionale, Bd. 7, S. 469-481. (1960) The Australian Trading Banks, 2.

(1968)

(1978)

(1985a) (1985b)

(1987) (1992)

(1993) (1996) (1997)

Aufl., Melbourne; 4. Aufl. 1973, 5. Aufl. 1975. A Small Rich Country. Studies in Australian Development, Trade and Aid, Melbourne. The Rise and Fall of Economic Growth. A Study in Contemporary Thought, Melbourne. A Course Through Life: Memoirs of an Australian Economist, Canberra. The Origins of Structuralism, in: World Development, Bd. 13, S. 151159. Economic Development - The History of an Idea, Chicago. Comments on Mr. Fraser, in: Economic Papers. Economic Society of Australia, Bd. 11, Nr. 4, S. 33-35. 50 Years of Development Studies, Canberra. Essays in International Economics, 1944 - 1994, Aldershot. Economist Down Under, in: H. Hagemann (Hrsg.), Zur deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, Marburg, S. 151176.

Bibliographie: Drake, P./Gamaut, R. (1995): H.W. Arndt - Distinguished Fellow, in: The Economic Record, Bd. 71, S. 1-7. Eßlinger, H.U. (1999): Entwicklungsökonomisches Denken in Großbritannien. Zum Beitrag der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, Marburg.

Aubrey, Henry G. Groenewegen. P./McFarlane, B. (1990): A History of Australian Economic Thought, London/New York. Lewis, W.A. (1949): Economic Survey 19191939, London. Quellen: BHb II; AEA; NP. Christian Braun

Aubrey, Henry G., geb. 6.4.1906 in Wien, gest. 1.3.1970 in Bronxville, New York Aubrey promovierte 1928 an der Universität Wien zum Dr.rer.pol. Nach der Emigration nach Großbritannien, wo er als Regional Manager einer Londoner Gummifirma beschäftigt war, kam er 1939 in die USA. Bis 1950 war er in der Leitung zweier Privatuntemehmen in New York tätig, unterbrochen durch den Militärdienst in der U.S. Navy von 1943 bis 1945. Er nahm 1946 parallel zu seiner privatwirtschafUichen Tätigkeit ein Postgraduiertenstudium an der New School for Social Research auf, das er 1949 abschloB. Aubrey, der bis auf seine letzten Lebensjahre keine feste universitäre Anstellung hatte, war in den 1950er Jahren hauptsächlich als Berater und Ökonom bei nationalen und internationalen Organisationen und Institutionen tätig. In den Jahren 1950 und 1952/53 arbeitete er als Consultant des Department of Economics bei den Vereinten Nationen, wechselte danach als Economist ins Research Department der Federal Reserve Bank of New York und leitete von 1956 bis 1959 ein Forschungsprojekt im Bereich der Economics of Competitive Coexistence der National Planning Association. 1959 bis 1966 war er Visiting Research Fellow des Council of Foreign Relations und danach Senior Fellow des European Institute der Columbia University. Neben seiner Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung war Aubrey als Gastprofessor in der akademischen Lehre und Forschung tätig. Von 1950 bis 1952 hatte er eine Stelle als Research Associate am Institute of World Affairs der New School inne. An deren Graduate Faculty lehrte er ab 1950 auch regelmäßig als Visiting Lecturer und später als Visiting Professor. 1961/62 erhielt er an der Columbia University zunächst ein Visiting Professorship, dann jedoch die Stelle eines Adjunct Professor. Er wechselte 1965 ans Sarah Lawrence College in Bronxville, NY, wo er bis zu

seinem Tode eine Position als Professor of Economics innehatte. Aubreys wissenschaftliche Publikationen konzentrieren sich auf den Bereich der Entwicklungsökonomie und die damit eng verbundenen Gebiete der internationalen Handelsbeziehungen sowie der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Obwohl er in die rein akademischen Forschungsinstitutionen nur locker eingebunden war, sind seine Arbeiten durch originelle und innovative Einsichten gekennzeichnet. Im Rahmen des Forschungsprojekts Financing World Economic Development am Institute of World Affairs entstanden einige Aufsätze (1949,1951a und b), von denen insbesondere Small Industry in Economic Development (1951a) die in der frühen entwicklungsökonomischen Diskussion weitgehend vernachlässigten Entwicklungsmöglichkeiten durch den Auf- und Ausbau der Kleinindustrie thematisierte - eine Entwicklungsstrategie, die erst durch -» E. F. Schumachers Small is Beautiful (1973, insbes. S. 186 ff.) zwei Jahrzehnte später „populär" wurde. Unter Berücksichtigung der spezifischen ökonomischen Voraussetzungen in den Entwicklungsländern - wenig entwickelte Kapitalmärkte, Kapitalknappheit, die zu geringe Zahl ausreichend qualifizierter Arbeitskräfte - empfahl Aubrey den „größtmöglichen Einsatz dezentralisierter kleinindustrieller Einheiten" (1951a, S. 297). Im Gegensatz zu den kapitalintensiven Industrialisierungsstrategien des sowjetischen Typs, die staatliche Zwangsmaßnahmen und einen außerordentlich hohen Planungsaufwand erforderten, sah er die Möglichkeit, auf lokaler Ebene kleinere, ansonsten ungenutzte Kapitalmengen für die (Klein-)Industrialisierung zu mobilisieren, dadurch den Gesamtkapitalbestand zu erhöhen und gleichzeitig die Gemeinkosten für den Planungs- und Verwaltungsapparat zu senken. Ferner sei durch die arbeitsintensiveren Produktionsmethoden bei einem begrenzten Kapitalangebot ein höherer Gesamtoutput (S. 297) sowie die Steigerung der effektiven Nachfrage möglich (S. 304). In seinen beiden Beiträgen Investment Decisions in Underdeveloped Countries (1955b) und Industrial Investment Decisions (1955a) untersuchte Aubrey die ökonomischen, organisatorischen und institutionellen Determinanten von Investitionsentscheidungen in Entwicklungsländern. Er sah den ursprünglichen Schumpeterschen Typ des 'innovativen' Unternehmers in den Entwicklungsländern durch den Typus des 'adaptiven' Untemeh-

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Aumann, Robert John mers ersetzt, dessen Leistung im Herausfinden und Anwenden der am besten geeigneten unter den bereits bekannten Technologien bestehe (1955b, S. 400 ff.). Aubrey argumentierte dann auf der Grundlage erhöhter Unsicherheit und eines höheren Investitionsrisikos des individuellen Unternehmers in Entwicklungsländern, der sich neben kleinen Absatzmärkten auch Restriktionen auf der Inputseite des Unternehmens gegenübersehe (1955b, S. 423 ff.). So sei es also, wie auch -» Hirschman (1958, S. 3) betonte, nicht ein genereller Mangel an (Schumperterschen) unternehmerischem Potential, der eine rasche Industrialisierung behindere. Vielmehr wandere das unternehmerische Potential aus Gründen der Unsicherheit und verkürzter Planungshorizonte zu vertrauteren kleingewerblichen Tätigkeiten, v.a. im Bereich des Handels, ab (1955a). In seinen späteren Arbeiten widmete sich Aubrey verstärkt den außenwirtschaftlichen Aspekten von Industrialisierungs- und Wachstumsprozessen, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis der USA zu Entwicklungsländern (bereits 1955c), Westeuropa und Asien (1957, 1964). Er ergänzte damit seine frühen entwicklungsökonomischen Arbeiten um die Komponente des Außenhandels, die er unter dem zu Beginn der 1950er Jahre dominierenden Industrialisierungsansatz weniger ausführlich thematisiert hatte.

(1955c)

(1957) (1959)

(1964)

(1969)

The Long-term Future of United States Imports and its Implications for Primary-producing Countries, in: American Economic Review. Papers and Proceedings, Bd. 45, S. 270-287. United States Imports and World Trade, Oxford. Soviet Trade, Price Stability and Economic Growth, in: Kyklos, Bd. 12, S. 290-299. The Dollar in World Affairs. An Essay in International Financial Policy, New York/Evanston. Behind the Veil of International Money, Princeton.

Bibliographie: Schumacher, E. F. (1973): Small is Beautiful. Economics as if People Mattered, Reprint, New York u.a. 1989. Hirschman, A. O. (1958): The Strategy of Economic Development, New Haven. Quellen: American Men of Science, Bd. 3; Who's Who in the East, 1959; Nachruf in der NY Times, 6.3.1970; CV Aubrey (bis 1960). Hans Ulrich Eßlinger

Aumann, Robert John, geb. 8.6.1930 in Frankfurt a.M.

Schriften in Auswahl: (1949) Deliberate Industrialization, in: Social Research, Bd. 16, S. 158-182. (1951 a) Small Industry in Economic Development, in: Social Research, Bd. 18, S. 269-312. (1951b) The Role of the State in Economic Development, in: American Economic Review. Papers and Proceedings, Bd. 41, S. 266-279. (1955a) Industrial Investment Decisions. A Comparative Analysis, in: Journal of Economic History, Bd. 15, S. 333351. (1955b) Investment Decisions in Underdeveloped Countries, in: Capital Formation and Economic Growth, hrsg. vom National Bureau for Economic Research, New York (= Special Conference Series, No. 6), Princeton, S. 397-440.

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1938 emigrierte Aumann in die Vereinigten Staaten. Am ΜΓΓ, Cambridge, Mass. studierte er Mathematik. Seinen Ph.D. in Mathematik Schloß er 1955 zum Thema Knot Theory bei G.W. Whitehead ab. 1956 ging er als Dozent an die mathematische Fakultät der Hebrew University in Jerusalem, wo er 1964 Associate Professor wurde. Seit 1968 hat er dort einen Lehrstuhl inne. Seine Tätigkeit an der Hebrew University in Israel verbindet Aumann mit ständigen Forschungsaufenthalten in den USA. 1960/61 war er Forschungsassistent an der Princeton University; später hatte er eine Vielzahl von Gastprofessuren inne (etwa an der Yale University 1964/65; am Mathematical Sciences Research Institute in Berkeley, in Stanford etc.). Seit 1969 ist er regelmäßiger Gast am CORE (Center for Operations Research and Economics), Louvain, Belgien. In den Jahren 1963 und 1968 arbeitete Aumann bei der RAND Corporation in Santa Monica. Für die US Arms Control and Disarmament Agency wendete

Aumann, Robert John er spietheoretische Modelle auf Abriistungsfragen an Seit 1965 ist er Fellow der Econometric Societj. 1988 verlieh die Universität Bonn ihm die Ehrendoktorwürde; 1989 erhielt er von der Univeriti Catholique de Louvain den Ehrendoktor. Nicht ziletzt sein Interesse an politischen und sozialen fragen hat den Mathematiker Aumann zur Beschätigung mit der Spieltheorie inspiriert. Aumann k einer der fuhrenden Vertreter dieser Disziplin ρ worden. Er hat zum einen eine ganze Reihe gruidlegender Beiträge zur Entwicklung der Spielthiorie geliefert. Zum anderen hat er es aber auch inmer verstanden, in bemerkenswerter Klarheit de wesentlichen spieltheoretischen Ideen auch dsn mathematisch weniger versierten Ökonomennahe zu bringen (vgl. etwa den inspirierenden Alfsatz: What is game theory trying to accomplih? (1986)). Zusammen mit Sergiu Hart ist er Heraisgeber des zweibändigen Werkes Handbook qj Game Theory (1993). Sein intellektuelles Intereste an Fragen des Judentums führte zu dem gemeiisam mit Michael Maschler verfaßten Aufsatz Gone theoretic analysis of a bancruptcy problem fnm the talmud (1985a). In seintm Aufsatz Markets with a continuum of traders (1964) weist Aumann nach, daB der 'Kem' siner Ökonomie mit der Menge aller Wettbewertsgleichgewichte zusammenfällt, wenn man ein 'lOnbnuum von Wirtschaftssubjekten' betrachtet Schon Edgeworth zeigte, da£ unter bestimmtm Bedingungen der Kern (von ihm unter dem Begriff Kontraktkurve analysiert) zur Menge aller Gfeichgewichtsallokationen bei vollkommener Kcnkurrenz schrumpft, wenn die Zahl der Teilnehmer gegen unendlich strebt. Scarf und Debreu virallgemeinerten das Konvergenzresultat. Aumaiu verband die Idee von Scarf und Debreu mit eitern Konzept atomloser Wirtschaftssubjekte, dis von Shapley zur Analyse von Wahlverhalten altwickelt wurde. Dadurct, daB die Zahl der Wirtschaftssubjekte von Aimann von vornherein als stetig modelliert wurde, läBt sich mit Hilfe der Maßtheorie die Beziehung der Konzepte Wettbewerbsgleichgewicht und Kern unter ganz allgemeinen Bedingungen sehr eiifach ableiten. Wenn auch auf den ersten Blick de Modellierung der Wirtschaftssubjekte als atonlose Masse etwas seltsam erscheint, so verdeuticht sie doch mathematisch exakt, unter weichet Bedingungen kompetitives Verhalten überhaipt sinnvoll modelliert werden kann: näm-

lich genau dann, wenn ein einzelner keinerlei Einfluß auf die gesamtwirtschaftliche Allokation besitzt. Sein Gewicht und damit die Möglichkeit, durch strategische Manipulation Macht auszuüben, ist dann gleich null. Die Konvergenzanalyse mit diskreter Zahl von Wirtschaftssubjekten unterstellte dagegen immer, daß eine gegebene Anzahl von Typen von Wirtschaftssubjekten unendlich oft repliziert wird - eine ökonomisch sehr restriktive Annahme. Schließlich würde dies bedeuten, daß es immer sehr viele identische Individuen geben muß, damit das Konvergenzresultat zutrifft. Erst Hildenbrand (1974) gelang es, auf diese Annahme zu verzichten - allerdings erfordert das erheblich komplexere mathematische Methoden. Das zweite grundlegende Lösungskonzept für kooperative Spiele neben dem Kern ist der sogenannte 'Shapley-Wert'. Der Shapley-Wert ordnet jedem Spieler in Verhandlungssituationen einen Machtindex zu. Aumann (1975) zeigt, daß bei atomlosen Wirtschaftssubjekten im allgemeinen die Menge der Allokaüonen des Shapley-Wertes mit der Menge der Wettbewerbsallokationen zusammenfällt. Dies bedeutet, daß der Nutzen jedes Wirtschaftssubjektes gerade dem marginalen Beitrag entspricht, den er zur Wohlfahrt der Koalition aus allen Wirtschaftssubjekten leistet. Dieses Resultat, das zunächst (1974) für den Fall transferieibarer Nutzen abgeleitet wurde, hat Aumann (1975) auch auf Spiele mit nicht transferierbarem Nutzen erweitert. Das Konzept des Shapley-Wertes bei einem Kontinuum von Wirtschaftssubjekten wurde von ihm angewendet auf die Frage, welchen Wert eine Wahlstimme bei der Abstimmung über öffentliche Güter besitzt (1987b). Die meisten seiner Beiträge bestehen freilich nicht in Anwendungen der vorhandenen Instrumente, sondern gerade in der Weiterentwicklung des spieltheoretischen Instrumentariums. Aumann versteht die Spieltheorie als ein Analyseinstrument. Nicht nur bei kooperativen Spielen, sondern auch bei nichtkooperativen Spielen hat Aumann maßgeblich zu dessen methodischer Weiterentwicklung beigetragen. Aufbauend auf Arbeiten von Harsanyi zu Spielen mit unvollständiger Information entwickelte Aumann (1987a) das Konzept des 'korrelierten Gleichgewichts'. Ausgangspunkt war die Frage, welche Lösung eines nichtkooperativen Spiels zu erwarten ist, wenn die Spieler die Strategiewahl ihrer Mitspieler nicht kennen. Lange Zeit wurden Nashgleichgewichte als einzig mögliche Lösung angesehen. Wie Au-

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Baade, Fritz mann zeigt, ist jedoch die Menge möglicher Gleichgewichte größer als die der Nashgleichgewichte. Wenn alle Spieler sich als rationale Bayes-Spieler verhalten und gemeinsame Ausgangswahrscheinlichkeiten über die mögliche Strategiewahl der Mitspieler besitzen, ergeben sich als Lösung die Gleichgewichte in korrelierten Strategien. Grundlage der Analyse ist die exakte Spezifikation des gemeinsamen Wissens aller Spieler. Die Idee 'gemeinsamen Wissens' hat Aumann (1976) als erster formalisiert, angeregt durch die Arbeiten des Philosophen Lewis: Offensichtlich hänge mein Verhalten als Spieler stark von meinem Wissen darüber ab, was der Gegenspieler weiß und was dieser wiederum weiß, daß ich weiß, usw. Die Modellierung gemeinsamen Wissens hat sich als äußerst fruchtbar erwiesen. Sie ermöglicht es zu untersuchen, welche Lösungen denkbar sind, wenn jeder Spieler nur weiß, daß die anderen Spieler sich rational verhalten (rationalisierbare Strategien). Sie ermöglicht es aber auch zu analysieren, welche Lösungen denkbar sind, wenn rationales Verhalten nicht Teil des gemeinsamen Wissens ist. Dies ebnet den Weg zu neuen Ansätzen bei der Modellierung beschränkter Rationalität (1989). Schriften in Auswahl: (1964) Markets With a Continuum of Traders, in: Econometrica, Bd. 32, S. 3950. (1974) Values of Non Atomic Games, (zus. mit L.S. Shapley), Princeton. (1975) Values of Markets With a Continuum of Traders, in: Econometrica, Bd. 43, S. 611-646. (1976) Agreeing to Disagree, in: Annals of Statistics, Bd. 4, S. 1236-1239. (1985a) Game Theoretic Analysis of a Bancruptcy Problem from the Talmud, (zus. mit Μ. Maschler), in: Journal of Economic Theory, Bd. 36, S. 195213. (1985b) What is Game Theory Trying to Accomplish?, in: Frontiers of Economics, hrsg. von K. Arrow und S. Honkapohja, Oxford, S. 28-76. (1987a) Correlated Equilibrium as an Expression of Bayesian Rationality, in: Econometrica, Bd. 55, S. 1-18.

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(1987b)

(1989)

(1993)

Power and Public Goods, (zus. mit Μ. Kurz und A. Neyman). in: Journal of Economic Theory, Bd. 42. S. 108127. Cooperation and Bounded Recall. (zus. mit S. Sorin), in: Games and Economic Behaviour, Bd. 1, S. 5-39. Handbook of Game Theory, (zus. mit S. Hart), Amsterdam.

Bibliographie: Hildenbrand, W. (1974): Core and Equilibria of a Large Economy, Princeton. Quelle: Korrespondenz mit R.J. Aumann. Gerhard Illing

Baade, Fritz, geb. 23.1.1893

in Neuruppin bei Potsdam, gest. 15.5.1974 in Kiel

Als Absolvent des berühmten Schulpforta-Gymnasiums nahm Baade 1912 in Göttingen das Studium der klassischen Philologie auf. In Berlin und Heidelberg wechselte er zur Kunstgeschichte, Literatur und Theologie. Christlich erzogen - sein früh verstorbener Vater war Seminardirektor in Neuruppin - Schloß sich Baade der jungsozialistischen Bewegung an. Zum Ende des Ersten Weltkriegs, an dem er als Kriegsfreiwilliger teilnahm, immatrikulierte sich Baade in Münster als Student der Medizin. Im November 1918 wurde der Unteroffizier Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates in Essen. Der damalige Oberbürgermeister von Essen und spätere Reichskanzler Luther drängte ihn zum Studium der Volkswirtschaftslehre, das er 1919 in Göttingen aufnahm. Im Dezember 1923 wurde Baade mit einer Arbeit über das Thema Die Wirtschaftsform des Großbetriebes in vorkapitalistischer Zeit (1923b) bei J.B. Eßlen in Göttingen promoviert. Seit November 1923 war Baade als Berichterstatter über Landwirtschaft regelmäßiger Mitarbeiter der Zeitschrift Sozialistische Monatshefte, in der er seinen ersten Artikel über Die deutsche Landwirtschaft nach dem Kriege (1923a) veröffentlichte. Reichsminister Hilferding veranlaßte, daß Baade von 1925 bis 1929 (zusammen mit -» Fritz Naphtali) die Leitung der Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik der SPD sowie des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes übernahm. In diese Zeit fallen wichtige Arbeiten Baades, so z.B. das 1926 auf dem SPD-Parteitag im Kieler

Baade, Fritz Gewerkschaftshaus verabschiedete Sozialdemokratische Agrarprogramm, an dem er maßgeblich mitgewirkt hatte. In zwei Unterausschüssen des Enquete-Ausschusses wurde er Mitglied (Allgemeines und Agrarwirtschaft). In der Zeitschrift Berichte über Landwirtschaft veröffentliche Baade einen heftig diskutierten Artikel über die Neugestaltung der deutschen Branntweinwirtschaft (1927), der eine fundamentale Reform der seinerzeitigen Gesetzgebung vorschlug. Für die Weltwirtschaftskonferenz, die 1927 in Genf tagte, verfaßte Baade eine grundlegende Arbeit über Die Produktions- und Kaufkraftreserven in der europäischen Landwirtschaft und ihre Bedeutung für die Gesamtwirtschaft der europäischen Industrieländer, die Beachtung fand. Aus seiner Arbeit im Enquete-AusschuB heraus wurde Baade zum Leiter der neugeschaffenen Reichsforschungsstelle für landwirtschaftliches Marktwesen berufen. Während dieser Zeit entstanden in der Forschungsstelle grundlegende Untersuchungen über die Neugestaltung der deutschen Agrar- und Ernährangspolitik. Ende 1929 wurde Baade Kommissar der Reichsregierung bei der Deutschen Getreidehandelsgesellschaft, 1930 übernahm er einen Lehrauftrag an der Universität Berlin und wurde Vorsitzender der deutsch-polnischen Roggenkommission. Im selben Jahr kam er als SPD-Abgeordneter für den Wahlkreis Halle-Merseburg in den Reichstag, in dem er bis 1933 verblieb. In einer Artikelserie in der von -» Gustav Stolper herausgegebenen Zeitschrift Deutscher Volkswirt (1931) legte Baade als Leiter der damals umstrittenen Roggenpolitik die Grundsätze dieser Politik dar, nachdem er bereits 1928 an gleicher Stelle eine vielbeachtete Arbeit über die Entwicklungsmöglichkeiten der europäischen Landwirtschaft veröffentlicht hatte, die aus heutiger Sicht als Vorarbeit zu der Idee einer europäischen Agrarunion anzusehen ist. Die Funktion als Reichskommissar kann wohl als Höhepunkt der Tätigkeiten Baades vor dem Zweiten Weltkrieg angesehen werden. Während dieser Tätigkeit entstand 1930 Baades Schweinefibel, eine für die bäuerliche Praxis konzipierte Anleitung zum Verständnis des Hanauschen Schweinezyklus. Zwei Jahre später, 1932, erschienen Arbeiten über Das System der agrarpolitischen Mittel (1932a) sowie Verbrauchereinkommen und Landwirtschaft (1932c).

Aber Baade beschäftigte sich in den Jahren vor 1933 nicht nur mit agrarpolitischen Fragen. 1932 veröffentlichte er - zusammen mit Fritz Tamow und Wladimir Woytinsky - eine Schrift, in der er die Brüningsche Deflationspolitik kritisierte: Der Arbeitsbeschaffungsplan (1932b). Dieser als WTB-Plan bekannt gewordene Vorschlag enthielt vor allem die Idee staatlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Er stieß sowohl bei der Regierung als auch in der Führung der SPD auf Widerstand. Im März 1933 wurde Baade aus politischen Gründen aller offizieller Ämter enthoben. Er zog sich mit seiner Familie auf seinen Grundbesitz - eine Insel in der Havel bei Brandenburg - zurück und beschäftigte sich, wie schon einmal als Student während der großen Inflation in dem Göttinger Vorort Nikolausberg, als praktischer Landwirt. Im Frühjahr 1935 emigrierte er in die Türkei. Bis Ende 1939 war er als Berater der türkischen Regierung (Wirtschafte- und Landwirtschaftsministerium) für landwirtschaftliches Marktwesen tätig und in dieser Funktion für die Standardisierung landwirtschaftlicher Exportgüter zuständig. 1938 und 1939 hatte er einen Lehrauftrag für landwirtschaftliche Marktfragen an der Hochschule in Ankara. Während dieser Zeit publizierte er auch in türkischer Sprache Bücher und Aufsätze über Themen, mit denen er sich auch schon in Deutschland beschäftigt hatte. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mußte Baade die offiziellen Funktionen bei der türkischen Regierung aufgeben. Seine Existenz sicherte er sich als Standardisierungs- und Verpakkungssachverständiger vor allem für türkische Agrarexporte. In den Jahren 1944 und 1945 war er interniert. Nach Beendigung des Krieges reiste Baade 1946 in die USA, wo er im folgenden Jahr die Denkschrift The Critical Quantities of Food and Fuel in the Struggle for Europe verfaßte, die dem Committee on Foreign Affairs des amerikanischen Senats vorgelegt wurde. Darin wies Baade auf das Sinnlose einer Reparationspolitik hin, die Deutschland zum Export von Steinkohle zwang. Baade zufolge wäre es sinnvoller gewesen, die heimische Kohle primär zur Produktion von Stickstoffdünger zu verwenden, was die landwirtschaftliche Produktion erheblich hätte steigern können. Anfang 1948 veröffentlichte Baade (zusammen mit Christopher Emmet) eine Arbeit mit dem Titel Destruction at our Expense (1948a), zu

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Baade, Fritz der der frühere US-Präsident Hoover das Vorwort verfaßte. Sie war ebenfalls eine Schrift gegen die Demontagepolitik der Alliierten. Fritz Baade wurde im Frühjahr 1948 als Ordentlicher Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und als Direktor des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel berufen. Er verhalf dem Institut nach dem Krieg wieder zu neuem Leben und versuchte, im Geiste des Institutsgründers Bernhard Harms zu wirken. 1949 gründete er die Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e.V. Er revitalisierte das Erscheinen der Institutszeitschrift Weltwirtschaftliches Archiv, darüber hinaus erschienen seit 1949 die Kieler Studien als Publikationsreihe der Forschungsarbeiten des Instituts. Die Reihe Kieler Vortrüge entstand in Neuer Folge. Schließlich wurde ab 1950 Die Weltwirtschaft als Halbjahresschrift geschaffen. Als besonderes Verdienst Baades und vor allem seiner Frau Edith BaadeWolff muß die Beschaffung der Mittel für den Bau des Hauses 'Weltclub' herausgestellt werden, eines mit dem Institut für Weltwirtschaft verbundenen internationalen Gästehauses der Universität Kiel. Frau Baade hat dieses Haus organisatorisch und künstlerisch geleitet. Im Herbst 1948 wurde Baade als Vertreter des Landes Schleswig-Holstein in den Verfassungsausschuß der Ministerpräsidentenkonferenz der westlichen Besatzungszonen berufen, in dem er als Berichterstatter für Steuern und Finanzen fungierte. Von 1949 bis 1965 war er Mitglied des Deutschen Bundestages als SPD-Abgeordneter. In dieser Funktion befaßte er sich überwiegend mit agrarpolitischen Fragen. Ende 1952 erschien sein Buch Brot für ganz Europa, 1956 seine Welternährungswirtschaft. In allen seinen Arbeiten scheint Baades Grundeinstellung hindurch: die des christlich geprägten Sozialisten. Im Jahre 1960 publizierte er die vielzitierte Schrift Der Wettlauf zum Jahre 2000, in der er sich als Optimist in bezug auf die Möglichkeiten der Ernährung einer rapide wachsenden Weltbevölkerung darstellt. Später hat sich Baade auch mit Fragen der Abrüstung beschäftigt. Baade wurde 1961 emeritiert und war bis zu seinem Tode Direktor des Forschungsinstituts für Wirtschaftsfragen der Entwicklungsländer in Bonn. Er erhielt die Ehrendoktorwürde der Universitäten Kiel und Sevilla. Nach dem Kriege wurde er zum Ehrenbürger der türkischen Stadt

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Kirsehir ernannt, und eine Straße dort trägt seinen Namen. Er wurde Honorargeneralkonsul der Türkei. 1961 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz, 1970 den Kulturpreis der Stadt Kiel. Schriften in Auswahl: (1923a) Die deutsche Landwirtschaft nach dem Kriege, in: Sozialistische Monatshefte, Jg. 29, S. 657-666. (1923b) Die Wirtschaftsform des Großbetriebes in vorkapitalistischer Zeit. (1927) Neugestaltung der deutschen Branntweinwirtschaft, in: Berichte über Landwirtschaft, Bd. 5, S. 161-232. (1928)

(1931)

(1932a)

(1932b)

(1932c)

(1947)

(1948a)

(1948b)

Entwicklungsmöglichkeiten der europäischen Landwirtschaft (= Schriftenreihe des Deutschen Volkswirt, Bd. 3), Berlin. Deutsche Roggenpolitik (= Schriftenreihe des Deutschen Volkswirt, Bd. 10), Berlin. Das System der agrarpolitischen Mittel, in: Deutsche Agrarpolitik im Rahmen der inneren und äußeren Wirtschaftspolitik (= Veröffentlichungen der Friedrich List-Gesellschaft, Bd. 6.), Berlin, S. 218-296. Der Arbeitsbeschaffungsplan (zus. mit F. Tamow und W. Woytinsky). Berlin. Verbrauchereinkommen und Landwirtschaft (=Vierteljahreshefte zur Konjunkturforschung, Sonderh. 28), Berlin. The Critical Quantities of Food and Fuel in the Struggle for Europe. Committee on Foreign Affairs. 2nd Preliminary Report of Subcommittee. Nr. 2. Appendix. Destruction at Our Expense. How Dismantling Factories in Germany Helps Inflation in the United States and Sabotages the Marshall Plan (zus. mit Ch. Emmet) With a Forew. by Herbert Hoover, New York. Deutschlands Beitrag zum MarshallPlan. Ausgewählte Kapitel aus den Harriman- und Herter Reports. (= Kieler Veröffentlichungen, H. 3), Hamburg.

Bach,Yaacov (1952)

(1956) (1957)

(1958)

(1960)

(1963)

Brot für ganz Europa. Grundlagen und Entwicklungsmöglichkeiten der europäischen Landwirtschaft, Hamburg/Berlin. Welternähningswirtschaft, Hamburg. Die Lage der Weltwirtschaft und ihre Bedeutung fur die Landwirtschaft, Kiel. Weltenergiewirtschaft. AtomenergieSofortprogramm oder Zukunftsplanung?, Hamburg. Der Wettlauf zum Jahre 2000. Unsere Zukunft: ein Paradies oder die Selbstvemichtung der Menschheit, Oldenburg. Die deutsche Landwirtschaft im Gemeinsamen Markt, Baden-Baden/ Frankfurt a.M.

Bibliographie: Paetzmann, H. (1958): Fritz Baade, in: Gegenwartsprobleme der Agrarökonomie. Festschrift für Fritz Baade zum 65. Geburtstag, Hamburg, S. 115. Wilbrandt, H. (1973): Laudatio, in: Gesellschaft zur Förderung des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel (Hrsg.): Ansprachen zur Feier des 80. Geburtstages von Prof. Dr. Drs. h.c. Fritz Baade am 23. Januar 1973 im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, Kiel. Quelle: BHb I. Wolf Schäfer

Bach,Yaacov (früher: Karl Adolf), geb. 18.11.1911 inTarnowitz, Oberschlesien Nach der Volksabstimmung 1922 wurde die Stadt dem der polnischen Republik zugesprochenen Teil der Provinz einverleibt. Bachs Vater, der Kaufmann Elias Bach, betätigte sich in führenden kommunalen Aufgaben als Vertreter der deutschen Minderheit in Ost-Oberschlesien bis zum Jahre 1933. Seine Mutter Jenny stammte aus der Familie Panofsky, zu der Erwin Panofsky zählte, der als Kunsthistoriker und Dürer-Forscher 19211933 an der Universität Hamburg und nach seiner Emigration in die USA am Institute for Advanced Study in Princeton wirkte. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen 1939 wurden die Eltem, gemeinsam mit allen anderen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, nach Wartenau (Zawiercie) in

Galizien vertrieben und 1942 während des Holocaust ermordet. Der Name der Familie Bach geht auf die hebräischen Anfangsbuchstaben eines religiösen Kommentars a4YTTH-C7/ADASH („Eine neue Strophe") zurück, den ein Vorfahre, der Gelehrte Joel Serkes (1561-1640, Krakau und Lublin) verfaßte, und der bis zum heutigen Tage von den rabbinischen Autoritäten beachtet wird. Zu Bachs Vorfahren gehören noch andere bekannte Persönlichkeiten des jüdischen Geisteslebens, so der Oberrabbiner von Prag, Ezekiel Landau (1713-1783), ein scharfer Gegner der von Moses Mendelssohn vertretenen Aufklärungsphilosophie. Bach studierte in den Jahren 1929-1933 Rechtsund Staatswissenschaften an den Universitäten Berlin, Freiburg und Breslau. Zu seinen Lehrern der Nationalökonomie gehörten Karl Diehl und Werner Sombart. Ferner -» Julius Hirsch, einer der Begründer der Betriebswirtschaftslehre, sowie in der Finanzwissenschaft Emst Wagemann und Johannes Popitz, deren orthodoxe Kritik an der zu jener Zeit etwa von J.M. Keynes (Treatise on Money, 1931) eingeleiteten Abkehr von eingewurzelten Vorstellungen in der Geld- und Konjunkturlehre die akademischen Einsichten und Ratschläge vermissen ließ, durch welche die verhängnisvolle Politik der von Hans Luther gesteuerten Reichsbank hatte beeinfluBt und die verheerende und demoralisierende Massenarbeitslosigkeit hätte verringert werden können. Nach Hitlers Machtergreifung hatte Bach zwar im März 1933 in Breslau die sogenannte 'Große Hausarbeit' im Rahmen der ersten juristischen Staatsprüfung noch abliefern können; doch war er gezwungen, die Prüfung abzubrechen, da den Kandidaten jüdischer Abstammung der Zugang zu dem Gebäude des Oberlandesgerichts verweigert wurde, in dem die Klausuren und die mündliche Prüfung stattfanden. Aufgrund dieses Tatbestandes beschloß 25 Jahre später die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg Bach so zu behandeln, als ob er die erste Staatsprüfung mit Erfolg abgelegt hätte und eröffnete ihm die Möglichkeit, sich der Doktorprüfung zu unterziehen, welche er 1958 mit einer Arbeit über Die Gemüsevermarktung in Israel - Neukolonisation und Marktentwicklung (Referenten: Constantin von Dietze und Heinz Müller) 'magna cum laude' bestand.

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Bach,Yaacov Bach wanderte im Herbst 1933 nach Palästina als Student der Universität Jerusalem aus - ohne jedoch dort Studien aufzunehmen. Dem Geiste jener Pionieijahre entsprechend schloB er sich einer Gruppe aus Deutschland stammender Neueinwanderer an, die eine landwirtschaftliche Siedlung in Form einer kooperativen Dorf-Gemeinschaft in der Ebene der Haifabucht begründeten ('Kfar Bialik'). Zur Aneignung der Grundkenntnisse für die Führung einer Familienfarm verbrachte er eine Vorbereitungszeit in dem Moshav Nahalal, u.a. in der Wirtschaft von Shmuel Dayan, dessen Sohn Moshe - damals 18-jährig - später bedeutende militärische und politische Aufgaben im Staate Israel übernehmen sollte. Trotz der alltäglichen Arbeitslast ließ Bach nicht nach, sein in den Universitätsjahren erworbenes akademisches Wissen zu erweitern und zu vertiefen, wobei er sich auf nationalökonomische und betriebswirtschaftliche Themen konzentrierte. Hierbei kamen ihm die praktischen Erfahrungen sowohl in dem eigenen Betrieb als auch in der Mitarbeit an zentralen Institutionen des landwirtschaftlichen Sektors zugute. Im Jahre 1947 nahm er an einer Delegation teil, die vom englischen und schottischen Milk Marketing Board eingeladen wurde, um moderne Formen der Milchvermarktung kennenzulernen. Nach der Gründung des Staates Israel (1948) wurde Bach vom Minister für Versorgung und Rationierung, Dov Joseph, mit zentralen Aufgaben in der Regierungs-Kontrolle über die landwirtschaftliche Produktion betraut. Die Notwendigkeit dieser Kontrollen ergab sich aus dem Mißverhältnis zwischen der sprunghaften Vergrößerung der Bevölkerung durch die Masseneinwanderung und dem entsprechenden Anstieg der Konsumentennachfrage gegenüber dem beschränkten Angebot an Lebensmitteln aus der sich erst langsam steigernden lokalen Produktion und aus der wegen Devisenmangels äußerst beschränkten Einfuhr. Kurz darauf wurde Bach von Minister Levi Eshkol zum Referenten im Landwirtschaftsministerium und Finanzministerium ernannt und verwaltete 1952-1953 die Abteilung für die amerikanische Wirtschaftshilfe, zu jener Zeit die bedeutendste Quelle der zur Entwicklung der Wirtschaft des Landes unentbehrlichen Devisen. Von 1953 bis 1976 wirkte er in leitenden Funktionen der Bank Leumi Le-Israel, einer bedeutenden Handelsbank, und zwar 1953-1961 für den landwirtschaftlichen und genossenschaftlichen Kredit, 1961-1963 für

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die allgemeine Geschäftsentwicklung und als Generaldirektor der Hypothekenbank 1963-1976 für den Hypothekarkredit. Akademisch und in der Wissenschaftsverwaltung hatte Bach folgende Tätigkeiten inne: Von 1953 bis 1960 war er Dozent für Agrarpolitik. Zahlungsbilanz und Außenhandel an der Hochschule für Rechts- und Wirtschaftswissenschaft in Tel Aviv, der Vorgängerin der Universität Tel Aviv. Seit 1970 ist er Mitglied des Board of Governors des Technion in Haifa und seit 1975 Mitglied der Exekutive und des Board of Governors der Universität Haifa. Außerdem war er Mitbegründer des David Horowitz Institute for the Research of Developing Countries an der Universität Tel Aviv. In den Jahren 1958 bis 1970 arbeitete Bach eng zusammen mit Edgar Salin und H.W. Zimmermann in Basel sowie mit Nadav Halevi von der Hebräischen Universität Jerusalem bei der Veröffentlichung namhafter ökonomischer und soziologischer wissenschaftlicher Arbeiten, die im Auftrag des Israel Advisory Council for Economic and Sociological Research vom Kyklos- und Siebeck Verlag, der Bank Israel und dem Verlag Frederick A. Praeger herausgegeben wurden. Seit 1980 ist Bach in der Leitung des German-Israel Fund for International Research and Development (Gifrid) tätig. Diese Institution fördert in Kooperation mit der Deutschen Welthungerhilfe und dank deren Finanzierung wissenschaftliche Projekte, die unter Nutzung der israelischen Erfahrung der Verbesserung der Ernährungslage in der Dritten Welt gewidmet sind. Zwischen 1950 und 1980 publizierte Bach zahlreiche Aufsätze (in hebräisch, englisch und deutsch) über Themen aus den Bereichen der landwirtschaftlichen Vermarktung, des israelischen Geld- und Bankwesens und der Europäischen Integration. Nach der Pensionierung widmete Bach sich ehrenamtlich öffentlichen Aufgaben, insbesondere als Honorary Treasurer der Israel Cancer Association, der Mobilisierung von Mitteln für die Erforschung, Früherkennung und Bekämpfung der Krebskrankheit. Seit 1990 ist er wieder im kommerziellen Bereich tätig als aktives Board-Mitglied und (seit Mai 1993) Board-Chairman der Gesellschaft Dagon Batey-Mamguroth Le-Israel, Haifa, welche mit modernen Silo-Methoden die Entladung und Verteilung des von Übersee importierten Getreides besorgt.

Baer, Werner Schriften in Auswahl: (1958) Die Gemüsevermarktung in Israel Neukolonisation und Marktentwicklung, Freiburg i.Br. (Diss.). (1972) Zum 80. Geburtstag von Edgar Salin, in: Mitteilungen der List-Gesellschaft, Bd. 7, Nr. 14, S. 354-360. (1978) Wandlungen in der Wirtschaftspolitik Israels, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 4, S. 31-36. 11979) Sparen trotz Inflation. Ein israelisches Paradox, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, Bd. 32, S. 1033-1036. ι I9H5) Israel im Kampf gegen die Hyperinflation, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, Bd. 38, S. 196-198. ι I986i Vor Reformen im israelischen Bankwesen, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, Bd. 39, S. 618-621. (Jurlle: BHb I. hmn\ Ginor

Baer, Werner, geb. 14.12.1931 in Offenbach. Die Familie emigrierte 1937, und 1944 erreichte Baer die USA, wo er sich, nach eigenen Angaben, ohne Schwierigkeiten einlebte. Über die dazwischenliegenden Jahre ist nichts bekannt. Baer studierte Ökonomie, das Vordiplom machte er am Queens College, New York, Diplom und Promotion in Harvard. Als Studienschwerpunkt im Hauptstudium wählte er internationale Wirtschaftswissenschaft. Die Doktorarbeit schrieb Baer zum Thema The Postwar Foreign Trade Recovery of Germany (1958). Nach eigenem Bekunden wurde er stark von -» Gottfried von Haberler, Alexander Gerschenkron, John Kenneth Galbraith und Arthur Smithies beeinflußt. Baer widmete sich voll der wissenschaftlichen Arbeit, und er lehrte kontinuierlich an amerikanischen Universitäten, nämlich Harvard (1955-61), Yale (1961-65), Vanderbilt (1965-74) und Illinois/Urbana-Champaign (seit 1974). Viermal nahm er Gastprofessuren in Brasilien ein: in Rio de Janeiro an der Funda9§o Getülio Vargas (1965-68); an der Universität von Säo Paulo (1966-68), am IPEA, dem Institut für angewandte Wirtschaftsforschung des brasilianischen Planungsministeriums (1973), und an der Katholischen Universität von Rio de Janeiro.

Der Schwerpunkt von Baers wissenschaftlicher Arbeit liegt auf den Entwicklungsproblemen Lateinamerikas, worüber er über achtzig Schriften verfaßt hat. Dabei galt sein besonderes Interesse Brasilien; seine Beiträge gelten als die wichtigsten außerbrasilianischen Arbeiten zum Thema. Sein erstes einflußreicheres Buch Inflation and Growth in Latin America (1964) brachte er mit Isaac Kerstenetzky heraus. Auf der vorangegangenen Tagung in Rio de Janeiro hatten rund dreißig lateinamerikanische, amerikanische und europäische Wissenschaftler die gegensätzlichen Standpunkte der monetaristischen und stnikturalistischen Schulen zur Frage von Inflation und Wachstum in Lateinamerika diskutiert. Anknüpfend an seine früheren Arbeiten zur brasilianischen Inflation - Inflation and Economic Growth. An Interpretation of the Brasilian Case (1962) und Brazil. Inflation and Economic Effiency (1963) - vertrat Baer einen strukturalistischen Standpunkt, wonach die hohen Inflationsraten im Nachkriegsbrasilien unter anderem in Zwangssparen resultierten, so daß die Regierung produktive Investitionen finanzieren und damit den Wachstumsprozeß einleiten konnte. Laut Baer war ein inflationärer, Zwangssparen erzeugender Prozeß so lange notwendig, bis Strukturschwächen in der Fiskal- und Geldpolitik überwunden seien. Man sollte Baers Position jedoch nicht als simple Legitimation inflationärer Prozesse begreifen. Vielmehr betonte er im gleichen Tagungsband, daß die hohen Inflationsraten in Brasilien zu einem erheblichen Teil überhöhten Staatsausgaben zuzuschreiben seien; in seiner späteren Veröffentlichung Transportation and Inflation. Α Study of Irrational Policy Making in Brazil (1965) kritisierte er die Preispolitik der Regierung im Bereich öffentlicher Güter, insbesondere im Transportwesen, da die ständig steigenden Subventionen an öffentliche Einrichtungen das Budgetdefizit vergrößerten und den Inflationsdruck erhöhten. Ein strukturalistischer Ansatz zeigt sich auch in Baers Industrialisation and Economic Development in Brazil (1965), einer der ersten breitangelegten Analysen zum schnellen, importsubstituierenden Industrialisierungsprozeß im Brasilien der Jahre 1947 bis 1961. Er arbeitet in dem Buch den exogenen Druck der 1940er Jahre heraus, der die brasilianischen Behörden zwang, bewußt eine Importsubstitutionspolitik zu verfolgen. Zu den entscheidenden Faktoren zählte Baer die sinkende internationale Nachfrage nach traditionellen brasi-

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Baer, Werner lianischen Produkten, die zu einer kontinuierlichen Verschlechterung der Zahlungsbilanz geführt hatte. In der Folge waren deswegen handelspolitische Instrumente in der Form von tarifaren und nicht-tarifären Handelshemmnissen und Wechselkurskontrollen notwendig geworden. Der Industrialisierungsschub wurde, so Baer, aus drei Quellen finanziert: der öffentlichen Hand, dem Privatsektor (inländisch wie international), und eben - und dies war eine kontroverse Position aus dem Zwangssparen. Die Industriestruktur, die sich daraus ergab, sei durch einen hohen, und vor allem vertikalen, Verflechtungsgrad charakterisiert sowie durch eine niedrige Grenzproduktivität des Kapitals. Baer betonte, daß die eindrucksvolle Wachstums- und Industrialisierungsrate ohne umfassende staatliche Planung und ohne Intervention seitens der Industrieverbände, die beispielsweise die zu substituierenden Industriezweige identifiziert hätten, erreicht wurde. Im Schlußkapitel analysiert er die Ungleichgewichte und Engpässe, die aus diesem speziellen Entwicklungsweg resultierten, wie z.B. regionale Disparitäten und die Vernachlässigung von Landwirtschaft und Bildungswesen, Engpässe, die zukünftige Wachstumschancen beeinträchtigen würden. Baers umfassende Brasilienforschung wurde in seinem Werk The Brazilian Economy: Growth and Development (1979) zusammengefaßt. Das Werk zeichnet Brasiliens Wirtschaftsgeschichte von der Kolonialzeit bis in die späten 1980er Jahre nach; der zweite Teil widmet sich ausgewählten Themenkreisen: der Außenwirtschaft, der Kosten-Nutzen-Analyse von Auslandsinvestitionen, der Rolle der öffentlichen Hand, Inflation und Preisbindung, regionalen Disparitäten, Landwirtschaft und industriellem Wandel. Die historischen Kapitel präsentieren in logischer Folge den Strukturwandel der Volkswirtschaft von der Rohstofffabhängigkeit zur Industrialisierung. Sie zeigen, wie dieser Wandel von einer sich verändernden Rolle des Staates, nämlich von der eines passiven Zuschauers zu der eines aktiven Spielers in der Entwicklung des Landes, begleitet wurde. Die ökonomischen Krisen der jüngsten Vergangenheit werden darauf zurückgeführt, daß das Industrialisierungsprogramm ohne Anpassung an die Ölpreissteigerungen von 1973 fortgesetzt wurde, was erhebliche Außenverschuldung zur Folge hatte.

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Das zentrale Kapitel im zweiten Teil des Bandes ist einer detaillierten Schilderung der Größe und Durchschlagskraft des öffentlichen Sektors in Brasilien gewidmet. Baer beschreibt die staatskapitalistische Ökonomie Brasiliens und gibt interessante Hinweise auf das Zusammenspiel von öffentlichen Unternehmen und der Bürokratie der Zentralregierung. Weitere Kapitel enthalten wichtige Einführungen in verschiedene andere Bereiche der Ökonomie Brasiliens. Baers Laufbahn reicht über Lehre und Forschung hinaus. Er amtierte zehn Jahre lang als wirtschaftspolitischer Berater für die Programmplanung der Ford Foundation (1967-76) und fungiert als Mitherausgeber zahlreicher entwicklungspolitischer Fachzeitschriften. In Anerkennung seiner Forschungsarbeit verlieh ihm die brasilianische Regierung 1982 den nationalen Verdienstorden des Südkreuzes. Von der Universität von Pemambucco und der Bundesuniversität von Cearä wurde er 1988 und 1993 mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Schriften in Auswahl: (1958)

The Postwar Foreign Trade Recovery of Germany, Harvard University (unveröffentlichte Diss.).

(1962)

Inflation and Interpretation in: Economic tural Change,

(1963)

Brazil. Inflation and Economic Effiency, in: Economic Development and Cultural Change, Bd. 11, S. 395406.

(1964)

Inflation and Growth in Latin America, (hrsg. zus. mit I. Kerstenetzky), Homewood/Ill. (2. Aufl., New Haven 1970).

(1965)

Transportation and Inflation. A Study of Irrational Policy Making in Brazil (zus. mit I. Kerstenetzky und Μ. Η. Simonsen), in: Economic Development and Cultural Change, Bd. 13, S. 188-202.

(1965)

Industrialization and Economic Development in Brazil, Homewood/Ill (weitere Aufl.: 1974, 1979, 1983, 1988. Portugiesische Fassung Rio de Janeiro 1967).

Economic Growth. An of the Brazilian Case, Development and CulBd. U . S . 85-97.

Baerwald, Friedrich (1978)

(1979)

(1980)

(1989)

(1991)

Dimensöes do Desenvolvimento Brasileiro (zus. mit P. Geiger und P. Haddad), Rio de Janeiro. The Brazilian Economy. Growth and Development, Columbus, Ohio (weitere Aufl.: New York 1983. 1989, 1995). Ο Setor Privado Nacional. Problemas e Politicas para seu Fortalecimento (hrsg. zus. mit A. Villela), Rio de Janeiro. Paying the Costs of Austerity in Latin America (zus. mit Η. Handelman), Boulder. Latin America. The Crisis of the Eighties and the Opportunities of the Nineties (hrsg. zus. mit J. Petry und Μ. Simpson) University of Dlinois, Bureau of Economic and Business Research, Urbana-Champaign.

Quellen: Β Hb Π; Blaug. Ana Paola Teixeira

Baerwald, Friedrich, geb. 14.10.1900 in Frankfurt a.M., gest. im Oktober 1989 in Münster/Westfalen Baerwald, Sohn jüdischer Eltern, konvertierte als 26-jähriger zum katholischen Glauben, der auch für sein wissenschaftliches Leben eine wichtige Rolle spielte. Er studierte von 1919-23 Jura und Volkswirtschaft an den Universitäten Freiburg, München und Frankfurt a.M., dort unter anderem bei Franz Oppenheimer. 1923 promovierte er zum Dr. jur. und wurde nach seinem zweiten juristischen Staatsexamen 1926 als Assessor der Arbeitsverwaltung und des Arbeitsministeriums tätig. 1928 übernahm er die Stelle eines Regierungsrates und Justitiars im westfälischen Arbeitsamt. Baerwald war Mitglied der Zentrumspartei und zeitweilig Assistent von Friedrich Dessauer im Reichstag. Im Jahre 1934 mußte er in die USA emigrieren. An der Fordham University, New York, wurde er 1935 zunächst Instructor an der volkswirtschaftlichen Fakultät, dort 1937 dann Assistant Professor, im Jahre 1948 Associate Professor und 1955 schließlich ordentlicher Professor. 1970 wurde Baerwald emeritiert und kehrte anschließend nach Deutschland zurück, wo er sich in Münster niederließ. Sein wissenschaftliches Interesse lag an der Schnittstelle zwischen volks-

wirtschaftlichen und soziologischen Themen, eine Ausrichtung, die wohl auch durch das Studium bei Oppenheimer mitgeprägt wurde. Er beschäftigte sich vorwiegend mit Fragen des Arbeitsmarktes und -prozesses, der wirtschaftlichen Entwicklung und später verstärkt mit soziologisch-religiösen Grundlagenproblemen. Baerwald machte sich die Möglichkeit, die sich aus der Kenntnis sowohl seines Heimat- wie auch seines Zufluchtlandes ergab, für Publikationen im jeweils anderen Land nutzbar. In den USA veröffentlichte er etliche Artikel über wirtschaftliche und politische Fragen Deutschlands wähnend des und nach dem Nationalsozialismus, darunter einige Aufsätze im American Economic Review (z.B. 1934). Später verfaBte er mehrere Beiträge über die USA in deutschen Zeitschriften, überwiegend in den Frankfurter Heften. Mit dem erstmaligen Erscheinen des Jahrbuch des Instituts fiir Christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster im Jahre 1960 wurde Baerwald bis zu seinem letzten Beitrag im Jahr 1979 zu dessen fast regelmäßigem Mitarbeiter. Die darin behandelten Themen hatten vorwiegend soziale, religiöse und ethische Probleme zum Gegenstand (vgl. z.B. 1966/67). Baerwald war auch Mitherausgeber der Zeitschrift Thought der Fordham University. Die erste und eine weitere, später erschienene Monographie Baerwalds (1947 und 1967) beschäftigten sich mit ökonomischen Grundlagen der Lohnfindung und des Arbeitsmarktes. Die dabei behandelten Gegenstände umfassen all die Themen, die im Angelsächsischen unter dem Terminus 'labor economics' firmieren. Seine Herangehensweise war dabei weder besonders abstrakt noch theoretisch, sondern berücksichtigte ausführlich die historischen Einflußfaktoren und die strukturellen Veränderungen rechtlicher und ökonomischer Natur, die auf den amerikanischen Arbeitsmarkt wirkten, denn wie er selbst feststellte: „Collective bargaining cannot take place in a vacuum" (1960, S. viii). Die detaillierten Kenntnisse über die Faktoren, die dieses Vakuum füllen, entstammten nicht zuletzt den persönlichen Erfahrungen, die Baerwald als langjähriges Mitglied von Schlichtungsausschüssen in den USA sammeln konnte. In Economic Progress (1967) erörtert der Autor die für ihn überwiegend positiven volkswirtschaftlichen Folgen, die sich aus dem Einbau von Preisgleit- und Produktivitätsklauseln in Tarifverträge ergeben; er ist aber dennoch kein

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Baerwald, Friedrich Verfechter einer strikten produktivitätsorientierten Lohnpolitik. In einem weiteren Teil des Buches betont Baerwald die Bedeutung des sozialen Sicherungssystems für die Beeinflussung der Lohnbildung und diskutiert, warum das System in den USA im Vergleich zu europäischen Ländern erst spät entstand sowie welche Veränderungen sich dadurch ergaben. Der Zusammenhang von Produktivitäts- und Lohnwachstum ist ein häufig wiederkehrendes Thema in Baerwalds wirtschaftstheoretischen Veröffentlichungen. Seine These ist dabei, daB das Wachstum der Reallöhne mindestens im Gleichschritt mit der Produktivität - für Amerika sogar darüber hinaus - notwendig sei, um die vom überwiegend privaten Verbrauch gestützte Nachfrage und damit das Wirtschaftswachstum einer Vollbeschäftigungsökonomie aufrechtzuerhalten (vgl. 1963). Baerwald, der als Wissenschaftler etliche empirische Untersuchungen in den verschiedensten Feldern durchführte, zeigte beispielhaft für die bundesdeutsche und amerikanische Hüttenindustrie, daB in der untersuchten Periode die Reallöhne stärker als die Arbeitsproduktivität gewachsen waren, ohne daß dies zu einer 'LohnPreis-Spirale' in der betreffenden Industrie geführt habe (vgl. auch 1960b). Anläßlich der Untersuchungen hielt sich Baerwald zweimal zu Forschungsaufenthalten in der Bundesrepublik Deutschland auf (1953-54 und 1961-62), die er jeweils mit einer Gastprofessur an der Universität Münster verband. Der zweite volkswirtschaftliche Bereich, der in Baerwalds Schaffen einen wichtigen Stellenwert einnahm, waren Fragen der ökonomischen Dynamik, die in der Veröffentlichung von Economic System Analysis (1960a) kumulierten. Dieses Buch stellt rückblickend einen nicht uninteressanten Beitrag zur modernen Wachstumstheorie dar, die sich zu der damaligen Zeit gerade zu entwikkeln begann. Baerwalds Ansatz unterscheidet sich jedoch deutlich von den später dominierenden neoklassischen oder post-keynesianischen Modellen. Ihm ging es in dem Buch vor allem darum, zu zeigen, daB die tatsächliche und die erforderliche Wachstumsrate ('required rate of growth') einer Ökonomie voneinander abweichen können - und zwar nicht nur kurzfristig. Die erforderliche Rate, die sich aus den Wachstumsraten von Arbeitsbevölkerung und Produktivität ergibt, ist notwendig, um ein (Vollbeschäfitigungs-) Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, stellt sich aber nicht von selber

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ein. Baerwalds Konzept hat allerdings nichts mit Harrods 'warranted rate of growth' zu tun, denn Baerwald hielt es für möglich, daß - geeignete wirtschaftspolitische Maßnahmen vorausgesetzt die in diesem Sinne optimale Rate tatsächlich erreicht wird. In dem Zusammenhang wurde die (neoklassische) Herangehensweise von ihm als analytisch einschränkend empfunden, da die den Wachstumsprozeß letztlich bestimmenden Größen als exogen betrachtet und somit aus der Analyse ausgeschlossen werden. Was Baerwalds Analyse darüber hinaus immer noch relevant macht, ist die in den damaligen Wachstumsmodellen vernachlässigte, aber hier explizit berücksichtigte strukturelle Komponente von Wachstumsprozessen ('balanced growth') fur die verschiedenen Sektoren einer Ökonomie, deren Auswirkung und Bedeutung er mit modellhaften Erörterungen und empirischen Beispielen aus den USA untermauerte. In seinem letzten in Amerika geschrieben Buch (1969) befaßte sich Baerwald mit den Entwicklungsbedingungen von Nationen. Der Tenor, der dieses Werk durchzieht, fordert die Beurteilung der Entwicklungsperspektiven von Volkswirtschaften vornehmlich auf Grundlage der Kenntnis von institutionellen Rahmenbedingungen und historischen Hintergründen. Damit wurde eine Übertragung der Methodik auf die ökonomische Entwicklungstheorie angestrebt, die Baerwald als 'labor economist' zu verwenden gewohnt war. Gleichzeitig verbinden sich in diesem Buch Baerwalds ökonomische und ethische Forschungsinteressen, da es an vielen Stellen Überlegungen bezüglich geeigneter Hilfen für Entwicklungsländer enthält. Baerwald, der Mitglied und 1953-54 auch Vorsitzender der American Catholic Economic Association war, war insgesamt drei Semester Gastdozent am Institut für Christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster. Seine Verbundenheit mit der katholischen Religion dokumentierte sich auch in den vielen wissenschaftlichen Beiträgen, die er zu Fragen der christlichen Sozialethik leistete. Häufig trug er damit zum Dialog von christlich motivierten Gelehrten und linken Theoretikern bei (vgl. 1966/67) oder wurde dadurch zu Forschungen angeregt, wie das Vorwort von Baerwald (1973) verdeutlicht. Für einige Forschungen in diesem Zusammenhang führte er soziologische Erhebungen per Fragebogen durch; so z.B. bei einer Untersuchung über die persönlichen Einstellungen junger katho-

Baran, Paul Alexander lischer Priester in den USA oder junger Arbeitnehmer in Deutschland (1973).

Baran, Paul Alexander, geb. 8.12.1910 in

Schriften in Auswahl: (1923) Die Staatsanklage in der Weimarer Reichsverfassung. Unter vergleichender Berücksichtigung des Staatsrechts der deutschen Länder und der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Frankfurt a.M. (Diss.). (1934) How Germany Reduced Unemployment, in: American Economic Review, Bd. 24, S. 617-630. (1947) Fundamentals of Labor Economics, New York (2. Aufl. 1952). (1958) Zur Systematik einer allgemeinen Theorie der Wirtschaftsentwicklung, in: Zeitschrift fur die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 114, S. 47-65. (1960a) Economic System Analysis. Concepts and Perspectives, New York. (1960b) Produktivität und Lohn, in: O. Neuloh (Hrsg.): Der Neue Betriebsstil. Untersuchungen über Wirklichkeit und Wirkungen der Mitbestimmung, Tübingen, S. 332-346. (1963) Produktivitätslohn und Wachstumsrate, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 119, S. 58-71 (Replik W. Krelle: ebd., S. 672-673 und Gegenreplik: ebd., S. 674-675). (1966/67) Soziologische Perspektiven zum Dialog mit dem atheistischen Humanismus, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Bd. 7 und 8, S. 401-412.

„Psychically one thing is clear: one is either made to oppose, to fight, to criticize, or to be part of the Establishment. I am definitely no good for any Establishment. Schumpeter's disturbing, restless intellectual-a nuisance everywhere. Maybe this is the eternal function of the intellectual after all-in all times and in all places." Mit diesen Zeilen, die Paul Baran am 1. Mai 1962 anläBlich einer Reise durch Osteuropa aus Moskau in einem Brief an seinen Bruder im Geiste Paul M. Sweezy schrieb, hat er sich selbst unnachahmlich charakterisiert. Die Sache des Establishments war in der Tat zu keinem Zeitpunkt seine Sache. Egal, wohin es ihn in seinem Leben verschlagen hatte, stets war er in der Opposition, stets opponierte er durch das geschliffene Wort, die spitze Feder, durch seine Auffassungen, seine Manieren und seine Kleidung gegen die Etablierten. Paul Baran stammte aus einer nissisch-jüdischen Intellektuellen-Familie, einer Familie, die ihre Wurzeln vor allem in Polen hatte. Sein Vater Abrain Baran war Arzt und arbeitete als Spezialist für Lungen-Heilkunde in Polen, Deutschland und in der Sowjetunion, zuletzt in Moskau. Sein Onkel Abraham Morewski war ein weithin bekannter polnisch-jüdischer Schauspieler am berühmten jüdischen Theater in Wilna. Paul war das einzige Kind der Arzt-Familie. Was diese ihm bieten konnte, hielt sich materiell in engen Grenzen, intellektuell wurde ihm um so mehr geboten. Er wurde von seinem Vater früh mit Kunst und Wissenschaft bekannt gemacht und er las jedes Buch, dessen er habhaft werden konnte. Gleichzeitig war er ungemein sprachbegabt. Er sprach und schrieb in perfektem Russisch, Polnisch, Deutsch und später Englisch. Zusätzlich zur Sprachgewandtheit kam die Gabe des didaktisch vollendeten Vortrags. Nach einer Gastvorlesung in Stanford im Frühjahr 1948 schrieb ihm Tibor Scitovsky, der damalige Dekan: „You left a lasting impression on students, and a very deep one at that. There is quite a Baran legend around Stanford ... Each time this legend comes up the faculty members present feel very uncomfortable, as though they were being told that they know nothing about teaching-nothing, that is, as compared to that incomparable teacher Paul Baran."

(1967) (1969) (1973)

Economic Progress and Problems of Labor, Scranton, Pa. (2. Aufl. 1970). History and Structure of Economic Development, Scranton, Pa. Lebenserwartungen von Lehrlingen und Jungarbeitnehmern im Großbetrieb. Bericht über eine Gesprächsaktion, München u.a.

Quellen: BHb II; Biographische Notiz im Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaft (1962), S. 357; Kürschner. Hagen Krämer

Nikolajew, Ukraine, gest. 26.3.1964 in San Francisco

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Baran, Paul Alexander Der junge Paul ging erst in Polen zur Schule, danach besuchte er ein Gymnasium in Dresden, machte dort Abitur, studierte zwei Jahre am Plechanow-Institut für Wirtschaftswissenschaften der Universität in Moskau und vervollständigte seine Studien an der Universität in Berlin. Hier promovierte er bei -» Emil Lederer über ökonomische Planung. Sodann war er als Assistent am Institut für Sozialforschung in Frankfurt tätig und arbeitete unter den Auspizien von -» Friedrich Pollock über die Sowjet-Wirtschaft. Mit der Machtübernahme durch die Nazis war klar, daß Paul Baran nicht länger in Deutschland bleiben konnte. Als ein jüdischer Marxist, obendrein Mitglied der SPD, war er eine dreifache persona non grata. Er kehrte bis 193S nach Moskau zurück. Die stalinistischen Säuberungen ließen es indes alsbald ratsam erscheinen, auch die Sowjetunion wieder zu verlassen. Zahlreiche Freunde waren zwischenzeitlich verhaftet worden, sein akademischer Lehrer Prof. S. M. Dubrowski war plötzlich verschwunden, im übrigen wurde seine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert. Paul Baran kehrte zu seinen Verwandten nach Wilna zurück und verdiente für einige Jahre sein Geld im „hündischen Kommerz". Ein Onkel war im Holzhandels-Geschäft tätig. Wegen der hervorragenden Qualität erfreute sich Holz aus Wilna in den dreißiger Jahren einer großen internationalen Beliebtheit und damit wachsender Nachfrage; der junge Doktor Baran engagierte sich im Verkaufsgeschäft und wurde auch fur die Handelskammer von Wilna tätig. Wegen seiner Sprachkenntnisse wurde er namentlich im Exportgeschäft eingesetzt und mit den Verkaufsverhandlungen mit ausländischen Geschäftspartnern betraut. England war der mit Abstand größte Markt für Holz aus Wilna. 1938 wurde Baran nach London versetzt - als ständiger Vertreter der Interessen des Holzhandels von Wilna. Zuvor war er mehrmals geschäftlich in Deutschland. Er nahm dabei das große persönliche Risiko in Kauf, als Kurier für Exilgruppen Nachrichten aus Deutschland und nach Deutschland zu schmuggeln. Obwohl er in diesen Jahren gut verdiente, wollte Baran zurück in die Forschung. Nachdem seine Bemühungen um eine entsprechende Position in England gescheitert waren, wanderte er im Sommer 1939 nach Amerika aus. Harvard akzeptierte ihn als Graduate Student und bis 1941 studierte er Economics, d. h. New Economics: Wirtschaftswissenschaften im Geiste der Keynesschen Revo-

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lution. Er Schloß die Studien mit dem M.A. ab. Mittels einer Harvard-Verbindung konnte Baran 1942 beim Office of Strategie Services (OSS) mit Forschungen über die deutsche, die polnische und die sowjetische Wirtschaft beginnen. OSS-Mitarbeiter mußten damals zugleich Soldaten der amerikanischen Armee sein. Also wurde Paul Baran Soldat und damit zum Tragen von Uniform verpflichtet. Es läßt sich vielleicht denken, daß Baran die Uniform auf seine Weise getragen hat. John K. Galbraith erinnert sich später, bei der Zusammenarbeit mit Baran nach Kriegsende in Deutschland niemals einen Soldaten der US-Armee getroffen zu haben, der dermaßen schlampig in Uniform herumlief (Galbraith 1981, Kap. 14). Unter Galbraith arbeitete Baran ab Sommer 1944 beim United States Strategie Bombing Survey. Hier wurde u. a. die Frage untersucht, ob die Bombenangriffe auf Deutschland und auch auf Japan zur Beeinträchtigung der Wehrkraft beigetragen hatten. Die von Baran und anderen erarbeiteten Studien lieferten das allgemeine Ergebnis, daß die Flächenbombardements zwar grausame Verluste bei der Zivilbevölkerung bewirkten, die Kriegsproduktion und die Kampfkraft der deutschen und der japanischen Armee indes bis Sommer 1944 nur unwesentlich beeinträchtigt wurden. Nach einigen für die Zeiten und für Baran typischen Zwischenstationen arbeitete er dann von 1946 - 1949 bei der Federal Reserve Bank in New York. Die Gast-Vorlesung in Stanford im Sommer 1948 sollte zum entscheidenden Brükkenschlag für seine letzte berufliche Position werden. Das Department of Economics von Stanford bot ihm 1949 eine Stelle als Associate Professor an, zwei Jahre später wurde er Full Professor. Fortan galt er in den USA als der einzige Marxist, der es je zu einer Ökonomie-Professur gebracht hatte. Es versteht sich von selbst, daß es Baran auch in den USA nicht leicht hatte. Das ruhige Leben eines sozialkritischen Wissenschaftlers konnte er namentlich in den McCarthy-Jahren nicht führen. Obwohl er seit 1939 in den USA lebte, erhielt er den amerikanischen Paß erst Ende 1955. Immer wieder war er zwischenzeitlich als russischer Spion bzw. als Stalinist verdächtigt worden, der amerikanische durch sowjetische Verhältnisse ersetzen wollte. Immer wieder mußte er sich sorgen, ob er wohl auf Dauer in den USA würde bleiben können. Gegen Ende seines Lebens war er politisch und sozial recht isoliert - nicht zuletzt

Baran, Paul Alexander wegen seines Engagements für die kubanische Revolution. Paul M. Sweezy hatte Baran 1939 gleich nach der Ankunft in Harvard kennen gelernt. Das war der Beginn einer Freundschaft, die ein Vierteljahrhundert währen sollte. Die beiden Pauls wurden enge persönliche Freunde und entfalteten bis zu Barans Tod eine ungemein fruchtbare wissenschaftliche Kooperation. Als Herausgeber der Monthly Review konnte Sweezy überdies von Beginn an (1950) auf die unermüdliche Unterstützung von Baran bauen, sei es durch Beiträge, sei es durch Beurteilung anderer Artikel. Als marxistischer Ökonom bearbeitete er mit Baran fast alle Thematiken gemeinsam, einerlei, ob die Arbeiten gemeinsam veröffentlicht wurden oder nicht. Dank der Professur in Stanford konnte sich Baran erstmals mehr als nur am Abend nach getaner Arbeit fur den Broterwerb auf die Forschung und die Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten konzentrieren. Er befaßte sich in den Jahren von 1951 - 1964 mit Themen zum ökonomischen Wachstum, zur Sowjet-Wirtschaft, zum Verhältnis von Marxismus und Psychoanalyse, zur marxistischen Theorie, zum Faschismus in Amerika, zur kubanischen Revolution, zu den wirtschaftlichen Perspektiven unterentwickelter Länder und zum Monopolkapitalismus. Sein Hauptwerk erschien 1957 unter dem Titel The Political Economy of Growth. Posthum wurde das gemeinsam mit Paul Sweezy verfaßte Buch Monopoly Capital publiziert, ein glänzend geschriebener Bestseller, der ähnlich wie das Hauptwerk in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde und in den späten sechziger Jahren einen beträchtlichen Einfluß auf die intellektuelle Linke auszuüben vermochte, allerdings in stärkerem MaBe in Lateinamerika als in Europa. Dies hing offenbar mit der in der politischen Ökonomie des wirtschaftlichen Wachstums vorgenommenen Analyse der Unterentwicklung und ihrer Beseitigung zusammen, die für Latein- und Südamerika seinerzeit unmittelbare politische Relevanz zu haben schien. Die wissenschaftliche Analyse von Baran über die Determinanten des wirtschaftlichen Wachstums hat sich mehr bei Sozialwissenschaftlern und Politologen als bei Ökonomen als fruchtbar erwiesen. Vermutlich hängt das damit zusammen, daß seine Hauptkategorie der Analyse, der potentielle volkswirtschaftliche Überschuß, quantitativ im Prinzip nicht bestimmbar ist. Der Begriff soll in-

des der Konzeption nach auch durchaus den Horizont der bestehenden Wirtschaftsordnung überschreiten und Elemente einer rational geordneten Gesellschaft - was immer Baran darunter verstanden haben mag - erkennbar werden lassen. Baran hat diesen Begriff dem tatsächlichen volkswirtschaftlichen ÜberschuB gegenübergestellt und deren Verhältnis zueinander analysiert. Aus der Divergenz beider GröBen Schloß Baran auf das mangelnde Entwicklungspotential des (amerikanischen) Kapitalismus. Konnte die wissenschaftliche Ökonomie mit dem potentiellen ÜberschuB nichts anfangen, dann aber um so mehr mit dem tatsächlichen ÜberschuB. Der war seit Keynes bekannt und enthielt insoweit nichts Neues. Es handelt sich um die Differenz von Volkseinkommen und Konsum, die als Ersparnis definiert wird: Y - C = S. Interessant wäre dann natürlich, die unterschiedlichen Bestimmungsgründe für die Ersparnis etwa im Keynesschen und im Baianschen Werk herauszuarbeiten. Baran selbst hat sich offenbar dafür nicht weiter interessiert. Als breit angelegte Untersuchung über die keineswegs nur rein ökonomischen Determinanten des Wachstums ist die Studie freilich auch heute noch lesenswert.

Schriften in Auswahl: (1944)

(1952)

(1952)

(1957) (1957) (1961) (1966)

New Trends in Russian Economic Thinking?, in: American Economic Review, Bd. 34, S. 862-871. On the Political Economy of Backwardness, in: Manchester School, Bd. 20, S. 66-84. Economic Progress and Economic Surplus, in: Science and Society, Bd. 17, S. 289-317. The Political Economy of Growth, New York. Marxism and Psychoanalysis, in: Monthly Review, Bd. 11, S. 186-200. The Commitment of the Intellectual, in: Monthly Review, Bd. 13, S. 8-18. Monopoly Capital (zus. mit P.M. Sweezy), New York, dt. Übersetzung: Monopolkapital, Frankfurt am Main 1967.

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Barkai, Haim Bibliographie: Galbraith, J.K. (1981): A Life in our Times, Boston. Quelle: Monthly Review, Bd. 16, S. 132-135. Michael Krüger

Barkai, Haim, geb. 31.8.1925 in Dresden Bereits in den frühen dreißiger Jahren emigrierte Barkai zusammen mit seinen Eltern nach Palästina. Nach dem AbschluB seiner Schulbildung nahm er 1949 das Studium der Volkswirtschaftslehre am soeben errichteten Department of Economics der Hebrew University in Jerusalem auf. Die Volkswirtschaftslehre war bis zu diesem Zeitpunkt an der seit 1918 bestehenden Universität ganz im Geiste der deutschen Historischen Schule und nur als Nebenfach innerhalb der Philosophischen Fakultät gelehrt worden. Die mit dem Ende des Unabhängigkeitskrieges steigende Zahl Studierender und der mit der israelischen Staatsgründung stark anwachsende Bedarf an ausgebildeten Ökonomen, führten nicht nur zur Errichtung eines eigenständigen wirtschaftswissenschaftlichen Studiengangs, sondern auch zu einer Orientierung der nationalökonomischen Forschung an der angelsächsischen Theorietradition. Als geradezu paradigmatisch erwies sich die auf Empfehlung von -» Jacob Marschak zustandegekommene Berufung Don Patinkins an die Hebrew University. Dem knapp dreißigjährigen Patinkin, dessen Wechsel von Chicago nach Jerusalem manchem seiner amerikanischen Kollegen wie ein Gang in die Wildnis erscheinen mußte (Barkai 1993a, S. 14), kam nicht weniger als die Aufgabe zu, zugleich die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Hebrew University aufzubauen und die ökonomische Forschung in Israel überhaupt zu etablieren. Barkai gehörte zu den ersten Jerusalemer Studenten des nur drei Jahre älteren Patinkin, der als akademischer Lehrer auch in späteren Jahren einen überragenden Einfluß auf Barkai ausübte. Patinkin erkannte sehr rasch, daß die Wissenschaft in einem so kleinen Land wie Israel nur in einem stetigen Austausch mit dem Ausland bestehen könne; er legte daher den besten seiner Absolventen nahe, für einige Jahre Erfahrungen an einer englischen oder amerikanischen Universität zu sammeln. So ging Barkai, der 1952 den B.A. und 1955 den M.A. erworben hatte, anschließend für

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drei Jahre an die London School of Economics and Political Science und studierte dort u.a. bei Lionel Robbins. Dieser war auch der Betreuer von Barkais Dissertation Classical Political Economy and Economic Evolution, mit der er 1958 promoviert wurde. Hieraus entstanden eine Reihe von Aufsätzen über Aspekte der Wirtschaftstheorie von Smith (1968) und Ricardo (1959: 1965; 1967). Seit seiner Rückkehr nach Israel gehörte Barkai als Lecturer, Associate Professor und seit 1974 als Pinchas-Sapir-Professor of Economics dem Lehrkörper der Hebrew University an. Barkai hatte Gastprofessuren an zahlreichen amerikanischen Universitäten inne; als Gastwissenschaftler war er beim IMF, der Inter American Development Bank und bei der Brookings Institution tätig. Daneben war er in mehreren israelischen Forschungs- und Beratungsinstitutionen als Mitglied aktiv. Er gehörte dem 1964 auf Anregung von Simon Kuznets in Jersusalem gegründeten und von Don Patinkin geleiteten Falk Institute of Economic Research in Israel als Fellow an; als Mitglied und später als Vorsitzender des Advisory Committee of the Bank of Israel sowie als Vorsitzender des Committee on Public Sector Salaries übernahm er konsultative und praktische Verantwortung für die israelische Wirtschaftspolitik. So bildete die spezielle Problematik der israelischen Wirtschaft einen besonderen Schwerpunkt von Barkais Forschungsaktivitäten. Intensiv setzte er sich mit den ökonomischen Determinanten der Kibbuzwirtschaft auseinander und ging dabei der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen die dem zionistischen Idealismus folgenden Kibbuzim in eine grundsätzlich marktwirtschaftlich organisierte Wirtschaft integriert werden können. Seine Analyse ergab, daß die Produktionsseite der Kibbuzwirtschaft mit dem neoklassischen Modell voll kompatibel sei: Bei der Bestimmung der optimalen Faktorallokation müßten lediglich an die Stelle des nicht existierenden Lohnsatzes Schattenpreise entsprechend den Opportunitätskosten der Arbeit treten (vgl. 1977; 1982, S. 28). Das begrenzte Wachstum der Kibbuz-Bevölkerung lasse ein langfristiges Ansteigen der Schattenpreise erwarten; steige der Schattenpreis der Arbeit über den Marktlohnsatz, so werde der Einsatz fremder Arbeitskräfte für den Kibbuz attraktiv. Genau diese von Barkai theoretisch formulierte Entwicklung ließ sich in Israel seit den frühen sechziger Jahren beobachten.

Barkai, Halm Dagegen schließe das in den Kibbuzim herrschende Gleichheitsprinzip die Anwendung der gängigen Konsumtheorie aus. An die Stelle des Ausgleichs von Grenznutzen und Preis gelte hier der Grundsatz .Jedem nach seinen Bedürfnissen im Rahmen der Möglichkeit der Gemeinschaft" (1982, S. 32). Eine mechanische Gleichgewichtslösung stelle sich daher nicht ein, vielmehr müsse der jeweilige individuelle und kollektive Konsum in einem Prozeß der demokratischen Willensbildung festgelegt werden. Barkai verdeutlichte, daß dieser Prozeß durchaus zu stabilen Lösungen fuhren könne und auch trotz des Wegfalls pekuniärer Anreize das Motivationsproblem gelöst werden kann, sofem Produktion wie Konsum nicht nur unter einer gemeinsamen Idee stehen, sondern auch eine gewisse optimale Größe nicht überschritten wird. Im Finden dieser optimalen Größe liegt nach Barkai gerade die Herausforderung der Kibbuzim der zweiten und dritten Generation. Während sich zumindest in arbeitsteiligen Produktionsgängen mit wachsender Kibbuzgröße steigende Skalenerträge feststellen lassen, werden diese Vorteile durch Probleme bei der dem Gleichheitsprinzip folgenden Konsumtion ganz oder teilweise kompensiert (1977, passim). Barkais Publikationstätigkeit beschränkte sich jedoch keineswegs auf aktuelle Probleme der israelischen Wirtschaft. Neben grundlegenden makroökonomischen Analysen widmete er sich der Dogmengeschichte, wobei er sich als ein exzellenter Kenner der deutschen Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts erweist. Sein besonderes Interesse gilt den geldtheoretischen Auffassungen der Historischen Schule. Ausgangspunkt für Barkai ist die Frage, welche Verantwortung den Lehren der Historischen Schule bei der galoppierenden Inflation des Jahres 1923 zukam. Die Vertreter der Älteren wie der Jüngeren Historischen Schule hätten dadurch, daß sie vehement jegliche kausale Auswirkung des Geldmengenwachstums und der Höhe des Zinssatzes auf das Preisniveau bestritten und teilweise - wie Roscher - in umgekehrter Weise in der Geldmenge eine vom Preisniveau abhängige Größe erblickten, Anteil an einer wirklichkeitsfernen Wirtschaftswissenschaft gehabt - eine der Ursachen der verheerenden Geldentwertung der zwanziger Jahre. Dabei konstatiert Barkai, daß besonders Schmoller als Hauptvertreter der Jüngeren Historischen Schule in seinem Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre eine Geldtheorie entwickelt habe, die

nicht nur die Grundelemente einer modernen Theorie enthalte, sondern sich in interpretativer Weise in ein formales Modell des Geldmarktes einfügen lasse (vgl. 1991, passim). Dagegen fehle jedoch jegliche Erklärung des Transmissionsmechanismus zwischen Geld- und Gütermarkt: Die Herausforderung von Wicksells bereits 1898 erschienenem Werte Geldzins und Güterpreise werde von der Historischen Schule nicht nur nicht angenommen, sondern von Schmoller schlicht ignoriert. Doch nicht nur die Historische Schule hatte - wie Barkai überzeugend nachweist (vgl. 1993b) - mit der Ablehnung der Mathematik als Hilfsmittel der Ökonomie den Anschluß der deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaften an die angelsächsisch bzw. französisch-italienisch geprägte Wissenschaft verhindert, selbst der als Antipode Schmollers und Vater der Österreichischen Schule geltende Carl Menger hielt mathematisches Handwerkszeug für eher entbehrlich. Der eigentliche Methodenstreit habe so nicht zwischen der induktiven Richtung Schmollers und dem deduktiven Ansatz Mengers stattgefunden, sondern zwischen den Gegnern und Befürwortern einer mathematischen Richtung. Baikai weist schließlich darauf hin, daß es Außenseiter der deutschsprachigen Nationalökonomie wie Gossen, Auspitz, Lieben und Launhardt seien, die noch heute vor dem Hintergrund moderner Ökonomie mit ihren theoretischen Erkenntnissen bestehen könnten. Baikais Publikationen spannen somit einen bemerkenswerten Bogen zwischen wirtschaftspolitischen Studien über Israel, von Patinkins Geldtheorie geprägten makroökonomischen Analysen und einer Auseinandersetzung mit den Klassikern Smith und Ricardo bis zur Dogmengeschichte der deutschen Nationalökonomie des 19. und 20. Jahrhunderts. Zugleich spiegeln sie die Biographie des in Deutschland geborenen, in Israel aufgewachsenen und in moderner angelsächsischer ökonomischer Theorie ausgebildeten Barkai wider. Schriften in Auswahl: (1958) Classical Political Economy and Economic Evolution, Diss., London School of Economics. (1959) Ricardo on Factor Prices and Income Distribution in a Growing Economy, in: Economica, Bd. 26, S. 240-250.

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Bauer, Otto (1965) (1967)

(1969)

(1977)

(1982)

(1986)

(1989)

(1991)

(1993a)

(1993b)

Ricardo's Static Equilibrium, in: Economica, Bd. 32, S. 15-31. The Empirical Assumptions of Ricardo's 93 Per Cent. Labour Theory of Value, in: Economica, Bd. 34, S. 418-423. Α Formal Outline of a Smithian Growth Model, in: Quarterly Journal of Economics. Bd. 83, S. 396-414. Growth Patterns of the Kibbutz Economy (Contributions to Economic Analysis; No. 108), Amsterdam u.a. Der Kibbutz - ein mikrosozialistisches Experiment, in: Das KibbutzModell, hrsg. von G. Heinsohn, Frankfurt a.M., S. 19-59. Ricardo's Volte-Face on Machinery, in: Journal of Political Economy, Bd. 94, S. 595-613. The Old Historical School: Roscher on Money and Monetary Issues, in: History of Political Economy, Bd. 21, S. 179-200. Schmoller on Money and the Monetary Dimension of Economics, in: History of Political Economy, Bd. 23, S. 13-39. Don Patinkin's Contribution to the Economics in Israel, in: Monetary Theory and Thought. Essays in Honour of Don Patinkin, hrsg. von H. Barkai u.a., S. 3-14. Der Methodenstreit und das Aufkommen der mathematischen Ökonomie in: Niehans, J. u.a. (Hrsg.): Rudolf Auspitz und Richard Lieben und ihre Untersuchungen über die Theorie des Preises, Düsseldorf, S. 61-83.

Quelle: AEA. Klaus-Rainer Brintzinger

Bauer, Otto, geb. 5.9.1881

in Wien, gest.

4.7.1938 in Paris Bauer war der wichtigste sozialdemokratische Politiker Österreichs in der Zwischenkriegszeit. Wie viele andere führende Sozialdemokraten Österreichs stammte auch er aus einer bürgerlichen Familie. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien, an der er 1906 mit einer Arbeit über Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemo-

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kratie promovierte. In der sozialistischen Bewegung aktiv war Bauer von Anfang an als Intellektueller. Ab 1904 publizierte er regelmäßig in den theoretischen Schriften der Sozialdemokratie, zuerst in der in Deutschland erscheinenden Neuen Zeit, ab 1907 vor allem im österreichischen Pendant, Der Kampf, deren wichtigster Autor er bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges war, Artikel zu Fragen sozialistischer Theorie und Politik. Die behandelten Themen betrafen vor allem Fragen marxistischer Ökonomie (Krisentheorie und Probleme im Zusammenhang mit der Teuerung) und die für Österreich so wichtige Nationalitätenfrage. Nach Rückkehr aus Krieg und Gefangenschaft 1917 wurde die publizistische Tätigkeit durch seine unmittelbare politische Aktivität an die Seite gedrängt. Bauer war erster Außenminister der Republik Österreich in der Koalitionsregierung unter Karl Renner. Wegen des im Vertrag von Saint-Germain enthaltenen Verbotes des Anschlusses Österreichs an Deutschland trat er nach kurzer Zeit aus der Regierung aus. Den sozialdemokratischen Vorstellungen einer neuen Wirtschaft versuchte er als Vorsitzender der Sozialisierungskommission zum Durchbruch zu verhelfen, trat aber auch von dieser Funktion 1921 zurück, als das Scheitern einer revolutionären Umgestaltung der Produktionsverhältnisse offensichtlich war. Bauer war nach dem Austritt der Sozialdemokratie aus der Koalitionsregierung mit den Christlich-Sozialen der wichtigste Sprecher der Sozialdemokratie in der Opposition, die bis 1934 die größte Partei in Österreich war. Nach der Niederlage der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) in den Kämpfen im Februar 1934 verließ Bauer Österreich. Er leitete das Auslandsbüro der Partei erst von Brünn, dann von Paris aus, wo er im Juli 1938 starb. Bauer war Politiker, der sein Handeln theoretisch, nämlich mit Hilfe des Marxismus, plante und legitimierte. Der Marxismus war für Bauer, wie für die meisten Austromarxisten, eine spezifische Theorie gesellschaftlichen Wandels durch ökonomische Veränderungen. Neben den ökonomischen Schriften von Marx prägte Rudolf Hilferdings Finanzkapital das ökonomische Weltbild Otto Bauers. Die darin entwickelte Theorie von der Vergesellschaftung der Produktion im Kapitalismus durch Zentralisation und Konzentration des Kapitals und die daraus abgeleitete Möglichkeit, die Eigentumsverhältnisse radikal zu ändern, wa-

Bauer, Otto ren die für die Politik und die wirtschaftspublizistische Tätigkeit Bauers bestimmenden Ideen. Während der österreichischen Revolution entwikkelte Bauer seine Vorstellung von Sozialisierung, die eher an gildensozialistischen denn an bolschewistischen Ideen anknüpfte. Die Etablierung einer zentralen Planwirtschaft, wie sie etwa in Österreich -» Otto Neurath vertrat, wurde von ihm abgelehnt. Eine Sozialisierung sollte vielmehr durch die Bildung von Verbänden in den industriellen Sektoren erfolgen. Es war also keineswegs die Auflösung der Existenz von Güter- und Finanzmärkten vorgesehen. Der Konkurrenz zwischen Produzenten in einem Sektor wurde aber wenig Bedeutung beigemessen. Dabei sah Bauer seine Anschauungen im Einklang mit der historischen Entwicklung, nämlich der Herausbildung von Industriekartellen. Diese Industrieverbände sollten durch Kommissionen, in denen Vertreter der Arbeiter der betreffenden Industrie, Vertreter der Konsumenten und Vertreter des Staates saßen, verwaltet werden. Diese Form der wirtschaftlichen Organisation war für Bauer die Institutionalisierung wirtschaftlicher Interessengegensätze zur Erzielung von Kompromissen, nicht wie in den Ideen der Bolschewiken Durchsetzung eines vernünftigen Ganzen. Während die Arbeiter als Produzenten partikulare Interessen verträten hohe Löhne, gute Arbeitsbedingungen - , die Vertreter der Konsumenten hingegen entgegengesetzte Interessen hätten, sollten die Vertreter des Staates in diesem Konflikt vermitteln. Ebenso wie die zentrale Wirtschaftsplanung wurde von Bauer der Selbstverwaltungssozialismus abgelehnt. Er fürchtete nämlich, daß durch ihn vor allem die partikulären Interessen der unmittelbaren Produzenten geschützt würden. Seine Schriften zur Wirtschaftspolitik nach dem Ende der Koalitionsregierung 1921 sind von einer für politisch aktive Marxisten nicht untypischen Ambivalenz gekennzeichnet. Einerseits wurde vom Sozialisten Bauer der Kapitalismus wegen der ihm immanenten Ausbeutung der Arbeiter angeklagt und daraus die Notwendigkeit einer radikalen Umgestaltung der Produktionsverhältnisse gefordert, wobei die historische Möglichkeit dazu der Theorie von Marx bzw. Hilferding entnommen wird. Diese Haltung implizierte die Ablehnung, durch Wirtschafte- und Sozialpolitik die konkreten Übel kapitalistischer Marktwirtschaften wirksam bekämpfen zu können. Andererseits wurde von Bauer, dem Führer der größten Oppositi-

onspartei, von der Regierung eine Wirtschaftsund Sozialpolitik gefordert, die diese konkreten Übel, wenn nicht beseitigt, so doch mildert. Bauer bestätigt den besonderen Vorwurf der Austromarxisten gegen den österreichischen Kapitalismus, den diese vom Anfang ihres Auftretens an gegen ihn erhoben hatten, nämlich daß er rückständig sei. Die Entfaltung der Produktivkräfte werde durch ihn nicht begünstigt. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Österreichs werde durch Partikularinteressen von Teilen der Oberschicht, deren kulturelle und politische Borniertheit und der mangelnden Bereitschaft dieser Schicht, sich in der Organisierung der Produktion zu engagieren, gehemmt. Der österreichische Kapitalismus sei mehr an der Niederhaltung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften als an Akkumulation von Kapital interessiert Eine wirtschaftliche Entwicklung sei in Österreich daher im überkommenen institutionellen Rahmen des Kapitalismus kaum möglich. Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik sei hingegen Politik für eine Modernisierung Österreichs. Eine Besserstellung der Arbeiter und Angestellten könne langfristig nicht im Wege einer Umverteilung von Profiten zu Löhnen, sondern primär nur durch einen wirtschaftlichen Umbau erreicht werden. Allerdings entwickelte Bauer kaum präzise Vorstellungen zur Wirtschaftspolitik, sieht man vom Agrarprogramm ab. Trotz des radikal antikapitalistischen ideologischen Fundamentes seiner Wirtschaftspublizistik entsprechen die konkreten wirtschaftspolitische Ideen eher denen einer Marktwirtschaft mit einem starken öffentlichen Sektor als einer genuin sozialistischen Umgestaltung der Produktion. Sozialpolitik wird als integraler Bestandteil der Wirtschaftspolitik gesehen. So wurde etwa von Bauer in Fragen der Mietgesetzgebung betont, daß durch niedrige Mieten die Löhne niedrig gehalten werden können. Daher helfe der Mieterschutz der Industrie. Rationalisierung, Taylorismus und das Fließband müsse verstärkt in die Produktion eingeführt werden. Die industrielle Konzentration wurde in diesem Zusammenhang positiv bewertet, Konkurrenz sollte eher durch einen Abbau der Zollschranken erreicht werden. Da im Kapitalismus Modernisierung der Wirtschaft im allgemeinen Arbeitslosigkeit zur Folge hat, ist auch die Frage der technischen Modernisierung mit der Frage nach dem Wirtschaftssystem verbunden.

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Bauer-Mengelberg, Käthe Die Weltwirtschaftskrise wurde, wie von den meisten Sozialisten, primär als Beweis für die Überholtheit des Kapitalismus gesehen. Wirtschaftspolitik im Rahmen der herrschenden Wirtschaftsordnung zur Bekämpfung der Krise wurde von Bauer nur zögernd überlegt. Freilich war das theoretische Fundament seiner Ökonomie, nämlich die Marxsche Geldtheorie und die Krisentheorie Hilferdings, nicht dazu angetan, sich mit Vorstellungen wie denen des deutschen WTB-Planes der deutschen Gewerkschaften oder denen der schwedischen Sozialdemokraten ausfuhrlich auseinanderzusetzen. Er unterstützte 1922 die Sanierung der österreichischen Währung, die die Hyperinflation und den Nachkriegsboom beendete sowie 1931 die Sanierung des Budgets, die die Krise noch prozyklisch verschärfte. Erst 1933 entwikkelte Bauer ein Konzept zur Reflationierung der Wirtschaft. Darin wird nicht nur eine Ausweitung der Unterstützung der Arbeitslosen - ein traditionelles Thema der Sozialdemokratie - sondern auch eine vorsichtige Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben gefordert. Dieses Programm blieb zwar weit hinter Vorstellungen, die bereits in anderen Ländern entwickelt worden waren, zurück, war aber im Vergleich zu der damals in Österreich von der Regierung Dollfuß verfolgten Politik radikal reflationistisch. Diese Politik orientierte sich nämlich an einem harten Schilling und war, was die geldpolitischen Vorstellungen betrifft, weitgehend in Übereinstimmung mit den Ideen von Ludwig Mises und -» Friedrich A. Hayek. Die erst nach dem Zweiten Weltkrieg posthum herausgegebene Einführung in die Volkswirtschaftslehre (1956) beruht auf Mitschriften seiner in der Akademie der Sozialdemokratie abgehaltenen Kurse zur Ökonomie. Darin werden die Grundzüge der Manschen Ökonomie dargestellt in Verbindung mit Theorieelementen nicht-marxistischer Schulen, etwa der österreichischen Grenznutzenschule. Es werden darin auch Themen behandelt, die zwar für die marxistische politische Ökonomie von nur peripherer Bedeutung sind, aber von großem Gewicht für Wirtschaftspolitik: Marktpreis, Marktformenlehre, Währung und Steuern.

Schriften in Auswahl: (1910) Die Teuerung. Eine Einführung in die Wirtschaftspolitik der Sozialdemokratie, Wien.

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(1919) (1922) (1925)

(1931) (1933) (1956)

(1976)

Die Sozialisierungsaktion im ersten Jahr der Republik, Wien. Der Genfer Knechtungsvertrag und die Sozialdemokratie. Wien. Der Kampf um Wald und Weide. Studien zur österreichischen Agrargeschichte und Agrarpolitik, Wien. Rationalisierung - Fehlrationalisierung, Wien. Arbeit fur 200 000. Ein Wegweiser aus der Not, Wien. Einführung in die Volkswirtschaftslehre, hrsg. von E. Winkler und B. Kautsky, Wien. Werkausgabe, hrsg. von M. Ackermann u.a., Wien.

Bibliographie: Fischer, GVRosner, P. (Hrsg.) (1987): Politische Ökonomie und Wirtschaftspolitik im Austromarxismus, Wien. Leichter, O. (1970): Otto Bauer - Tragödie oder Triumph, Wien (enth. Bibliographie). Leser, N. (1968): Zwischen Reform und Bolschewismus, Wien. Weissei, E. (1976): Die Ohnmacht des Sieges, Wien. Quellen: Β Hb I; NP; Blaug. Peter Rosner

Bauer-Mengelberg, Käthe, geb. 23.5.1894 in Krefeld, gest. 22.4.1968 in New York Bauer-Mengelberg gehörte zu den Vertretern der Heidelberger Schule. Nach ersten Semestern in München bei Lujo Brentano wechselte sie an die Universität Heidelberg, wo sie das Studium der Nationalökonomie und Soziologie 1918 mit einer Dissertation bei -» S.P. Altmann über die Finanzpolitik der sozialdemokratischen Partei abschloß. Anschließend arbeitete sie zunächst als Assistentin und nach ihrer Habilitation 1923 mit einer Studie Zur Theorie der Arbeitsbewertung als Privatdozentin am Volkswirtschaftlichen Seminar der Handelshochschule Mannheim. 1930 erhielt sie den Ruf auf eine Professur am Staatlichen Berufspädagogischen Institut in Frankfurt/Main, an dem Berufsschullehrer ausgebildet wurden. Nach § 6 des nationalsozialistischen Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 wurde sie aus Gründen der Verwaltungsver-

Bauer-Mengelberg, Käthe einfachung zum 1.3.1934 in den Ruhestand versetzt, wobei ihr Fall zugleich das nationalsozialistische Ziel, die Frauenarbeit einzuschränken, widerspiegelt. Zur gleichen Zeit verlor sie durch Auflösung der Handelshochschule Mannheim ihre venia legendi. Wegen ihrer kurzen Beamtentätigkeit wurden ihr Ruhestandsbezüge nur für eine zweijährige Übergangsphase gewährt. Die Entscheidung Bauer-Mengelbergs zur Flucht ab Herbst 1934 und ihre tatsächliche Emigration erst im Januar 1939 deuten auf die prekäre lebensgeschichtliche Situation dieser Wissenschaftlerin. Vergeblich versuchte sie von Deutschland aus, eine akademische Position im Ausland zu erhalten. Die internationalen Hilfskomitees jedoch konnten nur für bereits geflohene Wissenschaftler tätig werden. Als Alleinerziehende mit zwei gerade schulpflichtigen Kindern - die Ehe mit einem jüdischen Rechtsanwalt, der inzwischen mittellos als Emigrant in Paris lebte, war 1930 geschieden worden - wollte sie Deutschland nicht ins Ungewisse verlassen. Durch Empfehlungen so prominenter Fürsprecher in der Emigration wie Emil Lederer oder Karl Mannheim hatten zwar verschiedene Colleges in Großbritannien und Australien Interesse an ihr bekundet, von Offerten jedoch abgesehen, weil sie annahmen, daB BauerMengelberg wegen der Sorgepflicht für ihre Kinder nur wenig mobil sein würde. Mit einer Hilfstätigkeit bei der Handelskammer Wuppertal bestritt sie zwischen 1936 und 1938 ihren Lebensunterhalt, ehe ihr durch Vermittlung der von deutschen Emigranten gegründeten American Guild for German Cultural Freedom zum Januar 1939 in den USA eine befristete Stelle am Iowa State College of Agriculture and Mechanic Arts angeboten wurde, die aus Mitteln des Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars und des Oberlaender Trust finanziert wurde. Daran schlossen sich weitere kurze Verträge an - im Sommer 1943 an der New York University, von Herbst 1943 bis 1946 am New Jersey College for Women der Rutgers University - , bevor sie eine feste Anstellung als Professorin für Soziologie am Upsala College in East Orange/N.J. bekam, wo sie bis zu ihrer Emeritierung 1964 tätig war. Bauer-Mengelbergs wissenschaftliches Werk in Deutschland zeigt das interdisziplinäre Wissenschaftsverständnis der Heidelberger Schule, die nach Ende des Ersten Weltkrieges gezielt künftige Funktionsträger für die junge Weimarer Republik ausbildete. Im Mittelpunkt von Bauer-Mengel-

bergs Arbeit stand nicht so sehr die originelle ökonomische Analyse, sondern - bestimmt durch ihre Ausbildung von Praktikern an der Handelshochschule bzw. am Berufspädagogischen Institut die Klärung grundlegender sozialökonomischer Zusammenhänge. Ihren politischen Überzeugungen entsprechend begann sie in der Dissertation und der Habilitationsschrift mit Analysen der sozialdemokratischen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie, daran schlossen sich verschiedene Aufsätze zur soziologischen Begriffsbildung (Soziologie und Sozialpolitik, Soziale Praxis 1925, Stand und Klasse, Der Bürger, Kölner Vierteljahreshefte ftir Soziologie 1924 u. 1929) an, bevor sie sich, bedingt durch ihre Lehrverpflichtung in Mannheim, der Agrarpolitik zuwandte. Darüber schrieb sie 1931 ein Lehrbuch, gefolgt von Aufsätzen über die Stadtrandsiedlung, die deutsche Fettwirtschaft oder den Weltweizenmarkt, die zwischen 1932 und 1934 in der von der Frankfurter Zeitung herausgegebenen Wirtschaftskurve erschienen und die Chancen der nationalsozialistischen Autarkiepolitik diskutierten. Mit ihrer Entlassung wurde diese publizistische Tätigkeit unterbrochen und konnte auch nach der Emigration nicht wieder aufgenommen werden. Eine kleine Arbeit über die Agrarbewirtschaftung in den USA während des Zweiten Weltkrieges (Economic Analysis of the Food Stamp Plan, Journal of Farm Economics 1941) suchte zwar an jene früheren agrarpolitischen Arbeiten anzuknüpfen, jedoch blieb das vereinzelt. Im Unterschied zu ihren Kollegen und Schicksalsgenossen in Iowa, -» Gerhard Tintner und Adolf Kozlik, litt sie unter der Entwurzelung. Von Deutschland abgestoßen glaubte sie, auch in den USA nicht „anwachsen" zu können, wie sie dem Vorsitzenden der American Guild, Prinz zu Löwenstein, noch zwei Jahre nach ihrer Ankunft schrieb. In ihrer verunsicherten Lage unterstellte sie den Amerikanern, in jedem Emigranten einen „fifth columnist" zu vermuten. Solche Gestimmtheit war für die wissenschaftliche Produktivität nicht förderlich. Hinzu kamen die hohen Lehrverpflichtungen an amerikanischen Colleges, die eigene Forschungen schwierig machten. Publizistisch trat sie nur noch einmal hervor, als sie Jahre später Lorenz von Steins Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich übersetzte und mit einem einführenden Kommentar herausgab.

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Beckerath, Herbert von Schriften in Auswahl: (1919) Die Finanzpolitik der sozialdemokratischen Partei in ihren Zusammenhängen mit dem sozialistischen Staatsgedanken, Mannheim-BerlinLeipzig (Diss.). (1926) Zur Theorie der Aibeitsbewertung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 55/56, S. 680-719, 129-159 (Habil). (1926) Die liberalen Tendenzen in der ökonomischen Theorie des Sozialismus, in : Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. 12, S. 199-212. (1931) Agrarpolitik in Theorie, Geschichte und aktueller Problematik, LeipzigBerlin. (1964) [Übersetzung, Einführung u. Herausgabe von] Lorenz von Stein, The History of the Social Movement in France, 1789-1850, Totowa, N.J. Quellen: SPSL 2228/3; EC 24; N1 Löwenstein 8, BÄK. Claus-Dieler Krohn

Beckerath, Herbert von, geb. 4.4.1886

in Krefeld, gest. 10.3.1966 in Washington, D.C.

War durch seine Herkunft aus dem großbürgerlichen Milieu geprägt: Man war sowohl den schönen Künsten wie den Wissenschaften zugewandt, gleichzeitig aber auch den unberechenbaren Wechselfällen ausgesetzt, denen sich eine in der Seidenindustrie tätige Unternehmerfamilie gegenübersah. Beckeraths wissenschaftliche Position war, wie bei der Mehrzahl der deutschen Nationalökonomen seiner Zeit, stark von der Historischen Schule beeinflußt. Dennoch war er zu sehr Individualist, als daß er sich streng einer bestimmten Schule hätte zuordnen lassen. Sein Denken war weder auf die bloße Ansammlung einzelner Fakten, noch auf den Versuch der Systematisierung historischer Entwicklungslinien zu Wirtschaftsstufen oder -systemen gerichtet, noch weniger allerdings auf die Konstruktion abstrakter Modelle. Charakteristisch für ihn war eher eine heute würde man sagen: systemare - Blickweise, die versucht, die konkreten Gegebenheiten einer Volkswirtschaft in ihrer wechselseitigen Bezogenheit ökonomischer, sozialer und politischer Ein-

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flüsse aufeinander und vor allem ihres daraus resultierenden stetigen Wandels zu erfassen und zu erklären. Dabei maß er der produktiven Phantasie und der Intuition des Forschers einen höheren Stellenwert als der streng logischen Deduktion zu. deshalb war für ihn die Nationalökonomie mehr eine Kunst als eine exakte Wissenschaft im Stile der Naturwissenschaften" (Wessels 1968, S. 12). Dies gilt im übrigen nicht nur für sein Idealbild vom forschenden Nationalökonomen, sondern auch für das des Unternehmers, der sich Ungewißheiten und ständig wandelnden Situationen gegenübersieht und diesen weniger mit vorgefertigten theoretischen Rezepten als vielmehr mit Einfallsreichtum und Bereitschaft zum Wagnis begegnen muß. In dieser Hinsicht fühlte er sich durchaus der Untemehmervision seines (späteren) Bonner Kollegen -» Joseph A. Schumpeter verwandt. Nachdem er zunächst Rechtswissenschaft studiert und das Referendarexamen abgelegt hatte, wandte sich Beckerath in Freiburg der Volkswirtschaftslehre zu und wurde besonders durch von SchulzeGävernitz beeindruckt, dessen wissenschaftliche Arbeitsweise ihm bis an sein Lebensende vorbildlich erschien. Er promovierte bei ihm mit einer Dissertation über Die Kartelle der deutschen Seidenweberei-Industrie (1911). Nach der Promotion übte H. v. Beckerath für kurze Zeit eine Tätigkeit im Bund der Industriellen unter Gustav Stresemann und beim Zentral verband deutscher Industrieller aus. 1914 habilitierte er sich an der Universität Freiburg mit einer Arbeit Kapitalmarkt und Geldmarkt (1916), in der er sich neben den Unterscheidungsmerkmalen beider Märkte und den ihnen zuzuordnenden Kreditbegriffen auch mit der in der Folgezeit sehr umstrittenen Frage der Möglichkeiten und Grenzen der Giralgeldschöpfung beschäftigte, ohne sich allerdings mit der wenige Jahre vorher erschienenen Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung von Schumpeter ausführlicher auseinanderzusetzen. Nach seiner Privatdozentenzeit an der Universität Freiburg wurde Beckerath 1920 als ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an die Technische Hochschule in Karlsruhe und 1922 an die Universität Tübingen berufen. 1925 schließlich erfolgte sein Ruf an die Universität Bonn, an der er sehr wahrscheinlich bis zu seiner Emeritierung geblieben wäre, hätten nicht die politischen Verhältnisse nach 1933 ihn im Sommer 1934 zur Emigration veranlaßt. Auf Empfehlung Schumpe-

Beckerath, Herbert von ters hatte er eine Gastprofessur am Bowdoin College in Brunswick, Maine, angenommen und sich zu diesem Zweck in Bonn beurlauben lassen. Die Beurlaubung wurde mehrmals verlängert, und seine Rückkehr auf den Bonner Lehrstuhl wäre damals noch jederzeit möglich gewesen, auch nachdem er 1935 eine ordentliche Professur an der University of North Carolina in Chapel Hill angenommen hatte. Seine mehrfachen Besuche in Europa, bei denen er einen unmittelbaren persönlichen Eindruck von der sich zuspitzenden politischen Lage bekam, haben ihn dann aber 1936 veranlaßt, ein Gesuch zum Ausscheiden aus dem deutschen Staatsdienst zu stellen. Amerikanischer Staatsbürger wurde er Ende 1939, nachdem er zwischenzeitlich (1938) von Chapel Hill an die Duke University in Durham, N.C. gewechselt war, wo er auch 1955 emeritiert wurde. Erst Mitte der 1950er Jahre konnte sich Beckerath entschließen, Deutschland zur Wahrnehmung von Gastprofessuren und zur Übernahme einer Honorarprofessur 1956 an seiner alten Alma Mater in Bonn wieder zu besuchen. 1961 hat ihm die Universität Tübingen die Würde eines Ehrendoktors verliehen. Als er 1966 endgültig, von Krankheit und dem Tode seiner Frau gezeichnet, nach Deutschland zurückkehren wollte, erreichte ihn der Tod kurz vor der Abreise. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträgen hat sich H.v. Beckerath, seinem wissenschaftlichen Credo entsprechend, mit jenen faktisch zu beobachtenden Problemen auseinandergesetzt, denen sich die deutsche Volkswirtschaft um die Jahrhundertwende und im AnschluB an den Ersten Weltkrieg gegenübersah. Das waren einmal die verschiedenen Aspekte der industriellen Organisation, insbesondere im Zusammenhang mit der zunehmenden Konzentration und Kartellierung. Zum anderen standen die großen Fragen des Wiederaufbaus der deutschen Volkswirtschaft, einschließlich der sie begleitenden damaligen geld- und währungspolitischen Schwierigkeiten im Mittelpunkt seines wissenschaftlichen Interesses. Dabei hat er immer versucht, die an den jeweiligen konkreten Anlässen festzumachenden Probleme in den seiner Auffassung nach notwendigen und geeigneten gesamtgesellschaftlichen Rahmen zu stellen. Sowohl in seinen Darstellungen des Valuta- wie des Transferproblems reihte sich H.v. Beckerath in die Reihe jener Ökonomen ein, die der Lehre von der vorrangigen Rolle monetärer Ursachen

von Wechselkurs- und Zahlungsbilanzungleichgewichten entgegentraten und die Gründe der Schwierigkeiten in erster Linie in güterwirtschaftlichen Fehlentwicklungen suchten. Entsprechend waren seine wirtschaftspolitischen Therapievorschläge ausgerichtet. In seinem Werk Der moderne Industrialismus (1930) ging Beckerath von der damals noch vorherrschenden eher wirtschaftskundlich und gewerbepolitisch ausgerichteten Darstellungsweise über zu einer sehr viel differenzierteren und tiefergehenden Analyse der modernen Industriewirtschaft. Er hob deren ganz unterschiedliche Strukturen in technischer sowie in angebots- und nachfragespezifischer Hinsicht hervor und wies damit auf die in letzter Konsequenz unberechenbaren und zufälligen ökonomischen Abläufe hin, die sich einer streng rationalen Betriebs- und Unternehmensführung entzögen. Die Unwägbarkeiten und Unberechenbarkeiten des Wirtschaftslebens sein durchgängiges Thema - haben ihn auch vor einer zu einseitigen Sichtweise gegenüber den verschiedenen Formen von Unternehmenskooperationen und -Zusammenschlüssen bewahrt. Durch sie sah er jedenfalls die ökonomische Funktionsfahigkeit der Wettbewerbswirtschaft noch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Seine Besorgnisse waren auch in dieser Hisicht über die rein ökonomischen Probleme hinausgehend weiter auf die möglichen gesellschaftspolitischen Gefährdungen gerichtet. Im Zwang zur Rationalisierung, zur organisatorischen Perfektioniening und zum (manchmal dysfunktionalen) Zusammenschluß von Betrieben und Unternehmungen sah er zugleich auch Tendenzen zur Massensuggestion und zur Manipulierung wirtschaftlicher Abläufe, insbesondere zur Beeinflussung der Nachfrage angelegt. In den zwanziger Jahren verstärkte sich sein Pessimismus hinsichtlich der Zukunftsaussichten des kapitalistischen Wirtschaftssystems und „immer mehr begann er an dem kulturellen Wert des industriellen Systems, dessen Entwicklung darzustellen er als sein eigentliches Lebenswerk betrachtet hatte, zu zweifeln" (Wessels 1968, S. 26). Kein Wunder, daß ihm die Entwicklung nach 1933 als die politische Fortsetzung und Übersteigerung der Versuche zur Manipulation des Menschen deutlich werden mußte und sein Individualismus und tief verwurzeltes Gefühl fur Menschenwürde und den kulturellen Wert persönlicher Freiheit darauf mit geradezu physisch empfundenen Leiden reagierte (H. J. Krümmel 1968).

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Behrend, Hilde Es zeugt aber auch für v. Beckeraths Fähigkeit zur vorurteilsfreien Beobachtung faktischer Vorgänge, wenn in seinen amerikanischen Jahren trotz der dankbar empfundenen Freiheit und der dort erfahrenen Offenheit im persönlichen und fachlichen Austausch der Menschen und Kollegen, seine Skepsis hinsichtlich der Fähigkeit des Industriesystems, die kulturellen Ideale der westlichen Zivilisation zu bewahren, eher noch zugenommen hat. In dem stärker ausgeprägten Wirtschaftlichkeitsdenken der US-Wirtschaft sah er alle jene Gefahren angelegt, die er bereits für die Entwicklung der europäischen, speziell der deutschen Industrie in den zwanziger und dreißiger Jahren glaubte konstatieren zu können. Dies kommt in seinem Werk Großindustrie und Gesellschaftsordnung (1954) recht klar zum Ausdruck. Hinter solchen Bedenken stand vermutlich sein sorgenvoller Wunsch, daß Amerika die Kraft bewahren möge, der seiner politischen und wirtschaftlichen Führungsposition entsprechenden moralischen Dimension nicht verlustig zu gehen.

(1956)

(1963)

Industriepolitik II: Epochen und Bereiche. in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 5. Stuttgart u.a., S. 276-281. Wirtschaftspolitik, Machtpolitik und der Kampf um die Weltordnung, in: Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart. H. 268/269. Tübingen.

Bibliographie: Krümmel, H.J./Wessels, Th. (1968): In Memoriam H.v. Beckerath. Alma Mater, Beiträge zur Geschichte der Universität Bonn, H. 24, Bonn. Herbert von Beckerath (1866-1966), in: 150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818-1968, Bonner Gelehrte, Staatswissenschaften, Bonn 1969. Quellen: Β Hb II; HldWiWi 1966; Wenig, O. 1968; 150 Jahre Promotion a. d. WiWi. Fak. d. Univ. Tübingen, bearb. von I. Eberl/H. Marcon, Stuttgart 1984. Helmut Walter

Schriften in Auswahl: (1911)

Die Kartelle der deutschen Seidenweberei-Industrie, Karlsruhe (Diss.).

(1916) (1920) (1922)

(1928)

(1930)

(1936)

(1942) (1954)

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Behrend, Hilde, geb. 13.8.1917 in Berlin

Kapitalmarkt und Geldmarkt. Eine ökonomische Studie, Jena (Habil.). Die Markvaluta, Jena. Kräfte, Ziele und Gestaltungen in der deutschen Industriewirtschaft, Jena, 2. erw. u. verb. Aufl., 1924. Reparationsagent und deutsche Wirtschaftspolitik. Eine programmatische Kritik der deutschen Wirtschaft der Gegenwart, Bonn. Der moderne Industrialismus (Gewerbepolitik I). Grundrisse zum Studium der Nationalökonomie, hrsg. v. K. Diehl/P. Mombert, Bd. 11, Nr. 1, Jena. Die Vereinigten Staaten und der 'New Deal', in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 60, Η. 1, S. 275-301 u. H. 2, S. 401-426. In Defense of the West. A Political and Economic Study, Durham, N.C. Großindustrie und Gesellschaftsordung. Industrielle und politische Dynamik, Tübingen/Zürich.

Behrend emigrierte als 19-jährige nach Großbritannien. Sie verdiente sich zunächst als Sekretärin den Lebensunterhalt, begann aber 1941 ihr Studium an der London School of Economics. Nach dem Studium nahm sie eine Arbeit als Lehrerin für Deutsch und Französisch in einer Grammar School an. Die Kenntnisse aus der Arbeitswelt der Lehrer nutzte sie in ihren späteren wissenschaftlichen Analysen der unterschiedlichen Motivationssysteme der Arbeitskräfte in verschiedenen Arbeitsmärkten. 1949 gab Behrend ihre Tätigkeit im Sekundarschulbereich auf, nahm an der Universität Birmingham bei Sargant Florence eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft und Forschungsassistentin an und setzte ihr Studium fort. 1951 promovierte sie an der Universität Birmingham. Drei Jahre danach nahm Behrend an der Universität von Edinburgh eine Stelle als Assistentin an und blieb dieser Universität fortan treu. Als 56jährige wurde sie ordentliche Professorin für Industrial Relations. Hilde Behrend lebt heute in einem Pflegeheim, wobei die Alzheimersche Krankheit sie ihre Leistungen als Forscherin vergessen macht.

Behrend, Hilde Behrends wissenschaftliche Arbeit kreist um die Analyse menschlicher Verhaltensmuster und Entscheidungsprozesse. In Normative Factors in the Supply of Labour (1955) untersuchte sie das unterschiedliche Fluktuationsverhalten von Arbeitskräften im verarbeitenden Gewerbe und im Mittelschulwesen. An Hand von empirischen Erhebungen wies sie nach, daß normative Elemente Entscheidungen Uber den Arbeitsplatzwechsel beeinflussen (soziale Verhaltensmuster) und infolgedessen der Reaktion der Menschen auf Marktkräfte (finanzielle Anreize) Grenzen gesetzt seien. Ein weiterer Forschungsaspekt, den Behrend 1959 aufgegriffen hat und nicht wieder aus den Augen verloren hat, betrifft die Analyse der freiwilligen Absenz von der Arbeit. Sie machte darauf aufmerksam, daß Arbeitsbedingungen und persönliche Charakteristika für unterschiedliche Absenzraten verantwortlich seien. Um dem Problem auf den Grund zu gehen, ist eine Unterscheidung der Absenz in Häufigkeit (Eintagesabsenz) und Dauer der Absenz in Tagen vorzunehmen. Die empirischen Ergebnisse sind für sich genommen interessant, Behrend trug aber zusätzlich zur Methodenverbesserung der Analyse bei, indem sie darauf aufmerksam machte, daß Durchschnittswerte für die Beurteilung von Absenzraten nicht ausreichen würden und sie den Weg der Differenzierung aufzeigt. Darüber hinaus versuchte sie in ihrer Arbeit, die komplexen Probleme der industriellen Beziehungen (industrial relations), d.h. die Kommunikation und Kooperation zwischen Interessensvertretungen und dem Staat zu identifizieren. Sie weist darauf hin, daß die Analyse industrieller Beziehungen problemorientiert ist, kaum in abstrakte Theorien, sondern vielmehr in konkrete Hilfestellung für wirtschaftspolitische Weichenstellungen mündet. Behrend selbst konzentrierte sich auf die Analyse des Konsumentenverhaltens in Fragen der Perzeption von Preisen und Preisanpassungsprozessen - ein Bereich des Konsumverhaltens, der bis dato kaum analysiert wurde. Des weiteren stellt sie das Verständnis des einfachen Bürgers und der Verhandlungspartner in Kollektivverhandlungen für Lohn-Preisanpassungen dar und weist auf die Implikation des geringen Wissens über ökonomische Zusammenhänge für die Akzeptanz einer nationalen Einkommenspolitik hin. Wenn Einkommenspolitik effizient sein soll, müßten einerseits realistische Preisvorstellungen vermittelt werden (Informationsaufgabe politisch

unabhängiger Institutionen wie dem Konsumentenschutz), andererseits sei es wichtig, daß Preise und Preisentwicklungen an einem relevanten Referenzsystem ausgerichtet werden, nämlich dem Einkommen und der Einkommensentwicklung und nicht an Preisen der Vergangenheit oder der sozialen Gruppenzugehörigkeit, die den Erhebungen zufolge in Großbritannien die üblichen Bezugsysteme darstellen. Der Erfolg der Inflationsforschung Behrends lag nicht zuletzt im Hinterfragen der Annahmen ökonomischer Theorien. Sie überschritt mit ihren Inflationserhebungen die traditionellen Forschungsgrenzen der ökonomischen Theorie und bearbeitete ein Niemandsland, das auch Psychologen in Analysen der Lohngerechtigkeit ignorierten. Schriften in Auswahl: (1955) Normative Factors in the Supply of Labour, in: The Manchester School of Economic and Social Studies, Bd. 23, S. 62-76. (1959) Voluntary Absence from Work, in: International Labour Review, Bd. 79, S. 109-140. (1961)

(1966)

(1969)

(1971)

(1974)

(1974/75)

A Fair Day's Work, in: Scottish Journal of Political Economy, Bd. 8, S. 102-118. Price Images, Inflation and National Incomes Policy, in: Scottish Journal of Political Economy, Bd. 13, S. 2732%. Have you Heard the Phrase ' Productivity Agreements'? (zus. mit Α. Knowles und J. Davies), in: Scottish Journal of Political Economy, Bd. 16, S. 256-270. Public Acceptability and a Workable Incomes Policy, in: An Incomes Policy for Britain, National Institute of Economic and Social Research and the Social Science Research Council, London. The Impact of Inflation on Pay Increase Expectations and Ideas of Fair Pay, in: Industrial Relations Journal, Bd. 5, S. 5-10. A New Approach to the Analysis of Absences from Work, in: Industrial Relations Journal, Bd. 5,4-21.

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Behrendt, Richard Fritz Walter (1975)

(1976)

(1984) (1988)

Pay Negotiations and Incomes Policy. A Comparison of Views of Managers and Trade Union Lay Negotiators, (zus. mit A.I. Glendon und D.P. Tweedie), in: Industrial Relations Journal, Bd. 6, S. 4-19. Absence and the Individual: a Sixyear Study in One Organisation, (zus. mit S. Pocock), in: International Labour Review, Bd. 114, S. 311-327. Problems of Labour and Inflation, Croom Helm/Beckenham. Reaching Policy-Makers: An Autobiographical Account, in: Information and Government, hrsg. von R. Davidson, P. White, Edinburgh.

Quelle: Β Hb Π; Behrend, Η. (Brief vom 20.5.91). Gudrun Biffl

Behrendt, Richard Fritz Walter, geb. 6.2.1908 in Gleiwitz, gest. 17.10.1972 in Basel Behrendt stammte aus einer Industriellenfamilie. Die engere Verwandtschaft war in Schlesien beheimatet; zu ihr gehört unter anderem der bedeutende Afrikaforscher Emin Pascha (Eduard Schnitzer, Okt. 1892 von Sklavenjägern im östlichen Kongo ermordet). Behrendt besuchte das Humanistische Gymnasium in Fürstenwalde/ Spree, wo der Vater einen Betrieb erworben hatte. Dieser konnte unter dem Druck der politischen Verhältnisse Anfang der dreißiger Jahre rechtzeitig veräußert werden. Die Eltern konnten von 1933 an in Haifa einen neuen Betrieb erwerben und ausbauen; sie kehrten nicht mehr nach Deutschland zurück. Das Studium absolvierte Behrendt vom Wintersemester 1926 an in Nürnberg, vom Sommersemester 1929 an in Köln, vom Sommersemester 1930 bis zur Promotion zum Doktor der Staatswissenschaften 1931 in Basel. Zu seinen Lehrern in der Soziologie und Philosophie gehörten vor allem L. von Wiese, P. Honigsheim, H. Plessner, M. Scheler, W. Vleugels; in der Nationalökonomie E. von Beckerath, H. Ritsehl, E. Salin, J. Wackemagel. Insbesondere durch von Wiese („dem mutigen Bekenner einer humanen Ethik in zwei Weltkriegen", 1967a) und Salin erhielt er, worauf er immer wieder hinwies, ganz wesentliche Anstöße.

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1932 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er alsbald der Verfolgung ausgesetzt war. Seine nichtjüdische Frau Elfriede ermöglichte ihm das 'Untertauchen' in Bad Oeynhausen und Umgebung. Sie war es auch, die die erfolgreiche Flucht über die Schweiz nach England organisierte. Hier lebten sie in Monaten der Ungewißheit, in denen Behrendt Lehrveranstaltungen der London School of Economics besuchte, ehe er Kontakte zu emigrierten Kollegen in Panama knüpfte. Wesentlich prägend für seinen Lebensabschnitt in der Emigration wurden seine Erfahrungen in Nord- und Südamerika seit 1935. In Panama war er an der Gründung der dortigen Universität beteiligt, wohin weitere Emigranten, darunter Hans Kohn, gelangt waren. Behrendt wurde dort Direktor der Forschungsstelle für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Hier entstanden zahlreiche Schriften, die zu den ersten fundierten soziologischen Beiträgen im mittelamerikanischen Raum gehören. Von hier konnte er auch auf zahlreichen Reisen die Entwicklungsproblematik vor allem der mittelamerikanischen, aber auch einzelner südamerikanischer Staaten aus eigener Anschauung kennenlemen, so beispielsweise in Peru und in Paraguay. 1945 wurde er Full Professor an der Colgate University in Hamilton/USA, kurz darauf Regieningsberater in Peru (ab 1949) und Sachverständiger der International Bank for Reconstruction and Development, der Weltbank, in Washington (ab 1950). Er wirkte 1951 als Berater der Regierung von Puerto Rico und, ab 1952, der Vereinten Nationen. Auf der Grundlage seines in dieser Phase erworbenen hohen Renommees und seiner zahlreichen Publikationen zur Entwicklungsproblematik, aber auch wegen seines brillanten Rufes als Universitätslehrer, den er sich an verschiedenen Universitäten erworben hatte, wurde er auf Anregung von Fritz Marbach, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Bem, 1953 an diese Universität berufen, wo es ihm als dem ersten Lehrstuhlinhaber für Soziologie nach beharrlicher Aufbauarbeit gelang, im Jahre 1960 das Institut für Soziologie und sozioökonomische Entwicklungsfragen der Universität Bem zu gründen. Als dessen renommierter Direktor wurde er unterstützt von mehreren namhaften Wirtschaftsunternehmungen aus den Kantonen Bern, Neuenburg, Solothum. Im Jahre 1965 folgte er einem Ruf an die Freie Universität Berlin. In Bern war er nicht heimisch geworden; es zog ihn förmlich nach Deutschland zurück; er schien sich bewußt, daß er

Behrendt, Richard Fritz Walter dort gebraucht würde. Der Entschluß wurde für ihn während der Wirmisse der endsechziger Jahre zu einer großen menschlichen Enttäuschung. Er hatte im übrigen vorher einen Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Münster (von wo auch die Sozialforschungsstelle in Dortmund hätte geleitet werden müssen) vorwiegend aus politischen Gründen abgelehnt; die Berufung erging dann an Helmut Schelsky. Das umfängliche Oeuvre zusammenzufassen, ist wegen seiner bemerkenswerten Materialfülle und der differenzierten Darstellungsweise nicht leicht möglich; es mögen hier einige Grundprinzipien genügen. In Lateinamerika hatte er die Erfahrung gemacht, daß sozialer Wandel in den ja schon seit weit über 100 Jahren selbständigen Ländern in einem Immobilismus erstarrt war und daß ein sozialer Wandel nur über soziale und institutionelle Strukturen initiiert werden könnte. Von daher suchte er nach tragfähigen Ansätzen, von denen ausgehend und mit denen gemeinsam eine Erneuerung herbeigeführt werden könnte. Er sah sehr wohl, daß das bei den Verwaltungseliten der Länder und bei den gesellschaftspolitisch wirksamen Resten des verbreiteten Feudalismus auf Schwierigkeiten stoßen würde. Die allein wirtschaftspolitische Orientierung verwarf er gründlich und setzte sich stattdessen für „soziales Wachstum" ein, für eine Verbindung von sozialer und ökonomischer Entwicklung. Seine vielfältigen Erkenntnisse faßte er in umfänglichen und zahlreichen Publikationen in spanischer Sprache zusammen. Hinzu kamen zahllose Berichte, die er als Experte in verschiedenen Staaten für den internen Gebrauch ausgearbeitet hatte. Das eigentliche Fazit aus diesen Erfahrungen legte er in zahlreichen Schriften vor, die nach seiner Rückkehr nach Europa veröffentlicht wurden. Dazu gehört zunächst die vielbeachtete Arbeit Eine freiheitliche Entwicklungspolitik für materiell zurückgebliebene Länder (1956b). Dazu gehört des weiteren ein Sammelband, der aus einer Ringvorlesung im Wintersemester 1960/61 an der Universität Bern und aus einem Wochenendseminar im Februar 1961 unter enormer Beteiligung fachkundiger Entwicklungsspezialisten entstand: Die wirtschaftlich und gesellschaftlich unterentwickelten Länder und wir, Stellungnahmen aus Wissenschaft und Praxis (1961). Auf dieser Linie ist dann auch sein Opus Magnum zu sehen, Soziale Strategie fiir Entwicklungsländer (1965b), das in der von Pierre Bertaux herausgegebenen Reihe

Welt im Werden erschien. Dieses Werk blieb über Jahrzehnte das Standardwerk für die Entwicklungssoziologie und kann selbst heute nicht als überholt eingeschätzt werden. Was dort über Entwicklung als gelenkten Kulturwandel, psycho-soziale Elemente des Entwicklungsprozesses, Zellen und Träger des Entwicklungsprozesses, Emanzipation der Frau, gesellschaftliche Sachlichkeit, disharmonische Entwicklungen, die Rolle des Nationalstaates und über Grundsatzfragen der Entwicklungssoziologie gesagt wird, ist von manchen nie zur Kenntnis genommen, von anderen allzu früh vergessen worden. Gerade bei der Entwicklungsstrategie forderte er u.a. realistische Planung, Fundamentaldemokratisierung, plurale Mobilisierung von Entwicklungsträgem, Nivellierung der Machtstrukturen, globale Orientierung. In diesem großen theoretischen Entwurf auf empirischer Grundlage, dabei nicht nur seine Erfahrungen aus Lateinamerika nutzend, stützte er sich auf und ließ sich anregen von Ralph Linton, Daniel Lerner, -» Franz und Ludwig Oppenheimer und andere mehr. Im ganzen gesehen ging es ihm um den Menschen, was, gerade bei der genossenschaftlich fundierten Entwicklung, so große Vorteile mit sich bringen konnte (auf der Grundlage weiter Erfahrungen in der kontinentaleuropäischen Genossenschaftsgeschichte): „Das Hauptmotiv dieser Tendenz ist die Suche nach Hegung für Menschen, die im Zustande der Vereinzelung in einer für sie unübersichtlichen Großgesellschaft das Gefühl haben, anonymen und übermächtigen Kräften anheimgegeben zu sein. Die staatssozialistischen und kommunistischen Gestaltungsideen sind Antworten auf diese Suche. Ihnen gegenüber ist die Genossenschaft zweifellos die freiheitlichste und gleichzeitig die einzig konstruktive Form des Kollektivismus" (1956b). „Individuelle Autonomie kann sich nur in einem kooperativen Rahmen entfalten und erhalten, also in einer Gesellschaft, die gekennzeichnet ist durch die freiwillige Mitverantwortung und Mitwirkung der einzelnen für das Gemeinwesen" (1967a). In der allgemeinen soziologischen Theorie erwarb sich Behrendt einen internationalen Ruf durch die Werke Der Mensch im Licht der Soziologie (1962) und Dynamische Gesellschaft (1963). Es erschienen zahlreiche wegweisende Aufsätze, darunter The Emergence of New Elites and New Political Integration Forms and Their Influence on Economic Development, ein Vortragstext, den er anläßlich des 5. Weltkongresses für Soziologie in

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Behrendt, Richard Fritz Walter Washington (1962) vorgetragen hatte. Er sprach auf dem Großereignis der internationalen Soziologie, der Max Weber Gedächtnisveranstaltung 1964, in Heidelberg und auf Tagungen und Vortragsveranstaltungen in vielen Ländern. Nach seiner Übersiedlung nach Berlin mit der sich anbahnenden, aus den verschiedensten Motiven und politischen Quellen zehrenden sogenannten Achtundsechzigerbewegung sah er sich in seiner konstruktiven, der Aufklärung verbundenen und fundamentaldemokratischen, also antiautoritären Perspektive im eigentlichen Sinne, förmlich überrollt, enttäuscht, entsetzt. Davon zeugen seine letzten Schriften Uber die Rolle Europas, Menschenrechte und neue soziale Einstellungen und Ordnungen, geschrieben aus der Sicht des kritischen Realisten und demokratischen Umgangsformen verpflichteten „progressiven Konservativen". Von Berlin aus führte er noch Feldforschungen in Ecuador durch (Sozialstruktur und Entwicklung in einem Neusiedlungsgebiet). Als er erkannte, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden, zog er sich nach Basel zurück, wo er seinem allzu frühen Tod bewußt und ohne Inanspruchnahme lebensverlängemder medizinischer Hilfen entgegensah.

(1956a)

Problem und Verantwortung des Abendlandes in einer revolutionären Welt (Recht und Staat. H. 191/192). Tübingen.

(1956b)

Eine freiheitliche Entwicklungspolitik für materiell zurückgebliebene Länder, in: ORDO, Bd. 8, S. 67-122.

(1957)

Kulturzusammenstöße und soziale Spannungen in Lateinamerika, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 9, Nr. 2, S. 232-257.

(1958)

Zur Soziologie des Sowjet-Regimes, in: Gewerkschaftliche Monatshefte. Bd. 9, Nr. 2, S. 65-74.

(1961)

Die wirtschaftlich und gesellschaftlich unterentwickelten Länder und wir (als Hrsg.) (= Bemer Beiträge zur Soziologie, Bd. 7), Bern/Stuttgart.

(1962)

Der Mensch im Licht der Soziologie, Versuch einer Besinnung auf Dauerndes und Wandelbares im gesellschaftlichen Verhalten, Stuttgart (5. Aufl. 1973).

Schriften in Auswahl: (1932a) Die Schweiz und der Imperialismus. Die Volkswirtschaft des hochkapitalistischen Kleinstaates im Zeitalter des politischen und ökonomischen Nationalismus, Zürich (phil.Diss.). (1932b) Politischer Aktivismus, Leipzig. (1933) Wirtschaft und Politik im „reinen Kapitalismus", in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 57, S. 223-245. (1941) Economic Nationalism in Latin America, Albuquerque/New Mexico. (1945) Problemas y orientaciones socio-econömicos para la postguerra, Panama. (1948) Inter-American Economic Relations: Problems and Prospects, New York.

(1963)

Dynamische Gesellschaft. Über die Gestaltbarkeit der Zukunft, Bern u.a.

(1964)

Über die Notwendigkeit einer Neuorientierung der Entwicklungspolitik (Institut für Weltwirtschaft, Kieler Vorträge, Bd. 33), Kiel.

(1965a)

Globale Entwicklung als Aufgabe unserer Zeit, in: Universitas, Bd. 20, Nr. 10, S.1041-1048.

(1965b)

Soziale Strategie für Entwicklungsländer: Entwurf einer Entwicklungssoziologie, Frankfurt a.M. (2. Aufl. 1969).

(1966)

Lateinamerika: Labilität und Rivalität der Integrationsgebilde, Berlin.

(1954)

(1967a)

Menschenwürde als Problem der sozialen Wirklichkeit, in: W. Maihofer und R.F. Behrendt: Die Würde des Menschen, Teil II, Hannover.

(1967b)

Zwischen Anarchie und neuen Ordnungen. Soziologische Versuche über Probleme unserer Welt im Wandel, Freiburg i.Br.

(1955)

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Die wirtschaftliche und soziale Revolution in den unentwickelten Ländern, Bern (2.Aufl. 1959). Der Beitrag der Soziologie zum Verständnis internationaler Probleme, in: Schweizer Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Bd. 91, S. 145170.

Berger-Voesendorf, Alfred Victor Richard Behrendt begründete und war Herausgeber der Reihe Bemer Beiträge zur Soziologie (11 Bde., 1959-1965). Eine vollständige Bibliographie des wissenschaftlichen Schrifttums Behrendts existiert nicht. Quellen: Β Hb II; HldWiWi, 2. Aufl., 1966 (enth. Auswahlbibliograhie); ISL 1984; Lühr, V7 Grohs, G. (1973) (Nachruf), in: Köln.Zs.f.Soz., Bd. 25, S. 226-228; Trappe, P. (1973) (Nachruf), in: SSIPBulletin, Nr. 34, S. 2-3. Paul Trappe

Berger-Voesendorf, Alfred Victor, geb. 9.1.1901 in Wien Nach der Matura studierte der Sohn eines Industriellen Rechts- und Staatswissenschaften in Wien, Graz, Berlin und Breslau, die er an der letzten Universität 1922 mit dem Dr.iur.utr. und 1924 in Wien mit dem Dr.rer.pol. abschloß. Es folgten Volontariate bei verschiedenen Wirtschaftsunternehmen, ehe er sich seit 1928 als Rechtsanwalt und Wirtschaftsberater in Wien niederließ. Daneben setzte er seine bereits zuvor begonnene Tätigkeit als Wirtschaftsjournalist fort. Während der autoritären Stände-Diktatur unter der Kanzlerschaft von Engelbert Dollfuß wurde der katholisch-konservative Legitimist Berger-Voesendorf als Fachmann für den ständischen Aufbau Assistent an der Hochschule für Welthandel iD Wien. Daneben war er als Organisator, Propagandist und Berater bei verschiedenen austrofaschistischen Verbänden tätig (Vaterländische Front, Katholische Aktion, Ostmärkische Sturmscharen etc.). Beim 'Anschluß' Österreichs floh Berger-Voesendorf über die Tschechoslowakei in die Niederlande, wo er kurzfristig einen Lehrauftrag an der Universität Utrecht erhielt, ehe er bei Kriegsausbruch 1939 nach London ging. Die Unterlagen des britischen Hilfskomitees für vertriebene deutschsprachige Wissenschaftler, der Society for the Protection of Science and Learning (SPSL), zeigen, daß es für den offensichtlich monomanen Berger-Voesendorf, der es zudem mit der Wahrheit in seinen je nach Opportunität frisierten biographischen Angaben nicht so genau nahm, schwer war, in der Emigration Fuß zu fassen. Das Angebot einer kleineren amerikanischen Universität des Westens lehnte er ebenso ab wie seine erklärte Feindschaft gegen den Nationalsozialismus in dem für Emigranten zugänglichen britischen

Pioneer Corps unter Beweis zustellen, es sei denn, man hätte ihn sogleich in eine höhere Position befördert. Mit einigem Befremden ist diese Haltung zur Kenntnis genommen worden: „He will undertake no work that is not 'worthy' of Berger-Voesendorf' (SPSL 228/5). Vom Sommer 1940 bis zum Frühjahr 1944 war er daher als 'enemy alien' auf der Isle of Man und in Canada interniert worden. Anschließend arbeitete er als Berater für die polnische Exilregierung in London. Nach einigen Monaten als Lecturer for International Trade an der Universität Oxford bekam er 1946 ein neuerliches amerikanisches Angebot des Sterling College in Kansas, welches er jetzt anzunehmen bereit war. Doch die amerikanischen Behörden lehnten die Erteilung eines Non Quota-Einreisevisums ab, da er bei der Antragstellung falsche Angaben über seine frühere akademische Tätigkeit gemacht und auch seine Interniening verschwiegen hatte. Durch Vermittlung der SPSL erhielt er aber immerhin eine befristete Anstellung an der Faruk University in Ägypten; später stilisierte er diese zum Direktorat des dortigen Departments of Economics. Erst 1948 gelang ihm die Einreise in die USA mit einem Vertrag als Visiting Professor an der Gonzaga University in Spokane/Washington. Unterbrochen von einem Aufenthalt an der Universidad de los Andes in Bogota 1953 lehrte Berger-Voesendorf, der 1954 US-Bürger wurde, bis zu seiner Emeritierung 1968 jeweils in befristeter Stellung an verschiedenen amerikanischen Colleges und kleineren Universitäten. Wissenschaftlich signifikant hervorgetreten ist er nicht. Neben seinen zumeist politisch induzierten Arbeiten hat er auf ökonomischem Gebiet in den frühen dreißiger Jahren eine historisch orientierte Untersuchung zur Handelspolitik vorgelegt, die die Grundlage späterer Veröffentlichungen in der Emigration bildete. Für zeitgenössische Beobachter ist er jedoch ein geschickter akademischer Lehrer gewesen, und diese Tätigkeit umfaßte in den USA nicht nur die Ökonomie, sondern auch die Soziologie, die Politikwissenschaft und die katholische Religionslehre.

Schriften in Auswahl: (1922) Das geltende Steuerrecht in seinen Wirkungen auf die Produktion im Deutschen Reich der Nachkriegszeit, Breslau (Diss. iur.).

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Bergmann, Theodor (1926)

(1932)

(1938)

(1945) (1947a)

(1947b) (1952)

Der leitende Wirtschaftsbeamte. Die Funktionäre der Unternehmung in volkswirtschaftlicher, privatwirtschaftlicher, rechtlicher und soziologischer Betrachtung, Wien/Leipzig (Diss. rer. pol.). Die Entwicklungstendenz der modernen Handelspolitik. Der Weg zum Schutzhandel, Berlin. Das Staatsprogramm des sozialen Konservativismus in Österreich für Verfassung, Verwaltung, Recht, Wirtschaft, soziale Frage, Staatsform, Kultur, Familie, Außenpolitik, Nation und Minoritäten, Wien. The Real Face of the Political Emigration from Germany, London. The Pathology of Foreign Trade. A Systematic Survey on Modem Foreign Trade Policy, Alexandria. The Theory of Economic Policy in the Interventionist State, Alexandria. An Analysis of the Mixed Economy, using the Sub-Model Technique, Washington.

Quellen: Β Hb II; SPSL 228/5. Claus-Dieter Krohn

Bergmann, Theodor, geb. 7.3.1916 in

Berlin

Er versteht sich als international orientierter, kritisch-marxistischer Agrarwissenschaftler, der sich vor allem mit den sozialen, ökonomischen und politischen Problemen der Landwirtschaft befaßt. Ein intellektuelles wie liberales Elternhaus - der Vater war Rabbiner - , ein besonderes naturwissenschaftliches Interesse sowie ein frühes Engagement in der sozialistischen, später kommunistischen Bewegung prägten und kennzeichneten Bergmanns Jugend. Seine antistalinistisch-kommunistischen Lehrer August Thalheimer und Heinrich Brandler hinterließen einen tiefen, lebenslangen Einfluß. M.N. Roy weckte sein Interesse für Indien und China. Unmittelbare Lebensbedrohung durch die nationalsozialistische Verfolgung zwang Bergmann an seinem 17. Geburtstag, wenige Tage nach dem Abitur, zu fliehen. Er begann seine „akademische Laufbahn" als Landarbeiter; zuerst in einem Kibbutz und in Privatbetrieben in Palästina (19331936), dann in der Tschechoslowakei (bis 1938) -

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hier studierte er als Externer Landwirtschaft an der Deutschen Technischen Hochschule Prag und schließlich in Schweden (bis 1946). Im April 1946 kehrte Bergmann nach Deutschland zurück, diplomierte 1947 in Bonn und arbeitete anschließend als Gutsverwalter bis 1948. Es folgte eine Phase starken politisch-journalistischen Engagements, in der er u.a. bis 1952 die Zeitschrift Arbeiterpolitik herausgab. Dann entschied sich Bergmann jedoch für wissenschaftliches Arbeiten und promovierte 1955 in StuttgartHohenheim bei Otto Schiller über Wandlungen der landwirtschaftlichen Betriebsstruktur in Schweden - Tendenzen und agrarpolitische Maßnahmen. 1956 bis 1964 bildete Bergmann an der Landwirtschaftskammer Hannover Landarbeiter beruflich weiter und publizierte insbesondere in der Agrarwirtschaft zu Landarbeiterfragen und im International Yearbook of Agricultural Cooperation zu internationalen Agrarfragen. Seinen internationalen wissenschaftlichen - auch politischen - Interessen folgend arbeitete, forschte und lehrte Bergmann ab 1964 hauptsächlich über agrarpolitische und agrarökonomische Themen, vor allem der asiatischen und sozialistischen Länder. Dabei standen die Reformen des Agrarsektors im Entwicklungsprozeß, die Möglichkeiten und Grenzen von Genossenschaften - sein Habilitationsthema 1967 - zumeist im Mittelpunkt. Mit zahlreichen Forschungs- und Vortragsaufenthalten u.a. in Indien, Pakistan, Sri Lanka, Türkei, China, Kamerun, Sudan, Thailand und Japan sowie einer Gastprofessur in Armidale/Australien (1971-1972), erarbeitete sich Bergmann eine umfassende Basis für seine vielfaltige Publikationsund Lehrtätigkeit. Von 1968 bis 1974 wirkte er als Herausgeber von Sociologia Ruralis - Zeitschrift der Europäischen Gesellschaft für ländliche Soziologie. 1973 wurde Bergmann zum Professor fur international vergleichende Agrarpolitik an der Universität Stuttgart-Hohenheim ernannt. Auch die westdeutsche Agrarpolitik analysierte Bergmann mehrfach kritisch und trug u.a. Grundgedanken einer reformorientierten Agrarpolitik vor. Er betreute zahlreiche, auch systemkritische, Diplom- und Doktorarbeiten über Themen der Agrarpolitik und -reformen in entwickelten und sich entwickelnden sozialistischen wie kapitalistischen Ländern. Beim Abschied von der Universität 1981 trug er seine wesentlichen Arbeitserkenntnisse thesenhaft vor: Agrarpolitik sei eine normative Wissenschaft,

Berliner, Cora die er als kritischer Marxist betreibe; die Landwirtschaft bedürfe grundsätzlich einer - auch technischen - Entwicklung, wobei in hochindustrialisierten, kapitalistischen Gesellschaften nicht mehr die Produktionssteigerung, sondern eine sozial-ökologische Strukturpolitik vordringlich sei; in sozialistischen Ländern sollten moderne Produktionsmittel in demokratischen Genossenschaften und Planwirtschaften eingesetzt werden - eine inzwischen nicht mehr realisierbare, systemimmanente Reformidee - , und in Entwicklungsländern müBten vor allem überholte Agrarstrukturen radikal, insbesondere durch eine Landreform, beseitigt werden, die jedoch nur als Teil einer alle Bereiche erfassenden, modernisierenden Entwicklungspolitik erfolgreich sein könne. Nach seinem Ausscheiden aus der Universität befaßte sich Bergmann neben agrarpolitischen Themen insbesondere mit den Ketzern im Kommunismus und Sozialismus wie Luxemburg, Thalheimer, Trotzki, Bucharin und reflektierte die Ursachen des Verfalls der sozialistischen Staaten in Europa bzw. deren Reformunfähigkeit. Er analysierte die ökonomischen, sozialen und politischen Probleme dieser Staaten und alternative Entwicklungsstrategien. Als Mitherausgeber der Zeitschrift Sozialismus kommentierte er aktuelle politische Trends, vor allem in Deutschland, China. Indien und anderen Entwicklungsländern sowie die kleinen Schritte zum Frieden im Nahen Osten. Zahlreiche Arbeiten von ihm und seinen Mitarbeitern erschienen im europäischen und außereuropäischen Ausland. Auch in seinem Ruhestand war er mehrfach Berater deutscher und internationaler Entwicklungsorganisationen, wie der FAO, ILO und des DED. Schriften in Auswahl: (1956) Wandlungen der landwirtschaftlichen Betriebsstruktur in Schweden - Tendenzen und agrarpolitische Maßnahmen, Berlin/Bonn. (1967) Funktionen und Wirkungsgrenzen von Produktionsgenossenschaften in Entwicklungsländern, Frankfurt. (1968) Die Agrarfrage bei Marx und Engels - und heute, in: W. Euchner und A. Schmidt (Hrsg.): Kritik der politischen Ökonomie heute - 100 Jahre 'Kapital', Frankfurt, S. 175-194.

(1973/1979) Agrarpolitik und Agrarwirtschaft sozialistischer Länder, Saarbrücken (engl. Übers. 1973; japan. Übers. 1977). (1975) Betrieb oder Scholle?, in: M. Greiffenhagen und H. Scheer (Hrsg.): Die Gegenreform, Reinbek, S. 112-131. (1977) The Development Models of India, the Soviet Union and China, Assen. (1980) Integrated Cooperatives in the Industrial Society: The Example of the Kibbutz (hrsg. zus mit Κ. Baitölke und L. Liegle), Assen. (1981a) Liu Shaoqui - ausgewählte Schriften und Materialien, I u. II (hrsg. zus. mit U. Menzel und U. Menzel-Fischer), Stuttgart. (1981b) Comparative Agricultural Policy Problems and Experience in Teaching and Research, in: Sociologia Ruralis, Bd. 3/4, S. 209-227. (1984) Agrarian Reform in India, New Delhi. (1985) Cooperation in World Agriculture (hrsg. zus. mit Τ. Ogura), Tokyo. (1987) 'Gegen den Strom' - Die Geschichte der Kommunistischen Partei-Opposition, Hamburg. (1993) Ketzer im Kommunismus - Alternativen zum Stalinismus (hrsg. zus. mit M. Keßler), Mainz. Bibliographie: Keßler, M. (1991): Personalia - Theodor Bergmann - 75 Jahre, in: Asien, Afrika, Lateinamerika, (Berlin), Bd. 19, S. 189-199. Quellen: BHb I; Südfunk I, 7.3.1987: Heute im Gespräch - mit Prof. Dr. Theodor Bergmann; Müssener 498. Helmut Arnold

Berliner, Cora, geb. 23.1.1890 in Hannover, 19.6.1942 nach Theresienstadt deportiert und im Holocaust umgekommen Nach dem Abitur 1909 am Leibniz-Gymnasium in Hannover studierte die Schwester -» Siegfried Berliners zunächst zwei Semester Mathematik in Freiburg und an der Technischen Hochschule Hannover. Anschließend wechselte sie in Berlin zur Nationalökonomie. Nach sechssemestrigem

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Berliner, Cora Aufenthalt in der Reichshauptstadt ging sie nach Heidelberg und Schloß dort das Studium 1916 bei -» Emil Lederer mit einer Dissertation über Die Organisation der jüdischen Jugend in Deutschland. Ein Beitrag zur Systematik der Jugendpflege und Jugendbewegung ab. Erkennbar war diese Thematik aus ihren sozial- und gesellschaftspolitischen Engagements hervorgegangen. Schon als Schülerin hatte Berliner in der Jüdischen Bahnhofshilfe mitgearbeitet, die vor allem die jüdischen Flüchtlinge aus Rußland nach den Pogromen zu Beginn des Jahrhunderts - im Anschluß an den verlorenen Krieg gegen Japan und die folgende Revolution gegen den Zarismus 1904/5 während ihrer Weiterwanderung in die USA oder nach Palästina (2. Alija) versorgte. Während ihrer Studienzeit wirkte sie in der Mädchenarbeit der nicht-zionistischen jüdischen Jugendbewegung, dem 1909 gegründeten Verband der jüdischen Jugendvereine Deutschlands. In dieser Zeit schrieb sie zahlreiche, zumeist auf Vorträge zurückgehende Artikel zum jüdischen Selbstverständnis in der hektischen innerverbandlichen Diskussion um den künftigen politischen Kurs, der von der zionistischen Bewegung immer mehr herausgefordert wurde. Der jüdischen Verbandsarbeit blieb Berliner ehrenamtlich verbunden, als sie nach dem Studium in die Stadtverwaltung von Berlin-Schöneberg eintrat und dort in der Schlußphase des Ersten Weltkriegs mit Fragen der Lebensmittelversorgung beschäftigt war. Ende 1919 wechselte sie von dort als Hilfsarbeiterin in das neue Reichswirtschaftsministerium der jungen Weimarer Republik, wo sie für Verbraucherschutz und Genossenschaftswesen zuständig wurde. Ein Jahr nach der Ernennung zur Regierungsrätin 1923 berief sie Präsident Ernst Wagemann in das Statistische Reichsamt; dort blieb sie in der handelsstatistischen Abteilung bis 1933. In diese Jahre fallen die wenigen wirtschaftswissenschaftlichen Publikationen Berliners, die sich nach Überwindung der verheerenden Hyperinflation von 1923 insbesondere mit dem Wiederaufbau einer geordneten Außenhandelsstatistik unter stabilen Währungsverhältnissen beschäftigten. Sie spiegeln die Probleme wider, die sich Berliner in ihrer praktischen Tätigkeit stellten. Ihre Untersuchungen über die deutsch-englischen Handelsbeziehungen führten sie 1927 auch für einige Monate an die deutsche Botschaft in London, ehe sie 1930 eine nebenamtliche Professur für Wirt-

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schaftswissenschaften am Staatlichen Berufspädagogischen Institut erhielt. Einzelheiten zu dieser Tätigkeit, der Ausbildung von Gewerbelehrerinnen. sind nicht bekannt, da sie dazu keine Veröffentlichungen vorlegte. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme und ihrer Entlassung aus dem öffentlichen Diensi nach dem sog. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 übernahm Berliner die Verwaltung der wirtschafts- und sozialpolitischen Abteilung der im September 1933 errichteten Reichsvertretung der Deutschen Juden. Zugleich als stellvertretende Vorsitzende des Jüdischen Fauenbundes organisierte sie in Zusammenarbeit mit -» Paul Eppstein die Emigration jüdischer Frauen und Kinder. Darüber hinaus entfaltete sie im Rahmen der von den Nationalsozialisten immer enger gezogenen Grenzen für die jüdischen Organisationen zahlreiche andere Aktivitäten. Unter anderem setzte sie ihre Lehrtätigkeit für Sozialarbeiterinnen unter dem Dach der jüdischen Zentralwohlfahrtsstelle fort, ferner gehörte sie zu den Mitarbeitern des 1935 in neuer Auflage erschienenen Philo-Lexikons. Nach der Reichspogromnacht 1938 hatten ihre emigrierten Geschwister, zwei Schwestern und zwei Brüder, sowie einige Freunde sie gedrängt, Deutschland zu verlassen. Berliner lehnte diesen Schritt jedoch ab, solange die von ihr Betreuten noch Hilfe brauchten. Immerhin hatte sie dazu auf Sondierungsreisen für die jüdische Auswanderung nach Palästina 1936 und nach Schweden 1939 die Chance gehabt. 1942 wurde Berliner mit anderen Repräsentanten der Reichsvertretung nach There sienstadt deportiert; die Umstände ihres Todes im nationalsozialistischen Genozid sind unbekannt.

Schriften in Auswahl: (1916)

(1925)

Die Organisation der jüdischen Jugend in Deutschland. Ein Beitrag zur Systematik der Jugendpflege und Jugendbewegung, Berlin (Diss.). Probleme der Handelsstatistik, in: Magazin der Wirtschaft, Bd. I, S. 1158-1167.

(1929)

Die Reform der deutschen Außenhandelsstatistik, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 29, S. 320*-333*.

(1930)

Die Handelsbilanz im Rahmen der Zahlungsbilanz, in: Die Bank, Bd. 23,S. 1161-1164.

Berliner, Siegfried (1932)

Englands Abkehr vom Goldstandard, in: Deutschland-Jahrbuch für das deutsche Volk, Leipzig, S. 30-37.

Bibliographie: Hildesheimer, E. (1984): Cora Berliner. Ihr Leben und Wirken, in: Leo Baeck Institute Bulletin, Bd. 67, S. 41-70. Kaplan, M.A. (1981): Die Jüdische Frauenbewegung in Deutschland, Hamburg, S. 150-151. Lowenthal, E.G. (Hrsg.) (1966): Bewährung im Untergang. Ein Gedenkbuch, Stuttgart, S. 23-27. Dick, J„ Sassenberg, M. (1993): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek, S. 62-63. Claus-Dieter Krohn

Berliner, Siegfried, geb.

15.2.1884 in Hannover, gest. 16.10.1961 in Forest Grove, Oregon

Sohn des Begründers und Direktors der Höheren Handelsschule in Hannover, Bruder von Cora Berliner. Berliner studierte Mathematik, Physik und Nationalökonomie an den Universitäten Leipzig (1902-1904) und Göttingen (1904-1906). Dort promovierte er 1905 bei Riecke Über das Verhalten des Gußeisens bei langsamen Belastungswechseln mit „rite" zum Dr. phil. Nach einem freiwilligen einjährigen Militärdienst legte Berliner 1907 die Prüfung zur Lehrbefähigung der Sekundärstufe ab. Auf Einladung seines Onkels, Emil Berliner, dem Erfinder des Mikrophons, Grammophons und der Schallplatte, studierte Berliner ein Jahr in den USA. Im Anschluß daran schrieb er sich als Habilitand an der Universität Leipzig ein, an der er auch als Privatdozent wirkte. Ob Berliner die angestrebte Habilitation erfolgreich abschloß ist zweifelhaft, da dem Archiv der Universität Leipzig aus den sehr gut überlieferten Unterlagen aus dieser Zeit keinerlei Hinweise auf eine Habilitation vorliegen. Im Jahre 1913 ging Berliner gemeinsam mit seiner ebenfalls jüdischen Frau Anna nach Japan, um an der Kaiserlichen Universität zu Tokio eine Professur im Bereich Business Administration anzunehmen. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete er sich 1914 als Kriegsfreiwilliger in der damaligen deutschen Kolonie Tsingtau. Der Krieg führte ihn als Kriegsgefangenen wieder zurück nach Japan. Das Vorwort zu seiner ersten, den Handel mit Japan thematisierenden Abhandlung (1920a) schrieb er noch im Kriegsgefangenen-La-

ger Bando bei Tokushima. Berliners wissenschaftliche und persönliche Verbundenheit zu Ostasien drückt sich auch in der Mitgliedschaft in der German Society for East-Asian Natural History and Cultural Development aus, deren Direktor der europäischen Sektion er später wurde. Nach einer weiteren fünfjährigen Tätigkeit an der Universität Tokio kehrte er 1925 nach Leipzig zurück, um die Deutsche Lloyd Lebensversicherung A.G. mitzubegründen und dort bis 1938 auch deren Direktorium anzugehören. Gleichzeitig lehrte er von 1927 bis zu seiner Emigration in die USA an der Handelshochschule in Leipzig. AnläBlich einer Studienreise in die USA 1938 kam Berliner zu der Einsicht, aufgrund der politischen Entwicklung nicht mehr nach Leipzig zurückzukehren. Seine Eingliederung in die wissenschaftliche Hochschulgemeinde gelang rasch. Bereits 1939 nahm er den Ruf auf eine Professur in Business Administration an die Howard University, Washington D.C., an. Neben seiner universitären Laufbahn bekleidete Berliner auch in den USA verschiedene leitende Tätigkeiten der Versicherungswirtschaft (bis 1943 Direktor der American Citizens Insurance Company, Columbus; danach Präsident der von ihm gegründeten Chartered Brokers Incorporated Insurance Company, Chicago) und verstand es somit, die Praxisnähe stets zu halten. 1952 wurde er emeritiert und lebte bis zu seinem Tode in Forest Grove, Oregon, wo seine Frau von 1948 bis 1968 eine Professur für Psychologie an der Pacific University inne hatte. Seine Asche wurde auf den jüdischen Friedhof in Hannover überführt. Zu den zahlreichen ihm zuteil gewordenen Ehningen und Auszeichnungen gehört u.a. das 1958 von der Universität Göttingen verliehene Goldene Doktordiplom. Berliners wissenschaftliche Leistung ist wohl darin zu sehen, sich als einer der ersten deutschsprachigen Wissenschaftler mit den Verhältnissen europäischer Handelshäuser in Japan und China ausgiebig befaBt zu haben. Das dabei im Vordergrund stehende Interesse galt insbesondere den beteiligten Personen, der „Organisationsform, die die Firmen geschaffen haben, um die Handelsverbindung zwischen dem ausländischen Produzenten und dem inländischen Konsumenten herzustellen, und [der] kaufmännischein] Betätigung der Finnen und ihrer Angestellten im Rahmen der so geschaffenen Organisation" (1920a, Vorwort). Dabei betrachtete er Phänomene, die an Aktualität bis in die Gegenwart

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Bernardelli, Harro nichts verloren haben: „Man hört bisweilen die Behauptung, daß die japanischen Firmen den fremden deshalb den Rang ablaufen würden, weil sie mit geringeren Kosten arbeiten" (1919/1920, S. 163). Die stark deskriptiv, mit viel Akribie angestellten Betrachtungen ostasiatischer Handelsgeschäfte und -gewohnheiten (so auch 1920b, 1920c, 1920d) entstanden überwiegend während Berliners Aufenthalt an der Universität Tokio (respektive während seiner Kriegsgefangenschaft) und wurden in der Reihe Weltwirtschaftliche Abhandlungen, die Berliner selbst herausgab, veröffentlicht. Sie lesen sich wie Berichte eines aufmerksamen, verständigen Beobachters der europäischen Handelsgemeinde Ostasiens und zeugen von der praxisnahen Wissenschaftsauffassung Berliners. Weitere Veröffentlichungen (etwa 1925) betrafen die Lehre, die er - geprägt durch seine universitäre Ausbildung - stark quantitativ ausrichtete. Daher verwundert auch nicht die Publizierung verschiedener versichemngsmathematischer Werke (1911, 1912) aus seinem privatwirtschaftlichen Betätigungsfeld. Fehlende Publikationen in den Jahren nach seiner Emigration lassen eine Konzentration auf die Lehre vermuten, was bei Emigranten der ersten Generation nicht außergewöhnlich war. Schriften in Auswahl: (1911) Versicherungsrechnen für Nicht-Mathematiker (als Bearb.), Leipzig. (1912) Renten und Anleihen, Leipzig. (1919/20) Die Bedeutung des 'Direct Trade' im japanischen Einfuhrhandel, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 15, S. 161-163. (1920a) Organisation und Betrieb des japanischen Importhandels (= Weltwirtschaftliche Abhandlungen, Bd. 1), Hannover. (1920b) Organisation und Betrieb des ImportGeschäfts in China (= Weltwirtschaftliche Abhandlungen, Bd. 2), Hannover. (1920c)

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Die Entwicklung der japanischen Eisenindustrie während des Krieges (zus. mit K. Meissner) (= Weltwirtschaftliche Abhandlungen, Bd. 3), Hannover.

(1920d)

(1925)

Organisation und Betrieb des ExportGeschäfts in China (= Weltwirtschaftliche Abhandlungen, Bd. 4), Hannover. Die Berechnung des Optimums bei der Beladung eines Dampfers mit Massengut, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft 1925. Bd. 2, S. 241250.

Quellen: Β Hb II; Rhb.d.dt.Ges.; Akte der Universität Göttingen, Aktennummer: Β Vol. I Philosophische Fakultät, Promotion Special 1905-1906; Zimmermann, H.: Die Familie Berliner, in: Leben und Schicksal: Zur Einweihung der Synagoge in Hannover, Hannover 1963, S. 88-100; Schulze, P.: Die Berliner - eine jüdische Familie in Hannover (1773-1943), in: 100 Jahre Schallplatte - von Hannover in die Welt, Hamburg 1987, S. 75-81. Axel Kümmel

Bernardelli, Harro, geb. 26.1.1906 in Magdeburg, gest. 30.6.1981 in Auckland, Neuseeland Unter den Emigranten aus dem Kreis der Wirtschaftswissenschaftler hat Bernardelli einen der wohl ungewöhnlichsten Lebenswege. Der Sohn eines Kunst-Professors an den 'Kölner Werkschulen' begann als Student der Rechtswissenschaften an der Universität Göttingen unter dem Einfluß des Neu-Kantianers Leonard Nelson, sich für Fragen des Verhältnisses von Philosophie und Mathematik sowie für die exakte Analyse der sozialen Erscheinungen zu interessieren. Er wechselte daraufhin das Fachgebiet und studierte fortan Wirtschaftswissenschaften und Mathematik. 1931 promovierte er an der Universität Frankfurt mit der Arbeit Die Grundlagen der ökonomischen Theorie (1933). Sie suchte der neoklassischen Werttheorie nicht nur ein philosophisch konsistentes ethisches Prinzip zu unterlegen, sondern dieses auch mathematisch exakt herzuleiten. Dieser Zugriff, der das Marginalprinzip von den engen psychologischen Motivationen des homo oeconomicus befreien wollte, machte gleich drei Gutachter aus unterschiedlichen Disziplinen erforderlich: Neben seinem Doktorvater -» Eugen Altschul wirkten der Mathematiker Hans Dehn und der Philosoph Max Horkheimer an der Bewertung der Dissertation mit. Bernadellis Schrift ist ein Vorstoß in das Gebiet der psychologischen Grundlagen der ökono-

Bernardelli, H a r r o mischen Theorie. Seine Ausführungen zur Begründung des wirtschaftlichen Prinzips enthalten interessante, z.T. durch Kant inspirierte Reflexionen zur Bedeutung und möglichen Anwendung der Mathematik. Bemadelli versucht, die psychologischen Gesetze der Wirkungen der Interessenstärken auf die wirtschaftlichen Handlungen der Menschen durch frühe Anwendung einiger Sätze der Mengentheorie mathematisch exakt zu formulieren. Als freier Autor beschäftigte sich Bernardelli in den folgenden Jahren mit den frühen ökonometrischen Studien von Ragnar Frisch und übersetzte Arthur Bowleys Mathematical Groundwork of Economics ins Deutsche (1934). Anfang 1934 emigrierte Bernardelli nach Großbritannien, weil er sah, daB alle Wissenschaftler, die sich in Deutschland mit der Mathematisierung der Ökonomie beschäftigten, zumeist jüdischer Herkunft waren und den Hitler-Staat verlassen hatten, außerdem war er mit einer Jüdin verheiratet. Mit vorzüglichen Gutachten, unter anderem von -» Friedrich A. Hayek und Lionel Robbins, welcher ihn als „by far the most distinguished of the younger men who have come under our observation" beurteilte (L. Robbins an Universität Liverpool, 31.1.1934), erhielt er eine befiristete Anstellung an der Universität Liverpool, die durch den Academic Assistance Council (AAC) finanziert wurde. Wohl weitsichtiger wurde Bernardelli von seinem Mitemigranten -» Jacob Marschak beurteilt, der ihn für einen außerordentlich originellen Denker, jedoch mit seinen logisch-mathematischen Deduktionen für etwas weltfremd hielt. Marschak befürchtete, daß Bernardelli mit seinen ausgeprägten philosophischen Interessen in England Integrationsschwierigkeiten bekommen und auch bei der mathematisch interessierten jüngeren Generation von Ökonomen auf Unverständnis stoßen werde. Tatsächlich konnten die Kollegen in Liverpool mit seinem Wissenschaftsverständnis nur wenig anfangen, sein Vertrag wurde nach Ablauf eines Jahres nicht verlängert. Ein Ruf an die Universität Madrid zerschlug sich angesichts der instabilen Lage in Spanien im Vorfeld des Bürgerkrieges, so daß Bernardelli froh war, durch Vermittlung des AAC 1935 eine längerfristige Anstellung an der Universität Rangoon in Burma (Britisch-Indien) zu bekommen. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges meldete er sich dort als Freiwilliger zur britischen Armee und nahm an den Kämpfen gegen die Japaner teil, die 1942 Burma besetzten. In mehreren Wochen

schlug er sich nach Delhi durch, wo er für den deutschsprachigen Dienst beim Far Eastern Propaganda Service des britischen Informations-Ministeriums arbeitete. Nach Kriegsende kehrte er nach London mit der Erwartung zurück, für die britische Besatzungsmacht - er war 1939 eingebürgert worden - in Deutschland tätig werden zu können. Doch mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung in Deutschland waren die Besatzungsbehörden sehr zurückhaltend bei der Beschäftigung ehemaliger Emigranten. Nachdem sich seine Hoffnungen zerschlagen und er auch nur schlecht bezahlte Zeitverträge zunächst an der London School of Economics und dann am University College in Nottingham bekommen hatte, verfiel er, ähnlich wie sein langjähriger Studienfreund -* Georg Rusche, in eine resignative Stimmung. Enttäuscht über die europäischen Verhältnisse hielt er es für ratsamer „to begin again in some other remote part of the world" (Harro Bernardelli an AAC, 26.2.1946). 1947 nahm er eine Stelle als Senior Lecturer an der Universität Otago in Dunedin, Neuseeland an. Dort verbrachte er sein weiteres Leben, ab 1962 als Associate Professor an der Universität Auckland. Bereits in seiner Dissertationsschrift hatte sich Bemadelli unter expliziter Berufung auf Morgenstern (1931) zur Einheit der subjektiven Werttheorie der Wiener, Lau sanner und Jevonsschen Schule bekannt. Vor dem Hintergrund der durch die Arbeiten von Slutsky, Hicks und Allen initiierten Entwicklung der modernen Theorie des Konsumentenverhaltens sowie der aufkommenden Debatten über kardinale versus ordinale Nutzentheorie versuchte Bemadelli auch in seinen britischen Publikationen, die klassische Theorie des Grenznutzens zu verteidigen (1938) bzw. zu rehabilitieren (1952). Sein Versuch, eine neue Methode zur Konstruktion von Nutzenindices zu formulieren, rief die Kritik des jungen Paul Samuelson (1939) hervor, der nachwies, daß Bemadellis modifizierter Index denselben Einwänden ausgesetzt ist wie die traditionellen Meßkonzepte kardinalen Nutzens. Bemardellis Emigration aus Deutschland markierte augenscheinlich eine tiefgreifende lebensgeschichtliche Zäsur. Seine Akkulturationsprobleme, die Isolierung in Burma und schließlich die Enttäuschungen nach 1945 bewirkten, daß dieser offenbar sensible Einzelgänger, der in keine Schule paßte und keinem Netzwerk von Kollegen angehörte, den ursprünglichen Elan und Optimismus

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Berolzheimer, Josef verlor. Die spärlichen Zeugnisse noch aus seinen letzten Lebensjahren dokumentieren die traumatischen Folgen. Auf verschiedenen längeren Vortragsreisen suchte er bis ins hohe Alter, die Verbindungen nach Europa nicht ganz abreißen zu lassen, doch bei seiner Ankunft verfiel er jedesmal, besonders in London, in tiefe Depressionen, die diese Pläne schnell zunichte machten. So ist auch nicht erstaunlich, daB Bernardelli nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch wenig, und auch das nur in großen Abständen, publiziert hat. Erwähnenswert ist abschließend Bernadellis Verteidigung der Böhm-Bawerk-Wicksell'sehen Zinsund Kapitaltheorie (1959), die die Stärken des auf vielen Fachgebieten versierten Wissenschaftlers ebenso wie die Schwächen einer aus der Isolation geborenen und damit überzogenen Eigenwilligkeit noch einmal in exemplarischer Weise betont. Schriften in Auswahl: (1933) Die Grundlagen der ökonomischen Theorie. Eine Einführung, Tübingen (Diss.). (1934) [Übersetzung von] A.L. Bowley, Grundzüge der mathematischen Ökonomie, Leipzig. (1936) What has Philosophy to Contribute to the Social Sciences, and to Economics in Particular?, in: Economica, Bd. 3, S. 443-454. (1938) The End of the Marginal Utility Theory?, in: Economica, Bd. 5, S. 192-212. (1939) A Reply to Mr. Samuelson's Note, in: Economica, Bd. 6, S. 88-89. (1952) A Rehabilitation of the Classical Theory of Marginal Utility, in: Economica, Bd. 19, S. 254-268. (1959) Einige Bausteine zur Vereinfachung der Zinstheorie, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 171, S. 173-186. Bibliographie: Morgenstern, O. (1931): Die drei Grundtypen der Theorie des subjektiven Wertes, in: L.v. Mises, A. Spiethoff (Hrsg.): Probleme der Wertlehre, Bd. I (= Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 183/1), München/Leipzig, S. 1-43. Samuelson, P.A. (1939): The End of Marginal Utility: A Note on Dr. Bemadelli's Article, in: Economica, Bd. 6, S. 86-87.

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Quellen: SPSL 228/6: Nl Jul. Kraft. SUNYA. Harald Hagemann und Claus-Dieter Krohn

Berolzheimer, Josef, geb. 5.10.1900 in München Berolzheimer entstammte einer jüdischen Familie. Sein Vater, der 1901 starb, war Bankkassier in München. Josef Berolzheimer besuchte Volksschule und Gymnasium in München. Noch als Gymnasiast wurde er 1918 zum Heer eingezogen. Nach Kriegsende Schloß er sich einem Freikorps an (bis 1919). 1920 holte er seine Reifeprüfung nach. Im gleichen Jahr begann er eine Banklehre und - bis Ende 1921 parallel dazu - ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität München, das er 1925 mit der Promotion zum Dr. oec. publ. abschloß. Von 1925 bis 1927 arbeitete er als Journalist und Redakteur (Pseudonym Joseph Bayerholzer). Danach war er „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter", später Abteilungsleiter im Statistischen Landesamt von Preußen in Berlin. Von hier aus arbeitete er an verschiedenen Steuergesetzen mit. Im Dezember 1934 wurde er aus dem Staatsdienst in die Arbeitslosigkeit entlassen. Ein Antrag auf Erteilung eines Visums für die USA wurde 1936 wegen fehlender Bürgschaften abgelehnt. Von 1937 bis 1939 war Berolzheimer als Abteilungsleiter im Hilfsverein der deutschen Juden aktiv. 1938 war er 10 Wochen lang im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert. 1939 konnte er in die USA emigrieren, deren Staatsbürgerschaft er 1944 erwarb. In den USA arbeitete er zunächst von 1939 bis 1941 im Joint Distribution Committee mit. Von 1941 bis 1944 war Berolzheimer, seit 1942 M.P.A. (New York University), Research Associate an der New School for Social Research, danach bis 1947 Statistiker im amerikanischen Census Bureau. Von 1948 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1968 wirkte er als Abteilungsleiter in der Agency for International Development (AID), einer amerikanischen Regierungsbehörde. Berolzheimers wissenschaftliche Interessen lagen vor allem auf folgenden Gebieten: „government budgeting and accounting; government finance planning; performance budgeting; inserting the government sector into the national accounts system" (AMWS). Er war Mitglied verschiedener

Blitz, Rudolph C. Vereinigungen, darunter der American Economic Association und der Tax Association.

Schriften in Auswahl: (1925)

Devisen-Zwangswirtschaft und Währungs-Zerriittung, Staatswirtsch. Diss. München (mschr.).

(1929)

Die Steuereinnahmen des Freistaats Preußen und seiner Gemeinden und Gemeindeveibände in den Rechnungsjahren 1923, 1926 und 1927 (zus. mit F. Lerche), in: Zeitschrift des Preußischen Statistischen Landesamts, Bd. 68, S. 321-344.

(1932)

Die Kreis- und Provinzialumlagen 1930. Mafistabsteuern, Umlagesoll und durchschnittliche Belastung, in: Selbstverwaltung, Bd. 15, S. 402410.

(1947)

Influences Shaping Expenditure of State and Local Governments, in: Bulletin of the National Tax Association, Bd. 32, S. 170-176; S. 213-219; S. 237-244.

(1948)

Whither Tax Classification?, in: Taxes - The Tax Magazine, Bd. 26, No. 9, S. 805-813 zuziigl. S. 870.

(1950)

International Statistics on Government Finances and Activities, in: National Tax Journal, Bd. 3, No. 2, S. 134-152.

(1951)

ERP and Government Finances of the Participating Countries, in: Public Finance (Amsterdam) Bd. 6, S. 39-52.

(1953)

The Impact of U.S. Foreign Aid Since the Marshall Plan on Western Europe's Gross National Product and Government Finances, in: Finanzarchiv, NF, Bd. 14, S. 114-140.

(1965)

Probleme internationaler Finanzvergleiche, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, 2. Aufl., Bd. 4, Tübingen, S. 1-88.

(1966)

Government Finances in 18 LatinAmerican Countries (Official Publication of AID).

Quellen: BHb I; Archiv der Universität München; Handbuch über den preußischen Staat (versch. Jahrgänge); American Men [and Women] of Science, Abt. Social and Behavioral Sciences, 9. Ausg. New York 1956, S. 53; 10. Ausg. Tempe, Arizona, 1962, S. 84; 12. Ausg. New York und London 1973, S. 173. Johann Heinrich Kumpf

Blitz, Rudolph C., geb. 23.1.1919 in Wien Blitz maturierte 1937 am Schottengymnasium. Im darauffolgenden Jahr emigrierte er in die Vereinigten Staaten. Ein Stipendium ermöglichte ihm das Ökonomiestudium am Earlham College, Richmond, Indiana, wo er 1940 den B.A. erwarb. 1942 bis 1945 wurde sein Studium durch den Militärdienst unterbrochen. Die Gl Bill, ein Gesetz zur Unterstützung von Veteranen, ermöglichte Blitz, sein Studium weiterzuführen. Sein Postgraduierten-Studium nahm er an der University of California in Berkeley auf, wo er 1948 seinen M.A. und im Januar 1956 den Ph.D. erwarb. Seine Arbeiten konzentrierten sich auf die Gebiete Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte. Die Dissertation behandelte das Thema The British Tariff Reform Movement for Protection and Empire Preference, 1873-1914. Blitz begann seine akademische Karriere 1952 an der Northwestern University in Evanston, Illinois, als Instructor und Assistant Professor of Economics. Im Herbst 1958 erhielt er einen Ruf an die Vanderbilt Univerity in Nashville, Tennessee, wo er 1960 zum Associate Professor und 1966 zum Full Professor befördert wurde. Seine akademischen Lehrfächer waren hauptsächlich die europäische und amerikanische Wirtschaftsgeschichte sowie Entwicklungsökonomie. Blitz hat mehrere Forschungspreise und Stipendien erhalten und war von Vanderbilt mehrmals für Forschungsund Lehrengagements in den Vereinigten Staaten und im Ausland beurlaubt worden. Unter anderem war er an der Brookings Institution, der Johns Hopkins University (wo er mit Simon Kuznets über Bildungsökonomie arbeitete), mit einem Rockefeller-Stipendium an der Universidad de Chile und mit einem Fulbright-Stipendium an der Universität Bonn. Er hat an der Universität München, der London School of Economics, der University of Keele (England), der Universität von Sarajevo und an diversen brasilianischen Univer-

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Blitz, Rudolph C. sitäten Vorlesungen gehalten. An der Vanderbilt University, für die er als geschätzter Berater im Graduate Faculty Council, im Academic Senate und anderen Bereichen der Fakultätsverwaltung gewirkt hatte, wurde Blitz 1984 emeritiert. Die wichtigeren Veröffentlichungen von Blitz können vier recht unterschiedlichen Fachgebieten zugeordnet werden: Kapitaltheorie und wirtschaftliche Entwicklung, Bildung und Wirtschaftsentwicklung, Frauen im Berufsleben sowie Wirtschaftsgeschichte. Einige andere Publikationen entziehen sich dieser Einteilung. Jedem dieser vier Gebiete hat Blitz seinen Stempel aufgedrückt. In den fünfziger Jahren entwickelte sich eine größere Diskussion um technische Rigiditäten bei der Faktorsubstitution (daher die chronische Unterbeschäftigung in Ökonomien mit einem Arbeitsangebotsüberschuß trotz rasch fortschreitendem Wachstum). Blitz machte den Vorschlag, die Lebensdauer des physischen Kapitals, das die Technologie verkörpert, zu verkürzen, ohne jedoch das - gegebene - Technologieniveau selbst zu verändern. Auf diese Weise könnte sowohl der Kapitaleinsatz reduziert als auch mehr Arbeit absorbiert werden, da eine kürzere Kapitallebensdauer mehr arbeitsintensive Instandhaltungsarbeiten erfordere, und da gebrauchte Ausrüstungen, die er für Länder im Entwicklungsprozeß empfahl, ältere (arbeitsintensivere) Technologie-,Jahrgänge" verkörperten. Dadurch wurde das Problem des Mißverhältnisses zwischen den in der modernen Technologie inhärenten Faktorproportionen (so wie sie von den industrialisierten Ländern konstruiert wurden) und der Faktorausstattung in den Ländern der Dritten Welt von Blitz richtigerweise als fur Korrekturen durch die Marktkräfte zugänglich angesehen. Die frühe Arbeit von Blitz zur Bildungsökonomie Algunas Economistas Cldsicos y Sus Opiniones Acerca de la Educatiön (1961) wurde von Mark Blaug (1964, S. 4) als „the best account... of the economic analysis of education in Classical Political Economy" angesehen. Blitz erforschte darin auch die begrifflichen und empirischen Fragen im Zusammenhang mit der Erfassung der Bildungsausgaben in der Sozialproduktermittlung. Seine Berechnung des Einkommensverzichts von Studenten während ihres Studiums ergab wesentlich höhere Werte als die Berechnungen anderer Wissenschaftler.

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Nach seiner fruchtbaren Beschäftigung mit der Bildungsökonomie in den sechziger Jahren (das Interesse der Ökonomen an diesem Thema hatte damals einen Höhepunkt erreicht, da Bildung und Schaffung von Humankapital als Schlüssel für das Verständnis des Leontief-Paradoxons und des Widerspruchs in den beobachteten historischen Bewegungen zwischen Output und aggregiertem Input angesehen wurden), wandte sich Blitz mit seiner gesamten Energie dem Thema Frauenerwerbstätigkeit zu, das in den siebziger Jahren aktuell wurde. Sein Fokus richtete sich auf die Determinanten der Teilnahme von Frauen im Erwerbsleben. Seinem vorrangigen Interesse an Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung und seiner langfristigen historischen Betrachtungsweise entsprechend, wählte Blitz einen - sowohl intertemporal als auch zwischen Regionen und Ländern in unterschiedlichen Entwicklungsstadien - vergleichenden Ansatz. Blitz ermittelte, daß Frauen in den armen Regionen und/oder Ländern, die einen großen Agrarsektor aufweisen, weniger emanzipiert seien und hauptsächlich in geringer qualifizierten Tätigkeiten beschäftigt würden. Jedoch treten entgegenwirkende Faktoren auf: In den frühen Stadien des Entwicklungsprozesses machten Grundschullehrer - ein traditioneller Frauenberuf - einen herausragenden Teil unter den höheren Berufen aus. Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung würden allerdings das Ingenieurwesen und andere von Männern dominierte Berufe zunehmende Bedeutung gewinnen. Außerdem sei in ärmeren Ländern ein großes Angebot an Hilfskräften im Haushalt verfügbar, das weitgehend aus den Agrarsektoren stammt. (In den Vereinigten Staaten wurde diese Situation durch die Rassendiskriminierung gegen Farbige in Schule und Beruf weiter verstärkt.) Infolgedessen könnte das begrenztere Potential an höherqualifizierten Frauen in den ärmeren Regionen stärker eingesetzt werden, da die Haushaltshilfen diese berufstätigen Frauen unterstützen könnten. In ärmeren Regionen und Ländern ist es für diese Frauen somit leichter, Karriere und Familie zu verbinden. Zwei Arbeiten von Blitz könnten für den deutschsprachigen Leser von besonderem Interesse sein: ein Aufsatz A Benefit-Cost Analysis of Foreign Workers in Germany 1957 - 1973, der 1977 in Kyklos veröffentlicht wurde, und seine kommentierte Übersetzung von H.H. Gossens Entwicklung der Gesetzte des menschlichen Verkehrs, und der

Bloch, Ernest daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln (erstmals publiziert 1854). Die Übersetzung ist zusammen mit einem einführenden Beitrag von N. Georgescu-Roegen 1983 unter dem Titel The Laws of Human Relations erschienen. Schriften in Auswahl: (1958) Capital Longevity and Economic Development, in: American Economic Review, Bd. 48, S. 313-329. (1959) Maintenance Costs and Economic Development, in: Journal of Political Economy, Bd. 67, S. 560-570. (1961) Algunas Economistas Cläsicos y Sus Opiniones Acerca de la Educatiön, in: Economia (Universidad de Chile), Bd. 72/73, S. 34-60. (1962) The Nation's Educational Outlay, in: S. Mushkin (Hrsg.): Economics of Higher Education, Washington D.C., S. 147-169 und S. 390-403. (1965) The Role of High-Level Manpower in the Economic Development of Chile, in: F. Haibison und Ch. A. Myers (Hrsg.): Manpower and Education, New York, S. 73-107. (1967) Mercantilist Policies and the Pattern of World Trade, 1500-1750, in: Journal of Economic History, Bd. 27, S.39-55. (1973) A Cross Sectional Analysis of Women's Participation in the Professions [zus. mit Chin-Hock Ow], in: Journal of Political Economy, Bd. 81, S. 131144. (1974) Women in the Professions, 18701970, in: Monthly Labor Review, Bd. 97, S. 34-39. (1975) An International Comparison of Women's Participation in the Professions, in: Journal of Developing Areas, Bd. 9, S. 499-510. (1977) A Benefit-Cost Analysis of Foreign Workers in West Germany 1957-73, in: Kyklos, Bd. 30, S. 479-502. (1983) [kommentierte engl. Übers, von] H.H. Gossens 'The Laws on Human Relations' (first published in 1854) jointly with an introduction essay by Nicholas Georgescu-Roegen, Cambridge, Mass.

Bibliographie: Blaug, M. (1964): A Selected Annotated Bibliography in the Economics of Education, University of London Institute of Education, London. Quellen: Β Hb II; AEA. Anthony Μ. Tang

Bloch, Ernest, geb. 29.01.1921 in Baden-Baden Professor of Finance Emeritus, bis heute tätig an der New York University (NYU), hier seit 1965 Professur fur Finanzierung; ab 1966 Inhaber des C.W. Gerstenberg Lehrstuhls für Bankwesen und Finanzierung. Fachgebiete: Geldtheorie und -politik, internationale Währungstheorie und -politik sowie Investition und Finanzierung. Bloch emigrierte im Jahre 1936 mit seinen Eltern in die USA. Das City College in New York absolvierte er im Jahre 1947, danach folgte ein Studium an der Columbia University. Von 1949 bis 1961 war Bloch als Ökonom im Research Department der Federal Reserve Bank of New York tätig, zuletzt Special Assistant (1961-62). Die Aufgabengebiete dort führten zur Erarbeitung verschiedener Studien Uber die nationale und internationale Finanz· und Geldpolitik der USA, die eng mit der Ausrichtung und Umsetzung der Geldpolitik des Federal Reserve Systems (Fed) verbunden waren. Die Promotion (Ph.D.) im Jahre 1963 erfolgte an der New School for Social Research. Das Thema der Dissertation lautete Corporate Liquidity Preference und behandelte die Liquiditätspräferenz von GroBuntemehmungen und Wechselwirkungen mit dem Markt für US-Staatsanleihen. Mentoren der Dissertation waren die Professoren -» Adolph Lowe, Alfred Kahler und -» Hans Neisser. Von 1962 bis zur Übernahme des o.g. Lehrstuhls war Bloch Associate Professor an der New York University. Bereits im Zeitraum 1962-1965 lehrte Bloch in Graduate- und Undergraduate-Kursen auf den Gebieten Unternehmensfinanzierung, Finanzmärkte und Investment-Banking. Weitere wissenschaftliche Arbeiten befaßten sich mit den internationalen Finanzmärkten, bspw. dem Eurodollar-Markt, den Problemen von USund internationalen Investmentbanken und deren Emissionspolitik. Er veröffentliche selbst zahlreiche Bücher, Monographien sowie Zeitschriftenartikel über die US-amerikanische Kreditwirtschaft, die Wertpapiermärkte und das Investmentbanking. Sein Buch Inside Investment-Banking (1986

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Bloch, Kurt und 1988) avancierte sowohl im akademischen Bereich wie in der Praxis zum „Bestseller". Bloch war Mitglied in diversen Fachkommissionen sowie Inhaber verschiedener Ämter der Universität. Er nahm Beratungsaufgaben für die Bank of Japan, die Federal Reserve Bank of New York, die American Society of Corporate Secretaries, die Manufacturers Hanover Bank and Trust Co. und die Deutsche Bank, Frankfurt a.M., Germany Citicorp, wahr. Er fungierte als Mitherausgeber einer Reihe von Monographien des Salomon Brother Center.

Schriften in Auswahl: (1963a) (1963b)

(1966)

(1970a) (1970b)

(1974)

(1979)

(1981)

(1986)

Federal Credit Agencies (als Koautor), Englewood Cliffs. Short Cycles in Corporate Demand for Government Securities and Cash, in: American Economic Review, Bd. 53, S. 1058-1077. Eurodollars. An Emerging International Money Market, New York University, Graduate School of Business Administration, The Bulletin, No. 39. Financial Institution and Markets (als Koautor), Boston. Study of the Savings and Loan Industry (als Koautor), U.S. Government Printing Office. Multinational Corporations, Trade and the Dollar (als Mithrsg. und Koautor), New York. Impending Changes for Securities Markets (als Mithrsg. und Koautor), Greenwich, Connecticut. Regulation and Deregulation of Financial Institutions (als Koautor), in: J. Backman (Hrsg.): Regulation and Deregulation, Indianapolis, S. 149170. Inside Investment Banking, Homewood, Illinois (2. Aufl. 1988).

Quellen: Persönliche Informationen durch Korrespondenz; BHb Π; AEA. Detlev Hummel

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Bloch, Kurt. geb. 18.11.1900 in Berlin, gest. 18.1.1976 in New York Bloch stammt aus einer Arztfamilie. Er studierte von 1919 bis 1922 Geschichte und Nationalökonomie an den Universitäten Berlin und Frankfurt/ M. und promovierte mit einer Arbeit zur Geschichte der Commission du Luxembourg. Ein Beitrag zur Geschichte der französischen Februarrevolution im Jahre 1925 in Frankfurt/M. zum Doktor der Philosophie. Blochs bevorzugte Forschungsgebiete waren Geschichte, Soziologie, Finanztheorie und -politik sowie Sozialpolitik. Von 1923 bis zu seiner Emigration im Jahre 1933 war Bloch freiberuflich als Wirtschaftsjournalist tätig. Nach seiner Assistententätigkeit bei der Deutschen Länderbank AG in Berlin ging er 1924 für ein Jahr als Austauschstudent an die Johns Hopkins University, wo er sich als Graduierter mit ausgewählten Problemen der Ökonomie und der Politischen Wissenschaften beschäftigte. Zwischen 1925 und 1927 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter zuerst an der Forschungsstelle fiir Wirtschaftspolitik und von 1927 bis 1929 im Enquete-Ausschuß. Anschließend war er als Referent bei der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse in Berlin beschäftigt. Daneben war Bloch von 1925 bis 1931 ständiger Mitarbeiter und Mitherausgeber des Wochenblattes Magazin der Wirtschaft. Im März 1933 emigrierte Bloch mit Frau und Tochter zuerst nach Großbritannien, von wo er wenige Monate später nach Shanghai und schließlich 1937 nach New York weiterreiste. Nach Beendigung seines Studiums im Jahre 1922 galt Blochs wissenschaftiches Interesse vor allem historischen und soziologischen Fragestellungen. So erörterte er in einer ersten Abhandlung den soziologischen Charakter der bürgerlichen Revolution von 1789 in Frankreich und der proletarischen Revolution von 1917 in Rußland. Bloch nahm dabei zu der Frage Stellung, inwieweit neben der marxistischen geschichtsphilosophischen Epochenlehre von Wirtschaft und Gesellschaft als zweiter relevanter Aspekt des gesellschaftlichen Umsturzes die Verdrängung der alten Legalität durch eine neue hinzuzuziehen ist. Der Betrachtung der Umgestaltung des historischen Rechtsbewußtseins zum Legalbewußtsein kam dabei besondere Bedeutung zu. Bloch sah in Anlehnung an den Marxismus in der revolutionären politischen Arbeiterbewegung den entscheidenden Schritt der Revolution. Die Intellektualisierung

Bloch, Kurt der proletarischen Kampfauffassung mündete seiner Ansicht nach in einen Prinzipienkampf, dessen Inhalte sich für den einzelnen nicht mehr konkret, sondern rein abstrakt darstellen. Als Referent der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse in Berlin bezog Bloch zur deutschen Agrarpolitik im Rahmen einer organischen Förderung der deutschen Gesamtwirtschaft Stellung. Er kritisierte die protektionistische agrarpolitische Theorie, die das landwirtschaftliche Geldeinkommen als wesentlichen Faktor ansah und somit der Anpassung der landwirtschaftlichen Erzeugung an den Bedarf im Wege stand. Bloch sprach sich gegen staatliche Hilfe in Form von preispolitischen Maßnahmen aus und propagierte stattdessen einen autonomen Markt für Agrarerzeugnisse ohne Verbrauchszwang und Preisfestsetzungen, der einen permanenten Anreiz zur Anpassung der landwirtschaftlichen Produktionsmengen an veränderte ökonomische Umweltbedingungen beinhaltete. Im Jahre 1932, wenige Monate vor seiner Emigration, erschien Blochs bis dahin wohl bedeutendstes Werk Über den Standort der Sozialpolitik. Er stellte sich darin der weitveibreiteten Ansicht entgegen, die Sozialpolitik sei lediglich das Überschußprodukt der freien Wirtschaft, da sie außerhalb der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten stehe. Er betonte stattdessen die Relevanz der Sozialpolitik für eine funktionsfähige Wirtschaft und diskutierte ihre Bedeutung für eine Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktion. Blochs Intention lag weniger in dem expliziten Nachweis einer Kausalbeziehung zwischen historisch gewachsenen sozialen Zuständen und deren möglichen Ursachen. Vielmehr analysierte er das Maß der Elastizität der Wirtschaft und damit die Frage, inwieweit sich die Volkswirtschaft aus eigener Kraft auf die neuen sozialen Normen einstellen kann. Breiten Raum widmete Bloch der Betrachtung der Sozialpolitik im Produktionssektor, die mit einem weitgefaßten Schutz der Arbeitskraft die Voraussetzung für die Nachhaltigkeit der Erzeugung des jeweils höchstmöglichen Sozialprodukts schafft. Er argumentierte, daß sich durch den Einsatz neuer Technologien der wirtschaftliche Wert der Arbeit erhöhe und sich zu einem schützenswerten Gut entwickele. Aufgrund der Kurzsichtigkeit der marktwirtschaftlichen Akteure sei die Arbeitskraft jedoch dem Raubbau ausgesetzt und bedürfe somit der Sozialpolitik, fur die Bloch auf diese Weise eine im Wesen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung liegende Existenzberechtigung lieferte.

Nach seiner Emigration im März des Jahres 1933 nach London trat Bloch noch im selben Jahr im Auftrag der Vereinten Nationen eine Stelle als Wirtschaftsberater der chinesischen Regierung in Shanghai an. Im November 1937 emigrierte Bloch mit seiner Familie nach New York, wo er sich endgültig niederließ. In den Jahren 1938 bis 1942 arbeitete er am Institute of Pacific Relations und beschäftigte sich mit den Auswirkungen des chinesisch-japanischen Krieges von 1937 auf die Inflation, die Währungsturbulenzen und die Handelsvolumina beider Länder. In dieser Zeit veröffentlichte Bloch auch seine Darstellung der German Interests and Policies in the Far East, worin er sich erneut zu den Ereignissen in China und Japan gegen Ende der dreißiger Jahre äußerte und neben einer Analyse der ökonomischen Situation des fernen Ostens die Implikationen des chinesisch-japanischen Krieges für die politischen Beziehungen sowie die Handelsbeziehungen zu Deutschland erörterte. Parallel dazu arbeitete Bloch in den Jahren 1940 bis 1942 im amerikanischen Office of Price Administration. Später trat Bloch als Mitherausgeber verschiedener Zeitschriften in Erscheinung. So wirkte er von 1939 bis 1942 am Far Eastern Survey mit und war in den Jahren 1941 bis 1950 für das Magazin Fortune sowohl journalistisch als auch redaktionell tätig. Anschließend war Bloch bis zu seinem Tod im Jahre 1976 Autor und Mitherausgeber der Dow-Jones Publikation Barron's National Business and Financial Weekly, in der er sich wöchentlich zu Fragen aus dem Bankenbereich, der Währungs- sowie der allgemeinen Wirtschaftspolitik äußerte. In seiner späten Schaffensperiode arbeitete Bloch in erster Linie publizistisch und veröffentlichte Beiträge in ökonomischen Fachzeitschriften sowie Zeitungen in Deutschland, China, Großbritannien und den USA. Schriften in Auswahl·. (1924) Zur Soziologie der modernen Revolutionen, in: R. Wilbrandt, A. Löwe, G. Salomon (Hrsg.): Wirtschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Oekonomik und Soziologie der Gegenwart. Festschrift für Franz Oppenheimer zu seinem 60. Geburtstag, Frankfurt a.M., S. 385-397. (1925)

Geschichte der Commission du Luxembourg. Ein Beitrag zur Ge-

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Block, Herbert

(1925/26)

(1926)

(1932a)

(1932b)

(1940a)

(1940b)

(1941)

schichte der französischen Februarrevolution, Diss., Frankfurt a.M. Warum Einfuhrscheine? Kritische Bemerkungen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Tübingen, Bd. 54, S. 735-740. „Soziologie des Wissens", in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, 50. Jg., l.Halbbd., S. 97-114. Das Problem der Anpassung der landwirtschaftlichen Erzeugung an den Bedarf (zus. mit M J . Bonn), in: Deutsche Agrarpolitik im Rahmen der inneren und äußeren Wirtschaftspolitik, Teil 2, Berlin, S. 206-217. Über den Standort der Sozialpolitik. Studien zur Theorie der Sozialpolitik, München. Far Eastern War Inflation, in: Pacific Affairs, published by the Institute of Pacific Relations, New York, Bd. 13, S. 320-343. German Interests and Policies in the Far East, Reprint, Institute of Pacific Relations, New York, 1978. Whither Japan?, in: Social Research, Bd. 8, S. 173-188.

Quellen: Β Hb II; AEA. Bertram Melzig-Thiel

Block, Herbert, geb. 1.1.1903 in Berlin, gest. 6.5.1988 in Bethesda, Maryland Block begann das Studium der Nationalökonomie an der heimatlichen Berliner Universität, wechselte jedoch 1923 an die Universität Freiburg, wo er ein Jahr später das Diplom-Examen ablegte und im Mai 1926 zum Dr. rer. pol. promoviert wurde. In seiner bei Karl Diehl angefertigten Dissertation setzte sich Block mit der Marxschen Geldtheorie auseinander. Block stand der Marxschen Theorie distanziert gegenüber und zeigte sich bereits in seiner Dissertation als ein klarer Pragmatiker. So warf er Marx vor, bei der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" (1926, S. 119) mit Hilfe bewußt unklarer Begriffe zu falschen Deduktionen zu kommen und „Beweisführungen nur durch taschenspielerhafte Auswechslung der Begriffe" zu

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erreichen (1926, S. 39 sowie S. 121). Auf die Entwicklung einer eigenständigen Geldtheorie habe Marx verzichtet, da er der monetären Seite der Ökonomie keine Bedeutung eingeräumt habe. 1918 habe sich das Fehlen einer direkt anwendbaren Wirtschaftstheorie, insbesondere auch einer Geldtheorie, besonders schmerzlich ausgewirkt: „Seit Jahrzehnten war die sozialistische Gesellschaft die Sehnsucht von Millionen Menschen gewesen, und als die Stunde gekommen war, die ihren Traum verwirklichen sollte, da wurden Traumdeuter und Weise berufen und eine Kommission gebildet, um darüber nachzusinnen, was unter Sozialismus und unter Sozialisierung zu verstehen sei." (1926, S. 119). Nach dem Abschluß seiner Promotion trat Block als verantwortlicher Wirtschaftsredakteur in die Redaktion des Magazins der Wirtschaft ein. Neben dem von -» Gustav Stolper herausgegebenen Deutschen Volkswirt war das von Leopold Schwarzschild begründete Magazin der Wirtschaft die bedeutendste Wirtschaftszeitung der Weimarer Republik, die sich sowohl durch eine wöchentliche Konjunktur- und Branchenberichterstattung wie durch Kolumnen führender Wirtschaftstheoretiker und -praktiker, darunter -» Emil Lederer, -» Jacob Marschak, Wilhelm Lautenbach und Hans Staudinger einen Namen gemacht hatte. Im April 1931 schied Block aus der Redaktion aus und war nach einer Zwischenstation als Berater der Finanzkommission des Völkerbundes in Genf für die liberale Berliner Vossische Zeitung tätig. Nachdem diese im Frühjahr 1934 ihr Erscheinen einstellen mußte, verließ Block Deutschland und nahm im republikanischen Spanien eine Dozentur an der Universität Madrid an. Nach Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges emigrierte Block zunächst in die Schweiz und 1940 in die USA. Für ein Jahr war er an der Brookings Institution in Washington, D.C., tätig. Anschließend ging er als Research Assistant an die Graduate Faculty of Political and Social Science der New School for Social Research in New York. Nach der deutschen Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten kam ihr als ehemaliger University in Exile eine besondere Rolle bei der Analyse der deutschen wie der europäischen Wirtschafts- und Sozial struktur zu. In Zusammenarbeit mit zivilen und militärischen Einrichtungen entstanden eine ganze Reihe von Studien, welche die europäische Politik seit 1933 erklären und zugleich Perspektiven für eine künftige demokrati-

Block, Herbert sehe Wirtschafts- und Sozialordnung aufzeigen sollten. Block arbeitete ab 1941 an einem vom Office of Foreign Economic Administration in Auftrag gegebenen Forschungsprojekt über die wirtschaftliche und soziale Planung in Deutschland und RuBland. In diesem Rahmen entstanden zwei größere Studien über die deutsche Wirtschaftspolitik unter dem Nationalsozialismus. In einer ersten umfassenden Untersuchung (1942a) beschäftigte sich Block mit dem Wandel auf dem deutschen Arbeitsmarkt in den dreißiger Jahren: von einer ursprünglich hohen Arbeitslosigkeit zu einem zunächst latenten, bald aber offenen Arbeitskräftemangel. Für Block bestand kein Zweifel, daß die nationalsozialistische Politik niemals eine eigenständige Arbeitsmarktpolitik betrieb, sondern den Arbeitsmarkt vom ersten Augenblick an auf die Erfordernisse der Kriegswirtschaft ausrichtete. Die zunächst publikumswirksam in Angriff genommenen öffentlichen Arbeiten und die Produktionssteigerung in der Privatwirtschaft durch verstärkte öffentliche Nachfrage hätten in erster Linie militärischen Charakter gehabt. Block deckte dabei auf, wie die Nationalsozialisten für diese Ziele die Umkehning ihrer eigenen politischen Grundsätze in Kauf genommen hatten. Während die 'Blut-und-Boden'-Ideologie eine Stärkung des Bauerntums versprach und der Landwirtschaft mitunter fast mythische Züge verlieh, nahm der Anteil der agrarischen Arbeitsbevölkerung nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland ständig ab, so daß die landwirtschaftliche Versorgung bald nur noch durch den Einsatz von ausländischen Arbeitskräften und Kriegsgefangenen aufrechterhalten werden konnte. Ebenso konstatierte Block eine zunehmende Divergenz zwischen den nationalsozialistischen Vorstellungen der Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern und den Notwendigkeiten auf dem Arbeitsmarkt: Während Anfang der dreißiger Jahren die Verdrängung der Frauen vom Arbeitsmarkt noch ganz im Sinne der nationalsozialistischen Arbeitsmarktpolitik gewesen sei, hätte sich diese Entwicklung nach Kriegsbeginn in ihr Gegenteil verkehrt: Der Mangel an industriellen Arbeitskräften sei durch die steigende Frauenerwerbstätigkeit ausgeglichen worden. Auch in einer zweiten umfassenden Studie (1942b) konnte Block die Doppelbödigkeit der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik nachweisen. Während die offiziell verkündete Ideolo-

gie den Mittelstand und die kleinen Unternehmen schützen wolle, verfolge die tatsächliche Wirtschaftspolitik, teils aus kriegswirtschaftlichen Erwägungen, teils jedoch auch aus dem Eigeninteresse führender Parteifunktionäre, die gegenteilige Intention und verstärke die zuvor noch kritisierten Konzentrationstendenzen. 1944 verließ Block die New School, um sich im Rahmen der US-War-Administration am Kampf gegen Hitler-Deutschland zu beteiligen. Nach nur kurzer Zeit als Research Analyst des Army Industrial College in Washington, D.C., wurde er zum Sektionschef der sowjetischen Abteilung des Office of Strategie Studies ernannt, wodurch sich sein Blickwinkel von der deutschen Ökonomie verstärkt zur sowjetischen Wirtschafis- und Rüstungspolitik verlagerte, mit der er sich bereits in Deutschland publizistisch auseinander gesetzt hatte. Nach dem Kriegsende wechselte Block ins State Departement, wo er nacheinander die Stellung eines Leiters der UdSSR-Abteilung, ab 1947 die eines Sektionschefs der europäischen Forschungsabteilung und ab 1950 die des Chefökonomen der Osteuropaabteilung einnahm. Von 1959 bis 1973 war er als Sonderassistent in der europäischen und sowjetischen Forschungsabteilung beschäftigt, nebenbei nahm er noch seit 1963 einen Lehrauftrag an der School for Advanced International Studies der Johns Hopkins University in Baltimore wahr. Nach seinem Ausscheiden aus dem State Department war er als ökonomischer Berater der Georgetown University und der Brookings Institution tätig und beschäftigte sich weiterhin mit der Analyse der sowjetischen Wirtschaft sowie mit Fragen der internationalen Wirtschaft. Das politische Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland, die er nach Kriegsende mehrfach besuchte, beobachtete er mit regem Interesse ebenso wie die politische und ökonomische Entwicklung Osteuropas. Einen raschen ökonomischen Systemwechsel in der Sowjetunion und der von ihr beherrschten Staaten hielt er aufgrund der Behamingsfahigkeit der Zentralverwaltungswirtschaft für ebenso unwahrscheinlich wie den politischen Systemwandel zu einer westlich geprägten Demokratie. Daher erwartete Block lediglich kosmetische Reformen und eine andauernde Ineffizienz der Sowjetwirtschaft unter einer zunehmend autokratischen politischen Führung (1983, S. 168). Kurz vor der großen Wende in Osteuropa, deren Chancen Herbert Block über mehrere Jahr-

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Bode, Karl zehnte hinweg untersucht hatte, starb er 1988 in Bethesda, Maryland. Schriften in Auswahl: (1926) Die Marxsche Geldtheorie, Jena (Diss.). (1942a) German Methods of Allocating Labor, New York. (1942b) Industrial Concentration versus Small Business. The Trend of Nazi Policy, New York. (1983) The Economic Basis of Soviet Power, in: Luttwak, E.N. (Hrsg.): The Grand Strategy of the Soviet Union, London. Quellen: SPSL 229/1; Β Hb I; AEA; Universitätsarchiv Freiburg. Klaus-Rainer Brinizinger

Bode, Karl, geb. 24.11.1912 in Bönnien bei Hannover Bode studierte ab 1931 in Bonn, ging dann 1933 an die Universität Wien und emigrierte 1934 in die Schweiz, wo er in Genf und Bern studierte. 1935 promovierte er an der Universität Bem mit der Arbeit Der natürliche Zinsfuß. Begriffskritische Untersuchungen zur Theorie des neutralen Geldes bei Alfred Amonn. Danach setzte er sein Studium in Großbritannien an der Universität Cambridge fort. Ab 1937 arbeitete er als Associate Professor an der Universität Stanford. Die amerikanische Staatsbürgerschaft erwarb er 1943. 1945 wurde er Mitarbeiter an einer Studie über die Wirkung des Bombenkrieges in Frankreich im Auftrag des US Kriegsministeriums und beendete damit seine akademische Laufbahn. Danach arbeitete er im Office of Military Government (for Germany, United States, OMGUS) und hatte von 1949 bis 1952 verschiedene Positionen beim Office of the US High Commissioner for Germany (HICOG) inne. Daraufhin wechselte er zur Mutual Security Agency in Deutschland und zur International Cooperation Administration in Seoul. Den Rest seiner beruflichen Laufbahn verbrachte er ab 1955 in verschiedenen leitenden Positionen der Agency for International Development (A.I.D.) in Washington, wo er ab 1967 den Direktorposten der Research Evaluation and Information Retrieval Division bekleidete.

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In seinen Arbeiten befaßt sich Bode häufig mit begriffskritischen Analysen, es gibt viele Überschneidungen mit den methodologischen, soziologischen und philosophischen Wissenschaften. Das Hauptziel Bodes ist, eine klar strukturierte, begriffliche Grundlage für die Nationalökonomie zu formulieren. Alle wesentlichen Artikel sind innerhalb von fünf Jahren veröffentlicht worden: während seiner Promotion und des Aufenthalts in Cambridge. Sein Hauptwerk ist die Dissertation über den natürlichen Zinsfuß und die Theorie des neutralen Geldes. Dort schreibt er einleitend „Der Zweck dieser Arbeit besteht darin, den ... Zentralbegriff des natürlichen Zinsfußes insoweit möglichst umfassend zu klären, als es sich um die eigentliche Begriffsproblematik - zum Unterschiede von den reinen Sachproblemen - handelt." (1935, S. 6). Aufgrund seiner methodischen Vorgehensweise beschreibt und verwirft er zunächst die gängigen Definitionen des natürlichen Zinsfußes, um dann den natürlichen Zins als Ausgleichszins von volkswirtschaflichem Sparangebot und volkswirtschaftlicher Investitionssnachfrage weiter zu analysieren. Er stellt die Cambridger Kritikthese vor, daß Sparen = Investieren eine Identität und keine echte Bedingungsgleichung für ein geldtheoretisches Gleichgewicht sei. Den Kern dieser These sah Bode in der falschen Definition des Sparbegriffs: Er stellt bei seiner eigenen Begriffsfindung stark auf den gewöhnlich gebräuchlichen Wortsinn ab und vergleicht die betrachteten Definitionen mit dem alltäglichen Begriffsgebrauch. Laut Bode werden von den Mitteln, die am Anfang einer regulären Wirtschaftsperiode eingenommen sind, (1) diejenigen gespart, die am Ende dieser Periode noch verfugbar sind, die also in spätere Wirtschaftsperioden hinübergenommen werden, und (2) diejenigen, die innerhalb der Wirtschaftsperiode (planimmanentes Sparen) von einem geplanten Konsumakt zu einem nicht geplanten umdisponiert werden, wenn also der reguläre Wirtschaftsplan geändert wird. Das Verhältnis zwischen diesem 'gewöhnlichen' Sparbegriff, dem Robertsonschen Sparbegriff, der den Konsum einer Periode mit dem Einkommen der Vorperiode in Beziehung setzt und dem Surplus-Begriff läßt sich folgendermaßen beschreiben: Sie bilden „... hinsichtlich der begrifflich-logischen Schärfe eine abfallende und hinsichtlich der empirischen Erfaßbarkeit eine aufsteigende Stufenreihe ..." (1935, S. 49). Kurz nach Bodes Ausführungen er-

Bode, Karl schien Keynes' Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936), in der er die Liquiditätspräferenztheorie des Zinses vorstellt. Bodes begriffliche Abgrenzung der Formel Sparen = Investieren kann dem Vergleich der beiden Erklärungen des Zinssatzes nur geholfen haben. Abschließend spricht Bode das Problem an, daB kontinuierliche Kreditausdehnung möglich (und notwendig für das Wirtschaftswachstum) ist, wenn dabei das Preisniveau konstant gehalten wird. Dann wäre der natürliche Zins ungleich dem Marktzins, d.h. der natürliche Zinssatz ist nicht unbedingt auch der richtige. In einem Artikel von Bode und Gottfried Haberler (1935) wird in diesem Zusammenhang Harrods These kritisiert, daß ein monetäres Gleichgewicht in einer progressiven Wirtschaft konsistent mit einem konstanten Preisniveau durch Kreditvergabe ist. In einer progressiven Wirtschaft wird erwartet, daB das Realeinkommen steigt; deswegen wird die Kassenhaltung, in Antizipation neuer Kredite, ausgedehnt, um den Kassenhaltungskoeffizienten k konstant zu halten. Bode/Haberler merken an, daB die Kassenhaltung erst dann ausgedehnt wird, wenn das Einkommen tatsächlich steigt. Wieder wird der Kern des Problems in einer falschen Auffassung des Sparbegriffs gesehen. Deswegen konnte Harrod, laut den Autoren, auch nicht beweisen, daB Sparen nur gleich Investieren sein kann, wenn das Preisniveau konstant gehalten wird. In einem Aufsatz zusammen mit P. Joseph (1935) üben die Autoren Kritik an der österreichischen Kapital- und Zinstheorie. Sie befassen sich eingehend mit dem Begriff der durchschnittlichen Produktionsperiode und zeigen, daB es keine befriedigende Definition dieser Periode gibt, wenn Kapital nicht als eigenständiger Produktionsfaktor wie Arbeit und Boden - aufgefaßt wird. Weiterhin wird die Zinstheorie Böhm-Bawerks betrachtet. Zunächst stellt sich das zurechnungstheoretische Zinsproblem; wenn Kapitalgüter am Ende ausschließlich mit Hilfe von Arbeit und Boden produziert werden, kann der Zins nicht die Produktivität von Kapitalgütern widerspiegeln. Hier nehmen Joseph/Bode wieder Bezug auf ihre Kritik an der durchschnittlichen Produktionsperiode und zeigen, daß auch Kapitalgüter, wie Arbeit und Boden, als zurechnungsbeständig betrachtet werden können, wenn diese (anders als bei Böhm-Bawerk) am Anfang einer Produktionsperiode stehen. Empirisch ist die Frage der völligen Planim-

manenz des Kapitals also zu verneinen. Kapital ist als permanenter Produktionsfaktor aufzufassen. Daher wird der Sparakt als Wahl zwischen einem gegenwärtigen endlichen Einkommensbetrag und einer permanenten Verbreiterung des Einkommensstromes definiert. Angebot und Nachfrage von Kapitaldisposition (Geldmenge χ Zeit) treffen sich auf dem Kapitalmarkt, auf dem sich der Preis der Kapitaldisposition, der Zinsfuß, bildet. Dies gilt allerdings nur fur das freiwillige Sparen. Da der gröBere Teil des Angebots an neuer Kapitaldisposition aus zusätzlichen Bankkrediten (Zwangssparen) besteht, wird der aktuelle Marktzins von der Angebotsseite her vorwiegend durch die Bankpolitik bestimmt. In dem gemeinsam mit A. Stonier verfaBten Artikel über A. Schütz' Buch Der sirmhafte Aufbau der sozialen Welt (Eine Einleitung in die verstehende Soziologie) (1932) wollen die Autoren dem englischen Leser Schütz' Betrachtungen zugänglich machen. Der methodologische Aspekt des Buches bildet die systematische Grandlage für die Sozialwissenschaften. Um das menschliche Verhalten in der Nationalökonomie zu analysieren, definiert Schütz den Idealtypus des homo oeconomicus. Stonier/Bode weisen darauf hin, daB methodologische Beiträge eine lange Tradition in England haben und daB dort die Nationalökonomie immer in abstrakter und systematischer Weise verfolgt wurde. Sie betonen, daß Anwendungen der Theorien in der Nationalökonomie durchaus möglich sind. Eine weitere Buchbesprechung befaßt sich mit Haberlers Prosperity and Depression. A Theoretical Analysis of Cyclical Movements (1937), in dem die verschiedenen Konjunkturtheorien analysiert und kritisiert werden. Bei den Ausführungen zum Akzelerationsprinzip merkt Bode an, daB die tatsächliche, mehrstufige Akzeleration weit hinter der theoretisch erwarteten zurückbleiben kann, was aber dennoch nicht die Geringfügigkeit dieses Effekts aufzeigen muß. Desweiteren kritisiert Bode Mises' Buch Grundprobleme der Nationalökonomie (1933). Er bezieht sich nur auf formallogische, wissenschaftstheoretische und methodologische Fragen. Laut Mises ist es nicht möglich, Theorien aus der Wirtschaftsgeschichte abzuleiten, da diese nur Vergangenheitsgültigkeit besäßen. Bode lehnt diese Folgerung mit dem Hinweis auf Naturgesetze ab, die auch nur aus der Empirie heraus ableitbar sind. Wirklich idealgültige Gesetze sind nur ζ. B. in der

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Bohnstedt, Werner Α. Mathematik, wegen deren Zeitunabhängigkeit, möglich. Bode betont die Spiethoffschen Wirtschaftsstile als ein Zwischenglied, durch das die Theorie für die Wirtschaftpolitik nutzbar gemacht werden kann. Mises lehnt diese Wirtschaftsstile ab. Bode übersetzte außerdem Robertsons Das Geld (1935) nach der achten, englischen Auflage. Schriften in Auswahl: (1933) Die Giundprobleme der Nationalökonomie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, Jg. 57, Halbbd. 2, S. 571-588. (1935a) Bemerkungen zur Kapital- und Zinstheorie (zus. mit P. Joseph), in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. 6, S. 170-195. (1935b)

(1935c)

(1937a)

(1937b)

Der natürliche Zinsfuß. Begriffskritische Untersuchungen zur Theorie des neutralen Geldes, Peine (Diss.). Monetary Equilibrium and the Price Level in a Progressive Economy: A Comment (zus. mit G. Haberler), in: Economica, Bd. 2, S. 75-81. A New Approach to the Methodology of the Social Sciences (zus. mit Α. Stonier), in: Economica, Bd. 4, S. 406-424. Prosperität und Depression, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. 8, S. 597-614.

Bibliographie: Haberler, G. von (1937): Prosperity and Depression, A Theoretical Analysis of Cyclical Movements, Economic Intelligence Service, League of Nations, Genf. Mises, L. von (1933): Grundprobleme der Nationalökonomie. Untersuchungen über Verfahren, Aufgaben und Inhalt der Wirtschafts- und Gesellschaftslehre, Jena. Robertson, D.H. (1935): Das Geld, 2. verb. Auflage, übers, von K. Bode, Wien. Schütz, A. (1932): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien. Quellen: Β Hb I; SPSL 471/2 Antje Lechner

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Bohnstedt, Werner Α., geb. 27.12.1899 in Jatznick, Pommern, gest. 5.4.1971 in Turlock. Kalifornien Nach dem Besuch der Oberrealschule in Bochum und des Realgymnasiums in Elberfeld verließ Bohnstedt die Schule 1917 mit dem Notreifezeugnis, um in den Heeresdienst einzutreten. 1919 kehrte er aus französisch-amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück und begann sein Studium der wirtschaftlichen Staatswissenschaften, Soziologie und Geschichtswissenschaft. Er studierte in Berlin, Kiel und München und wurde 1926 in Kiel bei Bernhard Harms mit einer Dissertation über die Marktbildung in der Weltwirtschaft promoviert. Anschließend war er Redakteur der Zeitschrift Soziale Praxis in Berlin, wo er die Nachfolge von - Paul Mombert an der Freiburger Universität. Im Herbst 1921 ging Colm nach Berlin, wo er regelmäßiger Teilnehmer des Sombart-Seminars war. In Berlin lernte er u.a. -» Fritz Neumark kennen. An der Friedrich-Wilhelms-Universität begegnete er auch der aus einer Hamburger Pastorenfamilie stammenden Studentin der Psychologie und Philosophie Hanna Nicolassen, die er 1922 heiratete. Aus der Ehe gingen zwei Söhne und zwei Töchter hervor. Von Februar 1922 bis März 1927 war Colm als Referent im Statistischen Reichsamt tätig, wo er zunächst die deutsche Produktionsstatistik entwikkelte, sich näher mit der Definition und der genauen empirischen Ermittlung von Volkseinkommen und Volks vermögen (1926) auseinandersetzte sowie vor allem als Leiter der 1925 neu geschaffenen Abteilung 'Ausländische Finanz- und Steuerstatistik, internationaler Finanzbelastungsvergleich' eine für die Reparationsfrage bedeutende, international vergleichende Finanzstatistik aufbaute (1925; 1928) und auch -» Adolph Löwe begegnete, der Colm zum 1. April 1927 als wis-

Colm, Gerhard senschaftlichen Dezernenten in die von ihm geleitete Konjunkturforschungsabteilung des Instituts für Weltwirtschaft nach Kiel holte. Bereits am 18. Dezember 1926 hatte Colm an der Kieler Christian-Albrechts-Universität mit einer für die Entwicklung der modernen Finanzwissenschaft richtungsweisenden Schrift Volkswirtschaftliche Theorie der Staatsausgaben (1927) habilitiert. Nachdem er zunächst für drei Jahre stellvertretender Abteilungsvorstand gewesen war, wurde Colm nach der Berufung von Löwe auf eine ordentliche Professur zum 1. März 1930 Leiter der 'Abteilung für Statistische Weltwirtschaftskunde und internationale Konjunkturforschung' am Institut für Weltwirtschaft und am 11. April desselben Jahres auch auf eine nichtbeamtete Professur fur Wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität berufen. Drei Jahre später, am 12. April 1933, vertrieben SA-Gruppen Colm zusammen mit -* Hans Neisser und anderen Mitarbeitern gewaltsam aus dem Institut. Colm wurde am 25. April mit sofortiger Wirkung beurlaubt und am 27. September 1933 aus dem Staatsdienst entlassen (Ublig 1991, S. 35). Vier Wochen zuvor war Colm bereits über London, wo er sich im Sommer aufgehalten hatte, in die USA emigriert. Dort hatte er von 1933 bis 1939 als Mitglied der 'Mayflower-Generation' eine Professur für Wirtschaftswissenschaften an der von Alvin Johnson ins Leben gerufenen 'Universität im Exil' der New School for Social Research in New York inne. 1939 wechselte Colm, dem am 6. Dezember 1938 die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt worden war und der am 10. August 1939 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, in die New Deal-Administration des Präsidenten Roosevelt nach Washington. Nach einer kurzen Zwischenstation als Finanzexperte im Department of Commerce war er von 1940 bis 1946 in führender Position im Bureau of the Budget, von 1946 bis 1952 als Senior Economist und Konjunkturexperte im neugeschaffenen Council of Economic Advisers und von 1952 bis Ende 1968 als Chefökonom der National Planning Association tätig. Darüber hinaus lehrte er von 1940 bis 1962 als Gastprofessor an der George Washington University hauptsächlich über öffentliche Finanzen. Im Nachkriegsjahr 1946 war er in besonderer Mission für die amerikanische Militärverwaltung in Deutschland unterwegs.

In seiner Kieler Habilitationsschrift Volkswirtschaftliche Theorie der Staatsausgaben (1927) legte Colm die erste systematische Studie über die Wirkungen von Änderungen der Staatsausgaben auf den Wiitschaftskreislauf vor. Die historische Relevanz bezog Colms Untersuchung aus dem Tatbestand, daß es infolge des Ersten Weltkriegs in Deutschland zu sprunghaften Veränderungen in Höhe und Struktur der Staatsausgaben gekommen war. So lag deren Anteil von einem Viertel am Volkseinkommen Mitte der zwanziger Jahre um ca. 2/3 höher als in den letzten Vorkriegsjahren, wobei der Anteil der Sozialausgaben besonders gestiegen war. Colms Studie grenzt sich in doppelter Hinsicht von der seinerzeit existierenden Literatur ab. Einerseits weicht sie erheblich von der stark finanzrechtlich bzw. verwaltungspraktisch orientierten Tradition ab, wie sie im deutschen Sprachraum beispielsweise durch Lorenz von Stein verkörpert wurde. Andererseits sieht der Verfasser zurecht eine Überbetonung der Steuerpolitik bzw. der staatlichen Einnahmenseite in der stärker theoretisch orientierten angelsächsischen Literatur, wodurch der systematische Zusammenhang der Finanzwirtschaft vielfach veriorengehe. Zwar findet sich diese Tradition bereits bei Ricardo, was auch im Titel seines Hauptwerks Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung (1817) zum Ausdruck kommt, andererseits verdeutlichen der explizite Hinweis auf den 'entscheidenden Fortschritt', den die volkswirtschaftliche Theorie „durch die Neubelebung und Fortbildung der klassischen Theorie" (1927, S. ΠΙ) erhalten habe und die daraus zu ziehenden Konsequenzen für die Finanzwissenschaft, wie sehr auch der Beitrag von Colm zur Finanztheorie in den Kern des Forschungsprogramms der 'älteren Kieler Schule' hineingehört, das aus guten Gründen auch als 'neuklassisch' bezeichnet werden kann. Die volle Bedeutung vieler innovativer Ansätze, die sich in der Colmschen Schrift finden, ist erst lange Zeit danach, vor allem nach der Entfaltung der 'keynesianischen Revolution' erkannt worden. So finden sich z.B. bereits zentrale Gesichtspunkte des später von Abba Lerner entwikkelten Konzepts der 'functional finance', wonach die Finanzpolitik als systematisches Instrument der Konjunkturpolitik eingesetzt wird. Allerdings wird auch bei Colm der längerfristige Zeithorizont der Kieler Ökonomen deutlich. So wird weder die Finanzpolitik auf eine ausschließlich konjunkturpolitische Funktion reduziert noch einer reaktiven

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Colm, Gerhard diskretionären Politik das Wort geredet. Ferner unterschied Colm in seiner systematischen Diskussion der verschiedenen öffentlichen Leistungsarten zur Marktwirtschaft zwischen den eigentlichen Verwaltungsleistungen, deren Kosten er in Personal- und Sachausgaben aufteilte, und den Geldleistungen, zu denen er z.B. Unterstützungen, Subventionen und Tributleistungen an das Ausland rechnete (ebd., S. 34ff.). Zusammen mit Pigou (1928) war Colm damit der entscheidende Wegbereiter der für die Analyse der Auswirkungen der öffentlichen Ausgaben auf den gesamtwirtschaftlichen Produktions- und Verteilungsprozeß heutzutage üblichen Gliederung der Staatsausgaben in Ausgaben für Güter und Dienstleistungen, die der Staat direkt in Anspruch nimmt und Transferausgaben (Sozialausgaben an private Haushalte, Subventionen an Unternehmen), bei denen „nur" eine Umverteilung der Kaufkraft vom Steuerzahler auf den Empfänger der Transferzahlungen erfolgt, aber kein zusätzliches Einkommen geschaffen wird. Ferner finden sich bei Colm eine sorgfältige Diskussion der öffentlichen Kredite - deren investive ('produktive') bzw. konsumtive Verwendung - , der damit verbundenen Zinszahlungen sowie der ökonomischen Funktion der Arbeitslosenversicherung, lauter Gesichtspunkte, die in den nachfolgenden beschäftigungspolitischen Debatten relevant werden sollten. Trotz aller Konzentration auf die Theorie der Staatsausgaben, macht Colm klar, daB die vollständige Wirkung der Staatsausgaben nur unter expliziter Berücksichtigung der Einnahmenseite, d.h. der spezifischen Deckungsart des öffentlichen Finanzbedarfs, erfaßt werden kann (vgl. ebd., Kap. Vü). Ebenso wie die anderen Mitglieder der Kiel-Heidelberger Gruppe von Reformökonomen, insbesondere Lowe, Neisser, Emil Lederer und -» Jacob Marschak, schaltete sich Colm aktiv in die Debatte um die Diagnose der Krisenursachen sowie die geeignete Therapie zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise ein (vgl. Garvy 1975 und Hagemann 1984). In der kontroversen Debatte über die Beschäftigungswirkungen von (Nominal-) Lohnsenkungen war es insbesondere Colm, der auf die Bedeutung des Zinses als Kostenfaktor und den Zusammenhang zwischen Zinshöhe und Kapitalmangel hinwies: „Die Eingliederung einer wachsenden Zahl von Erwerbstätigen hat in der Vorkriegszeit nicht zu Schwierigkeiten des Ausmaßes geführt, wie

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wir sie gegenwärtig erleben. Der Unterschied liegt offenbar in dem gegenüber früher weit überhöhten Zinsfuss und in dem Kapitalmangel, der eine entsprechende Ausweitung der Produktionsanlagen hemmt. Gerade in den letzten beiden Jahren tritt diese hemmende Wirkung des Zinsfusses besonders deutlich in Erscheinung." (1930b, S. 244f.). Da die Arbeitslosigkeit über eine bessere Auslastung der vorhandenen Produktionskapazitäten wegen des vor Einsetzen der Depression bereits vorhandenen Kapitalmangels nicht vollständig abzubauen war, wäre Ende der zwanziger Jahre eine Erweiterung der Produktionskapazitäten erforderlich gewesen. Voraussetzung für eine (Wieder-) Beschäftigung der Arbeitslosen in erneuerten oder neugeschaffenen Produktionsstätten wäre nicht nur gemäß Colmscher Ansicht eine Steigerung des Kapitalangebots und eine Senkung besonders des langfristigen Zinssatzes gewesen. Dem standen verschiedene Hemmnisse entgegen. Hierzu zählte vor allem die Unergiebigkeit des inländischen Kapitalmarktes als Folge der Vernichtung der Geldvermögen durch die Inflation. Die Inflation hatte zwar einerseits zu einer weitgehenden Entschuldung der Unternehmen geführt, d.h. zu einer drastischen Verringerung ihrer Zinsbelastung für die bestehenden Produktionskapazitäten, andererseits jedoch zu weit höheren Zinsen für den Aufbau neuer Produktionsanlagen, eine Folge der verminderten inländischen Ersparnis- und Kapitalbildung, zu der die Geldvermögensbesitzer in der Vorkriegszeit entscheidend beigetragen hatten. Hinzu kam seit 1926 ein immenser Kapitalbedarf der öffentlichen Hand, deren Verschuldung sich in den Jahren 1926 bis 1930 von 11 auf über 21 Milliarden Reichsmark annähernd verdoppelte sowie eine starke Kapitalflucht, die nach der Auflösung des Reichstags im Juli 1930 und den Septemberwahlen 1930 einsetzte und den Zinssatz nun in eine Richtung trieb, die in striktem Gegensatz zu den binnenwirtschaftlichen Erfordernissen in der Krise stand. Colm, der zusammen mit Neisser auch die beiden Bände über die Tagung der Friedrich-List-Gesellschaft in Bad Eilsen vom Oktober 1929 herausgegeben hatte (1930a), die sich mit der Frage auseinandersetzte, inwieweit die Steuerpolitik zum notwendigen Prozeß der inländischen Kapitalbildung und Kapitalversorgung beitragen kann, die in der Debatte über die Reparationszahlungen als das zentrale Problem erkannt worden war, betonte den politisch bedingten drastischen Anstieg der Risikoprämie. Zwar mögen

Colm, Gerhard die Unternehmer bei wachsender Zinsbelastung den Ausweg in einer Lohnsenkung suchen, eine politisch oktroyierte Lohnsenkung wird jedoch eher zu sozialen Unruhen und damit zu einer Erhöhung dieser Risikoprämie führen. Die Forderung nach Lohnsenkungen war auf dieser Grundlage also nicht zu legitimieren. Colm vertrat in der Lohndebatte ebenso wie Neisser eine kritischere Position gegenüber dem Kaufkraftargument als z.B. Lederer und Marse hak. Er war der Ansicht, da£ es kein absolutes Maß für die Beurteilung der richtigen Lohnhöhe gibt, sondern daß die Höhe des Lohnsatzes stets im Verhältnis zum erreichten Niveau des technisch-organisatorischen Wissens, unter Berücksichtigung anderer Kostenfaktoren wie Zinsen, Steuern und Rohstoffpreisen, dem Auslastungsgrad der Produktionskapazitäten sowie der Wechselkursentwicklung gesehen werden muß. So sah er z.B. Lohnsenkungen in beschränktem Ausmaß nach der Abkehr vom Goldstandard und der damit verbundenen Freigabe des Pfundes durch die britische Regierung am 21. September 1931 als unvermeidbar an, um ein zu hohes Kosten- und Preisniveau gegenüber dem Ausland zu vermeiden (1931, S. 829f.). Aufgrund seiner langjährigen Auseinandersetzung mit der Reparationsproblematik (vgl. u.a. 1929) sowie als Kenner der Reichsstatistik war sich Colm des Zwanges zu einem aktiven deutschen Handelsbilanzsaldo ebenso bewußt wie des Tatbestandes, daß über ein Drittel der deutschen Exporte in Länder ging, die über eine Abwertung ihrer Währung eine erhebliche Senkung ihrer Löhne in Dollarparitäten vorgenommen hatten. Colm spielte auch eine wichtige Rolle auf der Geheimkonferenz der Friedrich-List-Gesellschaft über die Möglichkeiten und Folgen einer Kreditausweitung, die Mitte September 1931 im Haus der Reichsbank in Berlin stattfand (vgl. Borchardt und Schötz 1991). Dabei unterstützte er die vom Referenten im Reichswirtschaftsministerium Wilhelm Lautenbach konzipierten Vorschläge fur eine aktive Konjunkturpolitik und beeindruckte den Reichsbankpräsidenten Hans Luther mit seiner Analyse, daß die (Weltwirtschafts-)Krise ihren kapitalistischen Sinn verloren habe. Die Krise sei weit über das Maß hinausgegangen, das für eine Ausschaltung unrentabler Betriebe und eine Stärkung der Selbstheilungskräfte erforderlich gewesen wäre. Angesichts der erheblichen Unterauslastung vorhandener Produktionskapazitäten

und der daraus resultierenden Belastung der Unternehmen mit fixen Kosten müsse das Ziel in einer Produktionsausweitung liegen, die zugleich die internationale Preiswettbewerbsfähigkeit nicht gefährde. Die von ihm unter dem unmittelbaren Eindruck der Berliner Konferenz verfaßten und im November 1931 veröffentlichten Wege aus der Weltwirtschaftskrise, in denen er sich mit den innerhalb kapitalistischer Rahmenbedingungen vorhandenen Möglichkeiten und Mitteln der Krisenbekämpfung auseinandersetzte, sowie die im Juli 1933 erschienene Abhandlung Die Krisensituation der kapitalistischen Wirtschaft verdeutlichen die Colmsche Position. Dabei wird klar, daß er sich zwar von inflationsfordernden Projekten wie der 'Feder-Mark' distanziert und aus Gründen der für eine größere Ergiebigkeit erforderlichen Vertrauensbildung in den deutschen Kapitalmarkt, die bereits durch die Nachkriegsinflation erschüttert wurde, gegen eine Schuldenabwertung, sich zugleich aber auch zur Linderung der Arbeitslosigkeit für eine begrenzte Kreditausweitung und öffentliche Arbeitsbeschaffungsprogramme ausspricht. Angesichts der mit der Produktionssenkung verbundenen „Tendenz zur Steigerung der Stückkosten in der Krise" (ebd., S. 401) sieht Colm weiter anhaltende Lohnsenkungen und fortgesetzte Kürzungen öffentlicher Ausgaben inmitten der Deflationskrise als ausgesprochen gefährlich an. „Der unheilvolle Zirkel, der durch den Zwang, die Kosten zu senken, zu immer erneuter Krisenverschärfung führt, muß ... durch irgendeinen von außen kommenden Eingriff zerrissen werden." (ebd., S. 403). Hinsichtlich der Empfehlung von Lohnsenkungen als Mittel der Krisenbekämpfung wendet er nun ein: „Wir halten die These, dass Lohnsenkung zu jeder Zeit Kaufkraftminderung der Gesamtwirtschaft bedeute, nicht für richtig. Aber gerade in der Depression erweist die „Kaufkrafttheorie der Löhne" ihren richtigen Kem. Denn in der Depression führt die Lohnsenkung zur Nachfrageminderung der Arbeiter, die durch keine entsprechende Nachfragesteigerung der Unternehmer voll ausgeglichen wird. Lohnsenkung verschärft in der Depression den Deflationsprozeß, führt zu vermehrter Arbeitslosigkeit" (1931, S. 823). Gleichwohl hielt er infolge des durch Großbritannien ausgelösten Abwertungswettlaufs eine begrenzte Lohnsenkung aus Wettbewerbsgriinden fur unvermeidbar. Um jedoch zu verhindern, daß daraus gesamtwirtschaftlich ein Nachfrageausfall und ein weiterer Anstieg der Ar-

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Colin, Gerhard beitslosigkeit resultieren, müsse die Anpassung der deutschen Kosten- und Preislage an die veränderte Situation auf den internationalen Märkten unbedingt mit einer begrenzten Kreditausweitung verbunden werden. Soweit private Investoren nur mangelhaft bereit seien, Kredite in Anspruch zu nehmen, seien öffentliche Arbeitsbeschaffungsprogramme erforderlich, um zusätzliche Kaufkraft zu schaffen. Aufgrund des stückkostensenkenden Effekts der mit der Produktionsausdehnung einhergehenden steigenden Kapazitätsauslastung wirke dies Colm zufolge nicht inflationistisch. Spricht er sich einerseits eindeutig gegen eine Deflationspolitik und die damit verbundenen Gefahren der Krisenverschärfung aus, so läfit Colm andererseits keinen Zweifel daran, daß er die Ansicht fur falsch hält, man könne „die Depression in jedem Zeitpunkt durch konjunkturpolitische Maßnahmen überwinden" (1933, S. 405). Vielmehr könne die Initialzündung nur wirken, wenn der Motor an sich in Ordnung sei, d.h. nur bei einem vernünftigen Verhältnis von Kosten und Preisen und einer damit verbundenen Wiederherstellung der Rentabilität könne die anfänglich künstliche Belebung der Kaufkraft zu einem normalen Konjunkturaufschwung führen. Zweifellos war Colm nie in Gefahr, Anhänger eines 'hydraulischen Keynesianismus' zu werden. Auf der anderen Seite trat er engagiert gegen orthodoxe Positionen ein, die selbst in der tiefen Deflationskrise ausschließlich auf die Selbstheilungskräfte des Marktes vertrauten. Vor allem Colm war es, der in enger Zusammenarbeit mit Neisser sich bleibende Verdienste bei den Untersuchungen zum Strukturwandel der deutschen Volkswirtschaft erwarb, die theoretisch, methodisch wie empirisch Maßstäbe setzten. Dies gilt insbesondere für die bedeutsame Untersuchung des Instituts für Weltwirtschaft zur Entwicklung des deutschen Außenhandels unter der Einwirkung weltwirtschaftlicher Strukturwandlungen, die für lange Zeit das Standardwerk über den deutschen Außenhandel werden sollte (vgl. Institut für Weltwirtschaft 1932). Colm gehörte auch zu den Beratern der deutschen Delegation, die im Dezember 1931 bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel über die Regelung der kurzfristigen deutschen Auslandsschulden und die damit verbundene Revision des Young-Plans verhandelte.

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Am 6. März 1946 betrat Colm nach fast 13 Jahren in Berlin erstmals wieder deutschen Boden, erneut mit einer wichtigen Aufgabe der Politikberatung betraut. Ihre Lösung sollte sich für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg als von entscheidender Bedeutung erweisen. Zusammen mit -» Raymond W. Goldsmith, den er bereits seit seiner Zeit beim Statistischen Reichsamt gut kannte, kam Colm nach Deutschland, um gemeinsam mit dem Detroiter Bankier Joseph M. Dodge, dem Finanzberater von General Lucius D. Clay, im Auftrag der amerikanischen Militärregierung innerhalb von drei Monaten einen fundierten Plan zur Währungsreform zu erarbeiten (vgl. Hoppenstedt 1997, S. 155-264). Bereits am 20. Mai 1946 wurde General Clay die endgültige Fassung vom Plan für die Liquidation der Kriegsfinanzierung und die finanzielle Rehabilitierung Deutschlands vorgelegt. Obwohl das auf seiner Basis von den Amerikanern im August 1946 vorgeschlagene Währungsreformprojekt im Alliierten Kontrollrat aufgrund der Verzögerungstaktik der Sowjetunion sowie britischer und französischer Opposition in Detailfragen zunächst blockiert wurde, prägte der 'Colm-Dodge-Goldsmith-Plan' (CDG-Plan) nicht nur die amerikanische Position und die erste von drei Diskussionsphasen zur westdeutschen Währungsreform (Möller 1961), sondern bildete in wesentlichen Punkten auch die Grundlage für die am 20. Juni 1948 tatsächlich durchgeführte Währungsreform. Dies gilt insbesondere für die Lösung des zentralen Problems eines Abbaus des enormen Geldüberhangs, der sich in der NS-Zeit aufgrund der Verschuldungspolitik der Reichsregierung zur Finanzierung der Aufrüstung und Kriegskosten aufgestaut und nach Kriegsende zur Engpaßökonomie und zur zurückgestauten Inflation geführt hatte, in der für Unternehmen und Haushalte kaum noch Anreize bestanden zu verkaufen bzw. zu arbeiten, so daß sich in stärkerem Maße eine unproduktive Tauschökonomie entwikkelte (Buchheim 1988). Zur Beseitigung der Überliquidität sah der CDG-Plan die Abwertung aller finanziellen Forderungen und Verbindlichkeiten im Verhältnis 10:1 vor. Die schnelle Streichung des Geldüberhangs wurde einer befristeten Blockierung eines großen Teils der Mittel vorgezogen, um einerseits einem permanenten politischen Druck auf (Teil-)Freigabe vorzubeugen und andererseits durch eine schnell vollzogene endgültige Regelung positive Wirkungen auf die Er-

Colin, Gerhard Wartungsbildung und Verhaltensweise der Wirtschaftssubjekte zu erreichen. Während die Beseitigung des Geldüberhangs im Juni 1948 weitgehend gemäß Stufe 1 des CDG-Plans - der erst 1955 von Heinz Sauermann in der Zeitschrift fiir die gesamte Staatswissenschaft erstmals publiziert werden konnte (1955b) - vollzogen wurde, galt dies für die zweite und dritte Stufe der Errichtung eines Lastenausgleichsfonds und der zu seiner Finanzierung vorgesehenen Vermögensabgabe nicht. Sehr zum Unwillen von Colm wurde dieser auf amerikanischer wie deutscher Seite von Anfang an nicht unumstrittene Teil des CDG-Plans von der eigentlichen Währungsreform zeitlich abgetrennt und die Verantwortung den Deutschen zur endgültigen Regelung übertragen, die schließlich im August 1952, nach einer provisorischen Regelung durch ein sog. Soforthilfegesetz v. 8.8.1949, mit der Verabschiedung des Gesetzes über den Lastenausgleich erfolgte. Andererseits zeugt der Tatbestand, daß Colm im Auftrag der Vereinten Nationen 1953 zu einer ähnlichen Mission in das vom Krieg gezeichnete Korea geschickt wurde, um Vorschläge für eine wirtschaftliche Stabilisierung zu erarbeiten (vgl. Hoppenstedt 1997, S. 365-390), von dem hohen internationalen Renommee, das er durch seinen Beitrag zum finanziellen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Westdeutschlands erworben hatte. Die Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise war in den USA erst während des Zweiten Weltkrieges abgebaut worden. Die Sorge, daß mit der ökonomischen Wiedereingliederung von Millionen von Soldaten im Zuge der Umstellung von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft wiederum eine hohe Arbeitslosigkeit entstehen könnte, führte im Februar 1946 zur Verabschiedung des Employment Act durch den amerikanischen Kongreß. In diesem Beschäftigungsgesetz (1956, S. 249ff.) wurde die Bundesregierung erstmals auf die Zielsetzung festgelegt, „maximale Beschäftigung, Produktion und Kaufkraft zu fordern" (Abt. 2). Wesentliche Elemente waren die Verpflichtung des Präsidenten auf die Vorlage eines Jahreswirtschaftsberichts (Abt. 3) sowie die Konstituierung eines aus drei Mitgliedern bestehenden 'Council of Economic Advisers to the President', die vom Präsidenten nach Beratung und mit Zustimmung des Senats ernannt werden (Abt. 4), sowie die Etablierung eines aus beiden Häusern des Kongresses paritätisch besetzten 'Joint Economic Committee' (Abt. 5), zu dessen Anhörungen Colm als Experte

bis in die sechziger Jahre regelmäßig geladen wurde. Als Principal Economic Analyst in der Fiscal Division des Budgetbüros im Weißen Haus war er an der Vorbereitung des Employment Acts maßgeblich beteiligt gewesen. Nach Konstituierung des ersten Council of Economic Advisers nahm Colm das Angebot von dessen Vorsitzendem Edwin G. Nourse an und wechselte zum 1. November 1946 als leitender Ökonom in den Mitarbeiterstab, u.a. mit der Aufgabe, die (halb-jährlichen Wirtschaftsberichte federführend vorzubereiten. Colms anfangliche Hoffnungen und Erwartungen bezüglich der Aufstellung längerfristiger Projektionen und Budgets zur Durchsetzung politisch bestimmter makroökonomischer Ziele erfüllten sich jedoch nicht. Als in der Washingtoner Politik Ökonomen an EinfluB gewannen, die an der Aufstellung gesamtwirtschaftlicher Budgets eher desinteressiert waren, schied er Ende April 1952 aus dem wissenschaftlichen Beraterstab von Präsident Truman aus. Zwei Monate später wurde Colm zum Chief Economist der National Planning Association ernannt, einer privaten Forschungsstiftung, die sich maßgeblich für die Verabschiedung des Employment Acts eingesetzt hatte, zu dessen zehnjährigem Bestehen Colm eine Festschrift führender Politiker und Ökonomen der USA herausgab (1956). Colm, dessen wissenschaftliche Produktivität in den Jahren der Politikberatung in der New-DealAdministration anhielt, auch wenn er naturgemäß Beschränkungen bei eigenen Veröffentlichungen unterworfen war, kehlte nun verstärkt zur wissenschaftlichen Publikationstätigkeit zurück. In der Zeit an der New School zwischen 1933 und 1939 waren die Themen seiner Veröffentlichungen, die vielfach in der hauseigenen Zeitschrift Social Research erschienen, noch stark durch die Bereiche geprägt gewesen, über die er in Deutschland gearbeitet hatte, wie die Bewältigung der Weltwirtschaftskrise, die Ausgestaltung eines 'idealen Steuersystems' und vor allem die Analyse der öffentlichen Ausgaben. Allerdings konzentrierten sich deren empirische Bezüge zunehmend auf die amerikanischen Verhältnisse. Sein erstmals im Januar 1936 erschienener Aufsatz The Theory of Ptiblic Expenditures - wiederabgedruckt in der Sammlung seiner wichtigsten Aufsätze der beiden ersten Dekaden in den USA (1955, S. 27ff.) - vermittelte dem amerikanischen Publikum die innovativen Grundgedanken seiner Kieler Habilitationsschrift zur Höhe, Verwendung und Effizienz

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Colin, Gerhard der Staatsausgaben in konzentrierter Form. Der SchluBsatz hebt Colms entscheidendes Anliegen hervor: „Public expenditures today can no longer be considered from a merely fiscal point of view; they must be considered also from the point of view of the whole economic system" (ebd., S. 43). Vor allem mit seinen Arbeiten zum Nationalbudget knüpfte Colm, der Finanzpolitik stets als aktive Wirtschaftspolitik begriff (vgl. Krohn 1987, S. 134-145), in den fünfziger und sechziger Jahren an diesem zentralen Anliegen an. Für ihn war die „Balancierung einer wachsenden Wirtschaft ein wichtigeres Ziel als die Balanciening des Haushalts" (1954, S. 21). Unter Fiscal Policy oder 'Ordnungsfinanz' verstand er primär ein Mittel zur Förderung längerfristigen wirtschaftlichen Wachstums, das in den USA erst mit der Kennedy· Administration Anfang der 1960er Jahre stärker akzentuiert werden sollte. Colm sah in dem Employment Act von 1946 ein 'Mandat für Planung' (vgl. Gruchy 1972, S. 243ff.). Allerdings unterschied er zwischen einer 'planned economy', in der unternehmerische Funktionen vollständig durch eine zentrale Planung ersetzt werden und die mit einer Demokratie unvereinbar sei und einem 'economic policy planning' im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Grundordnung, das er nicht nur als vereinbar mit einer Demokratie, sondern sogar als notwendig für ihr Überleben ansah. , A government policy which promotes employment opportunities is the most effective defense of the values and institutions of democracy. That the price for this goal is not too high can be testified to by none so urgently as by those who have escaped dictatorial regimes" (1955, S. 318). Zweifellos waren Colms Präferenzen für das Vollbeschäftigungsziel und für eine indikative gesamtwirtschaftliche Planung in einer gemischten Wirtschaft durch die Erfahrungen mit den politischen Konsequenzen der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland geprägt. Als entscheidendes Planungsinstrument in einem kapitalistischen Mischsystem sah Colm das Nationalbudget an, das auf der Basis der anzustrebenden Ziele der Wirtschaftspolitik Aussagen über die ökonomischen Konsequenzen der Finanzpolitik macht, in der Regel für einen fünfjährigen Zeitraum. Colm, für den das Budget als „Nervenzentrum der öffentlichen Wirtschaft" eine vergleichbare Rolle spielt wie der Markt in der Privatwirtschaft (1952, S. 519), unterscheidet zwi-

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schen 'performance goals' ('ordnungspolitische Hauptaufgaben') oder Funktionszielen wie Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität oder einer angemessenen Wachstumsrate einerseits und 'achievement goals' ('konkrete Einzelziele') wie Landesverteidigung, Erziehung, Wohnungsbau, Gesundheit und Ernährung andererseits (1961a, S. 536). Da es viele Leistungsziele gibt, die um die produktiven Ressourcen einer Volkswirtschaft konkurrieren, stellt sich die Frage der Prioritäten, die nur im politischen EntscheidungsprozeB demokratisch geklärt werden kann. Colms Überlegungen zur 'National Goal Analysis' fanden auch ein politisches Echo. So setzte Präsident Eisenhower nach der russischen Sputnik-Expedition eine 'Commission of National Goals' ein, die 1960 ihren Bericht über wirtschafte- und gesellschaftspolitische Zielprioritäten vorlegte. Eine Dekade später folgte der Bericht des von Präsident Nixon eingesetzten 'National Goals Research Staff. Colm selbst setzte sich noch in seiner letzten Veröffentlichung mit der Programmplanung für nationale Ziele auseinander, eine Studie (1968) für die National Planning Association, die ihrerseits einige Jahre zuvor einen speziellen Forschungsschwerpunkt, das 'Center for Priority Analysis', errichtet hatte. Da die Rangskala nationaler Ziele sich im Zeitablauf verschieben kann, müssen selbst längerfristige Nationalbudgets fortlaufend überprüft werden. Als wesentliches Element der Aufstellung von Nationalbudgets zwecks Herausarbeitung der erforderlichen Maßnahmen für die Erreichung der Ziele staatlicher Wirtschaftspolitik dienen (Alternativ·) Projektionen, d.h. hypothetische Voraussagen über die Entwicklung privater Konsum- und Investitionsausgaben, außenwirtschaftlicher Beziehungen etc., wie sie unter Colms Mitwirkung erstmals 1944 dem Kongreß vorgelegt worden waren. Im Sinne späterer 'konzertierter Aktionen' sollten diese Projektionen über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zugleich eine Orientierungshilfe für die Privatwirtschaft sein. Wesentliche Voraussetzung für die Aufstellung derartiger Projektionen und die Durchführung einer Politik der Vollbeschäftigung war der Auf- und Ausbau einer leistungsfähigen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, wie sie seit den dreißiger Jahren in den USA vor allem von Simon Kuznets und in Europa von Richard Stone entwickelt wurde. Colm selbst hat sich konsequenterweise mit der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die er als

Cohn, Gerhard ein unverzichtbares Handwerkszeug ansah, zeitlebens beschäftigt: von der frühen Tätigkeit im Statistischen Reichsamt bis zum späten grundlegenden Beitrag für das Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (1961b). Obwohl sich viele von Colms hehren Hoffnungen nicht erfüllten und er bereits kurz vor Ende der Trumanschen Präsidentschaft aus dem Mitarbeiterstab des Council of Economic Advisers ausschied, bevor der von Präsident Eisenhower eingesetzte neue Council unter dem Vorsitz von Arthur F. Bums in seinem ersten im Januar 1954 vorgelegten Jahreswirtschaftsbericht völlig auf die Aufstellung von Projektionen und sogar weitgehend auf Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung verzichtete, war Colm unermüdlich für die Entwicklung und Verbessserung seines Konzepts des National Economic Planning and Programming tätig. Hiervon zeugt auch seine letzte große Studie Integration of National Planning and Budgeting (1968a). Begrenzte Erfolge blieben nicht aus: So kann z.B. das erstmals in den USA angewendete PlanningProgramming-Budgeting-System (PPBS) als Spezialfall der von Colm entwickelten National Goal Analysis angesehen werden, für deren empirische Konkretisierung sich im übrigen entgegen der Ansicht von Colm ähnliche Schwierigkeiten stellen wie bei der von Richard Musgrave, Paul Samuelson u.a. entwickelten Theorie öffentlicher Güter unter Zugrundelegung individueller Präferenzen (vgl. Albers 1977, S. 127). In seinen letzten Lebensjahren, die durch den Kampf gegen ein schweres Krebsleiden gekennzeichnet waren, wurden Colms wissenschaftliche Verdienste in zahlreichen Ehrungen anerkannt So verlieh ihm die New School for Social Research, zu der er nach seinem Weggang in die Washingtoner Administration stets engen wissenschaftlichen Kontakt gehalten hatte, 1964 die Ehrendoktorwürde. Die Association for Comparative Economics wählte ihn 1966 zu ihrem Präsidenten. Aber auch das Deutschland der Nachkriegszeit, dessen Wirtschaftswissenschaft mit der Vertreibung von Colm und anderen herausragenden Ökonomen 1933 einerseits einen unersetzbaren Verlust erlitten hatte, zu dessen wirtschaftlichem Aufstieg er als Mitarchitekt der Währungsreform andererseits jedoch entscheidend beitrug, wurde sich der Rolle und Bedeutung Colms zunehmend bewußt. So wurde ihm im April 1960 für seinen Beitrag zum wirtschaftlichen Wiederaufbau das Große Bundesverdienstkreuz verliehen. Die Goethe-Univer-

sität in Frankfurt würdigte Colms Verdienste um die Entwicklung der Wirtschafts- und Finanzwissenschaft und die enge Verknüpfung von ökonomischer Forschung und praktischer Wirtschaftspolitik im März 1961 mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde. Selbst das Weltwirtschaftsinstitut in Kiel, das hinsichtlich der Verdienste von Lowe und Neisser nach dem Zweiten Weltkrieg von einer merkwürdigen Amnesie befallen war, ehrte Colm, der bereits im Juli 19S4 an der Stelle seines früheren Wirkens wieder einen Vortrag gehalten hatte (1954), 1964 sogar als ersten Wirtschaftswissenschaftler mit der Verleihung des aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens neu geschaffenen Bernhard-Harms-Preises. Schriften in Auswahl: (1921) Beitrag zur Geschichte und Soziologie des Ruhraufstandes vom MärzApril 1920, Essen (Diss.). (1925) Die methodischen Grundlagen der international-vergleichenden Finanzstatistik, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 22, S. 222-249. (1926) Grundsätzliche Bemerkungen zum Begriff des Volkseinkommens und des Volksvermögens, in: Boese, F. (Hrsg.): Beiträge zur Wirtschaftstheorie, Teil I: Volkseinkommen und Volksvermögen, Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 173/1, München/Leipzig, S. 27-51. (1927) Volkswirtschaftliche Theorie der Staatsausgaben. Ein Beitrag zur Finanztheorie, Tübingen (Habil.). (1928) Ein neuer Versuch zur internationalvergleichenden Finanzstatistik, in: Allgemeines Statistisches Archiv, Bd. 17, S. 36-64. (1929) Von der Zwischenlösung zur Endlösung des Reparationsproblems, in: Die Arbeit, Bd. 6, S. 341-355. (1930a) Kapitalbildung und Steuersystem, 2 Bände, Berlin (als Hrsg., zus. mit H. Neisser). (1930b) Lohn - Zins - Arbeitslosigkeit, in: Die Arbeit, Bd. 7, S. 241-247. (1931) Wege aus der Weltwirtschaftskrise, in: Die Arbeit, Bd. 8, S. 815-834.

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Colm, Gerhard (1933)

Die Krisensituation der kapitalistischen Wirtschaft, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 69, S. 385-406.

(1949)

Der Staatshaushalt und der Haushalt der Gesamtwirtschaft, in: Finanzarchiv, N.F., Bd. U . S . 620-633.

(1952)

Artikel 'Haushaltsplanung, Staatsbudget, Finanzplan und Nationalbudget', in: Gerloff, WVNeumark, F. (Hrsg.): Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 1, 2. Aufl., Tübingen, S. 519-536.

(1954)

Entwicklungen in Konjunkturforschung und Konjunkturpolitik in den Vereinigten Staaten von Amerika, Kiel.

(1955a)

Essays in Public Finance and Fiscal Policy, Oxford/New York (mit Schriftenverzeichnis).

(1955b)

Plan für Liquidation der Kriegsfinanzierung und die finanzielle Rehabilitierung Deutschlands (zus. mit J.M. Dodge und R.W. Goldsmith), in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschafit, Bd. 111, S. 244-284.

(1956)

Das amerikanische Beschäftigungsgesetz. Vergangenheit und Zukunft. Eine Festschrift der National Planning Association, Washington, zum zehnjährigen Bestehen des Gesetzes (als Hrsg.), Berlin.

(1961a)

Artikel 'Nationalbudget', in: Handwörterbuch der Sozial wissenschaften, Göttingen u.a., Bd. 7, S. 535-540.

(1961b)

Artikel 'Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. (I) Theorie', in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Göttingen u.a., Bd. 11, S. 390-404. Integration of National Planning and Budgeting, Washington.

(1968a) (1968b)

Programm Planning for National Goals (zus. mit L.H. Gulich), Washington.

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Corden, Warner Max, geb. 13.8.1927 in Breslau Mit seiner Familie emigrierte er 1938 nach Australien, wo er nach dem Besuch der Melbourne High School an der University of Melbourne Betriebswirtschaft studierte. Während seines Studiums beeinflufiten ihn die Schriften von Keynes, Joan Robinson und insbesondere Pigou. Von 1949 bis 1951 arbeitete Corden im Management einer Melboumer Zeitung und schrieb während dieser Zeit seine Diplomarbeit, aus der er 1953 seinen ersten akademischen Artikel über 'Profitmaximierung einer Zeitung' ableitete. 1951 nahm Corden eine Tätigkeit in der Abteilung für industrielle Entwicklung des Ministeriums für Nationale Entwicklung auf. Dort begann er, sich den theoretischen Rahmen für eine auf eine offene Wirtschaft angewandte makroökonomische Analyse anzueignen. Sein Interesse ergab sich aus dem Wunsch, die außenwirtschaftliche Lage Australiens Anfang der fünfziger Jahre zu verstehen, insbesondere die Veränderungen der Terms of Trade und die Zahlungsbilanzkrise. Zudem hatten öffentliche und akademische Debatten zur Schutzzollpolitik Australiens sowie die Einfuhrgenehmigungssorgen seines Vaters, der ein Importunternehmen führte, sein Interesse an Industriepolitik und Handelsrestriktionen angeregt. Eine der Schriften, die ihn während dieser Zeit am meisten beeinfluBten, war James Meades The Balance of Payments. Im Jahre 1953 ging Corden mit einem Stipendium des British Council an die London School of Economics, wo Meade sein Mentor wurde und er 1956, entscheidend beeinflußt von Meades A Geometry of International Trade, mit einer Arbeit über die Auswirkungen wirtschaftlichen Wachstums auf das Handelsvolumen und die Terms of Trade promovierte.

Nachdem Corden von 1955 bis 1957 am Londoner National Institute of Economic and Social Research über britische Importbeschränkungen gearbeitet hatte, kehrte er mit seiner Frau Dorothy nach Melbourne zurück, wo er vier Jahre als Dozent für Außenwirtschaftslehre an der University of Melbourne und ab 1962 an der Research School of Pacific Studies der Australian National University (ANU) in Canberra lehrte. Während dieser Zeit arbeitete Corden sowohl an empirischen und normativen Fragen der australischen Zollpolitik and -geschichte, als auch an der Handels- und Zahlungsbilanztheorie und machte sich im Bereich der Handelspolitik einen Namen als Wissenschaftler. Es entstanden unter anderem The Geometrie Representation of Policies to Attain Interned and External Balance (1960), The Structure of a Tariff System and the Effective Rate of Protection (1966), Monopoly, Tariffs and Subsidies (1967), und Recent Developments in the Theory of International Trade (1965). In The Calculation of the Cost of Protection (1957) bediente sich Corden sowohl der partiellen als auch der allgemeinen Gleichgewichtsmethode, um die Kosten der Schutzzollpolitik zu berechnen. Harry Johnson entwickelte diese Methode weiter und brachte damit Cordens Aufsatz in die internationale Diskussion ein. Es war auch Johnson, der Corden drängte, sich als Nachfolger von Sir Roy Hairod an das Nuffield College in Oxford zu bewerben. Im Jahre 1967 erhielt Corden den Ruf und lehrte dort bis 1976 AuBenwirtschaftstheorie. In dieser Zeit entstanden zahlreiche herausragende Aufsätze zur Theorie der Handelspolitik sowie zwei wichtige Bücher: The Theory of Protection (1971b) und Trade Policy and Economic Weifare (1974). Im ersten dieser Bücher arbeitete Corden sein Argument aus The Structure of a Tariff System and the Effective Rate of Protection (1966) weiter aus, indem er die Bedeutung von Effektivzöllen im Detail analysierte und ein allgemeines Mehrgütergleichgewicht zum Studium der Auswirkungen von Zöllen und anderen Interventionen entwickelte, das den Wechselkurs berücksichtigt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren in der Literatur weder Mehrgütermodelle systematisch eingeführt, noch wurde die Notwendigkeit der Wechselkursanpassung bei veränderten durchschnittlichen Zollniveaus berücksichtigt. Aufsatz und Buch riefen eine rege internationale Diskussion insbesondere um die Berechnung von Effektivzöllen hervor und sind als bedeutende

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Corden, Warner Max Beiträge zur Handelspolitikanalyse in Entwicklungsländern anerkannt. In Trade Policy and Economic Weifare (1974) erörterte Corden das Terms of Trade-Argument zugunsten einer Schutzzollpolitik, den Bereich optimaler Intervention durch Handelspolitik und andere Instrumente sowie die Theorie inländischer Marktverzerrungen. Auch diese Veröffentlichung beeinflußte wesentlich die entwicklungsökonomische Debatte im Bereich Handel und Entwicklung. Weitere Aufsätze umfassen The Effects of Trade on the Rate of Growth (1971a), einer von Cordens bedeutendsten Beiträge zur reinen Handelstheorie, in dem er die neoklassische Wachstumstheorie mit der zweisektoralen Handelstheorie verbindet und annimmt, daB Wachstum nur aus Kapitalakkumulation und einer gegebenen Wachstumsrate des Faktors Arbeit resultiert. Die Thematik dieses Aufsatzes, die in der Literatur im Gegensatz zu den Auswirkungen von Wachstum auf Handel zur Zeit des Erscheinens dieses Beitrages noch kaum in der Diskussion war, wurde erst in den achtziger Jahren in der Debatte um den technischen Fortschritt als Wachstumsfaktor wieder aufgegriffen. In Protection and Growth (1972c) weitet er die Diskussion auf die Auswirkungen der Schutzzollpolitik auf das Wachstum aus. Im Rahmen der Diskussion über den britischen Beitritt zur EG veröffentlichte Corden auch eine Reihe von Aufsätzen zur Wirtschaftsintegration und Währungsunion. Der wichtigste, Monetary Integration (1972b), ist eine weit verbreitete, systematische und theoretische Analyse der Europäischen Währungsunion und der daraus resultierenden wirtschaftlichen Vor- und Nachteile für die Mitgliedsstaaten. In Economics of Scale and Customs Union Theory (1972a) entwickelte er die Konzepte des kostenreduzierenden Effekts und des handelshemmenden Effekts der Zollunion. Ende 1976 kehrte Corden aus familiären Gründen nach Canberra und an die ANU zurück. Dort beteiligte er sich wiederum an der australischen Politikdebatte, insbesondere an den Diskussionen über Strukturanpassung, Gewerkschaften, und die wirtschaftlichen Folgen des Boomsektors und der 'Dutch Disease'. In der theoretischen Arbeit konzentrierte er sich in zunehmendem MaBe auf die offene Makroökonomie. Anlaß dieser Interessenverlagerung war das Auftreten von Arbeitslosigkeit und Inflation als dominante Wirtschaftsprobleme. Auf internationalem Niveau steuerte er zur Debatte über internationale Finanzthemen durch

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seine Assoziierung mit der 'Gruppe der Dreißig' bei. Sein erfolgreiches Buch Inflation, Exchange Rates and the World Economy (1977) spiegelt diese Thematik am besten wider. Seine Arbeiten aus dieser Zeit umfassen u.a. Negative International Transmission of Economic Expansion (1983), wo er (mit Steven Tumovsky) in Anknüpfung an Inflation, Exchange Rates and the World Economy darlegt, wie eine Steigerung der Nominalnachfrage in einem Land den Output in einem zweiten Land beeinfluBt. Das Resultat, so das Argument, hängt davon ab, ob die Realoder Nominallöhne festgelegt sind. In Macroeconomic Policy Coordination under Flexible Exchange Rates: A Two-Country Model (1985) tritt er für eine internationale Koordinierung der makroökonomischen Politik unter Bedingungen einer nicht-vertikalen kurzfristigen Phillipskurve und eines möglichen Lokomotiveffekts ein, um deflationären Tendenzen entgegenzuwirken. Weitere Aufsätze umfassen Booming Sector and De-Industrialization in a Small Open Economy (1982; mit J. Peter Neary) The Exchange Rate, Monetary Policy and North Sea Oil: The Economic Theory of the Squeeze on Tradeables (1981) und Quotas and the Second Best (1985; mit Rod Falvey). Im Jahre 1986 wurde Corden der BernhardHarms-Preis des Kieler Instituts für Weltwirtschaft verliehen. Seit diesem Jahr lebt Corden in Washington, wo er zunächst zwei Jahre für den Internationalen Währungsfond und danach für die Weltbank als Berater im Bereich makroökonomischer Politik in Entwicklungsländern tätig war. Seit 1989 lehrt er auch an der Paul H. Nitze School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University. Corden zählt zu den prominentesten und produktivsten Vertretern der Außenwirtschaftstheorie. Sein Werk umfaßt ca. 100 Aufsätze und Bücher. Seine Beiträge zur offenen Makroökonomie und zur Außenhandelstheorie, insbesondere der Zolltheorie, den Effektivzöllen, Wachstum und Handel, und der Theorie der Zoll- und Währungsunion bilden einen festen Bestandteil der Literatur. Corden war immer ein Verfechter des freien Handels. Obwohl sein Werk einen klaren Hang zur Theorie erkennen läßt, gehen seine wissenschaftlichen Fragestellungen weitgehend von realen wirtschaftlichen Phänomenen aus, die es wissenschaftstheoretisch zu analysieren gilt. Zumeist, so Corden, ist es sein Verlangen, eine aktuelle wirtschaftspolitische Frage im Detail zu ergründen.

Croner, Fritz Simon das ihn zu einem Forschungsprojekt motiviert. Sein ausgeprägter Realitätsbezug erklärt daher auch, daß er die Existenz von politischen Einschränkungen, die einer theoretischen 'first-best option' entgegenstehen können, anerkennt und in seinem Werk 'second-best' und andere optimale, wirtschafitspolitisch relevante Interventionen untersucht. Schriften in Auswahl: (1956) Population Increase and Foreign Trade, Diss., London School of Economics. (1957) The Calculation of the Cost of Protection, in: Economic Record, Bd. 33, S. 29-51. (1960) The Geometric Representation of Policies to Attain Internal and External Balance, in: Review of Economic Studies, Bd. 28, No. 1, S. 1-22. (1965) Recent Developments in the Theory of International Trade, in: Special Papers in International Economics, No.7, International Finance Section, Princeton University, S. 7-78. (1966) The Structure of a Tariff System and the Effective Protection Rate, in: Journal of Political Economy, Bd. 74, No. 3, S. 221-237. (1967) Protection and Foreign Investment, in: The Economic Record, Bd. 43, S. 209-232. (1967) Monopoly, Tariffs and Subsidies, in: Economica, Bd. 34, S. 59-68. (1968) Australian Economic Policy Discussion in the Post-War Period: A Survey, in: The American Economic Review, Bd. 58, No. 3, Part 2, Supplement, S. 88-138. (1971a) The Effects of Trade on the Rate of Growth, in: J. Bhagwati (Hrsg): Trade, Balance of Payments, and Growth: Papers in Honor of Charles P. Kindleberger, Amsterdam, S. 117143. (1971 b) (1972a)

The Theory of Protection, Oxford. Economics of Scale and Customs Union Theory, in: Journal of Political Economy, Bd. 80, No. 3, Part 1, S. 465-475.

(1972b)

(1972c)

(1974) (1977)

(1982)

(1983)

(1985)

(1985) (1992)

Monetary Integration. The Graham Lecture, Princeton University, 1971, in: Essays in International Finance, No.93, International Finance Section, Princeton University, S. 1-41. Protection and Growth, in: L.E. DiMarco (Hrsg): International Economics and Development: Essays in Honor of Raul Prebisch, New York, S. 191-208. Trade Policy and Economic Welfare, Oxford. Inflation, Exchange Rates and the World Economy, Oxford/Chicago. Weitere Auflagen: 1981,1985, 1986. Booming Sector and De-Industrialization in a Small Open Economy (zus. mit J.P. Neaiy), in The Economic Journal, Bd. 92 (368), S. 825848. Negative International Transmission of Economic Expansion (zus. mit S J . Tumowski), in: European Economic Review, Bd. 20, S. 289-310. Macroeconomic Policy Coordination under Flexible Exchange Rates: A Two-Country Model, in: Economica, Bd. 52, S. 9-23. Protection, Growth and Trade: Essays in International Economics, Oxford. International Trade Theory and Policy - Selected Essays of W. Max Corden, Aldershot.

Bibliographie: Kierzkowski, H. (Hrsg) (1987): Protection and Competition in International Trade. Essays in Honor of W.M. Corden, Oxford. Groenewegen, PVMcFarlane, B. (1990): A History of Australian Economic Thought, London. Quellen: Β Hb Π; AEA; WA. Christine Wyatt

Croner, Fritz Simon, geb. 27.2.1896 in Berlin, gest. 7.7.1979 in Stockholm Im wilhelminischen Berlin zum national gesinnten Bildungsbürger erzogen, meldete sich Fritz Croner, der einer jüdischen Kaufmannsfamilie entstammte, mit Ausbruch des ersten Weltkrieges als Freiwilliger. Während des Krieges, den er bis

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Croner, Fritz Simon zum Schluß mitmachte, kam er an der 'Heimatfront' mit den Kreisen um Karl Liebknecht und später an der Ostfront in Südrußland mit Bolschewik! in konspirativen Kontakt. Nach abenteuerlicher Rückkehr aus dem Osten beteiligte er sich im Berliner Kulturrat an der Novemberrevolution von 1918 und setzte seine politische Karriere fort, indem er während seines Studiums der Nationalökonomie verschiedene Funktionärsposten in sozialistischen Studentenvereinigungen übernahm. An der Berliner Universität begegnete er 1919 -» Emil Lederer, der dort neben seiner Tätigkeit in der Sozialisierungskommission Gastvorlesungen hielt und Croner Zugang zu Diskussionszirkeln um Paul Cassirer, Rudolf Breitscheid, Rudolf Hilferding und Alexander Rüstow verschaffte. Croner wechselte noch im gleichen Jahr nach Heidelberg, wo er 1921 bei Lederer über die Sozialisierung des Kohlenbergbaus promovierte. Nach Erkrankung seines Vaters mußte er notgedrungen die kleine Familienfirma Ubernehmen, die bald darauf in der Hyperinflation von 1923 unterging. Mit Hilfe seines Mentors Lederer fand Croner 1924 Anstellung als sozialpolitischer Abteilungsleiter im Deutschen Werkmeister-Verband. Er avancierte rasch zu einem der maßgeblichen Funktionäre des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes (AFA-Bund) in zentralen Sozialversicheningsgremien der Weimarer Republik. Croners berufliche Position war in besonderem Maße prädestiniert, politisches Engagement mit wissenschaftlicher Tätigkeit zu verbinden. Zum einen bildete die Sozialpolitik angesichts der Inflationsfolgen und der heraufziehenden Massenarbeitslosigkeit das zentrale Betätigungsfeld der Sozialdemokratie. Im Rückblick hat Croner (1968, S.232 ff.) beklagt, daß die sozialpolitischen Anliegen der Gewerkschaften über sozialdemokratischen Regierungseinfluß und damit - seiner Meinung nach - letztlich über den Erhalt der Demokratie gestellt wurden. Zum anderen warfen massive Veränderungen der Sozialstruktur im Gefolge der Reorganisation der deutschen Wirtschaft während der 1920er Jahre die 'Angestelltenfrage' (erneut) auf. Die Bestimmung des ökonomischen und sozialen Status der Angestellten und der adäquaten Organisation ihrer Interessen war ein brisantes Politikum und zugleich ein Problem der Vereinbarkeit mit der damals dominanten marxistischen Theorie. Die Position des AFA-Bundes lief im wesentlichen auf eine Integration der Angestellten in das System der Sozialversicherung

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unter Beibehaltung eigenständiger, von berufsständischen Vertretungen einerseits und von Arbeitergewerkschaften andererseits abgegrenzten Organisationen hinaus. Croner versuchte diese Position wissenschaftlich zu begründen. Den Ausgangspunkt bildete die Auseinandersetzung mit Lederers Theorie der Angestellten als „Klasse zwischen den Klassen" (Die Privatangestellten in der modernen Wirtschaftsentwicklung, 1912) und mit Lederers späterer Kehrtwendung zur „geschichteten Klasse des Proletariats" (Die Umschichtung des Proletariats und die kapitalistischen Zwischenschichten vor der Krise, 1929). In Zusammenarbeit mit Otto Suhr strebte Croner danach, den hierarchischen Sichtweisen marxistischer wie konservativer Prägung eine funktionalistische Theorie entgegenzusetzen, nach der die konkrete Arbeitsaufgabe das konstituierende Element des Angestelltenbegriffs bildet. Erst später in Schweden hat er diese Theorie vollständig ausgearbeitet. Aufgrund seiner gewerkschaftspolitischen Publikationen wurde Croner 1927 zum Dozenten für Soziologie und Sozialpolitik an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin (dem späteren Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin) berufen. Diese Position verlor er zugleich mit seiner hauptberuflichen Tätigkeit im Werkmeister-Verband, als die Nazis im Mai 1933 die Gewerkschaften zerschlugen. Croner tauchte in Berlin unter und emigrierte 1934 unter der persönlichen Protektion des schwedischen Außenministers Rickard Sandler nach Stockholm. Dort verhalf ihm Gunnar Myrdal zunächst zu einem Arbeitsplatz an der Universität und zu einem kleinen Stipendium, später vor allem aber zu einer neuen Perspektive. Gegen Croners Neigung zum vollkommenen Bruch mit der Vergangenheit riet ihm Myrdal, sich auf die komparativen Vorteile in der Struktursoziologie und insbesondere in den Angestelltenfragen zu besinnen. Durch Vermittlung Myrdals und mit Hilfe Sven Wicksells, Sohn Knut Wicksells und Statistikprofessor in Lund, begann Croner 1935 mit einer breit angelegten soziologischen Untersuchung der schwedischen Angestelltenschaft, die das sozialstatistische Fundament für seine Weiterentwicklung der Angestelltentheorie liefern sollte. In seiner Autobiographie (1968, S. 355 ff.) beansprucht Croner für sich das Verdienst, die akademische Disziplin der Soziologie in Schweden mitbegründet zu haben. Immerhin gelang es ihm trotz

Croner, Fritz Simon anfänglicher Probleme mit der Sprache, dem verbreiteten Fremdenhaß und speziellen Anfeindungen akademischer Kollegen recht bald, sich so weit an der Lunder Universität zu etablieren, daß er 1936 - unter der Protektion des Professors für Praktische Philosophie, Einar Tegen - eines der ersten soziologischen Seminare an einer schwedischen Universität abhalten konnte. Croners Schilderungen erwecken den Eindruck, als ob aus diesem und späteren Seminaren in Lund und (ab 1939) in Stockholm der größte Teil der ersten Generation schwedischer Soziologen hervorgegangen sei (1968, S. 357 und 363). Sein Einfluß auf die Entwicklung der Soziologie in Schweden ist jedoch umstritten: Die institutionelle Etablieiung des Faches mag er mit vorangetrieben haben, aber an der Entwicklung der Soziologie als Wissenschaft hatte er wohl kaum Anteil (Eriksson 1993b und 1993c). Croners Selbstüberschätzung - in dieser wie in anderen Episoden seiner Autobiographie - ist möglicherweise auf sein lebenslanges Grenzgängertum zurückzuführen. Für ihn lag häufig eine Existenznotwendigkeit oder auch nur ein Vorteil darin, sich Geltung in einem Bereich mit Kenntnissen eines anderen zu verschaffen: in den Gewerkschaften als Mann der Wissenschaft, in akademischen Kreisen als Mann der sozialpolitischen Praxis, im Exil als erfahrener Importeur einer neuen Wissenschaftsdisziplin und schließlich gegenüber dem deutschsprachigen Publikum nach dem Kriege als Schwedenkenner, der es im neuen Heimatland zu wissenschaftlicher und politischer Bedeutung gebracht hat (vgl. Eriksson 1993a). Ohne Croners Verdienste zu schmälern kann man feststellen, daß in seiner wechselvollen Lebensgeschichte die Übergänge zwischen Sein und Schein verfließen. In jedem Falle blieb die akademische Lehre auch in Schweden Croners Spielbein. Nach der 'Lunder Untersuchung' nahm er 1939 das Angebot der Einrichtung einer statistischen Abteilung der Angestelltengewerkschaften an und blieb bis zu seiner Pensionierung 1964 in den Diensten der Zentralorganisation schwedischer Angestelltenverbände, TCO. Daneben leitete er bis 1944 - wiederum unter Tegens Verantwortung - das Soziologische Seminar an der Universität Stockholm. Die vollen akademischen Würden wurden Croner allerdings erst 1951 zuteil, als er über seine Theorie der Angestellten disputierte und den schwedischen Doktortitel erhielt. Die Ernennung zum unbestallten Dozenten erfolgte wiederum erst 1955.

Auf der Grundlage eines Restitutionsgesetzes erhielt Croner schließlich 1958 von der bundesdeutschen Regierung (rückwirkend zum 1.1.1940) den Titel eines Professors zuerkannt. Damit entsprach seine Position an der Stockholmer Universität, an der er auch nach 1944 einzelne Seminare abhielt, in etwa der Stellung eines Honorarprofessors. Croners Beiträge zur Angestelltenforschung fanden in den fünfziger und sechziger Jahren internationale Beachtung. Von seiner schwedischen Perspektive aus beteiligte sich Croner engagiert an soziologischen und gewerkschaftspolitischen Debatten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Croners Angestelltentheorie findet sich insbesondere in den beiden Hauptwerken Die Angestellten in der modernen Gesellschaft (deutsch 1954) und Soziologie der Angestellten (deutsch 1962). Sie besteht im Kein aus der Kombination einer klassifikatorischen Funktionstheorie mit einer historischen Delegationstheorie. Ihre Elemente lassen sich vereinfacht wie folgt zusammenfassen: 1. Angestellte unterscheiden sich von Arbeitern durch arbeitsleitende, konstruktive bzw. analytische, verwaltende und/oder merkantile Funktionsmerkmale ihrer Tätigkeit. Solchermaßen als 'Funktionäre' charakterisiert, unterscheiden sie sich andererseits von Unternehmern durch den Status der abhängigen Erwerbstätigkeit. 2. Die funktionelle Abgrenzung gegenüber der Arbeiterschaft bezieht sich lediglich auf das 'horizontale' Kriterium der Arbeitsteilung. Sie beinhaltet keine 'vertikalen' Kriterien sozialer Rang- oder Schichtordnungen und damit verbundener Gruppenzuordnungen von geistiger und manueller Arbeit. Sofern soziale Statusunterschiede zwischen Angestellten und Arbeitern, aber auch innerhalb der Angestelltenschaft bestehen, sind sie im wesentlichen als Residuen früherer Gesellschaftsordnungen zu betrachten, die durch einen allgemeinen Demokratisierungsprozeß im Zuge der Industrialisierung, Rationalisierung, Kommerzialisierung und Sozialisierung (Ausbau des öffentlichen Sektors) beseitigt werden. Überund Unterordnungsrelationen können wirtschafts- und arbeitsorganisatorisch, also funktionell bedingt sein, haben aber aufgrund zunehmender sozialer Mobilität keine relevanten Auswirkungen auf den allgemeinen Sozialstatus der Betreffenden. „Über- und Un-

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Croner, Fritz Simon terordnungsrelationen sind keine konstitutiven Merkmale der modernen Gesellschaft" (1962, S.75). 3. Die historische Erklärung für die Entwicklung der Angestelltenschaft liegt in der Delegation von Unternehmeraufgaben im Zuge der Entwicklung der Arbeitsteilung. Hierbei sind verschiedene Stadien zu unterscheiden - von der allumfassenden Unternehmertätigkeit über die Delegation an Familienmitglieder und Vertrauenspersonen bis zur Anstellung von spezialisierten Funktionären in Linien- und Stabssystemen. Trotz der sozialen Annäherung von Angestelltenund Arbeiterschaft betont Croner (1954) die Notwendigkeit einer autonomen, aber berufsübergreifenden Interessenorganisation der Angestellten, während in der Soziologie der Angestellten (1962) die Organisationsfrage ausgeblendet bleibt. Daraus auf einen Sinneswandel in zeitversetzter Parallele zu Lederer zu schließen wäre wohl überzogen. Dennoch vermitteln die angestelltentheoretischen Arbeiten Croners den Eindruck, daß er sich zeitlebens an den Vorarbeiten seines ersten akademischen 'Übervaters' Lederer abgearbeitet hat und dies auf eine Weise, die ihm viel Kritik eingetragen hat. Die Einwände (z.B. von Rokkan 1956, Daheim 1963, Hartfiel 1963) richten sich im wesentlichen gegen Croners vehemente Ablehnung von Schichtungsmodellen bzw. Stratifikationstheorien, die er mit der Wertungsprämisse seiner „Überzeugung der Gleichberechtigung und des Gleichgestelltseins in der Gesamtbevölkerung, unabhängig von der Tätigkeit des einzelnen" (1962, S.17) 'begründet'. Die damit verbundene, häufig polemisch überzogene Kritik an marxistischen Erklärungsansätzen kann anhand der Autobiographie Croners als lebenslanger Versuch der 'Abnabelung' von der Denkweise der frühen Jahre gedeutet werden. Schwerer wiegt jedoch, daß die inhaltlich und stilistisch provozierten Gegenkritiker Croner zu Recht vorwerfen konnten, im Kern seiner Theorie staatsbürgerliches Ideal mit sozialer Realität verwechselt zu haben. Diese Verwechslung ist um so erstaunlicher, als Croner immer wieder auch eindringlich auf Differenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Sozialstatistik (1959) oder - in Anlehnung an seinen zweiten akademischen 'Übervater', Gunnar Myrdal - auf die Wertproblematik der Wissenschaftslogik (1964) aufmerksam gemacht hat. Möglicherweise ist das Beharren auf dem Ideal einer

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egalitären modernen Gesellschaft aus der sozialen Realität der schwedischen Sozialdemokratie zu erklären, in der Fritz Croner nach seiner Emigration tiefe Wurzeln geschlagen hat. Schriften in Auswahl: (1928) Die Angestelltenbewegung nach der Währungsstabilisierung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 60, S. 102-146. (1939) De svenska privatanställda. En sociologisk Studie, Stockholm (1954) Die Angestellten in der modernen Gesellschaft. Eine sozialhistorische und soziologische Studie, Frankfurt/ Wien (1959)

(1962)

Soziologie und Statistik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 11, S. 377-400. Soziologie der Angestellten, Köln/ Berlin.

(1964)

Wissenschaftslogik und Wertproblematik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 16, S. 327-341. (1968) Ein Leben in unserer Zeit, Frankfurt u.a. Bibliographie: Daheim, Hansjürgen (1963): [Rezension von] Fritz Croners 'Soziologie der Angestellten', in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 15, S. 558-561. Eriksson, Arne H. (1993a): Fritz Croner och den sociala distinktionens mentalitet. Ett biografiskt utkast till en möjlig samhällshistoria, Stockholms Universitet, Historiska Institutionen, mimeo. Hartfiel, Günter (1963): Irrungen und Wimingen um die Angestellten. Zu Veröffentlichungen von Fritz Croner, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 15, S. 108-125. Rokkan, Stein (1956): Rezension von Fritz Croners 'Die Angestellten in der modernen Gesellschaft', in: Kyklos, Bd. 9, S. 391-394. Tjänstemännens Centraiorganisation (TCO), Biblioteket (1976): Fritz Croner. En bibliografi, 27 februari 1976, Stockholm. Quellen: Eriksson, Arne H. (1993b): Briefe vom 31.8. und 10.9.1993 an den Verfasser; Svenska Dagbladet (1958, Nr.261): Fritz Croner professor. Stockholm, 26. September 1958. Hans-Michael Trautwein

Dernburg, Hans J. D e r n b u r g , H a n s J., geb. 19.2.1901 in Berlin, gest. 1966 in Italien Vater von -» Thomas F. Dernburg. Dernburg promovierte 1925 bei Η. Rickert in Heidelberg über Die metaphysische und mystische Seite des Eckhardschen Systems, wandte sich aber dann der Ökonomie zu. In den Jahren 192S bis 1930 war er Assistent beim Enquete-AusschuB über den Bankkredit des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, der die Aufgabe hatte, das deutsche Banken- und insbesondere das an Gewicht gewinnende Sparkassenwesen im Hinblick auf seine Einlagenstruktur zu untersuchen. 1931 übernahm Dernburg eine Banktätigkeit in Persien, kehrte aber schon 1932 nach Deutschland zurück, um bei der Dresdner Bank einen Posten anzutreten. Diese Position hatte er bis 1936 inne; 1937 emigrierte er in die USA. Dort übernahm Dernburg zunächst, 1938/39, eine Stelle als Instructor am College of Commerce der Ohio University in Athens, wechselte aber schon 1939 an die Denison University in Granville, OH, um dort eine Assistenzprofessur anzutreten. Im Jahr 1943 wechselte er als Economist im Board of Governors an die Federal Reserve Bank in Washington, D.C. Dort war er tätig bis 1946, als er an die Federal Reserve Bank in New York wechselte, wo er bis 1958 als Economist im Research Department arbeitete. Dernburg, der sich Ende der 1920er Jahre durch seine Arbeit bei dem oben erwähnten EnqueteAusschuB einen Namen als Sachkundiger in geldpolitischen Fragen gemacht hatte, beschäftigte sich auch weiterhin mit dieser Thematik. So wandte er sich 1931 in einem Artikel für den Deutschen Ökonomist gegen die gesetzliche Vorschrift einer 40%-Deckung des Notenumlaufs durch Gold und Devisen. Diese Vorschrift, so argumentierte er, schränke die Notenbank bei ihrer Geldmengenpolitik zu stark ein und verhindere eine flexible Anpassung dieser Politik an die jeweiligen Erfordernisse. Er begrüßte es, daB sich die Notenbank über diese gesetzliche Vorschrift hinweggesetzt hatte und forderte, diese abzuschaffen oder zumindest stark zu lockern; denn ,,[o]b z.B. der Notenumlauf inflatorisch oder deflatorisch wirkt, hängt nicht von der Zusammensetzung seiner Deckung, sondern lediglich von seiner Höhe, seiner Umsatzgeschwindigkeit und seinem Verhältnis zu den Umsätzen der Wirtschaft ab" (1931, S. 1187). Die Notenbank habe lediglich

auf eine „hinreichende Liquiditätsreserve für Auslandsverbindlichkeiten" zu achten (1931, S. 1188). Als Mitarbeiter der Federal Reserve Bank, New York, beobachtete Dernburg insbesondere die Entwicklung der nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererstarkten Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ursachen fur das deutsche Wirtschaftswunder sah Dernburg sowohl in den groß angelegten Wirtschaftshilfen der USA als auch in der durchdachten Wirtschafte- und Fiskalpolitik in der Bundesrepublik nach der Währungsreform 1948. Besonders lobenswert erschienen ihm dabei die Abschaffung der Regulierungen auf vielen Märkten, die, teilweise noch aus der Zeit vor dem Krieg stammend, im Nachkriegsdeutschland die freie Entfaltung der Wirtschaft behindert hatten; das Steuersystem, das nach seiner Analyse dazu geeignet war, anstelle des Konsums die Produktion und den Export zu fördern; und nicht zuletzt eine orthodoxe Geldpolitik, der es gelang, sowohl Inflation, als auch eine zu scharfe Aufwertung der DM zu verhindern. So kam es zu einer laufenden Verbesserung der deutschen Terms-of-Trade, die zusammen mit einer geringen Importneigung, welche Dernburg durch strukturelle Gegebenheiten begründet sah, zu einer starken Verbesserung der Außenhandelsbilanz führte (1954). Gefahren für die Stabilität der deutschen Wirtschaft erblickte er in der Wiederbewaffnung (1955). Da die deutschen Vorräte an Arbeit und Kapital in dieser Zeit vollbeschäftigt waren, befürchtete er eine sinkende Wachstumsrate des Sozialprodukts als Konsequenz des Entzugs von Arbeitskräften aus der Produktion in das Militär und der Umwidmung von Kapitalgütern zur Waffenproduktion. Seine Empfehlungen waren der Import von Arbeitskräften aus Italien, sowie verstärkter Import von Gütern aus dem Ausland. Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang erkannte er in der Gefährdung der Preisniveaustabilität: Durch die Waffenproduktion entstehen Einkommen und Kaufkraft, aber keine zusätzlichen Konsumgüter, was zu steigenden Preisen führe. Hier sah er die Wirtschaftspolitik gefordert, die versuchen sollte, diesen Kaufkraftüberhang abzubauen. Schriften in Auswahl: (1925) Die metaphysische und mystische Seite des Eckhardschen Systems, Diss., Universität Heidelberg.

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Dernburg, Thomas F(rederick) (1931)

(1954)

(1955)

Die 40%-Deckung des Notenumlaufs, in: Der Deutsche Ökonomist, Η. 2376, S. 1187-1188. Germany's External Economic Position, in: American Economic Review, Bd. 44, S. 530-558. Rearmament and the German Economy, in: Foreign Affairs, Bd. 33, S. 648-662.

Quellen: Seligman 54/142; UAH 757/18. Thomas Keil

Dernburg, Thomas F(rederick), geb. 25.3.1930 in Berlin Der Name Thomas Dernburg hat in der Welt der makroökonomischen Lehrbücher einen bekannten Klang. Denn in den Glanzzeiten des IS/LM-Modells zählte 'der Dernburg/McDougall' (mit sechs Auflagen zwischen 1960 und 1980) zu den international weit verbreiteten Standardwerken. Dernburg war 1937 mit seinen Eltern ( - • Hans J. Dernburg) in die USA emigriert und hatte 1957 bei James Tobin in Yale promoviert. In den Jahren 1961 bis 1974 lehrte er am Oberlin College in Ohio. Nach einem einjährigen Gastspiel in der fiskalpolitischen Abteilung des Internationalen Währungsfonds (1974/75) wechselte er 1975 an die American University in Washington, wo er bis 1992 blieb. Im darauffolgenden Jahr erhielt er den Chair of Excellence an der Austin Peay State University in Clarksville, Tennessee. Anschließend trat er in den Ruhestand. Neben seinen akademischen Positionen bekleidete Dernburg von den 1960er Jahren bis in die frühen 1980er Jahre verschiedene Ämter in der wirtschaftspolitischen Beratung des amerikanischen Präsidenten und des Kongresses. Zunächst war er im Council of Economic Advisers tätig, später im Joint Economic Committee of the Congress, im Subcommittee on Economic Stabilization sowie in der Haushaltskommission des Senats. Dernburg hat als Lehrbuchautor dazu beigetragen, daß das IS/LM-Modell zu einem Standardwerkzeug der makroökonomischen und wirtschaftspolitischen Analyse avancierte, das in der Lehre und der Politikberatung trotz aller Kritik noch heute viel benutzt wird. Auch die anderen Veröffentlichungen Demburgs zeigen eine eindeutige Ausrichtung auf das Forschungsprogramm der 'Neoklassischen Synthese' in der Tradition James To-

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bins. In den 1950er und 1960er Jahren lag dabei der Schwerpunkt auf ökonometrischen Untersuchungen struktureller Einflüsse auf die Konsumgüternachfrage und das Arbeitsangebot. Den Anfang machte die (1958 veröffentlichte) Dissertation über die Verbreitung des Femsehens als Beispiel für den Einfluß von Produktinnovationen auf die Konsumfunktion. Dernburg fand Indizien dafür, daß Fernsehen ein inferiores Gut sei, sein Konsum mit steigendem Einkommen (und besserer Erziehung) also abnehme. Er war klug genug, dieses Ergebnis einer Querschnittsanalyse nicht auf die Längsschnittbetrachtung einer Prognose zu übertragen, die im Zeitraum der letzten vierzig Jahre wohl vielfach falsifiziert worden wäre. Die weiteren ökonometrischen Arbeiten (z.B. 1966) richteten sich vornehmlich auf zyklische Schwankungen der Erwerbsquote und auf Veränderungen der versteckten Arbeitslosigkeit, die Demburg und seine Mitverfasser als Belege für die partielle Endogenität des Arbeitsangebots betrachteten. Auf diese Weise zeigten sie, daß die theoretischen und statistischen Referenzwerte der Vollbeschäftigung selbst von der Beschäftigungsentwicklung der Vergangenheit abhängig sind. In den 1970er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt der Veröffentlichungen auf die Theorie und Praxis der Stabilisierungspolitik. Dernburg war nun stark in das Geschäft der Politikberatung in Washington eingebunden, während der Zerfall der Weltwährungsordnung von Bretton Woods viele jener Lehrbuchweisheiten infragezustellen schien, die er zu verbreiten geholfen hatte. Es liegt auf der Hand, daß er sich durch die Diskussionen um die Freigabe von Wechselkursen, um Stagflation und um die Ineffizienz stabilitätspolitischer Eingriffe herausgefordert sah, die verbliebenen Spielräume für antizyklische Geld- und Fiskalpolitik auszuloten. Die Erweiterung des IS/LM-Modells zum Mundell/Fleming-Modell einer kleinen offenen Volkswirtschaft wird in der Literatur häufig auf einen einfachen Gegensatz der Regime reduziert. Bei fixen Wechselkursen bildet demnach die Fiskalpolitik das adäquate Instrument zur Stabilisierung des Volkseinkommens, während die Geldpolitik weder die Geldmenge kontrollieren noch die wirtschaftliche Aktivität beeinflussen kann. Bei flexiblen Wechselkursen verhält es sich genau umgekehrt: Die Einkommenswirkung der Fiskalpolitik verpufft im Ausland, während die Geldpolitik die Geldmenge und das Inlandseinkommen über zins-

Dernburg, Thomas F(rederick) induzierte Veränderungen des AuBenbeitrags steuern kann. Demburg (1970) zeigte am Beispiel einer expansiven Stabilitätspolitik, daß dieser Gegensatz die 'ceteris paribus'-Klausel übermäßig strapaziert. Bei rationaler Koordination von fiskalpolitischen und geldpolitischen Maßnahmen spielt es für deren Einkommenseffekte im Prinzip keine Rolle, ob die Wechselkurse fix oder flexibel sind. Denn die Wirkungen gleichgerichteter (expansiver oder restriktiver) Maßnahmen auf das Zinsniveau und die Zahlungsbilanz können bei entsprechender Dosierung einander ausgleichen. Nach Dernburg ist es eine gefahrliche Illusion zu glauben, daß eine Freigabe der Wechselkurse der Geldpolitik größere Schlagkraft verleihe. Ein zynischer Rückblick auf die währungspolitischen Erfahrungen seit 1973 würde Dernburgs Indifferenztheorem zumindest im Negativen bestätigen. Im Vergleich der beiden Wechselkursregime gibt es keinen eindeutigen Verlierer. Sowohl bei fixen als auch bei flexiblen Wechselkursen sind große Mißerfolge der Stabilitätspolitik zu verzeichnen. Häufig sind deren Gründe auch in einer Überschätzung der Geldpolitik und ihrer mangelhaften Abstimmung mit der Fiskalpolitik zu suchen. Die Stagflation der 1970er Jahre galt vielen Ökonomen als empirische Widerlegung der Annahme eines langfristig stabilen Phillipskurven-'trade off von Inflation und Arbeitslosigkeit. In seiner Analyse der Stagflation rekurrierte zwar auch Dernburg (1980) auf die einschlägige Kritik an dieser Annahme. Er hielt aber zugleich daran fest, daß ein Zielkonflikt von Geldwertstabilisiening und Beschäftigung bestehe, wenn man die Stagflation mit den traditionellen Maßnahmenpaketen der Geld- und Fiskalpolitik bekämpfen wolle. Er wies eindrücklich darauf hin, daß die Stagflation der 1970er Jahre auf ein Zusammenspiel von negativen Angebotsschocks (Ölkrisen und Mißemten) und falscher Stabilitätspolitik zurückzuführen sei. Zunächst habe man in den USA einen 'easymoney tight-fiscal policy mix' gefahren. Dieser habe die automatischen Stabilisatoren der Einkommensteuerprogression in inflationäre SteuerLohn-Preisspiralen verwandelt, worauf man zur 'old-time religion of tight budgets and tight money' zurückgekehrt sei. Auf diese Weise seien aus den Angebotsschocks Zyklen von 'boom and bust' entstanden. Zur Bekämpfung der Stagflation schlug Dernburg in seinem Gutachten für den Senat eine neue Kombination von fiskal- und geldpolitischen

Maßnahmen vor. Die Zentralbank solle einmalige Preisschübe im Gefolge von Angebotsschocks akkommodieren und nicht (wie in den Jahren nach 1975) mit Zinsrestriktionen reagieren, die letztlich nur die Kapitalbildung und den Produktivitätsfortschritt hemmen und über den Kostendruck weitere Inflation erzeugen. Damit sich Preisschübe aus Angebotsschocks nicht zu Inflationsspiralen entwickeln, sollten u.a. die Einkommen- und Unternehmensteuern inflationsindexiert und moderate Lohnabschlüsse durch Steuerprämien gefordert werden. Bekanntermaßen fanden derartige Konzeptionen einer 'tax-based incomes policy' (TIP) kein Gehör. Stattdessen schaltete man unter Paul Volcker und Ronald Reagan auf einen 'suddenly tight-money and slowly easy-fiscal policy mix' um. Auch wenn die fiskalische Nachfragestimulierung unter dem Deckmantel der Angebotsorientierung zum Verschwinden der Stagflation beigetragen haben mag, entsprach dieser 'mix' kaum den Vorstellungen von einer wohlkoordinierten Stabilitätspolitik, die Dernburg bis in die letzte, allein unter seinem Namen erschienene Neuauflage seines Lehrbuches (198S, Kap. 18) vertreten hat.

Schriften in Auswahl: (1958)

(1960)

(1966)

(1970)

Consumer Response to Innovation: Television, in: Dernburg, T. u.a. (Hrsg.): Studies in Household Economic Behavior, New Haven, S. 1-50. Macro-Economics. The Measurement, Analysis and Control of Aggregate Economic Activity, New York/ London (I. Aufl., 1960 bis 6. Aufl., 1980 mit Duncan McDougall; alleiniger Autor der 7. Aufl., 1985, mit verändertem Untertitel: Concepts, Theories, and Policies); 3. neubearbeitete deutsche Aufl. nach der 5. amerikanischen Aufl., Stuttgart 1981. Hidden Unemployment 1953-62: A Quantitative Analysis by Age and Sex (zus. mit Kenneth Strand), in: American Economic Review, Bd. 5, S. 71-95. Exchange Rates and Co-Ordinated Stabilization Policy, in: Canadian Journal of Economics, Bd. 3, S. 1-13.

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Dessauer, Marie (1975)

(1980)

Fiscal Analysis in the Federal Republic of Germany. The Cyclically Neutral Budget, IMF Staff Papers, Bd. 22, S. 825-857. Stagflation: Causes and Cures. Special Study on Economic Change of the Joint Economic Committee, Congress of the U.S. Studies, Bd. 4, S. 1-37.

Quellen: Β Hb Π; AEA. Hans-Michael Trautwein

Dessauer, Marie, geb. 28.4.1901

in Bamberg,

ab 1940 Marie Meinhardt Aus den Quellen ist nur wenig über den Werdegang Marie Dessauers zu erfahren. Für die Zeit vor ihrer Emigration im Jahre 1934 lassen sich drei Angaben machen: Sie war als Assistentin an der Handelskammer in Frankfurt a.M. tätig, studierte im Sommersemester 1929 an der London School of Economics (LSE) und promovierte bei Eugen Altschul über Die Big Five. Zur Charakteristik der englischen Depositenbanken. In ihrer Dissertation beschreibt Marie Dessauer eingehend die Entwicklung und Geschäftstätigkeit jener fünf Joint-Stock-Baiikta (Aktiengesellschaften), die in einer enormen Konzentrationswelle im Jahre 1918 entstanden waren und von da an das Einlagengeschäft, das kurzfristige Kreditgeschäft und somit auch den bargeldlosen Zahlungsverkehr in England beherrschten. Bei diesen Großbanken handelte es sich um die Barclays Bank, die Lloyds Bank, die Midland Bank, die National Provincial Bank of England sowie die Westminster Bank. Diese „Markennamen" haben sich bis heute erhalten - wenn auch mittlerweile aus den Big Five durch die Fusion von National Provincial und der Westminster Bank zu NatWest die Big Four geworden sind, die sich das Einlagengeschäft der Filialbanken (retail banks) in Großbritannien mit je einer Großbank aus dem ehemaligen öffentlichrechtlichen Sparkassenbereich (TSB) und dem ehemaligen Bausparkassenbereich (Abbey National) teilen. Die Arbeit von Marie Dessauer ist nicht nur wegen dieser Kontinuität - gewissermaßen als frühe Chronik der heutigen Big Four - von Interesse. Sie bildet vielmehr auch als Momentaufnahme des englischen Trennbankensystems in der Weltwirtschaftskrise, kurz nach der Loslösung des bri-

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tischen Pfundes vom Goldstandard, einen bemerkenswerten Kontrapunkt zu Banksystemvergleichen der achtziger Jahre. Das englische Trennbankensystem, das aus der Konkurrenz der JointSfoc/t-Banken mit Privatbanken einerseits und der hoheitlich privilegierten Bank of England andererseits entstanden war, erwies sich nämlich in den zwanziger und dreißiger Jahren als weitaus weniger boom- und krisenanfällig als das deutsche Uni versalbankensystem und das gemischte Bankensystem in den USA, die beide mit Bankzusammenbrüchen und Insolvenzketten erheblich zur Entstehung und Verschärfung der Weltwirtschaftskrise beitragen. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen wurde in den USA mit dem Glass-Steagall Act von 1933 ein Trennbankensystem nach englischem Muster eingeführt. In den siebziger und achtziger Jahren wurden die entsprechenden Marktsegmentierungen in Großbritannien, den USA und andernorts durch Finanzinnovationen unterlaufen und durch Deregulierungen aufgehoben. Im Nachhinein haben Ökonomen die Trennung des Zahlungsverkehrs und kurzfristigen Einlagen- und Kreditgeschäfts von anderen Bereichen der Finanzintermediation häufig als irrationale bzw. „rein" politisch bedingte Entscheidung gegen die Gesetze des Marktes dargestellt. Nach dem Platzen der Kreditblasen in diesen Ländern zu Beginn der neunziger Jahre denken manche darüber wieder anders. Selbst wenn heutzutage niemand mehr ernsthaft für eine Rückkehr der Big Four zu den Beschränkungen des Depositengeschäfts plädieren kann, gewinnt Marie Dessauers Geschichte der englischen Depositenbanken an Interesse für die genauere Bestimmung der Umstände, unter denen sich in der ökonomischen und politischen Konkurrenz ein Trennbankensystem herausbildet, das das systematische Risiko einer fundamentalen Liquiditätskrise relativ gering hält. Es war allerdings nicht das Ziel Marie Dessauers, einen umfassenden Vergleich von Banksystemen anzustellen, der die Grandlage einer allgemeinen Bankentheorie und entsprechender Politikempfehlungen bilden sollte. Die Big Five ist nicht mehr und nicht weniger als eine gründliche, sehr informative Studie der Besonderheiten des englischen Kreditwesens. Trotz der positiven Würdigung der Robustheit der englischen Depositenbanken warnte die Autorin ausdrücklich davor, das englische Trennbankensystem zum universellen Patentrezept zu erheben. Sie erkannte deutlich die

Doblin, Ernest Martin groBen institutionellen Unterschiede in den Verflechtungen von Industrie- und Finanzsektoren, die beispielsweise zwischen Deutschland und England bestanden und die das System der Depositenbanken kaum auf Deutschland übertragbar machten. Marie Dessauer emigrierte 1934 nach Großbritannien. In den folgenden beiden Jahren besuchte sie die ökonomischen Seminare von -» Friedrich August Hayek und Lionel Robbins an der London School of Economics. Im Juli 1937 erhielt sie eine Anstellung als Forschungsassistentin bei den Professoren Hayek und Gregory. Theodore Gregory war Professor of Banking and Currency und hatte in den zwanziger Jahren maßgeblich - und mit nachhaltigem Eindruck auf seinen Schüler Robbins - dazu beigetragen, daB sich die Ökonomen an der LSE für Werke in den „Sprachen des Kontinents" zu interessieren begannen und somit die „splendid isolation" der englischen Ökonomen durchbrachen (vgl. Shehadi 1991). Gregory und Hayek waren zu verschiedenen Zeiten zentrale Figuren an der LSE gewesen, mittlerweile aber etwas ins Abseits geraten. In den Jahren an der LSE veröffentlichte Marie Dessauer-Meinhardt (sie hatte im August 1940 geheiratet) drei kleinere Aufsätze: einen Kommentar zur Novelle des deutschen Reichsgesetzes Uber das Kreditwesen von 1934, und zwei kurze Aufsätze über englische Arbeitslosenstatistiken des 19. Jhdts. Ihre Tätigkeit an der LSE endete spätestens mit der kriegsbedingten Auslagerung der LSE nach Cambridge im Jahre 1941. In den sechziger Jahren erschienen in Deutschland noch zwei Aufsätze von Marie Meinhardt, mittlerweile wohnhaft in Bournemouth, über das Aktienrecht und die Bilanzierungspraxis von Aktiengesellschaften in Großbritannien. Es kann hier nur vermutet werden, daß ihre Expertise in bezug auf Limited Companies auch auf ihre früheren Arbeiten über die englischen Joint-StockBanken zurückzuführen ist. Schriften in Auswahl: (1933) Die Big Five. Zur Charakteristik der englischen Depositenbanken, Stuttgart. (1935) The German Bank Act of 1934, in: Review of Economic Studies Bd. 2, S. 214-224. (1940a) Unemployment Records, 1848-59, in: Economic History Review Bd. 10, S. 38-43.

(1940b)

(1965)

(1967)

Monthly Unemployment Records, 1854-1892, in: Economica, Bd. 7, S. 322-326. Der Jahresabschluß von Aktiengesellschaften in Großbritannien. In: Der Jahresabschluß von Aktiengesellschaften in Europa und USA, I.Teil, hrsg. vom Ausschuß für wirtschaftliche Verwaltung (AWV), Berlin, S. 59-105. Das neue Aktienrecht in Großbritannien, in: Außenwirtschaftsdienst des Betriebsberaters, Bd. 13, S. 433-435.

Bibliographie: Shehadi, N. (1991): The London School of Economics and the Stockholm School in the 1930s, in: The Stockholm School of Economics Revisited, hrsg. von Lars Jonung, Cambridge, S. 377389. Quellen: SPSL 525; L; Brief von J.M. Alstin (LSE) vom 18.2.1992. Hans-Michael Trautwein

Doblin, Ernest Martin (Ernst Martin Döblin), geb. 14.4.1904 in Berlin, gest 15.7.1951 in New York Neffe des Schriftstellers Alfted Döblin. Doblin veröffentlichte Beiträge in verschiedenen Gebieten der Volkswirtschaftslehre. Er promovierte 1929 bei -» MJ. Bonn an der Handelshochschule in Berlin mit einer Arbeit über die Theorie des Dumpings (1931). In der Zeit von 1929 bis 1931 war Doblin wissenschaftlicher Assistent am Währungsinstitut der Universität Berlin und von 1931 bis 1935 Mitarbeiter des Deutschen Volkswirt. 1933 emigrierte er nach Großbritannien, wo er bis 1936 wissenschaftlicher Assistent an der London School of Economics war. Daneben veröffentlichte Doblin zunächst noch Artikel unter einem Pseudonym als Korrespondent für den Deutschen Volkswirt. 1936 emigrierte er weiter in die Vereinigten Staaten. Dort erhielt er ein Stipendium an der Brookings Institution in Washington/D.C., übte dann eine Lehrtätigkeit an der New School for Social Research, New York, aus und wurde im Zweiten Weltkrieg Mitarbeiter in der Abteilung für Auslandsnachrichten des Office of Price Administration (OPA) sowie Leiter der National Ac-

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Doblin, Ernest Martin counts Division der Europa-Abteilung des USHandelsministeriums. Ab 1947 war Doblin im Statistischen Büro der UN-Wirtschafts- und Sozialabteilung sowie als Dozent am City College, New York, tätig. Doblins Wirken war nach der Emigration durch seine jeweilige Umgebung und den zeitgeschichtlichen Hintergrund beeinflußt. 1942 publizierte er The German Profit Slops of 1941, 1943 folgte Accounting Problems of Cartels und 1945 The Social Composition of the Nazi Leadership. In seiner Dissertation definierte Doblin zunächst den Begriff 'Dumping' als Export unter Inlandspreisen und erläuterte, warum er sich nur mit der genaueren Analyse des dauerhaften Dumpings beschäftigte, in Abgrenzung zum Eroberungsdumping und zum sporadischen Dumping für den kurzfristigen Verkauf von im Inland nicht absetzbarer Überschußproduktion im Ausland, denen seiner Meinung nach eine preistheoretische Fundierung fehlte. Eine zentrale Aussage Doblins war, da£ dauerhaftes Dumping nur von einem monopolistischen Anbieter betrieben werden könne. Er untersuchte ausführlich die Beeinflußbarkeit des monopolistischen Inlandspreises des Exportlandes durch das Dumping. Schließlich stellte er die Auswirkungen des Dumpings auf den Volkswohlstand im Export- und im Importland dar. 1933 setzte er sich mit der Monopolwirtschaft und staatlichen Eingriffsmöglichkeiten in Form von Monopolpreisreguliemng durch Gewinnbeschränkung und einer Monopolumsatzsteuer auseinander. Ein Ansatzpunkt, der solche Eingriffe rechtfertige, sei die möglicherweise geringere Kapitalrentabilität im Monopol, bedingt durch eben diese Marktform (unter bestimmten Bedingungen fehlende Anreize zur Effizienz). Werde der im Monopol erwirtschaftete Gewinn wieder dort investiert, führe dies zu einer geringeren Rendite als bei einer anderweitigen Investition. Zur Vermeidung derartiger Kapitalfehllenkungen wäre eine Steuer auf den Monopolgewinn zu erheben. Zur Monopolpreisregulierung durch Gewinnbeschränkung orientiert er sich am Beispiel der Vorgehensweise bei den amerikanischen Public Utilities. Er kam zu dem Ergebnis, daß der Gewinn als zu beeinflussende Größe wegen der Schwierigkeit, diesen extern zu ermitteln, problematisch sei und daher der Monopolpreis als Eingriffsgröße herangezogen werden müsse. Aufgrund dieser Erkenntnis gab Doblin schließlich einer Monopolumsatzsteuer gegenüber einer Monopolgewinnzusatzsteuer

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den Vorzug. Eine Monopol Umsatzsteuer könne teilweise wegen der nicht vollständigen Abwälzbarkeit dadurch gerechtfertigt werden, daß ein Teil der Monopolrenten, deren weniger produktive Verwendung unterstellt wurde, dem Staat zufließt, der sie effizienter einsetzen könne. Ob der Staat dieses leistet, ist jedoch aus heutiger Perspektive anzuzweifeln. Femer wäre aus allokativer Sicht, die in dem Werk nur an einigen Stellen angedeutet wird, der Zustand mit einer Monopolumsatzsteuer gegenüber dem Zustand ohne diese Steuer aufgrund der Vergrößerung des 'dead weight loss' infolge höherer Preise und geringerer Mengen ineffizienter. In Some Aspects of Price Flexibility (1940) beschäftigte sich Doblin mit dem Problem der Preisrigidität. Er überprüfte die damals in der 'New Economy' angenomme Tendenz zur sich verfestigenden Preisrigidität, die wiederum als depressionsverschärfender Faktor angesehen wurde. Empirische Studien gäben allerdings keine Anhaltspunkte dafür, daß sich das Verhältnis von flexiblen und rigiden Preisen in dem von ihm betrachteten Großhandelspreisindex des U.S. Bureau of Labour Statistics in der Zeitspanne von 1890 bis 1933 signifikant verändert habe. Auch das Verhältnis der aktuellen Anzahl der Preisänderungen gegenüber der möglichen änderte sich nicht grundsätzlich. Doblin versuchte über eine Aufspaltung des genannten Preisindex in Untergruppen detailliertere Aussagen über das Auftreten von Preisflexibilität bei bestimmten Güterklassen bzw. -eigenschaften zu machen. Er untersuchte die Beziehung zwischen Preisflexibilität und Dauerhaftigkeit/Fertigungsgrad/Endkonsumentennähe der Güter sowie administrative Eingriffsintensität und Konzentrationsgrad der Branche. Auch wurden die Auswirkungen der Preisflexibilität in der Depression auf das Produktionsvolumen dauerhafter und nicht dauerhafter Güter betrachtet. In seinem Beitrag The Ratio of Income to Money Supply (1951) analysierte Doblin zunächst, ob und in welchem Umfang sich die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes verändert, wenn sich der Entwicklungsgrad einer Volkswirtschaft erhöht. Er kam zu dem Schluß, daß möglicherweise mit zunehmendem Entwicklungsgrad die Umlaufgeschwindigkeit sinke. Unter der Annahme, daß dies zutrifft, untersuchte Doblin, wie das Volkseinkommen auf Basis der Geldmenge und des Entwicklungsgrades geschätzt werden könne. Über eine Regressionsgleichung, in die er als be-

Dobretsberger, Josef kannte Variable den Energieverbrauch pro Kopf als Indikator für den Entwicklungsgrad einsetzte, ermittelte er die geschätzte Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Da auch die Geldmenge bekannt ist, lasse sich das geschätzte Volkseinkommen bestimmen, dem er das z.B. in amtlichen Statistiken ausgewiesene tatsächliche Volkseinkommen gegenüberstellte. In der Regel war das geschätzte Volkseinkommen höher als tatsächliche, wobei die Abweichungen bei allen betrachteten Ländern bis auf drei eher gering waren. Als mögliche Ursachen für die höheren Abweichungen bei den drei Ländern nannte Doblin einerseits inkorrekte Daten und andererseits nicht berücksichtigte Besonderheiten dieser Länder. Ob die 'normalen' Abweichungen von tatsächlichem zu geschätztem Volkseinkommen bedeutungslos waren oder einen besonderen Aussagegehalt hatten, d.h. ob die Abweichung z.B. als Entwicklungspotential gesehen werden konnte, wurde in seinem Beitrag allerdings nicht erwähnt Doblin hatte mit diesem Aufsatz, wie auch in den anderen von ihm diskutierten Bereichen, interessante Fragen angesprochen, jedoch läBt sich sein heterogenes Werk keiner der gängigen Schulen der Nationalökonomie zuordnen. Schriften in Auswahl: (1931) Theorie des Dumpings, in: Probleme der Weltwirtschaft, Schriften des Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr an der Universität Kiel, Nr. 55, Jena (Diss.). (1932) Internationale Konjunkturabhängigkeit und Autarkie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 67, S. 283-313. (1933) Monopole und Besteuerung, Berlin. (1940) Some Aspects of Price Flexibility, in: The Review of Economic and Stati* sties, Bd. 22, S. 183-189. (1942) The German Profit Stops of 1941, in: Social Research Quarterly, Bd. 9, S. 371-378. (1943) Accounting Problems of Cartels, in: Accounting Review, Bd. 18, S. 249256. (1945) The Social Composition of the Nazi Leadership (als Koautor), in: American Journal of Sociology, Bd. 51, S. 42-49.

(1951)

The Ratio of Income to Money Supply, in: Review of Economics and Statistics, Bd. 33, S. 201-209.

Quellen: BNb I; SPSL230/1; L. Ulrike Berger

Dobretsberger, Josef, geb. 28.3.1903 in Linz, Oberösterreich, gest. 23.5.1970 in Wien Obwohl Dobretsberger im Wien der Zwischenkriegszeit studierte (Staatswissenschaften), ist er keiner der beiden damals dort dominierenden wirtschaftswissenschaftlichen Schulen - der Österreichischen Schule der Nationalökonomie (Menger, Wieser, Mayer) bzw. der ganzheitlichen Schule Ottmar Spanns - zuzurechnen. Seine Schriften sind stark institutionell orientiert, wobei er sich auf Elemente verschiedenster Theorien und Traditionen, der Historischen Schule, der klassischen und der neoklassischen Ökonomie, aber auch des Marxismus stützt. Am ehesten ist er den wirtschaftspolitisch orientierten Ausläufern der deutschen Historischen Schule zuzurechnen. Neben seiner akademischen Laufbahn als Ökonom war Dobretsberger als Gesellschafts- und Sozialpolitiker aktiv, sowohl intellektuell-publizistisch, als auch als praktischer Politiker. Nach seiner Habilitation in Wien war er kurze Zeit Generalsekretär des Reichsbauernbundes. Im Jahr 1930 wurde er an die Universität Graz als außerordentlicher Professor und ab 1934 als ordentlicher Professor berufen. Von Schuschnigg, dem zweiten Bundeskanzler des austrofaschistischen Österreich, wurde er im Herbst 1935 in dessen zweites Kabinett als Sozialminister geholt Er sollte in dieser Funktion eine Aussöhnung mit der überwiegend sozialdemokratisch orientierten Arbeiterschaft erreichen, da diese nach dem Verbot der Sozialdemokratie 1934 das autoritäre Regime ablehnte. Er setzte sich für einen Fortbestand von Arbeitnehmervertretungen mit gewisser Autonomie gegenüber dem autoritären Regime und für die Existenz von Kollektivverträgen ein. Dobretsberger konnte sich aber damit im austrofaschistischen Lager nicht durchsetzen, so daß er bereits im Sommer 1936 von dem Regierungsamt zurücktrat, das wieder von seinem Vorgänger übernommen wurde. Nach der Besetzung Österreichs 1938 war er kurzzeitig in Haft, konnte aber wegen einer Berufung an die Staatsuniversität Istanbul über die Schweiz

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Dobretsberger, Josef in die Türkei emigrieren. Ab 1942 war er Professor an der Giza Universität Kairo, von wo er 1946 nach Graz zurückkehrte. Neben seiner akademischen Tätigkeit versuchte er wieder als Politiker EinfluB zu gewinnen. Von 1948 bis 1957 war er Bundesobmann der von ihm gegründeten 'Demokratischen Union', die aber, unter anderem wegen ihres Zusammenspiels mit der kleinen Kommunistischen Partei Österreichs, keine politische Bedeutung erlangen konnte. Er war in den akademischen Jahren 1937/38 und 1947/48 Rektor der Universität Graz. Seine akademische Laufbahn begann Dobretsberger als Assistent bei dem Staatsrechtler und Autor der österreichischen Bundesverfassung, Hans Kelsen, bei dem er 1927 mit einer Untersuchung über Die Gesetzmäßigkeit in der Wirtschaft dissertierte. Gegen die von der österreichischen Schule, insbesondere von Menger vertretene Position, derzufolge es Aufgabe der theoretischen Ökonomie sei, allgemein gültige Sätze aus spezifischen Annahmen abzuleiten, die ihrerseits als Aussagen, die die Wirklichkeit beschreiben, gesehen werden können, vertrat Dobretsberger die historische Kontingenz und die institutionelle Stnikturiertheit ökonomischen Handelns. Er stützte sich dabei auf Max Webers Einordnung ökonomischen Handelns in eine allgemeine soziologische Theorie. Für seine wirtschaftspolitische Position war diese Untersuchung insofern von Bedeutung, als sie darlegte, daß die rein ökonomischen Theorien, wie etwa diejenigen von Ricardo oder von Menger, übersehen, daß ökonomisches Handeln an eine soziale und institutionelle Ordnung gebunden ist. Daher sei es methodisch falsch, wenn die Theorie politische Regulierung den ökonomischen Handlungen grundsätzlich gegenüberstellt, wie dies etwa Böhm-Bawerk in seiner Schrift Macht oder ökonomisches Gesetz getan hatte. Wenn durch politische Regulierung die wirtschaftliche Ordnung geändert wird, wenn etwa Eigentumsrechte geändert werden, dann wird diese neue Ordnung auch andere Gesetzmäßigkeiten als eine reine Marktwirtschaft aufweisen. Die Möglichkeit, derartige institutionelle Änderungen vorzunehmen, war fur Dobretsberger selbstverständlich. Die Veränderung institutioneller Strukturen und die dadurch geänderten Organisationsprinzipien wirtschaftlicher Aktivitäten stehen im Mittelpunkt aller seiner wirtschaftswissenschaftlichen und politischen Schriften. Es geht dabei, wie bei allen Vertretern der Historischen Schule, aber auch bei

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den Marxisten, um wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitisch motivierte institutionelle Änderungen, die mit historischen Veränderungen in der Wirtschaft im engeren Sinn, das heißt vor allem im organisatorischen Bereich der Produktion, im Zusammenhang stehen. In seiner Habilitationsschrift Konkurrenz und Monopol in der gegenwärtigen Wirtschaft bemühte er sich in Weiterführung der Ideen von -> Robert Liefmann, den Begriff des Monopols gegenüber der in der ökonomischen Theorie der Marktformen üblichen Verwendung zu erweitern. Es handle sich nämlich bei Monopolen um eine grundlegend andere Organisationsform der Wirtschaft als die der Konkurrenz. Wegen der durch Monopole und Kartelle entstehenden Ansätze zu einer zentralen Organisierung von Produktion und Absatz kann die Wirkung von Monopolen nicht, wie in der statischen Theorie der Marktformen, bloß auf höhere Preise und geringeren Output reduziert werden. Vielmehr müssen die durch die Monopolisierung geänderten Produktionsstrukturen analysiert werden. Monopol und Konkurrenz als Organisationsformen der Wirtschaft stehen auch im Mittelpunkt der 1932 veröffentlichten Studie Freie oder gebundene Wirtschaft?. Der Untertitel Zusammenhänge zwischen Konjunkturverlauf und Wirtschaftsform weist auf die Fragestellung dieses Buches hin. Nach Dobretsberger erschweren Monopole und Kartelle durch Preis- und Mengenregulierungen einen konjunkturellen Aufschwung, verhindern aber in einem Abschwung einen Wettbewerb, der zu Kapitalvernichtung fuhrt. Sie können nämlich durch Absprachen verhindern, daß die wegen des fixen Kapitalstockes versunkenen Kosten zu einer Vernichtung des Kapitals führen. Monopole und Kartelle stabilisieren also die Wirtschaft in der Krise. Es geht aber für Dobretsberger nicht bloß um Vor- und Nachteile von Monopolen und Kartellen, sondern auch darum, daß sich in der Krise Kartellierungen und Monopolisierungen verstärkt durchsetzen, während sie in einer Wachstumsphase an Bedeutung verlieren. Die Tendenz zur Monopolisierung der Wirtschaft wird von Dobretsberger aber noch in einem weiteren, gesellschaftspolitisch relevanten Zusammenhang gesehen. Durch die Organisation der Unternehmungen in Kartellen und Monopolen einerseits und der Arbeiter und Angestellten in Gewerkschaften und Berufsverbänden andererseits, wird ein Interessenausgleich in Verteilungskon-

Dobretsberger, Josef flikten möglich. Während der Liberalismus als Theorie der Konkurrenzwirtschaft soziale Fragen überhaupt nicht beachtet, der Marxismus hingegen einen unversöhnlichen Interessengegensatz zwischen einem einheitlich proletarischen und einem einheitlich kapitalistischen Interesse postuliert, ist es in einer kartellmäBig organisierten Wirtschaft, in der auch die Arbeitnehmer organisiert sind, möglich, soziale Probleme im Rahmen einer Untemehmenswirtschaft zu lösen. Für Dobretsberger ist das nicht eine politische Forderung, die an die Organisierung der Wirtschaft gerichtet wird, sondern dies entspricht den historischen Tendenzen der modernen Wirtschaft, in der der starke Gegensatz zwischen Konkurrenz und Monopol, wie er von der statischen Preistheorie betont wird, nicht mehr vorhanden ist. Ein einheitliches Interesse aller Arbeiter könne es in so einer Wirtschaft nicht geben, weil Lohnerhöhungen einer Gruppe von Arbeitnehmern bewirken, dafi der Reallohn anderer Arbeitnehmer sinkt. Verstärkt wird die Tendenz zu sozialem Ausgleich durch die Separiening von Kapitaleigentum von der Untemehmensfuhnmg in den Kapitalgesellschaften. Dadurch können Unternehmensleitungen eher die wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Arbeitnehmer beachten, als dies im Einzelunternehmen der Fall ist. Dies wiederum führt dazu, daß die Arbeitnehmer jeweils eines Unternehmens, eines Monopols, eines Kartells ein wirtschaftliches Interesse am Erfolg ihres Unternehmens haben. In einer kleinen Schrift Vom Sinn und Werden des neuen Staates (1934a) werden die staatspolitischen Konsequenzen dieser Thesen gezogen. Dobretsberger unterstützte darin den austrofaschistischen Staat publizistisch. Er versucht eine positive Ideologie fur den von DollfuB - dem er dieses Büchlein widmete - postulierten Ständestaat zu geben. Dieser Versuch weist spezifische Eigenheiten auf, die auf der ideologischen Verwurzelung Dobretsbergers in christlich-sozialen Vorstellungen beruhen. Er grenzt den autoritären Ständestaat einerseits gegen den Liberalismus ab, wobei er sich vor allem auf die wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben des Staates stützt. Er grenzt ihn aber auch gegen den totalitären Staat ab. Damit meint Dobretsberger sowohl die Sowjetunion als auch Deutschland unter der Herrschaft der NSDAP. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Ständestaat und dem totalitären Staat liegt für Dobretsberger darin, daß in ersterem anerkannt und akzeptiert wird, daß es vom Staat auto-

nome Interessen und Sphären gibt, die auch ein institutionelles Eigenleben haben sollen. Damit sind in erster Linie die Kirche und die Bereiche der Kultur und der Kunst gemeint, aber auch wirtschaftliche Interessenvertretungen. Selbstverständlich grenzte er sich gegen Ideen eines einheitlichen Arbeitnehmerinteresses ab und betont das gemeinsame Interesse von Arbeitern und Eigentümern der Unternehmungen am wirtschaftlichen Erfolg. Wegen dieses gemeinsamen Interesses können sie bestimmte Angelegenheiten autonom lösen. Dobretsberger akzeptierte sowohl die Existenz einer Gesellschaft unabhängig vom Staat als auch von einander widersprechenden Interessenlagen. Dem muß der institutionelle Aufbau des Staates Rechnung tragen. Als Sozialminister versuchte er, diese Ideen praktisch umzusetzen, scheiterte aber an den politischen Realitäten. In seinen geldtheoretischen und geldpolitischen Arbeiten (1934b, 1946) werden vor allem makroökonomische Themen behandelt, aber auch Fragen der Geldschöpfung, Probleme der Regulierung von Banken und des internationalen Zahlungsverkehrs. In der ersten der beiden Arbeiten werden unter anderem mehrere Ideen zu einer monetären Lösung der Weltwirtschaftskrise besprochen. In dem in Ägypten verfaßten und nach dem Krieg publizierten Band wurden weltwirtschaftliche Zusammenhänge berücksichtigt. In diesen Arbeiten macht sich der theoretische Eklektizismus von Dobretsberger besonders bemerkbar. Zwar verfolgte er die makroökonomischen Diskussionen seiner Zeit, aber eine systematische Verwendung der darin entwickelten Konzepte keynesianischer Theorie oder ihrer Kontrahenten ist bei Dobretsberger nicht zu finden. Schriften in Auswahl: (1927) Die Gesetzmäßigkeit in der Wirtschaft, Wien (Diss.). (1929) Konkurrenz und Monopol in der gegenwärtigen Wirtschaft mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Industrie, Leipzig/Wien. (1932) Freie oder gebundene Wirtschaft? Zusammenhänge zwischen Konjunkturverlauf und Wirtschaftsform, München/Leipzig. (1934a) Vom Sinn und Werden des neuen Staates, Graz. (1934b) Neue Wege des Geldwesens und Zahlungsverkehrs, Berlin.

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Dorn, Herbert (1946) (1947) (1963)

Das Geld im Wandel der Wirtschaft, Bern. Katholische Sozialpolitik am Scheideweg, Graz. Wirtschaft und Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze aus drei Jahrzehnten, Graz.

Quellen: Β Hb I; ISL 1959/1984. Peter Rosner

Dorn, Herbert, geb. 21.3.1887 in Berlin, gest. 11.8.1957 in Hallein/Österreich Bis zu dem wegen seiner jüdischen Herkunft erzwungenen Ausscheiden aus dem Reichsdienst Ende 1933 war Dom einer der glänzenden Juristen in der deutschen Finanzverwaltung und Finanzgerichtsbarkeit zur Zeit der Weimarer Republik. Er hatte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Berlin, Freiburg, München und Würzburg studiert. Nach der Ablegung beider juristischer Staatsprüfungen und der Promotion zum Dr. iur. et rer. pol. trat Dorn 1914 in den preußischen Justizdienst ein, wurde jedoch bereits Ende 1914 an das Reichsjustizamt abgeordnet. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 stellte er sich loyal in den Dienst der neuen Republik. An der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung war er beteiligt. Ende 1919 wechselte er in das Reichsfinanzministerium, in dem er zunächst für die allgemeinen Rechtsangelegenheiten des Ministeriums zuständig war. 1920 wurde er - im Alter von 33 Jahren - zum Ministerialrat ernannt. In einer Blitzkarriere rückte er bis 1926 zum Ministerialdirektor und Abteilungsleiter auf. 1931 wurde der - damals erst 44jährige - Dom zum Präsidenten des Reichsfinanzhofs, des 1918 errichteten obersten Steuergerichts im Deutschen Reich mit Sitz in München, ernannt. Dom verdankte diesen Aufstieg seiner überragenden juristischen Kompetenz. Er galt als der 'Kronjurist' der Finanzverwaltung (Falk 1967, S. 307). Besonders interessierten ihn die internationalen Rechtsfragen. Er war einer der wenigen Experten, die sich in dem komplizierten Geflecht der Reparationsfragen auskannten. An den großen internationalen Verhandlungen jener Jahre war Dom auf deutscher Seite stets beteiligt. Das Gebiet, auf dessen Entwicklung Dom den größten Einflufi nehmen konnte, war das Internationale Steuerrecht. Als Wissenschaftler (seit 1920 Lehrbeauf-

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tragter für Finanz- und Steuerrecht, seit 1927 Honorarprofessor für Finanzrecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und internationales Verwaltungsrecht an der Handelshochschule Berlin), Autor von mehr als 50 Veröffentlichungen und hochrangiger Beamter im Reichsfinanzministerium beschäftigte er sich intensiv mit dem Phänomen der Doppelbesteuerung. Es ist auf sein Wirken zurückzuführen, daß Deutschland in jenen Jahren führend beim Abschluß von Doppelbesteuemngsabkommen mit anderen Staaten wurde. Das weltweite Renommee von Dom zeigt sich darin, daß er 1931 zum Präsidenten des 'Comit6 fiscal' beim Völkerbund bestellt wurde. Dieses Amt mußte Dom 1933 nach dem Austria Deutschlands aus dem Völkerbund aufgeben. Ende 1933 wurde die Versetzung Doms in den Ruhestand - mit Wirkung zum 31.3. 1934 - ausgesprochen. Beim Pogrom im November 1938 wurde er von der Gestapo verhaftet und mißhandelt. 1939 floh er in die Schweiz. Von dort aus ging er 1941 nach Kuba. Von 1943 bis 1947 beriet er die kubanische Regierung in Rechtsfragen und vertrat sie auf internationalen Konferenzen. 1947 siedelte Dom in die USA über, wo er 1949 eine wirtschaftswissenschaftliche Professur an der University of Delaware in Newark übernehmen konnte. Dort begründete er das Institute of InterAmerican Study and Research. Seine Forschungsund Lehrtätigkeit übte Dom, seit 1952 amerikanischer Staatsbürger, bis zur Emeritierung 1955 aus. Nach einem ersten Besuch 1955 kam Dom 1957 ein zweites Mal nach Deutschland zurück, um in München seinen Forschungen nachzugehen. Er starb auf einer Reise durch Österreich. Schriften in Auswahl: (1924) Internationales Finanzrecht und internationale Doppelbesteuerung, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Bd. 29, Sp. 628-688. (1925) Welche Grundsätze empfehlen sich für das internationale Vertragsrecht zur Vermeidung internationaler Doppelbesteuerung bei Einzelpersonen und Körperschaften, insbesondere bei gewerblichen Betrieben?, in: Verhandlungen des 33. Deutschen Juristentages, Berlin/Leipzig, S. 495-544. (1928) Empfiehlt es sich im Interesse einer gesunden Finanzwirtschaft, die bestehenden Grundsätze über die Be-

Drucker, Peter Ferdinand

(1929)

(1932)

(1938)

(1944)

(1957)

willigung der Einnahmen und Ausgaben für die Haushalte des Reichs und der Länder zu ändern?, in: Verhandlungen des 35. Deutschen Juristentages, Bd. 1, Berlin/Leipzig, S. 489564. Das Recht der Bewilligung von Einnahmen und Ausgaben der öffentlichrechtlichen Körperschaften, in: Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht, Bd. 3, S. 62-120. Finanzsysteme und Wirtschaftskrise, in: Festgabe für H. Großmann, Berlin/Wien, S. 1-69. Diritto finanziario e questioni fondamentali sulle doppie imposizioni, Padova. Problemas de Post-Guerra en el Transcurso de los Tiempos, La Habana. Das Steuersystem der Vereinigten Staaten im Lichte der Rechtsvergleichung, in: Steuer und Wirtschaft, Bd. 34, Sp. 273-294,473-484.

Bibliographie: Heßdörfer, L. (1957): Nachruf für Dr. Herbert Dorn, in: Steuer und Wirtschaft, Bd. 34, Sp. 633 f. Falk, L. (1967): Die Bedeutung von Herbert Dorn, in: Finanz-Rundschau, Bd. 22, S. 305-308. Klein, F. (1987): Zur Erinnerung an Herbert Dom, in: Steuer und Wirtschaft, Bd. 42, S. 97-100 (mit Anhang von J. H. Kumpf: Schriften von und über Herbert Dorn, S. 100-102). Göppinger, H. (1990): Juristen jüdischer Abstammung im 'Dritten Reich', 2. Aufl. München, S. 275 f. Pausch, A. (1992): Persönlichkeiten der Steuerkultur, Herne/Berlin, S. 104-111. Quellen: Kürschner 1931, Sp. 504 f.; 1935, Sp. 245 f.; 1954, Sp. 245 f.; Β Hb I; Handwörterbuch des Steuerrechts, Bd. 1, 2. Aufl., München 1981, S. 368; N1 Dom, Bundesfinanzakademie, Brühl. Johann Heinrich Kumpf

Drucker, Peter Ferdinand, geb. 19.11.1909 in Wien. Drucker ist als Sohn einer liberalen Familie holländischer Abstammung in Wien aufgewachsen und besuchte dort die Schule bis zum Abitur

1927. Nach anderthalbjähriger Tätigkeit als Angestellter in Exportfirmen in England und Hamburg ging er 1929 nach Frankfurt, wo er Assistent des Staatsrechtlers Karl Strupp wurde und zwei Jahre später mit einer Dissertation über Die Rechtfertigung des Völkerrechts aus dem Staatswillen zum Dr. jur. promovierte. Im gleichen Zeitraum arbeitete er als Bankberater und Journalist, von 1930 an war er als Dozent für internationales Recht und Geschichte an der Universität Frankfurt tätig. Da Drucker als Konservativer galt, bekam er 1933 von den Nationalsozialisten eine Stelle im Propagandaministerium angeboten. Drucker stand jedoch gerade wegen seiner konservativen Weltanschauung dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber. Dies zeigte sich wenige Wochen später in der Veröffentlichung seines ersten Buches, einer Monographie über den jüdischen Philosophen Stahl mit dem Titel Friedrich Julius Stahl, Konservative Staatslehre und geschichtliche Entwicklung. Drucker argumentierte darin vehement für ein freies Unternehmertum innerhalb einer parlamentarischen Demokratie auf der Grundlage eines Viel-Parteien-Systems und bezog damit eindeutig Position gegen die Einpartei-Diktatur von Hitler (Chatteijee 1982). Das Buch stieß bei den Nationalsozialisten auf massive Ablehnung und wurde kurze Zeit nach seinem Erscheinen öffentlich verbrannt. Dies bewegte Drucker dazu, sich im April 1933 nach England abzusetzen, weil er keine Möglichkeit sah, in Deutschland als Journalist oder als Hochschullehrer weiterzuarbeiten. Der Weg in die Opposition stellte für ihn im Gegensatz zu seinem Freund Berthold Freytag, einem der führenden Köpfe des protestantischen Widerstands, keine gangbare Alternative dar. In England fand er anfangs eine Anstellung bei einer Handelsbank, später arbeitete er als Amerikakonespondent für verschiedene britische Zeitungen. Im Jahre 1937 siedelte er schließlich in die USA über. Seine Eltern emigrierten 1938 anläßlich der Annexion Österreichs ebenfalls in die USA. Der Vater Adolph Drucker, Begründer der Salzburger Festspiele, war anschließend als Professor für Außenwirtschaft an den Universitäten von North Carolina und Washington tätig. Drukker setzte zunächst seine Tätigkeit als Journalist und Finanzberater fort, begann aber gleichzeitig mit der Universitätslehre am Sarah Lawrence College in Bronxville. Im Jahre 1942 wechselte er an das Bennington College in Vermont, an dem er bis 1949 Philosophie, Politik und Religion lehrte.

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Drucker, Peter Ferdinand 1950 wurde er Professor für Management an der Graduate School for Business and Administration der New York University. Seit 1971 hat er die „Clarke" Professur für Sozialwissenschaft an der Claremont Graduate School in Kalifornien inne. Parallel zur universitären Laufbahn baute er sich von 1943 an, als er sein erstes Projekt bei General Motors übernahm, ein zweites Standbein als Industrieberater auf. Druckers veröffentlichtes Werk ist äußerst umfangreich und findet eine immense Nachfrage. In zahlreichen Büchem und Artikeln widmet er sich diversen Forschungsfeldem. Seine frühen Arbeiten sind in starkem Maße politisch geprägt. So setzt er sich in seiner ersten größeren Veröffentlichung The End of Economic Man. Α Study of the New Totalitarianism aus dem Jahie 1939 mit dem Totali tarismus Hitler-Deutschlands auseinander und versucht, den Lesern dessen Entstehungsursachen und Wirkungen näherzubringen. Er bezieht darin eine klare Position gegen jegliche Art von Kollektivismus, insbesondere auch gegen den Marxismus. In den folgenden Jahren entwickelt er in Beiträgen wie The Future of Industrial Man (1943), The New Society. The Anatomy of the Industrial Order (1951) und The Practice of Management (1954) in der fur ihn typischen Mischung aus Vision und Realismus das Konzept einer neuen freien Gesellschaftsordnung, die sich als freiheitliche, friedliche Industriegesellschaft konstituieren müsse und in der die Person des Managers eine dominierende Position und Funktion einzunehmen habe. Die Analyse des Wesens und der Aufgaben des Managements steht im Zentrum seines weiteren wissenschaftlichen Schaffens. Als Begründer des Konzepts vom 'Management by Objectives' (MBO) in der heute gebräuchlichen Interpretation hat er einen wichtigen Beitrag zur Theorie des Managements geleistet. Drucker beschränkt sich allerdings nicht auf eine isolierte Betrachtung der Institution Management, sondern geht auch auf das Spannungsverhältnis Unternehmensleitung-Belegschaft und Unternehmen-Gewerkschaft sowie mögliche Ansätze zu ihrer Überwindung ein. Darüber hinaus stellt das Prinzip der Organisation im allgemeinen ein konstituierendes Element seiner neuen Gesellschaftsordnung dar. Nach Drucker wird eine Gesellschaft erst dann funktionieren, wenn die einzelnen Individuen mit einem sozialen Status und einer sozialen Funktion ausgestattet sind, durch die sie in einer Gruppe organisiert werden können.

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In späteren Arbeiten gibt Drucker auch in anderen Bereichen wichtige Impulse. Zu denken ist u.a. an die Innovationsforschung (Landmarks of Tomorrow, 1957) oder die Rentendiskussion (The Unseen Revolution, 1977). In seinem jüngst erschienenen Buch Die postkapitalistische Gesellschaft aus dem Jahr 1993 zeichnet er die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft zur (postkapitalistischen) Wissensgesellschaft nach und analysiert deren individuelle Voraussetzungen und organisatorische Konsequenzen. Gerade durch seine weiterführenden Gedanken zu den ökonomischen Wirkungen von Wissen bringt er Innovatives in die informationsökonomische Wissenschaftsdiskussion ein. Darüber hinaus reflektiert er z.T. auch seine praktischen Erfahrungen in der Industrie (The Concept of Corporation, 1946; Big Business, 1947). Trotz seines publizistischen Erfolges wird Drukker in der Fachwelt nicht uneingeschränkt akzeptiert und anerkannt. Die Meinungen sind sehr heterogen. Seine Kritiker bemängeln eine nicht genügende wissenschaftliche Fundierung seiner Beiträge. So gilt er vielfach eher als Praktiker und Journalist denn als akademischer Sozialwissenschaftler (Nielsen 1982). Einigkeit besteht aber darüber, daß er viele originäre Gedanken zum Management-Konzept entwickelt und damit zu einem verbesserten Verständnis von Organisationen beigetragen hat. Dieser Beitrag ist in zahlreichen Ehrungen gewürdigt worden. Schon in den vierziger Jahren wurde er ein Officer of the American Political Science Association, später wurde er Präsident der Society for the History of Technology und Vize-Präsident des Institute of Management Science. Im Jahre 1967 erhielt er den Taylor Key der Society for the Advancement of Management. Sein Einfluß macht sich weltweit bemerkbar. Aufmerksamkeit wird ihm sowohl von Topmanagern als auch von Politikern zuteil. Schriften in Auswahl: (1932)

Die Rechtfertigung des Völkerrechts aus dem Staatswillen, Berlin (Diss.).

(1933)

Friedrich Julius Stahl. Konservative Staatslehre und geschichtliche Entwicklung, Tübingen.

(1939)

The End of Economic Man. Α Study of the New Totalitarianism, London, New York.

Eckert, Christian Laurenz Maria (1943)

(1946) (1947)

(1950)

(1954)

(1957)

(1964)

(1974) (1976) (1979)

(1993)

The Future of Industrial Man. A Conservative Approach, New York (auch 1965; London 1942). Concept of the Corporation, New York (Neuaufl. 1972). Big Business. A Study of the Political Problems of American Capitalism, London/Toronto. The New Society. The Anatomy of the Industrial Order, New York (dt. Übers.: Gesellschaft am Fließband, Frankfurt 1950). The Practice of Management, New York/London (dt. Übers. Düsseldorf 1956). Landmarks of Tomorrow. A Report on the New 'Post-modern* World, London/New York (dt. Übers.: Das Fundament für morgen, Düsseldorf 1958). Managing for Results. Economic Tasks and Risk-Taking Decisions, London. Management: Tasks, Responsibilities, Practices, New York. The Unseen Revolution, New York (dt. Übers. Düsseldorf/Wien 1977). Adventures of a Bystander, [Autobiographie], New York (dt. Übers.: Zaungast der Zeit, Düsseldorf/Wien 1981). Die postkapitalistische Gesellschaft, Düsseldorf u.a.

Bibliographie Chatteijee, S.S. (1982): Drucker and Marcuse: Their Antagonistic Views on United States Society, in: The Indian Journal of Economics, Bd. 62 (247), S. 531-545. Nielsen, R.P. (1982): Book Review: Management Implications of Drucker's Managing in Turbulent Times, in: California Management Review, Bd. 25(1) (1982), S. 119-124. Shiba, M. (1971): A Note on Human Relations in Organization. Α Study on Prof. Peter Drucker's Principle of Organization, in: Otemon Economic Studies. The School of Economics, Nr. 4, S. 2332. Steger, U. (1993): Wissen überwindet Kapital (Besprechung zum Buch von P.F. Drucker mit dem Titel: Die postkapitalistische Gesellschaft), in: Die Zeit, Nr. 37 (10.9.1993), S. 28.

Tarrant, J.J. (1976): Drucker. The Man Who Invented the Corporate Society, Boston. Winterberger, G. (1956): Gesellschaft am Fließband. Zum Buche von Peter F. Drucker mit dem selben Titel, in: ORDO, Bd. 6, S. 181-185. Quellen: Β Hb Π; SPSL. Klaus Herdzina

Eckert, Christian Laurenz Maria, geb. 16.3.1874 in Mainz, gest. 27.6. 1952 in Köln Promovierte 1897 in Gießen unter Anleitung von A.B. Schmidt zum Dr. jur. utr. und 1898 in Berlin bei G. Schmoller zum Dr. phil. (Hauptfach: Nationalökonomie, Nebenfächer: Philosophie und Kunstgeschichte). Seine Habilitation für das Fach StaatsWissenschaften erfolgte im Jahne 1901 ebenfalls bei Schmoller. Noch im gleichen Jahre wurde er als hauptamtlicher Dozent an die neu gegründete Handelshochschule Köln berufen, dort am 1.4.1902 zum Professor für Staatswissenschaften ernannt und am 1.10.1904 zu deren Leiter als Studiendirektor bestellt. An der ebenfalls neu eröffneten Hochschule für kommunale und soziale Verwaltung in Köln wurde ihm die gleiche leitende Funktion am 1.4.1912 übertragen. Von 1904 bis 1919 war Eckert im Nebenamt a.o. Professor an der Universität Bonn. Neben seinem Lehrer G. Schmoller war er das einzige aus dem akademischen Bereich kommende Mitglied der Immedi atkommission zur Vorbereitung der Verwaltungsreform in Preußen 1904 bis 1916, nach deren Auflösung er in Würdigung seiner Verdienste zum Geheimen Regierungsrat ernannt wurde. Nach fast zehnjährigen intensiven Bemühungen gelang es Eckert, im Zusammenwirken mit dem damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, am 12.6.1919 die Wiedererrichtung der Kölner Universität zu erreichen, deren erster Rektor er auch wurde. Bis zu seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten 1933 gehörte er als Lehrstuhlinhaber für wirtschaftliche Staatswissenschaften und als geschäftsfuhrender Vorsitzender des Kuratoriums dieser Universität an. Wie Henning berichtet, wurde ihm von den nationalsozialistischen Machthabern u.a. vorgeworfen, „... daß er als Gouverneur von Köln (November und Dezember 1918) sich staatsfeindlich verhalten habe, obgleich er durch seine Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung gerade zur Vermeidung sozialer Unruhen mitgewirkt hatte" (Henning

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Eckert, Christian Laurenz Maria 1988, S. 2). Nach dem Zusammenbruch 1945 wurde Eckert sein Kölner Ordinariat formell wieder zurückgegeben; zugleich erfolgte seine Emeritierung. Bereits 1922 hatte ihm die Universität Köln den Titel eines Dr. rer. pol. h.c. und später, im Jahre 1949, den eines Dr. med. h.c. verliehen. Inzwischen war Eckert wegen der Zerstörung seiner Kölner Wohnung nach Worms umgesiedelt, von wo aus er mit ähnlichem Elan wie seinerzeit in Köln die Wiedererrichtung der Universität Mainz betrieb; sie erfolgte schon wenig später am 22.5.1946, und Eckert wurde ihr Gastprofessor und Ehrensenator. Auch an der Wiedererrichtung des 1936 von den Nationalsozialisten aufgelösten Vereins für Socialpolitik, dessen Vorsitz er bereits 1930-1932 innegehabt hatte, war Eckert maßgeblich beteiligt. Von 1948 bis 1952 gehörte er abermals als Schatzmeister dem engeren Vorstand des Vereins an. Eckerts Bedeutung über sein Fachgebiet hinaus beruht auf der Tatsache, daß er sich neben seiner Tätigkeit als Forscher und Universitätslehrer auch als wissenschaftlicher Organisator, als Wirtschaftsführer und als Verwaltungsfachmann große Verdienste erworben hat. Davon zeugen nicht nur seine Erfolge als Mitinitiator der Wiedergründung zweier Universitäten. Als Aufsichtsratsvorsitzender der Lederwerke Cornelius Heyl AG in Worms, eine Funktion, die er von 1936 bis 1946 ausübte, war er maßgeblich am Wiederaufbau dieses durch den Krieg stark in Mitleidenschaft gezogenen Unternehmens beteiligt. Seine Tätigkeit als Oberbürgermeister der Stadt Worms von 1946 bis 1949 zeigt, wie sehr er sich auch für den politischen Neuanfang in Deutschland nach dem Zusammenbruch persönlich eingesetzt hat. Seine schon in der Jugend stark ausgeprägten kunstgeschichtlichen Neigungen fanden ihren Niederschlag in einigen einschlägigen Veröffentlichungen und in seiner Tätigkeit als Vizepräsident der 1949 gegründeten Akademie der Wissenschaften und der Literatur, an der ihm die Leitung der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse übertragen wurde, sowie als Präsident des rheinischen Kulturinstituts. Die sich in der Vielzahl dieser Tätigkeiten und Funktionen dokumentierende Verbindung von wissenschaftlichem, kulturellem und politisch-gesellschaftlichem Engagement gibt einen - wenngleich hier verkürzten - Eindruck von Eckerts Universalität und der Breite seines geistigen und praktischen Schaffens.

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Als Nationalökonom, seinem eigentlichen Kernfach, war Eckert geprägt von seinem Lehrer Schmoller und der jüngeren Historischen Schule, was vor allem in seinen wirtschaftsgeschichtlichen Monographien, wie den Darstellungen der Rheinschiffahrt (1898; 1900) und der Geschichte des Kölner Bankhauses J.H. Stein (1940) zum Ausdruck kommt. Auch das Verhältnis von Ökonomie und Staat und Fragen der Weltwirtschaft nahmen einen wichtigen Platz in seinen Forschungen ein. Neben diesen vorwiegend historisch und wirtschaftspolitisch ausgerichteten Arbeiten verfaßte Eckert zahlreiche Aufsätze, in denen er sich grundsätzlichen Fragen der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre und Forschung sowie der Darstellung der von ihm mitinitiierten Bildungsinstitutionen widmete. Schriften in Auswahl: (1897) Der Fronbote im Mittelalter nach dem Sachsenspiegel und den verwandten Rechtsquellen. Ein Beitrag zur deutschen Rechtsgeschichte, Leipzig (Jur. Diss.). (1898)

(1900) (1921) (1921)

(1926)

(1928)

(1932)

(1932) (1940)

Das Mainzer Schiffergewerbe in den letzten drei Jahrhunderten des Kurstaates. Leipzig (Phil. Diss.). Rheinschiffahrt im 19. Jahrhundert, Leipzig (Habil.). Die neue Universität. Kölner Universitätsreden, 1, Köln. Wirtschaftliche und finanzielle Folgen des Friedens von Versailles, Bonn. Friedensverträge (vom staatswissenschaftlichen Standpunkte), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Bd. 4., Jena, S. 444-528. Die Neuformung Europas. Ausgangspunkte und Auswirkungen. Kölner Vorträge III, 1, Leipzig. Englands Aufstieg und Gefährdung in der Weltwirtschaft. (Wirtschaftsprobleme der Gegenwart, Bd. 19), Berlin. Alter und neuer Imperialismus. (Kieler Vorträge, Bd. 39), Jena. J.H. Stein (1790-1940). Werden und Wachsen eines Kölner Bankhauses in 150 Jahren, Berlin.

Eckstein, Otto Bibliographie: Napp-Zinn, Α.F. (1949): Werden und Wirken des Jubilars, in: Kultur und Wirtschaft im rheinischen Raum. Festschrift für Christian Eckert, hrsg. v. A.F. Napp-Zinn und M. Oppenheim, Mainz. Napp-Zinn, A.F. (1952): Christian Eckert. Gedenkrede, hrsg. v. Institut für Verkehrswirtschaft an der Universität Mainz. Münstermann, H. (1952): Christian Eckert. Ein aktiver Förderer des Handelshochschulstudiums, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung, N.F., Bd. 4, S. 337-340. Napp-Zinn, A.F. (1961): Eckert, Christian. Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 3, Stuttgart u.a., S. 19-20. Henning, F.W. (1988): Christian Eckert (1874 bis 1952), in: Kölner Volkswirte und Sozialwissenschaftler, Köln/Wien, S. 1-13. Quellen: Wenig, O. (1968), S. 61; ISL 1980. Helmut Walter

Eckstein, Otto, geb. 1.8.1927 in Ulm, gest. 22.8.1984 in Boston Eckstein emigrierte 1938 als Schüler mit seinen Eltern nach der 'Kristallnacht' zuerst nach Großbritannien und dann 1939 weiter in die USA. 1945 erwarb er die amerikanische Staatsbürgerschaft, von 1946 bis 1947 diente er im U.S. Army Signal Corps. Eckstein studierte zunächst an der Princeton University, an der er 1951 den Bachelor of Arts erwarb. Dann wechselte er an die Harvard University, der er bis zu seinem Tod verbunden blieb. 1952 erwarb er dort den Master of Science, 1955 promovierte er unter der Anleitung von Arthur Smithies über Water Resource Development. The Economics of Project Evaluation (1958b; 5. Aufl. 1971). Seit 1955 war Eckstein Mitglied der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Harvard University: von 1955 bis 1957 als Instructor, ab 1957 als Assistant Professor, ab 1960 als Associate Professor und seit 1963 als Full Professor of Economics. Die Schwerpunkte seiner Forschungsund Lehrtätigkeit lagen in der theoretischen Volkswirtschaftslehre, der Ökonometrie und Statistik sowie der Finanztheorie und Finanzpolitik. Neben seiner akademischen Tätigkeit beschäftigte sich Eckstein stets mit der praktischen Anwendung der Wirtschaftstheorie auf konkrete wirtschaftspolitische Problemstellungen. Nach Ab-

schluß seiner Promotion war er 1956 als Mitglied des Mitarbeiterstabs von Resources for the Future verantwortlich für die Analyse der sozialen Kosten der staatlichen Finanzierung eines Wasserbauprojekts. 1959 bis 1960 war er als Technischer Direktor für eine Studie des Joint Economic Committee zuständig, von 1964 bis 1966 gehörte er dem Council of Economic Advisers an, von 1967 bis 1969 dem President's Committee on Income Maintenance Programs, von 1967 bis 1970 dem Research Advisory Board Committee for Economic Development. Am bekanntesten wurde er jedoch als Präsident von Data Resources Inc. (seit 1969). Er erhielt zahlreiche akademische Auszeichnungen, war Fellow der Econometric Society und erhielt Ehrendoktorwürden der Universitäten Princeton und Brüssel. Seine berufliche Laufbahn begann Eckstein mit der Analyse eines groß angelegten, mehljährigen Wasserreservenprojekts mit dem Ziel, die Allokation staatlicher Mittel für solche Projekte zu verbessern. Seine erste Veröffentlichung beruhte auf seiner Dissertation (1958b) und befaBte sich mit Kriterien zur Auswahl öffentlicher Investitionen. Wirtschaftstheoretisch bemerkenswert ist dabei seine vollständige intertemporale Wohlfahrtstheorie, mit deren Hilfe er praktisch anwendbare Regeln für die Kosten-Nutzen-Analyse öffentlicher Investitionsprojekte ableitete. Seine Beiträge waren der Ausgangspunkt für eine allgemeine Anwendung des Kosten-Nutzen-Ansatzes, der unter Präsident Johnson als offizielle Politik der U.S. Regierung übernommen wurde. Schon Ecksteins erste wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten zeigen den Charakter seines gesamten Werkes: Er wählt ein praktisch bedeutsames Problem, schafft einen allgemeinen wirtschaftetheoretischen Rahmen, der sich auch auf andere, ähnliche Probleme übertragen läßt, und wendet diesen allgemeinen Ansatz auf sein konkretes Problem an, wobei er stets von einem starken Glauben an die Zweckmäßigkeit des wirtschaftswissenschaftlichen Ansatzes für die Analyse wirtschaftspolitischer Probleme geleitet wird. Innerhalb weniger Jahre nach Veröffentlichung seiner ersten Arbeiten zählte Eckstein zu den führenden Wirtschaftswissenschaftlern in den Vereinigten Staaten. Schon Ende der 1950er Jahre war er der intellektuelle Leiter einer Studie des Joint Economic Committees, Employment, Growth and Price Levels. Das von ihm herausgegebene mehrbändige Werk zielte darauf ab, Wege aus der Sta-

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Eckstein, Otto gnation der U.S. Wirtschaft in der Mitte der fünfziger Jahre zu finden, und legte einen der Grundsteine für die amerikanische Wirtschaftspolitik der frühen sechziger Jahre. Als Mitglied des Council of Economic Advisers unter Präsident Johnson entwickelte er sich zu einem der geistigen Väter der U.S. Wirtschaftspolitik. Aus dieser Zeit stammt auch sein einflußreiches Lehrbuch Public Finance (1964), das mehrmals wiederaufgelegt wurde. Seit Mitte der 1960er Jahre setzte Eckstein mehr und mehr ökonometrische Methoden ein. Die damals beginnende dramatische Verbilligung der computergestützten Datenveraibeitungszeiten ermöglichte es, umfassende ökonometrische Informationssysteme zu schaffen, wie etwa Datenbanken, spezielle Software und Makrosimulationsmodelle. Zusammen mit Donald B. Marren gründete Eckstein deshalb 1968 die Firma Data Resources Inc. (DRI), die sich bald zum weltweit größten Anbieter ökonomischer Informationen entwickelte. Vor Gründung von DRI wurden makroökonometrische Modelle ausschließlich in der Forschung verwendet. Eckstein nutzte sie nun auch kommerziell als Entscheidungshilfen in staatlichen und privaten Organisationen. Ein wesentlicher Teil der DRI-Studien bestand in der Schätzung wichtiger Struktuiparameter der U.S. Volkswirtschaft und in der Analyse der Wirkung wirtschaftspolitischer Maßnahmen auf die volkswirtschaftliche Leistungskraft. Dank der ökonometrischen Modellierung konnten nun die Auswirkungen wirtschaftspolitischer Maßnahmen quantifiziert werden, während vorher nur eine grobe qualitative, oft durch ideologische Vorurteile geprägte, Abschätzung möglich war. Eckstein sah jedoch auch mögliche Gefahren der Quantifizierung, wenn sie etwa zu einer scheinbaren Sicherheit führt und somit Wirtschaftspolitiker zu falschen Schlußfolgerungen verleitet. Auf der anderen Seite betonte Eckstein aber auch die Tatsache, daß es kein Monopol für die Produktion volkswirtschaftlicher Zahlen gibt. Vielmehr beruhen die Forschungen einer Reihe von Institutionen auf ökonometrischen Modellen. Da dabei unterschiedliche Datengrundlagen und theoretische Ansätze verwendet werden, sollten die Gefahren der Quantifizierung auch nicht überschätzt werden. Unter Ecksteins Führung gewann DRI eine bedeutende Rolle auf dem Weltmarkt für ökonomische Informationssysteme.

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1979 wurde DRI eine Tochtergesellschaft von McGraw-Hill, Inc. Eckstein leitete die Entwicklung des DRI-Modells der U.S. Volkswirtschaft und verantwortete die makroökonomischen Prognosen. Durch seine Arbeiten beeinflußte er wirtschaftspolitische Entscheidungsträger in Industrie und Verwaltung. Freunde und Gegner bezeichneten ihn als einen der fähigsten Exponenten der Keynesianischen Makroökonomie. Seine Arbeiten sorgten mit dafür, daß große makroökonometrische Modelle für viele Jahre als mainstream approach zum Verständnis konjunktureller Entwicklungen Anerkennung fanden. Wenn sich auch die Vorhersage konjunktureller Wendepunkte stets als schwierig erwies, galten bis zur Mitte der 1970er Jahre die mit Hilfe dieser Modelle aufgestellten kurz- und mittelfristigen Prognosen als recht verläßlich. Deshalb vertrauten manche Wirtschaftspolitiker darauf, daß eine Fernsteuerung der Volkswirtschaft möglich und auch praktisch durchführbar sei. Die Erfahrung der Rezession des Jahres 1975 ließ jedoch viele MakroÖkonomen am Erfolg herkömmlicher ökonometrischer Modelle zweifeln. Wie sich Eckstein kurz vor seinem Tode erinnerte, war für ihn diese Rezession eine „Wasserscheide" in der ökonometrischen Modellierung der amerikanischen Volkswirtschaft. Keines der damals bekannten Modelle hatte die tiefste Rezession seit Ende des Zweiten Weltkriegs prognostiziert. Eckstein und seine Mitarbeiter überarbeiteten auf diesen Schock hin das DRI-Modell, dessen revidierte Version Eckstein in seinem 1983 veröffentlichten Buch The DRI Model of the U.S. Economy zusammenfassend darstellt. Dieses letzte große Werk bildet die Synthese vieler seiner früheren Arbeiten. In der Tat ist das DRI-Modell eines der umfassendsten makroökonometrischen Modelle, das je entwickelt wurde. Mehr als 25 Spezialisten waren mit dem Modell vollzeitbeschäftigt, das mehr als 800 Gleichungen umfaßte und zu den verschiedenartigsten Simulationen der U.S. Wirtschaft verwendet wurde. Eckstein erreichte mit diesem Modell zwei seiner wichtigsten wissenschaftlichen Ziele: (1) einen allgemeinen Rahmen für wirtschaftspolitische Analysen zu schaffen, und (2) diesen Rahmen zur Untersuchung praktischer ökonomischer Probleme zu nutzen.

Ehrlich, Otto Hild Seit Mitte der siebziger Jahre vertraute Eckstein den Möglichkeiten staatlicher Nachfragesteuerung immer weniger. Dies zeigt sich in seinen letzten Arbeiten, insbesondere in seiner Studie Core Inflation (1981), deren eher pessimistische Ergebnisse auf eine Erwartung der „Kerninflation" hindeuten. Einen Ausweg bieten nach Eckstein eine angebotsorientierte ι Wirtschaftspolitik, verstärkter Wettbewerb, Inve^titionsanreize, und vor allem Steuererleichterungen, die zu höherem Wachstum und mehr Produktivität fuhren sollen. Wenn sich Eckstein gegen Enae seines Lebens auch eher einer angebotsorienqerten Wirtschaftspolitik zuneigte, so folgte er doch nie einem damals modischen Trend, der glaubte, die Erkenntnisse von Keynes und Schumpeter ignorieren zu können. Natürlich hat sich die MakroÖkonometrie seit dem Tode Ecksteins im Jahre 1984 weiterentwickelt. Aus heutiger Sicht, in der Probleme der Modellspezifikation, Endogenisierung von Politikvariablen, zeitabhängige Parameter, nichtstationäre Prozesse und (Reintegration im Mittelpunkt des makroökonometrischen Forschungsinteresses stehen, fällt besonders auf, da8 im DRI-Modell und in den darauf basierenden Veröffentlichungen viele Verhaltensgleichungen nicht explizit angegeben wurden, so dafi ihre ökonometrische Validierung nicht überprüft werden kann. Umfassende makroökonometrische Modelle werden heute weniger in der Forschung, sondern vielmehr - und immer noch mit großem (auch kommerziellem) Erfolg - in der Politikberatung verwendet. Kurzund mittelfristige Vorhersagen stehen dabei im Vordergrund. Der Traum von verläßlichen langfristigen Vorhersagen und dem Ende unerwünschter konjunktureller Schwankungen hat sich nicht erfüllt. Es bleibt jedoch Ecksteins Einsicht, daB die Arbeit mit ökonometrischen Modellen Wirtschaftsforschem und -politikern Disziplin auferlegt, und daß sie helfen kann, wirtschaftspolitische Diskussionen auf eine rationale Grundlage zu stellen. Im Gegensatz zu ideologischen oder rein wirtschaftstheoretisch begründeten Ansätzen zur Politikberatung fördern ökonometrische Analysen ein tieferes Verständnis wirtschaftlicher Vorgänge, sie vermitteln aber auch ein Gefühl der Bescheidenheit und Vorsicht. Ecksteins Vermächtnis besteht in einem Versuch zum Verständnis ökonomischer Prozesse, das nicht auf persönlichen Vorurteilen beruht, sondern auf logischer Konsistenz und empirischer Geltung.

Schriften in Auswahl: (1958a) Multiple Purpose River Development. Studies in Applied Economic Analysis (zus. mit J.V. Krutilla), Baltimore. (1958b) Water Resource Development. The Economics of Project Evaluation, Cambridge, Mass. (Diss.). (1959) Employment, Growth and Price Levels, Joint Economic Committee, U.S. Congress, Washington, D.C. (1964) Public Finance, New York (4. Auflage, 1979). (1967) Studies in the Economics of Income Maintenance (Hrsg.), Washington. (1970) The Econometrics of Price Determination (Hrsg.), Washington. (1976) Parameters and Policies in the U.S. Economy (Hrsg.), Amsterdam. (1978) The Great Recession, Amsterdam. (1981) Core Inflation, New York. (1983) The DRI Model of the U.S. Economy, New York. Quelle: Β Hb Π. Gerhard Wagenhals

Ehrlich, Otto Hild, geb. 29.9.1892 in Wien, gest. 22.5.1979 in Plainfield, New Jersey Von 1911 bis 1914 und 1918/19 studierte Ehrlich, Sohn jüdischer Eltern, Jura an der Universität Wien. Zwischen 1914 und 1918 diente er im Ersten Weltkrieg als Leutnant in der ÖsterreichischUngarischen Armee. Nach seiner Promotion zum Dr. iur. 1919 übernahm er einen gehobenen Posten in der Allgemeinen Depositenbank Wien, den er bis 1925 bekleidete. Im Jahr 1926 ging er als Leiter des Volkswirtschaftlichen Bereiches zur Volkshochschule Volksheim, Wien. Während dieser Zeit hielt er auch an anderen Volkshochschulen und bei verschiedenen Organisationen der Gewerkschaften Vorlesungen über unterschiedliche ökonomische Themen, wobei er ein besonderes Gewicht auf Monopoltheorie legte. 1934 gab er die Tätigkeit an der Volkshochschule auf, um eine Werbeagentur zu gründen und zu leiten. Nach dem 'Anschluß' Österreichs wurde 1938 sein gesamter Besitz beschlagnahmt und seine Familie aus ihrem Hause vertrieben. Nachdem ihm bereits zweimal die Deportation in ein Konzentrationsla-

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Ehrlich, Otto Hild ger gedroht hatte, emigrierte Ehrlich 1939 in die USA. Dort arbeitete er zunächst (1939/40), auch mit Unterstützung durch Empfehlungsschreiben von -» Joseph A. Schumpeter und Ludwig von Mises, bei verschiedenen akademischen Institutionen. 1940 und 1941 leitete er als Business Manager die Shady Hill Press, deren Mitbegründer er war. Im Jahr 1941 erhielt er eine Stelle als Instructor in Economics am Brooklyn College, New York, die er bis 1947 inne hatte. Ab 1946 war er Assistant Professor am City College, New York und Fakultätsmitglied der New York University; ab 1932 Associate Professor und ab 1956 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1958 Professor of Economics an der Graduate School of Aits and Sciences. 1952 gründete er die Economic Abstracts, deren Herausgeber und Leiter er bis 1956 war. Auch nach seiner Emeritierung blieb Ehrlich aktiv, zunächst (1958/59) indem er als Part Time Professor und Lecturer die Wiederaufnahme der ökonomischen Theorie und die erstmalige Aufnahme von Ökonometrie in das Curriculum der Graduate School durchsetzte; dann übernahm er 1959 eine Teilzeitprofessur am Uppsala College in East Orange, N.J., die 1960 zur vollen Professur erweitert wurde. 1961 gab er diese Tätigkeit wieder auf. Dennoch zog sich Ehrlich nicht aus dem akademischen Leben zurück: So hielt er in den Jahren 1958 bis 1962 einige Multi-Media Vorlesungen über „Ten Great Composers" und bereiste von 1962 bis 1965 die Bundesrepublik Deutschland, um an verschiedenen Universitäten und Forschungsinstituten Gastvorlesungen zu halten. Bei seiner Arbeit spezialisierte Ehrlich sich von Beginn an besonders darauf, ähnlich wie Otto Neurath zur selben Zeit, durch den innovativen Gebrauch multimedialer Methoden abstrakte ökonomische Zusammenhänge möglichst anschaulich darzustellen. Dies zeigte sich bereits in den 1930er Jahren, als er fur seine Vorlesungen Filme über Monopole einsetzte. Eine bemerkenswerte Fortsetzung fand dies in seinem 1943 erschienenen Buch Uncle Sam versus Inflation, in dem mit Hilfe von Cartoons - die zwar nicht von ihm selbst gezeichnet, wohl aber von ihm konzipiert waren - die Auswirkungen und die Bekämpfung von Inflation in den Vereinigten Staaten dargestellt wurde.

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Anfang der 1920er Jahre war Ehrlich an einem bemerkenswerten Projekt beteiligt: Ein aus Österreich stammender Amerikaner (Edward A. Filene) hatte einen Preis für die besten wirtschaftspolitischen Empfehlungen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation seines Heimatlands gestiftet. Dieser wurde nun unter der gesamten Bevölkerung Österreichs ausgeschrieben und erzielte eine Vielzahl äußerst heterogener Einsendungen. Ehrlich war Mitarbeiter der Kommission, die die Aufgabe hatte, diese Einsendungen zu ordnen und zu beurteilen; die Auswertung dieser Arbeiten wurde 1926 in dem Buch Kann Österreich geholfen werden? veröffentlicht. Inhaltlich befaBte sich Ehrlich überwiegend mit makroökonomischen Problemen wie monetärer Außenwirtschaft, dem Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, sowie der Transmission monetärer Impulse im Verlauf von Konjunkturzyklen. Dabei verband er konjunkturtheoretisches Gedankengut in der Schumpeterschen Tradition mit der Vorstellung eines funktionierenden Phillipskurven trade-offs. Ehrlich betonte die Rolle der Erwartungen der Unternehmen bei der Entstehung von Konjunkturzyklen. So sollte die Fiskalpolitik durch das Schließen der Nachfragelücke nicht nur die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, sondern im gleichen Zuge auch die Erwartungen der Unternehmen stabilisieren. Als größte Gefahr für einen stabilen Geldwert blieben dann vor allem Monopolisierungstendenzen auf den Arbeits- und Gütermärkten. In seinem letzten Lebensabschnitt entwickelte Ehrlich ein besonderes Interesse an der Analyse des Wertes der Zeit, zu einer eigenen Veröffentlichung zu diesem Thema kam es jedoch nicht mehr. Schriften in Auswahl: (1926)

(1942)

Kann Österreich geholfen werden? Aus 696 Arbeiten zum Preisausschreiben Edward A. Filene's. Wien. Uncle Sam versus Inflation, New York.

(1956)

Other Countries' Economists. In: Economia Internazionale, Bd. 9, S. 87-102.

(1961)

Unvollkommene Synchronisierung zwischen den Volkswirtschaften Europas und der USA, in: Wirtschaftsdienst, Bd. 2, S. 69-78.

Ehrmann, Henry W. (1968)

Inflation in the United States, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 100, S. 226-257.

Quellen: Β Hb II; AEA Thomas Keil

Ehrmann, Henry W. (Heinrich Walter), geb. 10.3.1908 in Berlin Nach dem Abitur am Französischen Gymnasium in Berlin studierte Ehrmann Rechtswissenschaften zunächst an der Universität Berlin und dann in Freiburg, wo er 1928 das Staatsexamen ablegte und 1932 bei dem Arbeitsrechtler H. Hoeniger mit einer Studie über den kollektiven Tarifvertrag promovierte. Seine Ausbildung im Justizdienst der Weimarer Republik muBte er 1933 abbrechen. Wenn er als Jurist und späterer prominenter Politologe auch nicht zu den Wirtschaftswissenschaftlern zu zählen ist, so beschäftigen sich viele seiner tagesaktuellen Publikationen in den dreißiger Jahren im französischen Exil und später seine politikwissenschaftlichen Analysen nach 1940 in den USA mit ökonomischen Problemen oder Grenzbereichen der politischen Ökonomie. Als Mitglied der kleinen intellektuellen sozialistischen Gruppe Neu Beginnen, die von jüngeren Dissidenten der großen Arbeiterparteien, SPD und KPD, gebildet worden war und sich im Unterschied zu diesen schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung auf den aktiven Widerstand vorbereitet hatte, wurde Ehrmann im November 1933 verhaftet. Die Tarnung der Gruppe jedoch verhinderte, daß die Gestapo ihm etwas nachweisen konnte. Nach seiner Entlassung aus dem KZ Oranienburg im Frühjahr 1934 flüchtete er über die Tschechoslowakei nach Frankreich, wo er als Repräsentant von Neu Beginnen enge Kontakte zur sozialistischen Bewegung und besonders zu Leon Blum, dem Ministerpräsidenten der Volksfrontregierung von 1936, aufbaute. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Vertreter des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam und freier Journalist verschiedener Exil-Zeitschriften sowie der sozialistischen Presse diverser europäischer Länder. Seine zahlreichen Artikel, zumeist unter Pseudonym, über die wirtschaftliche und soziale Lage Frankreichs sollten die Grundlage seiner späteren politikwissenschaftlichen Interessen bilden. Der längeren Intemierung in Frankreich nach Kriegsausbruch entging

er durch die Einladung der New School for Social Research in New York, die ihm im Herbst 1940 die Einreise in die USA mit einem Non Quota-Visum ermöglichte. Neben seiner Tätigkeit dort als Forschungsassistent gab er für die American Friends of German Freedom, eine mit den politischen Zielen von Neu Beginnen sympathisierende Intellektuellengmppe, die bibliographische Zeitschrift In re: Germany heraus, welche mit ihren Kurzrezensionen die amerikanische Öffentlichkeit über NS-Deutschland wissenschaftlich zu informieren suchte. Von 1943 bis 1947 wirkte Ehrmann als Berater für Erziehungsfragen im Office of War Information, so bei der Reeducation deutscher Kriegsgefangener in den POW-Lagern, ehe er den Ruf auf eine Professur für Politikwissenschaft an der Universität Colorado erhielt. Dort blieb er bis 1961, anschließend lehrte er bis 1971 am Dartmouth College in Hanover, New Hampshire und von 1971 bis zur Emeritierung 1973 an der McGill University in Montreal. Daneben hielt er Gastprofessuren in Berkeley, an der Freien Universität Berlin, in Paris, Bordeaux, Nizza und Grenoble; von 1976 bis 1991 lehrte er jeden Winter an der University of California in San Diego. Außerdem war er in den USA in diversen Komitees tätig, so etwa als Fellow im Social Science Research Council 1952/53 und 1958/59, femer gehörte er dem Herausgebergremium der American Political Review an. Zahlreiche Ehrenpromotionen in den USA (Hartford University 1978), in Deutschland (Mannheim 1982) und Frankreich (Paris 1989) zeigen das internationale Renommee dieses Gelehrten. In seinen frühen wissenschaftlichen Arbeiten vor 1933 in Deutschland und anschließend in Frankreich untersuchte Ehrmann zunächst die Möglichkeiten der Gewerkschaften und des Tarifvertragssystems, gestaltend auf die soziale und ökonomische Entwicklung einzuwirken. Diese Perspektive erweiterte sich später zu umfassenden Analysen der Strategien und Wirkungen von Interessengruppen im politischen Prozeß. Im Mittelpunkt stand dabei die Entwicklung in Frankreich seit den 1930er Jahren, so zum Beispiel in seinem großen Werk Organized Business in France, das dem Einfluß der Wirtschaftsorganisationen auf die französische Wirtschaftspolitik nach geht. Dieser Fokus Frankreich wiederum diente als Folie für seine international vergleichenden Untersuchun-

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Elsas, Moritz Julius gen, mit denen er als Experte für Interessengruppen und ihre Politik bekannt wurde. Schriften in Auswahl: (1932) Der mehrgliedrige Tarifvertrag, Mannheim. (1932) Recht auf Abwehrkampf bei Verletzung eines mehrgliedrigen Tarifvertrags, in: Arbeitsrecht, Bd. 19, S. 400-418. (1937) Devaluation und Wirtschaftslage im Volksfront-Frankreich, in: Rote Revue, Zürich, S. 85 ff. u. 397 ff. (1941) The Blum Experiment and the Fall of France, in: Foreign Affairs, Bd. 20, S. 152-164. (1947) French Labor from Popular Front to Liberation, New York. (1957) Organized Business in France, Princeton. (1958) Interest Groups in Four Continents, Pittsburgh. (1976) Comparative Legal Cultures, Englewood Cliffs, N.J. (1983) Constitutional Democracy. Essays in Comparative Politics. A Festschrift in honor of Henry W. Ehrmann, hrsg. v. Fred Eidlin, Boulder, Col. (mit Bibliographie). Quellen: Β Hb Π; N1 Ehrmann, SUNY Albany. Claus-Dieter Krohn

Elsas, Moritz Julius, geb. 25.12.1881 in Frankfurt a.M., gest. 18.4.1952 in London Elsas heiratete 1912 in London Esther Margaret Firnberg und führte von da an anstelle von Julius als zweiten Vornamen John. Er hatte zwei Kinder. Elsas promovierte 1918 - vermutlich in Frankfurt a.M. - zum Doktor der Staatswissenschaften und betätigte sich später als Privatgelehrter. Schwerpunkte seines wissenschaftlichen Wirkens waren wirtschaftsstatistische und -geschichtliche Fragestellungen; großen Wert legte er dabei insbesondere auf die wirtschaftstheoretische Fundierung seiner Überlegungen. Elsas entwickelte als erster, und damit auch vor dem Statistischen Reichsamt, einen Preisindex der Lebenshaltung. Von 1919 bis 1924 berechnete er Indexziffern über die Kosten der Lebenshaltung einer vierköpfigen Arbeiterfamilie, zunächst fur

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Frankfurt a.M. sowie Berlin und später für eine Reihe weiterer deutscher Städte. Er verfolgte damit insbesondere die Absicht, eine möglichst objektive Grundlage für die Tarifauseinandersetzungen zur Verfügung zu stellen. Pioniercharakter hat auch das zweite längerfristig angelegte Projekt von Elsas: Von 1924 bis zu seiner Emigration im Jahre 1933 berechnete er Monat fur Monat einen Index des sozialen Wohlstands, der sich als gewogenes arithmetisches Mittel aus einem Index des Massenwohlstands und einem Kapitalindex ergibt. Dabei erfafit ersterer die Entwicklung der Lohneinkommen, letzterer die Entwicklung von Umfang und Qualität der Kapitalausstattung. Elsas versucht somit die Entwicklung des sozialen Wohlstands über wenige grundlegende Symptome und nicht, wie schon damals üblich, über möglichst viele Folgeerscheinungen zu operationalisieren. Er liefert damit einen sehr interessanten Beitrag zu einer Diskussion, die bis heute fur die Wohlfahrts- und Sozialindikatorenforschung fundamentale Bedeutung hat. Ab 1929 arbeitete Elsas an einem Umriss einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland vom ausgehenden Mittelalter bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, der in drei Teilen zwischen 1936 und 1949 veröffentlicht wurde und in beträchtlichem Umfang Quellenmaterial für die Forschung zur Verfügung stellte. Dieses von der Rockefeiler Foundation Finanzierte Projekt war eingebettet in das Forschungsprogramm des Internationalen Wissenschaftlichen Komitees für die Geschichte der Preise, dem Elsas als Gründungsmitglied angehörte und dessen Vorsitzender der Rektor der London School of Economics, William Beveridge, war. Neben seiner jüdischen Herkunft waren dies und die Tatsache, dafi seine Frau aus London stammte, die Gründe dafür, daß Elsas 1933 nach England emigrierte, in London seine preis- und lohngeschichtliche Arbeit fortsetzte und 1935 nach reiflicher Überlegung das Angebot einer Stelle als Sachverständiger für die Kontrolle der öffentlichen Gesellschaften in Ankara ablehnte. Dieses Angebot hatte ihm Fritz Baade vermittelt; die Aufgabe übernahm dann Ernst Reuter, der spätere Berliner Bürgermeister. In England wurde er Mitarbeiter von J.M. Keynes, war für den Manchester Guardian tätig, untersuchte im Auftrag des Population Investigation Committee die dortige Wohnsituation vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und veröffentlichte die Ergebnisse in zwei Bü-

Ellis, Walter Alfred ehem. Von 1939 bis 1940 arbeitete er in einem Komitee der London School of Economics mit, das im Auftrag des National Institute of Economic and Social Research das Volkseinkommen in Großbritannien insbesondere von 1924 bis 1938 durchleuchten sollte. 1948 übernahm er Forschungsaufgaben für das Cabinet Office in London. Abgerundet wird das wissenschaftliche Lebenswerk von Elsas durch Beiträge zur Währungspolitik und zu Indikatoren zur Beschreibung der wirtschaftlichen Situation der Baumwollindustrie. Auch in diesen Beiträgen wird das Charakteristische seines Arbeitsstils deutlich: Er setzt zumeist an konkreten wirtschaftspolitischen Problemstellungen an, bemüht sich für deren Lösung möglichst objektive quantitative Informationen bereitzustellen und beweist dabei hohe Originalität. Erwähnenswert ist schließlich noch, daß er bereits früh viele internationale Kontakte besaß, jedoch in keinem akademischem Netzwerk verankert war. Schriften in Auswahl: (1919-1923)Der Stand der Kosten der Lebenshaltung am ... Indexziffern über die Kosten der Lebenhaltung einer vierköpfigen Familie ... Ermittelt und bearbeitet von Moritz Elsas, Frankfurt a.M. (1924 ff.) Ein sozialer Wohlstandsindex, Frankfurt a.M. (1928) Wohlstandsindex und sozialer Wohlstand, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 60, S. 86-102. (1933) Zur Methode der Preisgeschichte, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 94, S. 213-231. (1934) Volkswohlstand und Volkseinkommen. Messung des Wohlstands und Dynamik des Lohns, Leipzig. (1935) Price Data from Munich, in: Economic History, Bd. 3, S. 63-78. (1936) Cotton Indices (zus. mit B. Ellinger), in: The Economic Journal, Bd. 46 (1936-1949)Umriss einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland vom ausgehenden Mittelalter bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts (unter Mitarbeit von H. Vietzen u.a.), Lei-

(1942) (1947)

den: 1. Bd. 1936, 2. Bd. - Teil A 1940, 2. Bd. - Teil Β 1949. Housing before the War and after, London; 2. erw. Aufl. 1945. Housing and the Family, London.

Quellen: IFZ; L; Arnsberg, P. (1983): Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Bd. 3, Darmstadt. Ulrich Scheurle

Eltis, Walter Alfred, geb. 23.5.1933 in Warnsdorf (Tschechoslowakei) Im Jahr 1939 emigrierte Eltis nach Großbritannien, wo er nach seiner Schulzeit 1951-1953 als Offizier bei der Royal Air Force diente. Im Anschluß an seine Militärzeit studierte er bis 1956 am Emmanuel College in Cambridge Ökonomie und Schloß mit dem Bachelor of Arts ab. Für seine Leistungen im Studium eitaielt er den Adam Smith-Preis und wurde mit den First Class Honours in Economics ausgezeichnet. Eltis wechselte anschließend an die Universität von Oxford. Dort war er zuerst bis 1960 als Research Fellow am Exeter College und danach für drei Jahre als Dozent für Ökonomie am Keble College tätig. Zwischenzeitlich hatte er 1960 die Prüfung zum Master of Aits in Oxford abgelegt 1963 kehlte er an das Exeter College zurück und versah die Aufgaben eines Tutors in Ökonomie, bis er 1988 die Stelle des Generaldirektors im National Economic Development Office (NEDO) antrat, zu dessen Aufgaben die Förderung des Dialogs zwischen der britischen Regierung, den Arbeitgebern, den Gewerkschaften und den Banken gehört. Während seiner Zeit in Oxford verbrachte Eltis die Jahre 1976-1977 bzw. 1980 als Gastprofessor mit Forschungsaufenthalten an der Universität von Toronto und der Europäischen Universität in Florenz. Darüber hinaus war er zwischen 1974 und 1981 als Herausgeber der Oxford Economic Papers tätig. Die zentralen Schwerpunkte des wissenschaftlichen Werks von Eltis bilden die Kapitaltheorie, die Dogmengeschichte, die Wachstumstheorie sowie die Geld- und Finanztheorie bzw. -politik. Insbesondere seine wachstumstheoretischen Arbeiten zeichnen sich durch eine enge Beziehung zwischen dogmengeschichtlichen Kenntnissen und formal-theoretischer Orientierung aus. Während seiner ersten Studienjahre in Cambridge, wo

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Eltis, Walter Alfred u.a. Joan Robinson zu seinen akademischen Lehrern zahlte, richtete Eltis seine Interessen auf die Kapitaltheorie. Nach seinem Wechsel nach Oxford wurde er von Roy Harrod betreut, der ihm riet, ein Lehrbuch über den aktuellen Stand der Wachstumstheorie zu schreiben. 1963 erschien vorab ein erstes Kapitel unter dem Titel Investment, Technical Progress, and Economic Growth in den Oxford Economic Papers. Das komplette Buch Economic Growth: Analysis and Policy wurde 1965 veröffentlicht. Die weitere Beschäftigung mit kapital- und wachstumstheoretischen Fragestellungen führte 1973 zur Publikation von Growth and Distribution. Aufgrund seiner Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden, insbesondere neoklassischen Wachstumsmodelle, die als Folge der getroffenen Annahmen keinen EinfluB des Sparbzw. des Investitionsverhaltens auf die langfristige gleichgewichtige Wachstumsrate zuließen, entwickelte Eltis in diesem Buch bzw. seinem zuvor veröffentlichten Aufsatz The Determination of the Rate of Technical Progress (1971) eine 'Technical Progress Function', die eine Integration bzw. Weiterentwicklung der Arbeiten von Arrow und Kaldor darstellt. Im Gegensatz zu den traditionellen Ansätzen haben dabei die Investitionen einen dauerhaften EinfluB auf die Rate des technischen Fortschritts und damit auf das Gleichgewichtswachstum. Darüber hinaus beinhaltet das Modell eine eigenständige Investitionsfunktion, die den Wunsch zur Vermögensbildung mit der Investitionshöhe und der Profitrate verbindet. Eltis' wachstumstheoretische Arbeiten stellen damit einerseits eine Verbindung zwischen neoklassischen und (post)keynesianischen Elementen dar, andererseits können sie als Vorläufer der seit Mitte der achtziger Jahre entstandenen Modelle der sog. 'Neuen Wachstumstheorie' angesehen werden. Trotz der interessanten Ergebnisse und des positiven Echos in den Rezensionen im Anschluß an die Veröffentlichung des Buches (z.B. Sato 1974; Kennedy 1974) blieben die Überlegungen Eltis' in der wachstumstheoretischen Literatur weitgehend unbeachtet. Da Eltis seit Anfang der sechziger Jahre immer wieder für das National Economic Development Office in Großbritannien tätig war, befaßt sich ein großer Teil seiner Schriften mit den Konsequenzen staatlichen Eingreifens in den Wirtschaftsablauf. Der mit Sicherheit wichtigste Beitrag in diesem Zusammenhang ist das von ihm zusammen

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mit Robert Bacon verfaßte Buch Britain 's Problem. Too Few Producers (1976a). Nach Auffassung der Autoren waren die Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Großbritanniens Mitte der 1970er Jahre in den wachsenden öffentlichen Ausgaben in den sechziger und frühen siebziger Jahren zu suchen. Die Erhöhung des Staatsanteils führte zu einem Ressourcenentzug aus den produktiven Bereichen, insbesondere der Industrie, in die Teile der Volkswirtschaft, die durch ein geringeres Produktivitätsniveau bzw. niedrige Wachstumsraten gekennzeichnet waren. Die Ökonomie verschenkte somit Wachstumschancen, da das Produktionspotential tendenziell niedriger ausfiel, als es ohne den staatlichen Eingriff der Fall gewesen wäre. Des weiteren hatte die steigende Besteuerung des privaten Sektors negative Konsequenzen für die Investitionstätigkeit und damit für die Nachfrage nach Arbeit. Steuert nun der Staat dieser Unterbeschäftigung entgegen, wird ein akkommodierendes steigendes Geldangebot zu einer Erhöhung der Inflationsrate führen. Die theoretischen Grundlagen für diese Sichtweise der 'British Disease' sind in den Arbeiten von Adam Smith und Francois Quesnay zu finden. Die Privatwirtschaft wird in Analogie zum produktiven Sektor bei Quesnay als der Teil der Volkswirtschaft gesehen, der die anderen Bereiche finanziert. Insbesondere werden nur die privaten Investitionen als produktivitätssteigemd angesehen, während staatliche Ausgaben tendenziell konsumtiver Art sind. Diese auf den ersten Blick eingängige Beurteilung der Konsequenzen eines steigenden Staatsanteils läßt eine Reihe von Aspekten außen vor. Die Struktur der Staatsausgaben darf z.B. nicht vernachlässigt werden. Mittel, die in das Bildungswesen fließen, sind im Hinblick auf ihre Produktivitätseffekte anders zu beurteilen als Subventionen für nicht mehr wettbewerbsfähige Industriezweige. Trotz einiger Kritik von wissenschaftlicher Seite (vgl. z.B. Watson 1978, Artis 1977) stieß die Arbeit von Bacon und Eltis auf große Resonanz bei den verantwortlichen Politikern. Insbesondere die Wirtschaftspolitik von Maggie Thatcher wurde durch die Studie von Bacon und Eltis gerechtfertigt. Das Buch von Eltis und Bacon und die vor und nach dessen Veröffentlichung erschienenen Beiträge von Eltis zeigen zwei wichtige Elemente in seiner wissenschaftlichen Ausrichtung: zum einen eine über die Zeit hinweg zunehmende Skepsis gegenüber dem keynesianischen Gedankengebäu-

Eltis, Walter Alfred de, zum anderen das Bestreben, aus den klassischen Werken der Ökonomie Aussagen für das aktuelle Wirtschaftsgeschehen abzuleiten. Seine Vorbehalte im Hinblick auf die wirtschaftspolitische Umsetzung der keynesianischen Theorie wurden in The Failure of the Keynesian Conventional Wisdom (1976b) besonders deutlich. Eltis kritisierte vor allem die Annahme, daB eine Erhöhung der Staatsausgaben letztendlich immer zu einem höheren Beschäftigungsniveau fuhren wird, die weitgehende Vernachlässigung außenwirtschaftlicher Bedingungen sowie die seiner Auffassung nach sehr verkürzte monetäre Theorie in Keynes' General Theory bzw. in den Köpfen seiner Nachfolger. Letztere leide maßgeblich unter der Beschränkung auf Geld und Wertpapiere als den ausschließlichen Formen zur Vermögensanlage. Diese Vorwürfe, die sich mehr gegen den Lehrbuch-Keynesianismus der sechziger und siebziger Jahre und seine Anwendung durch die Träger der Wirtschaftspolitik wandten als gegen die Arbeiten von Keynes selbst, blieben erwartungsgemäß nicht ohne Gegendarstellung. So sah Lord Kahn (1977) in seiner Reaktion auf Eltis' Artikel dessen Kritik als eine recht eigenständige Version des Monetarismus an, die die Folge einer Fehlinterpretation des Keynesschen Theoriegebäudes sei. Die Kritik an der keynesianischen Wirtschaftspolitik in Großbritannien in den sechziger und siebziger Jahren basierte im wesentlichen auf Eltis' Interpretation der klassischen Werke der Nationalökonomie. In einer Reihe von Artikeln, die die Grundlage für das Buch The Classical Theory of Economic Growth (1984) bilden, setzte er sich vor allem mit der Erklärung wirtschaftlichen Wachstums auseinander. Eltis analysierte die Beiträge von Quesnay, Smith, Malthus, Ricardo und Marx sowohl unter theoretischen als auch wirtschaftspolitischen Aspekten. Neben der kritischen Darstellung der zentralen Elemente dieser Beiträge übersetzte er die Aussagen seiner Protagonisten in formal-mathematische Modelle, die für viele Ökonomen eine adäquatere Abbildung des Erklärungsgegenstands Volkswirtschaft sind als die häufig rein verbalen Darstellungen der Klassiker. Durch diese Transformation in die moderne Sprache der Mathematik und mittels des Vergleichs klassischer und moderner Theorien gelang es Eltis, die Aktualität der von ihm analysierten Modelle zu verdeutlichen. Dies zeigte sich schon auf den ersten Blick an den Themen, denen er be-

sondere Beachtung schenkte. Die Konsequenzen steigender Skalenerträge, wie sie von Smith und Marx untersucht wurden, oder die Frage nach der strukturellen Zusammensetzung der Volkswirtschaft sind heute ebenso relevant wie die Folgen des Akkumulationsprozesses und des technischen Fortschritts für die Entwicklung der Arbeitsnachfrage, die von Marx und Ricardo analysiert wurden. Auch die Rolle, die Malthus der effektiven Nachfrage zuwies, kann heute immer noch gewinnbringend diskutiert werden. Das Buch stellte insgesamt einen treffenden Beleg für Eltis' Überzeugung dar, daß einzelne Wirtschaftstheorien nicht für sich genommen falsch oder richtig sind, sondern daß immer gefragt werden muß, ob die Annahmen eines Modells sich im Einklang mit der Realität befinden. Werden die wirtschaftspolitischen Implikationen eines Ansatzes auf andere als die durch die ursprünglichen Annahmen gegebene Situation angewandt, ist das Scheitern der Wirtschaftspolitik vorprogrammiert Das Festhalten an einer einzigen, scheinbar richtigen Sichtweise volkswirtschaftlicher Zusammenhänge stellt somit keine erfolgversprechende Strategie zur Lösung ökonomischer Probleme dar. Dieses Verständnis über den Zweck und die Ausrichtung wirtschaftswissenschaftlicher Forschung prägte auch die Papiere, die von Eltis nach der Übernahme des Direktorenamts am NEDO verfaßt wurden und sich vielfach mit industriepolitischen und finanzpolitischen Themen befassen wie z.B. How Low Profitability and Weak Innovativeness Undermined UK Industrial Growth (1996) oder France's Free Market Reforms in 1774-6 and Russia's in 1991-3: The Immediate Relevance of L'Abbe de Condillac's Analysis (1993b). In letzterem verglich er Turgots Freigabe der Nahrungsmittelpreise mit dem Reformprozeß in Rußland. Die Schwierigkeiten, die sich in beiden Fällen bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln ergaben, wurden dabei anhand der Analyse des Abbe de Condillac untersucht. Hierbei wurde die Ursache für die mangelnde Versorgung der Bevölkerung in dem geringen Nutzen der Güter gesehen, die gegen die Produkte des primären Sektors getauscht werden konnten. Das Gesamtwerk von Eltis, das eine Reihe von Büchern und eine Vielzahl von Beiträgen in wichtigen Zeitschriften und Sammelbänden umfaßt und für das er 1990 von der Universität Oxford den Grad eines Doctor of Letters erhielt, bildet ein gutes Beispiel dafür, wie sich reine Wirt-

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Eppstein, Paul schaftstheorie, Dogmengeschichte und die Auseinandersetzung mit aktuellen wirtschaftspolitischen Fragestellungen produktiv miteinander verknüpfen lassen und voneinander profitieren können. Beeindruckend ist vor allem die schnelle und deutliche Reaktion der realen Wirtschaftspolitik Großbritanniens auf die Arbeiten von Bacon und Eltis in den siebziger Jahren, während die Wirtschaftstheorie ein Buch wie Growth and Distribution, das viele der aktuell in der Wachstumstheorie diskutierten Themen beinhaltet, weitgehend unbeachtet ließ.

Kennedy, Ch. (1974): [Besprechung von] Eltis, W.A.: Growth and Distribution, in: Economic Journal, Bd. 84, S. 196-197. Sato, R. (1974): [Besprechung von] Eltis, W.A.: Growth and Distribution, in: Journal of Economic Literature, Bd. 12, S. 917-918. Watson, W.G. (1978): Bacon and Eltis on Growth, Government, and Weifare, in: Journal of Comparative Economics, Bd. 2, S. 43-56.

Schriften in Auswahl: (1963) Investment, Technical Progress, and Economic Growth, in: Oxford Economic Papers, Bd. 15, S. 32-52. (1965) Economic Growth: Analysis and Policy, Hutchinson. (1971) The Determination of the Rate of Technical Progress, in: Economic Journal, Bd. 81, S. 502-525. (1973) Growth and Distribution, London. (1976a) Britain's Economic Problem: Too Few Producers, London (zus. mit Robert Bacon). (1976b) The Failure of the Keynesian Conventional Wisdom, in: Lloyds Bank Review, Bd. 121, S. 1-18. (1984) The Classical Theory of Economic Growth, London und New York. (1993a) Classical Economics, Public Expenditure and Growth, Aldershot. (1993b) France's Free Market Reforms in 1774-6 and Russia's in 1991-3: The Immediate Relevance of L'Abbe de Condillac's Analysis, in: European Journal of the History of Economic Thought, Bd. 1, S. 5-19. (1996) How Low Profitability and Weak Innovativeness Undermined UK Industrial Growth, in: Economic Journal, Bd. 106, S. 184-195.

Eppstein, Paul, geb. 4.3.1902

Bibliograhie: Artis, M. (1977): [Besprechung von] Bacon, R. und Eltis, W.A.: Britain's Economic Problem. Too Few Producers, in: Economic Journal, Bd. 87, S. 153-155. Kahn, R. (1977): Mr. Eltis and the Keynesians, in: Lloyds Bank Review, Bd. 124, S. 1-13.

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Quellen: AEA; Blaug; IFZ. Stephan Seiter

in Ludwigshafen, am 28.9.1944 im Lager Theresienstadt erschossen

Der Fabrikantensohn Eppstein studierte in Heidelberg Wirtschaftswissenschaften und Soziologie. Nach der Promotion 1923 mit der Arbeit Der Durchschnitt als statistische Fiktion machte ihn sein Doktorvater S.P. Altmann, der neben der Honoraiprofessur in Heidelberg zugleich das Direktorat des Volkswirtschaftlichen Seminars der Handelshochschule Mannheim innehatte, zum persönlichen Assistenten. In Mannheim lehrte Eppstein nach der Habilitation 1929 als Privatdozent bis zur Auflösung der Handelshochschule 1933 durch die Nationalsozialisten. Als typischer Vertreter der Heidelberger Schule, deren wissenschaftliches Interesse immer auch gezielt auf die Ausbildung künftiger Funktionsträger der neuen deutschen Demokratie gerichtet war, hielt er daneben seit 1925 wirtschaftswissenschaftliche Vorlesungen am stadtischen Fröbelseminar für Erzieherinnen in Mannheim, 1928 wurde er dort Direktor der Volkshochschule und ab 1930 zugleich Leiter der Erwerbslosenschule sowie Vorsitzender des städtischen Ausschusses für kulturelle Hilfe der Arbeitslosen. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme verlor Eppstein als Jude alle Ämter und die Privatdozentur. Mit hervorragenden Gutachten empfahlen ihn seine akademischen Lehrer an amerikanische Colleges; -» Eduard Heimann und Emil Lederer, der Gutachter seiner Habilitationsschrift gewesen war, versuchten, ihn an die University in Exile der New School for Social Research in New York zu holen. Doch Eppstein emigrierte nicht, weil ihm die 1933 gegründete Reichsvertretung der Deutschen Juden in Berlin die Leitung ihrer Auswanderungsabteilung übertragen hatte. Nach

Etzioni, Amitai der Reichspogromnacht 1938 bot ihm die New School erneut die Stelle eines Associate Professor an. Eppstein stellte jetzt eine Emigration für Anfang 1940 in Aussicht, um seine Aufgaben in der Reichsvertretung noch zu Ende fuhren zu können. Als die New School Ende 1940 ihr Angebot erneuerte, war er gerade von der Gestapo verhaftet worden. Aus Pflichtgefühl, Loyalität gegenüber der jüdischen Gemeinde und deutschem Legalitätsdenken suchte er auch nach seiner Freilassung 1941 nicht zu fliehen, eist recht nicht, als im Oktober 1941 das offizielle Ausreiseverbot für Juden ergangen war. Anfang 1943 wurde er in das Lager Theresienstadt deportiert, wo er nach einer Rede vor Mitgefangenen, die der Lagerverwaltung mißfiel, am 28.9.1944 erschossen wurde. Eppsteins wissenschaftliches Werk stand zunächst im Zeichen pädagogisch-praktischer Vermittlung und umfaßte in der allgemeinen Wirtschaftstheorie und der Statistik die Darstellung elementarer Tatsachen, Begriffe und Zusammenhänge. Dabei ist zu berücksichtigen, daB er über viele Jahre während der Assistentin und als Privatdozent in Mannheim und Heidelberg die Lehraufgaben seines schwerkranken Lehrers Altmann übernehmen mußte. Mit seiner Habilitation wandte er sich wie viele jüngere Wissenschaftler Ende der zwanziger Jahre dem neuen Forschungsgebiet der Konjunkturanalyse zu. Seine Beiträge hierzu liefern den originellen Ansatz einer frühen Entwicklungstheorie, in der die krisenfreie 'Verstetigung des Wachstums' durch wirtschaftspolitische Eingriffe im Zeichen organisierter Märkte im Mittelpunkt steht. Mit seiner Unterscheidung zwischen normativer und diagnostischer Symptomatik richtete sich Eppstein gegen jede axiomatischen Vorstellungen über den WirtschaftsprozeB, die etwa den Zyklus nur als Abweichung von der Statik oder einem angenommenen gleichmäßigen Entwicklungspfad ansahen. Sein Plädoyer fur die diagnostische Symptomatik meinte die Einsicht, daB der Zyklus eine dem industriellen WachstumsprozeB innewohnende und unvermeidbare Tatsache sei, für den in genauer empirischer Beobachtung seines jeweiligen Ablaufs adäquate Steuerungsinstrumente zu entwickeln seien. Obgleich das alles nur in Ansätzen erscheint, zeigen diese Analysen, welch innovativer Forschungsansatz bei Eppstein 1933 abrupt abgebrochen wurde.

Schriften in Auswahl: (1923) Der Durchschnitt als statistische Fiktion. Ein Beitrag zur statistischen Methodologie auf der Grundlage der Philosophie des Als - Ob (Diss., unveröff.). (1925) Volkswirtschaftliches Denken. Bemerkungen zur Frage des Studienaufbaus aus Theorie und Praxis, in: Akademische Nachrichten der HandelsHochschule Mannheim, Nr. 6. (1928) Die Fragestellung nach der Wirklichkeit des historischen Materialismus, in: Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 60, S. 449-507. (1930) Ökonomische Produktivität, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 132, S. 481-499. (1933) Die Symptomatik in der Konjunkturforschung, Veröffentlichungen der Frankfurter Gesellschaft für Konjunkturforschung, NF, Bd. 6, Leipzig (Habil). (1933) Normative Symptomatik, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 138, S. 210-224. Quellen: SPSL 230/6; ACEP 2/111; N1 Seligman 54/142. Claus-Dieter Krohn

Etzioni, Amitai, geb. 4.1.1929 in Köln. Etzioni wurde als Werner Falk geboren Im Jahr 1936 emigrierte er nach Palästina. In Jerusalem Schloß er 1956 an der Hebrew University sein Studium ab. Seit 1957 lebt und arbeitet Etzioni in den USA. Nachdem er 1958 seinen Ph.D. an der University of California in Berkeley erworben hatte, las er Soziologie an der Columbia University. Nach zwei Jahren als Assistant-Professor und sechs Jahren als Associate Professor nahm er ab 1967 die Position des Professors für Soziologie an dieser Universität ein. Hier blieb Etzioni bis 1980. Während dieser Zeit war er auch Vorsitzender der Fakultät (1969-1971). In den Jahren 1978 und 1979 war Etzioni Stipendiat an der Brookings Institution in Washington. Von der Regierung der Vereinigten Staaten erreichte ihn hier ein Ruf ins Weiße Haus. Dort war Etzioni 1979 bis 1980 als einziger Soziologe ein führender Berater von Präsident Carter. Von 1987 an war er zwei Jahre

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Etzioni, Amitai Gastprofessor an der Harvard University. Etzioni gründete 1989 die International Society for the Advancement of Socio-Economics. In den ersten beiden Jahren war er Präsident dieser Einrichtung. Heute ist er dort Ehrendozent. Etzioni lehrt derzeit Soziologie an der George Washington University. Etzioni ist ein interdisziplinär arbeitender Wissenschaftler. In der lange Zeit vernachlässigten Schnittmenge zwischen Soziologie und Ökonomie findet er nicht nur seine Heimat, dieser Forschungsbereich zieht sich wie ein roter Faden durch seine wissenschaftliche Laufbahn. Zwar war die Soziologie jederzeit seine „große Liebe", doch bereits während seines Studiums an der Hebrew University beschäftigte er sich mit den Wirtschaftswissenschaften. Während Martin Buber und Jacob Talmon seine ersten Professoren waren, lehrte Don Patinkin ihn Ökonomie. Das interdisziplinäre Interesse begleitete Etzioni auch nach Berkeley, wo er am Institut fur industrielle Beziehungen beschäftigt war. Hier wurden die ökonomischen und sozialen Grundsteine der Demokratie gelehrt. Gleichzeitig waren Industriesoziologie wie auch Gewerkschaftsstrukturen Schwerpunktthemen seines Studiums. Auch an der Columbia University fand sich Etzioni in einem Umfeld wieder, das sich mit der wissenschaftlichen Verknüpfung von soziologischen und ökonomischen Fragen beschäftigte. So arbeitete Etzioni in seiner zwanzigjährigen Wirkungszeit an dieser Universität nahezu Tür an Tür mit Gary Becker. Heute steht Etzioni auf Platz neun der ZitationsRangliste aller in diesem Jahrhundert geborenen Soziologen. Bereits eine Studie aus dem Jahr 1982 piazierte Etzioni unter die 30 führenden Experten, die im vorangegangenen Jahrzehnt den Hauptbeitrag zur Public Policy geleistet hatten. Etzioni wurde jedoch nicht zu jeder Zeit in dieser Weise geschätzt. Auf der Suche nach einer besseren Gesellschaft schrieb Etzioni The Active Society (1968). Doch auf diese herausragende und umfangreiche Studie erhielt Etzioni zunächst wenig Anerkennung. Sein Werk wurde in erster Linie deshalb unterschätzt, da es nicht in die gängigen Strömungen der Sozialwissenschaften einzuordnen war. Bis in die sechziger Jahre besaß der strukturelle Funktionalismus von Talcott Parsons die beherrschende Stellung in dieser Disziplin. Danach wurde dieses Paradigma von neuen Theorien wie dem Symbolischen Interaktionismus und dem soziologischen

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Behaviorismus entthront, ohne jedoch vollständig ersetzt zu werden. Etzionis Active Society konnte nicht in diese Paradigmen eingeordnet werden; dieses Werk war eine Synthese aus Erkenntnissen des strukturellen Funktionalismus mit der kybernetischen Systemtheorie, aber auch der Konfliktsoziologie. Im Hintergrund stand dabei immer Martin Bubers Philosophie der Intersubjektivität sowie seine existenzialistische Vernunft Uber die Authentizität des menschlichen Lebens in der Gesellschaft. Letztlich machten Aspekte interaktionistischer und phänomenologischer Kritik Etzioni zu einer systematischen Alternative zu Parsons. Es ist kein Wunder, daß sich Etzioni nach diesem ehrgeizigen Werk, das so wenig Anerkennung fand, zunächst einem anderen Feld zuwandte. Er konzentrierte seine Anstrengungen in der Folgezeit weniger auf die wissenschaftlich-abstrakte Ebene, sondern auf reale, politische Soziologie und politische Programme. Dies schlug sich in der Betrachtung der realen Entwicklung relevanter Volkswirtschaften an der Brookings Institution nieder und gipfelte in seiner Beratungstätigkeit fur die US-amerikanische Regierung. Als Gastdozent an der Brookings Institution war Etzioni an einer Einrichtung beschäftigt, welche die Ökonomie mit anderen Bereichen der Sozialwissenschaften verband. Für ihn waren auch weiterhin die soziologische und die wirtschaftswissenschaftliche Ebene untrennbar miteinander verflochten. Nun arbeitete er an einem Konzept der Reindustrialisierung. Etzioni argumentierte zu dieser Zeit, daß die USA sowie Großbritannien eine neue Kategorie von Ländern bildeten. Neben den bisherigen Entwicklungsländern und den entwikkelten Volkswirtschaften existierten dort Ökonomien, die sich zwar entwickelten, aber ihre Entwicklungspotentiale nicht ausschöpften. Es existierten vernachlässigte Elemente, die für einen dynamischen Entwicklungsprozeß vonnöten sind: Energie, Transportwesen, Humankapital, Rechtsund Finanzinstitutionen, Kapitalstock, Forschung und Entwicklung. Lediglich Kommunikation war ein bisher nicht vernachlässigter Sektor in den USA. Einen Höhepunkt und gleichzeitig einen Wendepunkt in Etzionis Laufbahn stellte die Zeit als Regierungsberater dar. Das Wirken Etzionis im Beratungsstab von Präsident Carter dauerte am Ende der siebziger Jahre aus parteipolitischen Gründen lediglich zwei Jahre. Trotzdem hatte er in dieser

Etzioni, Amitai Zeit ein prägendes Erlebnis, das ihn zu einem Soziookonomen werden ließ. Bereits im zweiten Jahr - einem Wahljahr - kam es angesichts hoher Inflations- und niedriger Wachstumsraten zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb des Beratungsstabes. Während die neoklassischen Ökonomen für ein ausgeglichenes Budget plädierten, wandte sich Etzioni als einziger Soziologe in diesem Stab gegen eine derartig restriktive Finanzpolitik. Seiner Meinung nach würde die Wirtschaft langfristige Schäden durch diese Politik davontragen. Beispielsweise würde die Qualität der Infrastruktur sinken. Eine dauerhafte Senkung der Wachstumsraten wäre letztlich die Folge. Etzioni unterlag in dieser Debatte. Nachdem Reagan zum Präsidenten gewählt wurde, nahm Etzioni einen Lehrstuhl an der George Washington University an. Die Auseinandersetzung mit neoklassischen Theoretikern und Praktikern bestimmt Etzionis Forschung bis heute in erheblichem Maße mit. Davon überzeugt, die Neoklassik sei das falsche Paradigma, eignete sich Etzioni das neoklassische Werkzeug an und begann an einer Kritik der Neoklassik zu arbeiten. Beeindruckt von der Perfektion dieser Sichtweise strebte er ein neues Paradigma an, das Aspekte anderer Sozialwissenschaften beinhaltete, die in der Neoklassik vernachlässigt wurden: Individual- und Gmppenpsychologie, Institutionen, historische Aspekte sowie die Rolle der Wertschätzungen. Sein 1988 erschienenes Werk The Moral Dimension formulierte einerseits den Anspruch der Interdisziplinarität und andererseits seine Kritik an der engen neoklassischen Sichtweise. Es war weniger auf abstrakte Fragen der soziologischen Theorie gerichtet, sondern thematisierte die politische Soziologie und politische Programme. Darüber hinaus knüpfte Etzioni mit seiner Kritik an Parsons' Utilitarismus an die Tradition von Dürkheims Kritik an Spencers Arbeitsteilung an. Es war nur folgerichtig, daß sich aus der Kritik an liberalem Gedankengut eine konstruktive Bewegung entwickelte: der Kommunitarismus. Etzioni ist nicht nur Gründer, sondern auch Direktor des kommunitaristischen Netzwerks. Ebenso ist er Herausgeber der kommunitaristischen Zeitschrift The Response Community: Rights and Responsibilities, die seit 1991 vierteljährlich erscheint. Der Kommunitarismus kann in der Debatte über die moralischen Grundlagen modemer Gesellschaften als Gegenlager der 'Liberalen' um Rawls gesehen werden. Letztere erkennen als normati-

ven Gerechtigkeitsmaßstab lediglich das allgemeine Prinzip gleicher Rechte, Freiheiten und Chancen an. Unter den heutigen Bedingungen des Wertepluralismus ist nach Rawls' Leitidee der Begriff der Gerechtigkeit nicht mit anderen Aspekten zu fassen. Die Kommunitaristen, wie auch deren Vertreter Etzioni, gehen dagegen von der Gemeinschaft aus, was dieser Bewegung ihren Namen gab. Es bedarf ihrer Meinung nach für eine gerechte Sozialordnung einer vorgängigen Rückbesinnung auf gemeinschaftlich geteilte Normen. Damit haben gemeinschaftliche Vorstellungen des Guten für die Kommunitaristen Vorrang vor der liberalistischen Idee von Rechten freier und gleicher Bürger. Letztlich stellt sich auch Etzioni die Frage nach der 'Lebensfähigkeit' moderner Gesellschaften und danach, inwieweit moralische Ressourcen für ein derart differenziertes Gemeinwesen notwendig sind. Diese Problemstellung läßt die beiden scheinbar gegensätzlichen Lager der Liberalen und Kommunitaristen wieder enger zusammenrücken. Der Schwerpunkt der Fragestellung hat sich gewandelt Relevant ist heute nach Etzioni nicht mehr, ob dem liberalen Freiheitsprinzip oder dem gemeinschaftlich Guten Priorität zu geben ist, sondern welche Kollektivnormen als notwendige Voraussetzung für Freiheits- und Gerechtigkeitsprinzipien gelten. Ziel der kommunitaristischen Bewegung und damit auch Forderung Etzionis ist die Stabilisierung der Gesellschaft durch die Propagierung gemeinsamer Werte bzw. durch die Stärkung des Wertebewußtseins. Dabei grenzen sich Etzioni und andere Kommunitaristen bewußt von den Vertretern eines religiösen Fundamentalismus ab. Diese streben ein geschlossenes Moralsystem an, während Etzioni einen moralischen Dialog fordert. Die kommunitaristische Bewegung besitzt zwar kein ökonomisches Programm, sehr wohl lassen sich aus ihrem Grundverständnis aber wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen ziehen. So steht die Lastenverteilung zwischen Armen und Reichen einer Gesellschaft im Mittelpunkt einer derartigen Betrachtung. Nur durch das Zugehörigkeitsgefuhl zu einer Gemeinschaft - so Etzioni in einem Interview in der Wochenzeitung Die Zeit - läßt sich eine ökonomische Umverteilung ohne Gewaltanwendung durchsetzen. Die Verknüpfung soziologischer und wirtschaftswissenschaftlicher Problematiken, die Etzioni bereits zu Beginn seiner wis-

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Eulenburg, Franz senschaftlichen Laufbahn erkannt hat, finden damit im Kommunitarismus ihren Höhepunkt. Etzioni trifft jedoch ebenso Aussagen über die Interdependenz der gesellschaftlichen und der politischen Entwicklung. Hier ist er pessimistisch, was die Überlebensfahigkeit der Demokratie angeht, wenn die Gesellschaft durch immer größere Verteilungsunterschiede gekennzeichnet ist. Eine Anhebung der Wohlfahrt aller auf das Niveau der westlichen Hemissphäre scheint für ihn unmöglich. Auf der anderen Seite sieht er die groBe Chance in der Informationsökonomie. Werden Informationen immer wichtiger für den Wohlstand, so kann deren Eigenschaft der Nichtrivalität im Konsum zur Befriedigung der Bedürfnisse größerer Teile der Menschheit beitragen, soweit es sich bei diesen Informationen zu einem größeren Teil um ein öffentliches Gut handelt. Durch die Betonung der soziologischen Sichtweise innerhalb der Ökonomie, ist es lediglich folgerichtig, daß Etzioni mit Marx übereinstimmt, der die Entfernung des Warenfetischismus aus den ökonomischen Beziehungen fordert. Die Forderung Etzionis, daß die Begegnung mit anderen Menschen einen größeren Nutzen stiften muß als das Tragen von Markenkleidung, kann als sozialpolitisches Ziel wie auch als modelltheoretische Prämisse aufgefaßt werden. Auch hier folgert er Auswirkungen auf die politische Ebene: Eine positive Anreizsetzung kann seiner Meinung nach einer Entdemokratisierung durch die notwendige Senkung des Wohlstandsniveaus entgegenwirken. Insbesondere in seinen Werken The Moral Dimension: Toward a New Economics (1988) und The Spirit of Community: The Reinvention of American Society (1993), aber auch in seinem neuesten Buch The New Golden Rule: Community and Morality in a Democratic Society (1997) kommen die kommunitaristischen Ideen Etzionis zum Ausdruck. Das bereits 1984 entwickelte Konzept, das lediglich in einem kleinen Kreis um Etzioni vorgetragen wurde, hat sich - dank der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien wie dem Internet - zu einem weltumspannenden Netzwerk entwickelt. Als Mittler zwischen Wissenschaft und realer Ideenumsetzung hat Etzioni gerade in der amerikanischen Gesellschaft große Vorteile. Seine Forderungen nach Moral und Reaktivierung des Gemeinsinns haben bereits bei Mitgliedern des US-Kongresses Anklang gefunden. Inwieweit jedoch diese gemeinschaftsorientierte Bewegung in Europa ein großes Echo finden

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wird, läßt sich zum heutigen Zeitpunkt schwer voraussagen. Schriften in Auswahl: (1961) A Comparative Analysis of Complex Organizations, New York. (1964) Modern Organizations, Englewood Cliffs, NJ.; dt: Übers.: Soziologie der Organisationen, München 1967. (1968) The Active Society, New York. (1982) An Immodest Agenda: Rebuilding America before the 21. Century, New York. (1984) Capital Corruption: The New Attack on American Democracy, New York. (1988) The Moral Dimension: Toward a New Economics, New York; dt. Übers.: Jenseits des Egoismus-Prinzips, Stuttgart, 1994. (1991) A Responsive Society: Collected Essays on Guiding Deliberate Social Change, San Francisco. (1993) The Spirit of Community: The Reinvention of American Society, New York; dt. Übers.: Die Entdeckung des Gemeinwesens, Stuttgart, 1995. (1996) The New Golden Rule. Community and Morality in a Democratic Society, New York; dt. Übers.: Die Verantwortungsgesellschaft, Frankfurt a M. 1997. Bibliographie: Etzioni, A. (1969): Social Analysis and Social Action, in: Horovitz, I.L. (Hrsg.): Sociological Selfimages: A Collective Portrait, Beverly Hills, S. 133-142. Piper, N. (1995): Beethoven teilen. Interview mit Amitai Etzioni, in: Die Zeit, Nr. 46 vom 10.11.1995. Sciulli, D. (1996): Macro Socio-Economics: From Theory to Activism. Festschrift for Amitai Etzioni, Armonk, N.Y. und London. Quellen: BHbD; Etzioni, A. (Brief vom Juli 1992) Jürgen Μ. Schechler

Eulenburg, Franz, geb. 29.6.1867 in Berlin, gest. 28.12.1943 in Berlin Eulenburg studierte an der Universität Berlin zunächst Medizin, dann Geschichte, Nationalökonomie und Philosophie und promovierte bei Gustav

Eulenburg, Franz Schindler mit einer Arbeit über die Innungen der Stadt Breslau vom 13. bis zum 15. Jahrhundert. In Schmollers Seminar Schloß er eine lebenslange Freundschaft mit Werner Sombart und Alfred Grodian, dem Begründer der Sozialhygiene. Nach praktischer Tätigkeit als Kaufmann und an den statistischen Amtern in Berlin und Breslau wurde er 1899 in Leipzig habilitiert. Dort war er zunächst als Privatdozent fur Nationalökonomie und Statistik, ab 1905 als außerordentlicher Professor tätig. 1917 wurde er als Ordinarius an die Technische Hochschule Aachen berufen, 1919 an die Universität Kiel, und 1921 an die Handelshochschule Berlin, wo er 1935 emeritiert wurde. Er unternahm danach Vortragsreisen nach Ungarn, Österreich, Rumänien und die Türkei, emigrierte aber nicht wie andere jüdische Schicksalsgenossen. Er wurde 1943 von der Gestapo „unter kümmerlichstem Vorwand" (Eisermann 1955, S. 252) verhaftet, zunächst im Kellergefängnis der Gestapo in der Prinz Albrecht Straße, später im Gestapogefängnis am Alexanderplatz festgehalten, verhört und insgesamt so behandelt, daß der Tod des bei guter Gesundheit Verhafteten am 28. Dezember 1943 festgestellt wurde. Eulenburg war in vielfaltiger Hinsicht ein Produkt des Althoffsystems in Preußen (vgl. Backhaus 1993), dessen Ziele, Formen und Errungenschaften gleichsam spätestens 1943 in jenem Gestapogefängnis ihren Untergang fanden. Als jüdischer Gelehrter profitierte er von der bewußt herbeigeführten Öffnung der dem Althoffsystem zugehörigen Universitäten. Alle seine Berufungen gingen von Hochschulen aus, die zu diesem System gehörten. Die Chancen des Schmollerschen Seminars, das seinerseits durch das Althoffsystem ermöglicht wurde, nutzte er und schuf ein außerordentlich umfangreiches Werk, das charakteristisch für die Historische Schule Theorie, Empirie im Wege der Statistik und eine breite sozialwissenschaftliche Sicht miteinander verknüpfte. Noch in einem dritten Sinne läßt sich Eulenburg aus dem Althoffsystem kaum hinwegdenken. Seine 1908 veröffentlichte Arbeit Der akademische Nachwuchs schuf ein völlig neuartiges und ungemein umfangreiches empirisches Fundament für die von Althoff beabsichtigte und betriebene wirtschaftliche Absicherung der nicht besoldeten Hochschullehrer. Der Umfang und die praktische Bedeutung des Eulenburgschen Werkes, schon durch die von erheblicher Sprengkraft gekennzeichnete Studie von 1908 angedeutet, ist

umso eindrucksvoller, wenn man sich den wechselvollen akademischen Lebensweg des Autors vor Augen hält. Nachdem der erst 1917 an die Aachener Technische Hochschule Berufene im Schatten der nach 1918 einrückenden Besatzungsmacht wegen angeblicher nationalistischer Äußerungen mit einer Gefängnisstrafe bedroht bei „Nacht und Nebel" unter Zurücklassung fast aller seiner der Beschlagnahme verfallenen Habe fliehen mußte, erschien bereits 1919 sein fur die Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik verfaßtes Gutachten über Arten und Stufen der Sozialisierung (1920), das offensichtlich erst aufgrund der Novemberrevolution hatte konzipiert werden können. Dieses fast 50-seitige Buch war aufgrund des Artikels 7 Nr. 13 der Weimarer Reichsverfassung aktuell geworden. Die unter schwierigen Bedingungen in kurzer Frist fertiggestellte Arbeit, die mit das Beste darstellt, das zu jener Zeit in der nationalen und internationalen Literatur zu diesem Thema zur Verfügung stand, die Ausführungen -* Joseph A. Schumpeters eingeschlossen, zeigt, welche ungeheure Bandbreite und intellektuelle volkswirtschaftliche Kapazität Eulenburg in sich vereinigte. Es ist überraschend, daß Schumpeter ihn in seiner History of Economic Analysis nicht erwähnt, Scbmoller dagegen in seinem Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre (1919) gleich mit vier verschiedenen Gebieten, eine besondere Auszeichnung im Hinblick auf die Ausgewogenheit dieses enzyklopädischen Welkes. Eulenburg wird zitiert mit seinen Arbeiten zur Gewerbestatistik, zur Handwerkerstatistik, zum Wiener Zunftrecht und zur deutschen Produktionssteigerung. Die Arbeiten zum Grundriß wurden 1917 abgeschlossen. Eulenburgs Werk ist gut dokumentiert, insbesondere auf Grund einer Festgabe, die 1955 W. Bernsdorf und G. Eisermann unter dem Titel Die Einheit der Sozialwissenschaften: Franz Eulenburg zum Gedächtnis herausbrachten. Dort findet man auch eine Bibliographie Franz Eulenburgs, die 82 eigene und 6 herausgegebene Schriften umfaßt. Die größte Ehrung erfuhr Eulenburg zweifellos durch die Wahl zum Rektor der Handelshochschule Berlin für das akademische Jahr 1929-30. Seine Rektoratsrede hatte bezeichnenderweise den Titel Phantasie und Wille des wirtschaftenden Menschen (1931) „in der er die ungeheure Bedeutung der emotionellen Kräfte des Menschen für die Gestaltung der Wirtschaft einerseits, die Prägung von Phantasie und Wille des wirtschaften-

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Feiler, Arthur den Menschen durch das Wirtschaftsleben, in das er an seinen Platz einbezogen ist. andererseits, in tief einfühlender Analyse darstellte" (Eisermann 1955, S. 250). Seinen Platz in der Geschichte der volkswirtschaftlichen Theorie markiert vielleicht am besten die Tatsache, dafi er für die Encyclopedia of the Social Sciences den Artikel International Trade (1932) anvertraut bekam. Schriften in Auswahl: (1892) Über Innungen der Stadt Breslau vom 13. bis 15. Jahrhundert, Berlin (Diss.). (1908) Der akademische Nachwuchs. Eine Untersuchung über die Lage und die Aufgaben der Extraordinarien und Privatdozenten, Leipzig (zugleich in: Archiv für Sozialwissenschafiten und Sozialpolitik, Bd. 27 (1908), S. 808825. (1912) Von Gesetzmäßigkeiten in der Statistik („historische Gesetze"). Logische Untersuchungen, in: Archiv fur Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 35, S. 299-365. Arten und Stufen der Sozialisierung. (1920) Ein Gutachten (=Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 159), München/Leipzig. (1923) Internationale Kapitalbildung nach dem Kriege, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 19, S. 363-395. (1924) Die sozialen Wirkungen der Währungsverhältnisse, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, F. 3, Bd. 67, S. 748-794. Die handelspolitischen Ideen der (1927) Nachkriegszeit, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 25, S. 59-103. (1929/30) Commercial Policy and its Scientific Method. A Reply, in: Quarterly Journal of Economics, Bd. 44, S. 698706. (1931) Phantasie und Wille des wirtschaftenden Menschen, Tübingen. International Trade, in: Encyclopae(1932) dia of the Social Sciences, Bd. 8, hrsg. von E.R.A. Seligman, New York, S. 189-200. (1938) Allgemeine Volkswirtschaftspolitik, Staat und Wirtschaft, Zürich/Leipzig.

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Bibliographie: Backhaus, J. (1993): The University as an Economic Institution. The Political Economy of the Althoff System, in: Journal of Economics Studies. Bd. 20, S. 8-29. Eisermann, G. (1955): Franz Eulenburg: Persönlichkeit und Werk, in: Bemsdorf, W./Eisermann, G. (Hrsg.): Die Einheit der Sozialwissenschaften: Franz Eulenburg zum Gedächtnis. Stuttgart, S. 245-253. Schmoller, G. (1919): Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, T. 1.2. München/Leipzig. Quellen: ACEP 2/119; WA; ISL 1959. Jürgen Backhaus

Feiler, Arthur, geb. 16.8.1879 in Breslau, gest. 11.7.1942 in Riverdale, New York Nach dem Abitur in Breslau absolvierte Feiler zunächst eine Bankausbildung. Anschließend studierte er Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Frankfurt/M. und Heidelberg. Bevor er dort 1923 bei -» Emil Lederer mit der Arbeit Die deutschen Finanzen vom Kriegsausbruch bis zum Londoner Diktat promovierte, übte er eine Reihe journalistischer und politischer Tätigkeiten aus. So arbeitete er von 1903 bis 1910 zuerst als Handelsredakteur, danach als politischer Redakteur bei der Frankfurter Zeitung. Nach Ende des Ersten Weltkriegs fungierte er als Berater der deutschen Delegation in Versailles und Genua, war ab 1920 Mitglied des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats und ab 1921 bei der Sozialisierungskommission tätig; von 1923 an hatte er die Funktion eines Beisitzers beim Karteilgericht inne. Im Anschluß an seine 1928 erfolgte Habilitation an der Universität Frankfurt/M. und eine vieijährige Zeit als Privatdozent erhielt Feiler dort 1932 eine außerordentliche Professur. Diese gab er jedoch bereits im Sommer desselben Jahres wieder auf, um einen Ruf der Handelshochschule Königsberg - trotz heftiger Proteste nationalsozialistischer Studenten - anzunehmen. Nach der sog. 'Machtergreifung' wurde er 1933 entlassen und emigrierte in die USA, wo er noch bis 1934 für die Frankfurter Zeitung journalistisch tätig war. Feiler zählte 1933 zu den Gründungsmitgliedern der 'University in Exile', der späteren Graduate Faculty der New School for Social Research in New York, an der er bis zu seinem Tode lehrte und die rege Publikationstätigkeit fortführte.

Feiler, Arthur Während seiner Tätigkeit als Redakteur begleitete und kommentierte Feiler die wirtschaftliche und politische Entwicklung in Deutschland, wobei Fragen der Geld- und Währungsordnung sowie der Ordnungspolitik im Mittelpunkt standen. Die zahlreichen Aufsätze und Artikel, die er für die Frankfurter Zeitung verfaßte, wurden vielfach, thematisch geordnet in broschierter Form herausgegeben (z.B. 1908; 1918). Nach der Habilitation arbeitete er verstärkt über die ökonomischen Probleme RuBlands und Das Experiment des Bolschewismus (1929). Anläßlich einer von Bernhard Harms geleiteten Tagung der Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung zu „Problemen des Kapitals und des kapitalistischen Wirtschaftssystems", an der unter anderem -» Gerhard Colm, Rudolf Hilferding, Lederer, -» Joseph A. Schumpeter, Werner Sombart und -» Alfred Weber teilgenommen hatten, diskutierte Feiler die Konzeption der beschleunigten Realkapitalbildung in der Sowjetunion (1931). Seine Hinweise auf die totalitären Strukturen des sowjetischen Systems, die einen derartigen Akkumulationsprozeß erst ermöglichten, deutete bereits eines seiner Hauptarbeitsgebiete nach 1933, die Totalitarismusanalyse, an. Feiler war Zeit seines Lebens ein überzeugter Liberaler gewesen (vgl. Johnson 1942, S. 291) und fiel damit aus dem weitgehend homogenen Profil der ersten Generation der New School-Mitglieder heraus (vgl. Krohn 1987, S. 78). Neben Aufsätzen über den internationalen Kapital verkehr (1935) und die Welthandelspolitik nach dem Ersten Weltkrieg (1937a) publizierte Feiler eine Arbeit über The Totalitarian State (1937b) und - zusammen mit seinem Kollegen an der Graduate Faculty Max Ascoli - das Buch Fascism for Whom?. Im Gegensatz zu Eduard Heimann oder auch Lederer (1940) zählt er mit letzteren Beiträgen zu den Vertretern einer orthodoxen Totalitarismustheorie, die sich an den institutionellen Formen der politischen Herrschaft in Deutschland, Italien und RuBland orientierte und die für die Emigrantengruppe an der New School nicht repräsentativ war. (vgl. Krohn 1987, S. 146). Mit seinem Artikel The Economic Meaning of Conquest leistete Feiler einen Beitrag zu War in Our Time (1939), einer erstklassigen Sammlung von Aufsätzen der Graduate Faculty-Mitglieder über das politische und ökonomische Klima im Westen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Darüber hinaus leitete er zwei von der

Graduate Faculty getragene und von der Rockefeiler Foundation finanziell unterstütze Forschungsprojekte: das Project on War and Peace sowie die Untersuchung über Economic and Social Controls in Germany and Russia. Aus diesen Projekten resultierten verschiedene erstklassige Forschungsarbeiten, von denen viele in der Institutszeitschrift Social Research veröffentlicht wurden. Darin wurden die Ursachen des Krieges, seine ökonomische Wirkung, die von den kriegführenden Nationen angewandten Mechanismen zur Ressourcenallokation sowie die für die Einrichtung einer stabilen internationalen Ordnung nach Kriegsende notwendigen Bedingungen diskutiert. Sein Beitrag zu diesen Projekten kann wohl als sein bedeutendstes intellektuelles Vermächtnis angesehen werden. Feiler starb kurz vor der Fertigstellung einer Studie mit dem Titel The Day after the Armistice über die ökonomischen und sozialen Probleme, die aus seiner Sicht in der Nachkriegszeit zu erwarten waren. Schriften in Auswahl: (1908) Die Probleme der Bankenquete, Jena. (1918) Vor der Übergangswirtschaft, Frankfurt a.M. (1923) Die deutschen Finanzen vom Kriegsausbruch bis zum Londoner Diktat, Diss., Heidelberg. (1929) Das Experiment des Bolschewismus, Frankfurt a.M.; 3. Aufl. 1930 (engl. Übers.: The Russian Experiment, New York 1930). (1931) Kapital Wirtschaft in Sowjetrußland, in: Kapital und Kapitalismus. Bd. 2, hrsg. von B. Harms, Berlin, S. 481490. (1935) International Movements of Capital, in: American Economic Review, Bd. 25 (Suppl.), S. 63-73. (1937a) Current Tendencies in Commercial Policy, in: American Economic Review, Bd. 27 (Suppl. 1), S. 29-42. (1937b) The Totalitarian State, in: Mackenzie, F. (Hrsg.): Planned Society, Yesterday, Today, Tomorrow. Α Symposium by 35 Economists, Sociologists, and Statesman, New York, S. 746774. (1938) Fascism for Whom? (zus. mit Μ. Ascoli), New York.

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Fellner, William John (1939)

The Economic Meaning of Conquest, in: Speier, Η., Kahler, Α. (Hrsg.): War in Our Time, New York, S. 153170.

Bibliographie: Johnson, A. (1942): Arthur Feiler, 1879-1942, in: Social Research, Bd. 9, S. 291-292. Krohn, C.-D. (1987): Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt a.M. Lederer, E. (1940): State of the Masses. The Threat of the Classless Society, New York (posthum); dt. Übers.: Der Massenstaat. Gefahren der klassenlosen Gesellschaft, hrsg. und eingeleitet von Claus-Dieter Krohn, Graz/Wien 1995. Quelle: BHb I. Gary Mongiovi

Fellner, William John, geb. 31.5.1905 in Budapest, gest. 15.9.1983 in Washington, D.C. Als jüngster von vier Söhnen einer ungarischen Untemehmerfamilie begann er in Budapest zunächst ein Jurastudium, doch schon nach einem Jahr wechselte er Studienfach und -ort. Von seinem Vater zu einem technisch orientierten Studium ermuntert, zog er nach Zürich, wo er an der ΕΤΗ ein Chemiestudium begann, das er 1927 mit dem Diplom abschloB. Angeregt durch seine Schul- und Studienfreunde -» John von Neumann und Emery Reves fand er Interesse an der Ökonomie und ging mit beiden nach Berlin. Dort promovierte er 1929 mit einer Arbeit über die ökonomischen Auswirkungen der Prohibition. Nach dem Studium kehrte er nach Ungarn zurück und war neun Jahre lang im Familienuntemehmen tätig. Die schwierige wirtschaftliche Situation der damaligen Zeit ließ sein Interesse an wissenschaftlicher Fundierung ökonomischer Fragestellungen weiter wachsen. USA-Besuche in den Jahren 1928 und 1934 vertieften seine Vermutung, daß die Wirtschaftswissenschaften in den kommenden Jahrzehnten von dort dominiert werden könnten. 1938 verließen er und seine Frau Ungarn und emigrierten nach Kalifornien. 1944 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Erst 1971 hatte er anläfilich einer spektakulären Vorlesung in der Universität von Budapest Gelegenheit, seine Heimatstadt wiederzusehen.

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Mit seiner ersten Anstellung am Department of Economics der University of California (Berkeley) im Jahr 1939 begann eine glanzvolle akademische Karriere, die ihn an mehrere Universitäten führte und die konsequent eine umfangreiche Tätigkeit als wissenschaftlicher Berater nationaler und internationaler Gremien nach sich zog. Schwerpunkt seiner akademischen Tätigkeit war zunächst die Universität von Berkeley, an der er 1947 Full Professor wurde und an der er bis 1952 lehrte. Als das Klima in Berkeley in der McCarthy Ära schwieriger wurde, begann Fellner, sich in Richtung Ostküste und damit auch näher zum wirtschaftspolitischen Entscheidungszentrum Washington hin zu orientieren. Im akademischen Jahr 1951/52 nahm er eine Einladung als Gastprofessor an die Harvard University an, und 1952 folgte er Henry C. Wallich und Robert Triffin nach Yale, wo er bis zu seiner Emeritiening 1973 lehrte. Ab 1959 hatte er dort die Sterling Professur inne, 1957/58 war er als Alfred Marshall Lecturer an der Cambridge University in England tätig. Fellners wissenschaftliches Werk umfafit diverse Bücher und zahllose Artikel und Beiträge anderer Art. Seine ersten Publikationen in den USA waren zwei Aufsätze, die er zusammen mit Howard S. Ellis (Hicks and the Time-Period Controversy, 1940) und mit Harold Μ. Somers (Alternative Monetary Approaches to Interest Theory, 1941) schrieb. Ihnen folgten unmittelbar die Bücher A Treatise on War Inflation (1942) und MonetaryPolicies and Full Employment (1946). Fellners zentrales Forschungsgebiet war demnach die MakroÖkonomik mit allen ihren Hauptfeldern, also Geldtheorie, Konjunkturtheorie und Außenwirtschaftstheorie mit den entsprechenden Ansätzen der Wirtschaftspolitik, die durch Arbeiten auf zahlreichen weiteren Themengebieten erweitert und abgerundet wurden. Fellner läßt sich nicht unmittelbar einer der gängigen ökonomischen Schulen zuordnen. Als Liberaler der alten Schule war er geprägt von den Erfahrungen der deutschen Hyperinflation, der Weltwirtschaftskrise und des Totalitarismus, der in Deutschland daraus erwuchs, und er war bestrebt, dazu beizutragen, daß sich Derartiges nicht wiederholen könne (I. Adelman). Vor diesem Hintergrund verstehen sich seine Plädoyers für eine freie Gesellschaft, für freie Märkte und für einen begrenzten Staatseinfluß. Insoweit stand er dem Monetarismus nahe und hatte in seinen frühen Schriften diverse monetaristische Posititonen vorwegge-

Fellner, William John nommen, ohne allerdings je in den Verdacht zu geraten, allzu einfachen monetaristischen Rezepturen das Wort zu reden. Dementsprechend fühlte er sich , jn einer keynesianischen Rahmenordnung völlig zu Hause", war ein „konservativer Keynesianer" (H.C. Wallich) und wuBte sehr wohl zwischen der Position von Keynes und der verschiedener Keynesianer zu unterscheiden. So propagierte er keynesianische Politikansätze zur Bekämpfung schwerer Rezessionen, war aber der Meinung, daß man leichtere Konjunkturschwankungen zulassen sollte, da mit einer staatlichen Vollbeschäftigungsgarantie die Gefahr von LohnPreis-Spiralen und Inflation verbunden sei. In diesem Kontext plädierte er dafür, der Geldpolitik wieder mehr Beachtung zu schenken und sie in eine Verstetigungsstrategie einzubinden. Eine stabile Wirtschaftspolitik könne dazu beitragen, jene Erwartungen zu schaffen, die eine stabilisierende Anpassung von Löhnen, Zinsen und Preisen ermöglichen. Er hat damit die Theorie der rationalen Erwartungen und das Konzept der supply-side economics in einer subtileren Fonn vorgezeichnet. Charakteristisch für ihn war, daß er alle Ansätze der ökonomischen Theorie zur Lösung spezifischer Probleme einbrachte (G. Haberler). Die Breite von Fellners Forschungsfeldern läßt sich mit einem Blick auf seine wichtigsten Buchveröffentlichungen dokumentieren. Noch als Assistant Professor in Berkeley veröffentlicht er als erste Publikation des neuen Bureau of Business and Economic Research die Arbeit A Treatise on War Inflation (1942), in der er einen nichtinflationären Weg der Kriegsfinanzierung über eine progressive individuelle Einkommenssteuer vorschlägt. In Monetary Policies and Full Employment (1946) umreißt er seine Positition zwischen Keynesianismus und Monetarismus. Die Gefahren, die aus einer staatlichen Vollbeschäftigungsgarantie erwachsen, sieht er auch vor dem Hintergrund monopolistischer Gruppierungen in der Wirtschaft. Dieses Thema greift er in der Studie Competition Among the Few (1949) auf, in der er eine weitgehend nichtmathematische Darlegung der diversen Theorien des Oligopols und des bilateralen Monopols liefert und die er durch einige Aufsätze abrundet. Seine langandauemde Publikationstätigkeit in Yale wird eröffnet mit dem Werk Trends and Cycles in Economic Activity (1956), in dem Fellner den technischen und organisatorischen Fortschritt, Ressourcenmobilität und ein stabilitätsorientiertes flexibles Geldsystem als

die zentralen Determinanten des Wirtschaftswachstums identifiziert. Aus Vorlesungen zur Dogmengeschichte entsteht The Emergence and Content of Modern Economic Analysis (1960). Seine langjährige Beschäftigung mit den Auswirkungen der Unsicherheit auf die Verhaltensweisen der Wirtschaftssubjekte findet ihren Niederschlag in einem Symposiumsbeitrag im Quarterly Journal of Economics 1961 und schließlich in dem Werk Probability and Profit (1965), in dem er u.a. sein Konzept der „semiprobability" entwikkelt und die Preisbildung auf Stückkostenbasis als rationale Verhaltensweise bei Unsicherheit propagiert. Dreißig Jahre nach seiner ersten großen makroökonomischen Schrift greift Fellner die Thematik erneut auf. In Towards a Reconstruction of Macroeconomics: Problems of Theory and Policy (1976) liefert er eine umfassende Darstellung seiner makroökonomischen Position. Kernthese der Arbeit ist die Forderung, daß der Staat durch eine konsistente und glaubwürdige Linie der Wirtschaftspolitik stabile Erwartungen zu schaffen habe, eine Position, die Fellner den Ruf des „Mr. Credibility" einträgt. Fellners vielfältige wirtschaftspolitischen Stellungnahmen führten zwangsläufig dazu, daß ihm zahlreiche Beraterfunktionen angetragen wurden. Nachdem er schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als Berater des I IS-Finanzministeriums und von 1959-1960 als Mitglied eines EWG-Expertengremiums tätig gewesen war, ermunterte er diverse Yale-Kollegen, u.a. J. Tobin, Beraterfunktionen in der Kennedy Administration zu übernehmen. Als Staatssekretär Dillon 1969 umfassende Untersuchungen über das Weltwährungssystem und die Ursachen steigender Zahlungsbilanzungleichgewichte unter ausdrücklichem Verzicht auf wissenschaftliche Beratung ankündigte, wurde Fellner aktiv und gründete mit -» Fritz Machlup, R. Triffin und -• Gottfried Haberler die sog. Bellagio-Gruppe, zu der später namhafte Persönlichkeiten aus dem Zentralbankenbereich und aus internationalen Institutionen stießen und die einen erheblichen Einfluß auf die Entwicklung des Weltwährungssystems hin zu mehr Wechselkursflexibilität hatte. Fellner war schon früh für flexible Wechselkurse als Disziplinierungsinstrument gegen eine zu lockere Geld- und Finanzpolitik eingetreten. Gemeinsam mit Machlup und Triffin gab er 1966 den vielbeachteten Sammelband Maintaining and Restoring Balance in International Payments heraus.

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Fellner, William John Nachdem Fellner 1969 zum Präsidenten der American Economic Association gewählt worden war, knüpfte er 1970 Verbindungen zum American Enterprise Institute for Public Policy Research (AEI), die zu vertieften Kontakten mit namhaften Politikberatern und dem Council of Economic Advisers führten. 1972 gab er die AEI-Publikation Economic Policy and Inflation in the Sixties heraus und propagierte in einem Beitrag die secondbest-Lösung eines nichtinflationären monetaryfiscal policy mix als Alternative zum zuvor praktizierten stop and go. Trotz seiner nachhaltigen Kritik an der US-amerikanischen Wirtschaftspolitik wird Fellner 1973 im Jahr seiner Emeritierung in den Council of Economic Advisers gewählt. Seine Wahl wird als Aufwertung des Gremiums interpretiert, und er wird bereits als künftiger Chairman gehandelt. Angesichts seines Alters und um seine Arbeit im AEI fortzusetzen, verläßt er aber schon 1974 den Council, nachdem er sich nachhaltig fur A. Greenspan als neuen Chairman eingesetzt hatte. Nach dem Rückzug aus dem Council wird Fellner Projektleiter und Herausgeber des AEI-Jahrbuches Contemporary Economic Problems, bleibt aber weiterhin der Politikberatung verbunden, so als Berater des Budget Office des Kongresses, des Finanzministeriums und des Board of Governors des Federal Reserve Systems. Er ist Mitglied des Brooking Panel on Economic Activity und hat Verbindungen zu weiteren renommierten Organisationen, so als Mitglied der American Academy of Arts and Sciences und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1975 wird er anläßlich seines 70. Geburtstages mit der von B. Balassa und R. Nelson herausgegebenen Festschrift Economic Progress, Private Values, and Public Policy: Essays in Honor of William Fellner geehrt. Herausragende Ehrungen in seinem Leben waren darüber hinaus die Ehrenmitgliedschaft im Phi Beta Kappa 1952, die Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland 1975 und die Verleihung des Bemhard-Harms-Preises in Kiel 1982. Die beiden letzten Ehrungen machen seine langjährigen engen Beziehungen zu Kollegen und Freunden in Deutschland deutlich. Als William Fellner 1983 in Washington stirbt, wird er als vornehmer Aristokrat der alten Welt mit klaren, aber undogmatischen Überzeugungen, einem zuvorkommenden und verständisvollen Wesen und intellektueller Integrität gewürdigt.

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der ökonomische Tagesprobleme stets in ihrem historischen Kontext einzuordnen vermochte, und der über die Wirtschaftswissenschaften hinaus der Kunst, der Literatur und der Musik verbunden war. Wie alle großen Ökonomen war er mehr als nur ein Ökonom (G. Haberler). Schriften in Auswahl: (1940) Hicks and the Time-Period Controversy (zus. mit H.S. Ellis), in: Journal of Political Economy, Bd. 48, S. 563578. (1941) Alternative Monetary Approaches to Interest Theory (zus. mit H.M. Somers), in: Review of Economic Statistics, Bd. 23, S. 43-48. (1942) A Treatise on War Inflation, Berkeley, CA. (1946) Monetary Policies and Full Employment, Berkeley, CA. (1949) Competition Among the Few: Oligopoly and Similar Market Structures, New York. (1956) Trends and Cycles in Economic Activity: An Introduction to Problems of Economic Growth, New York. (1960) Emergence and Content of Modern Economic Analysis, New York. (1965) Probability and Profit, Homewood, IL. (1966) Maintaining and Restoring Balance in International Payments (als Hrsg. zus. mit F. Machlup und R. Triffin), Princeton, NJ. (1972) Economic Policy and Inflation in the Sixties (als Hrsg.), Washington, DC. (1976) Towards a Reconstruction of Macroeconomics: Problems of Theory and Policy, Washington, DC. Bibliographie: Adelman, I. (1987): Fellner, William John (19051983), in: The New Palgrave, ed. by J. Eatwell u.a., London, S. 301. Balassa, B./ Nelson, R. (Hrsg.) (1977): Economic Progress, Private Values and Public Policy. Essays in Honor of William Fellner, Amsterdam u.a. (enth. Bibliographie S. 331-335). Haberler, G. (1984): William Fellner in Memoriam, in: Essays in Contemporary Economic Problems, Disinflation, Washington/London, S. 1-4.

Ferber, Marianne Abeles Marshall, J.N. (1988): Fellner, William, J., in: R. Sobel/ B.S. Katz (Hrsg.): Biographical Dictionary of the Council of Economic Advisers, New York, S. 67-75. Wallich, H.C. (1983): Zum Tode von William Fellner, in: Neue Zürcher Zeitung, 30. Sept. 1983. Quellen: Who was Who in America; Blaug. Klaus Herdzina

Ferber, Marianne Abeles, geb. 30.1.1923 in Mirkov, Tschechoslowakei. Ferber verließ als 15-jährige ihre Heimat, um nach Kanada auszuwandern. Dort erwarb sie 1944 den Bachelor of Arts an der McMaster University in Hamilton, Ontario. Anschließend übersiedelte Ferber in die USA, wo sie ihr Studium der Wirtschaftswissenschaften fortsetzte und 1946 an der University of Chicago den Master of Arts erwarb. Danach arbeitete sie als Ökonomin für Standard Oil und gleichzeitig als Assistentin fur Ökonomie am Hunter College, New York. Mit 31 Jahren promovierte sie an der Universität von Chicago. Im Anschluß daran begann sie ihre langjährige Karriere an der University of Dlinois in UrbanaChampaign, zunächst als Assistentin, zwischen 1974-80 als Assistenz- bzw. a.o. Professorin, seit 1980 als ordentliche Professorin für Ökonomie. Ihre fruchtbarste Publikationsphase fallt in die Zeit nach dem 50. Lebensjahr. Dir eigenes wissenschaftliches Leben entspricht in hohem Maße dem Muster, das sie in ihrer Analyse der Geschlechterdifferenz wissenschaftlicher Arbeit herausgearbeitet hat, d.h. Konzentration auf Lehrtätigkeit in jungen Jahren, Publikation wichtiger Forschungsarbeiten erst in höherem Alter. Ferbers wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf der Analyse des Wandels der wirtschaftlichen Tätigkeitsfelder und Motivationssysteme von Männern und Frauen im Lebenszyklus sowie im historischen Verlauf. Sie geht der Verlagerung der Arbeitsteilung zwischen Haushalt und Markt von der vorkapitalistischen Zeit bis in die Gegenwart nach und liefert in The Impact of Mother's Work on the Family as an Economic System (1982) die Grundlage ftir ein besseres Verständnis der Persistenz der Geschlechtertrennung zwischen Haus- und Marktarbeit. Über diese Überblicksarbeit hinaus hat Ferber die Forschungserkenntnisse in einigen Einzelbereichen der Arbeitsmarktanalyse, vor allem der Erklärung der Lohnunterschiede nach Ge-

schlecht, erweitert, und über die Analyse der Hausarbeit die traditionellen Barrieren der ökonomischen Analyse aufgebrochen. Sie geht über die wissenschaftlichen Anregungen der Columbia und Chicago University hinaus und zeigt die Grenzen des neoklassischen Modells der Familie auf. In ihrem Forschungsbeitrag zur Analyse der Lohnunterschiede nach Geschlecht weist Ferber (1984, 1986b) nach, daß die Stellung eines Individuums innerhalb der Betriebshierarchie einen größeren Anteil des Einkommensunterschieds zwischen Männern und Frauen erklärt als die Konzentration der Geschlechter auf unterschiedliche Berufe. Vor allem die Kontrolle über Gelddispositionen und den Einsatz menschlicher Ressourcen (Kontrolle über Arbeit anderer) seien für höhere Löhne ausschlaggebend. Frauen übten derartige Kontrollfunktionen seltener aus als Männer, was ihre Verhandlungsmacht bei Lohnverhandlungen verringere. Frauen hätten in Kemindustriezweigen ebenso wie in peripheren Bereichen vor allem Tätigkeiten inne, die mit geringer Aufwärtsmobilität verbunden seien. Sie profitierten einkommensmäßig von einer Beschäftigung in Großbetrieben, da nur in größeren BeDieben eine Politik der Gleichstellung der Arbeitschancen nach Geschlecht institutionalisiert sei. In der Analyse der Haushaltsproduktion wendet sich Ferber vor allem gegen die Anwendung des Opportunitätskostenprinzips in der Bewertung der Haushaltsproduktion und für die Inputkostenbewertung basierend auf Löhnen am Arbeitsmarkt (Kosten der Haushaltsproduktion bei Einkauf der Leistung über den Markt). Im Fall der Opportunitätskosten kommen in der Bewertung der Hausarbeit Faktoren ins Spiel, die für das Lohnniveau der Erwerbsarbeit ausschlaggebend sind, wie Ausbildungsgrad und Dauer der Erwerbsarbeit, die aber für den Wert der Hausarbeit nicht ausschlaggebend sind (Paradoxon, daß der Wert der Hausarbeit einer Akademikerin den der Hilfsarbeiterin mit gleicher Familiengröße bei weitem übersteigt). Neben der Fortführung ihrer bisherigen Forschungsarbeiten zur Rolle der Frauen in der akademischen Gesellschaft (1996) sowie zur Wechselbeziehung zwischen Arbeit und Familie (1986a, 1991) hat sich Ferber in jüngster Zeit der feministischen Theorie zugewandt (1993). Sie ist Mitherausgeberin der seit 1995 erscheinenden Zeitschrift Feminist Economics und Director of

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Firestone, Otto John Women's Studies an der University of Illinois in Urbana-Champaign.

(1991)

Schriften in Auswahl: (1972) Performance, Rewards, and Perceptions of Sex Discrimination among Male and Female Faculty, (zus. mit J. W. Loeb) in: American Journal of Sociology, Bd. 78, S. 233-240. Professors, Performance, and Re(1974) wards, in: Industrial Relations, Bd. 13, S. 69-77.

(1993)

(1976)

(1978)

(1980a)

(1980b)

(1982)

(1983)

(1984)

(1986a)

(1986b)

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The Sex Differential in Earnings: A Reappraisal, (zus. mit Η. Μ. Lowry), in: Industrial and Labor Relations Review, Bd. 29, S. 377-387. Sex Differentials in the Earnings of Ph.D.'s, (zus. mit Β. Kordick), in: Industrial and Labor Relations Review, Bd. 31, S. 227-238. Are Women Economists at a Disadvantage in Publishing Journal Articles? (zus. mit Μ. Teiman), in: Eastern Economic Journal, Bd. 6, S. 189-193. Housework: Priceless or Valueless? (zus. mit Β. G. Birnbaum), in: Review of Income and Wealth, Bd. 26, S. 387-400. The Impact of Mother's Work on the Family as an Economic System, (zus. mit Β. G. Birnbaum), in: Kamerman, S. B„ Hayes, C. D. (Hrsg.): Families That Work: Children in a Changing World, Washington, D.C., S. 84-143. Housework vs. Marketwork: Some Evidence how the Decision is Made, (zus. mit C. Greene), in: Review of Income and Wealth, Bd. 29, S. 147159. Work Characteristics and the MaleFemale Earnings Gap, (zus. mit J. Spaeth), in: American Economic Review, Bd. 74, S. 260-264. The Economics of Women, Men and Work (zus. mit F.D. Blau), Englewood Cliffs, N.J., 2. Aufl. 1992. Work Power and Earnings of Women and Men, (zus. mit C. Greene, J. Spaeth), in: American Economic Review, Bd. 76, S. 53-56.

(1996)

Work and Family Policies for a Changing Work Force (mit Β. O'Farrell und L. Allen, Washington, D.C. Beyond Economic Man. Feminist Theory and Economics (als Hrsg. zus. mit J.A. Nelson), Chicago. Academic Couples: Problems and Promise (als Hrsg. zus. mit J.W. Loeb), Urbana-Champaign.

Quellen: BHb II; AEA. Gudrun Biffl

Firestone, Otto John ('Jack'), früher: Feuerstein, geb. 17.1.1913 in Österreich Firestone promovierte noch vor seiner Emigration im Jahr 1936 an der Universität von Wien zum Dr. iur. et rer. pol. und emigrierte anschließend nach Großbritannien. Er begann 1938 ein Postgraduiertenstudium an der London School of Economics, muBte das jedoch aufgrund seiner Intervening im Jahr 1940 unterbrechen. Firestone wurde noch 1940 nach Kanada verlegt und blieb dort bis 1941 in Intemierungshaft. Nach seiner Freilassung erwarb Firestone im Jahr 1942 den Master of Arts an der McGill University in Montreal und trat im AnschluB daran als Ökonom in den Dienst der kanadischen Regierung. In den Jahren 1942 bis 1944 befaBte er sich mit Forschungsarbeiten für die Regierungskomitees für Wiederaufbau und Wirtschaftspolitik, arbeitete von 1944 bis 1946 als Research Assistant für das Economic Research Bureau des Department of Reconstruction und wurde im Jahr 1946 Direktor des Department of Reconstruction and Supply. Im Jahre 1948 wechselte Firestone zum Department of Trade and Commerce und nahm dort zunächst die Position des Direktors ein, bevor er 1950 als ökonomischer Berater für das kanadische Handelsministerium tätig wurde. Während seiner Tätigkeit für die kanadische Regierung erstellte er eine Vielzahl von Regierungsberichten, welche sich u.a. mit der Situation des produzierenden Gewerbes und der Forschung und Entwicklung in Kanada, der Investitionstätigkeit im privaten und öffentlichen Sektor sowie mit den Wachstumsperspektiven der kanadischen Wirtschaft befaBten. Im Jahr 1960 kehrte Firestone in den akademischen Bereich zurück und trat eine Professur an der Universität von Ottawa an, die er bis zu seiner Emeritierung 1978 inne hatte. Neben seinem tra-

Firestone, Otto John ditionellen Interessengebiet, den Wachstumsperspektiven der kanadischen Ökonomie, konzentrierten sich seine Forschungstätigkeiten während dieser Phase insbesondere auf drei Problemfelder. Zunächst beschäftigte er sich mit den ökonomischen Auswirkungen von Werbemaßnahmen sowohl des privaten als auch des öffentlichen Sektors. Unter dem Eindruck der während der 1960er Jahre zu beobachtenden anhaltenden Preissteigerungstendenzen in Kanada wurde er vom Institute of Canadian Advertising mit einer Untersuchung beauftragt, welche die Effekte der Werbung auf Inflationstendenzen und Wirtschaftswachstum thematisierte. Firestone publizierte seine Ergebnisse in der 1967 erschienenen Monographie The Economic Implications of Advertising, welche eine umfassende Diskussion der Auswirkungen von Werbemaßnahmen des privaten Sektors auf das Konsumentenverhalten, die Wettbewerbsbedingungen, das Investitionsverhalten sowie die Produkt! vitäts- und Preisentwicklung lieferte. Eine weitere, im Jahr 1970 erschienene Studie (The Public Pursuader, Government Advertising) beschäftigte sich mit der Wirkungsweise von Werbemaßnahmen des öffentlichen Sektors; sie resümierte Firestones Untersuchungsergebnisse hinsichtlich der Ziele und Mittel von Regierungswerbung sowie deren Einflüsse auf Denkhaltungen und Verhaltensweisen der Bürger und präsentierte eine Reihe von Vorschlägen zur Effizienzverbessemng der Werbemaßnahmen. Ein zweites Hauptaibeitsgebiet Firestones war die Untersuchung der Zusammenhänge von Erziehungs- und Bildungsstand der Bevölkerung mit der ökonomischen Entwicklung. Seine 1968 erschienene Untersuchung Industry and Education befaßte sich mit Angebots- und Nachfrageeffekten einer verbesserten Ausbildung der Bevölkerung und untersuchte den Einfluß des Bildungsstandes auf Wirtschaftswachstum, Strukturwandel und technischen Fortschritt sowie deren Rückwirkungen auf die Nachfrage nach Aus- und Weiterbildung. Firestone thematisierte in diesem Zusammenhang auch den Einfluß des Wertewandels in einer stagnierenden Ökonomie und betonte die zunehmende Bedeutung von Bildung als einem der Konsumnachfrage zuzurechnenden Faktor (Education and Economic Instability, 1972a). Schließlich beschäftigte sich Firestone verstärkt mit der Problematik von Patentvergabe und Innovationstätigkeit im Zusammenhang mit ökonomischem Wachstum und veröffentlichte hierzu 1971

die Studie The Economic Implications of Patents, welche auf Basis einer Stichprobenerhebung der in Kananda vergebenen Patente sowie einer Reihe von Interviews mit fünfzehn der wichtigsten Werbegesellschaften die Kosten der Patentvergabe, Angebot und Nutzung von Patenten sowie Lizensierungspraktiken in Kanada untersuchte. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse erwickelte Firestone Theorien über die Auswirkungen des Patentwesens auf Wachstums- und wohlfahrtstheoretische Aspekte und erarbeitete eine Reihe von Empfehlungen zur Reformierung des kanandischen Patentsystems. Eine weitere, diesem Problemkreis zuzurechnende Studie thematisierte den Export und Import von technischem Know How, die Nutzung von patentierten und nicht patentierten Innovationen im internationalen Vergleich sowie den Einfluß von Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen auf die Rate des technischen Fortschritts (1972b). Firestone ist seit 1972 Vorsitzender der Firestone Ait Collection Stiftung und verfaßte in dieser Eigenschaft zwei Kunstbände. Er erhielt 1953 die Coronation Medal von Queen Elizabeth Π und bekam im Jahr 1975 die Ehrendoktorwürde der Hangyang Universität, Korea, verliehen. Schriften in Auswahl: (1965) Problems of Economic Growth. Three Essays and Economic Projections for Canada 1961-1991, Ottawa. (1966) Broadcast Advertising in Canada, Past and Future Growth, Ottawa. (1967) The Economic Implications of Advertising, Toronto/London. (1968) Industry and Education. A Century of Canadian Development, Ottawa. (1970) The Public Pursuader. Government Advertising. Toronto. (1971) The Economic Implications of Patents, Ottawa. (1972) Education and Economic Instability, in: Canadian Journal of Agricultural Economics, Bd. 20, S. 18-27. (1972) Innovation and Economic Development, The Canadian Case, in: Review of Income and Wealth, Bd. 4, S. 399419. Quellen: Β Hb II; AEA; Canadian Who's Who. Margit Kraus

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Foldes, Lucien Paul Foldes, Lucien Paul, geb. 19.11.1930 in Wien Nach dem „Anschluß" Österreichs emigrierte Foldes 1938 mit seinen Eltern nach Großbritannien und erwarb dort die englische Staatsbürgerschaft. Nach Abschluß seiner Schulausbildung 1948 studierte er an der London School of Economics (LSE) und erhielt 1950 den Bachelor of Commerce im Fachbereich Industrie und Handel sowie 1951 das Diplom im Fach Betriebswirtschaftslehre. Im selben Jahr nahm Foldes eine Tätigkeit als Assistant Lecturer an der LSE auf und erwarb 1952 bei Sir Arnold Plant mit einer betriebswirtschaftlichen Arbeit unter dem Titel The Rationale of Cost den Grad des Master of Science. Nachdem Foldes in den ersten beiden Jahren nach Abschluß seiner akademischen Ausbildung fur die British Army tätig war, kehrte er 1954 an die LSE zurück und setzte seine Arbeit zunächst als Assistant Lecturer, ab 1955 dann als Lecturer fort. Seine Lehr- und Forschungstätigkeiten richteten sich zu dieser Zeit zum einen auf theoretische Probleme im Zusammenhang mit Investitionsentscheidungen, Unsicherheit und Wahrscheinlichkeitstheorie, andererseits auf eher praktisch orientierte Fragen im Bereich der Delegation von Budgetierungsentscheidungen und Kontrolle in Unternehmen des öffentlichen Dienstes. Foldes' wichtigste Publikation zur Investitionstheorie erschien im Jahr 1961 unter dem Titel Imperfect Capital Markets and the Theory of Investment· im selben Jahr veröffentlichte er auch die zweiteilige Arbeit Domestic Air Transport Policy, welche sich mit den Auswirkungen verschiedener Formen von Staatsinterventionen im Bereich des Flugverkehrs befaßt. Im Jahr 1962 erhielt Foldes, mittlerweile Reader in Economics an der LSE, ein Travelling Fellowship in die USA, das ihn u.a. an das Carnegie Institute of Technology, Pittsburgh, sowie an die University of California, Berkeley, führte. Im weiteren Verlauf der 1960er Jahre veröffentlichte Foldes eine Reihe von Arbeiten im Bereich der traditionellen MikroÖkonomie, insbesondere der Monopol- und Wohlfahrtstheorie. Gleichzeitig beschäftigte er sich verstärkt mit mathematischen Methoden und Wahrscheinlichkeitsrechnung und nahm eine Neuorientierung seiner betriebswirtschaftlichen Lehr- und Forschungstätigkeit in Richtung quantitativer Entscheidungsmodelle unter Unsicherheit vor. Foldes' erste Publikation in diesem Bereich, Expected Utility and Continuity (1972), befaßte sich mit der Erwartungsnutzen-

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theorie und systematisierte die Zusammenhänge zwischen alternativen topologischen Strukturen eines Wahrscheinlichkeitsraumes und den analytischen Eigenschaften der zugehörigen kardinalen Nutzenfunktion. In der Folgezeit spezialisierte sich Foldes in zunehmendem Maße auf Fragen der Investitionsentscheidung unter Risiko und bemühte sich insbesondere um die Integration von Martingale-Methoden in die Entscheidungstheorie zur analytischen Behandlung stochastischer Prozesse. Als seine wichtigste Publikation während dieser Periode bezeichnet Foldes die 1978 erschienene Arbeit Optimal Saving and Risk in Continuous Time', sie behandelt ein stochastisches Modell optimaler Ersparnisbildung in einem stetigen Zeitablauf und beinhaltet den Existenznachweis eines optimalen Sparplanes sowie seine Charakterisierung durch die Martingale-Eigenschaften der Schattenpreise. In den 1980er und frühen 90er Jahren konzentrierte sich Foldes, seit 1979 Professor an der LSE, auf die Erweiterung des Anwendungsbereichs dieser Methoden und bemühte sich um die Integration von Martingale-Methoden auch in portfoliotheoretisch angelegte Investitionsmodelle sowie in neoklassische Wachstumsmodelle unter Risiko. Unter den geplanten Veröffentlichungen befinden sich mehrere Arbeiten im portfoliotheoretischen Bereich; in Arbeit ist darüber hinaus eine zweiteilige Monographie über die Anwendung von Martingale-Methoden in der Investitions- und Wachstumstheorie. Schriften in Auswahl: (1961a)

Domestic Air Transport Policy, in: Economica, Bd. 28, S. 156-175 und 270-285.

(1961b)

Imperfect Capital Markets and the Theory of Investment, in: Review of Economic Studies, Bd. 28, S. 182195.

(1964)

A Determinate Model of Bilateral Monopoly, in: Economica, Bd. 31, S. 117-131.

(1967)

Income Redistribution in Money and in Kind, in: Economica, Bd. 34, S. 30-41.

(1972)

Expected Utility and Continuity, in: Review of Economic Studies, Bd. 39, S. 407-421.

Forchtaeimer, Karl (1978)

(1990)

(1991)

Optimal Saving and Risk in Continuous Time, in: Review of Economic Studies, Bd. 45, S. 39-65. Conditions for Optimally in the Infinite-Horizon Portfolio-cum-Saving Problem with Semimartingale Investments, in: Stochastics and Stochastics Reports, Bd. 29, S. 133-170. Certainty Equivalence in the Continuous-Time Portfolio-cum-Saving Model, in: H.A. Davis/R.J. Elliott (Hrsg.): Applied Stochastic Analysis, New York, S. 343-387.

Quelle: Blaug. Margit Kraus

Forchheimer, Karl, geb. 29.07.1880 in Prag, gest. 18.06.1959 in Wien Forchheimer absolvierte ein Jurastudium in Prag, das er 1903 mit der Promotion abschloB. Im selben Jahr begann er seine berufliche Laufbahn mit dem Eintritt in die KuK Staatsprokuratur. Als Ministerial beamter machte er eine beachtenswerte Karriere im Staatsdienst. 1913 avancierte er zum Finanzprokuratursadjunkt bei der Statistischen Zentralkommission in Wien, 1917 erreichte er die Position eines Ministerial-Vizesekretärs im Innenministerium und'wechselte im Dezember desselben Jahres ins neu eingerichtete Ministerium für soziale Fürsorge (später für soziale Verwaltung). 1924 wurde er Leiter der Abteilung für legislative und finanzielle Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitsvermittlung; 1936 übernahm er kurzfristig die Leitung der Sektion Sozialversicherung. Die nächsten zwei Jahre hatte er u.a. den Vorsitz des Reichsärzteausschusses inne und war Mitglied der Spruchstelle für die Arbeitslosen- und Altersfursorge. Nebenher hatte er diverse Lehraufträge an der Universität Wien. Im März 1938 erfolgte jedoch die Zwangspensioniening. Forchheimer emigrierte daraufhin im Jahre 1939 nach England. Dort setzte er seine in Wien begonnene Hochschultätigkeit als Research Assistant an der Universität von Oxford fort. Er wurde Mitglied des Institute of Statistics und hielt wirtschaftswissenschaftliche Vorlesungen. Nach dem Krieg kehrte er 1949 nach Wien zurück und führte dort ab 1950 den Amtstitel Sektionschef.

Im AnschluB an sein Jurastudium widmete sich Forchheimer verstärkt wirtschaftswissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen Fragestellungen, die von der Preistheorie über die Wirtschaftsstatistik bis zur MakroÖkonomik und zur Sozialpolitik reichten. Herausragend ist zunächst sein im Wintersemester 1906/1907 im volkswirtschaftlichen Seminar von Alfred Weber in Prag gehaltener Vortrag über Theoretisches zum unvollständigen Monopole, der 1908 in dem von Gustav Schmoller herausgegebenen Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft publiziert wird. In dieser Arbeit konstatiert Forchheimer, daB zahlreiche faktische Monopole doch nur Teilmonopole (unvollständige Monopole) sind, da ein Teil des Angebots in dritten Händen ist. In zwei durch Zahlenbeispiele illustrierten Modellen, in denen das Teilmonopol zudem als Kollektivmonopol (Kartell) interpretiert wird, zeigt er, daB je nach Verhaltensweise der sog. 'outsider' das allmähliche Schwinden des Monopolelements nachgewiesen werden kann und daB somit diverse Abstufungen zwischen Monopol- und Konkurrenzpreis vorkommen. Darüber hinaus diskutiert Forchheimer die Frage, inwieweit es dem Teilmonopolisten möglich ist, seine Konkurrenten durch gezielte Niedrigpreisaktionen zu schädigen oder zu verdrängen. Auch wenn später bemängelt wurde, daB der Ansatz nicht allgemeingültig ist und nur sehr einfache Zahlenbeispiele verwendet, so wird doch uneingeschränkt anerkannt, daB Forchheimer in einer Zeit, in der die preistheoretische Diskussion sich fast ausschließlich dem vollständigen Wettbewerb und dem reinen Monopol widmet, wesentliche Impulse zum Verständnis der zwischen diesen Extrempositionen liegenden Fälle geliefert hat, und zwar zeitlich noch vor Sraffa, Zeuthen und anderen, die teilweise mehr Beachtung gefunden haben (vgl. Reid 1979). Erst in den 1970er Jahren wird Forchheimers Arbeit wieder aufgegriffen. 1983 erscheint sie in englischer Übersetzung im Nebraska Journal of Economics and Business. Als eine Art Nebenprodukt von Forchheimers Tätigkeit in der Funktion eines leitenden Ministerialbeamten im österreichischen Sozialministerium entstehen im Zeitraum von 1913 bis 1929 verschiedene Artikel zur Sozialgesetzgebung bzw. zur Organisation der Sozialversicherung, an deren Einführung in Österreich er maßgeblich beteiligt war. In seinem ersten Aufsatz hierzu (1913) geht er auf die wohnungspolitische Gesetzgebung in

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Forchheimer, Karl Österreich ein. Er beschreibt die einzelnen Entwicklungsphasen seit 1910 in einem kurzen chronologischen Abriß und erläutert die verschiedenen Maßnahmen im Detail, die sich im wesentlichen auf Begünstigungen im Bereich staatlicher Abgaben und auf Erleichterungen der Kreditbeschaffung und des gemeinnützigen Wohnungsbaus erstrecken. Es folgt dann eine Arbeit zur Organisation der Arbeitslosenfürsorge in Österreich (1920/ 21), in der er ihre finanzielle Konstruktion, den angesprochenen Personenkreis sowie die organisatorische Gestaltung nachzeichnet. 1924 und 1929 erscheinen zwei englischsprachige Artikel in der International Labour Review. In dem Beitrag Sliding Wage Scales in Austria (1924) setzt sich Forchheimer mit der Frage auseinander, wie die Kaufkraft der Währung trotz Abwertung gesichert werden kann, und er beschreibt, daB sich in der österreichischen Geschichte drei aufeinanderfolgende Phasen mit jeweils spezifischen Anpassungsmechanismen erkennen lassen. Im dritten arbeitsmarktorientierten Artikel von 1929 diskutiert er die administrative und finanzielle Organisation der Arbeitslosenversicherung. Was den zeitlichen Risikoausgleich betrifft, sollte nach seiner Meinung ein Beitragssystem gewählt werden, das die Festlegung einer langfristig fixen Rate erlaubt, wobei der Durchschnittswert aus guten und schlechten Jahren heranzuziehen sei. Des weiteren spricht er sich angesichts der Mobilität der Arbeiter zwischen den Regionen gegen die regionale Differenzierung aus, die in Österreich eingeführt worden war. In bezug auf die institutionelle Ausgestaltung macht er den Vorschlag, die Arbeitslosenversicherung in ein umfassendes System der Sozialversicherung zu integrieren. Während seiner Hochschultätigkeit am Institute of Statistics in Oxford wendet sich Forchheimer vorwiegend wirtschaftsstatistischen Forschungsprogrammen und makroökonomischen Fragestellungen zu, wobei internationale Vergleiche eine zentrale Aufgabe darstellen. Im Jahre 1941 führt er mit Unterstützung der Rockefeller Foundation eine sekundär-statistische Untersuchung über zyklische Konjunkturschwankungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die wichtigsten westlichen Industrienationen durch. Eine Kurzfassung der Ergebnisse erscheint 1945 in den Oxford Economic Papers unter dem Titel The „Short Cycle" in its International Aspects (1945a). Darin folgert Forchheimer, dafi die konjunkturellen Zyklenverläufe einzelner Länder keine isolierten

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Phänomene darstellen, sondern von internationalen Faktoren beeinflußt werden. Ferner seien spezifische Abläufe im Zusammentreffen von langen und kurzen Wellen zu konstatieren: So seien bei der Abwärtsbewegung innerhalb einer langen Welle längere Rezessionen mit kurzen Aufschwüngen kombiniert, während in der langfristigen Aufwärtsbewegung kurze Rezessionen mit längeren Aufschwungperioden auftreten. Somit bliebe die Gesamtlänge der kurzen Wellen ungefähr gleich. Bezüglich der kurzen Wellenbewegungen zeigt Forchheimer darüber hinaus, daß neben den Hauptwendepunkten ein paar andere Punkte während der Auf- und Abwärtsbewegung existieren, in denen das System empfänglich ist für Kräfte von außen, welche die ansonsten unaufhaltsame Bewegung stoppen oder sogar umkehren können. Sie sind regelmäßiger Bestandteil der Konjunkturzyklen. Im Jahr 1945 erscheint ferner der Artikel WarTime Changes in Industrial Employment. A Comparison Between the Two World Wars (1945b), in dem er die Ergebnisse eines Vergleichs verschiedener Arbeitsmarktkenngrößen zwischen den beiden Kriegsjahren 1918 und 1944 vorstellt. Hierzu untersucht er die absolute und relative Zu- bzw. Abnahme der Beschäftigung jeweils getrennt für Frauen und Männer in den einzelnen Sektoren. Anhand der ermittelten Zahlen gibt er einen Ausblick auf die zu erwartenden arbeitsmarktpolitischen Probleme der Nachkriegsjahre und weist auf die Bereiche hin, in denen sich Umstellungsbzw. Anpassungsbedarf abzeichnet. In den folgenden Jahren konzentriert sich Forchheimer auf das Thema der Streikbewegungen. 1948 publiziert er den Aufsatz Some International Aspects of Strike Movement, in dem er Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Struktur und Entwicklung nationaler Streikbewegungen anhand der Untersuchungsmerkniale Häufigkeit, Anzahl involvierter Arbeiter und Anzahl verlorener Tage ermitteln kann. In einem zweiten Artikel, der ein Jahr später unter dem Titel Some International Aspects of Strikes veröffentlicht wird, präsentiert er die Ergebnisse einer Untersuchung zum Einfluß der Größe und der Dauer von Streiks auf deren Effektivität für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Nach seiner Rückkehr nach Österreich verfaßt Forchheimer eine von der Arbeiterkammer in Wien herausgegebende Broschüre, in der er in die Gedankengänge und Lehren von J.M. Keynes einfuhrt. Er selbst bekennt sich zu den Ideen des eng-

Frank, Andre Glinder lischen Nationalökonomen, deren Wirkung auf die angelsächsischen Länder er während seines Englandaufenthalts beobachten konnte. Wie viele andere namhafte Nationalökonomen erwartet er, daß sich mit Hilfe einer keynesianischen Wirtschaftspolitik nachhaltige Erfolge hinsichtlich der Beschäftigung erzielen lassen. Aufgrund der bis dahin eher geringen Beachtung von Keynes' Lehren und häufiger Anfeindungen in Österreich sieht er es als seine Aufgabe an, das Werk von Keynes in bewußt populärer Weise darzustellen, um es damit einem möglichst breiten Publikum nahezubringen. Schriften in Auswahl: (1908) Theoretisches zum unvollständigen Monopole, in: Jahrbuch fur Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Bd. 32, S. 1-12; englische Übersetzung: Imperfect Monopoly: Some Theoretical Considerations, in: Nebraska Journal of Economics and Business, Bd. 22, No. 2 (1983), S. 65-77. (1913)

(1920/21)

(1924)

(1929)

(1945a)

(1945b)

(1948)

Die neue wohnungspolitische Gesetzgebung Österreichs, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitk, Bd. 36, S. 528-547. Die Organisation der Arbeitslosenfürsorge in Österreich, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 48, S. 707-730. Sliding Wage Scales in Austria, in: International Labour Review, Bd. 10, S. 30-47. The Financial Problems of Unemployment Insurance, in: International Labour Review, Bd. 19, S. 483-502. The „Short Cycle" in Its International Aspects, in: Oxford Economic Papers, Bd. 7, S. 1-20. War-Time Changes in Industrial Employment. A Comparison Between the Two World Wars, in: Institute of Statistics, Oxford, Bulletin, Bd. 7, No. 16, S. 269-278. Some International Aspects of Strike Movement, in: Institute of Statistics, Oxford, Bulletin, Bd. 10, No. 1, S. 924.

(1949)

(1952)

Some International Aspects of Strikes, in: Institute of Statistics, Oxford, Bulletin, Bd. 11, No. 9, S. 279-286. Keynes' neue Wirtschaftslehre. Eine Einfuhrung, Wien.

Bibliographie: Reid, G.C. (1979): Forchheimer on Partial Monopoly, in: History of Political Economy, Bd. 11, No. 2, S. 303-308. Quellen: Β Hb I; IFZ; SPSL 230/9. Klaus Herdzina

Frank, Andre Gunder, geb. 24.2.1929 in Berlin Frank emigrierte als vieijähriger mit seinen Eltern 1933 in die Schweiz. 1940/41 siedelte die Familie in die Vereinigten Staaten über, wo Frank die Ann Arbor High School und später das Swarthmore College besuchte. Unter dem Einfluß seines Vaters, dem Schriftsteller Leonhard Frank, entschloß er sich Volkswirtschaftslehre zu studieren und wurde, wie er selber bekundete, ein Keynesianer. 1950 begann er sein Studium an der Universität von Chicago, wo er u.a. Milton Friedmans Kurs in Wirtschaftstheorie besuchte. Nach bestandenem Examen erhielt er offensichtlich von der Volkswirtschaftlichen Fakultät der Universität von Chicago schriftlich den Rat, wegen der Inkompatibilität zu Friedman, die Universität zu verlassen. So wechselte er 1951 an die Universität von Michigan und studierte dort für ein Semester bei Kenneth Boulding und -* Richard Musgrave. Abschließend präsentierte er Boulding ein Papier über Welfare Economics, in dem er aufzeigte, daß es unmöglich ist „to separate efficiency in resource allocation from equity in income distribution" (1992, S. 154f.). Dafür erhielt er bei Boulding ein „sehr gut", während er in Chicago sein M.A. mit einer schlechten Note abgeschlossen hatte. Frank verließ den Universitätsbereich und wurde im Vesuvio-Caf£ in San Francisco nach eigenem Bekunden ein Antikonformist. Als er dort Jack Kerouac begegnete, entschloß er sich zur Universität zurückzukehren und kam durch die Hintertür wieder an die Universität von Chicago. In Bert Hoselitz' Research Center in Economic Development and Cultural Change erhielt er eine Stelle als Forschungsassistent. Sein erster Forschungsauftrag war eine kritische Evaluierung der ersten

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Frank, Andre Gunder Weltbankberichte über Ceylon, Nicaragua und die Türkei. Dann kehlte er wieder an die Universität von Chicago zurück und arbeitete über die sowjetische Ökonomie. Er promovierte 1957 mit der Arbeit Structural Change and Productivity in the Ukrainian Economy (vgl. auch 1958). Danach wandte er sich in zunehmendem MaBe der Entwicklungsökonomie unter besonderer Berücksichtigung Lateinamerikas zu. Er schrieb über 'social conflict' und rezensierte das Buch von - • Albert Hirschman Strategy of Economic Development in dem Journal von Bert Hoselitz wohlwollend (vgl. 1959/60). Weitere wichtige Stationen seines akademischen Wirkens waren neben der Universität von Chicago die Universitäten von Iowa, Michigan, California at Berkeley und Detroit. 1960 besuchte er erstmals Kuba. Von 1962 bis 1973 hielt er sich insbesondere in Mexiko, Brasilien und Chile zu Forschungsaufenthalten auf und lehrte an den Universitäten von Brasilia, Rio de Janeiro, Santiago und Mexiko. Nach einem zweijährigen Aufenthalt von 1966 bis 1968 in Montreal lehrte er von 1970 bis 1973 als Professor an der Universität von Chile. Anschließend hielt er sich von 1974 bis 1978 am Starnberger Max-Planck-Institut zu Forschungsarbeiten auf. Von 1978 bis 1985 lehrte Frank an der Universität von East Anglia in Norwich und ist seit 1981 an der Universität von Amsterdam tätig, wo er das Institute for Socio-Economic Studies of Developing Regions (ISMOG) leitet. Die Forschungs- und Lehraufenthalte in den 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern prägten sein wissenschaftliches Werk nachhaltig. Frank gehörte zu den profundesten und radikalsten Kritikern der zu dieser Zeit dominierenden entwicklungsökonomischen Mainstream-Theorien. Dabei setzte er sich sowohl mit den Theorien des Pluralismus als auch der Stadientheorie von Rostow und mit soziologischen Entwicklungstheorien auseinander. Er konzentrierte sich besonders auf den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Unterentwicklung. Daher gilt er neben Cardoso, Cordova und Dos Santos als bedeutendster Vertreter der marxistischen Dependenztheorie. Die Ursache von Unterentwicklung erklärt sich auch für Frank aus der Struktur des globalen kapitalistischen Systems, das zu hierarchischen Beziehungen zwischen den Zentren bzw. Metropolen und der Peripherie geführt hat. Frank gehört jedoch nicht zu den verblendeten Ideologen. Er

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setzte sich vielmehr mit den sozialistischen Systemen der sechziger Jahre sehr kritisch auseinander und grenzte sich damit von den orthodoxen Marxisten bzw. Kommunisten eindeutig ab. Seine entwicklungsökonomische Grundposition hat er umfassend erstmals 1967 in dem Buch Capitalism and Underdevelopment in Latin America vorgestellt, das 1969 unter dem Titel Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika auch in deutscher Sprache erschien. Es sei erwähnt, daB er dieses Buch -> Paul Baran und Paul Sweezy, denen er offensichtlich viele Anregungen und auch Zuspruch verdankt, gewidmet hat. Das erste Kapitel des Buches beginnt damit, die These der „kapitalistische[n] Entwicklung der Unterentwicklung in Chile" zu begründen. Danach ist Unterentwicklung in Chile für Frank ein „notwendiges Produkt einer vier Jahrhunderte währenden kapitalistischen Entwicklung und der inneren Widersprüche des Kapitalismus selbst. Diese Widersprüche sind die Enteignung von wirtschaftlichem Surplus von vielen und seine Aneignung durch wenige, die Polarisierung des kapitalistischen Systems in Metropolenzentrum und periphere Satelliten"( 19692, S. 21). In seinem 1978 erschienenen Buch Dependent Accumulation and Underdevelopment (Deutsche Ausgabe 1980 unter dem Titel Abhängige Akkumulation und Unterentwicklung) wendet er sich von seinem konkreten Bezug zu Lateinamerika, insbesondere zu Chile, ab und unternimmt den Versuch, aus dem Zirkel der zeitgenössischen, d. h. insbesondere neoklassischen Entwicklungstheorie auszubrechen. In seiner theoretischen Analyse zeigt er sehr dezidiert auf, wie die Ausdehnung des inneren Marktes durch die internationale Arbeitsteilung und die Produktionsverhältnisse in Entwicklungsländern begrenzt werden. Während der Zeit am Starnberger Max-Planck-Institut entstand schließlich das Buch Weltwirtschaft in der Krise. Verarmung im Norden, Verelendung im Süden (1980). Dieser kleine Sammelband enthält sechs Vorträge von Frank, die er zwischen 1972 und 1976 bei verschiedenen Anlässen gehalten hat. Dabei stellt er in seinen Beiträgen das Theorem von Ricardo und die darauf folgenden Außenhandelstheorien grundsätzlich in Frage. In dem ersten einführenden Beitrag „Gedanken über die Weltwirtschaftskrise" begründet er ausführlich, warum die rapide Öffnung des Weltmarktes nicht zu dem allgemeinen Reichtum für alle Staaten der Erde gefuhrt hat, wie das in der traditionellen Außenhandelstheorie postuliert wird. Für

Frank, Andre Gunder ihn ist die Ölkrise lediglich eine Wirkung, jedoch keinesfalls die Ursache der allgemeinen Krise, in die viele Industrieländer in den 1970er Jahren gerieten. Diese Krise geht für Frank einher mit der zunehmenden Ausbeutung insbesondere in der Dritten Welt. Frank findet mit diesen theoretischen Grundpositionen heute sicher nicht mehr den Zuspruch, den er in den sechziger und siebziger Jahren erfahren hat. Es ist jedoch festzustellen, daB viele seiner Kritiker die von ihm aufgezeigten Probleme weder theoretisch noch politisch lösen konnten. Der letzte Beitrag des Buches hat den Titel „Wartet nicht auf 1984". Es handelt sich um das sehr bekannt gewordene Gespräch zwischen Samir Amin und Andre Gunder Frank, das in der italienischen Tageszeitung II Manifesto abgedruckt wurde. Dabei wird seine Kritik am Kapitalismus noch einmal sehr deutlich. Für Frank steht die klassische Akkumulationskrise im Mittelpunkt, die langfristig zu einem Niedergang des Kapitalismus fuhren werde. Frank bezweifelt jedoch, „ob der Kapitalismus seine historische Funktion erschöpft hat und in eine Phase des Niedergangs eingetreten ist" (1978b, S. 112). Er vertritt die Auffassung, daß das kapitalistische System heute gezwungen ist, neue Entwicklungsmöglichkeiten in der Dritten Welt und in den um die UdSSR gruppierten Ländern zu suchen. Für ihn bleibt die Frage offen, ob solche Versuche erfolgreich sein können. In den achtziger Jahren arbeitete Frank über aktuelle Themen dieses Jahrzehnts. 1982 schrieb er einen bemerkenswerten Artikel zum Thema „After Reaganomics and Thatcherism, what? From Keynesian Demand Management via Supply-Side Economics to Corporate State Planning and 1984". In diesem Artikel geht er der Frage nach, warum das Nachfragemanagement keynesianischer Prägung der westlichen Regierungen durch die monetaristische Politik und angebotsorientierte Ökonomie von Reagan und Thatcher verdrängt wurde. Nachdem er den Aufstieg und Fall des Keynesianismus begründet hat, thematisiert er die aufkommende Popularität von Monetarismus und angebotsorientierter Ökonomie. Während er sich in der Analyse, für ihn ungewohnt, den wirtschaftspolitischen Zusammenhängen und den jeweiligen politischen Vertretern zuwandte, kommt er in seinen Schlußfolgerungen darauf zurück, daß die aufgezeigten Richtungen der Ökonomie die Krisenphänomene der kapitalistisch geprägten

Weltwirtschaft nicht zu lösen vermochten. Schließlich interessierten Frank 1990 die dramatischen Veränderungen in Osteuropa, die er in dem Artikel Revolution in Eastern Europe. Lessons for Democratic Socialist Movements in the Future of Socialism beschreibt. In diesem Beitrag setzt er sich kritisch mit dem Niedergang real existierender sozialistischer Systeme bzw. Länder, d. h. Osteuropas und der UdSSR, auseinander. Abschließend wirft er die Frage auf, ob ein differenzierter Sozialismus in der Zukunft möglich sein wird. Er selbst hält an ihm fest, da für ihn die Alternative eine Verschärfung des kapitalistischen Konflikts mit seinen Folgen der Umweltkrise und kriegerischer Auseinandersetzungen ist. Schriften in Auswahl: (1958) General Productivity in Soviet Agriculture and Industry. The Ukraine 1928-55, in: Journal of Political Economy, Bd. 66, S. 498-515. (1959/60) Built in Destabilization. A.O. Hirschman's Strategy of Economic Development, in: Economic Development and Cultural Change, Bd. 8, S. 433-440. (1969) Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika, Frankfurt a.Μ.; 2. Aufl. 1975 (engl.: Capitalism and Underdevelopment in Latin America. Historical Studies of Chile and Brazil, New York/London 1967). (1975) On Capitalist Underdevelopment, Bombay u.a. (1978a) Dependent Accumulation and Underdevelopment, London/Basingstoke (dt. Übers.: Abhängige Akkumulation und Unterentwicklung, Frankfurt a.M. 1980). (1978b) Weltwirtschaft in der Krise. Verarmung im Norden, Verelendung im Süden, Reinbek. (1980) Crisis in the World Economy, London. (1982)

After Reaganomics and Thatcherism, what? From Keynesian Demand Management via Supply-Side Economics to Corporate State Planning and 1984, in: Contemporary Marxism (San Francisco), Nr. 4, 1981/82, S. 18-28.

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Freeman, Roger Adolf (1983)

(1990)

(1992)

The European Challenge. From Atlantic Alliance to Pan-European Entente for Peace and Jobs, Nottingham. Revolution in Eastern Europe. Lessons for Democratic Socialist Movements in the Future of Socialism, New York. Andre Gunder Frank (bom 1929), in: P. Arestis, M. Sawyer (Hrsg.): A Biographical Dictionary of Dissenting Economists, Aldershot, S. 154-163.

Quellen: DDR-Ökonomenlexikon; Who's Who in the World. Michael von Hauff

Freeman, Roger Adolf, geb. 2.9.1904 in Wien; Sohn des Bankiers Samuel Freimann Freeman studierte in den zwanziger Jahren an der Hochschule für Welthandel in Wien, wo er 1927 sein Diplom erhielt. In der Zeit nach seinem Studium arbeitete er bis 1939 in der Handelsabteilung der Firma DEL-ΚΑ Schuhe. Mehr als ein Jahr nach der Annexion Österreichs durch Hitler emigrierte er 1939 zuerst nach Großbritannien, 1940 dann in die Vereinigten Staaten. Aufgrund eines von ihm verfaBten Artikels zu den Vertriebsproblemen von Handelsketten erhielt er kurze Zeit nach seiner Ankunft in New York die Position eines Vetriebsleiters der auf nationaler Ebene tätigen W.C. Douglas Shoe Corporation angeboten. Dieser ersten Anstellung folgte eine Tätigkeit als Einkäufer eines Kaufhauskonzems bis 1945. Danach siedelte er nach Seattle über, um für vier Jahre im Finanzbereich der Shoe Corporation of America tätig zu sein. Im Jahr 1949 kam es zu einem entscheidenden Wandel in Freemans Karriere. Durch ein Wählervotum zur Einführung eines umfangreichen Wohlfahrtsprogramms war der Bundesstaat Washington zahlungsunfähig geworden. Der damalige Gouverneur Arthur Langlie berief Freeman als Special Assistant und übertrug ihm die Aufgabe, die finanzielle Reorganisation des Budgets durchzufuhren. Der Erfolg dieser Arbeit und sein Bericht über die finanzielle Situation des Bundesstaates stießen auf große Resonanz in den Medien. Seine nächste Stelle führte ihn deshalb zurück an die Ostküste in den Beraterstab des 1953 ins Amt gekommenen Präsidenten Dwight Eisenhower.

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Als Mitglied einer Kommission, die mit der Untersuchung der Verteilung der Machtbefugnisse zwischen Bundesstaaten und der Bundesregierung betraut war, konzentrierte er sich vor allem auf das Gebiet der Finanzierung von Bildungsmaßnahmen. Anfangs noch Teilzeitmitarbeiter war Freeman ab 1955 ausschließlich für das Weiße Haus tätig und ging 1956 im Auftrag der U.S. Treasury als Finanzberater nach Bolivien. Zwischen 1957 und 1962 hatte er die Stelle des Vizepräsidenten des Institute for Social Science Research in Washington inne. 1962 erhielt er einen Ruf als Senior Fellow an die Hoover Institution der Universität Stanford, wo er über den Zeitpunkt seiner Emeritierung im Jahr 1975 hinaus als Senior Fellow Emeritus aktiv war. In dieser Zeit führte er mehrere Forschungsprojekte zu Problembereichen der Regiemngspolitik durch, die vor allem Fragen der Besteuerung, der Bildung, der öffentlichen Wohlfahrt, der Verteidigung und der föderalen Struktur der USA betrafen. Neben seiner universitären Tätigkeit war Freeman mehrfach Mitglied in Gremien und Kommissionen, die auf höchster bundespolitischer Ebene den Präsidenten und das Parlament berieten, wie z.B. 1967 als Vorsitzender der Task Force on Revenue Sharing des Republican National Committee, 1969-1970 als Special Assistant von Präsident Nixon oder 1972-1973 in der Governor's Tax Reduction Task Force. 1977 hatte er eine Professur für Ökonomie am Hillsdale College in Michigan inne. Freeman erhielt aufgrund seiner wissenschaftlichen und politischen Tätigkeiten eine Reihe hoher Auszeichnungen, so z.B. zweimal die George Washington Honor Medal der Freedom Foundation in Valley Forge (1966 und 1972) und zweimal den Distinguished Research Award der Governmental Research Association (1958 und 1975). 1966 wurde ihm die Ehrendoktorwürde im Fach Rechtswissenschaften durch die Brigham Young University, Provo, Utah, verliehen. Die wissenschaftlichen Arbeiten von Freeman sind in einem hohen Maße durch sein Engagement in der Politik geprägt. Seine Forschungsschwerpunkte lagen bei der Finanz- und Sozialpolitik. Insbesondere die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und dessen Auswirkungen auf die anderen Politikbereiche waren über Jahre hinweg die zentralen Themen seiner Veröffentlichungen. Zu nennen sind hier insbesondere die beiden Bücher The Growth of the American Government. A Morphology of the Welfare State (1975) und die Weiter-

Freeman, Roger Adolf entwicklung davon: The Wayward Welfare State (1981). In beiden Werken erläutert Freeman unter Verwendung seines Insiderwissens und umfangreicher Daten den Ausbau des amerikanischen Wohlfahrtsstaates. Die Zunahme der staatlichen Hilfeleistungen in den 1960er und 1970er Jahren wird von ihm sehr kritisch betrachtet, da diese Ausgaben deutlich schneller gewachsen sind als die Bevölkerungszahlen und das Sozialprodukt. Zusätzlich habe diese konsumtive Verwendung von Mitteln zu einem Rückgang des Anteils der Verteidigungsausgaben geführt, was zu Lasten der äußeren Sicherheit gehe. Ständig steigende Staatsanteile schränken nach Meinung Freemans die individuelle Freiheit der privaten Wirtschaftssubjekte immer mehr ein, da sie nicht mehr selbst über die Verwendung der erbrachten Wirtschaftsleistung entscheiden können. Darüber hinaus würden die zur Finanzierung dieser Ausgaben notwendigen Steuererhöhungen die Leistungsbereitschaft der Leistungsfähigen und Leistungswilligen senken, während die Eigeninitiative und Verantwortungsbereitschaft der Wohlfahrtsempfänger gedämpft werde. Diese Entwicklung sei konträr zu der normalerweise als typisch amerikanisch angesehenen Befürwortung des freien Spiels der Marktkräfte. Einen wichtigen Grund für diesen ProzeB sieht Freeman im EinfluB der Intellektuellen, die in den Beraterstäben der Regierung tätig sind und hier eine Möglichkeit zur Machtentfaltung haben, die sich ihnen in ihrem sonstigen Berufsleben (z.B. an der Universität) nicht bieten würde. Die Ideale dieser für amerikanische Verhältnisse meist links der Mitte stehenden intellektuellen Berater und Planer würden mit den Interessen der Nutznießer von Wohlfahrtsleistungen hervorragend harmonieren, so dafi sich aus dieser Allianz eine Tendenz zu steigenden Budgets ergeben würde. Die Bereitstellung von sozialen Leistungen würde darüber hinaus die Forderung nach noch mehr Zuwendungen bedingen. So seien die Studenten- und Rassenunruhen der 1960er Jahre in den Vereinigten Staaten nicht trotz, sondern wegen der ausgebauten Wohlfahrtsleistungen entstanden. Verstärkt würde dies durch die gleichzeitig propagierte keynesianische Wirtschaftspolitik, die in steigender Gütemachfrage die Voraussetzung für einen dauerhaften WachstumsprozeB sieht. Ein einfacher Weg zu mehr Nachfrage ist dabei die Umverteilung von Kaufkraft von einkommensstarken zu den einkommensschwachen Schichten der Gesellschaft. Keynesianische Wirt-

schaftspolitik stellt somit für Freeman nicht nur ein Mittel zur Überwindung von konjunkturellen Fehlentwicklungen, sondern auch eine willkommene Rechtfertigung für den Ausbau des Sozialstaates dar. Ein Ergebnis dieser Politik der sechziger und siebziger Jahre sei die Wandlung des Prinzips Gleiche Möglichkeiten für alle in Gleiche Ergebnisse für alle. Ein weiteres Problem sieht Freeman in der zunehmenden Konzentration staatlicher Kompetenzen auf Bundesebene. Die Regierung in Washington, D.C., würde Uber immer mehr Sachverhalte zu entscheiden haben, die einerseits aufgrund der räumlichen und sachlichen Nähe der lokalen Behörden und der bundesstaatlichen Regierungen von diesen fundierter bearbeitet werden könnten, sowie andererseits den Präsidenten inklusive der ihm unterstellten Behörden von der Erfüllung ihrer eigentlichen Aufgaben, nämlich Verteidigungs- und Außenpolitik, ablenken würden. Die Effizienz staatlicher Entscheidungen könne durch eine Reallokation der Kompetenzen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip gesteigert werden. Vergleichbare Überlegungen finden sich bei Freeman schon früher, z.B. in seinen Untersuchungen zur Notwendigkeit und Finanzierung steigender Bildungsausgaben (1958; 1960). Die Untersuchungen und Aussagen Freemans lassen eine große Nähe zu den wirtschaftetheoretischen Überlegungen der sog. Neuen Politischen Ökonomie (NPÖ) erkennen, deren bekanntester Vertreter der Nobelpreisträger James M. Buchanan ist. Darüber hinaus erinnert vieles in seiner Argumentationsweise an das Wahlprogramm und die Grundeinstellungen von Ronald Reagan, dem das Buch The Wayward Welfare Suite auch gewidmet ist, sowie an manche Aussage anderer republikanischer Politiker, die die Rückbesinnung auf die traditionellen amerikanischen Prinzipien fordern. Freeman, der sich als Amerikaner versteht (vgl. King 1978), hatte nach seiner Emigration die Möglichkeiten, wie sie wohl nur die USA Mitte unseres Jahrhunderts bieten konnten, in positiver Weise erfahren und nutzen können. Hieraus läßt sich mit Sicherheit die kritische Einstellung gegenüber dem amerikanischen Wohlfahrtssystem erklären. Aus europäischer Sichtweise jedoch sind viele der getroffenen Schlußfolgerungen zu kritisieren. Die 1980er Jahre haben teilweise die von Freeman geforderte Umstrukturierung des Wohlfahrtswesens gebracht, inwieweit diese aber die Probleme der Vereinigten Staaten gelöst

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Freudenberger, Hermann hat, bleibt fraglich. Erinnert sei nur an das sog. 'Beschäftigungswunder*, das vor allem aus der Schaffung schlecht bezahlter Dienstleistungsjobs bestand. Die soziale Spaltung der Gesellschaft scheint sich verschärft zu haben. Festzuhalten bleibt, daß die Emigration intensiv auf Freeman gewirkt hat und ihn geradezu 'amerikanisiert' zu haben scheint. Gleichzeitig hat sein Verständnis des Phänomens USA starken Einfluß auf die Analyse und Beurteilung sowie die Gestaltung realer amerikanischer Wirtschaftspolitik genommen, an der er lange Zeit aktiv beteiligt war. Schriften in Auswahl: (1958) School Needs in the Decade Ahead, Washington, D.C. (1960) Taxes for Schools, Washington, D.C. (= The Institute for Social Science Research. Financing the Public Schools, Bd. 2). (1965) Crisis in College Finance? Time for New Solutions, Washington, D.C. (1973) Tax Loopholes. The Legend and the Reality, Washington, D.C. (1975) The Growth of American Government. A Morphology of the Welfare State, Stanford. (1981) The Wayward Welfare State, Stanford. (1982) Soziale Sicherheit im defekten Wohlfahrtsstaat, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Bd. 31, S. 97-109 (übersetzt aus dem Englischen von Dr. H. Hoffmann). Bibliograhie: King, P.H. (1978): The Liberal Success Story of a Conservative Man, in: San Francisco Examiner, 18. Juli. Quellen: Β Hb II; AEA; Who's Who in America. Stephan Seiter

Freudenberger, Hermann, geb.

14.4.1922 in

Eberbach/Baden Noch als Schüler emigrierte Freudenberger im Dezember 1934 in die USA, wo er von einer amerikanischen Pflegefamilie aufgenommen wurde. Nach seiner Schulausbildung arbeitete Freudenberger zunächst in Übergangstätigkeiten, bevor er von 1942 bis 1946 in der amerikanischen Armee in Europa diente. Nach Abschluß seiner militäri-

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schen Verpflichtungen war er wieder in der Industrie tätig, um ab 1949 endgültig eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Er schrieb sich zunächst an der Columbia University in New York ein. Zügig graduierte er 1950 zum Bachelor of Science und 1951 zum Master of Arts. Ein Doktorstudium mit einem wirtschaftsgeschichtlichen Schwerpunkt Schloß sich direkt an. Vor seiner Promotion bei David Landes im Jahre 1957, ebenfalls an der Columbia University, verbrachte Freudenberger die akademischen Jahre 1953 bis 1955 als Fulbright Scholar in Wien an der dortigen Universität. 1955/56 unterrichtete er an der School of Insurance in New York und 1956 bis 1960 am Brooklyn College (City University of New York). Gleichzeitig hatte er 1958/59 auch einen Lehrauftrag an der Rutgers University, New Jersey. Sein nächster Schritt führte ihn nach Missoula an die Montana State University. Dort war er von 1960 bis 1962 als Associate Professor of History tätig. Ab 1962 setzte Freudenberger seine Laufbahn in New Orleans fort; zunächst als Associate Professor, ab 1966 als Full Professor lehrte und forschte er an der Tulane University. Immer wieder unterbrochen von Forschungsaufenthalten in Europa ist er dieser traditionsreichen Universität bis heute treu geblieben. In seiner Dissertation (1957) beschäftigte sich Freudenberger mit dem Versuch der Habsburger Monarchie, im 18. Jahrhundert eine tragfähige industrielle Basis in Mitteleuropa zu schaffen. Von diesem wirtschaftshistorischen Thema ausgehend umspannt das wissenschaftliche Werk Freudenbergers weitere wirtschaftsgeschichtliche Betrachtungen sowie zahlreiche historische Industriestudien mit einem geographischen Schwerpunkt in West- und Mitteleuropa. Eines seiner frühen Hauptwerke (1963) thematisiert zum Beispiel den Produktionsprozeß in einer Wollspinnerei im 18. Jahrhundert in Böhmen. Er analysierte dabei im Detail die Investitionsentscheidungen der Wollspinnerei, deren Marketingkonzept und ihre Beziehung zu den Arbeitern. Darüber hinaus untersuchte er die unternehmerische Reaktion auf zunehmende ausländische Konkurrenz und die besondere Rolle des Adels bei der Untemehmensführung und in der Wirtschaftspolitik im allgemeinen. Auch in seinem zweiten Hauptwerk (1975) widmete sich Freudenberger als Co-Autor einer verwandten Fragestellung. Am Beispiel von Brünn diskutiert er den Aufstieg einer Provinzstadt zur Industrieregion. Das Hauptaugenmerk

Freund, Rudolf Ε. liegt dabei auf der Rolle des Staates fur eine solche Entwicklung und wie wirtschaftspolitische Maßnahmen und Konzepte das ökonomische Bild einer Region nachhaltig (und vorteilhaft) prägen können. Neben den angesprochenen Monographien war Hermann Freudenberger auch ein reger Autor für Sammelbände und wissenschaftliche Zeitschriften. Immer mit dem Blick für die wirtschaftsgeschichtliche Ehmension reichen die von ihm bearbeiteten Themen von der erwähnten Industrialisierung Mitteleuropas im 18. Jahrhundert (1960) über die Rolle des Unternehmers und der Arbeiter (1974) bis hin zu Fragen des Technologietransfers und der Rolle des Staates in der Struktur- bzw. Entwicklungspolitik (1967). Das umfassende wissenschaftliche Werk Freudenbergers ist geprägt von der Einsicht, daß ökonomische Entwicklungen unmöglich getrennt von ihren historischen Komponenten betrachtet werden können. Dazu gehört seiner Ansicht nach vor allem das soziale Umfeld der wirtschaftlichen Akteure sowohl auf Seiten der Unternehmer und der Arbeiter wie auf Seiten der staatlichen Entscheidungsträger. Diese Perspektive wirkt um so moderner, je mehr man das gestiegene Interesse der modernen Ökonomie an wirtschaftsgeschichtlichen Themen im Lichte der 'Neuen InstitutionenÖkonomik' berücksichtigt. Man wird Freudenberger sicher nicht als Wegbereiter oder exponierten Vertreter dieser Forschungsrichtung ausmachen, aber bereits in seinen frühen Werken finden sich Ansatzpunkte, die in den letzten Jahren an Aktualität eher gewonnen, denn verloren haben. Schriften in Auswahl: (1957) A Case Study in the Government's Role in Economic Development in the Eighteenth Century, Diss., Columbia University, New York. (1960) The Woolen Goods Industry of the Habsburg Monarchy in the Eighteenth Century, in: Journal of Economic History, Bd. 20, S. 383-408. (1963) The Wadstein Woolen Mill, Boston. (1967) State Intervention as an Obstacle to Economic Growth in the Habsburg Monarchy, in: Journal of Economic History, Bd. 27, S. 493-509. (1974) Unternehmer in der Industrialisierung, in: Beiträge zur Historischen Sozialkunde, Bd. 4, S. 12-15.

(1975)

(1977)

(1983)

(1992)

Von der Provinzstadt zur Industrieregion. Ein Beitrag zur Politökonomie der Sozialinnovation, dargestellt am Innovationsschub der industriellen Revolution im Räume Brünn (zus. mit G. Mensch), Göttingen. The Industrialization of a Central European City. Brno and the Fine Wooden Industry in the 18th Century, Edington. On the Rational Origins of the Modem Centralized State (zus. mit R.W. Batchelder), in: Explorations in Economic History, Bd. 20, S. 1-13. A Peculiar Sample: The Selection of Slaves for the New Orleans Market (zus. mit J.B. Pritchett), in: Journal of Economic History, Bd. 52, S. 109127.

Quellen: Β Hb Π; AEA. Rolf Daxhammer

Freund, Rudolf E., geb. 21.5.1901 in Pforzheim, gest. 1955 in Raleigh, North Carolina Freund promovierte 1924 bei Edgar Salin in Heidelberg mit einer Arbeit Uber die 'Genfer Protokolle'. Von 1926 bis 1929 und von 1931 bis 1933 war er Assistent am Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. In der von - J. Hirsch 1925, S. 164). Doch schon bald nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sprach man in Deutschland in verschiedener Hinsicht von der „Krisis der Sozialpolitik" (u.a. -» G. Briefs 1924). Das alte Wunschbild vom gnädigen Herrscher, vom 'Vater Staat', dem das Wohlergehen seiner Untertanen am Herzen liegt, zerbrach mit der Monarchie. Und in der jungen Weimarer Republik diskutierten Sozialisten, Liberale und Konservative nun äußerst kontrovers über Sinn und Unsinn sozialpolitischer Maßnahmen. Überdies schwand das Interesse an sozialpolitischen Themen merklich, als nach 1918 der nationalökonomische Historismus immer mehr von der neoklassischen bzw. liberalen Lehre verdrängt wurde. Ferner verstärkten sich die Zweifel, ob sozialpolitische Maximen überhaupt wissenschaftlich begründbar sind. Dies war dem zunehmenden Einfluß der Ansichten Max Webers zuzuschreiben, der schon 1904 gefordert hatte, strikt zwischen sozialwissenschaftlicher Tatsachenerkenntnis und sozialpolitischen Werturteilen zu unterscheiden. Auch Heimann schaltete sich in die anhaltende Debatte über die vermeintliche Krise der Sozialpolitik ein. Anfangs verteidigte er (u.a. 1924a; 1924b; 1926b) die überkommene Lehre, das Ziel der Sozialpolitik darin zu sehen, die Verteilungsergebnisse des Marktes nachträglich zu korrigieren, um Sozialrevolutionären Tendenzen, die die Stabilität von Staat und Gesellschaft gefährden könnten, den Nährboden zu entziehen. Allmählich wandelte sich indes seine Einstellung zur Rolle der Sozialpolitik in der modernen Wirtschaftsgesellschaft. Er wollte der Sozialpolitik nun eine (neue) wissenschaftliche Basis geben und sie dadurch aus der Krise fuhren. Dabei entschied er sich für einen historisch weit ausholenden gesell-

schaftstheoretischen Ansatz, den er in seinem Hauptwerk (1929) zur Theorie der Sozialpolitik ausarbeitete und fast beschwörend vortrug. In der Sache hatte sich Heimann viel vorgenommen, nämlich „den sozialen Weg des Kapitalismus auf deutschem Boden zu beschreiben" (1929, S. 9), mehr noch, das „Wesen der Sozialpolitik" mit Hilfe einer „sozialen Theorie des Kapitalismus" zu entschlüsseln. Das extrem liberalistische Argument, die Sozialpolitik sei ein systemfremdes und daher störendes Element in einer freien Marktund Wettbewerbswirtschaft, versuchte er mit der überraschenden Hypothese zu entkräften, daß die Sozialpolitik selbst ein legitimes Kind des (ökonomischen) Liberalismus sei. Heimann (1929, S. 36ff.) sah die „große sozialpolitische Leistung des Liberalismus", der die eigentumslosen Menschen aus der feudalistischen Knechtschaft befreit habe, in der „Übereignung des Arbeitsvermögens an die Arbeiter". Die dergestalt erworbenen Besitz- und Freiheitsrechte seien jedoch nur im frühen (liberalen) Kapitalismus gesichert gewesen, solange eine „kleinbetriebliche Demokratie" bestand, „die jeden tüchtigen Mann zu seinem eigenen Herrn macht ..." und alle den anonymen Marktgesetzen gleichermaßen unterwirft. Dies gelte jedoch nicht mehr in der „großbetrieblichen Herrschaftsorganisation" des Hochkapitalismus (ebd., S. 4Iff.). Das Individuum verliere seine ökonomische Freiheit wieder und gerate aufs neue in soziale Abhängigkeit und Not. Die liberalistische Hoffnung, daß sich diese 'soziale Frage' in einer dauerhaft wachsenden Wirtschaft gar nicht mehr stellen wild bzw. durch systeminterne Korrekturen der Einkommens- und Vermögensverteilung jederzeit beherrschbar bleibt, verkenne - so Heimann - das eigentliche Problem. Eine solche Erwartung impliziere nämlich eine „materialistische Verfälschung des Lebens zu einer bloßen Güterfrage" (ebd., S. 45; s. auch S. 208ff.) und beschränke damit die Sozialpolitik auf einen quantitativ-ökonomischen Zweck. Diesem traditionellen Verständnis von Sozialpolitik stellte Heimann seine Auffassung vom „dynamisch-geistigen Wesen" der Sozialpolitik entgegen. Sie sei als solches Teil einer „sozialen Bewegung", die sich das Ziel gesteckt habe, die in der „modernen Arbeitswelt" verlorengegangene „Freiheit und Würde der Arbeit" zurückzugewinnen, ohne jedoch die - wegen ihrer hohen Produktivität unbestreitbar vorteilhafteste - großbetriebliche Produktionsweise antasten zu wollen (ebd.,

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Heimann, Eduard S. 139ff.). Die Sozialpolitik müsse also systemstabilisierend und systemverändemd zugleich wirken. Er sprach daher vom „konservativ-revolutionären Doppelwesen", von der „dialektischen Paradoxic" der Sozialpolitik: „... sie baut den Kapitalismus stückweise ab und rettet dadurch seinen jeweils verbleibenden Rest; sie erreicht immer dann und nur dann einen Erfolg, wenn die Erfüllung einer sozialen Teilforderung zur produktionspolitischen Notwendigkeit wird" (ebd., S. 172; s. auch S. 190 und S. 214). Daraus folgte für ihn zwingend, daß Sozialpolitik mehr beinhalten muB als Armenfürsorge und Wohlfahrtspflege, als Umverteilung und soziale Sicherung, nämlich „Sozialisierung ... und zwar Sozialisiening von unten her, aus der Sphäre des einzelnen Arbeiters aufsteigend und allmählich bis in das Herz der Eigentumsfrage vorstoßend ..." (ebd., S. 296; s. auch 5. Abschn.). Seinem dialektischen Ansatz entsprechend, ordnete er (ebd., 4. Abschn.) die sozialpolitischen Maßnahmen danach, ob sie den Wirtschaftsverlauf sichern (z.B. durch Arbeiterschutz und Arbeitswissenschaft), ihn zugunsten der Arbeitnehmer verändern (durch Lohnerhöhungen, Arbeitslosenunterstützung, Schlichtungswesen, Arbeitsvermittlung) oder ihn in seiner ökonomischen Effizienz beeinträchtigen (vor allem durch die gesetzliche Verankerung von Betriebsräten und Gewerkschaften). Während sich die Sozialpolitik im ersten Fall bereits aus den rein wirtschaftlichen Erfordernissen der industriellen Produktionsweise selbst rechtfertige, sei sie in den beiden anderen Fällen „der institutionelle Niederschlag der sozialen Idee im Kapitalismus und gegen den Kapitalismus" und damit eine „Methode der Sozialisierung" zur Wiedergewinnung bzw. Schaffung einer „sozialen Freiheitsordnung, welche die arbeitenden Menschen umfassen und tragen soll" (ebd., S. 290). Eine wirkliche Bewährungsprobe blieb Heimanns sozialpolitischer Philosophie verwehrt. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde sie obsolet - wie alle Ideen, die diesem Regime nicht paßten. Und nach 1945 ist die sozialpolitische Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland - theoretisch wie praktisch - in Bahnen verlaufen (vgl. Schilcher 1964), die von Heimanns Vorstellungen weit entfernt waren. Eduard Heimann wirkt heute wie eine tragische Figur der Geistesgeschichte dieses Jahrhunderts. Zu seiner Zeit war er - mal diesseits, mal jenseits des Atlantiks - ein bekannter und angesehener

248

Gelehrter und Professor. Sein Wirken war von hohen moralischen Ansprüchen bestimmt, sein Denken tiefgründig und anregend, seine Haltung immer aufrecht und offen. Dennoch hat man diese beeindruckende Persönlichkeit und ihr umfangreiches Werk in unserer Zeit schnell vergessen, sogar in jenen Kreisen, in denen sich Heimann durch seine Arbeit einen unverwechselbaren Namen gemacht hatte - in Wissenschaft, Religion und Politik. Und dies gilt nicht nur fur den deutschen Sprachraum, von dem er mehr als zwölf lange Jahre abgeschnitten war. Auch in den USA scheinen sich seine Spuren schnell verwischt zu haben. Obwohl er die Volkswirtschaftslehre durch viele Beiträge bereichert hat, wird er von seinen Fachgenossen kaum noch zitiert und in der dogmengeschichtlichen Literatur auffällig vernachlässigt. Obwohl er mit und neben Paul Tillich sehr viel dafür getan hat, der evangelischen Theologie die Welt der Sozialwissenschaften zu erschließen, nimmt heutzutage weder die Kirche noch die Religionswissenschaft groß Notiz davon. Und obwohl Heimann über ein halbes Jahrhundert zu den gescheitesten Vordenkern eines freiheitlich-demokratischen Sozialismus gehörte, wird seine Leistung von der gegenwärtigen Sozialdemokratie gar nicht oder nur halbherzig gewürdigt. Für dieses Vergessen bzw. Verdrängen scheint es mehrere Gründe zu geben, die entweder mit allgemeinen Zeiterscheinungen oder mit Heimann selbst zu tun haben: (1) In einer Epoche, in der so gut wie alle sozialistischen Experimente gescheitert sind, während gleichzeitig kapitalistische Systeme anhaltend erfolgreich waren, interessiert man sich zwangsläufig auch weniger für die Entwürfe von Mischordnungen, vor allem dann, wenn sie - wie bei Heimann - eine stärkere Auslenkung zur sozialistischen Seite hin haben. Der dauerhaften Rezeption Heimannscher Ideen hinderlich waren und sind außerdem das unzeitgemäße Pathos mancher seiner Texte sowie die Tatsache, daß sein fester Glaube an die Besserungsfahigkeit des Menschen mehr denn je für naiv gehalten wird. (2) Aus Sicht der modernen Wirtschaftswissenschaft ist Heimann nicht zuletzt deshalb ein Außenseiter geblieben, weil er ökonomische Probleme vorwiegend mit „deutschen Denkmitteln" traktierte. Daran hatte sich bei ihm auch dann kaum etwas geändert, als er im amerikanischen Exil viele Jahre gerade in jenem intellektuellen Klima lebte (vgl. auch 1939), das den damaligen wie heutigen Hauptstrom des ökonomi-

Heimann, Eduard sehen Denkens in seinen Zielen, Leitbildern und Methoden stark geprägt hat. (3) Im Unterschied zu Adolf Löwe und Alexander Rüstow hat sich Heimann nie ganz der geistigen Vormundschaft Paul Tillichs entziehen können oder wollen. Er hielt seinen großen Lehrmeister für ein Genie und bewunderte bis zuletzt dessen „mächtige Gedankenarbeit", die zu bewahren er für seine Freundesund Dankespflicht hielt. So spielte er weiter die Rolle des „Petrus", die ihm Tillich schon früh zu Zeiten des Kairos-Kreises zugedacht hatte (vgl. Rathmann 1983, S. 168, auch 1988, S. 123). Er verlor dadurch möglicherweise den Blick für alternative Ansätze, die ebenfalls Religion und Gesellschaft oder Religion und Wirtschaft aufeinander zu beziehen suchten. Von daher fällt auf, dafi Heimann in seinem Spätweik auf entsprechende Vorstellungen, beispielsweise der Freiburger Eukken-Schule, kaum reagiert und sich damit von einem Diskurs selbst ausgeschlossen hat, der für die politische und wirtschaftliche Neuordnung Westdeutschlands nach 1945 von großer Bedeutung war. Dies alles vermag seine bleibende Leistung nicht zu schmälern. Unter den deutschen sozialistischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts ist Heimann vielleicht neben Franz Oppenheimer, Adolf Löwe und Carl Landauer - der Ökonom, der am fruchtbarsten soziologisches und wirtschaftstheoretisches Gedankengut miteinander zu verknüpfen wußte. Und seine Vision von einem religiösen Sozialismus wird - auch wenn sie sich endgültig als Utopie erweisen sollte - für alle Zeit zum notwendigen Ideenvorrat abendländischen Denkens gehören, denn wie die Erfahrung lehrt, erlahmt der Forschungsgeist schnell, wenn es ihm an farbkräftigen Gegenbildem mangelt. Schriften in Auswahl: (1913) Zur Kritik der Sozial-Methode, Tübingen (Diss.). (1916) Vom neuen Wirtschaftsgeist, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 41, S. 758-768. (1921) Stimmen von der Hannoverschen Tagung. [Heimanns] Rede am 13.9.1921, in: Blätter für religiösen Sozialismus, 2. Jahr, Nr. 11/12, S. 41-48. (1922) Mehrwert und Gemeinwirtschaft. Kritische und positive Beiträge zur Theorie des Sozialismus, Berlin.

(1924a)

Marktwirtschaft, Klassengesellschaft und Sozialpolitik. Über die wissenschaftliche Grundlegung der Sozialpolitik und ihr Schrifttum, in: Kölner Sozialpolitische Vierteljahresschrift, 3. Jg., Heft 2, S. 45-71.

(1924b)

Entwicklungsgang der wirtschaftsund sozialpolitischen Systeme und Ideale, Π. Die jüngste Entwicklung, in: GrundriB der Sozialökonomik, I. Abteilung, I. Teil, 2. Aufl., Tübingen, S. 184-201. Zur Kritik des Kapitalismus und der Nationalökonomie, in: Blätter für religiösen Sozialismus, 7. Jahr, Jan./ Febr., S. 5-23. Sozialismus und Sozialpolitik. Ökonomische und philosophische Betrachtungen über die Beziehungen zwischen ihnen (Antrittsvorlesung an der Hamburgischen Universität am 7. Juli 1925), in: Tillich, P. (Hrsg.): Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswendung, Darmstadt, S. 289-310.

(1926a)

(1926b)

(1929)

(1931 a)

(1931b)

(1932a)

(1932b)

(1932/48)

(1939)

Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik, Tübingen; zit. nach der unveränderten Neuaufl., Frankfurt a.M. 1980. Kapitalismus und Sozialismus. Reden und Aufsätze zur Wirtschafts- und Geisteslage, Potsdam. Grundlagen und Grenzen der Sozialpolitik, in: Boese, F. (Hrsg.): Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik in Königsberg 1930 (= Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 182), München/Leipzig, S. 58-83. Sozialismus und Eigentum, in: Neuwerk. Ein Dienst am Werdenden, 14. Jg., S. 99-102. Sozialismus, Kommunismus und Demokratie, in: Neue Blätter für den Sozialismus, 3. Jg., S. 622-625. Sozialistische Wirtschafts- und Arbeitsordnung, Potsdam; Neuaufl., Offenbach a.M. The Refugee Speaks, in: The Annais of The American Academy of Political and Social Science, Bd. 203, S. 106-113.

249

Heimann, Eduard (1945)

History of Economic Doctrines. An Introduction to Economic Theory, London u.a. (dt. Übers.: Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen. Eine Einführung in die nationalökonomische Theorie, Frankfurt a.M. 1949).

(1954)

Wirtschaftssysteme und Gesellschaftssysteme, Tübingen. Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme, Tübingen. Soziale Ideologien und soziale Reform, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 16. Jahr, S. 334-342. Sozialismus im Wandel der modernen Gesellschaft. Aufsätze zur Theorie und Praxis des Sozialismus. Ein Erinnerungsband. Herausgegeben und eingeleitet von H.-D. Ortlieb, Berlin/Bonn-Bad Godesberg [enth. Auswahlbibliographie].

(1963) (1971)

(1975)

Bibliographie: Borchardt, K./Schötz, H.O. (Hrsg.) (1991): Wirtschaftspolitik in der Krise. Die (Geheim-) Konferenz der Friedrich List-Gesellschaft im September 1931 über Möglichkeiten und Folgen einer Kreditausweitung, Baden-Baden. Bottin, A. (1991): Enge Zeit. Spuren Vertriebener und Verfolgter der Hamburger Universität. [Katalog zur Ausstellung] Im Auditorium Maximum, Von-Melle-Park, 23. Februar-4. April 1991, Hamburg. Briefs, G. (1924): Zur Krisis der Sozialpolitik, in: Kölner Sozialpolitische Vierteljahresschrift, 3. Jg., Heft 1,S. 5-16. Gollnick, H. (1968): Eduard Heimann - in memoriam, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik, 13. Jahr, Tübingen, S. 247-249. Heyder, U. (1977): Der sozialwissenschaftliche Systemversuch Eduard Heimanns. Darstellung und Kritik der Möglichkeit einer einheitlichen Theorie der modernen Wirtschafts- und Sozialsysteme, Hamburger Diss., Frankfurt am Main et al. [enth. vollständige Bibliographie]. Hilger, M.-E. (1991): Das Sozialökonomische Seminar (SÖS), in: Krause, E./Huber, L./Fischer, H. (Hrsg.): Hochschulalltag im „Dritten Reich". Die Hamburger Universität 1933-1945, Teil II: Philo-

250

sophische Fakultät, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Berlin/Hamburg, S. 953-979. Hirsch, J. (1925): Deutsche Wirtschaftswissenschaft und -Praxis im letzten Menschenalter, in: Bonn, M.jyPalyi, M. (Hrsg.): Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege. Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag, 2. Bd.: Der Stand der Forschung, München/Leipzig, S. 147-197. Kodalle, K.-M. (1975): Politische Solidarität und ökonomisches Interesse. Der Begriff des Sozialismus nach Eduard Heimann, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Β 26Π5,28. Juni, S. 3-32. Ladwig, B. (1991): Eduard Heimann: Nationalökonom und religiöser Sozialist (1912-1933), unveröffentlichte Diplomarbeit, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Hamburg [enth. umfassende Bibliographie und ein Interview mit H.-D. Ortlieb über Heimann]. Landauer, C. (1967): Das Eindringen marktwirtschaftlicher Vorstellungen in die sozialistische Ideenwelt, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 12. Jahr, Tübingen, S. 142-159. Lowe, A. (1967): In Memoriam: Eduard Heimann, 1889-1967, in: Social Research, Bd. 34, S. 609-612; dt. Übers.: Nachruf für Eduard Heimann, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 124, 1968, S. 209-211. Ortlieb, H.-D. (Hrsg.) (1959): Zur Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Festausgabe für Eduard Heimann zum 70. Geburtstage (= Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 4. Jahr, Tübingen [enth. Bibliographie]). Ortlieb, H.-D. (1968/75): Eduard Heimann. Sozialökonom, Sozialist und Christ, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 13. Jahr, Tübingen, S. 250-266; kaum verändert wiederabgedruckt in: Heimann 1975, S. 1-20. Rathmann, A. (1983): Ein Arbeiterleben. Erinnerungen an Weimar und danach, Wuppertal. Rathmann, A. (1988): Eduard Heimann (18891967). Von Marx und seiner „überwältigend großartigen" Lehre zum religiös-freiheitlichen Sozialismus, in: Lösche, P. et al. (Hrsg.): Vor dem Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten, Berlin, S. 121-144. Schilcher, R. (1964): Sozialpolitik als Wirtschaftspolitik, in: Triebenstein, O. (Hrsg.): Sozialökonomie in politischer Verantwortung. Festschrift für Joachim Tiburtius, Berlin, S. 195-211.

Helleiner, Gerald Karl Tillich, P. (1922): Kairos, in: Die Tat, 14. Jg., Sonderheft über religiösen Sozialismus, S. SSOSSO. Tillich, P. (1923): Grundlinien des Religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf, in: Blätter für religiösen Sozialismus, 4. Jahr, Nr. 8/10, S. 124. Quellen: Β Hb Π; ISL (1980); HLdWiWi 1929. Heinz Rieter

Helleiner, Gerald Karl, geb. 9.10.1936 in St. Pölten Nach der Entlassung des Vaters Karl Ferdinand Helleiner aus seiner Stellung als Stadtarchivar 1938 reiste die Familie im folgenden Jahr über Großbritannien nach Kanada aus. Helleiner studierte zunächst an der University of Toronto, danach an der Yale University, wo er 1962 von R. Triffin mit der Albeit Connections Between United States' and Canadian Capital Markets, 19521960 promovielt wurde. In der behandelten Thematik zeichneten sich bereits seine Interessen auf dem Gebiet der internationalen Wirtschaftsbeziehungen ab. Die stärkere Berücksichtigung von Entwicklungsländerfragen in seine Arbeiten erfolgte kurz darauf unter dem Einfluß seiner Forschungsaufenthalte an der University of Ibadan in Nigeria von 1962 bis 1963 und am University College in Dar es Salaam in Tansania von 1966 bis 1968. Aus dieser Beschäftigung mit den wirtschaftlichen Problemen Zentralafrikas heraus entstand u.a. sein im Economic Journal (1964) publizierter Aufsatz über die umstrittenen staatlichen Marketing Boards als Zwischenhändler bei Agrarexporten. Den auch in der von Internationalem Währungsfonds (IMF) und Weltbank geführten Strukturanpassungsdiskussion der achtziger und frühen neunziger Jahre wieder verstärkt hervorgehobenen, aus steuerlichen Verzerrungen resultierenden negativen Allokationseffekten der Vermarktungsgesellschaften stellte Helleiner eine redistributive und eine externe Effekte intemalisierende Wirkung gegenüber. Er argumentierte, daß die Marketing Boards zum einen über die implizite, höhere Besteuerung der tendenziell reicheren Hersteller von Agrarexportprodukten - im Vergleich zu Produzenten von Agrargütern für den inländischen Markt - eine Einkommensumverteilung ermöglichen. Zum anderen kann der Staat über die

Steuererhebung die nicht Wachstums- und entwicklungsfördemde 'Verschwendung* dieser höheren privaten Einkommen, die z.B. in Form von Geldhortung und durch den Konsum importierter Produkte auftritt, verhindern und einen Teil dieser Einkommen fur die Bereitstellung öffentlicher Güter verwenden (vgl. 1964, S. 601ff.). Seit 1971 ist Helleiner Professor am Department of Economics der University of Toronto, wo er bereits von 196S an - parallel zu seinem Afrikaaufenthalt - eine Stelle als Associate Professor inne gehabt hatte. Mit der Rückkehr nach Kanada richtete sich sein Forschungsinteresse verstärkt auf den Zusammenhang zwischen internationalen Wirtschaftsbeziehungen, Entwicklung in der sog. Dritten Welt und multinationalen Unternehmen. Er wies unter dem Eindruck des mit Beginn der 1970er Jahre steigenden Anteils der Fertigprodukte an den Exporten der Entwicklungsländer auf die Notwendigkeit hin, die aus der Ansiedlung weltweit operierender Unternehmen resultierenden potentiellen Nutzen und Kosten für diese Länder gegeneinander abzuwägen, (vgl. 1973, S. 46; 1989, S. 1454ff.). Im darauffolgenden Jahrzehnt stieg infolge der Schuldenkrise die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit multinationalen Unternehmen, da die Entwicklungsländer ihren Kreditbedarf durch die Erhöhung des ausländischen Beteiligungskapitals reduzieren konnten. Hierin sah Helleiner eine Erweiterung der Funktion transnationaler Unternehmen: sie dienten auch als Finanzintermediäre zwischen dem 'nervösen' internationalen Bankensystem und der Dritten Welt (vgl. 1989, S. 1449f.). Die genaue Analyse der Rolle multinationaler Unternehmen im Entwicklungsprozeß sollte in seiner Sichtweise jedoch nicht allein in einem modelltheoretischen Kontext, sondern verstärkt auf der Grundlage von Länderstudien erfolgen. Er teilte dabei nicht den Standpunkt der Neomarxisten und der Dependenztheorie, daß diese Unternehmen nahezu ausschließlich negative entwicklungspolitische Effekte zeitigten (vgl. 1989, S. 1453). Allerdings erachtete auch er die Berücksichtigung der politischen Dimension, d.h. der Beziehungen zwischen den ausländischen Firmen, den Regierungen und den Interessengruppen für unabdingbar im Rahmen einer umfassenden Wirkungsanalyse (vgl. 1989, S. 1474f.). Im Zuge der sich in den achtziger Jahren verschärfenden Schuldenkrise der Entwicklungsländer setzte sich Helleiner frühzeitig kritisch mit den Kreditvergabekonditionen des IMF auseinan-

251

Herberts, John Η. der (vgl. 1983, S. 352f.). Neben der Abkehr von einer kurzfristig auf Zahlungsbilanzausgleich ausgerichteten Politik des IMF, die den Ländern Mittel- und Südamerikas sowie Afrikas die langfristigen Entwicklungsmöglichkeiten nimmt (vgl. 1991, S. 706), forderte er von der Weltbank ein Überdenken der 'harten' Strukturanpassungsprogramme, die nicht an die ökonomischen und politischen Gegebenheiten in den jeweiligen Kreditempfängerländern angepaßt sind (vgl. 1991, S. 731). Denn bereits 1986 hatte Helleiner in The Question of Conditionality darauf hingewiesen, daB die 'Anpassungskapazität', die er gerade bei afrikanischen Volkswirtschaften ökonomisch und institutionell bedingt als gering einschätzte, im Rahmen dieser Programme berücksichtigt werden muß (vgl. auch Tetzlaff 1993, S. 430f.). In einer Bestandsaufnahme der Nord-Siid-Beziehungen (1993), dreizehn Jahre nach dem AbschluBbericht der Brandt-Kommission, für die er als Berater tätig gewesen war, plädierte Helleiner für eine Reform und Demokratisierung von IMF und Weltbank, die stärkere Einbeziehung regionaler Entwicklungsbanken sowie die Berücksichtigung ökologischer Probleme, um die Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft langfristig zu bewältigen (vgl. 1993, S. 199f.). In Anlehnung an -» E.F. Schumacher charakterisierte er seine wissenschaftliche Arbeit, für die er 1988 ein Ehrendoktorat der Dalhousie University erhielt, somit treffend als „international economics as if the developing countries mattered" (1990, S. 3). Schriften in Auswahl: (1962) Connection between United States' and Canadian Capital Markets, 1952 - 1960, in: Yale Economic Essays, Bd. 2, S. 350-400 (Diss.). (1964) The Fiscal Role of Marketing Boards in Nigerian Economic Development, 1947-61, in: The Economic Journal, Bd. 74, S. 582-610. (1973) Manufactured Exports from Less Developed Countries and Multinational Firms, in: The Economic Journal, Bd. 83, S. 21-47. (1983) Lender of Early Ressort. The IMF and the Poorest, in: American Economic Review, Bd. 73 (2), S. 349-353. (1989) Transnational Corporations, Foreign Direct Investment and Economic Development, in: Chenery, H.B./Srini-

252

(1990)

(1991)

(1993)

vasan, T.N. (Hrsg.): Handbook of Development Economics, Bd. 2. Amsterdam u.a., S. 1441-1480. The New Global Economy and the Developing Countries. Essays in International Economics and Development, Aldershot. Growth-Oriented Adjustment Lending. A Critical Assessment of IMF/ World Bank Approaches, in: Singer, H.W. u.a. (Hrsg.): Aid and External Financing in the 1990s, Neu Delhi, S. 705-733. Nord-Süd-Fragen in den achtziger und neunziger Jahren. Reflexionen über den Brandt-Bericht, in: Wirtschaft und Gesellschaft, 19. Jg., S. 183-201.

Quellen: Β Hb II; Blaug; AEA. Hans Ulrich Eßlinger

Herberts, John H., geb. 31.5.1905 in

Bremen

Herberts promovierte im Juli 1933 bei Otto von Zwiedineck-Südenhorst an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Arbeit über Das internationale Lohngefälle und seine Bedeutung für die weltwirtschaftlichen Beziehungen. Theorie und Methode (1933). Im August wurde er aufgrund seiner „nicht-arischen" Abstammung aus seiner Assistententätigkeit in Kiel entlassen. Noch im selben Monat emigrierte er nach Frankreich, wo er fortan in Paris lebte. Versuche, mit Hilfe des Academic Assistance Councils in Großbritannien oder Australien eine akademische Anstellung zu finden, schlugen trotz Empfehlungsschreiben von -» Adolph Lowe und der Unterstützung von Professor J.L.K. Gifford von der Universität Brisbane fehl (vgl. Uhlig 1991). Seit Mai 1934 war Herberts als wissenschaftlicher Angestellter am Institut Scientifique de Recherches Economiques et Sociales in Paris tätig, das erst am 1. Oktober 1933 mit finanzieller Unterstützung der Rockefeller Foundation gegründet worden war und unter der Leitung des seinerzeit führenden französischen Finanzexperten Charles Rist (1874-1955) stand, der mit seiner Geschichte der Geld- und Kredittheorie (1938) auch international bekannt wurde. Herberts stellte die Forschungsarbeit dieses nach dem Tod von Rist aufgelösten Instituts in einem 1937 für das Weltwirt-

Hennberg, Paul schaftliche Archiv verfaßten Beitrag genau vor. Hierin verdeutlichte er, daß das kleine Pariser Institut mit einem Stab von nur drei ständigen wissenschaftlichen Mitarbeitern kein Konjunkturforschungsinstitut im eigentlichen Sinne darstellte, sondern „seine Bestimmung in der möglichst klaren Darstellung vorhandener statistischer Informationen, in der Erstellung neuer Daten und ihrer Verarbeitung zur Auffindung neuer Erkenntnisse" (1937, S. 202) sah. Eine besondere Spezialität des Instituts, das mit der Activite Economique auch eine Vierteljahresschrift zur aktuellen Wirtschaftsentwicklung herausgab, waren die graphischen Darstellungen, die auf umfassendem statistischen Material aufbauten, so u.a. zur Entwicklung der französischen Wirtschaft von 1910 bis 1934. Herberts selbst war an der Erstellung einer entsprechenden Mappe graphischer Darstellungen beteiligt, die auf 52 Tafeln mit Kommentaren die Entwicklung des internationalen Handels zwischen 1890 und 1938 nachzeichneten. Diese anscheinend kurz nach Kriegsausbruch abgeschlossene Studie konnte erst viele Jahre später erscheinen (1950). Die Spur von Herberts, der zuletzt den Vornamen Jean führte, verliert sich bei Beginn des Zweiten Weltkriegs in Paris. Schriften in Auswahl: (1933) Das internationale Lohngefälle und seine Bedeutung für die weltwirtschaftlichen Beziehungen. Theorie und Methode, Memmingen (Diss.). (1937) Das „Institut Scientifique de Recherches Economiques et Sociales", Paris, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 45, S. 200-202. (1950) Tableaux du Commerce International de 1890 ä 1938. Par Henri Bunle, Jean Herberts et Madeleine Lecler. Sous la direction de Charles Rist, 52 Pläne, lose in Mappe. Institut Scientifique de Recherches Economiques et Sociales, Paris, o.J. Bibliographie: Rist, C. (1938): Histoire des Doctrines relatives au Cridit et ä la Monnaie, Paris. Uhlig, R. (1991): Vertriebene Wissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) nach 1933, Frankfurt a.M. u.a. Quellen: SPSL 232/8; Uhlig. Harald Hagemann

Hermberg, Paul (Gustav August), geb. 16.3.1888 in Münsterdorf/Holstein, gest. 24.1.1969 in Berkeley/Kalifornien Der Sohn eines Pastors gehörte zu den intellektuellen Repräsentanten der zwanziger Jahne, dessen wissenschaftliches Interesse sich mit dem Engagement für die Arbeiterbildung im Kampf um die Weimarer Republik verband. Typisch fur seine Herkunft aus dem protestantischen Elternhaus ist, daß Hermberg nach dem Abitur 1907 zunächst Geschichte, Germanistik und Philosophie in München studierte. Doch nach seinem Wechsel an die Universität Kiel 1909 wandte er sich unter dem Einfluß von Ferdinand Tönnies und vor allem von Bernhard Harms den Wirtschaftswissenschaften sowie der Statisktik zu. Seine 1913 vorgelegte, von Tönnies betreute Dissertation Die Bevölkerung des Kirchspiels Münsterdorf spiegelte einerseits seine ursprünglichen historischen Interessen wider, andererseits erwarb er durch sie mit seinen quantitativen Messungen der beobachteten rhythmischen Schwankungen der Geburtenrate die ersten statistischen Kompetenzen. Im Oktober 1913 begann Hermberg als Assistent im kurz zuvor von Harms gegründeten Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr an der Universität Kiel. Nur wenige Monate später wurde er nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum Militärdienst eingezogen, aus dem er erst im April 1919 nach Heilung einer letzten Kriegsverwundung zurückkehrte. Als Leiter der Statistischen Abteilung des Kieler Instituts gab er fortan die quantitativen Übersichten für die dort erscheinenden Weltwirtschaftlichen Nachrichten heraus. Aus der Beschäftigung mit der Außenhandelsstatistik der Welthandelsländer entstand 1920 seine erste größere Studie Der Kampf um den Weltmarkt, mit der er sich 1921 in Kiel habilitierte. Mit seinen empirischen Kenntnissen und wegen seiner Erfahrungen in der Arbeiterbildung - seit 1910 hatte er Arbeiter-Unterrichtskurse geleitet und nach 1919 an der Volkshochschule in Kiel gelehrt - wurde Hermberg 1922 vom Preußischen Handelsminister zum Direktor der Staatlichen Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung in Berlin ernannt, in der vor allem Gewerkschafter praxisnah ausgebildet wurden. Ein Jahr später wechselte er in das Statistische Reichsamt, nachdem die Schule während der Hyperinflation ihren Betrieb hatte einstellen müssen. 1924 wurde er zum Leiter des Volksbildungsamtes in Leipzig beru-

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Hermberg, Paul fen, daneben erhielt er 1925 an der dortigen Universität eine nichtplanmäßige außerordentliche Professur. Nach kurzer Vertretung der Wirtschaftswissenschaften 1928/29 an der Universität Halle-Wittenberg bekam er den Ruf auf eine ordentliche Professur für Statistik an der thüringischen Landesuniversität Jena. In zahlreichen Schriften legte Hermberg seit Ende der zwanziger Jahre seine theoretischen Analysen zur Wirtschaftsstatistik und diverse quantitative Erhebungen zum neuen Forschungsfeld der Konjunkturbewegung, zur Produktions-, Preis- und Lohnentwicklung sowie zu den Lebenshaltungskosten vor. Diese empirischen Arbeiten bahnten neue Wege im Kanon der herrschenden praxisfernen ökonomischen Denkrichtungen, der Historischen Schule, die in ihrer auf die Nationalwirtschaft orientierten Makroperspektive die privaten Einzelwirtschaften und ihre Entscheidungen kaum in den Blick nahm, der reinen Theorie, wie sie damals von der Neoklassik vertreten wurde, und schließlich des sterilen Parteimarxismus in Teilen der Arbeiterbewegung und der mit ihr sympathisierenden Intellektuellen aus dem Bürgertum. Hennbergs Wissenschaftsverständnis Schloß ebenso die exakte Erfassung der Bildungsinteressen der Arbeiterschaft ein, die er als Leiter des Leipziger Volksbildungsamtes durchführte; in diesem Zusammenhang gab er nach 1930 die Schriften der Statistischen Zentralstelle fur die deutschen Volkshochschulen heraus. Ebenso trat er als Redner auf zahlreichen Gewerkschaftskongressen auf, wie er für diese Organisationen auch verschiedene Studien zu Ordnungsfiragen und über Verteilungsprobleme vorlegte. Schließlich wirkte er im sog. Enquete-Ausschuß der Reichsregierung als Sachverständiger für die deutsche Zahlungsbilanz mit. Seit Januar 1930 amtierte in Thüringen eine Landesregierung, an der zum ersten Mal im Deutschen Reich die NSDAP beteiligt war. Hatte sich Hermberg seit dieser Zeit den Pressionen des nationalsozialistischen Innen- und Volksbildungsministers Frick, aus der Sozialdemokratischen Partei auszutreten, noch widersetzen können, so änderte sich die Situation nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Im Juni 1933 ließ er sich auf eigenen Wunsch in den Ruhestand versetzen; von den Entlassungsgründen des sog. Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums war er als ehemaliger Frontkämpfer, der zudem den höchsten bayerischen Verdienstorden verliehen

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bekommen hatte, nicht betroffen. Da sein Leben nicht unmittelbar bedroht war und er zunächst wie viele andere auch - annahm, daß die NSHerrschaft nur von kurzer Dauer sein würde, blieb er einstweilen in Deutschland. Erst 1936 nahm er eine vom Academic Assistance Council in London vermittelte, zeitlich befristete Stellung als Wirtschaftsberater der kolumbianischen Regierung an. Zunächst im Agrarministerium und ab 1938 bei der Staatsbank in Bogoti aktualisierte er die Handelsstatistik und entwickelte einen nationalen Index für die Preise und Lebenshaltungskosten. Auf die Ergebnisse war Hermberg besonders stolz, weil die Arbeiten nur auf der Grundlage dürftiger Rohdaten und mit kaum geschulten Hilfskräften durchgeführt werden konnten. Einen Bericht über diese Tätigkeit und den Stand der kolumbianischen Statistik lieferte er 1941 fur das erste Handbuch des Inter-American Statistical Institute in Washington. Ein Freund und früherer Mitarbeiter im Leipziger Volksbildungsamt, inzwischen Professor an der deutschen Abteilung der Howard University in Washington, suchte Hermberg an diese Bildungseinrichtung für Afro-Amerikaner zu holen. Doch zuvor hatte er, vermittelt durch - Karl Brandt. Klatt heiratete 1935 Grete Buchholz, die bis zu Brandts Emigration 1933 dessen Assistentin war. In der von

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Brandt herausgegebenen Schriftenreihe des jungen, jedoch renommierten Instituts fur Landwirtschaftliche Marktforschung, das 1933 von den Nationalsozialisten aufgelöst wurde, veröffentlichte Klatt eine Studie über Die Verwertung der deutschen Rebenemten (1932), die weniger eine theoretische Abhandlung als eine empirisch und theoretisch unterfutterte Analyse der agrarischen und ökonomischen Probleme des Weinmarktes zur Zeit der Weimarer Republik mit populärwissenschaftlich gehaltenen Lösungsansätzen darstellt. Zwischen 1930 und 1939 war Klatt als Landwirtschaftsexperte für die IG Farben sowie als Dozent in der jüdischen Gemeinde Neuendorf bei Berlin tätig. Er war Mitglied in der Gewerkschaft und der SPD, darüber hinaus auch beim 'Wandervogel', der 'Akademischen Gilde' und bei 'Neu Beginnen'. Klatt emigrierte Anfang 1939 zunächst in die Schweiz, im Mai desselben Jahres weiter nach Großbritannien. Er wurde dort im Laufe des folgenden Jahres interniert. Bis 1946 war Klatt beim Political Intelligence Department des britischen AuBenministeriums beschäftigt. Danach war er bis 1951 Direktor der Lebensmittel- und Landwirtschaftsabteilung des Control Office in London. Von 1951 bis zu seinem Ruhestand 1966 war er wiederum als Wirtschaftsberater im Außenministerium tätig. Gleichzeitig beriet er auch das Internationale Arbeitsamt und die Food and Agricultural Organization (FAO) der UN. Klatt erhielt 1967 ein Rockefeller-Stipendium für Studien über die Wirtschaftsentwicklung in Asien. Er ist Mitglied des Royal Institute of International Affairs und Fellow am St. Antony's College in Oxford. In zahlreichen Artikeln beschäftigte sich Klatt bis in die 1980er Jahre mit der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Asiens und insbesondere Chinas. Auffallend ist sein großes soziales Engagement, mißt er doch den Erfolg wirtschaftsund entwicklungspolitischer Maßnahmen weniger an aggregierten Zahlen volkswirtschaftlichen Wachstums, sondern vielmehr an der Verbesserung der individuellen Lebensverhältnisse der Bevölkerung, die in den fünfziger und sechziger Jahren überwiegend in ländlich geprägten Regionen und von der Landwirtschaft lebte. Klatt betonte wiederholt, daß zwei Drittel bis drei Viertel der asiatischen Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiten (1956; 1963). Deshalb habe die Entwicklungspolitik in den Entwicklungsländern Asiens ihren Ausgangspunkt in der Verbes-

Klatt, Werner serung der Lage der Landbevölkerung zu nehmen. Technischem Fortschritt in der Landwirtschaft setzte er jedoch entgegen, daß dieser arbeitssparend sei, damit dörfliche Eliten begünstige und Landarbeiter und Kleinbauern benachteilige, deren zunehmende Erwerbslosigkeit nicht durch die Entwicklung von Konsum- und Investitionsgüterindustrien aufgefangen werden könne. Grundlage und Voraussetzung jeder Entwicklungspolitik müßten daher Landreformen sein, die die Intensivierung der Landwirtschaft förderten und die einseitige Abhängigkeit von traditionellen Hierarchien, exzessiven Zinssätzen und Grundrenten beseitigten. Klatt forderte solche Refomen und die Zerschlagung der traditionellen Ungleichverteilung vehement, ohne die einerseits alle Anstrengungen der Entwicklungspolitik scheiterten, andererseits die Bevölkerung radikalisieit werde und damit statt Reform, Kontinuität und Entwicklung vielmehr Umsturz und Chaos wahrscheinlich würden. Obwohl er vielen asiatischen Ländern ein Bemühen um solche Reformen der Besitzverhältnisse an Grund und Boden in den fünfziger bis siebziger Jahren attestierte, sah er deren Umsetzung durch herrschende Eliten, mangelndes BewuBtsein um diese Problematik und mangelnde Einbeziehung der Kleinbauern und Landarbeiter in den meisten Fällen als gescheitert an. Als positive Beispiele für einen wirtschaftlichen Aufstieg asiatischer Länder nach einer radikalen Neuordnung des Landbesitzes dienen ihm Japan, hier allerdings mit Hilfe einer fremden Siegermacht, Südkorea und Taiwan. Aufgrund der mangelnden theoretischen Fundierung von Klatts Thesen und der einseitigen Betonung agrarpolitischer Aspekte in der empirischen Betrachtung bleibt jedoch offen, inwiefern andere Aspekte der Wirtschafts- und Ordnungspolitik sowie die Dynamik des Industriesektors ebenfalls für die Divergenzen in der Entwicklung asiatischer Länder verantwortlich waren und sind. Klatts sozioökonomischer Ansatz geht davon aus, daß technische und wirtschaftliche Entwicklung nur dann stattfinden kann, wenn sie durch eine adäquate soziale Entwicklung begleitet wird: „Den um ihre Existenz ringenden Nationen wäre ein besserer Dienst erwiesen, wenn (...) technische Fortschritte im Rahmen wirtschaftlicher, sozialer und politischer Zusammenhänge gesehen würden" (1972, S. 42). Entspannung lokaler Konflikte in ländlichen Sozialgemeinschaften durch die Re-

form der Besitzverhältnisse sowie differenzierte Wahl produktivitätssteigender Maßnahmen sind für Klatt die wirtschaftspolitischen Grundlagen für eine nachhaltiges Wirtschaftswachstum mit sozialer Gerechtigkeit fur die Mehrheit der Bevölkerung. Während er in kapitalintensivierendem technischen Fortschritt in Form von landwirtschaftlichen Maschinen die Ursache für eine Freisetzung von Arbeitskräften sieht, fordert Klatt die Konzentration auf arbeitintensivierenden technischen Fortschritt in der Landwirtschaft, so z.B. durch verbessertes Saatgut, Düngung, adäquate Bewässerung und Erhöhung der Erntezahl pro Jahr, zur Absorption des Bevölkerungswachstums und als Grundlage für Ersparnisse im Agrarsektor für Investitionen in die Konsum- und Investitionsgüterindustrie.

Schriften in Auswahl: (1930) Die Milchversorgung Groß-Hamburgs, Dessau (Diss.). (1932) Die Verwertung der deutschen Rebenernten, Berlin. (1937) Struktur und Lage der japanischen Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft, Berlin (I.G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft, Volkswirtschaftliche Abteilung). (1950) Food and Farming in Germany. Past, Present and Future, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 64, S. 111158. (1956)

(1963)

(1965)

Ansatzpunkte einer Wirtschaftsentwicklung in Südostasien, in: Wirtschaftsdienst, Bd. 36, S. 276-279. Die Entwicklungshilfe in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West, in: Boettcher, E. (Hrsg.): Ostblock, EWG und Entwicklungsländer, Stuttgart, S. 145-166. The Chinese Model. A Political, Economic, and Social Survey, Hongkong.

(1972)

Konfliktherd Bodenbesitz: Grüne und rote Asien-Revolution, in: ChinaAnalysen, 11. Jg, S. 42-55.

(1973)

Agrarian Issues in Asia, in: Asian Economies, Bd. 4, S. 44-73.

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Knorr, Klaus Eugene (1979)

China's New Economic Policy, in: The China Quarterly, Bd. 80, S. 716733.

Quellen: Β Hb I. Bernhard Holwegler

Knorr, Klaus Eugene, geb.

16.5.1911 in Essen, gest. 25.3.1990 in Princeton, New Jersey

Knorr, dessen Vater Vorarbeiter in einer Maschinen^Werkstatt gewesen war, nahm 1930 das Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg auf, studierte dann fur einige Zeit in Wien und Paris und promovierte 1935 in Tübingen zum Dr. iur. Das anschließende Gerichtsreferendariat in Stuttgart brach er jedoch bereits 1936 ab und emigrierte aus politischen Gründen - er entstammte einem lutherischen Elternhaus - im darauffolgenden Jahr in die Vereinigten Staaten. An der University of Chicago Schloß er 1941 ein zweites, 1938 begonnenes Studium der Wirtschaftswissenschaften mit dem Ph.D. ab. Seine von J. Viner betreute Dissertationsschrift British Colonial Theories, 1570-1850 wurde 1944 veröffentlicht und mehrmals wiederabgedruckt. Von 1941 bis 1945 hatte Knorr an der Stanford University eine Stelle als Research Associate am dortigen Food Research Institute inne, erhielt jedoch bereits 1942 zusätzlich eine Associate Professorship in International Relations an der Yale University. Darüber hinaus war er Research Associate am dortigen Institute of International Studies. Als dieses Institut 1951 aufgelöst werden sollte, wechselte er zusammen mit fünf seiner Kollegen von Yale an das in jenem Jahr neu gegründete Center of International Studies an der Princeton University, wo er bis 1968 eine Professur für Wirtschaftswissenschaften bekleidete. Er leitete dieses Forschungszentrum zwischen 1961 und 1968 und zählte ab 1953 zu den Herausgebern der Institutszeitschrift World Politics, die ebenfalls von Yale nach Princeton transferiert worden war. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung 1979 war er Professor of International and Public Affairs an der Woodrow Wilson School der Princeton University und übte auch noch nach seiner Emeritierung Beratertätigkeiten bei der Rand Corporation, dem US-Department of State und der Central Intelligence Agency aus.

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Knorrs intellektuelle Entwicklung in den Vereinigten Staaten ist, vergleichbar jener von -» Henry Ehrmann und - • Ferdinand A. Hermens, durch eine Verlagerung seines Interessengebiets von der Volkswirtschaftslehre zu den Politischen Wissenschaften gekennzeichnet. Dies war für ihn jedoch insofern kein „großer Schritt", als er sich bereits in seiner Dissertation und den sich daran anschließenden Arbeiten mit den internationalen Wirtschaftsbeziehungen und ihrer Organisation befaßt hatte. In Anlehnung an die Position Viners befürwortete er prinzipiell einen möglichst freien Welthandel (vgl. 1951, S. 442ff.). Jedoch verwies er in seiner Diskussion der Mitte der 1940er Jahre gegründeten 'Bretton Woods-Zwillinge' Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IMF) auf die zu erwartenden Funktionsstörungen der neuen Institutionen (vgl. 1948, S. 19). Seine Bedenken richteten sich im Falle des IMF vor allem gegen den Mechanismus der Währungsabwertung als Mittel zur Erzielung eines Zahlungsbilanzausgleichs und die Uberforderung dieser Organisation mit der Festlegung der Nachkriegs-Währungsparitäten (vgl. ebd., S. 25f.). Mit Blick auf die Weltbank betonte er deren starke Abhängigkeit vom US-amerikanischen Kapitalmarkt und die Unmöglichkeit, im Zuge einer weltweiten Wirtschaftskrise allein durch diese Institution ausreichend internationale Kredite zur Verfügung stellen zu können, um eine stabilisierende Funktion auf die Weltwirtschaft auszuüben (vgl. ebd., S. 31 f.). Die Schaffung einer Internationalen Handelsorganisation (ITO) und den Aufbau von Rohstoffausgleichlagem ('Buffer Stocks') sah Knorr daher als wichtige Ergänzungen zu Weltbank und IMF an, nicht zuletzt, um den Interessen der Staaten der Dritten Welt im internationalen Handel gerecht zu werden (vgl. 1947, S. 549ff.). Auch anläßlich eines Symposiums zum Thema „The Quest for a Stabilization Policy in Primary Producing Countries", zu dem er neben John Η. Adler, Ρ.Τ. Bauer, R.F. Harrod, -» Alexandre Kafka und anderen Entwicklungsexperten als Korreferent eingeladen worden war, diskutierte er im Anschluß an den Vortrag von R. Nurkse (1958) die Möglichkeiten der Glättung zyklischer Bewegungen von Preisen und Mengen bei Rohstoffen und Agrarprodukten mit Hilfe von internationalen Buffer Stocks und nationalen Buffer Funds. Zusammenfassend plädierte er dabei für einen Einsatz der Buffer Funds, begleitet von anderen wirtschaftspolitischen Instrumenten aus den Berei-

Knorr, Klaus Eugene chen der Geld- und Fiskalpolitik, der Handels- sowie der Wechselkurspolitik (vgl. 1958, S. 228ff.). In seiner Dissertation behandelte Knorr neben der Frage der ökonomischen Nutzen und Kosten der Kolonien fur Großbritannien die Kolonialtheorien der Merkantilisten und der Klassiker der Politischen Ökonomie in einem dogmenhistorischen Kontext (vgl. 1944). Zugleich war hier bereits sein späteres Interesse an Fragen der internationalen Macht im ökonomischen und militärischen Bereich und den Ursachen ihrer Entstehung angelegt. Κηοιτ zufolge sind die Kolonialtheorien nicht in einem wissenschaftlichen und politischen Vakuum entstanden, sondern wurden zum einen von ihnen verwandten Theorien, z.B auf den Gebieten des internationalen Handels, der Bevölkerung usw. beeinfluBt und repräsentierten zum anderen auch die Ziele der herrschenden Machteliten (vgl. ebd., S. xviii). Kolonialtheorien wurden von ihm daher als Teil eines umfassenderen intellektuellen Diskurses über Fragen der ökonomischen Entwicklung, der militärische Sicherheit, der weltweiten Wirtschaftsbeziehungen und der Bevölkerungsentwicklung aufgefaßt, an dem sich die Eliten zur Durchsetzimg ihrer Interessen beteiligten, durch den jedoch auch die Ziele dieser Führungsschichten bestimmt und verändert wurden (vgl. Betts u.a. 1992, S. 15). Im Rahmen eines interdisziplinären Ansatzes widmete sich Knorr ab den frühen 1950er Jahren in seinen Schriften verstärkt dem Zusammenhang zwischen ökonomischen Ressourcen und militärischer Stärke insbesondere mit Blick auf die beiden großen Machtblöcke während des Kalten Krieges (vgl. 1961). Dabei wies er u.a. in The Power of Nations (1975), seinem Hauptwerk auf diesem Gebiet, darauf hin, daß gerade außerökonomische Faktoren in den Bereichen Politik, Kultur und Verwaltung dafür verantwortlich seien, wie die wirtschaftlichen Ressourcen in militärische Macht transformiert werden, woraus er die für seine Arbeiten zentrale Unterscheidung zwischen 'Machtressourcen' und 'tatsächlicher Macht' ableitete (vgl. ebd., Kap. 1). Ebenso wie militärische Macht begriff er aber auch die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit und die Veränderung ihrer Intensität einerseits als ökonomisches, andererseits als politisches Phänomen. Zwar gebe es einen durch Modernisierung und technischen Wandel ausgelösten Zwang zu einer fortschreitenden Interdependenz insbesondere der westlichen Industriestaaten, doch sei dieser Pro-

zeß durch die politischen Entscheidungsträger sowie die Eliten moderiert, welche die ökonomischen Nutzen verstärkter Abhängigkeit vom internationalen Handel gegen dessen soziale Kosten abwägten, wobei die Determinierung des Optimums von der relativen Stärke ihrer Präferenzen abhänge (vgl. 1977, S. 5). Über die Arbeiten zu den ökonomischen Grundlagen militärischer Macht hinaus setzte sich Knorr in seinen (militär)strategischen Studien mit der Logik der nuklearen Abschreckung, dem 'begrenzten Krieg', strategischer Glaubwürdigkeit und der Stabilität von Militärbündnissen auseinander (vgl. z.B. 1956). Ferner befaßte er sich zusammen mit Κ. P. Heiss und -» Oskar Morgenstern mit Problemen der langfristigen Projektion der Kräfteverhältnisse zwischen den großen Militärbündnissen auf der Grundlage der in den USA und der ehemaligen UdSSR vorhandenen Kapazitäten im Forschungs- und Entwicklungsbereich (1973). Die Autoren knüpften dabei an ein von Knorr und Morgenstern 1965 erarbeitetes Memorandum an, in dem auf die Schwächen der amerikanischen F&E-Aktivitäten im militärischen Beieich hingewiesen worden war. Dennoch warnte Knorr immer vor einer Überbetonung des militärischen Aspekts bei der Analyse nationaler Sicherheit. Als Flüchtling aus Hitler-Deutschland war er sich der Gefahren des Militarismus bewuBt und legte daher besonderen Wert auf die maßvolle Anwendung militärischer wie ökonomischer Macht, deren wichtigste Bestimmungsgründe in dem Aufsatz Determinants of Military Power (posthum 1992) von ihm nochmals zusammenfassend dargestellt wurden.

Schriften in Auswahl: (1944) British Colonial Theories, 15701850. With a Foreword by H.A. Innis, Reprint, London 1968 (Diss.). (1947)

The Functions of an International Trade Organization, in: American Economic Review, Bd. 37, No. 2, S. 542-553.

(1948)

The Bretton Woods Institutions in Transition, in: International Organization, Bd. 2, No. 1, S. 19-38.

(1951)

Welfare Measures and the Free Market in International Trade, in: Ameri-

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Koch, Waldemar

(1956)

(1958)

(1961)

(1973)

(1975)

(1977)

(1992)

can Economic Review, Bd. 41, No. 2, S. 431-444.

Koch, Waldemar, geb. 25.9.1880 in Bad

Military Policy and National Security (zus. mit G.A. Craig, R. Hilsman und W.W. Kaufmann), Princeton, N.J. Comment on Professor Nurkse's Paper [Trade Fluctuations and Buffer Policies of Low-Income Countries], in: Kyklos, Bd. 11, No. 2, S. 224-230. Purposes of an Accelerated Growth Program, in: Knorr, K.E., Baumol, WJ. (Hrsg.): What Price Economic Growth?, Englewood Cliffs, NJ., S. 1-18.

Sein Vater, ein Schiffsingenieur beim Norddeutschen Lloyd, zog kurz nach der Geburt des Sohnes nach Bremerhaven. „Bremerhaven war also meine Heimatstadt und an der Wasserkante bin ich als ein Hanseat aufgewachsen" (1962, S. 8). Koch begann sein Studium im Wintersemester 1900/01 an der damals Kgl. Technischen Hochschule zu Berlin in Charlottenburg an der Fakultät für Maschinenbau. Im Oktober 1904 legte er das Examen eines Diplomingenieurs ab. Das folgende Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Berlin beendete er im Jahr 1907 mit der Promotion zum Dr. phil. und einer Dissertation zum Thema Die Konzentrationsbewegung in der deutschen Elektroindustrie. Koch unternahm anschließend viele Reisen, die ihn - zur damaligen Zeit außergewöhnlich - in ferne Länder wie die USA, Südamerika, Ceylon, Singapur, Saigon, Hongkong, Shanghai, Japan, Sibirien und die Türkei führten. In seiner Biographie stellte er dazu fest: „Nach meiner Rückkehr bin ich von Freunden und Bekannten oft gefragt worden, ob es sich lohnte, drei Jahre für eine solche Bildungsreise aufzuwenden ... Für weit wertvoller halte ich das, was ich allgemein diesen drei Jahren verdanke, den Gewinn an Überblick über die Welt und an Menschenkenntnis. Am höchsten aber schätze ich den Gewinn an eigener Persönlichkeit, das größere Verständnis fur das Empfinden fremder Völker, ein. Von dem Ergebnis dieser Reise zehre ich noch heute als Achtzigjähriger" (1962, S. 73). Im Jahre 1910 folgte eine weitere Promotion, diesmal zum Dr.-Ing. an der TH Berlin. Von 1910 bis 1912 war Koch Abteilungsleiter bei der AEG in Berlin, 1912 bis 1914 Leitender Direktor der englischen Verkehrsgesellschaft der AEG in London. Der Beginn des Ersten Weltkrieges führte ihn wieder nach Deutschland zurück. Dort war er von 1915 bis 1918 stellvertretender Direktor des Königlichen Instituts für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Universität Kiel, später dessen Delegierter im Reichswiitschaftsministerium. Weitere Stationen waren von 1919 bis 1921 stellvertretender Direktor der Hauptverwaltung der Reichsbetriebe, 1925 bis 1929 kaufmännisches Vorstandsmitglied deutscher Industrieunternehmen.

Long Term Projections of Power. Political, Economic, and Military Forecasting (zus. mit K.P. Heiss und Ο. Morgenstern), Cambridge, Mass. The Power of Nations. The Political Economy of International Relations, New Yoik. Economic Interdependence and National Security, in: Knorr, K.E. und Trager, F.N. (Hrsg.): Economic Issues and National Security, Lawrence, Kansas, S. 1-18. The Determinants of Military Power (posthum), in: Bienen, Η. (Hrsg.): Power, Economics, and Security. The United States and Japan in Focus, Boulder, Coll. u.a., S. 69-133.

Bibliographie: Betts, R. u.a. (1992): An Intellectual Remembrance of Klaus Knorr, in: Bienen, Η. (Hrsg.): Power, Economics, and Security. The United States and Japan in Focus, Boulder, Coll. u.a., S. 9-28. Knorr, K.E. (1989): Reflections on a Life in IR, in: Kruzel, J., Rosenbaum, J.N. (Hrsg.): Journeys Through Politics. Autobiographical Reflections of Thirty-four Academic Travellers, Lexington, Mass., S. 279-292. Nurkse, R. (1958): Trade Fluctuations and Buffer Policies of Low-Income Countries, in: Kyklos, Bd. 11, No. 2, S. 141-154. Quellen: Β Hb Π; AEA. Hans Ulrich Eßlinger

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Harzburg, gest. 15.5.1963 in Berlin

Kohr, Leopold Während seiner Tätigkeit als Manager in größeren deutschen Unternehmen riß die Beziehung zur ΤΉ Berlin nicht ab. „In der Laufbahn des Hochschullehrers hatte ich schon immer einen idealen Beruf gesehen" (1962, S. 119). 1930 erfolgte die Habilitation für Betriebswirtschaftslehre an der TH Berlin mit der Habilitationsschrift Das Abzahlungsgeschäft in Handel und Industrie. Von 1930 bis 1934 war Koch Privatdozent an der TH Berlin. Doch bereits 1934 wurde ihm die Lehrbefugnis wieder entzogen: „Ich war als entschiedener Antinazi bekannt. Auch konnte ich es nicht lassen, in meinen Vorlesungen gelegentlich sarkastische Bemerkungen über nazistische Auffassungen einfließen zu lassen" (1962, S. 122). Die Zeit des Dritten Reiches überbrückte er fem von der Universität als Wirtschaftsprüfer, zu dem er 1932 bestellt worden war. 1945 kehrte Koch an die TH Berlin als Privatdozent zurück und wurde mit der Wahrnehmung des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre beauftragt. 1949 erfolgte die Ernennung zum ordentlichen Professor an der TU Berlin. Die Emeritiening erfolgte 1952. Im Jahre 1955 verlieh ihm die Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Nürnberg in Würdigung seiner wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der Absatzlehre und seiner Verdienste um Theorie und Praxis des Treuhandwesens den Titel und die Würde eines Dr.oec.h.c. Koch hat viel publiziert. Seine Arbeiten sind stets in der Schnittmenge von Wissenschaft und praktischer Anwendung angesiedelt. Dabei kam ihm der Umstand zugute, daß er nicht nur ein engagierter Praktiker, sondern auch ein von Ehrgeiz durchdrungener Wissenschaftler war. Schriften in Auswahl: (1907) Die Konzentrationsbewegung in der deutschen Elektroindustrie, München (phil. Diss.). (1910) Die Industrialisierung Chinas, Berlin (Ing. Diss.). (1917) Handelskrieg und Wirtschaftsexpansion, Jena. (1931) Das Abzahlungsgeschäft in Handel und Industrie und seine Finanzierung, Berlin. (1933) Die Krise des Industriebetriebes, Berlin. (1935) Zwecksparen und Zwecksparunternehmen, Berlin.

(1956a)

(1956b) (1957) (1958) (1962)

Die Entwicklung der deutschen Teilzahlungswirtschaft seit 1945 und ihre Problematik, Berlin. Hochschulprobleme, Berlin. Der Beruf des Wirtschaftsprüfers, Berlin. Grundlagen und Technik des Vertriebes. 2 Bde., 2. Aufl., Berlin. Aus den Lebenserinnerungen eines Wirtschaftsingenieurs, Köln/Opladen.

Quellen: HldWiWi 1959; Schettlaender, R. (1988): Verfolgte Berliner Wissenschaft, Berlin, S. 77-81. Franz Xaver Bea

Kohr, Leopold, geb. 5.10.1909 in Oberndorf bei Salzburg, gest. 26.2.1994 in Glouchester, England Kohr absolvierte das Salzburger Bundesgymnasium und promovierte 1933 zum Dr.iur. an der Universität Innsbruck. Er beteiligte sich 1936/37 als Journalist am spanischen Bürgerkrieg. 1938 emigrierte er aus Österreich in die USA. Dort erwarb er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Kohr begann zunächst als Bergwerksarbeiter in Kanada, ehe er 1941 ein Fellowship von der Universität Toronto erhielt. Von 1942 bis 1944 arbeitete er am Carnegie Endowment for International Peace in Washington als Research Associate in der Abteilung für Internationales Recht. Dabei erstellte er eine umfangreiche Dokumentation Uber die Geschichte der Zollunionen, die von Jacob Viner in seinem viel zitierten Werk The Customs Union Issue verwendet wurde. Kohrs Dokumentation wurde auch Grundlage einer eigenen Monographie über Zollunionen als Tool for Peace - so der Untertitel von Kohr (1949) - und fand später noch Niederschlag in einer Anzahl von Artikeln, die sich mit dem europäischen Gemeinsamen Markt auseinandersetzten, der, handelspolitisch gesehen, als Zollunion konzipiert war (vgl. 1960 und 1965/66). Kohrs weitere akademische Laufbahn führte ihn nach New Jersey an die Rutgers University, wo er (1946-55) die Position eines Associate Professor für Wirtschaftswissenschaft bekleidete. Danach war er von 1955 bis 1973 Professor für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Puerto Rico. Nach seiner dortigen Emeritierung betätigte er sich (1973-77) als Tutor

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Kohr, Leopold für Politische Ökonomie am University College von Wales in Aberystwyth. Schließlich ließ er sich in Glouchester, England, nieder, wo er 1994 starb. Kohr erhielt 1951 den Titel eines Dr.rer.pol. in Wien, 1982 wurde er in seiner Heimatstadt Salzburg im Rahmen eines Symposiums Uber Das menschliche Maß für seine wissenschaftlichen Arbeiten und Anregungen geehrt. Im Jahre 1983 erhielt er den von J.v. Uexküll gestifteten Alternativen Nobelpreis in Stockholm. Kohr hat damit durchaus bemerkenswerte Anerkennungen und Ehrungen erhalten, er hat aber im engeren wirtschaftswissenschaftlichen Lehr- und Forschungsbetrieb der Gegenwart mit seinen Arbeiten kaum jene Beachtung gefunden, die ihm als geistigem Pionier und kreativem Anreger gebührt. Immerhin ist er kürzlich von der Financial Times (13.2.1995) zumindest mittelbar als „Pionier und Prophet" für Manager hervorgehoben worden, nämlich als Mentor von -» Ernst Fritz Schumacher. Es sind vor allem drei Gebiete, auf denen Kohrs Publikationen in den 1940er bis 1960er Jahren bahnbrechend waren: (1) seine Propagierung eines 'Euregio'-Konzeptes grenzüberschreitender regionaler Zusammenschlüsse als Friedensordnung für Europa im Jahre 1941, (2) die Anregung zur Rückbesinnung auf das „menschliche Maß" wirtschaftlicher Strukturen in den 1950er Jahren, die viele Jahre später, nicht zuletzt auch wegen des ausdrücklich auf Leopold Kohr rekurrierenden Bestsellers Small is Beautiful von Ε. F. Schumacher (1973), geistiges Allgemeingut wurde, (3) seine frühzeitige Kritik an der herkömmlichen Sozialproduktsrechnung (1955), die Jahre später in zuweilen recht ähnlicher Intention auch von anderen Ökonomen, z.B. 1973 von James Tobin und W.D. Nordhaus, weiter ausgearbeitet wurde. Verbindendes Element all dieser Arbeiten ist Kohrs Konzept der 'kritischen sozialen Größe' eines souveränen politischen Gebildes (1955). Dieses Konzept unterscheidet sich vom rein physischen Größenbegriff dadurch, daß es neben (a) der physischen Anzahl der Mitglieder noch drei weitere Dimensionen umfaßt, nämlich (b) Dichte, (c) verwaltungsmäßige Integration und (d) 'Geschwindigkeit'. Die Erhöhung jeder dieser Komponenten führt zu einer effektiven Vergrößerung einer Gesellschaft, so daß beispielsweise Großbritannien aufgrund strafferer Organisation und höherer 'Geschwindigkeit' der Bevölkerung eine be-

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deutend höhere soziale Größe hat als das zahlenmäßig weitaus größere Indien (1983). Dieser Ansatz basiert auf Kohrs 'Geschwindigkeitstheorie der Bevölkerung' (siehe z.B. 1973, wo er (S. 55) auch eine algebraische Version dieser Theorie formuliert). Kohr sieht dieses Konzept in Analogie zur 'Umlaufgeschwindigkeit des Geldes': so, wie eine gegebene Geldmenge nach der Fisherschen Verkehrsgleichung eine stärkere Wirksamkeit entwickelt, je höher ihre Umlaufgeschwindigkeit ist, so übt eine höhere Geschwindigkeit einer gegebenen Population einen stärkeren Druck auf die gegebenen Ressourcen aus. Wegen abnehmender Ertragszuwächse bei der Bereitstellung der notwendigen zusätzlichen Infrastruktur führt dies zu erhöhter Belastung pro Kopf der Population. Soziale Größe wird nach Kohr (z.B. 1983) dann kritisch, wenn gesellschaftliche Probleme primär durch die soziale Größe und nicht mehr durch die Charakteristika der Population bedingt sind. Bei den meisten modernen Staaten sieht Kohr diese kritische soziale Größe als längst überschritten an. Das Überschreiten der kritischen Größe eines Gemeinwesens zieht nicht nur eine verstärkte Kriminalität und Kriegsbereitschaft nach sich, sondern auch eine spezifische Geisteshaltung, die die größenbedingten gesellschaftlichen Pathologien noch verstärkt. Solche Entwicklungen sind aber umkehrbar, so daß durch Reduktion der „effektiven sozialen Größe" Gemeinwesen wieder friedfertig, wenn auch nicht unbedingt friedliebend werden. Zuerst hat Kohr (1941) die Kritik der nationalstaatlichen Konsolidierung Europas im Rahmen des Vorschlags einer 'Pan-Europäischen Union' formuliert, die auf der Kantonisierung der 'modernen' Nationalstaaten in einzelne Regionen nach Schweizer Modell beruht. Die dadurch entstehenden Gebilde sollten nicht primär durch ethnischen Zusammenhalt, sondern durch nachbarschaftliche grenzüberschreitende Kooperation bestimmt sein. Beispiele für solche Gebilde waren Vorschläge für Regionen wie Kärnten-Venezien-Slowenien, Baden-Burgund, Lombardei-Savoyen u.s.w. Dieses ursprünglich in den USA erschienene Manifest, das am Anfang von Kohrs akademischer Karriere stand, wurde von der Wochenzeitschrift Die Zeit erst kürzlich in Kohrs eigener Übersetzung wieder vorgestellt und als einstmals utopische Vorwegnahme aktueller Gebietszusammenschlüsse wie 'Euregio', 'Arge-Alp' oder 'ArgeAlpen-Adria' gewürdigt. Kohrs damalige Schrift

Kohr, Leopold könnte mittlerweile auch als ein Grundlagentext für den mit dem Maastrichter Vertrag seit November 1993 in Kraft gesetzten 'Ausschuß der Regionen' proklamiert werden. Eine genauere Ausarbeitung der referierten Grundideen hat Kohr 1957 in einer Monographie über The Breakdown of Nations geliefert. In ihrem Anhang revidiert und entwickelt er das zuvor skizzierte Konzept einer politisch gleichgewichtigen Regionalisierung Europas. Als Orientierung für angemessene territoriale Größenordnungen werden in Beispielen wiederholt die griechischen Stadtstaaten der Antike genannt, anscheinend paradoxerweise aber auch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, und zwar wegen seiner teilweise grotesken Kraftlosigkeit der Zentralgewalt, die von Kohr mit einzelnen historischen Anekdoten belegt wird. In dieser Struktur konnten sich die oberitalienischen Städte, aber auch die späteren deutschen Duodezfurstentümer auf kleinstem Territorium zu großer kultureller Blüte entfalten. Beispielhaft in dieser Hinsicht ist für Kohr sein heimatliches Salzburg. In diesem einstmals politisch eigenständigen Erzbistum mit weniger als hunderttausend Einwohnern konnten großartige Kirchen, eine Universität, etliche Hochschulen und ein halbes Dutzend Theater errichtet und lange Zeit in Blüte gehalten werden (vgl. 19S7, S.107). Die optimale Größe eines Gemeinwesens könnte nach Kohr aber durchaus schon bei zehnbis zwanzigtausend Einwohnern liegen, wenn man sich an den historischen Erfahrungen orientiert. Ein scheinbar naheliegendes Gegenargument gegen Kohrs Lehre vom 'menschlichen Maß' ist das ökonomische Argument, daß territoriale Integration einen verbesserten Lebensstandard ermöglicht. Kohr (1957) greift diese Argumentation in einem Kapitel über die Effizienz kleiner Strukturen auf und legt dar, daß ein Großteil solcher Argumente auf Trugschlüssen beruht. Er plädiert damit aber nicht für ökonomischen Partikularismus, sondern für möglichst weitgehende administrative Autonomie, die eine ökonomische Union im Rahmen einer Zollunion nicht auszuschließen braucht, nach Kohrs Konzeption sie sogar erfordert. Darüber hinaus propagiert er (1962) die Zusammenarbeit in beschränkten internationalen Dienstleistungsgesellschaften wie Post-, Kohle-, Stahl- Unionen. Damit verbindet Kohr seine Konzeption der Auflösung der Nationalstaaten mit dem 'funktionalistischen' Konzept gleicher Intention eines ande-

ren USA-Emigranten, nämlich David Mitrany aus Rumänien, ohne daß Kohr allerdings den Mitrany-Funktionalismus ausdrücklich erwähnt. Noch stärker ökonomisch ist Kohrs nächstes Werk (1962) ausgeprägt. Zwei Gesichtspunkte daraus seien besonders hervorgehoben: das 'Luxometer' und die 'Größentheorie der Konjunkturzyklen'. Beide Konzepte beziehen sich auf den Zusammenhang zwischen der Größe von administrativen und produktiven Strukturen einerseits und dem Wohlergehen der in diesen Strukturen lebenden Einzelpersonen andererseits. Um diesen Zusammenhang zu illustrieren, veranschaulicht Kohr den Gesamtverbrauch einer Gesellschaft in Abhängigkeit von ihrem Wachstum. Mit einem erhöhten gesellschaftlichen Wachstum geht ein zunehmender Verbrauch an lebensnotwendigen und kulturellen Gütern, an 'Dichte-Gütern' und an 'Machtgütem' einher - alles Güterkategorien, deren Merkmal es ist, daß sie nur dem Funktionieren der Gesellschaft, nicht aber dem Wohlbefinden der einzelnen dienen. Der Zuwachs dieser Güterkategorien kann bei zunehmendem Wachstum so stark sein, daß trotz Wirtschaftswachstum über individuell konsumierbare Luxusgüter zunehmend weniger verfügt werden kann. Kohrs Plädoyer lautet nun, durch eine prägnante Erfassung der tatsächlich individuell verfügbaren Luxusgüter ('LUX') sich zu vergegenwärtigen, daß mit zunehmendem Güterverbrauch die LUXe pro Kopf sich tatsächlich vermindern können. Befaßt sich Kohrs LUX-Konzept mit dem Niveau der Wirtschaftstätigkeit und seiner Wohlfahrtswirkung für die einzelnen Wirtschaftssubjekte, so thematisiert seine Doktrin des 'Größenzyklus' dessen Stabilität. Bei letzterem Konzept zerlegt Kohr (1962) die Wirtschaftszyklen gedanklich und in graphischer Darstellung in eine landwirtschaftliche, eine gewerbliche und in eine größenbedingte Komponente. Mit zunehmender wirtschaftlicher Reife verlagert sich die absolute und relative Bedeutung der Wirtschaftsfluktuationen hin zur letztgenannten Kategorie. Während aber die erstgenannten Komponenten entweder durch spontane Reaktionen der Wirtschaftssubjekte oder durch Wirtschaftspolitik relativ leicht abzugleichen sind, sind die größenbedingten Zyklen schon aus physischen Gründen kaum noch wirtschaftspolitisch zu kontrollieren. Je größer die Wirtschaftsstrukturen, desto tiefer und dauerhafter die konjunkturellen Einbrüche.

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Kohr, Leopold Diese allgemeinen Überlegungen zum Problem der Ineffizienz von GroBstrukturen werden von Kohr in einer Anzahl von Studien auf konkrete Fragestellungen gelenkt. So beschäftigt er sich (1973) - zumindest dem Titel nach - primär mit Entwicklungshilfe. Tatsächlich greift er dabei aber auf das ganze Repertoire seiner Theorien zurück. Ahnlich umfassend ist auch seine kleine Monographie über die Frage, ob ein politisch unabhängiges Wales überlebensfähig wäre. Kohr (1971) kommt zum Schluß, daß dies durchaus der Fall sein könnte. Die Erfahrung der Emigration hat die Theoriebildung von Leopold Kohr in komplexer Weise geprägt. Zwar gibt es hierzu keine direkten Selbstzeugnisse, aus den wissenschaftlichen Publikationen wird aber deutlich: 1941 war sein eikenntnisleitendes Interesse, die institutionellen Bedingungen, die zum Zweiten Weltkrieg führten, zu beseitigen. Aus der Überzeugung, dafi man dafür nicht allein Deutschland territorial auflösen, alle anderen nationalstaatlich organisierten Mächte aber in unveränderter Form fortbestehen lassen kann, gelangt Kohr zu den genannten Εuregio-Konzeptionen, die ganz Europa umspannen sollen. Da Kohr seinen Vorschlag einer kleinräumigen Auflösung bestehender Strukturen in Europa später mit seiner Doktrin der kritischen sozialen Größe begründet, mußte für ihn die Hauptverantwortung für Krieg, Aggression, Vertreibung bei dem formalen Konzept der effektiven Größe liegen. Zu Ende gedacht bedeutet dies eine gewisse Exkulpierung seiner ehemaligen Verfolger, was Kohr in seinen Schriften auch durchaus darlegt. Diese Argumentationsmuster scheinen Kohr eine große Souveränität gegenüber den geistigen Impulsen verschafft zu haben, die er in seiner Jugend im deutschsprachigen Kulturkreis empfangen hatte, so daß er sie immer wieder fruchtbar im Sinne seiner analytischen Intentionen einsetzen konnte, beispielsweise wenn er die deutschen Duodezfürstentümer oder sein heimatliches Salzburg als - von der Struktur her - vorbildlich behandelt. Immer wieder hat er auch seine hervorragende Kenntnis des Deutschen Zollvereins und dessen Entwicklung in seine Darstellungen illustrierend eingeflochten. Leopold Kohrs Methode ist in einer Laudatio einmal als ausgeprägt 'semitisch' bezeichnet worden - er wende sich an seine Adressaten im Stile eines Rabbi oder eines Mullah (Illich 1983). In der Tat sind seine Ausführungen zuweilen von orienta-

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lisch anmutendem Anekdotenreichtum, allerdings sind sie zumeist historisch solide belegt. Vergleicht man die Diktion seiner Werke mit jener seines Schülers und Mitstreiters E.F. Schumacher, der in Small is Beautiful u.a. Lehren des Buddha referiert und sich auch auf längere Zitate aus der Bergpredigt bezieht, so fallt auf, wie ausgeprägt weltlich Kohrs Orientierung ist. Zwar propagiert Kohr 'soziale' Bescheidenheit, wenn er zur Abkehr von der gegenwältigen Megalomanie rät. Die Intention seiner Plädoyers ist aber nicht die Askese, sondern der Genuß - nämlich von zivilisierter Gemeinschaftlichkeit bei materieller Behaglichkeit der einzelnen. Kohrs Zivilisationsund Wachstumskritik ist nicht vergleichbar mit jener von essenischen Sektierern; sie ist viel eher die eines humanistischen Epikuräers. Schriften in Auswahl: (1941) Disunion Now, in: The Commonweal, Bd. 26 (dt. Übers.: Einigung und Teilung, in: Die Zeit, Nr. 43 v. 18.10.1991, S.60). (1949) Custom Unions. A Tool for Peace, Washington (Foundation for Peace, Foundation Pamphlets Nr. 8). (19SS) Economic Systems and Social Size, in: R.A. Solo (Hrsg.): Economics and the Public Interest. Essays Written in Honor of Eugene Ewald Anger, New Brunswick, N.J.; Neuabdruck, Westport C.T. (1957)

(1960)

(1962)

(1965/66)

(1971)

The Breakdown of Nations. Foreword by K. Sale. Afterword by Leopold Kohr, New York; Taschenbuchausgabe 1986 mit Vorworten von Ivan Illich und Leopold Kohr, New York. The History of the Common Market, in: Journal of Economic History, Bd. 20, S. 441-454. The Overdeveloped Nations, London (dt. Übers.: Die überentwickelten Nationen, Salzburg 1983). To Join or Not to Join the Common Market, That's Not the Question, in: The American Economist, Bd. 9, No. 2, S. 41^44. Is Wales Viable ? With an Introduction by Alwyn D. Rees, Llandybie/ Wales.

Kolmin, Frank William (1973)

Development Without Aid. The Translucent Society. Foreword by Kenneth D. Kaunda, President of Zambia. Critical Reflections by Robert J. Alexander and Alfred P. Thome, Llandybie/Wales.

Bibliographie: Illich, I. (1983): Vorwort, in: L. Kohr: Die überentwickelten Nationen, S. 7-12. Lehner, G. (1994): Die Biographie des Philosophen und Ökonomen Leopold Kohr, Wien. Schumacher, E.F. (1973): Small is Beautiful. Economics as if People Mattered, London. Viner, J. (1950): The Customs Union Issue, New York. Quellen: BHb Π; Stadler Π; Die Zeit Nr. 43/1991; The New York Times, 28.2.94. Gerhard Michael Ambrosi

Kolmin, Frank William, geb. 15.9.1915 in Wien Kolmin begann 1935 Wirtschaftswissenschaften an der Handelshochschule in Wien mit den Schwerpunkten Rechnungswesen und Finanzierung zu studieren. Neben dem Studium arbeitete er in der Wiitschaftspiüferpraxis seines Vaters. Bevor er sein Studium abschließen konnte, mußte er 1938 nach dem Einmarsch der Deutschen aus Österreich fliehen und damit seine offensichtlich geplante Laufbahn, die väterliche Wirtschaftsprüferpraxis weiterzuführen, aufgeben. Er landete zunächst auf Zypern, wo er sich als Gelegenheitsarbeiter (Taxifahrer, Kellner, Barpianist u.ä.) durchschlug. Im November 1941 emigrierte er über Ägypten weiter nach Tanganyika in Ostafrika. Dort arbeitete er für die britische Armee als Berater, indem er bei der Auswertung deutschsprachiger Dokumente behilflich war. 1945 wanderte Kolmin in die USA weiter, wo er zunächst in der Buchhaltung eines Schuhunternehmens in New York tätig war. Zusätzlich versuchte er, in seinem erlernten Beruf wieder Fuß zu fassen und arbeitete nebenbei als Steuerberater und Berater für Buchhaltungs- und Steuerfragen bei der Eastman School of Business in New York. 1948 bis 1951 besuchte er Abendkurse an der New York University, die er 1951 als M.B.A. abschloß. Danach war er zunächst bei verschiedenen Unternehmen in der Kostenrechnung und Kostenanalyse tätig, be-

vor er 1954 an das Ithaca College in New York kam. Dort war er zunächst Assistant Professor, ab 1957 Associate Professor und Chairman des Department of Economics and Business. 1960 wurde er dort stellvertretender und 1963 bis 1965 geschäftsfuhrender Dekan des College of Arts and Sciences. Seine Beziehung zu Afrika konnte er durch sein Engagement im African School Program des Ithaca College zeigen, in dem er 19591965 in unterschiedlichen Funktionen aktiv war. Seit 1965 ist er Professor der School of Business an der State University New York (S.U.N.Y) at Albany, wo er die Fächer Rechnungslegung und Finanzierung vertritt. Neben seiner Tätigkeit beim Ithaca College besuchte Kolmin ab 1958 die Maxwell Graduate School Syracuse. Dort verfaßte er seine Dissertation über die westdeutsche Geldpolitik in den Jahren nach der Währungsreform. 1961 wurde Monetary Policy in West Germany, 1948-1958 von der Syracuse University als Dissertation angenommen und Kolmin zum Ph.D. promoviert Anschließend befaBte sich Kolmin vornehmlich mit Themen aus den Bereichen des Rechnungswesens und der Besteuerung. Sein umfangreichster Beitrag erschien 1971 als Kapitel 29 in dem von James A. Cashin herausgegebenen Handbook for Auditors. Dieses Handbuch sollte eine umfassende Darstellung interner und externer Prüfungen von Unternehmen bieten. Darin beschreibt er, wie in verschiedenen Unternehmensrechtsfonnen die Formen des Eigenkapitals in der internen und externen Prüfung behandelt werden sollen. Für die Abfassung des Beitrags mußte Kolmin Material aus einer großen Vielfalt von Rechtsquellen zusammentragen, systematisieren und aufbereiten. 1971 befaßte sich Kolmin in zwei Artikeln mit der akademischen Lehre und Möglichkeiten zu ihrer Umgestaltung und Verbesserung. Zusammen mit Richard M. Clark schrieb er den Beitrag Towards More Effective Teaching In Professional Areas (1971c), in welchem er sich dafür einsetzt, daß die Universität weniger reines Faktenwissen vermitteln, sondern die Studenten in die Lage versetzen soll, sich mit ihren Kenntnissen auch in dynamischen Umfeldbedingungen stets zurechtzufinden. Hierfür möchte er eine Atmosphäre des aktiven Studierens und der engagierten Diskussion zur Erarbeitung von Lösungen komplexer Fragestellungen schaffen, von der die Studenten und auch der Dozent profitieren können. Bei einer Umfrage konnte Kolmin einen Großteil der be-

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Kolsen, Helmut Max fragten Studierenden für sein Konzept begeistern. In dem Artikel Teaching Internal Auditing for Managerial Decisions diskutiert er die Integration der Internen Revision in den Studiengang Accounting. Basis des Artikels ist die mittlerweile allgemein anerkannte Tatsache, daß Entscheidungen in Unternehmen nur so gut sein können, wie die Informationen, auf denen sie beruhen. Die Interne Revision lieferte diese Datenbasis, so daß die akademische Lehre auf die Vermittlung der entsprechenden Methoden nicht verzichten könne. In weiteren Beiträgen analysierte Kolmin Besteuerungsprobleme. In dem Artikel Banks, Environmental Problems, and Taxes (1972) behandelt er steuerliche Anreize fiir Investitionen in Umweltschutzmaßnahmen und die Rolle der Banken bei der Finanzierung dieser Projekte. Sein Beitrag The Accumulated Earnings Tax. An Anglo-American Comparison (1979) vergleicht die Praxis der Doppelbesteuerung in den USA und in England. Er unterbreitet dabei auch Vorschläge zur Verbesserung des US-Systems, da die Unternehmen durch die steuerlichen Regelungen zu höheren Ausschüttungen angehalten werden, was sich negativ auf deren Entwicklung auswirke. Schriften in Auswahl: (1961) Monetary Policy in West Germany, 1948-1958, Syracuse University (Diss.). (1971a) Owners' Equity, Chapter 29, in: J. Cashin (Hrsg.): Handbook for Auditors, New York, S. 1-31. (1971 b) Teaching Internal Auditing for Managerial Decisions, in: The Internal Auditor, Sept./Okt., S. 50-53. (1971c) Toward More Effective Teaching in Professional Areas (zus. mit R.M. Clark), in: Improving College and University Teaching, Bd. 19, S. 207210. (1972) Bank, Environmental Problems and Taxes, in: Banking Law Journal, Bd. 87, S. 29-40. (1979) The Accumulated Earning Tax. An Anglo-American Comparison (zus. mit C.W. Nobes), in: International Tax Journal, Bd. 5, S. 410-419. Quelle: Β Hb II. Dirk Becker

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Kolsen, Helmut Max, geb. 30.4.1926 in Berlin Kolsen wandte sich nicht sofort nach der Schulausbildung der akademischen Laufbahn zu. sondern absolvierte, nachdem er 1939 nach Großbritannien emigriert war, eine Lehre als Werkzeugmaschinenmacher. Diesen Beruf übte er sowohl in Großbritannien als auch in Australien aus, wohin er 1948 weiter wanderte. Diese technische Ausrichtung prägte auch sein erstes Studium 1950/51 am Sydney Technical College. Danach widmete er sich von 1951 bis 1954 dem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Sydney. Von 1955 bis 1963 übte er mehrere Tätigkeiten als Dozent an verschiedenen australischen Universitäten aus. In dieser Zeit war Kolsen 1961 Rockefeller Fellow in Social Sciences an der University of Illinois, der Columbia University sowie an der London School of Economics. Von 19621963 hatte er ein Rees Jeffrey Studentship an der London School of Economics, wo er 1963 den Ph.D. erwarb. An der University of Sydney war Kolsen 1965-1968 Associate Professor, seit 1968 ist er Professor of Economics an der University of Queensland. 1978 bis 1982 stand er dort der Faculty of Commerce and Economics als Dekan vor. Von 1969 an war Kolsen Mitglied in verschiedenen australischen Wirtschaftskommissionen, hauptsächlich im Bereich des Transportwesens. Mit dem Verkehrswesen und der Regulierung beschäftigte sich Kolsen nicht erst im Rahmen seiner Kommissionstätigkeiten, er hatte dazu bereits vorher etliche wissenschaftliche Beiträge veröffentlicht. Andere Forschungsfelder sind die Theorie der Protektion und die Finanzwissenschaft. Die Bereiche Verkehrswesen und Regulierung behandelte Kolsen sowohl getrennt als auch - was sich hier anbietet - im Zusammenhang. Von besonderem Interesse ist für ihn die kritische Analyse bestehender Regulierungen, die Ermittlung einer effizienten Regulierung und im Rahmen des Verkehrswesens Betrachtungen zur Kostendekkung der Straßeninfrastruktur. Bei letzterem wird auch die effiziente Kostenzuweisung auf einzelne Nutzer/Nutzergruppen des gemeinsam nachgefragten Gutes Straßeninfrastruktur analysiert (z.B. 1968, 1973, 1982). Bereits in seinem Beitrag How to Pay for the Roads (1957) schlug Kolsen eine effiziente Preissetzung für die Straßenbenutzung vor. Zunächst kritisierte er eine von staatlicher Seite diskriminierende Behandlung einzelner Verkehrsträger,

Kolsen, Helmut Max die sich z.B. in ökonomisch ungerechtfertigt hoher Besteuerung einiger und Subventionen anderer Verkehrsträger äußern könne. Problematisch sei hierbei, daß die sich ergebenden Preise nicht die Opportunitätskosten widerspiegelten. In diesem Beitrag beschränkte sich Kolsen auf die Analyse der Preissetzung fur Straßen. Die Kosten des Straßenangebots wurden hier in die Kategorien nutzungsunabhängig (z.B. Baukosten und witterungsbedingter Verschleiß) und nutzungsabhängig (Abnutzung z.B. der Teerdecke durch das Befahren) eingeteilt. Die Gesamtkosten müßten von den Nutznießern des Straßenangebots gedeckt werden. Kolsen schlug fur alle Nutzer (aktuelle und potentielle) eine nutzungsunabhängige Gebühr, die die sogenannten Fixkosten decke, und eine nutzungsabhängige Gebühr, die von den Fahrern gemäß ihrer tatsächlichen Inanspruchnahme zu entrichten wäre, vor. Diese die variablen Kosten deckende Gebühr sollte über eine genaue Bepreisung aller gefahrenen Kilometer erhoben werden. Dazu empfahl er ein in das Fahrzeug zu installierendes Meßgerät. So könnte man die variablen Kosten verursachungsgerecht anlasten, was über die Mineralölsteuer nicht so präzise zu erreichen wäre. Kolsen war damit einer der ersten Wirtschaftswissenschaftler, der konkrete Vorstellungen von der Erhebung eines benutzungsabhängigen Straßenpreises hatte. In dem Artikel Comparative Economic Advantage and Government Control in Road-Rail Freight Competition (1967) analysierte Kolsen die ökonomischen Charakteristika von Straßen- und Schienenverkehr und die daraus resultierenden komparativen Vorteile des jeweiligen Verkehrsträgers. Er ging kurz auf die Maiktstnikturen und die intermodale Substitutionskonkurrenz ein. Danach stellte er die Regulierungspraktiken in Australien, Großbritannien und USA dar. Schließlich überprüfte er die ökonomische Rechtfertigung und die Effizienz der Regulierungen. Ziel der Regulierung sollte hier ein 'modal split' gemäß der komparativen Vorteile zwischen Bahn und Straße sein. Dazu seien nur geringe Eingriffe nötig. Kolsen deutete an, daß eine Art Wettbewerbspolitik zur Verhinderung marktbeherrschender Stellungen durchgeführt werden müsse. Die Regulierung in Australien beurteilte er als ineffizient und für das erwähnte Ziel eher kontraproduktiv. Mit dem Thema Regulierung befaßte sich Kolsen auch in A Comment on International Comparison of Economic Regulation (1982a). Kolsen stellte

Ziele der Regulierung dar und setzte sich kritisch mit der Theorie der Regulierung auseinander. Beim Vergleich von Regulierungen in den USA und in Australien kam er zu dem Schluß, daß eine Voraussetzung für effiziente Regulierung die Berücksichtigung der jeweiligen institutionellen und konstitutionellen Bedingungen sei. Nach Kolsens Meinung müßten je nach diesen Unterschieden verschiedene Instrumente angewendet werden, um die gleichen Ziele zu erreichen. Schriften in Auswahl: (1957) How to Pay for the Roads, in: The Australian Quarterly, Bd. 29, S. 7482. (1966) The Economics of Electricity Pricing in N.S.W., in: The Economic Record, Bd. 42, S. 555-571. (1967) Comparative Economic Advantage and Government Control in RoadRail Freight Competition, in: Economic Papers. The Economic Society of Australia and New Zealand, Bd. 25, S. 44-54. (1968) The Economics and Control of RailRoad Competition, Sydney. (1970) The Price Mechanism. Demand, Supply and Market Structures, Melbourne. (1971) Road Expenditure Policy in Australia [zus. mit G.E. Docwra], in: Journal of Transport Economics and Policy, Bd. 5, S. 267-294. (1973) The Victorian Land Transport Inquiry, in: Economic Record, Bd. 49, S. 464480. (1982a) A Comment on International Comparison of Economic Regulation, Centre for Applied Economic Research (CAER) Paper, Nr. 17, S. 12-21. (1982b) Public Authority Business Undertaking (PABUs) in Australia, in: Monash University at Melbourne, Department of Economics, Seminar Papers, Nr. 8. (1982c) Track Costs, Road Pricing and Cost Recovery [zus. mit G. Ε. Docwra], in: Development in Transport Studies, Bd. 4, S. 77-92.

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Kozlik, Adolf (1983)

Effective Rates of Protection and Hidden Sectoral Transfers by Public Authorities, in: The Australian Journal of Agricultural Economics, Bd. 27, S. 104-115.

Quellen: Β Hb II; Who's Who in Australia. Ulrike Ε. Berger

Kozlik, Adolf, geb.

14.6.1912 in Wien, gest.

2.11.1964 in Paris Die Biographie des kurzen Lebens von Adolf Kozlik trägt romanhafte Züge. GleichermaBen Idealist wie Realist, von Politik und Wissenschaft gleichermaßen fasziniert, ausgestattet mit messerscharfer Logik und ungezügeltem Aktivitätsdrang kommen sein wechselvolles Leben und sein Einfluß auf seine Mitmenschen in seinen Schriften nur ungenügend zum Ausdruck. Aus armen Verhältnissen stammend - der Vater verdiente den Unterhalt mit einem klapprigen Taxi - ging er als Werkstudent und Taxifahrer an die Wiener Universität, wo er 1935 zum Dr. jur. promovierte. Schon während der Studienzeit fiel er in den nationalökonomischen Seminaren durch sein theoretisches Verständnis und seine streng logische Argumentation auf, und dies verschaffte ihm eine Beschäftigung in dem von -» Oskar Morgenstern geleiteten prestigeträchtigen Österreichischen Institut fur Konjunkturforschung, wo er die Bedeutung empirischer Forschung kennenlernte. Sein Studium und seine frühen Berufsjahre fielen in die Jahre des Zusammenbruchs der österreichischen Demokratie und der Machtergreifung durch den Austrofaschismus im Jahre 1934. Der engagierte sozialdemokratische Student und Marx-Kenner Kozlik nahm an den Februarkämpfen teil und war in den nachfolgenden Jahren im Untergrund aktiv. 1938 legte er die erste Publikation einer größeren theoretischen Arbeit vor (Zur Anwendung der Mathematik in der Nationalökonomie in der Zeitschrift für Nationalökonomie); es ist das Jahr des deutschen Einmarsches in Österreich. Kozlik floh in die Schweiz, wo er vorübergehend als Assistent bei -»• Wilhelm Röpke am Genfer Institut für Höhere Studien tätig war, ging dann nach Frankreich, von wo er sich nach dem Einmarsch der Deutschen neuerlich absetzen mußte. Er kam in die USA, wo er neben -» Gerhard Tintner, seinem ebenfalls emigrierten Kollegen aus

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dem Wiener Institut, als Professor am Iowa State College lehrte. Hier fand Kozlik erstmals Zeit zu intensiverer wissenschaftlicher Tätigkeit. Innerhalb von wenigen Jahren erschienen rund ein Dutzend Artikel, die durchweg originelle Beiträge zur Theorie und Messung der Nachfrage enthalten und in fuhrenden Fachzeitschriften publiziert wurden (American Economic Review, Econometrica, Journal of Political Economy, Review of Economic Studies, Journal of the American Statistical Association etc.). 1941 ging Kozlik an das Institute for Advanced Study in Princeton, wo er sich mit Fragen des europäischen Lebensstandards und der europäischen Produktion beschäftigte. Daneben gründete er unter falschem Namen ein 'Büro für europäische Wirtschaftsforschung' in New York, das ihm Gelegenheit gab - finanziert durch Subventionen und öffentliche Aufträge - bis zu 35 Mitarbeiter, überwiegend österreichische Emigranten, zu beschäftigen. Die Aufdeckung des Namenschwindels und Kozliks Weigerung, einer Einberufung (als Oberst!) Folge zu leisten, führten zu einer Flucht nach Mexiko, wo er zunächst interniert wurde, später aber dann als Gastprofessor an der Universität tätig war und ein Transportunternehmen gründete. Nach Kriegsende fehlen Bemühungen sowohl seitens der akademischen Welt wie seitens der Sozialistischen Partei, den eigenwilligen und radikalen Kozlik - abgesehen von Gastvorträgen - nach Österreich zurückzurufen. 1959 kehrte er schließlich doch zurück und wurde zunächst als Direktor des führenden Wiener Volksbildungshauses 'Urania' eingesetzt. In diese Zeit fällt die Publikation einer Reihe von populärwissenschaftlichen volkswirtschaftlichen Schriften, die sowohl pädagogische wie stilistische Kostbarkeiten darstellen. Wegen Schwierigkeiten bei der Durchführung seiner radikalen Reformpläne kam es 1962 zu einer Unterbrechung dieser Tätigkeit. Kozlik folgte einem Ruf auf eine Professur an der Dalhousie-Universität in Halifax, von wo er ein Jahr später nach Österreich zurückkehrt, um eine Stelle als (beigeordneter) Direktor am Institut für Höhere Studien ('Ford-Institut') in Wien zu übernehmen. Ende 1964 ereilte Kozlik in Paris ein plötzlicher Tod. Erst nach diesem Datum erschienen zwei umfangreiche kritisch-populärwissenschaftlich, aber solide abgefaßte Werke über die amerikanische Wirtschaft (Der Vergeudungskapitalismus in mehrere Sprachen übersetzt - und Volkskapitalismus), an denen er längere Zeit gearbeitet hatte

Kraus, Hertha und die knapp vor ihrer Vollendung gestanden hatten. In ihnen präsentierte Kozlik sein ökonomisches Wissen und sein kapitalismuskritisches Engagement in einem breiten theoretisch-empirischen Rahmen. Schriften in Auswahl: (1938) Zur Anwendung der Mathematik in der Nationalökonomie, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. 9, S. 8698. (1940) Conditions for Demand Curves Whose Curves of Total Revenue, Consumers' Surplus, Total Benefit, and Compromise Benefit Are Convex, in: Econometrica, Bd. 8, S. 263-271. (1941) Note on Consumers Surplus, in: Journal of Political Economy, Bd. 49, S. 754-762. (1941) The Use of Per Capita Figures for Demand Curves, in: Journal of the American Statistical Association, Bd. 36, S. 417-422. (1942) Note on the Integrability Conditions for Interrelated Demand, in: Review of Economic Studies, Bd. 10, S. 7374. (1966) Der Vergeudungskapitalismus. Das amerikanische Wirtschaftswunder, Wien. (1968) Volkskapitalismus. Jenseits der Wirtschaftswunder. Hrsg. von Maria Jilg, Helmut Kramer, Kurt W. Rothschild, Wien. Bibliographie: Rothschild, K.W. (1965): Adolf Kozlik (19121964), in: Zeitschrift fUr Nationalökonomie, Bd. 25, S. 1-2. Simon, J.T. (1979): Augenzeuge, Wien. Quellen: SPSL 233/8; Β Hb I; NL Morgenstern. Kurt W. Rothschild

Kraus, Hertha, geb. 11.9.1897 in Prag, gest. 16.5.1968 in Haverford/Pennsylvania Kraus siedelte Anfang des Jahrhunderts mit ihren Eltern nach Frankfurt a.M. über, wo ihr Vater bis zu seiner 'Entpflichtung' 1933 als Professor für Wirtschaftsgeographie tätig war. Sie studierte an der Frankfurter Universität zunächst Wirtschafts-

wissenschaften, wandte sich aber dann unter dem EinfluS von Prof. Christian Klumker, der den seinerzeit einzigen deutschen Lehrstuhl für Fürsorgewesen innehatte, den Sozialwissenschaften zu. Sie promovierte 1919 mit dem Prädikat 'summa cum laude' zum Dr. rer. pol.; ihre Dissertation behandelt Aufgaben und Wege einer Fürsorgestatistik. Mit der Bedeutung statistischer Daten fur die Sozialarbeit beschäftigte sie sich auch später noch. Nach dem November 1918 leitete Hertha Kraus das Hilfskomitee und von 1920 bis 1923 die Kinderernährungsstelle der amerikanischen Quäker in Berlin-Brandenburg. Gleichzeitig lernte sie durch die Mitarbeit in der von Dr. Friedrich SiegmundSchultze begründeten 'Sozialen Arbeitsgemeinschaft Ost' neue Formen Stadtteil- bzw. nachbarschaftsbezogener Sozialarbeit kennen, die sie dann anwandte und ausbaute. Als man sie am 1. April 1923 zur Direktorin der Abteilung für öffentliche Wohlfahrtspflege der Stadt Köln berief, war sie mit 26 Jahren die jüngste Inhaberin eines solchen Amtes in Deutschland. Zugleich arbeitete sie auf Bezirksebene in verschiedenen sozialen Verbänden und Einrichtungen mit und betätigte sich als Dozentin an der Schule für Sozialarbeit in Köln. Sie wandelte leerstehende Kasernen in Wohnungen und in Heime für alte und pflegebedürftige Menschen um, wie sie sich überhaupt bemühte, Einrichtungen der sozialen Fürsorge produktiv miteinander zu verknüpfen. Unter anderem richtete sie auch ein Nachbarschaftshaus der Quäker ein, zu deren auf praktische Toleranz und Nächstenliebe zielenden Bestiebungen sie sich ein Leben lang bekannt hat. Nach ihrer Entlassung 1933 emigrierte sie mit ihrer ganzen Familie in die USA, die ihr von einer längeren Studienreise 1931 her schon vertraut waren. Sie wurde zunächst Beraterin einer Forschungsgruppe für Gemeindearbeit und Wohnungsbau, lehrte Sozialarbeit am Margaret Morrison College und am Carnegie Institute of Technology in Pittsburgh und übernahm von 1936 an bis zu ihrer Emeritierung 1963 eine Professur fur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte am Bryn Mawr College bei Philadelphia, der bedeutendsten Ausbildungsstätte für Sozialarbeit in den USA, die ausschließlich weiblichen Studierenden zugänglich ist. Darüber hinaus unterrichtete sie zeitweise an mehreren anderen Hochschulen, wirkte an verschiedenen Hilfsprogrammen der Quäker für Flüchtlinge mit und beriet staatliche Dienststellen

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Kuczynski, Jürgen in Fragen der sozialen Sicherheit, des Wohnungswesens oder der Rehabilitation. 1948 wurde sie Sonderberaterin der Wohlfahrtsstelle der amerikanischen Militärregierung in Deutschland, 1930 Sonderberaterin fiir Sozialpolitik bei der Alliierten Hohen Kommission. Wenn auch ihre Ratschläge nicht immer angemessen gewürdigt worden sind, so entstanden doch auf ihren Vorschlag hin insgesamt 13 Nachbarschaftsheime. Durch zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge hat Hertha Kraus Kenntnisse von spezifisch amerikanischen Methoden der Sozialarbeit wie Einzelfallhilfe (Casework) und Gemeinwesenarbeit vermittelt und zu den Traditionen eines demokratisch verfaßten Einwanderungslandes in Beziehung gesetzt. Ihr kommt auch das Verdienst daran zu, daB sich schon 19S0 wieder eine deutsche Delegation am internationalen Gespräch über Sozialarbeit beteiligen konnte. Schriften in Auswahl: (1940) The Plight of Refugees in a Preoccupied World, in: Proceedings of the National Conference of Social Work, New York. (1949) Von Mensch zu Mensch. Casework als soziale Aufgabe, Frankfurt/M. (1950) Social Casework in USA. Theorie und Praxis der Einzelfallhilfe (als Hrsg.), Frankfurt/M. Quellen: Β Hb I, Nachlaß H. Kraus, School of Social Work, Bryn Mawr College, Philadelphia/ Penn., USA; Nachlaß W. Sollmann, Stadtarchiv Köln. Hildegard Feidel-Merz

Kuczynski, Jürgen, geb. 17.9.1904 in Elberfeld, gest. 6.8.1997 in Berlin Die großbürgerliche Herkunft Kuczynskis, er ist der Sohn von - J.A. Schumpeter und F. Oppenheimer in einem Atemzug als „eine Kuriosität" (1924, S. 185) zu bezeichnen. Während Liefmanns frühe Werke, besonders die von akribischem Fleiß gezeichneten Untersuchungen über die Kartelle und die Unternehmensformen durchaus Anerkennung fanden, führte ihn die eigene Überschätzung seiner theoretischen Leistung und seine nicht immer sachlich fundierte Kritik an allen Richtungen tradierter Ökonomik in immer stärkere wissenschaftliche Isolation. Schriften in Auswahl: (1897) Die Unternehmerverbände (Konventionen, Kartelle) ihr Wesen und ihre Bedeutung, Diss. Freiburg. (1899a) Die Hausweberei im Elsaß, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 84, S. 191-247. (1899b) Über Wesen und Formen des Verlags (der Hausindustrie). Ein Beitrag zur Kenntnis der volkswirtschaftlichen Organisationsformen, Tübingen. (1900) Die Allianzen, gemeinsame monopolistische Vereinigungen der Unternehmer und Arbeiter in England, Habil. Jena. (1905) (1907)

(1909)

(1912) (1916) (1917)

(1919)

Kartelle und Trusts, Stuttgart. Ertrag und Einkommen auf der Grundlage einer rein subjektiven Wertlehre, Jena. Beteiligungs- und Finanzierungsgesellschaften. Eine Studie über den Kapitalismus und das Effektenwesen in Deutschland, der Schweiz, den Vereinigten Staaten, England, Frankreich und Belgien, Jena. Die Unternehmensformen, Stuttgart. Geld und Gold. Ökonomische Theorie des Geldes, Stuttgart u.a. Die Grundsätze der Volkswirtschaftslehre. Band 1: Grundlagen der Wirtschaft, Stuttgart u.a. Die Grundsätze der Volkswirtschaftslehre. Band 2: Die Grundlagen des Tauschverkehrs, Stuttgart u.a.

Bibliographie: Liefmann, R. (1924): Robert Liefmann, in: F. Meiner (Hrsg.): Die Volkswirtschaftslehre in Selbstdarstellungen, Leipzig, S. 154-190.

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Limberger, A. (1959): Das wirtschaftstheoretische Lehrgebäude Robert Liefmanns unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes des Ausgleichs der Grenzerträge. Darstellung und Würdigung, Freiburg. Quellen: Universitätsarchiv Freiburg; IFZ; DDRÖkonomenlexikon; NDB 14/525f.; HLdWiWi, 1929; HdSW. Klaus-Rainer Brintzinger

Liepmann, Heinrich, geb. 3.8.1904 in

Stettin, gest. 3.10.1983 in Cateiham, Surrey/GB

Liepmann, Sohn eines Bankdirektors, Bruder von Leo Liepmann, legte 1923 in Jena die Reifeprüfung ab und nahm noch in demselben Jahr an der dortigen Universität als Werkstudent das Studium der Germanistik, Philosophie, Neueren Geschichte und Volkswirtschaftslehre auf. Gleichzeit arbeitete er in einer akademischen Buchhandlung. Im Sommersemester 1925 immatrikulierte er sich in Heidelberg, behielt dort seine Fächerkombination bis auf das Fachgebiet Germanistik bei, das er durch das Studium der Soziologie u.a. bei -» Emil Lederer und -> Alfred Weber, bei denen er auch Vorlesungen in Nationalökonomie hörte, substituierte. Entsprechend seinem interdisziplinär ausgerichteten Studium erfolgte die Promotion bei Weber mit der Arbeit Wirtschaft und Revolution 1848 in Deutschland (1931), die er summa cum laude abschloß. Das Sommersemester 1932 nutzte Liepmann für ein Stipendium an der Graduate School of International Studies in Genf. Im Anschluß daran kehrte er nach Heidelberg zurück und arbeitete im Rahmen des von Weber initiierten und von der Rockefeiler Stiftung geförderten Forschungsprogramms „Zum wirtschaftlichen Schicksal Europas". Ein Manuskript dafür hatte Liepmann im Februar 1936 noch fertigstellen können, bevor er im gleichen Monat Deutschland wegen seiner jüdischen Herkunft verlassen mußte. Der Beitrag zum Forschungsprojekt erschien daher erst zwei Jahre später in seinem Zufluchtsland Großbritannien unter dem Titel Tariff Levels and the Economic Unity of Europe (1938). In Oxford hatte Liepmann mit Hilfe der Society for the Protection of Science and Learning (SPSL) ab 1936 mehrere Forschungsstipendien erhalten, eine feste Position an einer Universität blieb ihm jedoch versagt. 1939 konnte er einer Einladung

Liepmann, Leo des Canadian Institute of International Affairs zu einer Vortragsreise wegen des Beginns des Zweiten Weltkriegs nicht Folge leisten. Auch ein im Frühjahr 1940 von der Queens University in Kingston/Ontario gewährtes zweijähriges Forschungsstipendium konnte Liepmann aufgrund seiner Internierung ab Mai desselben Jahres nicht antreten. Nach der Entlassung im Februar 1941 scheiterte die weitere Verfolgung der KanadaPläne, da er kein Visum bzw. keine Schiffspassage bekam. Ein weiteres SPSL-Stipendium ermöglichte ihm 1942 die Arbeit am Royal Institute of International Affairs/Chatham House in Cambridge, bevor er von April bis September 1943 von der BBC aufgrund seiner Sprachkenntnisse als 'Monitor' angestellt wurde. Ab Januar 1944 war er Deutschlehrer an der County Grammar School for Boys in Beckenham/Kent Liepmanns Interesse hatte seit seinem Studium in Heidelberg mehr der politischen Wissenschaft, der Geschichte und der Philosophie denn der Nationalökonomie gegolten; so gründete und leitete er zwischen 1926 und 1929 etwa die Akademischdemokratische Studentengrappe in Heidelberg (vgl. 1970, S. 50f.). Daher blieb das Buch über die Zölle in Europa (1938) seine einzige Publikation auf dem Gebiet der Volkswirtschaftslehre, mit der er jedoch eine umfangreiche quantitativvergleichende Studie über die Entwicklung der Zolltarife in den wichtigsten europäischen Handelsnationen und ihre ökonomischen Wirkungen vorlegte. Angesichts des immer stärker zunehmenden Protektionismus kurz vor und während der Weltwirtschaftskrise stieB das Werk, das ausführliches Datenmaterial für die Zeit zwischen 1927 und 1931 enthielt, auf ein breites Interesse; dies belegen nicht zuletzt die zahlreichen Buchbesprechungen in der britischen Wirtschaftspresse sowie die Rezension durch Condliffe in Economica (1938). Um eine Vergleichbarkeit der durchschnittlichen Zollhöhen in unterschiedlichen Ländern zu ermöglichen, wählte Liepmann - unabhängig von den tatsächlich gehandelten Gutem und Mengen - fiktive Güterbündel, für die er länderspezifische 'potential tariff levels' errechnete (vgl. 1938, S. 20ff. und S. 45-178). So konnte er anhand des statistischen Materials nachweisen, daß die Zölle für alle Produktgruppen, besonders jedoch im Agrarbereich, in den fünfzehn wichtigsten europäischen Ländern nach der 1927 gescheiterten Weltwirtschaftskonferenz stark angestiegen waren. Allerdings stieß seine Beurteilung der bri-

tischen Schutzzollpolitik in seinem Emigrationsland teilweise auf heftige Kritik. Das in den Rezensionen ebenfalls angemerkte Fehlen ausfuhrlicher Daten fur den Zeitraum zwischen 1931 und 1938 ist hingegen als (indirekte) Folge der Emigration Liepmanns anzusehen. Ob jedoch seine wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der Nationalökonomie durch die Flucht vor dem Nationalsozialismus beeinflußt wurde, muß angesichts seines starken historisch-philosophischen Interesses offen bleiben. Schriften in Auswahl: (1931) Wirtschaft und Revolution 1848 in Deutschland. Ökonomische und soziologische Beiträge zur Geschichte ihrer gegenseitigen Beziehungen, Diss., Universität Heidelberg. (1938) Tariff Levels and the Economic Unity of Europe. An Examination of Tariff Policy, Export Movements and the Economic Integration of Europe, 1913-1931. With and Introduction by Sir Walter Layton. Transl. from the German by H. Stenning, London. (1970) Erinnerungen an Karl Jaspers aus den Jahren 1925-1936, in: Erinnerungen an Karl Jaspers, hrsg. von K. Piper und Η. Saner, München/Zürich, S. 47-52. Bibliographie: Condliffe, J.B. (1938): [Rezension zu] Liepmann (1938), in: Economica, N.S., Bd. 5, S.338-339. Quellen: SPSL 352/3, 61/2; L; EC 78; UAH Η IV 757/29; GLA Karlsruhe. Hans Ulrich Eßlinger

Liepmann, Leo, geb. 16.3.1900 in Elbing, Bruder von -» Heinrich Liepmann Liepmann promovierte 1922 in Jena mit der Arbeit Die Wert- und Preislehre Robert Liefmanns und wechselte danach nach Breslau, wo er sich im Jahre 1928 habilitierte. Nach der Habilitation widmete er sich der Currency-Banking-Kontroverse im England des 19. Jahrhunderts (1933). Ihn faszinierte dabei, daß in der Folge dieser Diskussion ein „völlig von einer wissenschaftlichen Doktrin geformtes wirtschaitspolitisches Gesetz erlassen wurde, das dann praktischer Erprobung jahrzehn-

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Lieser, Helene telang unterworfen werden konnte" (1933, S. V). Also analysierte er sowohl die Ausgangsbedingungen als auch die Wirkungen dieses großen Experiments. Obwohl das Manuskript bereits 1930 praktisch abgeschlossen war, verzögerte sich die Veröffentlichung des Buches bis 1933. Danach arbeitete Liepmann von 1930 bis 193S als Privatdozent in Breslau, 1931/32 unterbrochen von einem Aufenthalt in Cambridge als Rockefeller-Fellow. 1935 emigrierte er nach Großbritannien. Dort übernahm er von 1935 bis 1939 bei William Beveridge an der London School of Economics die Leitung der Redaktion fur das Buch über Prices and Wages in England. Dieses Werk, das nach Beveridges eigener, realistischer Einschätzung „the least appeal to the general reader" hat (Beveridge 1939, S. X), besteht aus einer akribischen Sammlung von Preis- und Lohntabellen für England vom 12. bis zum 19. Jahrhundert, die aus der Analyse zeitgenössischer Buchhaltungen, insbesondere von Colleges und Klöstern, gewonnen wurden. Liepmanns Aufgabe bestand darin, neben redaktionellen Arbeiten, auch an der Durchführung statistischer Tests dieser Zeitreihen mitzuwirken. Nach dem Abschluß dieser Arbeit 1939 wechselte er an das Woodbroke College, Birmingham, wo er bis 1940 blieb. In diesem Jahr wurde er durch das britische Militär auf der Isle of Man interniert, kam aber schon nach wenigen Monaten wieder frei. Dennoch war seine akademische Laufbahn durch die Interniemng schwer beschädigt worden und er konnte zunächst keine universitäre Anstellung mehr finden. In dieser Situation sah er sich gezwungen von 1941 bis 1943 als Feuerwehrmann zu arbeiten. Erst 1945 konnte er an der Summer School in St. Andrews wieder eine akademische Tätigkeit als Tutor übernehmen. Nach dem Krieg arbeitete Liepmann in den Jahren 1947 bis 1953 für die britische Militärregierung in Deutschland und von 1950 bis 1958 als Lecturer in Extramural Studies an der Universität Oxford. Dann verlieren sich seine Spuren. Schriften in Auswahl: (1922) (1933)

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Die Wert- und Preislehre Robert Liefmanns, Diss. Jena. Der Kampf um die Gestaltung der englischen Währungsverfassung, Berlin.

Bibliographie: Beveridge, W. H. (1939): Prices and Wages in England, from the Twelfth to the Nineteenth Century. London. Quellen: SPSL 234/3: EC78: ACEP4/126. Thomas Keil

Lieser, Helene, geb. 16.12.1898 in Wien. gest. 1962 verm, in Paris Vater Gustav war Fabrikant. Sie besuchte u.a. die Schwarzwaldschen Schulanstalten und das PrivatMädchen-Obergymnasium des Vereins fur erweiterte Frauenbildung. Lieser reichte im April 1920 (Rigorosum 15. Juni 1920) ihr Promotionsgesuch bei der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien ein. Die Betreuer ihrer Dissertationsschrift mit dem Titel Währungspolitische Literatur der österreichischen Bankozettelperiode waren Othmar Spann und federführend -> Ludwig von Mises. Lieser geht in dieser Arbeit davon aus, daB die Bancozettelperiode zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Österreich ein vergleichbares Schrifttum aufweist, wie die Englands. Jedoch sei das österreichische Schrifttum von minderer Qualität: Während sich in England aufgrund der Geldentwertung im Gefolge der Koalitionskriege eine Geldtheorie (z.B. Ricardo) entwickelt habe, habe es in Österreich an einer ausformulierten ökonomischen Theorie gefehlt. Eine solche sei erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwikkelt worden. Im Rahmen ihrer Arbeit stellt Lieser verschiedene zeitgenössische Schriften zu den Komplexen Geldentwertung, Inflationsbekämpfung, Notenbankgriindung vor, um sich schließlich ausführlich dem Werk Adam Müllers zuzuwenden. Sie setzt die geldpolitische Relevanz des Müllerschen Theorems in Parallele zur BankingTheorie und kommt zu dem Ergebnis, daß Müllers Papiergeld-Theorie zwar eine Elastizität des Geldumlaufs voraussetze, jedoch die teilweise bankmäßige Deckung, wie sie die Banking-Theorie fordere, noch nicht gesehen habe. Spann sah in Helene Liesers Dissertationsschrift einen bemerkenswerten Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie in Österreich. Lieser war nicht nur die erste Frau, die an der Wiener Universität zum Dr. rer. pol. promoviert wurde, sie legte auch die erste Wiener staatswissenschaftliche Dissertation überhaupt vor. Mises weist in seinen Erinnerungen darauf hin, daß die Drucklegung der

Lion, Max Arbeit Liesers allein an den schwierigen Verhältnissen des Jahres 1920 gescheitert sei. Der Studie Liesers sei ob der um 1920 in Europa diskutierten währungspolitischen Reformprojekte eine hohe Aktualität zugekommen (Mises 1978, S. 72). Zwei Jahre später gab Lieser, die wie -» Martha S. Braun (Browne), -» Ilse Schüller-Mintz und -» Gertrud Lovasy zum Mises-Kreis zählte, im Auftrag Othmar Spanns eine Neuauflage der Müllerschen Versuche einer neuen Theorie des Geldes mit erläuternden Anmerkungen in einer Schriftenreihe Spanns heraus. Helene Lieser arbeitete in der Zwischenkriegszeit zunächst beim Verband österreichischer Banken und Bankiers in Wien. Sie muBte 1938 Österreich verlassen und ging dafür eine Scheinehe mit einem Mann namens Berger ein. In der Schweiz widmete sich Lieser Opfern der Nazi-Aggression. Wie Margit von Mises berichtet, haben sie die Zeitumstände und ihre Erlebnisse deutlich gezeichnet (1981, S. 73,81). Seit der Gründung der International Economic Association mit Sitz in Paris war Helene Lieser noch viele Jahre als deren leitende Sekretärin tätig. Sie vertrat die Organisation auf zahlreichen internationalen Konferenzen. Schriften in Auswahl: (1920) Währungspolitische Literatur der österreichischen Bankozettelperiode, Diss. Wien (MS). (1922) Adam H. Müller, Versuche einer neuen Theorie des Geldes. Mit erklärenden Anmerkungen versehen von Dr. Helene Lieser (= Die Herdflamme. Sammlung der gesellschaftswissenschaftlichen Grundwerke aller Zeiten und Völker, Hrsg. von Prof. Dr. Othmar Spann, 2. Band), Jena. Bibliographie: Mises, L.v. (1978): Erinnerungen von Ludwig v. Mises mit einem Vorwort von Margit von Mises und einer Einleitung von Friedrich August von Hayek, Stuttgait/New York. Mises, M.v. (1981): Ludwig Mises. Der Mensch und sein Werk, München. Quellen: Archiv der Universität Wien, Inskriptionsbogen; Promotionsakte Prot. Nr. 6551 Dr. rer.pol.; Universitätsmatrikel; Haag, J. (1973): The Spann Circle and the Jewish Question, in: Leo Baeck Institute Yearbook, Bd. 18; Nautz, J.

(1997): Zwischen Emanzipation und Integration. Die Frauen der Wiener Schule für Nationalökonomie, in: Fischer, L., Brix, E. (Hrsg.): Die Frauen der Wiener Jahrhundertwende, Wien/München. Jürgen Nautz

Lion, Max, geb. 8.6.1883 in Dortmund, gest. 2.12.1951 in New York Lion, der einer jüdischen Kaufmannsfamilie entstammte, studierte Rechtswissenschaft, Philosophie und Musik (Komposition) in Genf, Berlin, München, Bonn und promovierte 1904 an der juristischen Fakultät Rostock bei Bernhard MatthiaB mit einer Arbeit über Die Mitvormundschaft nach gemeinem und bürgerlichem Recht. 1911 ließ er sich als Rechtsanwalt in Berlin nieder, erhielt 1919 die Zulassung zum Kammergericht, 1925 zum Notar. Lion beschäftigte sich zunächst mit praktischer Steuerberatung und als Steuerrechtskommentator. 1918 gründete er die Fachzeitschrift Ζeitgemässe Steuerfragen und 1927 die Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht, die 1933 ihr Erscheinen eingestellt hat. 1920 berief ihn die Handelshochschule in Berlin als Dozent für Steuerrecht, an der er bis zur Entziehung seiner Lehrbefugnis 1933 durch das Nazi-Regime tätig war. Nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus wurde Lion aufgrund seiner jüdischen Abstammung die Ausübung seines Berufes als Rechtsanwalt und Notar sowie wissenschaftlicher Schriftsteller unmöglich gemacht. 1935 emigrierte er zunächst in die Niederlande und 1937 in die USA, wo er ein Kohlengeschäft führte und sich anscheinend mit befreundeten Rechtsanwälten assoziierte (Pausch, 1992, S. 91). Lion ist als eine der tragenden Persönlichkeiten der Steuerrechtswissenschaft zu betrachten, wie sie sich in der Weimarer Republik von anderen rechtswissenschaftlichen Teildisziplinen verselbständigte. Seine wissenschaftliche Bedeutung liegt nicht zuletzt darin, daß er interdisziplinär Steuerrechtsfakten mit betriebswirtschaftlichem Gedankengut zu verknüpfen wußte. Als Pionier des Bilanzsteuerrechts ist er als die stärkste bilanztheoretische Begabung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anzusehen: Sorgfältiger arbeitend als die Betriebswirte -» Eugen Schmalenbach, Fritz Schmidt, Walb und orginineller als le Coutre, Rieger oder Kosiol. Lions Bedeutung für die Bilanzlehre liegt in der zielgerichteten Formu-

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Lovasy, Gertrud lierung und Begründung von materiellen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung und der theorie- und geschichtskritischen Analyse dieser Grundsätze: 1. Lions Überlegungen zur Trennung von steuerlicher Vermögensbilanz (Vermögensaufstellung) und Ertragsbilanz (Gewinnermittlungsbilanz) halfen, die Notwendigkeit von Einzelgrundsätzen zielentsprechender Gewinnermittlung klarer zu sehen. Durch die Prägung des Begriffs Imparitätsprinzip hob er zwei Säulen der heutigen Gewinnermittlung hervor das Realisationsprinzip und den Grundsatz der Verlustvorwegnahme. 2. Lions Auseinandersetzung mit der Reinvermögenszugangstheorie des Einkommens deckte die Widersprüchlichkeit der Ausführungen von Georg von Schanz auf, insbesondere im Hinblick auf die Übernahme kaufmännischer Gewinnermittlungskonventionen. Lion unterscheidet sorgsam zwischen der Reinvermögenszuwachslehre, die auch unrealisierte Gewinne einschließt, und der Lehre, nur realisierte Gewinne schüfen steuerbares Einkommen. 3. Lion analysiert die Schwächen von Schmalenbachs dynamischer Bilanzauffassung gründlicher als der sich in Begriffsklaubereien ergehende Rieger und belegt mit unerbittlicher Logik die Unhaltbarkeit von Schmalenbachs Verknüpfung von privatwirtschaftlichem und gemeinwirtschaftlichem Gewinn. 4. Lions Untersuchung zur Bilanzgeschichte erscheint als die einzige wissenschaftlich tragfähige Arbeit in deutscher Sprache in den ersten Dreivierteln dieses Jahrhunderts. Lion ringt um eine widerspruchsfreie Ableitung von Einzelfragen der Bilanzierung aus empirisch-induktiv zu ermittelnden materiellen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung. Folgerichtig spricht er sich gegen Bilanzierungswahlrechte und stille Reserven aus. Schriften in Auswahl: (1905) Die Mitvormundschaft, Berlin. (1912) Kommentar zum Reichszu wachssteuergesetz, Berlin. (1919/20) Kommentare zur Grundstücks-Umsatzsteuer, zum Grunderwerbsteuergesetz, Gesetz über das Reichsnotopfer, Berlin. (1922) Das Bilanzsteuerrecht, Berlin. (1927) Wahre Bilanzen! Ein Beitrag zur Vereinheitlichung von Handelsbilanz und Steuerbilanz, Berlin.

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(1928)

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Der Einkommensbegriff nach dem Bilanzsteuerrecht und die Schanzsche Einkommenstheorie, in: H. Teschemacher (Hrsg.): Festgabe für Georg von Schanz zum 75. Geburtstag, 12. März 1928, Bd. II, Tübingen, S. 273300. Die dynamische Bilanz und die Grundlagen der Bilanzlehre, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, Jg. 5, S. 481-506. Geschichtliche Betrachtungen zur Bilanztheorie bis zum Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch, in: Vierteljahresschrift fur Steuer- und Finanzrecht, Jg. 2, S. 401-441. Die Umwandlung und Auflösung von Kapitalgesellschaften, Berlin.

Bibliographie: Bathe, Η. (1980): Zu Max Lion, Pionier des Bilanzsteuerrechts, in: Steuer und Wirtschaft, Jg. 57, S. 181. Göppinger, Η. (1990): Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich", 2. Aufl., München. Pausch, A. (1979): Max Lion, Pionier des Bilanzsteuerrechts, in: Steuer und Wirtschaft, Jg. 56, S. 149-171. Pausch, A. (1992): Persönlichkeiten der Steuerkultur, Herne/Berlin. Schneider, D. (1979): Zu Alfons Pausch: Max Lion, Pionier des Bilanzsteuerrechts, in: Steuer und Wirtschaft, Jg. 56, S. 283-286. Quellen: CV; Β Hb II; Kürschner 1931; L; RHB. d. dt. Ges. Dieter Schneider

Lovasy, Gertrud, geb. 17.12.1900 in Wien, gest. 9.1.1974 in Washington, D.C. Lovasy promovierte in den zwanziger Jahren in Wien und arbeitete anschließend am Wiener Institut für Konjunkturforschung. 1939 floh sie zuerst nach England und von dort in die USA. 1946 begann sie eine Tätigkeit bei der Financial Section der League of Nations, die während des Zweiten Weltkrieges aus Sicherheitsgründen von Genf nach Princeton, N.J., verlegt worden war. Sie war dort als wissenschaftliche Hilfskraft eingestellt, weit unter ihrer Qualifikation und Arbeitserfahrung. 1947 nahm sie eine Stelle als Ökonomin am

Lovasy, Gertrud Internationalen Währungsfonds (IWF) an, dort blieb sie bis zu ihrer Pensionierung 1965. Danach arbeitete sie gelegentlich für die Organisation of American States (OAS). Innerhalb des IWF stieg sie auf vom Economist, Special Studies Division, zum Assistant Chief der Special Studies Division und dann zum Advisor im Research and Statistics Department. Sie spezialisierte sich auf Rohstoffmärkte im Konjunkturverlauf und war maßgeblich an der Entwicklung der vom IWF 1963 eingeführten 'Kompensatorischen Finanzierungs-Fazilität' (CFF) beteiligt. Die CFF ist ein Instrument zur Stabilisierung der Rohstoffpreise. Lovasy war in den 1960er Jahren aktiv an den Verhandlungen des internationalen Kaffeeabkommens beteiligt und reiste in diesem Zusammenhang viel, insbesondere nach Lateinamerika und London. Nach ihrer Pensionierung wurde ihre Arbeit im IWF von einer neu gegründeten Abteilung mit fünf bis sechs Planstellen fortgesetzt. Die ihr gebührende Anerkennung, etwa durch Ernennung zum Division Chief, blieb ihr verwehrt (Polak). Lovasy veröffentlichte insgesamt sieben Aufsätze in den IMF Staff Papers und verfaßte ein von den Vereinten Nationen veröffentlichtes Dokument über internationale Kartelle. Ihre Schriften stehen in direktem Zusammenhang mit ihrer Arbeit als ökonomin. Ein Aufsatz über den Zusammenhang zwischen Inflation, Exporten und Exportdiversifikation in Entwicklungsländern (1962) ist ein empirischer Beitrag zu der bis heute gültigen Stabilitätspolitik des IWF. Sie vertritt die These, daB Länder mit hoher Preisstabilität ein relativ zum Bruttosozialprodukt überproportionales Exportwachstum mit zunehmender Exportdiversifizierung erzielen, während die Exporte von Ländern mit hoher Inflationsrate hinter dem Wachstum des BSP zurückbleiben. Ihr Aufsatz bezieht sich auf die Jahre 1953-1959 und ist implizit eine Kritik der zu der Zeit populären Importsubstituierungspolitik. Andere Aufsätze befassen sich mit Problemen, die im Zusammenhang mit dem Kaffee- und mit anderen Rohstoffabkommen auftauchen. Ein Aufsatz (1964) miBt die Substitutionselastizität für Kaffeesorten aus verschiedenen Regionen in Brasilien auf dem Weltmarkt. Lovasy untersucht in diesem Aufsatz, wie Brasilien durch eine entsprechende regionale Anbaupolitik (Minimierung der Verluste in Gebieten mit hohen Frostschäden) und durch Lagerhaltung seine Erlöse im Rahmen des Kaffeeabkommens optimieren kann. Eine

weitere Publikation befa£t sich mit dem antizyklischen Effekt des Rohstoffabkommens International Materials Conference (IMC) und dem prozyklischen Effekt seiner Terminierung während der Rezession 1953-54. Diese Arbeit hatte sie während der Jahresversammlung der Econometric Society in Detroit, Michigan vorgetragen. Lovasys Arbeiten zeichnen sich durch technische Kompetenz sowie klare wirtschaftspolitische Aussagen aus. In allen Aufsätzen werden die USA als Referenzsystem verwendet, ihre (intellektuelle) Herkunft aus Europa wird aus den Veröffentlichungen nicht deutlich. Schriften in Auswahl: (1952) International Cartels, United Nations. (1953a) Rise in the U.S. Share of World Textile Trade, in: IMF Staff Papers, Vol. 3, S. 47-68. (1953b) Short-Run Fluctuations in U.S. Imports of Raw Materials, 1928 - 1939 and 1947 - 1952, (zus. mit Η. Κ. Zassenhaus), in: IMF Staff Papers, Vol. 3, S. 270-289. (1956) Prices of Raw Materials in the 1953 1954 U.S. Recession, in: IMF Staff Papers, Vol. 5, S. 47-73. (1962) The International Coffee Market: A Note, in: IMF Staff Papers, Vol. 9, S. 226-242. (1964)

(1965)

The International Coffee Market, (zus. mit L. Boissonneault), in: IMF Staff Papers, Vol. 11,S. 367-388. Survey and Appraisal of Proposed Schemes of Compensatory Financing, in: IMF Staff Papers, Vol. 12, S. 189223.

Quellen: SPSL 234/4; Dok. Archiv; Hayek/ Stourzh; Stettner, W. (Brief vom 7.2.92); NL Morgenstern; Gespräche mit Ε. Bernstein, Brookings Institution, ehem. Direktor des Research Department beim IWF, der G. Lovasy eingestellt hat. Interview mit Jacques Polak, ehem. Kollege von Lovasy in Princeton und im IWF am 12.3.1992 in Washington, D.C. im IWF., Interview mit J.H. Furth, am 29.2.1992 in Washington, D.C. Claudia Dziobek

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Lowe, Adolph Lowe, Adolph (bis zum 2.9.1939 Adolf Löwe), geb. 4.3.1893 in Stuttgart, gest. 3.6.1995 in Wolfenbüttel Nach seiner Schulzeit in Stuttgart studierte Löwe von 1911 bis 1915 Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten München, Berlin und Tübingen, wo er 1918 mit der unveröffentlicht gebliebenen Schrift Die rechtliche Entstehung und Ausgestaltung des Kriegsemährungsamtes zum Dr. iur. promovierte. Seit Ende 1915 befafite er sich mit und publizierte zu Fragen der Kriegswirtschaft, der Demobilisierung und der Ernährungspolitik. Löwe beschäftigte sich nicht nur in der sog. 'Kriegswirtschaftlichen Vereinigung' intensiv mit den Problemstellungen einer künftigen Nachkriegsordnung, sondern engagierte sich auch im 'Volksbund für Freiheit und Vaterland', einer Sammlungsbewegung von Linksliberalen und Arbeitern frühzeitig für einen Verständigungsfrieden. Der aus einem liberalen Elternhaus stammende Löwe rückte somit noch im Ersten Weltkrieg näher an die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften heran. Als Referent für Wirtschaftsfragen des vom Rat der Volksbeauftragten eingerichteten Demobilisieningsamtes und im Reichsarbeitsministerium sowie als Sekretär des früheren Gewerkschaftsführers und Reichskanzlers Gustav Bauer bei Unterzeichnung des Versailler Vertrages sah sich Löwe mit den ökonomischen wie politischen Problemen der jungen Weimarer Republik an zentraler Stelle konfrontiert. Zwischen 1919 und 1924 war er im Reichswirtschaftsministerium tätig, zunächst im Sozialisierungsreferat, dann im Referat zur Bekämpfung der Inflation und schließlich im Reparationsreferat. Von 1924 bis 1926 leitete Löwe als Oberregierungsrat die internationale Abteilung des Statistischen Reichsamtes, dessem Präsidenten Emst Wagemann er die Gründung eines deutschen Instituts für Konjunkturforschung nach dem Vorbild des 1917 in Harvard errichteten ersten modernen Konjunkturforschungsinstituts vorschlug. Unter Lowes Federführung entstand die Denkschrift Die weltwirtschaftliche Lage Ende 1925, die zur Gründung des Deutschen Instituts für Konjunkturforschung, des heutigen DIW, in Berlin führte. Anfang 1926 erhielt Löwe von Bernhard Harms, dem Gründer und langjährigen Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr an der Universität Kiel, das Angebot, eine neue Forschungsabteilung aufzubauen. In dem kurz vor

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Kriegsausbruch 1914 gegründeten Institut war bis dahin vor allem umfassendes statistisches Material gesammelt sowie eine hervorragende Bibliothek erworben, jedoch kaum theoretische Forschungsarbeit geleistet worden. Löwe, der bereits seit dem Wintersemester 1924/25 von Berlin nach Kiel pendelte, wo er als Lehrbeauftragter tätig war, nahm das Angebot von Harms an, da es ihm die Doppelbelastung ersparte und eine Konzentration auf die wirtschaftswissenschaftliche Forschungsarbeit ermöglichte. Am 27. Februar 1926 wurde Löwe von der Kieler Christian-AlbrechtsUniversität habilitiert und am 25. März zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor für wirtschaftliche Staatswissenschaften ernannt; am 14. Februar 1930 erhielt er den Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Soziologie. Die von Löwe seit dem 1. April 1926 aufgebaute und bis Ende Februar 1930 geleitete 'Abteilung fur Statistische Weltwirtschaftskunde und internationale Konjunkturforschung' am Kieler Weltwirtschaftsinstitut wurde schnell zu einem international anerkannten Forschungszentrum. John van Sickle, der Pariser Repräsentant der Rockefeller Foundation in Europa, die die in der Zwischenkriegszeit so bedeutsame konjunkturtheoretische Forschung mit größeren Beträgen förderte (vgl. Craver 1986), verglich das Kieler Institut gar mit dem National Bureau for Economic Research in New York (1989, S. 79). Der herausragende Ruf der Kieler war das Ergebnis einer Gruppe exzellenter, sich wechselseitig ergänzender Forscher, die zu ausgeprägter Teamarbeit fähig und zugleich nach außen hin so offen waren, daß sie ständig hoffnungsvolle Nachwuchsökonomen anzogen und integrierten. Dies war neben Löwe vor allem auch das Verdienst der beiden frühzeitig von ihm nach Kiel geholten Freunde -> Gerhard Colm und -» Hans Neisser. Colm hatte zusammen mit Löwe in Berlin nach amerikanischem Vorbild die Konjunkturbarometer für die Reichsstatistik ausgebaut, während Neisser bereits seit der Zeit der Sozialisierungskommission ein enger Vertrauter war. Die Qualitäten eines Forschers zeigen sich nicht zuletzt auch darin, mit welchen Mitarbeitern und Schülern er sich umgibt. Löwe gelang es, u.a. Wassily Leontief und -» Jakob Marschak für seine Forschungsgruppe zu gewinnen. Leontief (geb. 1904), der für seine Arbeiten zur Input-Output-Analyse 1973 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten sollte, war 1927-28 (und

Lowe, Adolph nach seiner Rückkehr aus China 1930-31) Mitglied von Lowes Team, bevor er an die Harvard University wechselte. In dieser Zeit erstellte er auch seine Doktorarbeit Die Wirtschaft als Kreislauf, mit der er 1928 bei Sombart und Bortkiewicz an der Berliner Universität promovierte und die den Keim seiner späteren Forschungsarbeiten enthält. Marschak kam 1928 von Berlin an das Kieler Institut, wo er vor allem Industriestudien für die Wirtschaftsenquete erstellte, die unter Leitung von Harms im Auftrag des Reichstags angefertigt wurde, und auch seine Schrift anfertigte, mit der er im Februar 1930 in Heidelberg habilitierte. Herausragende Forschungsleistungen wurden ebenfalls von Lowes engstem Mitarbeiter -» Fritz Burchardt sowie seinen beiden Doktoranden -» Alfred Kahler und Walther G. Hoffmann erzielt. Burchardt (1931-32) versuchte in zwei umfangreichen Essays eine originelle und ambitionierte Synthese des österreichischen Stufenmodells mit dem Sektorenmodell, ein Ansatz, der vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über die Vorzüge und Schwächen einer 'vertikalen' gegenüber einer 'horizontalen' Betrachtungsweise wirtschaftlicher Strukturen für eine Analyse dynamischer Prozesse sich als bemerkensweit modern erweist. Kahler (1933) nutzte das Burchardtsche Modell für die Analyse der Freisetzungs- und Kompensationseffekte neuer Technologien, die er auf der Basis eines weitentwickelten Embryos eines geschlossenen Input-Output-Modells durchführte. Hoffmann schließlich griff in seiner unter der Betreuung von Löwe entstandenen Dissertationsschrift Stadien und Typen der Industrialisierung (1931) dessen Anregungen zu den Stadien und typischen strukturellen Entwicklungsmustern des Industrialisierungsprozesses auf (1925b) und entwickelte eine theoretische Analyse und zugleich erste gründliche statistische Studie des historischen Prozesses der Industrialisierung, die später international Furore machen sollte. Weitere Doktoranden Lowes in Kiel waren 1929 Otto Pfleiderer, der spätere langjährige Präsident der Stuttgarter Landeszentralbank und 1930 -* Gerhard Emil Otto Meyer. Auch -» Rudolf E. Freund und Konrad Zweig waren längere Zeit am Kieler Institut tätig. Obwohl „Kiel für Lehre wie auch für Forschung ein idealer Standort" (1989, S.79) war, gelang es dem legendären Kurator Kurt Riezler, Löwe an die Johann Wolfgang Goethe-Universität nach Frankfurt zu berufen, wo er zum 1. Oktober 1931

die Nachfolge auf dem Lehrstuhl von -» Carl Griinberg antrat. Dieser Lehrstuhl, dessen Inhaber zuvor auch das Institut für Sozialforschung geleitet hatte, wurde bei diesem AnlaB auf die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät übertragen, während gleichzeitig Max Horkheimer, Lowes enger Freund aus Stuttgarter Kindheitstagen, auf dem neu eingerichteten Lehrstuhl für Sozialphilosophie von Grünberg die Leitung des Instituts für Sozialforschung übernahm. Vor allem Riezlers bereits weit gediehene Pläne, die Frankfurter Universität zu einem herausragenden kulturellen und interdisziplinären Wissenschaftszentrum auszubauen und die Aussicht, mit Horkheimer und -* Friedrich Pollock, aber auch mit den ihm gleichermaBen nahestehenden Theologen Paul Tillich und dem Wissenschaftssoziologen Karl Mannheim sowie weiteren Geistesgrößen wie dem Historiker Emst Kantorowicz und dem Gestaltpsychologen Max Wertheimer enger zusammenzuarbeiten, konnten Löwe bewegen, von dem von ihm sehr geschätzten wirtschafte- und sozialwissenschaftlichen Zentrum an der Kieler Förde an den Main zu wechseln. Wissenschaftlich erfüllte Frankfurt durchaus Lowes Erwartungen. Er nahm nicht nur mit den Genannten an den interdisziplinären Debatten der 'Kränzchen' teil, die 14-tägig im Hause Riezlers stattfanden, sondern leitete zusammen mit Mannheim, dem Politologen Bergsträsser und dem Historiker Noack seit dem Wintersemester 1931/32 auch eine 'Arbeitsgemeinschaft Sozialgeschichte und Ideengeschichte'. Das intellektuelle Niveau vieler Studenten, zu derem engeren Kreis die spätere ΖΕΓΓHerausgeberin Marion Gräfin Dönhoff und der spätere Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller gehörten, erfüllte die bekannt kritischen Anforderungen Lowes. Obwohl die Zahl aktiver Nationalsozialisten vor 1933 an der Frankfurter Universität relativ gering war, wurden die politischen Zeiten jedoch immer turbulenter. Löwe, der dem Kreis der 'religiösen Sozialisten' um Tillich (mit dem er später auch das Wirtschaftsprogramm der ökumenischen Weltkonferenz in Oxford 1937 entwarf) und -» Eduard Heimann nahestand, kämpfte an ihrer Seite, u.a. mit eigenen Beiträgen in der 1930 gegründeten Zeitschrift Neue Blätterfiir den Sozialismus, für den Erhalt der Republik. Vergebens, Lowes Frankfurter Blütenträume sollten nur drei Semester dauern. Lowes Name stand zusammen mit Horkheimer, Mannheim und Tillich auf der ersten

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Lowe, Adolph Beurlaubungsliste der Frankfurter Universität, die nur wenige Tage nach dem am 7. April 1933 verabschiedeten 'Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' erstellt wurde. Gemäß der offiziellen Entlassungsurkunde vom 11. September desselben Jahres wurde Löwe aus politischen (§4) und nicht aus rassischen Gründen (§3) aus dem Staatsdienst entlassen, worüber der agnostische Jude und aktive Sozialdemokrat noch Jahrzehnte später eine gewisse Genugtuung empfand. Löwe hatte Deutschland mit seiner Frau Beatrice, geb. Löwenstein, und den beiden Töchtern Hanna und Rachel aber bereits am 2. April, am Tag nach dem Boykott jüdischer Geschäfte, mit dem Zug nach Basel verlassen. Über Genf emigrierte er nach England, wo er vom Herbst 1933 bis zum Sommer 1940 als Rockefeller Foundation Fellow und Special Honorary Lecturer in Economics and Political Philosophy an der Universität Manchester tätig war. Darüber hinaus war er 1934 Gastdozent an der London School of Economics and Political Science. Am Tag nach Ausbmch des Zweiten Weltkriegs wurde Löwe in England naturalisiert: aus Adolf Löwe wurde Adolph Lowe (vgl. 1979, S. 146). Zwar wurde Lowe in der nach dem Zusammenbruch Frankreichs einsetzenden Panik aufgrund der Naturalisierung nicht wie viele andere Emigranten auf der Isle of Man interniert, jedoch teilte ihm die Universität Manchester mit, daB sein Vertrag nicht verlängert werden könnte. Dies veranlaßte Lowe, ein neuerliches Angebot der 'Universität im Exil' der New School for Social Research in New York anzunehmen und mit seiner Familie auf dem Höhepunkt des UBoot-Krieges in die USA überzusiedeln. Nur einem glücklichen Umstand war es zu verdanken, dafi sie das Schiff, die 'City of Benares', verpaßten, für das sie bereits die Passage gebucht hatten und das nach einem Torpedo-Angriff eines deutschen U-Bootes mit seinen Passagieren, darunter der bekannte Publizist Rudolf Olden mit seiner Frau Ika, im Meer versank. In der offenen Atmosphäre New Yorks fühlte sich der in der Emigration zum Weltbürger gewordene Lowe schnell heimisch. Von 1940 bis zu seiner Emeritierung 1963 war er Alvin Johnson Professor of Economics an der Graduate Faculty der New School und zugleich von 1943-1951 Forschungsdirektor des neu gegründeten Institute of World Affairs, an dem auch der 1939 aus Italien emigrierte Franco Modigliani (Nobelpreisträger 1985) nach seiner Promotion bei Lowe 1944 für

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mehrere Jahre tätig war. 1953 war er Gastprofessor an der Hebrew University in Jerusalem. Trotz zahlreicher Angebote, darunter ein Ruf nach Chicago, blieb Lowe deijenigen Institution treu, die als Zufluchtsstätte für emigrierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaitler so Unvergleichliches leistete (vgl. Krohn 1987). Darüber hinaus kam für den promovierten Juristen und habilitierten Ökonomen Lowe, zeitweiliger Inhaber eines Lehrstuhls für Soziologie, der stets ein großes Interesse für Philosophie, Geschichte und Theologie besaß, die einzigartige Atmosphäre an der New School mit ihrem intensiven interdisziplinären Diskurs in besonderer Weise entgegen. In diesem Diskurs spielte der „ökonomische Philosoph" (Boulding) Lowe stets eine herausragende Rolle. Dies reichte weit über seine Emeritierung hinaus, zumal seine beiden wissenschaftlichen Hauptwerke (1965, 1976) erst in dieser Zeit erschienen und Lowe bis zum Jahre 1980 regelmäßig Vorlesungen an der New School hielt, wo Robert Heilbroner sein engster Vertrauter wurde. An seinem 90. Geburtstag kehrte Lowe nach dem Tode seiner Frau nach Deutschland zurück, wo er bei seiner Tochter Hanna in Wolfenbüttel im Alter von 95 Jahren sein letztes Buch beendete. Ein halbes Jahrhundert nach seiner Emigration hielt Lowe im Juni 1983 als erster Ehrendoktor der Universität Bremen erstmals wieder einen Vortrag vor einer deutschen Zuhörerschaft, den er in Anlehnung an seinen engen Freund -» Alexander Rüstow Zur Ortsbestimmung der Gegenwart überschrieb (1984). Zeit seines Lebens ging es Lowe darum, wirtschaftstheoretische Erkenntnisgrundlagen für politisches Handeln zu gewinnen. Die Konfrontation mit den gravierenden ökonomisch-politischen Problemen während und nach dem Ersten Weltkrieg ist der Schlüssel für das eng verzahnte Theorie-Praxis-Verständnis, das das Werk von Lowe ebenso auszeichnet wie das innovative Ausgreifen auf neue Fragestellungen und neue wissenschaftliche Methoden sowie eine praktizierte Interdisziplinarität. Bereits in der ersten wissenschaftlichen Studie Arbeitslosigkeit und Kriminalität, die der junge Student 1914 verfaßte, werden wirtschaftliche, juristische, soziologische und politische Aspekte miteinander verknüpft. Löwe zeigte in seiner kriminologischen Untersuchung auf, daß der Rückgang der Gewaltverbrechen seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt auf den stabili-

Lowe, Adolph sierenden Einfluß der Gewerkschaften zurückzuführen war. Einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit wurde Löwe erstmals mit seinem Beitrag Zur ökonomischen Theorie des Imperialismus fur die Oppenheimer-Festschrift bekannt (1924). In diesem Beitrag, in dem Löwe sich nicht nur mit Oppenheimers zentralem Konstrukt der 'Bodensperre', sondern auch mit der Wachstums- und Krisentheorie von Marx, der neomarxistischen Lehre, vor allem von Rosa Luxemburg, sowie der Schumpeterschen Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung auseinandersetzt, werden die Konturen von Lowes späterem zentralen Forschungsprogramm klar erkennbar die Konjunktur- und Wachstumstheorie (vgl. Hagemann 1996a). Zunächst wurde Löwe mit seinem Beitrag zur Brentano-Festschrift (1925a) sowie seiner Kieler Habilitationsschrift mit der Kant nachempfundenen Fragestellung Wie ist Konjunkturtheorie überhaupt möglich? (1926) zum Spiritus Rector der konjunkturtheoretischen Debatte in Deutschland. Obwohl er selbst keine eigene Konjunkturtheorie formulierte, sondern erst mit der Entwicklung der modernen Wachstumstheorie nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Elaborierung seiner Strukturanalyse wirtschaftlichen Wachstums gelangte, stellte Lowes Präzisierung der erkenntnistheoretischen Anforderungen, die an eine Konjunkturtheorie zu stellen sind, vor allem die von ihm aufgeworfene Frage, ob es im Prinzip möglich sei, im Rahmen der Gleichgewichtstheorie eine systematische Erklärung für das Konjunkturphänomen zu liefern, eine zentrale Herausforderung für junge theoretisch orientierte Ökonomen dar. Dies zeigt exemplarisch die Wiener Habilitationsschrift Geldtheorie und Konjunkturtheorie (1929) von -» Friedrich August Hayek, der von 1927-1931 erster Direktor des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung wurde. Hayek wie Löwe leisteten auch entscheidende Beiträge zur Jahrestagung des Vereins für Sozialpolitik, die vom 13. bis 15. September 1928 in Zürich stattfand und einen Höhepunkt der konjunkturpolitischen Debatte im deutschen Sprachraum in der Zwischenkriegszeit darstellte (vgl. ausführlich Hagemann 1996b und Kromphardt 1996). Hayek teilte die Kritik Lowes an allen Konjunkturtheorien, die auf exogene Faktoren zurückgreifen und betonte ebenfalls die Notwendigkeit einer endogenen Konjunkturerkläning.

Allerdings trennten sich die Wege bei der Identifikation des entscheidenden endogenen Störfaktors. Während in der Konjunktur- und Wachstumstheorie Lowes der Technische Fortschritt die herausragende Rolle spielt, sind in der Hayekschen Konjunkturtheorie die monetären Faktoren die ursächlichen, obwohl der Konjunkturzyklus selbst aus realen Änderungen der Produktionsstniktur besteht. Während für Hayek „eine andere als eine monetäre Konjunkturtheorie wohl überhaupt nicht denkbar" (1929, S. 107) war, maß Löwe der Geldsphäre lediglich eine Rolle als „intensivierender Faktor" für das Ausmaß der zyklischen Schwankungen bei (1928, S. 369). Beide betonten die Bedeutung der zugrundeliegenden realen Struktur der Produktion sowie der Veränderungen dieser Produktionsstniktur im Zeitablauf. Während jedoch Hayek seiner Konjunkturtheorie ein Stufenmodell in der österreichischen kapitaltheoretischen Tradition Böhm-Bawerks zugrundelegte, in dem originäre Produktionsfaktoren zu Konsumgütern ausreifen, betonte Löwe die intersektoralen Produktionsbeziehungen sowie den Basisgutcharakter gewisser Kapitalgüter, der im Widerspruch zu der bereits von Burchardt kritisierten „Fehlkonstruktion des letzten Arbeitsringes" (1931, S. 557) des österreichischen Kapitalmodells steht. Während Löwe (1926) aus der Unmöglichkeit einer theoretischen Erklärung des Konjunkturphänomens auf der Grundlage des gleichgewichtstheoretischen Ansatzes die radikale Konsequenz zog, das traditionelle Konzept des allgemeinen Gleichgewichts walrasianischer Provenienz aufzugeben, schied für Hayek eine Preisgabe des gleichgewichtstheoretischen Ansatzes als Ausweg aus dem von Löwe skizzierten methodologischen Dilemma von vornherein aus. Er hielt nicht nur an der traditionellen Gleichgewichtstheorie fest, deren Geltungsbereich er zu erweitern suchte, sondern verteidigte im Gegensatz zu Löwe auch das alte Dogma der Unabhängigkeit von Trend und Zyklus. In völligem Gegensatz zu Hayek war Löwe wie die übrigen Mitglieder der Konjunkturabteilung des Kieler Weltwirtschaftsinstituts einer der wenigen frühen Vertreter einer antizyklischen Fiskalpolitik im deutschsprachigen akademischen Bereich (vgl. Garvy 1975). Löwe gehörte wie -» Emil Lederer zu den wenigen Ausnahmen unter den etablierten Inhabern nationalökonomischer Lehrstühle, die in der heftigen wirtschaftspolitischen Debatte am Ende der Weimarer Republik

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Lowe, Adolph gegen eine allgemeine Lohnsenkung als Mittel der Krisenbekämpfung eintraten. Löwe war es vor allem, der in der Weimarer Lohndiskussion auf die neben Lohn- und Zinssenkungen dritte Möglichkeit der Reduktion der Produktionskosten hinwies: durch Senkung der monopolistisch überhöhten Grundstoffpreise. Die Krise habe im Zeichen der Kartelle und Monopole ihren kapitalistischen Sinn verloren, da diese im Bereich der Grundstoff- oder Basisindustrien (z.B. Kohle) das Ausscheiden unproduktiver Grenzbetriebe verhindern, während andererseits insbesondere die Konsumgüterindustrien überhöhte Preise für ihre Vorprodukte zu zahlen haben. Die Überkapazitäten der Schwerindustrie in Europa waren eine Folge des Krieges; die sektoralen Disproportionalitäten wurden durch die Kartelliening stabilisiert. Angesichts dieser Situation forderte Löwe eine Bereinigung der Monopolindustrien und sah den Ansatzpunkt zur Krisenbekämpfung nicht in allgemeinen Lohnsenkungen sondern in der Wiederherstellung der Konkurrenzfähigkeit der verarbeitenden Industrien, da diese bei Lohnerhöhungen in eine doppelte Kostenklemme geraten. Wiederholt hielt er engagierte Plädoyers für den Abbau der zu unerwünschten Allokationsergebnissen führenden Kartellrente und maß der Lösung des Monopolproblems „die Schlüsselstellung für einen erfolgreichen Kampf gegen Krise und Arbeitslosigkeit" (1930c, S. 430) bei. Im Gegensatz zu marxistischen Theoretikern wie -» Rudolf Hilferding, die in der Depression die Endkrise des kapitalistischen Systems und in der Monopolisierung eine Vorstufe des Sozialismus sahen, da lediglich noch ein Austausch der Führungseliten erforderlich sei, stellte der Kampf für eine von monopolistischen Verfälschungen befreite Marktwirtschaft nach Ansicht Lowes (1931, S. 56-59) eine unmittelbare und vordringliche Aufgabe der Arbeiterbewegung dar. Überhöhte Preise der kartellierten Grundstoffindustrien bedeuten eine Erhöhung der Produktionskosten der verarbeitenden Industrien. Steigen außerdem die Löhne an, so geraten die verarbeitenden Industrien in eine Kostenzange und damit in eine Rentabilitätskrise. Dieser Tatbestand wurde von Löwe deutlich herausgestellt. Dennoch sind Lohnsenkungen keine geeignete Antwort auf eine Kostenverteuerung für die verarbeitenden Industrien, die von Monopolpreisen ausgehen. Im Gegenteil: Ohne Lohnsteigerungen im Ausmaß des Produktivitätsfortschritts wäre die Krise bereits

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eher eingetreten. Zwar sei die Krise von den Konsumgüterindustrien ausgegangen, die gleichzeitig überhöhten Preisen ihrer Vorprodukte ausgesetzt seien, eine einseitige Therapie über eine allgemeine Lohnsenkung wäre jedoch verhängnisvoll, da sie die eigentliche Krisenursache nicht beseitige. Die Lohnsenkung würde die Disproportionalitäten nicht beheben, sondern die Konsumgüterindustrien zunächst noch mehr belasten, da sie vom entstehenden Nachfrageausfall überproportional betroffen würden: Eine Senkung der monopolistisch überhöhten Grundstoffpreise sei daher das Gebot der Stunde. „Freilich würde ein solcher Prozeß der Preissenkung die bisherigen Verluste der verarbeitenden Industrie auf die Monopolindustrien zuriickwälzen und dort zu einer Ausschaltung der Grenzbetriebe führen. Es läßt sich aber schwerlich eine wirtschaftspolitische Maßnahme ausdenken, die so sehr im Gesamtinteresse einer allgemeinen Produktionssteigerung und Preissenkung wirken würde, wie ein Abbau der überkapitalisierten Grundstoffindustrien" (1930c, S. 430). Die Berücksichtigung der Kartellfrage verleiht auch dem Wettbewerbsargument eine zusätzliche Dimension. Da die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen verarbeitenden Industrien durch die überhöhten Preise belastet war, die sie für ihre Vorprodukte zu zahlen hatten, wurde Löwe nicht müde, einen Abbau der Zölle zu fordern, die lediglich Fehlinvestitionen der Kriegsund Inflationszeit sowie Kartellrenten schützten, keineswegs aber - wie vorgegeben - der gesamtwirtschaftlichen Produktion und Beschäftigung dienten. Das Wettbewerbsargument, das üblicherweise meist bei der Forderung nach Lohnsenkungen herangezogen wurde, erhielt somit eine andere Stoßrichtung. In zahlreichen engagierten Plädoyers für Freihandel zur Überwindung der Krise forderte Löwe eine mit der Kartellbekämpfung verbundene Wende in der Zollpolitik, die „die deutschen Monopolindustrien der frischen Luft internationaler Konkurrenz aussetzt" (1930b, S. 294). In Analogie zum Listschen ErziehungszollArgument erhob Löwe den „Erziehungsfreihandel" zur Forderung des Augenblicks: „Dem Plane der Monopolinteressenten, die die Reparationsausfuhren durch eine Senkung der deutschen Geldlöhne rentabel machen möchten, stellt das arbeitende Volk die produktionspolitische Forderung entgegen: Preissenkung und Produktionssteigerung durch Abbau der Monopole auf der

Lowe, Adolph Grundlage einer freihändlerischen Politik" (1930a, S. 40). Insbesondere die mit der Rattenbekämpfung intendierte Produktionssteigerung sollte die Voraussetzung dafür schaffen, die Reparationsverpflichtungen aus dem zusätzlichen Produkt und nicht auf Kosten des existierenden Reallohns zu erfüllen. Die Löwesche Argumentation bedeutete keineswegs, den Zusammenhang zwischen dem inländischen Lohnniveau und der internationalen (Preis-)Wettbewerbsfähigkeit zu leugnen. Konsequenterweise insistierte er aber darauf, daß zunächst einmal die Bedingungen einer Marktwirtschaft konkret zu realisieren seien, bevor auf der Basis eines marktwirtschaftlichen Modellansatzes Lohnsenkungen das Wort geredet würde. Nun ist es unter kreislauftheoretischer Betrachtung durchaus zweifelhaft, ob eine allgemeine Lohnsenkung ein wirksames Mittel zur Depressionsbekämpfung darstellt. Es wurde jedoch von den Vertretern der Kieler Schule anerkannt, daß Lohnsenkungen auf der Kostenseite zu Entlastungen führen, die durch den gleichzeitig bewirkten Kaufkraftausfall nicht gänzlich kompensiert werden, da sie die Wettbewerbsfähigkeit der inländischen Produzenten auf Export- und Importsubstitutionsmärkten verbessern. Da für die Exportindustrien der Kostenaspekt des Lohnes gegenüber dem Kaufkraftaspekt dominant ist, sind sie Gewinner von Lohnsenkungen (Verlierer von Lohnerhöhungen). Emigrationsbedingt verließ Lowe den engeren Rahmen der Wirtschaftstheorie und wurde zum Propagator der Zivilgesellschaft. Zunächst entstanden die Werke Economics and Sociology (1935), ein anspruchsvolles Plädoyer für die Kooperation in den Sozialwissenschafiten, und The Price of Liberty (1937), in dem Lowe den Schlüsselbegriff der 'spontanen Konformität' entwikkelte. Im Gegensatz zu Deutschland hatte der Liberalismus in England eine gemeinsame Alltagsethik geprägt, die trotz größerer wirtschaftlicher Ungleichheit dazu geführt hatte, daß die englischen politischen Institutionen bei weitem die freiheitlichsten waren. Allerdings hatte die politische Freiheit einen Preis: die Selbstbeschränkung des Individuums. Die englische Maxime hätte lauten können: „Vermeide die Extreme. Treibe nie ein Argument bis zur letzten Konsequenz. Das stört den Gemeinsinn." Konsequenterweise machte Lowe in hohem Alter (1988) die allgemeine Desintegration der Gesellschaft, die auch das (nach-)thatcheristische England erfaßt hat, Sorge.

Im zunehmenden Hedonismus und Nihilismus erkennt er eine große Gefahr in Richtung einer Selbstvernichtung der Gesellschaft. Allerdings hofft er auf kleine Katastrophen (1979), ohne die sich möglicherweise die zum Überleben der Menschheit notwendige neue Gemeinschaftsethik nicht herausbildet. In Übereinstimmung mit dem kurz vor ihm verstorbenen Freund Hans Jonas, mit dem ihn eine jahrzehntelange Lehrtätigkeit an der New School verband, sah Lowe es als entscheidende Aufgabe der Gemeinschaftsethik an, die Mittel aufzuzeigen, mit deren Hilfe die Gefahren für das Überleben der Menschheit und die Unverletzlichkeit der Natur abgewendet werden können. Worauf es Lowe zeitlebens ankam, ist der Ausgleich zwischen Freiheit und Ordnung. Das zentrale Problem der Versöhnung individueller Freiheit mit gesellschaftlicher Stabilität steht auch im Brennpunkt seines letzten Werkes Hat Freiheit eine Zukunft?, in dem Lowe analysiert wie angesichts der Desintegrationsprozesse in der westlichen Welt und vor dem Hintergrund moderner technologischer Entwicklungen eine stabile freiheitliche Gesellschaft realisiert werden kann (vgl. Hagemann und Kurz 1990). Lowes Überlegungen zur Kooperation in den Sozialwissenschaften kulminieren 1965 in seinem ersten Hauptwerk On Economic Knowledge (dt.: Politische Ökonomik, 1968), in dem er die wesenhafte Instabilität der modernen Marktprozesse, insbesondere das Dilemma der traditionellen Wirtschaftspolitik analysiert, daß die Instabilität des Mikroverhaltens in den modernen Industriegesellschaften staatliche Stabilisierungsmaßnahmen erforderlich mache, die staatlichen Eingriffe aber nur bei stabilen sozialen Verhaltensregeln mit Aussicht auf Erfolg vorgenommen werden können. Um diesem circulus vitiosus zu entgehen, entwickelte Lowe seine spezifische Methode der Politischen Ökonomik: die 'Instiumentalanalyse'. Gemäß seiner Auffassung, daß es die Aufgabe einer empirischen Wirtschaftswissenschaft ist, durch Analyse die Mittel zu finden für wirtschaftliche Ziele, die eine Gesellschaft sich setzt, beschäftigt sich die Lowesche Instrumentalanalyse mit dem Studium der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um ein bestimmtes Makroziel zu erreichen. Entscheidendes Charakteristikum der Instrumentalanalyse ist die Inversion des Problems gegenüber der positiven ökonomischen Theorie. Was traditionell als unbekannt angesehen wird der Endzustand - , ist in der Instrumentalanalyse

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Lowe, Adolph als bekannt vorausgesetzt - als politische Entscheidung. Umgekehrt kennt die Instrumentalanalyse kein ein für alle Male gültiges Verhaltensprinzip wie etwa Maximierung. Vielmehr ist das zieladäquate Verhalten der Marktparteien selbst eine Unbekannte, die aber theoretisch abgeleitet werden kann, wenn erst die zieladäquaten Prozesse bestimmt sind. Die Instrumentalanalyse fragt nach (I) den geeigneten Anpassungspfaden, auf denen sich das ökonomische System dem vorgegebenen Endziel nähern kann, (2) den Verhaltensweisen und Motivationsstrukturen der Wirtschaftssubjekte, die dazu führen, daß sich das System auf solchen Pfaden bewegt und (3) Maßnahmen der öffentlichen Einwirkung und Kontrolle, die dazu geeignet sind, die erforderlichen Motivationen hervorzurufen. Entsprechend zerfällt die Instrumentalanalyse in zwei Komponenten, die die Lowesche Vorgehensweise prägen. Zum einen beschäftigt sich die 'Strukturanalyse' mit den zielgerechten Entwicklungsmustem der Beschäftigung, Investitionen, des Outputs, usw. Sie konzentriert sich in erster Linie auf technische Beziehungen und weist für unterschiedliche Wirtschaftssysteme analoge Züge auf. Im Gegensatz dazu besitzt die ' Motor'oder 'Force-Analyse', die die Entwicklung der für die Bewegung entlang des strukturell bestimmten Anpassungspfades notwendigen Motivationsstrukturen und Verhaltensweisen der einzelnen Wirtschaftssubjekte verfolgt, wegen größerer Handlungsspielräume sowie der potentiellen Unvereinbarkeit des Mikroverhaltens mit bestimmten Makrozielen naturgemäß für Marktwirtschaften eine weit höhere Bedeutung als für zentrale Planwirtschaften. Angesichts einer zunehmenden Oligopolisierung und Monopolisierung der Märkte, wachsenden Überflusses, einer Verlängerung der Investitionsund Produktionsperioden, usw. geht im organisierten Kapitalismus die klassische Determiniertheit des Verhaltens und damit die Prognosefähigkeit der Theorie verloren. Zwar gilt immer noch ein mikroökonomisches Maximierungskalkül, doch wird es zunehmend durch ein breites Spektrum alternativer Ziele überlagert. Als Resultat können in modernen Industriewirtschaften entgegengesetzte Aktionen als Weg zur Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung verteidigt werden. Dieser kurzfristigen Instabilität des Konsumenten- bzw. Produzentenverhaltens entspricht in längerfristiger Perspektive die technologische Entwicklung

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als Unbekannte. Sinn der Kontrollmaßnahmen ist es daher, den realen Wirtschaftsprozessen den Grad an Ordnung zu verleihen, ohne den theoretische Verallgemeinerungen nicht möglich sind. In diesem Sinne stellt die Politische Ökonomik das Ergebnis einer ständigen Wechselwirkung zwischen Theorie und Politik dar. Lowes Einstellung gegenüber ökonomischen Interventionen ist durch ein dialektisches Verständnis von Freiheit und Beschränkungen geprägt. Wie im Price of Liberty so präzis beschrieben, erfordert die Aufrechterhaltung der Freiheit eine gewisse Selbstdisziplin des Individuums. Wenn Lowe Interventionist ist, um den Widerspruch zwischen einzelwirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher Rationalität aufzuheben, so ist er dies - ähnlich wie Keynes - mit der Intention, die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen fur das langfristige Überleben einer freien Gesellschaft zu schaffen. Sein Plädoyer fur ein modifiziertes, kontrolliertes Marktsystem macht ihn zum führenden Theoretiker der „mixed economy". Die Relevanz seines Ansatzes zeigt sich auch darin, daß drei Jahre nach Erscheinen seine Politische Ökonomik zentrales Thema zweier Symposia in New York - „The Relationship of Economic Theory to Economic Practice" und „Philosophical Aspects of Political Economics" - war, deren Teilnehmerlisten sich wie ein Who's Who der Wirtschaftsund Sozialwissenschaften lesen (vgl. Heilbroner 1969). Lowes zweites Opus magnum. The Path of Economic Growth (1976), beinhaltet die Anwendung der Instrumentalanalyse auf das Wachstumsproblem. Im Mittelpunkt der Löweschen Wachstumstheorie steht die detaillierte Analyse der Traversen-Problematik, d.h. das Studium der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Volkswirtschaft nach Änderungen einer der exogenen Wachstumsdeterminanten - des Arbeitsangebots, der natürlichen Ressourcen und des technischen Fortschritts - in möglichst kurzer Zeit und mit minimalen Opfem auf einen Pfad gleichgewichtigen Wachstums zurückfindet. Ebenso wie Hicks (1973) hat sich Löwe damit einem äußerst bedeutsamen und zugleich schwierigen Problembereich zugewandt, welcher zuvor in der wachstumstheoretischen Analyse weitgehend vernachlässigt wurde. Die traditionelle Steady State-Analyse weist in vielerlei Hinsicht semi-statische Züge auf, da sich in einer gleichmäßig wachsenden Wirtschaft zwar die meisten ökonomischen Variablen än-

Lowe, Adolph dem, die Änderungsrate selbst aber eine Konstante ist. Steady States, die sich wegen dieser Uniformität des Wachstums durch eine gleichbleibende Struktur der Ökonomie auszeichnen, sind de facto zeitlos. Wegen der Konstanz der Struktur kommt auch den Fixkapitalgütern, die eine entscheidende produktionstheoretische Verflechtung der einzelnen Perioden implizieren, in einem gleichgewichtigen Wachstumsmodell keine besondere Bedeutung zu. Diese Situation verändert sich grundlegend bei der Traversenbetrachtung. Das entscheidende Problem, dem man sich außerhalb des Golden Age-Pfades als Folge der exogenen Störung konfrontiert sieht, ist die Unangemessenheit des alten Kapitalstocks gegenüber der neuen Datenkonstellation. Der Anpassungsprozeß erfordert in der Regel sowohl Zeit als auch Kosten. Da die Fähigkeit einer Ökonomie, auf Änderungen der exogenen Wachstumsdeterminanten zu reagieren, in jedem Zeitpunkt durch die Quantität und Struktur der endogenen Faktors Realkapital (sowie durch die vortiandene Humankapitalausstattung) begrenzt ist, kommt dem Realkapital und seiner Bildung, d.h. der Investitionstätigkeit, eine Schlüsselstellung für die dynamische Entwicklung einer Volkswirtschaft zu. Die von Lowe entwickelte Traversenanalyse ist damit auch von besonderer Bedeutung für die begonnenen Transförmationsprozesse ehemals sozialistischer Planwirtschaften in kapitalistische Marktwirtschaften, d.h. gerade für die aktuelle wirtschaftliche Situation Ostdeutschlands mit ihrer spezifischen Kapitalstockproblematik. Die produktionstheoretische Basis des Loweschen Ansatzes bildet ein dreisektorales Fixkoeffizientenmodell, welches aus einer Modifikation der Manischen Reproduktionsschemata hervorgegangen ist. Diese Modifikation besteht in einer Aufspaltung der Investitionsgüterabteilung des Manschen Schemas in zwei vertikal integrierte Sektoren, von denen der erste Maschinen erzeugt, die als Input in den beiden maschinenproduzierenden Sektoren fungieren, während im zweiten die für die Konsumgüterproduktion benötigten Kapitalgüter hergestellt werden. Das besondere Charakteristikum dieser Produktionsstruktur ist ihr innerer Zusammenhalt, der Starrheit und Flexibilität zugleich beinhaltet. Dieses Produktionsmodell dient als Basis eines weiteren Leitthemas, das Lowes Werk wie ein roter Faden durchzieht: Ricardos Analyse des Maschinerieproblems bzw. die Beschäftigungswirkungen des technischen Fort-

schritts (1955b; 1988, Kap. 6). Zwanzig Jahre nach der Emigration konzentrierte Lowe sich wieder stärker auf die reine Wirtschaftstheorie und die zentralen Forschungsthemen aus der Zeit in Kiel. Vor dem Hintergrund der durch Harrod und Domar eingeleiteten modernen Wachstumstheorie setzte er sich mit der Analyse des Wirtschaftswachstums bei den Klassikern auseinander (1954) und entwickelte seine Strukturanalyse der Realkapitalbildung (1952; 1955a), die auch dem Path zugrundeliegt (vgl. Hagemann 1990). Die Analyse der durch Innovationsstöße ausgelösten Traversen kann als später Versuch Lowes verstanden werden, seine Vision einer dynamischen Theorie aus Kieler Zeiten einzulösen. Lowe erhielt zahlreiche Ehrungen, so u.a. die Ehrendoktorwürden der New School for Social Research 1964 und der Universität Bremen 1983. Lowe, der in Kiel als Lehrstuhlinhaber in der Nachfolge von Ferdinand Tönnies stand, war Ehrenmitglied der deutschen Gesellschaft für Soziologie. 1979 erhielt er die Veblen-Commons-Medaille der amerikanischen Institutionalisten und 1989 die Ehrenbürgerschaft der Frankfurter Universität. 1984 überreichte ihm Bundespräsident Weizsäcker in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbuttel das Große Bundesverdienstkreuz. Schriften in Auswahl: (1914) Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Eine kriminologische Untersuchung, Berlin. (1924) Zur ökonomischen Theorie des Imperialismus, in: R. Wilbrandt, A. Löwe, G. Salomon (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Ökonomik und Soziologie der Gegenwart. Festschrift für Franz Oppenheimer zu seinem 60. Geburtstag, Frankfurt a.M., S. 189-228. (1925a) Der gegenwärtige Stand der Konjunkturforschung in Deutschland, in: M.J. Bonn/M. Palyi (Hrsg.): Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege. Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag, München/Leipzig, Bd. 2, S. 329-377. (1925b) Chronik der Weltwirtschaft, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 22, S. l*-32*.

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Lowe, Adolph (1926)

(1928)

(1930a) (1930b)

(1930c) (1931)

(1935)

(1937) (1952) (1954)

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(1965)

(1969)

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Wie ist Konjunkturtheorie überhaupt möglich?, in: Weltwirtschaftliches Archiv. Bd. 24, S. 165-197. Über den Einfluß monetärer Faktoren auf den Konjunkturzyklus, in: K. Diehl (Hrsg.), Beiträge zur Wirtschaftstheorie (= Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 173/11), München/Leipzig. S. 335-370. Reparationspolitik, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Bd. 1, S. 37-41. Lohnabbau als Mittel der Krisenbekämpfung?, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Bd. 1, S. 289-295. Lohn - Zins - Arbeitslosigkeit, in: Die Arbeit, Bd. 7, S. 425-430. Der Sinn der Weltwirtschaftskrise, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Bd. 2, S. 49-59. Economics and Sociology. A Plea for Co-Operation in the Social Sciences, London. The Price of Liberty. A German on Contemporary Britain, London. A Structural Model of Production, in: Social Research, Bd. 19, S. 135-176. The Classical Theory of Economic Growth, in: Social Research, Bd. 21, S. 127-158. Structural Analysis of Real Capital Formation, in: M. Abramovitz (Hrsg.): Capital Formation and Economic Growth, Princeton, S. 581634. Technological Unemployment Reexamined, in: G. Eisermann (Hrsg.): Wirtschaft und Kultursystem. Festschrift für Alexander Rüstow, Zürich, S. 229-254. On Economic Knowledge. Toward a Science of Political Economics, New York; 2. erweiterte Aufl. White Plains 1977; dt. Übers.: Politische Ökonomik, Frankfurt/Wien 1968; 2. erw. Aufl. Königstein/Ts. 1984. Toward a Science of Political Economics sowie Economic Means and Social Ends. A Rejoinder, in: R.L. Heilbroner (Hrsg.): Economic Means and Social Ends. Essays in Political Economics, Englewood Cliffs, N.J., S. 136 und 167-199.

(1976) (1979)

(1984)

(1987)

(1988)

(1989)

The Path of Economic Growth, Cambridge. Die Hoffnung auf kleine Katastrophen. in: Μ. Greffrath (Hrsg.): Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlem. Reinbek, S. 145-194. Zur Ortsbestimmung der Gegenwart, in: H. Hagemann, H.D. Kurz (Hrsg.): Beschäftigung, Verteilung und Konjunktur, Bremen, S. 26-33. Essays in Political Economics: Public Control in a Democratic Society, edited and introduced by A. Oakley, Brighton. Has Freedom a Future? New York; dt. Übers.: Hat Freiheit eine Zukunft? Marburg 1990. Konjunkturtheorie in Deutschland in den zwanziger Jahren, in: B. Schefold (Hrsg.): Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie VIII, Berlin, S. 75-86.

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Lowe, Yehuda Ludwig Hagemann, H., Kurz, H.D. (Hrsg.) (1984): Beschäftigung, Verteilung und Konjunktur. Zur Politischen Ökonomik der modernen Gesellschaft, Festschrift für Adolph Lowe, Bremen (enth. Bibliographie). Hagemann, H., Kurz, H.D. (1990): Balancing Freedom and Order: On Adolph Lowe's Political Economics, in: Social Research, Bd. 57, S. 733753. Hayek, F.A. (1929): Geldtheorie und Konjunkturtheorie, Wien. Heilbroner, R.L. (1969): Economic Means and Social Ends. Essays in Political Economics, Englewood Cliffs, N.J. Hicks, J. (1973): Capital and Time, Oxford. Hoffmann, W.G. (1931): Stadien und Typen der Industrialisierung, Jena. Kahler, A. (1933): Die Theorie der Aibeiterfireisetzung durch die Maschine, Greifswald. Krohn, C.-D. (1987): Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt/New York. Kromphardt, J. (1996): Der Beitrag Adolf Lowes zur Konjunkturdiskussion im deutschen Sprachraum während der Weimarer Republik, in: V. Caspari, B. Schefold (Hrsg.): Franz Oppenheimer und Adolph Lowe: Zwei Wirtschaftswissenschaftler der Frankfurter Universität, Marburg, S. 251277. Leontief, W. (1928): Die Wirtschaft als Kreislauf, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 60, S. 577-623. Oakley, Α. (1987): Adolph Lowe's Contribution to the Development of a Political Economics, Einleitung zu Lowe (1987), S. 1-24. Quellen: BHb II; NP; Arestis, P., Sawyer, M. (Hrsg.): Biographical Dictionary of Dissenting Economists, Aldershot 1992. Harald Hagemann

Lowe, Yehuda Ludwig, geb. 16.5.1905 in Magdeburg, gest. 17.8.1983 in Engelberg/ Schweiz Als er noch ein Kind war, übersiedelte die Familie nach Hamburg. Nach dem Abitur wollte Lowe die Landwirtschaft kennenlernen und arbeitete als Praktikant in einem bäuerlichen Familienbetrieb und in verschiedenen landwirtschaftlichen Großbetrieben. 1929 bestand er die Inspektorenprü-

fung. Daraufhin studierte er an der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin. Das Thema seiner Dissertation war von Thünens Lehre. Er promovierte 1933 bei Prof. Aereboe als Agrarökonom. Seine Familie war zionistisch gesinnt und daher emigrierte er 1933 sofort nach Palästina. Er hatte typisch 'jeckische' Eigenschaften, die ihm seine Integration in der neuen Heimat erschwerten. Er war pünktlich, genau bis zur Pedanterie und hielt treu an seinen Prinzipien fest. Er bestand auf seinen Ansichten und neigte nicht zu Kompromissen, was ihm in seiner Berufskarriere später manchmal hinderlich war. In Palästina arbeitete er in den ersten Jahren als Landwirt. 1937-42 war er als Assistent des Direktors der landwirtschaftlichen Forschungsstation in Rehovot für die wirtschaftliche Planung der neuen jüdischen Ansiedlungen verantwortlich. Mit vielen der neuen Siedlungen, an deren Gründung er beteiligt war, blieb er in Verbindung und war ihnen, wenn nötig, behilflich. 1942 bot ihm S. Hofften, der Leiter der Anglo-Palestine Bank (heute Bank Leumi) eine Stelle als agraiökonomischer Berater an. Er hatte sich mit der Zuweisung landwirtschaftlicher Kredite an die verschiedenen Siedlungen zu befassen. Die Siedlungsformen waren: Kibbuz, Moschav (beides Kooperativen) und Moshava (private Farmen). Er kombinierte die Verteilung der Kredite mit der Anleitung zu ihrer Verwendung gemäß der Struktur der Siedlungen und ihrer wirtschaftlichen Lage. Als ihm 1950 die Stelle eines landwirtschaftlichen Attachis in der israelischen Botschaft in Washington angeboten wurde, schwankte er, da er in diesen schwierigen ersten Jahren der Masseneinwanderung gerne an der großen Ansiedlungsarbeit teilgenommen hätte. Aber die Anziehungskraft der diplomatischen Stelle in Amerika war wirkungsvoll genug. Drei Jahre verbrachte er dort und lernte bei dieser Gelegenheit die amerikanische Landwirtschaft mit ihren modernen Methoden näher kennen. Als er 1953 zurückkehrte, wurde er im Landwirtschaftsministerium zum Stellvertreter des Direktors der Abteilung für Agrarökonomie ernannt und später zu deren Direktor. Zur selben Zeit war er Verbindungsoffizier zu U.S. Operations Mission in Israel. 1958-63 wurde er Direktor der Instruktionsabteilung. Hier befaßte er sich mit der Strukturanpassung der Farmen an die jeweilige Bodenbeschaffenheit, an Regenfälle, Klima und

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Lutz, Friedrich August Arbeitskräfte und widmete besondere Aufmerksamkeit der gemischten Landwirtschaft. 1958-62 war Lowe Senior Lecturer an der landwirtschaftlichen Fakultät der Hebräischen Universität in Rehovot. Zu dieser Zeit verfaßte er das erste umfassende Buch Uber Agrarökonomie auf Hebräisch: Farm Economics (1957). 1963 erschien eine erweiterte Auflage des Buches: The Farm and its Economic Analysis. Für dieses Buch wurde ihm der Preis Ruppin verliehen. Während dieser Jahre strebte er danach, ein Forschungsinstitut zu gründen, das sich mit der Rentabilität der Landwirtschaft und ihrer verschiedenen Zweige befassen sollte. Viele Schwierigkeiten hatte er zu bewältigen, bis 1963 das Institut eröffnet wurde. Zehn Jahre leitete er es, bis er 1973 in den Ruhestand trat. Das Institut besteht noch heute und bezeugt so das Verständnis seines Gründers für die Bedürfnisse der Landwirtschaft. Yehuda Lowe gehörte nicht zu den Menschen, die den Ruhestand genießen können, und bis zu seinem letzten Tage setzte er seine Arbeit mit all der Energie, die ihn kennzeichnete, fort. Er fuhr im Auftrag des AuBenministeriums 1973-74 in den Iran, um dort ein Institut fur die Leitung landwirtschaftlicher Betriebe und Familienfarmen zu gründen und dessen erste Beamten anzuleiten. In den folgenden Jahren führte er verschiedene Aufträge im Bereich der technischen Hilfe für die Landwirtschaft in der Türkei, in Venezuela und in Zambia aus. Schriften in Auswahl: (1946) Financing of Agricultural Settlements, in: The Palestine Economist. (1955) Economic Planning of Agriculture, in: The Economic Quarterly (hebr.). (1957) Farm Economics, Am Oved, (2. erw. Aufl.: The Farm and its Economic Analysis, ebd. 1963) (hebr.). (1964) Kibbutz and Moshav in Israel - An Economic Study, in: International Explorations of Agricultural Economics, Ames/Iowa. (1974) A Program for Establishing a Farm Management Institute in Iran, in: ENMAC. (1980)

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Mission Report to Small Farm Development Corporation for Planning Family Farm Cooperatives, Israel Association for International Cooperation.

Bibliographie: Andreas, M. (1983): Schrift zum Andenken an Υ. Lowe, nach seinem Tod, in: Moledet, Cooperative Moshav Bulletin. Gedenkschrift (1986) in einer seinem Gedenken gewidmeten Broschüre des Instituts. Quellen: Β Hb I; Ginor, F. (Briefe vom 2.3.92 und 27.5.93). Fanny Ginor

Lutz, Friedrich August, geb. 29.12.1901 in Saarburg/Lothringen, gest. 4.10.1975 in Zürich Lutz studierte Volkswirtschaftslehre in Heidelberg, Berlin und Tübingen, wo er 1925 mit einer Dissertation Der Kampf um den Kapitalbegriff in der neuesten Zeit bei Walter Eucken promovierte. Nach einem kurzen Abstecher in Gefilde außerhalb der akademischen Laufbahn folgte er seinem Doktorvater als Assistent an die Universität Freiburg, wo er sich 1932 habilitierte und bis zu seiner 'freiwilligen' Emigration 1938 tätig blieb. Die Emigration führte ihn über England zur Princeton University in New Jersey an der Ostküste der USA. An der renommierten Universität mußte Lutz seine akademische Laufbahn völlig neu aufnehmen, wurde aber innerhalb kurzer Zeit vom Assistenz- zum Vollprofessor und Lehrstuhlinhaber befordert. Lutz blieb in Princeton bis Anfang der 1950er Jahre, als der engagierte Lehrer und Forscher nach Europa zurückkehrte. Während er den Ruf auf Euckens Lehrstuhl an der Universität Freiburg, wo er 1952 eine Gastprofessur wahrgenommen hatte, noch ablehnte, folgte er 1953 dem Ruf auf eine Professur an der Universität Zürich, wo er bis zu seiner Emeritierung 1972 äußerst aktiv blieb und auch zahlreiche Vorträge hielt, die unter dem Titel seiner 1953 erfolgten Antrittsvorlesung Politische Überzeugungen und nationalökonomische Theorie (1971) veröffentlicht wurden. Während seiner gesamten akademischen Karriere blieb Lutz ein hochgradig produktiver Wissenschaftler, dessen Schriftenverzeichnis - neben mehr als 100 Aufsätzen auch eine Reihe von Büchern mit Beiträgen zur theoretischen Volkswirtschaftslehre - Zeugnis ablegt von der Fähigkeit, weitgespannte Forschungsinteressen mit detailgenauer Auseinandersetzung zu verbinden. Herausragend sind seine Werke zur neoklassischen Geld-, Zins- und Kapitaltheorie, Themenkreise

Lutz, F r i e d r i e b August denen Lutz sich bereits zu Anfang seiner Karriere in Freiburg (1936; 1938) zugewandt hatte, die sein weiteres Schaffen entscheidend prägten (1940; 1945) und die schließlich zur Publikation seines international bekanntesten Werkes, The Theory of Interest (1967), fuhren sollten. In diesem Buch, für Studenten der modernen Zins- und Kapitaltheorie bis heute ein unumgänglicher Klassiker, entwickelte Lutz die Entstehungsgeschichte der modernen Zinstheorie von ihren Anfangen seit Böhm-Bawerk, um auf der Grundlage eines logisch geschlossenen dogmenhistorischen Ansatzes gezielt die Weiterentwicklung der modernen Theorie zu betreiben. Das Wissen um Vorgänger und die Verbindung von Theoriegeschichte und originärer Forschung ist eines der grundlegenden Charakteristika von Lutz' Werken auch zu anderen Themengebieten. Im Falle der Zinstheorie war dies seinen deutschsprachigen Lesern allerdings schon seit 1956 bekannt, dem Jahr, in dem die erste Auflage des Buches auf deutsch publiziert wurde - ein weiteres Beispiel für den sorgfältigen Arbeitsstil des Autors. Neben Werken zur Geld- und Zinstheorie - Lutz (1962) enthält eine lesenswerte Sammlung von Aufsätzen zu diesem Themenkomplex, die allesamt vor 1938 oder aber nach 1950 verfaßt wurden - publizierte Lutz zusammen mit seiner Frau Vera im Jahre 1951 ein weiteres Werk von erheblichem EinfluB: The Theory of Investment of the Firm. Auch hier spielt die Behandlung von Kapital und Zeit in der Tradition von Böhm-Baweik und Friedrich August Hayek eine wichtige Rolle. Sie dient als Ausgangspunkt für den Versuch, datierte Güter in der Tradition der 'österreichischen Schule' mit den Elementen der modernen neoklassischen MikroÖkonomik zu verschmelzen, um so letztere gefügig zu machen für die Erklärung von einzelwirtschaftlichem Investititionsverhalten auf Firmenebene. Auch dieses Werk wurde zu einem bedeutenden Referenzpunkt für die kapitaltheoretische und mikroökonomische Debatte der nächsten Jahre. Das aus heutiger Perspektive vermutlich wichtigste Buch von Lutz blieb jedoch im angelsächsischen Sprachraum das unbekannteste, da es nur auf Deutsch erschien und bis heute nicht übersetzt wurde. Im Jahre 1932 wurde unter dem Titel Das Konjunkturproblem in der Nationalökonomie seine Habilitationsschrift veröffentlicht, die im deutschen Sprachraum frühzeitig den Ruf begründete, daß Lutz auch wirtschaftstheoretischen De-

batten mit den 'Großen' seiner Zunft entscheidende Impulse verleihen konnte. Wiederum diente ihm die Theoriegeschichte als Ausgangspunkt, und diesmal stand sie im Dienst einer Debatte, die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Den Hintergrund zu dieser Veröffentlichung lieferte eine breitangelegte Diskussion im deutschen Sprachraum der zwanziger Jahre zu der Frage, wie der anscheinend reguläre Konjunkturzyklus zu erklären sei. Dire theoretische Brisanz bezog diese Fragestellung aus dem offensichtlichen Widerspruch zwischen der (empirisch weitgehend als unstrittig geltenden) Existenz eines regelhaften Konjunktuizyklus mit parallelen Auf- und Abbewegungen von Preisen und Mengen und der allgemeinen Gleichgewichtstheorie walrasianischer Provenienz, die zu dieser Zeit längst ihren Siegeszug als neues ökonomisches Paradigma angetreten hatte. Schnell spitzte sich das Problem zu auf die methodologische Frage der Vereinbarkeit von allgemeiner Gleichgewichtstheorie und Konjunkturphänomen - eine Fragestellung, die wie keine vor ihr dazu geeignet war, der Debatte um den Sinn oder Unsinn des neuen Paradigmas ein klar umrissenes Feld für die theoretische Auseinandersetzung zu bescheren, und die daher Kritiker und Anhänger des neuen Paradigmas gleichermaßen herausfordern mußte. Den Anfang dabei, die Frage nach den allgemeinen Bestimmungsgründen eines als gegeben unterstellten Konjunktuizyklus in den Dienst der methodologischen Abrechnung mit der allgemeinen Gleichgewichtstheorie zu stellen, hatte bereits 1926 Adolph Löwe, damals Professor an der Universität Kiel und Direktor der Konjunkturforschungsabteilung am Institut für Weltwirtschaft, gemacht. In einem provokanten Aufsatz argumentierte er unter dem Titel Wie ist Konjunkturtheorie überhaupt möglich? (Löwe 1926), daß die allgemeine Gleichgewichtstheorie nicht in der Lage sei, endogene Bestimmungsgründe für regelmäßige zyklische Schwankungen zu liefern und somit ein wesentliches Merkmal des kapitalistischen Alltags zu erfassen. Die Schlußfolgerung war eindeutig: Ein Paradigma, das wesentliche Aspekte der marktwirtschaftlichen Produktionsweise unerklärt lasse, verdiene nicht als allgemeingültiger theoretischer Rahmen akzeptiert zu werden; es sei daher aufzugeben. Der Fehdehandschuh wurde schnell aufgegriffen. Vor allem Hayek in seinem Buch Geldtheorie und Konjunkturtheorie (1929) und -» Joseph A.

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Lutz, Friedrich August Schumpeter in einer Reihe von Aufsätzen (z.B. 1926; 1928) akzeptierten sowohl den Ansatzpunkt (die Existenz eines regelmäßigen Konjunkturzyklus) als auch die damit verbundene Herausforderung, nämlich, daß dieser aus den Prämissen der herrschenden Theorie endogen abgeleitet werden müsse, solle diese Theorie ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit nicht verlieren. Beide versuchten die Ehrenrettung mit verschiedenen Mitteln - Schumpeter mit der Hypothese eines von seinen berühmten Unternehmern getriebenen endogenen technischen Fortschrittes, und Hayek mit seiner Theorie eines endogenen Kreditzyklus. Beide äußerten explizit die Auffassung, mit ihren theoretischen Ansätzen die walrasianische Gleichgewichtstheorie zu ergänzen, nicht aber sie in der Substanz zu verändern oder gar aufzugeben. Lutz' Habilitationsschrift war ein brillanter Beitrag zu dieser Debatte und bildete aufgrund der politischen Entwicklung in Deutschland und Österreich zugleich den Schlußpunkt einer Auseinandersetzung, die erst in den siebziger Jahren in den USA, bedingt durch das Aufkommen der 'Neuen Klassischen Makroökonomie' unter ähnlichen theoretischen Vorzeichen wieder aufleben sollte. In seinem Beitrag untersuchte er, ganz nach dem später zu findenden Strickmuster, zunächst ausführlich die Konjunkturtheorien früherer Autoren unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Gleichgewichtstheorie, bevor er auf die methodologische Fragestellung einging. Seine Schlußfolgerungen, zu denen er auf der Grundlage seines Verständnisses des gleichgewichtstheoretischen Paradigmas gelangte, nimmt in wesentlichen Elementen einige der zentralen Erkenntnisse 'realer' Konjunkturtheorien vorweg, die in den siebziger Jahren entwickelt wurden. Lutz argumentierte, daß eine allgemeine Theorie regelmäßiger Konjunkturzyklen im Rahmen der Theorie des allgemeinen Gleichgewichtes in der Tat weder möglich noch erstrebenswert sei. Die angemessene Einbeziehung von Geld und Kredit in das System lasse zwar, im Gegensatz zur Ricardianischen Überzeugung (und auch im Gegensatz zu deijenigen von Walras), die Möglichkeit einer „allgemeinen Überproduktion" zu, gebe aber keine Handhabe zur Ableitung regelmäßiger Fluktuationen. Die vorgeblich beobachtbare Periodizität sei inkonsistent mit den fundamentalen Grundsätzen der Theorie und müsse daher entweder auf äußere Einflüsse zurückgeführt werden oder sei über geeignete Propagationsmechanismen zu er-

402

klären. Lutz war bereit, die von seinen Kollegen nicht hinterfragte Wahrnehmung der Wirklichkeit seinen theoretischen Schlußfolgerungen anzupassen und schlug daher vor, jeden beobachteten Zyklus als ein historisch einmaliges Ereignis zu verstehen, dessen spezifische Gestalt als die Folge einer exogenen Variation des von der ökonomischen Theorie als gegeben unterstellten Datenkranzes erklärt werden müsse: Systematische Periodizität müsse demzufolge „außerhalb des geschlossenen Systems der ökonomischen Theorie" erklärt werden, entweder über die Abfolge exogener Schocks selbst, oder mittels einer Kombination von stochastischen, exogenen Schocks und spezifischen Propagationsmechanismen (1932). Lutz kam zu dieser Schlußfolgerung, indem er sich einerseits auf die methodologischen Prinzipien der Gleichgewichtstheorie stützte und andererseits die Frage nach exogenen versus endogenen Erklärungsmustem für die behaupteten regelmäßigen, systematischen Parallelbewegungen von Mengen und Preisen in den Mittelpunkt seiner Analyse stellte. Auf dieser Grundlage konnten die Ansätze der Historischen Schule schnell mit dem Vorwurf zurückgewiesen werden, die entsprechenden Autoren hätten induktive mit rein theoretischen Schlußfolgerungen verwechselt. Obwohl in der Analyse von Marx und von Schumpeter durchaus der Versuch unternommen wurde, endogene Gründe für regelmäßige Konjunkturschwankungen zu finden, sei die Marxsche Analyse als logisch inkonsistent zu verwerfen, während Schumpeter implizit irrationales Verhalten seiner Unternehmer unterstelle: Eine korrekte Darstellung von Schumpeters Theorie müsse sich auf technische Veränderungen stützen, und dies sei nichts anderes als eine exogene Veränderung des von der Theorie als gegeben unterstellten Datenkranzes, die per se weder als Auslöser der behaupteten endogenen Fluktuationen gewertet werden könne, noch in irgendeiner Weise Periodizität impliziere. Auf ähnliche Weise wurde Hayeks monetäre Konjunkturtheorie kritisiert, die nicht gezeigt habe, warum ein temporäres Versagen des Preismechanismus notwendigerweise zyklische Schwankungen zur Folge haben sollte, die sich darüber hinaus - wenn schon nicht endogen hervorgerufen - ad infinitum fortsetzen müßten, um regelhafte und systematische Konjunkturschwankungen zu begründen.

Lutz, Friedrich August Lutz' Beitrag zur Konjunkturtheorie erhielt nie die Anerkennung, die er verdient gehabt hätte, zum einen wegen der Sprachbarriere, zum anderen weil die Debatte mit der Emigration ihrer Hauptprotagonisten endete - um erst in den siebziger Jahren wieder aufzuflackern, diesmal allerdings ohne den Vorteil, den Lutz zu einem Markenzeichen seines Gesamtwerkes ausbaute, nämlich die detaillierte Kenntnis und Nutzung der Beiträge von theoriegeschichtlichen Vorgängern, die sich mit ähnlichen Fragestellungen auseinandergesetzt hatten. Im allgemeinen scheint Lutz selbst keine Schwierigkeiten dabei gehabt zu haben, seine ökonomischen Grundüberzeugungen mit einer Lesart der ökonomischen Klassiker wie Ricardo und Smith in Übereinstimmung zu bringen, die jene zu friihen Gleichgewichtstheoretikern reduziert. Allenfalls in späteren Kommentaren zur Wachstumstheorie deutet sich eine kritischere Haltung zum neoklassischen Paradigma an. Während seiner Zürcher Zeit war Lutz ein international hochgeachteter Experte zu Geld- und Währungsfragen. Er war ein früher und glühender Verfechter flexibler Wechselkurse (1954), der seine neoliberalen Positionen u.a. in der Mont Peterin Society vertrat. Die Universität Tübingen, an der er 1925 promoviert hatte, verlieh ihm 1967 die Ehrendoktorwürde. Er selbst wind uns beschrieben als ein sanfter Mensch, der „Festigkeit in den eigenen Überzeugungen mit Respekt für die Überzeugungen anderer" (Niehans 1987, S. 253) zu verbinden wußte. Lutz war ein Kritiker der totalitären Macht und bezahlte für diese Überzeugung mit der Emigration. Wir alle bezahlten indirekt, mit dem Verlust der Kenntnis von Debatten wie deijenigen zur Konjunkturtheorie in den zwanziger und dreißiger Jahren, die abgebrochen wurde dadurch, daS alle Beteiligten den deutschen Sprachraum verließen, und die in dieser Qualität nie wieder aufgenommen wurden - trotz des verbesserten technischen Rüstzeugs, über das Ökonomen viele Jahrzehnte später verfügten. Lutz ist damit sicherlich eines der markantesten Beispiele für den Verlust an Kompetenz und Wissen, den Hitlers Aufstieg zur Macht für die deutsche Volkswirtschaftslehre bedeutete. Schriften in Auswahl: (1925) Der Kampf um den Kapitalbegriff in der neuesten Zeit, Diss. Tübingen.

(1932) (1936)

Das Konjunkturproblem in der Nationalökonomie, Jena (Habil.). Das Gnindproblem der Geld Verfassung, Stuttgart; wieder abgedruckt in: ders., Geld und Währung: Gesammelte Abhandlungen, Tübingen, S. 28-102.

(1938)

(1940)

(1945)

(1951) (1954)

(1956) (1962) (1967) (1968)

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(1971)

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403

Machlup, Fritz Schumpeter, J.A. (1928): The Instability of Capitalism, in: Economic Journal, Bd. 38, S. 361-385. Quellen. Β Hb Π; AEA. Christof Rähl

Machlup, Fritz, geb.

15.12.1902 in Wiener Neustadt, gest. 30.1.1983 in New York

Machlup, SpröBling einer Fabrikantenfamilie, gehört zu jener bemerkenswerten Gruppe von Epigonen der österreichischen Schule der Nationalökonomie - neben ihm vor allem -» Friedrich A. Hayek, -» Gottfried Haberler, Oskar Morgenstern, -» Gerhard Tintner - , alle etwa um 1900 geboren und Studenten an der Wiener Universität nach Ende des Ersten Weltkriegs, die, geprägt von der spezifisch österreichischen Variante der neoklassischen Theorie (repräsentiert vor allem durch Carl Menger, Eugen von Böhm-Bawerk, Friedrich von Wieser), einen Zugang zu einer offeneren, weltweit orientierten Diskussion fanden und in diesem weiteren Rahmen zu höchster Anerkennung gelangten. Es ist kein Zufall, daß alle der genannten österreichischen Ökonomen sich später in Amerika wieder trafen (wenn auch Tintner und Hayek einige Jahre nach dem Krieg nach Europa zurückkehrten). Eine in der Zwischenkriegszeit äußerst intrigenreiche Atmosphäre an der Wiener Universität, welche sich gegen talentierte 'Außenseiter' versperrte, sowie der aufkeimende und später akute Austrofaschismus sorgten dafür, daß diese zweite Generation österreichischen wissenschaftlichen Profils ins Ausland gedrängt wurde. Machlup, der nach dem Ersten Weltkrieg an der Wiener Universität das Studium der Staatswissenschaften begann und 1923 mit einem Doktorat beendete, fühlte sich vor allem von den Fächern Nationalökonomie und Wissenschaftstheorie angezogen. Ökonomie studierte er noch bei Wieser, dem letzten Vertreter der 'alten* österreichischen Schule, und bei -» Ludwig von Mises, der später - ebenso wie Machlup - in den USA landete. Mises war es auch, der Machlups Dissertation betreute, die sich mit Problemen der Goldkernwährung befaßte. Diese Arbeit des 21-jährigen, die 1925 als Buch veröffentlicht wurde, ließ bereits seine Fähigkeit erkennen, theoretische Analyse mit realistisch-relevanten Betrachtungen zu verknüpfen.

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Ohne Chance, den gewünschten wissenschaftlichen Berufsweg einschlagen zu können, trat Machlup - bereits 1922 - in den Familienbetrieb ein, in dem er über zehn Jahre tätig blieb. All diese Jahre hindurch hielt er engen Kontakt mit seinen Studienfreunden und verfolgte weiter seine wissenschaftlichen Interessen, die dann im Jahre 1931 in einem größeren Werk Börsenkredit, Industriekredit und Kapitalbildung einen Niederschlag fanden, das auch ins Englische und Japanische Ubersetzt wurde. Machlups Hoffnung, mit diesem Werk die Habilitation an der Wiener Universität und damit den Zugang zu einer akademischen Laufbahn zu erreichen, scheiterte an der ablehnenden Haltung der Fakultät. 1933 ermöglichte es ihm dann ein RockefellerStipendium, in die USA zu gehen, und so begann - im Alter von 31 Jahren! - Machlups full-time Aktivität als Forscher und Lehrer, die schließlich fast fünfzig Jahre währen sollte und ungemein fruchtbar war. Nach Ablauf des Rockefeller-Stipendiums und einem kurzen Aufenthalt in England wurde Machlup 1935 auf einen Lehrstuhl an der University of Buffalo berufen, wo er bis 1947 blieb, um dann einer Berufung an die Johns Hopkins University zu folgen. 1960 ging Machlup als Nachfolger Jacob Viners an die Princeton University, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1971 verblieb. Dieses altersbedingte Ende der beruflichen Tätigkeit bedeutete aber keineswegs das Ende seiner wissenschaftlichen Aktivität. Machlup übersiedelte im gleichen Jahr als Professor an die New York University, wo er bis knapp vor seinem Tod als Forscher und Lehrer tätig war. Er starb, achtzigjährig, mitten in der Arbeit an einem großangelegten, auf mehrere Bände geplanten Forschungsprojekt Uber industrielle Organisation und Patentwesen, das unvollendet blieb. Eine Würdigung Machlups muß auf mehreren Ebenen ansetzen: inhaltliche Breite und quantitativer Umfang der Forschung, methodologische Einsichten, intellektuelle Intensität, der Lehrer und der Mensch. In all diesen Bereichen stößt man auf besondere Leistungen, die in ihrer Kombination die charakteristische Stellung Machlups in der ökonomischen Wissenschaft begründen. In der heutigen Welt stark ausdifferenzierter Spezialisierungen in jedem Wissenschaftszweig ist es hilfreich und üblich, einzelne Wissenschaftler auf Grund ihres Spezialforschungsgebiets näher zu charakterisieren. Bei Machlup ist dies sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich. Mehr als die

Machlup, Fritz meisten seiner Zeitgenossen bemühte er sich während seines ganzen Lebens, und das erfolgreich, mit vielerlei ökonomischen Problemen theoretisch und empirisch Kontakt zu bewahren und sie zu analysieren. Intellektuelle Fähigkeiten und intellektuelle Neugier paarten sich zu einer breiten Forschungsstrategie. Nicht zu Unrecht hat man daher von Machlup als einem (vielleicht dem letzten?) 'Generalisten' gesprochen (Bitros 1976, VII). Wenn man dennoch versucht, Machlup zu 'kategorisieren', so kann man - je nach persönlicher Beurteilung und Gewichtung - vor allem drei Gebiete hervorheben: internationale monetäre und damit verbundene generelle Fragen, industrielle Organisation und wissenschaftlich-technischer Fortschritt, methodologische und semantische Probleme der Wissenschaft im allgemeinen und der Nationalökonomie im besonderen. Daneben wurden aber immer wieder zahlreiche andere Bereiche aufgegriffen und ausführlich behandelt Probleme der internationalen Beziehungen und insbesondere deren monetäre und finanzielle Aspekte, waren schon das Thema des ersten Werks von Machlup, seiner Dissertation Die Goldkemwährung (192S). Auch seine nächste Veröffentlichung, Die neuen Währungen in Europa (1927), beschäftigte sich mit diesem Thema. Von den rund 25 Büchern, die Machlup insgesamt als Alleinautor publizierte (weitere mit mehreren anderen als Koautor), beschäftigen sich zehn mit Währungsfragen und internationalen monetären Problemen, zwei weitere sind 'realen' Außenwirtschaftsfragen gewidmet, wobei das eine, International Trade and the National Income Multiplier (1943), eine Brücke zur Keynes-Diskussion darstellte, das andere, A History of Thought on Economic Integration (1977) einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Integrationsproblematik leistete. Diese intensive Beschäftigung mit internationalen monetären Problemen, die sich auch in zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen niederschlug, machte Machlup zu einem gesuchten Experten und Berater in den 'heißen' Diskussionen der sechziger und siebziger Jahre, als das Bretten Woods System in eine Krise geriet und neue Wege für den internationalen Zahlungsverkehr gesucht wurden. Zum Thema industrielle Organisation und technischer Fortschritt, das Machlup immer wieder beschäftigte und das in zahlreichen Aufsätzen einen Niederschlag fand, erschien 1962 die umfangreiche, bahnbrechende Studie The Production and Distribution of Knowledge in the United States,

der in den späten siebziger Jahren die Inangriffnahme des (unvollendeten) Großprojekts über das Patentwesen folgte. Machlups Interesse an und Beschäftigung mit wissenschaftstheoretischen und methodologischen Fragen ist über eine große Anzahl von Aufsätzen verstreut, die sich vielfach mit Teilfragen oder aktuellen Diskussionen beschäftigen. In ihrer Gesamtheit liefern sie ein eindrucksvolles Bild von Machlups methodologischer Einstellung. Es ergibt ein deutliches Bekenntnis zur theoretischen und wirtschaftspolitischen Gültigkeit und Nützlichkeit der Modellmethode im allgemeinen und der marginal theoretischen im besonderen, gekoppelt mit einem starken Sinn filr Relevanz und 'common sense' und einer Offenheit für andere Ansätze, so daß Machlup weit eher ein Eklektiker als ein Dogmatiker ist. Wie bereits erwähnt, läßt sich Machlup nicht eindeutig bestimmten Gebieten zuordnen. Neben und zwischen den eben behandelten Hauptinteressengebieten hat sich Machlup immer wieder mit zahlreichen anderen ökonomischen Fragen beschäftigt und zwar zum Teil äußerst intensiv, wie zum Beispiel mit Fragen der Preistheorie und der Marktformen in zwei umfangreichen Bänden The Political Economy of Monopoly (1952b) und The Economics of Sellers' Competition (1952a) mit zusammen 1126 Seiten. Die meisten dieser diversen Themen sind in zahlreichen Aufsätzen behandelt, von denen er mehr als 250 vorlegte (ohne Memoranden, Rezensionen, Stellungnahmen etc.). Die Vielfalt der Themen macht eine zusammenfassende Darstellung, die mehr als eine bloße Aufzählung sein soll, unmöglich. Seine mehr als 25 Bücher und die zehnfache Zahl der zum Teil sehr umfangreichen Aufsätze lassen die Arbeitsfähigkeit, ja die Arbeitswut Machlups erkennen, die er bis ins hohe Alter beibehielt, ohne allerdings je ein weitabgewandter, menschenscheuer 'workaholic' zu werden. Ganz im Gegenteil, Machlups Persönlichkeit war gekennzeichnet durch große Kontaktfahigkeit, Geselligkeit, Liebe zu Musik und Sport (besonders Fechten und Skilaufen), Liebenswürdigkeit und 'Wiener Charme'. Daß er diese Eigenschaften mit einem so enormen Arbeitspensum in Forschung und Lettre verbinden konnte, war Ausdruck einer hohen intellektuellen Begabung, vor allem aber auch einer äußerst raschen Verarbeitungsfähigkeit von neuen Ideen. Dieses Tempo des Denkens faßte Kenneth Boulding im Jahre 1970 bei einem Ban-

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März, Eduard kett in der University of Colorado folgendermaßen zusammen: Oh, happy is the man who sits Beside, or at the feet of, Fritz Whose thoughts, as charming as profound Travel beyond the speed of sound All passing, as he speeds them up. Mach 1, Mach 2, Mach 3, Machlup. With what astonishment one sees A supersonic Viennese, Whose wit and vigour, it appears, Are undiminished by the years. Seine Fähigkeiten als Lehrer, eine Tätigkeit, der er sich gerne widmete, kann nur mehr den Erinnerungen seiner zahlreichen (und erfolgreichen) Schüler entnommen werden. Sie bezeugen, daB seine intellektuell äußerst anregenden und brilliant vorgetragenen Vorlesungen einen großen Anziehungspunkt bildeten und daß er stets für die Studenten da war, ihnen mit Hilfe und Rat zur Seite stand und als Prüfer zwar anspruchsvoll aber immer absolut fair war (siehe Dreyer 1978, besonders Kapitel 2). Machlups Fähigkeit theoretisches Wissen mit Realitätssinn zu verbinden und seine Argumente in besonders luzider Weise logisch zu entwickeln ohne unnötigerweise zu mathematischen Symbolen oder fachchinesischen Ausdrücken zu greifen, machte ihn zu einem gesuchten Berater in wirtschaftspolitischen Angelegenheiten. Mehr als zehn Jahre (1965-1977) war er als Konsulent des US Department of Treasury flir Währungsfragen zuständig und auch von vielen anderen Gremien wurde er fallweise als Experte und Berater zugezogen. Die wissenschaftliche Bedeutung Machlups fand bei seinen Zeitgenossen volle Anerkennung und kam in zahlreichen Ehrungen zum Ausdruck. Sieben Universitäten in verschiedenen Ländern verliehen ihm ein Ehrendoktorat und die prestigeträchtigsten Fachverbände wählten ihn zu ihrem Präsidenten (American Economic Association, International Economic Association, Southern Economic Association, American Association of University Professors). Wenn Machlup in der Dogmengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts etwas weniger in Erscheinung tritt als manche seiner österreichischen und internationalen Kollegen, so hängt das wohl nicht zuletzt mit seinen positiven Qualitäten zusammen. Sein Bestreben und seine Fähigkeit den Kontakt und den Überblick über weite Bereiche seines Faches zu behalten,

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verhinderten es, daß er sich in einem einzelnen Spezialgebiet besonders stark profilierte und dort tiefe Spuren hinterließ. Es gibt kein 'MachlupTheorem', keinen 'Machlup-Effekt'. Auch seine Liebenswürdigkeit, seine Bereitschaft auf andere Meinungen einzugehen, machten seine Persönlichkeit und seine Diskussionsbeiträge weniger 'kantig' als die mancher anderer Ökonomen, die damit den Biographen mehr Stoff liefern. All das ändert aber nichts daran, daß Machlup zweifellos unter die fuhrenden Ökonomen des zwanzigsten Jahrhunderts einzureihen ist. Schriften in Auswahl: (1925) Die GoldkemWährung, Halberstadt (Diss.). (1927) Die neuen Währungen in Europa, Stuttgart. (1931) Börsenkredit, Industriekredit und Kapitalbildung, Wien. (1934) Führer durch die Krisenpolitik, Wien. (1943) International Trade and the National Income Multiplier, Philadelphia. (1952a) The Economics of Seilers' Competition, Baltimore. (1952b) The Political Economy of Monopoly, Baltimore. (1962) The Production and the Distribution of Knowledge, Princeton. (1963) Essays in Economic Semantics, Englewood Cliffs. (1970) Education and Economic Growth, Lincoln. (1977) A History of Thought on Economic Integration, New York. Bibliographie: Bitros, G. (Hrsg.) (1976): Selected Economic Writings of Fritz Machlup, New York. Dreyer, J.S. (1978): Breadth and Depth in Economics. Fritz Machlup - The Man and His Ideas, Lexington. Quellen: Β Hb II; AEA; NP; Who was Who in America. Kurt Rothschild

März, Eduard geb. 21.12.1908 in

Lemberg,

gest. 9.7.1987 in Wien Die Familie, der Vater war Uhrmacher, die Mutter Lehrerin, übersiedelte knapp vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Wien. Im Elternhaus

März, Eduard wurde seit jeher deutsch gesprochen, es herrschte eine Atmosphäre bewuBten, jedoch liberalen Judentums. Unter beengten finanziellen Verhältnissen muBte Eduard März früh einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Nach der 1928 an einer Fachschule abgelegten Matura arbeitete er in einer Textilfabrik und absolvierte gleichzeitig das Studium an der Wiener Hochschule für Welthandel, wo er 1933 den akademischen Grad eines Diplomkaufmanns erwarb. Danach studierte er an der Universität Wien Staatswissenschaften. Knapp vor Abschluß des Studiums muBte er Österreich nach der Okkupation durch HitlerDeutschland verlassen. Politisch hatte sich Eduard März nach den Ereignissen des Justizpalastbrandes im Juli 1927 dem Sozialismus zugewandt. Als Student betätigte er sich in verschiedenen linken Gruppierungen und widmete sich intensiv dem Studium der Manschen Theorie. In der Zeit des Austrofaschismus hielt er volkswirtschaftliche Vorträge an den Wiener Volkshochschulen. Die Verbindung zu dieser Institution verdankte er -» Walter Schiff, Professor fur Statistik und Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien, mit dem er eine getarnte kritische Broschüre über den Ständestaat herausgab. Als frischgebackenem Diplomkaufmann war es März gelungen, eine Anstellung bei der Wiener Niederlassung von IBM zu erhalten. Die berufliche Verbindung mit der weltweit operierenden Firma gab ihm und seiner Familie in den Jahren der Emigration einen existenziellen Rückhalt Zunächst war März zwei Jahre in der Türkei für die dortige IBM-Vertretung tätig. 1940 gelang es ihm, unmittelbar vor Kriegsausbruch ein Visum für die USA zu erlangen, wohin er auf einer abenteuerlichen Reise durch die Sowjetunion und Japan gelangte. Dort studierte er neben seiner beruflichen Tätigkeit bei IBM an der Harvard-Universität, an der er 1943 den Grad des Master of Arts erwarb. Im Krieg war März Mitarbeiter an Radiosendungen für Österreich und meldete sich schließlich freiwillig zur US-Navy. Nach dem Krieg schloB er sein Studium an der Harvard-Universität mit einer Dissertation bei Joseph Schumpeter über Österreichs Wirtschaftsentwicklung nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie ab. Bis zu seiner Rückkehr nach Österreich unterrichtete er an verschiedenen US-Universitäten und Colleges.

In der bedrückenden politischen Atmosphäre der McCarthy-Ära entschloß sich März 1953 zur Rückkehr nach Österreich. Hier arbeitete er zunächst als Konsulent der größten österreichischen Bank, der Creditanstalt-Bankverein, an dem zum 100-jährigen Bestehen des Instituts 19SS herausgegebenen Jubiläumsband Ein Jahrhundert Creditanstalt-Bankverein. Seine intensiven Kontakte zu den Arbeitnehmerorganisationen führten 19S6 zu seinem Eintritt in die Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte, wo er die wirtschaftswissenschaftliche Grandlagenarbeit für die Wirtschaftspolitik aufbaute. Bald wurde er zum Leiter der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung bestellt, die zum 'brain trust' für die Wirtschaftspolitik der Arbeitnehmerseite wurde. Hier entstanden Konzepte und Analysen, die für die wirtschaftspolitischen Programme der Gewerkschaften maßgebliche Bedeutung erlangten. Auch an der Gründung des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen der Paritätischen Kommission 1963 hatte März wesentlichen Anteil. Schon seit seiner Rückkehr nach Österreich hatte sich März engagiert an der ökonomischen und ideologischen Diskussion seiner Partei, der SPÖ, betätigt. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel in deren theoretischer Zeitschrift Die Zukunft und beteiligte sich an der Diskussion zur Erarbeitung der Parteiprogramme 19S8 und 1978. Maßgeblich war sein Beitrag zum Wirtschaftsprogramm der SPÖ 1968, mit dem sich die Partei jene wirtschaftspolitische Kompetenz erwarb, die eine Voraussetzung für den Wahlerfolg 1970 schuf. Zur Lehre an einer Universität konnte März erst 1968 zurückkehren, als er zum Honorarprofessor der Universität Linz ernannt wurde. Insbesondere nach seiner Pensionierung hielt März regelmäßig wirtschaftshistorische Vorlesungen an den Universitäten Salzburg und Wien. Nachdem März 1973 als Abteilungsleiter der Arbeiterkammer in den Ruhestand getreten war, widmete er sich wieder besonders intensiv der Wirtschaftsgeschichte. Als Konsulent der Creditanstalt führte er seine Studien über die Geschichte des Instituts weiter. Darüber hinaus war er nicht nur auf seinem nunmehrigen Forschungsgebiet publizistisch tätig, sondern bewahrte bis zuletzt sein starkes Interesse für Fragen der Wirtschaftspolitk und auch der politischen Entwicklung seines Landes. Durch einen Herzinfarkt wurde er 1987 aus dem Leben gerissen.

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März, Eduard In seiner beruflichen Tätigkeit als Ökonom war März in den USA einige Jahre als Universitätslehrer, nach seiner Rückkehr nach Österreich zunächst vor allem im Bereich der Wirtschaftspolitik tätig. Er gehörte zu jenen Ökonomen, welche den auf den Lehren von Keynes aufbauenden Konzeptionen einer modernen Konjunktur- und Wachstumspolitik in Österreich zum Durchbrach verhalfen. In einem 1954 veröffentlichten Aufsatz Die Hauptpunkte der Keynesschen Lehre bejahte er die Möglichkeit einer nachhaltigen Steigerung von Konsum- und Wohlstandsniveau und betonte in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer aktiven Rolle des Staates fur eine ausreichend hohe Investitionsneigung. März plädierte auch für eine umfassende makroökonomische Planung nach dem Muster der französischen 'planification', wobei er dem vom Staat kontrollierten Sektor in der Industrie und dem Bankwesen eine strategische Funktion zuschrieb. Er verfaßte nicht nur selber eine Vielzahl von Arbeiten zur Wirtschaftspolitik (eine Auswahl enthält das Buch Österreichs Wirtschaft zwischen Ost und West), sondern initiierte im Rahmen der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Wiener Arbeiterkammer, in der auch Philipp Rieger, -> Theodor Prager und Maria Szecsi tätig waren, zahlreiche Studien zu Fragen der Einkommensverteilung, der Kapitalmarktpolitik, der Arbeitsmarktpolitik und der Forschungspolitik. Als Wirtschaftshistoriker ist Eduard März durch grundlegende Werke zum Industrialisieningsprozeß der österreichisch-ungarischen Monarchie hervorgetreten. Seine beiden umfassenden Studien zur Geschichte der Creditanstalt (Österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs 1. und Österreichs Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913-1923) analysieren anhand der Geschichte der Bank die Ursachen des ökonomischen Entwicklungsrückstandes der Habsburgermonarchie sowie die Probleme des Aufholprozesses. Der zentrale Gesichtspunkt ist die strategische Rolle, die den großen Mobilbanken im nachholenden Industrialisierungsprozeß zukommt. Als maßgebliche Eigentümer großer Teile der österreichischen Industrie waren die Banken die Geburtshelfer eines „organisierten Kapitalismus" in Österreich. Bei aller praktischen und politischen Orientierung eines Großteils der Schriften von Eduard März galt sein tiefstes Interesse doch der Theorie. Auf diesem Gebiet waren es die Werke zweier großer

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Ökonomen, mit dem sich März zeitlebens beschäftigte: Karl Marx und Joseph A. Schumpeter. Schumpeter war es - persönlich als akademischer Lehrer und durch sein Hauptwerk Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, der sein Interesse auf die Bankgeschichte lenkte. Mehrere größere Abhandlungen beschäftigen sich mit Weit und Person Schumpeters: mit der wissenschaftssoziologischen Untersuchung der Entstehung von Schumpeters Theorie, mit seinem Wirken als Finanzminister der neu gebildeten Republik Österreich nach dem Ersten Weltkrieg und mit den Bezügen seiner Theorie zum Werk von Karl Marx. Als demokratischer Sozialist war März der Theorie von Marx verpflichtet und fühlte sich wohl bis zuletzt als Marxist. Der Marxismus war für März allerdings kein Kanon feststehender Wahrheiten, sondern ein sozioökonomisches Theoriegebäude, das sich an der realen Entwicklung des Kapitalismus zu bewähren habe und auch ständig weiterentwickelt werden müsse. Die erste Auflage des Buches Die Marxsche Wirtschaftslehre im Widerstreit der Meinungen (1959, zuerst veröffentlicht als Artikelserie in der Zeitschrift Arbeit und Wirtschaft unter dem Pseudonym „Sigmund Schmerling") ist auch stark an der Theory of Capitalist Development Paul Sweezys orientiert, mit dem März in der Zeit seiner Studien- und Lehrtätigkeit in den USA in enger Verbindung stand. Der Schlüssel zu einer befriedigenden Theorie des Kapitalismus lag für März in einer Synthese der Ansätze von Marx und Schumpeter, wobei letzterem bei der Erklärung der Nachkriegsprosperität der Vorzug gegeben wird. Eine wesentlich erweiterte und stark abgeänderte zweite Ausgabe von März' Marx-Buch erschien 1976. Darin spricht er sich dagegen aus, zwei Gattungen der Ökonomie eine marxistische und eine bürgerliche - zu unterscheiden. Sein Werk verstand er als Beitrag zur „einen legitimen ökonomischen Disziplin", ebenso wie er als politischer Mensch von der Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive überzeugt war.

Schriften in Auswahl: (1954) Die Hauptpunkte der Keynesschen Theorie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Bd. 74/1, S. 35-47. (1958) Die Marxsche Wirtschaftslehre im Widerstreit der Meinungen, Wien.

Manes, Alfred (1965)

(1968)

(1976)

(1981)

(1983)

(1987)

Österreichs Wirtschaft zwischen Ost und West. Eine sozialistische Analyse, Wien. Österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs I., Wien. Einfühlung in die Marxsche Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Wien. Österreichs Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913-1923, Wien (engl. Übers. 1986). Joseph Alois Schumpeter - Forscher, Lehrer und Politiker, Wien (engl. Übers. 1991). Erinnerungen, in: F.Stadler (Hrsg.): Vertriebene Vernunft I. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930 - 1940, Wien, S. 499511.

Bibliographie: Bibliographie Eduard Mäiz (1908-1987), in: Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr.48 (1991). Eduard März - 75 Jahre, in: Wirtschaft und Gesellschaft, 9 Jg., Nr. 4 (1983), S. 473^76. Sozialismus, Geschichte und Wirtschaft. Festschrift für Eduard März, Wien 1973. Quelle: Β Hb I. Günther Chaloupek

Manes, Alfred, geb. 27.9.1877 in Frankfurt am Main, gest. 30.3.1963 in Chicago Der Versicherungswissenschaftler Manes studierte ab 1895 in München, Straßburg, Göttingen und London Rechtswissenschaften und promovierte 1898 mit einer Arbeit über Das Recht des Pseudonyms in Göttingen zum Dr. iur. und ein Jahr später in Heidelberg zum Dr. phil. Manes prägte die nationalökonomische Unterdisziplin der 'Versicheningswirtschaft' und vertrat diese Richtung u.a. als Schriftleiter einschlägiger Fachzeitschriften (Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft) oder auch als langjähriger Generalsekretär des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft, der in einer Unzahl von Verbänden führend mitwirkte. Mit dem von ihm herausgegebenen, weltweit einmaligen Versicherungs-Lexikon (1909), für das er auch internatio-

nal vielfach geehrt wurde, legte Manes zugleich die theoretischen Fundamente dieser neuen sozialwissenschaftlichen Forschungssparte. Seit der Eröffnung der Handelshochschule in Berlin lehrte Manes Versicherungswissenschaft und wurde dort Direktor des Versicherungs-Seminars. Er erhielt 1906 den Professorentitel verliehen; ab 1925 nahm er Lehraufträge an der Universität Berlin an, wo er von 1930 bis zu seiner Entlassung 1933 auch als Honorarprofessor tätig war. Manes stammte aus jüdischem Elternhaus, hatte sich bei den neuen Machthabem im Lande aber auch politisch unbeliebt gemacht durch sein frühes und entschiedenes Eintreten fur den Völkerbund ebenso wie durch den offenen 'Internationalismus' seiner Bemühungen um eine zwischenstaatliche Regulierung der Sozialversicherungssysteme. 1935 verließ er Deutschland; anschließend unterrichtete er in Buenos Aires, Santiago de Chile und Rio de Janeiro, bevor er 1936 in die USA einwanderte. Bis 1948 war er Professor für Versicherungswissenschaft an der Indiana State University in Bloomington, anschließend bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1950 Professor fur Wirtschaftslehre und Versicherungswissenschaft an der Bradley University in Peoria, Illinois. Manes hat rund fünfzig Bücher veröffentlicht, und bereits 1905 sprach Schmollers Jahrbuch mit Blick auf seine Leistungen in Theorie und Praxis zu Recht davon, daß sein Werk der Beginn der Kodifizierung der Wissenschaft vom Versicherungswesen darstelle. Dessen Grundlagen und Erfordernisse hat Manes im Lauf der Zeit in fast jeder Hinsicht und Richtung ausgeleuchtet. Sein Werk ist heute nurmehr von historischem Interesse, nicht nur weil die Versicherungsmathematik fortgeschritten ist; ebenso entwertet die unvermeidbare Koppelung seiner Forschungen an den jeweiligen legislativen beziehungsweise umverteilungspraktischen Problemstand seine Erkenntnisse. Schriften in Auswahl: (1898) Das Recht des Pseudonyms unter besonderer Beachtung des bürgerlichen Gesetzbuchs und ausländischen Rechts, Göttingen (iur. Diss.). (1899) Die Diebstahlversicherung, Berlin. (1902) Die Haftpflichtversicherung. Ihre Geschichte, wirtschaftliche Bedeutung und Technik, insbesondere in Deutschland, Leipzig.

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Mann, Fritz Karl (1905a)

(1905b)

(1909)

(1911)

(1918)

(1919)

(1938)

Die Arbeiterversicherung, Leipzig/ Berlin (3. und spätere Aufl.: Sozialversicherung, 7. Aufl. 1928). Versicherungswesen, Leipzig (5. Aufl. mit dem Untertitel: System der Versicherungswirtschaft, 3 Bde., 1930/31). Versicherungs-Lexikon. Ein Nachschlagewerk für alle Wissensgebiete der Privat- und der Sozial-Versicherung (als Hrsg.), Tübingen (3. Aufl. 1930). Ins Land der sozialen Wunder. Eine Studienfahrt durch Japan und die Südsee nach Australien und Neuseeland, Berlin. Staatsbankrotte. Wirtschaftliche und rechtliche Betrachtung, Berlin (3. Aufl. 1922). Versicherungs-Staatsbetrieb im Ausland. Ein Beitrag zur Frage der Sozialisierung, Berlin. Insurance: Facts and Problems. Selected Lectures on Business Administration and Economics, New York/ London.

Quellen: Β Hb II; SPSL 235/6; Wer ist's? 1908/ 1921; Kürschner 1950. Sven Papcke

Mann, Fritz Karl, geb. 10.12.1883 in Berlin, gest. 14.9.1979 in Washington, D.C. In Washington hatte der Nationalökonom, Finanzwissenschaftler und Soziologe Mann, der in der zweiten Entlassungswelle nach Beginn der Hitlerdiktatur zum 30. September 1935 seiner Kölner Professur enthoben worden war, im Jahre 1936 mit seiner Frau Ingeborg Gertrud, geb. Papendieck (1898-1967), und den Kindern Karl Otto, Gisela, Dietrich sowie Hildegard Zuflucht und für sich eine neue Wirkungsstätte als Hochschullehrer an der American University gefunden. Mann entstammte einer angesehenen brandenburgisch-jüdischen Familie evangelisch-reformierten Bekenntnisses. Der Vater, Louis Mann, war erfolgreicher Unternehmer. Er hatte die Edmund Müller & Mann Aktiengesellschaft in BerlinTempelhof mitbegründet und war zuletzt deren Aufsichtsratsvorsitzender. Der Sohn Fritz Karl gehörte während seiner Königsberger und Kölner

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Zeit zu den Aufsichtsratsmitgliedern. Das Unternehmen stellte Lack-, Öl- und Rostschutzfarben her. Louis Mann, eine dem öffentlichen Leben stark zugewandte Natur, hatte im Jahr 1900 den Verband Deutscher Lackfabrikanten e.V. mitgegründet. Eine zur Unterstützung von Studierenden als 'Wohlfahrtseinrichtung' des Verbandes errichtete Stiftung wurde als Kommerzienrat-MannStiftung ins Leben gerufen. In stetem gedanklichem Austausch mit dem Vater - auch ihm ist die Vertreibung, trotz seiner großen Verdienste um die deutsche Wirtschaft, nicht erspart geblieben hat sich Mann über das deutsche Wirtschaftsleben und seine aktuellen Probleme auf dem laufenden gehalten. Ein früher Aufsatz in der Farbenzeitung, dem Organ des Verbandes, Über den Standort der chemischen und der Farbenindustrie (1913/14) zeugt vom praxisnahen Denken Manns. Mann besuchte in Berlin das renommierte Joachimsthalsche Gymnasium, wo er 1902 das Abitur ablegte. Danach studierte er ab dem Sommersemester 1902 Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Freiburg/Br. (1 Semester), München (2 Semester) und Berlin (3 Semester). Zu seinen juristischen Lehrern gehörten u.a. Karl von Amira, Heinrich Brunner, Otto von Gierke, Martin Wolff und Joseph Köhler; zu den Lehrern der Volkswirtschaftslehre Gustav Schmoller, Adolph Wagner, Max Sering, Lujo Brentano und Walther Lötz. Über das Fachliche hinaus betrieb Mann ein breit angelegtes Bildungsstudium, das auch seinen philosophischen und musischen Interessen Raum ließ. So hörte er bei Heinrich Rickert und Georg Simmel Philosophie, Kunstgeschichte bei Heinrich Wölfflin, antike Lyrik bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Am 4. November 1905 legte er die erste juristische Staatsprüfung vor dem Kammergericht in Berlin ab. Als Referendar wurde er dem Amtsgericht Templin (Uckermark) zugewiesen, doch bereits Mitte November ließ er sich aus dem preußischen Justizdienst beurlauben, um im Wintersemester 1905/06 an der Universität München weiteren volkswirtschaftlichen Studien nachgehen zu können. Dort nahm ihn Brentano in sein gemeinsam mit Walther Lötz gehaltenes Seminar auf. Mitte März 1906 kehrte Mann nach Berlin zurück und bat am 18. Mai desselben Jahres die juristische Fakultät der Universität Göttingen um Zulassung zur juristischen Promotion. Die Dissertation, die er einreichte und die auch angenommen wurde, galt dem Thema Die Verpfän-

Mann, Fritz Karl dung eines Wechsels durch Einigung und Übergabe des indossierten Papiers. Ein Beilrag zur Theorie des Wechselaktes. Mit dieser Arbeit wurde er, der in Göttingen nicht studiert hatte und sich nun im Rigorosum fremden Prüfern gegenübersah, am 28. August 1906 von Konrad Beyerle zum Dr. iuris utr. promoviert. Carl Ludwig von Bar bot ihm nach dem Rigorosum die Habilitation an. Doch Mann hatte andere Pläne und so blieb dieses Anerbieten ungenützt. SO Jahre später - zum 28. 8. 1956 - hat ihn die Juristische Fakultät der Georgia-Augusta durch ihren Dekan Georg Erler in Washington, D.C., mit dem goldenen Doktorbrief geehrt. Im Anschluß an den Militärdienst nahm Mann im Juli 1907 seinen endgültigen Abschied aus dem preußischen Justizdienst, um sich weiter der wissenschaftlichen Arbeit widmen zu können und studierte in London Sprachen, in Paris und Berlin Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie. Dabei hatte er sich vorgenommen, insbesondere der Geschichte der volkswirtschaftlichen Ideen vom 16.-18. Jahrhundert nachzugehen. Seine Funde in französischen und englischen Archiven führten ihn zu Montesquieu, John Law und dem französischen Marschall und Festungsbauer Vauban. Über diese Funde berichtete er in französischen und deutschen Schriften, die auch der Festigung seiner Sprachkenntnisse galten. Die Volkswirtschafts- und Steuerpolitik des Marschall Vauban war 1913 das zweite Dissertationsthema, mit dem Mann bei Gustav Schmoller und Max Sering in Berlin zum Dr. phil. promovierte. Es waren zugleich die Kapitel 3 und 4 seiner großen Monographie Der Marschall Vauban und die Volkswirtschaftslehre des Absolutismus. Eine Kritik des Merkantilsystems (1914), mit der er sich am 25. Juli 1914 an der Universität Kiel habilitierte und die Venia legendi für das Fach Nationalökonomie erwarb. Seine Kieler Antrittsvorlesung als Privatdozent galt dem Thema Die Idee der Einkommensteuer im Frankreich der Gegenwart. Wenige Tage später rückte Mann nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Reserveoffizier ins Feld an die Westfront, wurde jedoch im Oktober 1916 nach Rumänien beordert, um dort als Kenner des Landes - er hatte dieses in Friedenszeiten bereist - Sonderaufgaben zu übernehmen. Schließlich wurde er 1918 zum Delegierten der Obersten Heeresleitung bei den deutsch-rumänischen Friedensverhandlungen in Bukarest bestellt. Den wissenschaftlichen Ertrag seines Rumänien-

Einsatzes hat Mann sowohl in der 1918 erschienenen Schrift Kriegswirtschaft in Rumänien als auch in der Abhandlung Das Geldproblem in der rumänischen Besatzungswirtschaft (1919) festgehalten. In beiden Schriften gibt er einen Gesamtüberblick über die Lösungen, welche die vielgestaltigen Wirtschaftsprobleme - und ganz besonders das Geldproblem - im besetzten Rumänien gefunden haben. Nach Kriegsende hielt Mann Vorlesungen und Übungen über Finanzwissenschaft sowie über die Geschichte der sozialökonomischen und sozialistischen Theorien an der Universität Kiel, ehe er im Wintersemester 1919 und im Zwischensemester 1920 mit der Verwaltung eines volkswirtschaftlichen Ordinariats in Breslau beauftragt wurde. Mit Wirkung vom 30. März 1920 wurde er zum beamteten außerordentlichen Professor an der Universität Kiel ernannt. Bernhan) Harms hatte die Fähigkeiten Manns erkannt und ihn an sein Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr geholt, an dem einige Jahre später auch -» Adolf Löwe, -» Gerhaid Colm und -» Hans Neisser ihre akademische Laufbahn begannen. In Kiel begegnete er darüber hinaus dem Juristen Gustav Radbruch, mit dem eine lebenslange Freundschaft entstand. Für Mann war Kiel Sprungbrett. Bereits 1922 wurde er in der Nachfolge von Albert Hesse zum Ordinarius der Staatswissenschaften an der Universität Königsberg und zum Direktor des der Universität angegliederten Instituts für ostdeutsche Wirtschaft ernannt, dessen Vorbild das Kieler Institut gewesen war. Dem Königsberger Institut war die Aufgabe gestellt, „ostdeutsche Wirtschaftskunde" und darüber hinaus „Oststaatenkunde" als Gemeinschaftsarbeit von Wissenschaft und Praxis zu betreiben. Zu seinen Aufgaben gehörte auch - gemeinsam mit W.D. Preyer und H. Teschemacher - die Herausgeberschaft der Königsberger Sozialwissenschaftlichen Forschungen, ein Institutsperiodikum, das sich durch starke soziologische Ausrichtung auszeichnete. Sein besonderes Interesse galt jedoch den zentralen Fragen der finanzwissenschaftlichen Steuerlehre und dem Verhältnis zwischen Finanzwirtschaft und Staatswirtschaft. Die Themen seiner diesbezüglichen Veröffentlichungen behandelten u.a. die Grundsätze der Besteuerung in der Volkswirtschaft, Grundformen der Steuerabwehr, das Reichsnotopfer, Fragen der steuerlichen Lastenverteilung und den Strukturwandel des deutschen

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Mann, Fritz Karl Steuersystems. Diese Arbeiten, ganz besonders aber sein bei den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik in Wien 1926 gehaltenes Referat Wesen und allgemeiner Verlauf der Steuerüberwälzung haben ihn in die vorderste Reihe der finanzwissenschaftlichen Forschung in Deutschland gerückt. Im August 1926 wurde Mann vom preußischen Kultusminister auf den ersten finanzwissenschaftlichen Lehrstuhl in Deutschland, der zum Wintersemester 1926/27 an der Universität Köln neu eingerichtet worden war, berufen. Damit war die R nanzwissenschaft, die bisher bloßer .Annex" der Volkswirtschaftslehre gewesen war, selbständiger Forschungsgegenstand geworden. Er nahm den Ruf auf diesen Lehrstuhl, der auf seinen Wunsch auch die zusätzlichen Lehrgebiete Geld, Kredit und Konjunkturen umfaßte, nach anfänglichem Zögern an, denn nach vier Jahren erfolgreicher Lehr- und Forschungstätigkeit in Königsberg war ihm - wie er selbst bekundet hat - daran gelegen, für seinen weiteren Weg nicht als (bloßer) „Ostexperte" abgestempelt zu werden. Mann begann in Köln sogleich mit der Erweiterung und Vertiefung des finanzwissenschaftlichen Unterrichts. Die bisherige Hauptvorlesung „Finanzwissenschaft" wurde in die beiden Pflichtvorlesungen „Finanztheorie" und „Finanzpolitik" aufgeteilt. Die „Finanzsoziologie" fehlte dabei - sie blieb eine seiner in Köln unerfüllten Hoffnungen. Jedoch zeigen die weiteren von ihm gehaltenen Lehrveranstaltungen sein breites Fachspektrum. So las er nicht nur über Geld und Währung, die Krise der Weltwirtschaft und die Reparationspolitik, sondern auch über die volkswirtschaftlichen Theorien des 19. und 20. Jahrhunderts, Konjunkturen und Krisen, Bankpolitik, Wirtschaftssoziologie sowie die Hauptprobleme und Geschichte des Sozialismus. Neben seinen weit ausgreifenden Forschungsarbeiten hat sich Mann auch wissenschaftsorganisatorischer Aufgaben mit großem Engagement angenommen. So ist auf seine Initiative hin im Jahre 1927 an der Kölner Universität das von ihm selbst geleitete Institut für internationale Finanzwirtschaft gegründet worden. Es sollte sich vorwiegend mit der internationalen Verschuldung und den Reparationsfragen befassen; doch ist es später aufgrund neuer Schwerpunktbildung ohne spezielle Aufgabenstellung als Finanzwissenschaftliches Forschungsinstitut weitergeführt worden.

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In Köln, wo er 1930/1931 auch Dekan seiner Fakultät war, hat Mann seine wissenschaftlich fruchtbarsten Jahre verbracht. Hier entstanden neben vielen Aufsätzen - in rascher Folge jene Bücher, welche die Kölner Schule der Finanzwissenschaft begründeten. Im S. Kapitel des Buches Deutsche Finanzwirtschaft (1929) sind die von Mann 1928 (wieder-) entdeckten und von ihm in Anlehnung an Montesquieus Staatslehre so benannten 'Intermediären Finanzgewalten' dargestellt. Sie fungieren als finanzwirtschaftliche Hilfsorgane, die steuerähnliche Zwangsabgaben erheben. Mann hat sich zeit seines Lebens mit ihnen befaßt. In seinem Buch Der Sinn der Finanzwirtschaft (1978) stellen diese autonomen und halbautonomen Organe eine Gruppe von positiven und negativen Transfers der Finanzwirtschaft dar (vgl. 1978, S. 55). Neuerdings hat M. Kilian in seiner Habilitationsschrift Nebenhaushalte des Bundes die Entwicklungslinien der „Staatsausgaben im weiteren Sinne" „von F.K. Mann bis Christian Smekal" nachgezeichnet (Kilian 1993, S. 208 ff.). Daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Themengebiet nach wie vor aktuell ist, zeigt die 1996 unter dem Titel Budgetflucht und Haushaltsverfassung veröffentlichte Heidelberger Habilitationsschrift von Thomas Puhl, die auch auf Mann verweist (Puhl 1996). Die zweite bedeutende Schrift aus seinen Kölner Jahren, Die Staatswirtschaft unserer Zeit. Eine Einfuhrung (1930), von Mann später als „die erste Einführung der Kölner Schule der Finanzwissenschaft" apostrophiert, ist aus seiner Festrede an der Universität Köln zur 'Reichsgründungsfeier' am 18. Januar 1930 hervorgegangen. Der Vorgang, den er im 1. Teil seiner Schrift als ein Merkmal der neuen Staatswirtschaft beschreibt, ist der Übergang „vom Anteilsystem zum Kontrollsystem". „Die Finanzwirtschaft kontrolliert nicht nur im Nehmen, sondern auch im Geben" (ebd., S. 14). Der 2. Teil der Schrift befaßt sich mit der „hilfsfiskalischen Verzweigung", also den intermediären Finanzgewalten, die, zwischen „Staat und Bürger eingeschoben, auf gesetzlicher Grundlage Zwangsleistungen fordern". Es sind dies „ Z w a n g s i n n u n g e n , Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, Landwirt schaftskammem, Krankenkassen, Berufsgenossenschaften, Versicherungsanstalten. Sie haben wirtschaftsund sozialpolitische Aufgaben übernommen, die ihrem Wesen nach Staatsaufgaben sind", (ebd., S. 20). Den 3. und letzten Teil hatte Mann „Die Öko-

Mann, Fritz Karl nomisierung der Finanzpolitik" überschrieben. Die Finanzpolitik wird zu einer Technik zur Erreichung volkswirtschaftlicher Ziele (vgl. ebd., S. 38). Diese „drei Tendenzen, die wir beobachtet haben, verleihen der Staatswirtschaft unserer Zeit ihr eigentümliches Gesicht. Sie wirken insoweit einheitlich, als sie die Wucht der Staatswirtschaft vermehren und den Spielraum freier Wirtschaftsbetätigung einengen" (ebd., S. 45). Sein Buch Steuerpolitische Ideale. Vergleichende Studien zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung 1600-1935 (1937) schließlich, 1978 neu aufgelegt und mit einem Nachwort Manns versehen, ist bis heute das „Standardwerk der Dogmengeschichte der Besteuerung geblieben" (Klaus Mackscheidt). Im Nachwort faßte Mann die Resultate seines Forschens folgendermaßen zusammen: „Steuerpolitische Ideale der Gegenwart erstrecken sich auch auf drei weitere, oft ineinander verzahnte wirtschaftspolitische Ziele: die Verteilung von Kaufkraft und Geldkapital; die 'Sozialisierung der Risiken'; und - nicht zuletzt - die geplante Relation der beiden Sektoren der Volkswirtschaft" (19372, S.367). Darüber hinaus behandelte er 1928 in der Festgabe fur Georg von Schanz Die Gerechtigkeit in der Besteuerung. Dieser Aufsatz bedeutete ihm sehr viel und fand auch die Zustimmung Radbruchs, denn Mann habe darin ,,[d]en nur formalen Charakter der Gerechtigkeit ... an dem Beispiel der Steuergerechtigkeit anschaulich [gezeigt]" (Radbruch 1950, S. 127 Anm.). In einer gemeinsam mit Hans Carl Nipperdey verfaßten Kommentierung Steuergutscheine und Tariflockerung (1933) erläuterte er die 'Notverordnung des Reichspräsidenten zur Belebung der Wirtschaft vom 4. September 1932'. Es ging dabei um Fragen, die auch heute in neuer Form diskutiert werden: (1) die Stärkung der Betriebe durch fiskalische Entlastung, erleichterte Kreditbeschaffung und Tariflockerung bei Gefahrdung der Betriebe, (2) Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung und (3) die Sicherung der öffentlichen Haushalte und die Aufrechterhaltung der Sozialversicherung. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung konnte Mann aufgrund des sog. 'Frontkämpferprivilegs' nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zunächst in seinem Amt verbleiben. Mit der Aufhebung dieses Privilegs im Jahr 1935 war jedoch auch er rassisch Verfolgter des NS-Regimes geworden. Wegen „Fortfall

des Lehrstuhls" - so lautete die Begründung wurde er kurzfristig zum 30.9.1935 von seinen amtlichen Verpflichtungen entbunden. Zum Ende des gleichen Jahres wurde Mann auch die Lehrbefugnis entzogen. In dieser Situation hat sich Mann, bedrängt von der Sorge um seine Familie, im September 1935 an den Academic Assistance Council in London gewandt und um Hilfe bei der Suche nach einer neuen, eventuell auch bloß vorübergehenden akademischen Tätigkeit gebeten. Die erhoffte Hilfe ist ihm - allerdings erst ein Jahr später aus den USA - zuteil geworden. Auf Vermittlung Edwin R.A. Seligmans und durch die Finanzierungshilfe der Rockefeller Foundation konnte Mann im Oktober 1936 mit seiner Familie in die USA emigrieren. Einige Monate vorher hatte er sich bei seinem zukünftigen „Dienstgeber", der American University in Washington, D.C., persönlich vorgestellt. Seine erste Begegnung mit der Neuen Welt hatte tiefe Eindrücke in ihm hinterlassen, worüber er auf der Heimreise am 24.6.1936 vom Schiff aus Seligman berichtete: „Die Eindrücke, die ich von meinem zweimonatigen Aufenthalt in Amerika mitnehme, sind über Erwarten groß. Jedenfalls aber scheint es mir, daß der Wissenschaftler - besonders auch der Nationalökonom - noch eine große Aufgabe in Ihrem Lande zu erfüllen hat. Ich war über die Aufgeschlossenheit gegenüber volkswirtschaftlichen Problemen nicht wenig erstaunt. Vielleicht haben die trüben Erfahrungen der langen Depressionsperiode hierzu beigetragen. Auch aus diesen Gründen reizt es mich ungemein, mit der neuen Arbeit zu beginnen". Mann stand bereits in seinem sechsten Lebensjahrzehnt, als er im Oktober 1936 in eine neue Kultur und in eine neue Sprachwelt eintrat. Der Anfang und das Eingewöhnen waren nicht leicht, galt es doch auch, sich im akademischen Unterricht auf die viel formlosere Weise des LehrerSchüler-Verhältnisses und damit auf neue Lehrmethoden umzustellen. Von 1936 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1956 arbeitete er als Professor of Economics an der American University in Washington, D.C., davon zwischen 1948 und 1954 als Chairman des Department of Economics and Business Administration, und 1945 gründete er The American University Institute on Federal Taxes, dessen Direktor er bis 1954 blieb. Darüber hinaus wurde Mann, der inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden war, in den Jahren 1943 und 1944 vom War Department als Sachver-

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Mann, Fritz Karl ständiger für Wirtschaftsfragen und vom Industrial College of the Armed Forces als Director of Research zur Mitarbeit herangezogen. Dabei kamen ihm auch seine Erfahrungen und die Einsichten aus der Kriegswirtschaft während des Ersten Weltkrieges zugute. Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat Mann die Verbindungen zu seinen Freunden in Deutschland und zu den deutschen Universitäten wieder aufgenommen, insbesondere zur Kölner Universität, an der er in den Sommersemestem in begrenztem Umfang als Gastprofessor noch Vorlesungen hielt. Seine Deutschlandbesuche verband er mit Erholungsaufenthalten sowie Begegnungen mit alten und neugewonnenen Freunden. Mann hat sich in den 23 Jahren, die ihm nach seiner 1956 erfolgten Emeritiening noch beschieden waren, weiterhin anspruchsvollen Aufgaben gewidmet. So gab er 1965 das Werk History of Economic Analysis seines Freundes -» Joseph A. Schumpeter in deutscher Sprache unter dem Titel Geschichte der ökonomischen Analyse heraus und veröffentlichte 1970 aus dessen NachlaB das Buch Das Wesen des Geldes. Daniber hinaus publizierte er zahlreiche eigene selbständige Schriften und Aufsätze, u.a. das Buch Finanztheorie und Finanzsoziologie (1959), in dessen Vorwort Mann ausdrücklich darauf hinweist, daß er auch nach seiner Übersiedlung in die USA die „finanzwissenschaftliche Arbeit in der früheren Linie fortgesetzt" habe. 1977 verfaßte er zur dritten Auflage des Handbuchs der Finanzwissenschaft den Abriß einer Geschichte der Finanzwissenschaft. Noch als 89jähriger hat Mann im August 1972 - zusammen mit Kenneth Ε. Boulding, -> Gottfried Haberler, Jan Tinbergen und anderen - an einem internationalen Symposium der Universität Augsburg über „Grants and Exchange" mit einem eigenen Beitrag Distribution and Redistribution in the Public Sector of the Economy teilgenommen. Sein letztes Buch, Der Sinn der Finanzwissenschaft (1978), kann als Überblick über sein Lebenswerk gelten. Mann wurde mit zwei Ehrendoktoraten ausgezeichnet: 1959 von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt am Main und 1967 von der (damaligen) Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen. Diese hat in ihrer Verleihungsurkunde in ihm den Forscher gewürdigt, „der in beispielhaften Monographien den Zusammenhang zwischen ökonomischer Dogmenge-

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schichte und allgemeiner Geistesgeschichte sichtbar gemacht hat, der als einer der ersten in zukunftweisenden Studien die enge Verknüpfung von Finanzpolitik und Wirtschaftspolitik analysiert hat, der die Finanztheorie durch die fruchtbare Anwendung soziologischer Fragestellungen und Erkenntnisse bereichert hat." Mann erhielt darüber hinaus das Große Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und war Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sowie Mitglied zahlreicher gelehrter Gesellschaften, wie z.B. des Hauptausschusses des Vereins fur Sozialpolitik (bis 1935), der Herder Gesellschaft in Riga und Correspondent de l'Institut International de Sociologie. Zur Rückkehr nach Deutschland hat er sich nicht entschließen können. Mann blieb Wanderer zwischen den beiden Welten Europa und Amerika. Er starb - geistig klar und rege bis zuletzt - 1979 in Washington, D.C. Schriften in Auswahl: (1906) Die Verpfändung eines Wechsels durch Einigung und Übergabe des indossierten Papiers. Ein Beitrag zur Theorie des Wechselaktes, Göttingen (iur. Diss.). (1913/14) Über den Standort der chemischen und der Farbenindustrie, in: Farbenzeitung, 19. Jg., S. 1609-1612. (1914) Der Marschall Vauban und die Volkswirtschaftlehre des Absolutismus. Eine Kritik des Merkantilsystems, München (Habil.). (1918) (1919)

(1926a)

(1926b)

Kriegswirtschaft in Rumänien, Bukarest/Leipzig. Das Geldproblem in der rumänischen Besatzungswirtschaft, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 14, S. 1-30. Ostdeutsche Wirtschaftsforschung, (= Schriften des Instituts für ostdeutsche Wirtschaft an der Universität Königsberg, H. 15), Jena. Wesen und allgemeiner Verlauf der Steuerüberwälzung, in: Boese, F. (Hrsg.): Krisis der Weltwirtschaft. Überbevölkerung Westeuropas. Steuerüberwälzung (= Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 172), S. 275-300.

Maresch, Elisabeth (1928)

(1929) (1930) (1933) (1937)

(1959) (1977)

(1978)

Die Gerechtigkeit in der Besteuerung, in: Beiträge zur Finanzwissenschaft, Bd. 2, S. 112-140. Deutsche Finanzwirtschaft, Jena. Die Staatswirtschaft unserer Zeit. Eine Einführung, Jena. Steuergutscheine und Tariflockerung (zus. mit. H.C. Nipperdey), Berlin. Steuerpolitische Ideale. Vergleichende Studien zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung 1600-1935, Jena; Neuauflage, Stuttgart/New York 1978. Finanztheorie und Finanzsoziologie, Göttingen. Abriß einer Geschichte der Finanzwissenschaft, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 1, S. 77-98. Der Sinn der Finanzwissenschaft, Tübingen.

Bibliographie: Hansmeyer, K.-H., Mackscheidt, K. (1988): Fritz Karl Mann (1883 bis 1979), in: Henning, F.-W. (Hrsg.): Kölner Volkswirte und Sozialwissenschaftler, Köln/Wien, S. 15-38 (enth. Auswahlbibliographie). Kilian, M. (1993): Nebenhaushalte des Bundes, Berlin. Knill, Ch. (1980): Fritz Karl Mann f, in Finanzarchiv, N.F., Bd. 38, S. 1-3. Puhl, Th. (19%): Budgetflucht und Haushaltsverfassung, Tübingen. Radbruch, G. (1950): Rechtsphilosophie, 4. Aufl., Stuttgart. Schumpeter, J.A. (1965): Geschichte der ökonomischen Analyse. Nach dem Manuskript hrsg. von Elizabeth B. Schumpeter. Mit einem Vorwort von F.K. Mann, Göttingen. Schumpeter, J.A. (1970): Das Wesen des Geldes. Aus dem Nachlaß hrsg. und mit einer Einf. vers, von F.K. Mann, Göttingen. Quellen: Β Hb Π; SPSL 235/2; AEA; HLdWiWi 1966; ISL 1984; WA; E.C. 24; Rhb.d.Dt.Ges., Bd.2, 1931; NDB 16; Kölner Universitätsgeschichte, Bd. 2, 1988; Finanzwissenschaftliche Forschung und Lehre an der Universität zu Köln 1927-1967, Köln 1967; Golczewski, F. (1988): Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus, Köln; Bohnke-Kollwitz, J. (Hrsg.): Köln

und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959-1984, Köln; Göppinger, H. (1990): Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich", 2. Aufl., München; Loos, F. (Hrsg.) (1987): Rechtswissenschaft in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren, Göttingen; Auskünfte: Geheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz Berlin, Universitätsarchive Göttingen und Köln. Karl Weinhard

Maresch, Elisabeth, geb. 16.12.1914 in Wien Maresch emigrierte 1938 nach ihrer Promotion im Fachgebiet Wirtschaftsstatistik an der Universität Wien in die USA, wo sie ihre wissenschaftliche Tätigkeit nicht wieder aufnahm. Sie heiratete mit 33 Jahren und blieb im Anschluß daran als Hausfrau der Erwerbsarbeit fern. In ihrer Dissertation hat sie sich intensiv mit der Analyse der Beweggründe fur die Berufstätigkeit verheirateter Frauen auseinandergesetzt und sah in der Unverträglichkeit bestimmter Berufe mit Haushaltsverpflichtungen, vor allem infolge mangelnder Zeitflexibilität, dafür die entscheidenden Hindernisse. Maresch hat auf Anregung ihres Lehrers Wilhelm Winkler, in dessen Institut sie als Forschungsassistentin tätig war, ein bis dahin unbearbeitetes Thema, die Berufstätigkeit der verheirateten Frau, aufgegriffen und in ihrer Dissertation eine statistische Auswertung der Volkszählung 1934 über dieses Thema für Wien vorgenommen. Die Fragestellungen in der Dissertation sind geprägt von der Suche nach Erklärungen für die massiven Vertialtensänderungen der Gesellschaft, insbesondere des markanten Rückgangs der Fertilität, des Anstiegs der Arbeitslosigkeit der Männer und der steigenden Berufstätigkeit verheirateter Frauen im Gefolge der wirtschaftlichen Krise der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Maresch arbeitete den Integrationsgrad der Frauen ins Erwerbsleben im Lebenszyklus, unterschieden nach sozialem Status der Frau und des Ehepartners, heraus. Des weiteren untersuchte sie den Effekt der Berufstätigkeit der Frau auf die Fertilität, unterschieden nach sozialem Status und „haushaltsfreundlichen" sowie „haushaltsfeindlichen" Berufsgruppen. Dem Effekt der Arbeitslosigkeit des Ehepartners auf die Erwerbsbeteiligung der Frau ging sie ebenfalls nach.

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Mars, John Die Erwerbsbeteilung der verheirateten Frau war 1934, unabhängig von ihrer sozialen Stellung, in jungen Jahren am höchsten. Sie verringerte sich mit steigendem Alter, zunächst kontinuierlich, ab 35 Jahren abrupt. Die höchste Erwerbsquote hatten junge verheiratete Frauen (15-25jährige) ärmerer Schichten. In der Berufstätigkeit dieser Frauen sieht Maresch die finanzielle Voraussetzung für die Möglichkeit zu heiraten. Die Art der beruflichen Tätigkeit, ob haushaltsfem oder -nah, unterscheide sich deutlich nach dem Alter. Junge verheiratete Frauen hätten wesenüich häufiger als ältere Frauen Berufe, die schwer mit Kindererziehung und sonstigen Haushaltsverpflichtungen zu vereinbaren seien. Hierfür werden zwei Gründe angeführt: 1. haushaltsfeme Tätigkeiten sind mit gröBerem Gesundheitsrisiko und körperlicher Belastung verbunden, 2. für haushaltsfeme Berufe werden höhere Löhne gezahlt als für haushaltsnahe. Beide Faktoren seien fur einen früheren Abgang in die reine Hausfrauenarbeit verantwortlich. Frauen mit haushaltsnaher Berufstätigkeit blieben länger erwerbstätig als Frauen mit haushaltsfernen Berufen, da die Kombination von Erwerbsarbeit mit Haushaltsverpflichtungen leichter möglich sei. Ein kohortenspezifischer Effekt der Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen wird besonders hervorgehoben: die Frauengeneration, die während des Ersten Weltkriegs in den Arbeitsmarkt eintrat, hatte eher zu fur Frauen atypischen Berufen Zugang als Frauen früherer und späterer Generationen, da sie Männer am Arbeitsmarkt ersetzen muBten. Die Umschichtung der Frauenerwerbstätigkeit konnte in der Nachkriegszeit nicht zur Gänze rückgängig gemacht werden. Als Hauptursache für die Berufstätigkeit der verheirateten Frau wird ein zu geringes Einkommen des Mannes und/oder Arbeitslosigkeit des Mannes angeführt. Der in der modernen Arbeitsökonomie bekannte Zusatzarbeitereffekt wird von Maresch an Hand der Volkszählungsdaten 1934 für Wiener Haushalte nachgewiesen. Mehr als ein Drittel aller Ehefrauen zwischen 15 und 25 Jahren muBten ihren Mann und, wenn vorhanden, Kinder erhalten. Maresch entgegnet auf die damals übliche Vorstellung, da£ Frauen den Männern „ihre Arbeitsplätze wegnehmen" (S. 20), daB Männer und Frauen nicht dieselben Berufe und Tätigkeiten ausübten, nicht einmal im Bereich der Hilfsarbeitertätigkeit.

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Der einfache Konnex zwischen vermehrter Berufstätigkeit der Frau und geringerer Fertilität wird von Maresch widerlegt. Es gäbe zwei Kräfte mit entgegengesetzter Wirkungsweise: einerseits sei mit größerer Kinderzahl ein verstärktes Hausfrauendasein verbunden, andererseits erfordere eine gröBere Kinderzahl häufig die Berufstätigkeit der Frau, um das finanzielle Überleben der Familie sicherzustellen. Dieser Grad der Komplexität wird an Hand der sozialen Position des Berufs des Ehemannes nachgewiesen. Schriften in Auswahl: (1938) Ehefrau in Haushalt und Beruf. Eine statistische Darstellung für Wien auf Grund der Volkszählung vom 22. März 1934, Schriften des Institutes für Statistik insbesondere der Minderheitsvölker an der Universität Wien, hrsg. von W. Winkler, Wien. Quelle: SPSL 235/3. Gudrun Biffl

Mars, John (bis 1925 Hans Materschläger, Hans Mars), geb. 18.5.1898 in Unter-

dann

Siebenbrunn bei Wien, gest. 17.9.1985 in Baden bei Wien Mars studierte zunächst in Wien, danach in England an der Universität Bristol. Ab dem Wintersemester 1925/26 bis zum Sommersemester 1927 war er an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien eingeschrieben, wo er jedoch erst 1931 promovierte. Von 1926 an war Mars bei der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien beschäftigt, wo er u.a. als Referent für Arbeitswissenschaft und Betriebsrationalisierung tätig war. Diese Arbeit unterbrach er in den Jahren 1931 und 1932 für einen aus Rockefeller-Mitteln finanzierten Studienaufenthalt an der University of Chicago. Mars, der Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei war, verlor seine Stellung bei der Kammer einige Monate nach dem Ausbruch des österreichischen Bürgerkriegs im Juni 1934. Noch im selben Jahr emigrierte er nach Großbritannien. An britischen Universitäten konnte Mars in den ersten Jahren nach der Emigration keine gesicherte Position erreichen. Bis 1935 hatte er, wiederum finanziert von der Rockefeller-Foundation, eine Assistentenstelle an der University of Bir-

Mars, John mingham inne. Die Jahre zwischen 1937 und 1944 verbrachte Mars in Oxford - bis 1940 als Research Student am New College. 1941 lehrte er als Tutor in Economics and Statistics an verschiedenen Colleges, bevor er eine Stelle als Senior Lecturer am Nuffield College antreten konnte. 1946 erhielt er eine Position als Lecturer am Trinity College in Dublin, wechselte jedoch zwei Jahre später als Senior Lecturer an die Universität Leeds. Erst als Reader in Economics an der University of Manchester fand er von 1949 bis 1962 eine letzte, nunmehr längerfristige Anstellung im akademischen Bereich. Anfang 1962 kehrte Mars nach Österreich zurück und arbeitete noch bis 1970 für die Vereinten Nationen, u.a. als Regional Adviser in verschiedenen afrikanischen Staaten sowie als leitender Mitarbeiter des Instituts für Entwicklung und Planung in Afrika. Vor seiner Emigration befaBte sich Mars - aus einer gewerkschaftlichen Perspektive - mit sozialpolitischen Themen auf volks- und betriebswirtschaftlicher Ebene sowie mit Problemen der Arbeitsorganisation. 1930 publizierte er im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik einen ausführlichen Besprechungsaufsatz zu P.H. Douglas' Studie Wages and the Family. Darin diskutierte er den Entwurf eines amerikanischen Minimumlohnsystems, das in Abhängigkeit vom Familienstand des Arbeitnehmers und der Familiengröße variable Lohnzuschläge vorsah. Um allgemeine Lohnerhöhungen zu vermeiden, gleichzeitig jedoch das physische und kulturelle Existenzminimum zu sichern, sollten diejenigen Unternehmen, die höhere 'Familienlöhne' zahlen muBten, aus einem Belastungsausgleichsfonds, an dem alle Unternehmen beteiligt waren, kompensiert werden (vgl. 1930a, S. 182f.). Allerdings sah Mars in einem derartigen, allein von den Arbeitgebern verwalteten Ausgleichsfonds die Gefahr der Schwächung der Macht der Gewerkschaften und forderte daher eine zumindest paritätische Besetzung der Fonds mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern (vgl. 1930a, S. 185 und S. 188). In einem Vortrag über die Haltung der Gewerkschaften gegenüber Maßnahmen der einzelbetrieblichen Sozialpolitik (1930b) setzte sich Mars mit den Motiven der Arbeitgeber, betriebliche Sozialleistungen zu gewähren, auseinander. In diesem Zusammenhang analysierte er u.a. die Frage, ob die Arbeitnehmer über Kapital- und Gewinnbeteiligungen mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem 'ausgesöhnt' werden können und

ob diese Arbeitnehmerbeteiligungen für eine Ergänzung der Lohnpolitik geeignet wären. Femer stellte er die formalen und materiellen Elemente betrieblicher Sozialleistungen dar. Mars Schloß seinen Beitrag mit dem - auch im Hinblick auf die sog. 'Standortdiskussion' der 1990er Jahre aktuellen - Appell, „daß noch überall und jederzeit eine soziale Betriebspolitik dazu führte, daß Leistungen gesteigert und der vermeidbare Produktionsausfall ... verringert wurde. Diesen Erfolg zu erreichen, liegt im Interesse der Volkswirtschaft: der Arbeitnehmerschait und der Unternehmerschaft" (1930b, S. 132). Mit dem dreibändigen Werk Gewerkschaftliches Handbuch des Akkordwesens legte Mars 1931 die erste systematische, von gewerkschaftlicher Seite verfaßte Arbeit auf diesem Gebiet vor. Er versuchte mit dieser umfassenden Darstellung der ökonomischen und rechtlichen Aspekte des Akkordlohns, der Details der Normzeit- und der Verdienstberechnung sowie durch eine neue Begriffssystematik die Gewerkschaftsparole .Akkordlohn ist Mordlohn" (1931, S. 9) zu überwinden und zu objektivieren. Darüber hinaus formulierte er in den jeweiligen Kapiteln Vertragsbestimmungen vor, die den mit Fragen des Akkordwesens befaßten Arbeitnehmervertretem als Verhandlungsgrundlagen dienen konnten. In seinem Emigrationsland Großbritannien fand Mars keinen Anschluß an die dortige Gewerkschaftsbewegung. Er beschäftigte sich nun verstärkt mit konsumökonomischen Themenstellungen, jedoch litt seine publizistische Produktivität offensichtlich unter der Notwendigkeit, sich immer wieder in neue Aufgabengebiete einarbeiten zu müssen. In einem Aufsatz über Credit Costs and Redemption Practices in Hire Purchase (1956) befaßte er sich mit der zunehmenden Bedeutung der Ratenkredite beim Kauf langlebiger Konsumgüter. Er kritisierte die für die Konsumenten undurchsichtigen Geschäftspraktiken der Teilzahlungsbanken und empfahl als letztes Mittel gegen sittenwidrige Ratenkreditverträge Konsumentenstreiks (vgl. 1956, S. 241f.). Kurz vor seiner Versetzung in den Ruhestand kehrte Mars 1962 nach Österreich zurück und wandte sich einem neuen Arbeitsgebiet, der Entwicklungsländerforschung, zu. 1965 verfaßte er für die UN-Economic Commission for Africa einen Bericht über die ökonomischen Rahmenbedingungen der Industrialisierung in Israel. Zwei Jahre darauf legte er mit seinem Buch Afrikani-

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Marschak, Jacob sehe Wirtschaftsintegration (1967) eine Analyse über die Möglichkeiten zur Gestaltung einer 'neuen' Entwicklungspolitik in Afrika vor, die Uber eine rein ökonomische Perspektive hinausging und insbesondere den politischen Konstellationen während des 'Kalten Krieges' explizit Rechnung trug (vgl. 1967, S. 9). Zentrale Punkte des von ihm vorgeschlagenen .Aktionsprogramms", das in einigen Punkten als Vorläufer des 1980 veröffentlichten Berichts der von W. Brandt geleiteten Nord-Süd-Kommission gelten kann, bildeten (1) die Umgestaltung der Wirtschaftsstruktur im landwirtschaftlichen und im industriellen Sektor sowie der Ausbau der Infrastruktur, (2) die Umkehr des Prozesses der absoluten wie relativen Verarmung u.a. durch Maßnahmen der Einkommensumverteilung und verstärkte Entwicklungshilfeleistungen der Industriestaaten, (3) die Verringerung des Bevölkeiungswachstums als Grundlage für die Beseitigung der Arbeitslosigkeit sowie (4) die horizontale und vertikale Wirtschaftsintegration, d.h. den Ausbau der Handelsverflechtungen sowohl in Süd-Süd- als auch in Nord-Süd-Richtung. Infolge seines fortgeschrittenen Alters konnte Mars jedoch auf dem Gebiet der Entwicklungsökonomie nach dieser Publikation keine größere wissenschaftliche Wirkung mehr entfalten. Schriften in Auswahl: (1930a) Der Familienlohn, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 64, S. 179-189. (1930b) Von der negativen zur positiven Einstellung der freien Gewerkschaften gegenüber der sozialen Betriebspolitik, in: Briefs, G. (Hrsg.): Probleme der sozialen Betriebspolitik, Berlin, S. 90-132. (1931) Gewerkschaftliches Handbuch des Akkordwesens. 3 Bde., Wien. (1956) Credit Costs and Redemption Practices in Hire Purchase, in: Accounting Research, Bd. 7, S. 229-243. (1965) Α Report to the Executive Secretary on Investigations into the Economics and the Institutional Framework of Industrialization in Israel, Jerusalem (UN Economic Commission for Africa). (1967) Afrikanische Wirtschaftsintegration. Tatsachen und Perspektiven, Wien u.a.

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Bibliographie: Douglas, P.H. (1925): Wages and the Family, Chicago. Quellen: SPSL 235/4, 61/2; L. Hans Ulrich Eßlinger

Marschak, Jacob, geb. 23.7.1898

in Kiew,

gest. 27.7.1977 in Los Angeles Jacob (bis 1933 Jakob) Marschak wuchs in einer liberalen und stark kosmopolitischen Familie assimilierter Juden auf. Seine Eltern, der Juwelenhändler Israel Marschak und dessen Ehefrau Sophie Khailowsky, sympathisierten mit der ersten russischen Revolution von 1905. Da ihm als Juden die Aufnahme in das klassische Gymnasium verweigert wurde, absolvierte Marschak die Handelsoberschule in Kiew, wo er im Sommer 1915 das Abitur bestand. Unmittelbar danach begann er das Studium an der Hochschule fur Technik und Handel in Kiew, wo ihn Eugen Slutsky als Lehrer in Statistik am stärksten beeinflußte. Gleichzeitig wurde er in der revolutionären Umbruchsituation in Rußland Mitglied der sozialdemokratischen Partei sowie einer sozialistischen Studentengruppe und gewann auch Zugang zu den Arbeitern in der in Kiew konzentrierten Rüstungsindustrie. Als Aktivist in der linken Anti-Kriegsfraktion der Menschewisten wurde Marschak am 6. Dezember 1916 inhaftiert und erst knapp drei Monate später durch die vom neuen Justizminister Kerensky nach dem Sturz des Zaren im Zuge der Februarrevolution erlassene Amnestie aus dem Gefängnis entlassen. Schnell wurde er Sekretär des sozialdemokratischen Stadtkomitees von Kiew und auch in das ukrainische Parlament (Rada) gewählt. Die Offiziersschule, die er seit August 1917 besuchte, wurde nach der bolschewistischen Oktoberrevolution aufgelöst. Wegen einer Lungenerkrankung ging Marschak im Spätherbst „zur Erholung" in den nördlichen Kaukasus, eine Region, die sich schnell als besonders unruhig erweisen sollte. Als knapp Zwanzigjähriger avancierte Marschak hier von März bis Juli 1918 zum Arbeitsminister der kurzlebigen Terek-Sowjetrepublik. Marschaks Hauptaufgabe in dieser Regierung, die er später als „Pädokratie" (vgl. Koopmans 1978, S. X) bezeichnen sollte, war es, für die wenigen Industriearbeiter in der Region - wie in der Ölindustrie um Grosny - eine am deutschen Vorbild orientierte Sozialgesetzgebung vorzubereiten (vgl. ausfuhr-

Marschak, Jacob lieh 1971 und Hagemann 1997). Wegen des eskalierenden Bürgerkriegs wurde seine Position jedoch immer aussichtsloser. Im Herbst 1918 kehrte ein desillusionierter Marschak in das nicht weniger unruhige Kiew zurück, von wo er Anfang 1919 nach Berlin ging und dort direkt in die Spartakuskämpfe hineingeriet. Marschak emigrierte damit als erster einer größeren Gruppe junger russischer Ökonomen und engagierter Menschewisten aus der Sowjetunion nach Deutschland. Dun folgten u.a. -» Paul Baran, Georges Garvy, -> Nathan Leites, Wassily Leontief, -• Mark Mitnitzky und -» Wladimir Woytinsky. Mit letzterem verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Marschak begann sein wirtschaftswissenschaftliches Studium im Frühjahr 1919 an der Berliner Universität, an der ihm Ladislaus von Bortkiewicz die Bedeutung mathematischer und statistischer Methoden für die ökonomische Analyse vermittelte. Bereits nach einem Semester wechselte er an die Universität Heidelberg, wo er vor allem bei ->• Emil Lederer, Alfred Weber und Karl Jaspers eine umfassende sozialwissenschaftliche Ausbildung erhielt. Am 10. November 1922 promovierte Marschak bei Lederer und Weber mit der Dissertationsschrift Die Verkehrsgleichung (1924b) summa cum laude zum Dr. phil. Anschließend war er als Wiitschaftsjounalist tätig: von 1922-24 als freier Mitarbeiter bei der von Albert Halasi herausgegebenen Weltwirtschaftlichen Korrespondenz und verschiedenen gewerkschaftlichen Zeitschriften sowie von 1924-26 als Redakteur der liberalen Frankfurter Zeitung. Von 1926 bis 1928 war er als Referent in der Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Berlin tätig, ehe er fur zwei Jahre in die von -> Adolph Lowe aufgebaute Konjunkturforschungsabteilung des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel wechselte, wo er vor allem Industriestudien fur die Wiitschaftsenquete erstellte, die unter der Leitung von Bernhard Harms im Auftrag des Reichstags angefertigt wurde. Obwohl Marschak 1929 die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte, zerschlug sich der Plan an der Kieler Universität zu habilitieren, da viele Mitglieder der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Marschak als Juden und Sozialdemokraten ablehnten. Marschak ging daher zurück nach Heidelberg, wo er mit der in Kiel verfaßten Schrift Elastizität der Nachfrage Anfang 1930 an der Ruperto Carola

habilitierte und bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung als Privatdozent und Lehrbeauftragter tätig war. Am 20. April 1933 wurde Marschak gemäß dem erst kurz zuvor verabschiedeten 'Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' wegen seiner „nicht-arischen Abstammung" als Assistent des Instituts fur Sozial- und Staatswissenschaften entlassen. Zugleich kündigte das badische Kultusministerium den Lehrauftrag für den Privatdozenten Marschak, der bereits im März mit seinem noch gültigen Paß nach Wien ausgereist war. Nach kurzen akademischen Zwischenaufenthalten in Spanien und Holland nahm Marschak im Herbst 1933 die Einladung auf die Chichele Lectureship in Economics am All Souls College der Universität Oxford an, wo er 1935 auch zum Reader in Statistik ernannt wurde. Noch im selben Jahr wurde er erster Direktor des neugegründeten Oxford Institute of Statistics, das mit finanzieller Unterstützung der Rockefeller Foundation aufgebaut wurde, die vor allem Forschungseinrichtungen förderte, deren Schwerpunkt Probleme der Konjunkturforschung bildeten. Dieses Institut, dessen Leitung 1949 mit -» Frank Burchardt ein weiterer aus Deutschland emigrierter Ökonom übernehmen sollte, erlangte schnell eine hohe internationale Reputation im Bereich theoriegeleiteter empirischer Forschung in der Wirtschaftswissenschaft Mit Burchardt, den Emigranten -» Ernst F. Schumacher und -» Kurt Martin sowie den aus Polen bzw. Ungarn stammenden Michal Kalecki und Thomas Balogh stammten nicht weniger als fünf der sechs Autoren der 1944 erschienenen Studie The Economics of Full Employment vom europäischen Festland. Hierin schlug sich die Personalpolitik seines Gründungsdirektors Marschak nieder, der das britische Universitätssystem erstmals 1927 dank eines mehrmonatigen Reisestipendiums der Rockefeiler Foundation näher kennengelerat hatte und nach seiner Emigration zusammen mit Lowe zum wichtigsten Berater für den 1933 gegründeten Academic Assistance Council, die spätere Society for the Protection of Science and Learning, bei der Einschätzung der wissenschaftlichen Qualifikation emigrierter bzw. hilfesuchender Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler wurde. Oxford stellte für Marschak jedoch nur die erste größere Zwischenstation im zweiten Exil dar. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges befand sich Marschak, dem im Juni 1935 die deutsche Staatsbürgerschaft wieder aberkannt worden war, be-

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Marschak, Jacob reits seit Ende 1938 mit einem Rockefeller-Reisestipendium in den USA, die nun zu seiner endgültigen Heimat werden sollte und deren Staatsbürgerschaft er 1945 erhielt. Im Herbst 1939 nahm Marschak ein neuerliches Angebot von Alvin Johnson, dem Präsidenten der New School for Social Research, an und wurde Lehrstuhl-Nachfolger von Gerhard Colm an der Graduate Faculty, deren Giiindungsdekan und langjähriger Mentor Marschaks, Emil Lederer, kurz zuvor verstorben war. Im Gegensatz zu den meisten anderen emigrierten Wirtschafts- und Sozialwissenschafdern, die an der New School veiblieben, bildete diese für Marschak jedoch nur eine kurze Durchgangsstation. Im Januar 1943 nahm Marschak einen Ruf an die Universität Chicago an und wurde zugleich Direktor der Cowles Commission for Research in Economics, die unter der Leitung von Marschak (1943-48) sowie seines Stellvertreters und späteren Nachfolgers Tjalling Koopmans (1948-S4) vor allem mit ihren Forschungsarbeiten zur Modellierung simultaner Gleichungssysteme und zum wahrscheinlichkeitstheoretischen Ansatz in der Ökonometrie schnell internationales Renommee gewann (vgl. Christ 1994). Hierzu trugen maßgeblich auch die Arbeiten des Frisch-Schülers Trygve Haavelmo bei, der bereits an dem von Marschak in Verbindung mit dem National Bureau of Economic Research von 1940-42 in New York durchgeführten Seminar zur Ökonometrie und mathematischen Ökonomie teilgenommen hatte. Marschaks Rolle bei der Institutionalisierung eines neuen Forschungsgebietes und der Einfluß auf die Entwicklung der modernen Wirtschaftswissenschaft werden auch dadurch verdeutlicht, daß aus dem Kreise der bei der Cowles Commission zwischen 1943 und 1955 in Chicago tätigen Ökonomen und seinen Mitarbeitern mit Koopmans, Haavelmo, Kenneth Arrow, Gerard Debreu, Lawrence Klein, Harry Markowitz, Franco Modigliani und Herbert Simon bis heute nicht weniger als acht Wissenschaftler den Nobelpreis erhalten haben. Als James Tobin 1955 neuer Direktor wurde, wechselte Marschak mit vielen anderen Ökonomen der Cowles Commission, die nun zur Cowles Foundation wurde, von Chicago an die Yale University in New Haven, Connecticut. Von dort nahm er 1960 einen Ruf an die University of California in Los Angeles an, wo er über seine Emeritierung 1965 hinaus bis 1969 Direktor des Western Management Science Institute

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und bis zu seinem Tode Leiter eines interdisziplinären Colloquiums über Mathematik in den Verhaltenswissenschaften blieb. Nachdem Marschak im Anschluß an den Holocaust für viele Jahre nicht nach Deutschland zurückgekehrt war, akzeptierte er 1968 die Ehrendoktorwürde der Universität Bonn. Danach vertiefte sich auch die Aussöhnung mit seinem einstmals so geliebten Heidelberg, aus dem er im Frühjahr 1933 schmählich vertrieben worden war. Bereits 1956-57 hatte die Ruprecht-Karls-Universität den Wiedergutmachungsantrag ihres ehemaligen Privatdozenten aktiv unterstützt, u.a. durch Gutachten von -+ Alexander Rüstow und Alfred Weber. Der dritte Gutachter Jan Tinbergen, zusammen mit Ragnar Frisch 1969 der erste Nobelpreisträger in den Wirtschaftswissenschaften, wies in seinem Schreiben vom 30. Oktober 1956 darauf hin, daß eine „ganze Reihe erstklassiger Untersuchungen in englischer Sprache beweis[e], daß Marschak einer der fuhrenden Männer der Ökonometrie ist und schon 1933 war" (UCLA, Jacob Marschak Papers, Box 154). Die späte Anerkennung Marschaks durch die Heidelberger Universität kam auch darin zum Ausdruck, daß ihn die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät im Jahr des fünfzigjährigen Jubiläums seiner Doktorprüfung am 6. Juli 1972 die Ehrendoktorwürde verlieh. Marschaks Heidelberger Doktorarbeit über die Quantitätsgleichung oder 'Fishersche Verkehrsgleichung' (1924b) bringt bereits sein frühes und lebenslang andauerndes Interesse für Probleme und Motive der Geldhaltung, unter besonderer Berücksichtigung von Unsicherheit und der Bedeutung von Informationen für das wirtschaftliche Verhalten, zum Ausdruck. Charakteristisch für Marschak ist auch die zugrundeliegende Idee, daß die Geldnachfrage besser verstanden werden kann, wenn man sie in eine allgemeine Theorie der verbundenen Nachfrage nach verschiedenen Aktiva einbettet. Sein in England entstandener Aufsatz über die Geldnachfrage als ein Element der Vermögenshaltung von Individuen (1938) sowie sein späterer Aufsatz über die Geldhaltung bei vollständiger und unvollständiger Information (1949) sind bedeutsame frühe Beiträge in der Entwicklung der modernen Geldtheorie. Marschaks erste wissenschaftliche Veröffentlichung, die bereits zu den „papers with the greatest permanent interest" (Arrow 1978, S. 502) zu rechnen ist, war der Aufsatz Wirtschaftsrechnung und

Marsehak, Jacob Gemeinwirtschaft (1924a), in dem er sich mit der von -» Ludwig von Mises kurz zuvor aufgestellten These von der Unmöglichkeit sozialistischer Wirtschaftsrechnung auseinandersetzte. Marschak, der in der Weimarer Zeit an seinen sozialistischen Überzeugungen festhielt, fühlte sich durch Mises' SchluBfolgenuig, daß das Problem der Wirtschaftsrechnung „Beweis" dafür sei, daS der Sozialismus undurchführbar ist, herausgefordert. Er hielt der Misesschen These, daß es ohne freien Markt keine Preisbildung und ohne freie Preisbildung keine Wirtschaftsrechnung gebe, zunächst das empirische Argument entgegen, daß die Voraussetzungen der freien Konkurrenz immer weniger erfüllt seien und eine an die freie Konkurrenz anknüpfende Wirtschaftlichkeitsrechnung daher in Frage gestellt sei. Vielmehr zeige die zunehmende Bildung von Kartellen und Konzemen, daß die Vorteile der monopolistischen Wirtschaftsrechnung gerade auf den beiden Gebieten liegen, „die durch Mises' Skepsis besonders betroffen werden: auf dem Gebiete der Wirtschaftsrechnung für Güter höherer Ordnung und auf dem Gebiete der Dynamik" (1924a, S. 514). Der von Mises gepriesene Vorzug „exakter" Preisbildung auf dem freien Markt verliere gerade mit Blick auf diese beiden Ebenen an Relevanz. Zusammen mit Emil Lederer publizierte Marschak 1926 eine umfangreiche Studie Uber die Klassen und Organisationen - auf dem Arbeitsmarkt, die eine pointierte Analyse des 'neuen Mittelstandes', der Angestellten und Beamten, enthielt, deren starke Zunahme durch den Ersten Weltkrieg beschleunigt worden war (1926). Marschak und Lederer hoben vor allem den gemeinsamen Aspekt der unselbständigen Beschäftigung dieses neuen Mittelstandes mit den Arbeitern und damit die Herausbildung einer einheitlichen Arbeitnehmerschaft hervor. Durch den Zusammenbrach am Ende des Ersten Weltkrieges sowie die anschließende Inflationsperiode seien die noch vorhandenen ökonomischen Differenzen weitgehend eingeebnet und dadurch auch Hemmungen bei den Angestellten zur gewerkschaftlichen Organisierung abgebaut worden. Die Entwicklung laufe daher auf den zentralen Gegensatz Arbeitnehmer - Arbeitgeber hinaus. Die Heidelberger Prägung einer umfassenden sozialwissenschaftlichen Ausbildung wird auch in seiner Faschismusanalyse (1924c) deutlich, die Marschak im Gefolge eines längeren Italien-Aufenthaltes publizierte. Im Gegensatz dazu handelt

es sich bei seinen theoretischen und statistischen Studien zur Nachfrageanalyse, die er mit der Habilitationsschrift begann und später im britischen Exil fortsetzte, um eine im engeren Sinne ökonomische Analyse. So ermittelt Marschak in Elastizität der Nachfrage (1931a) Marktnachfragekurven für einzelne Konsumgüter, indem er haushaltsstatistische Daten auswertet. Zugleich diskutiert der Verfasser nicht nur bestimmte statistische Verfahren, sondern gibt eine innovative und systematische Darstellung der mit der empirischen Marktanalyse verbundenen Probleme. Zusammen mit Frisch und Leontief mufi Marschak als ein früher Pionier auf dem Gebiet der Nachfrageanalyse angesehen werden, bevor Richard Stone seine bahnbrechenden Studien vornahm. Gleichwohl sind Verteilungsfragen und ihr Zusammenhang mit der Beschäftigungsentwicklung als der Themenbereich anzusehen, der in der Spätphase der Weimarer Republik für Marschak zentrale Bedeutung erlangte. Dies wird nicht nur aus seiner Antrittsvorlesung Zur Theorie und Politik der Verteilung deutlich, die Marschak am 22. Februar 1930 an der Heidelberger Universität hielt (1930b), sondern auch aus den zahlreichen Beiträgen, mit denen sich Marschak in die Lohn-Beschäftigungs-Debatte einschaltete, die Mitte der zwanziger Jahre begann und sich nach Einsetzen der Weltwirtschaftskrise und dem Amtsantritt Brünings als Reichskanzler dramatisch zuspitzte. So lieferte er sich u.a. einen Disput mit -» Hans Neisser über die Gültigkeit des Kaufkraftarguments in der Lohnpolitik (1930a). Als bedeutendster Beitrag in diesem Zusammenhang mufi sein Essay Die Lohndiskussion (1930b) angesehen werden. Marschak betont darin die Kostendegression in der Produktion von Massenkonsumgütern als Folge von Reallohnerhöhungen. Dieses „Gesetz stark sinkender Kosten bei Ausweitung der Produktion" (1930b, S. 26) habe zwei Komponenten, die es auseinanderzuhalten gelte: eine kurzfristige Kostendegression, die auf eine verbesserte Auslastung bestehender Produktionskapazitäten zurückzuführen sei, und eine langfristige Kostendegression, die daraus resultiere, daß bestimmte technische und organisatorische Verbesserangen - gerade in Industrien mit einem hohen Fixkostenanteil - erst bei Überschreitung bestimmter Absatzschwellen rentabel und realisiert werden. Marschak sieht diese langfristige Kostendegression als entscheidend an, da die aus der erhöhten Auslastung vorhandener Produktionskapazitäten re-

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Marsehak, Jacob sultierende kurzfristige Kostenersparnis sich auf die fixen Kosten beschränke und zwar den Fixkostenanteil pro Outputeinheit verringere, wegen der Existenz von mit der Produktionsausdehnung verbundenen zusätzlichen Kosten aber nicht ausreiche, um die höheren Löhne zu kompensieren. Sein Verständnis unausgeschöpfter Reserven und Erspamismöglichkeiten ist folglich genuin dynamischer Natur. Es zahlen nicht nur die brachliegenden Kapazitäten, sondern auch die infolge Absatzmangels brachliegenden neuen Produktionsmethoden, wobei in seinen Ausführungen Skalenkomponente und Fortschrittskomponente untrennbar miteinander verknüpft sind. Im Dezember 1931 publizierte Marschak 16 Thesen zur Krisenpolitik, in denen er international koordinierte Arbeitsbeschaffungsprogramme befürwortete, die mittels Kreditausweitung finanziert werden sollten. Seine Thesen waren zuvor als eine Art Memorandum unter den Gegnern der Brüningschen Deflationspolitik zirkuliert und in enger Zusammenarbeit mit Woytinsky entwickelt worden, der in dieser Zeit mit dem Gewerkschaftsführer Fritz Tamow sowie dem Ökonomen und sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Fritz Baade ein vieldiskutiertes Aibeitsbeschaffungsprogramm - den WTB-Plan - verfaßte, das am 13. April 1932 vom Kongreß der freien Gewerkschaften angenommen wurde. Bei aller Kritik Marschaks am übertriebenen „Deckungswahn" und den daraus resultierenden negativen Konsequenzen für Konjunktur und Beschäftigung sollte jedoch nicht übersehen werden, daß er die Grenzen der Kreditausweitung von vornherein betonte und durchgängig präzisierte, um Fehlentwicklungen zu verhindern. So dürfe eine deutsche Kreditausweitung nur ohne Preissteigerung erfolgen, um die Zahlungsbilanz nicht zu gefährden (These 2), was am ehesten durch eine schnelle Verbesserung des Auslastungsgrades vorhandener Produktionskapazitäten ermöglicht würde. Die erhöhte öffentliche Kreditaufnahme müsse jedoch nach eingetretener Steigerung des privaten Vertrauens unmittelbar eingestellt bzw. zurückgeführt werden. Bekanntermaßen fielen diese und andere Empfehlungen für eine „produktive Kreditschöpfung" nicht rechtzeitig auf einen fruchtbaren politischen Boden. Zwar behielt Marschak auch nach der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland seine verteilungs- und beschäftigungstheoretischen wie -politischen Interessen bei, wie es u.a. sein aus-

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führlicher Lohnbeitrag für die Encyclopedia of the Social Sciences (1935) oder sein durch die nachfolgende keynesianische Revolution geprägtes Lehrbuch Income, Employment, and the Price Level (1951) verdeutlichen, jedoch ist beim Studium seiner späteren Schriften unübersehbar, daß die zweite Emigration bei Marschak als ein Schock gewirkt hat, der zu einem Rückzug ins RadikalWissenschaftliche und zum Versuch geführt hat, das Postulat der Wertfreiheit in seinen weiteren wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschungen zu realisieren. Dies verdeutlichen beispielhaft der gemeinsam mit Andrews verfaßte Aufsatz über die statistische Schätzung simultaner Gleichungssysteme (1944), der für die nachfolgenden Studien der Cowles Commission eine große Bedeutung besaß, sowie der 1950 erschienene bahnbrechende Aufsatz Rational Behavior, Uncertain Prospects, Measurable Utility, der die Konsequenzen der modernen axiomatischen Begründung des Nutzens für zahlreiche Wissenschaften aufzeigte und bis heute von fuhrenden Ökonomen hochgepriesen wird, wie es z.B. in Samuelsons Äußerung zum Ausdruck kommt: „For my money Marschak's axioms on expected utility are the definitive ones, preferable to those of von Neumann and of Ramsey - no mean accomplishment" (Samuelson 1988, S. 323). Marschaks Werk konzentrierte sich in den letzten drei Lebensjahrzehnten weitgehend auf die mathematische Analyse der Informations-, Wahlund Entscheidungsprozesse. Stimuliert durch neuere Entwicklungen wie die Spieltheorie wandte er sich bei der Analyse von Entscheidungsprozessen unter Unsicherheit nach Abgabe seines CowlesDirektorats zunächst wieder dem Thema der Geldnachfrage zu, bevor er eine systematische Theorie über den ökonomischen Wert von Informationen und des Verhaltens unter Unsicherheit entwickelte, die wichtige Entwicklungen der Lerntheorie und Psychologie aufgriff und den Themenbereich traditioneller Wirtschaftswissenschaft klar transzendierte. Im wesentlichen lassen sich drei Themenbereiche in Marschaks Spätwerk unterscheiden (vgl. Radner 1984): - Aufbauend auf der Theorie rationaler ökonomischer Wahlhandlungen bzw. der Nutzentheorie und bestimmter psychologischer Meßtheorien entwickelte Marschak einen theoretischen Rahmen zur Analyse annähernd rationaler Entscheidungen wirtschaftlicher Akteure, deren Verhaltenskonsistenz nicht durch empirische Beobachtungen

Marschak, Jacob verifiziert werden kann, da der wissenschaftliche Beobachter nicht in der Lage ist, alle relevanten Entscheidungsfaktoren zu identifizieren. Marschaks in einer Vielzahl von Aufsätzen entwikkelte stochastische Entscheidungstheorie (vgl. 1974, Bd. I) lieferte ein theoretisches Modell für ökonometrische Studien individueller Wahlhandlungen. - Entscheidende Elemente im Entscheidungsprozeß sind Informationen und die Kommunikation zwischen den individuellen Akteuren. Marschaks theoretische Analysen (1974, Bd. Π) zum Wert und zu den Kosten von Informationen wiesen auf die Bedeutung größeren empirischen Wissens bezüglich des Sammeins und der Vermittlung von Informationen hin und haben wegen ihrer synthetischen Zielsetzung die (von ihm selbst nicht durchgeführte) empirische Arbeit in einer Reihe von Fachdisziplinen bis heute befruchtet. - Der relative Wert alternativer Informationsstrukturen und die Frage nach den optimalen Entscheidungsfunktionen bei gegebener Informationsstruktur sind zugleich entscheidende Elemente in der von Marschak später in enger Zusammenarbeit mit Radner entwickelten ökonomischen Theorie von Teams und Organisationen (1972). Ein „Team" ist eine Organisation, deren Mitglieder dieselben Präferenzen und Überzeugungen, aber unterschiedliche Informationen haben und verschiedene Maßnahmen treffen. Das Problem besteht in der Wahl optimaler Entscheidungsregeln, die für jedes Teammitglied seinen Aktionsbereich als Funktion des Informationsstandes bestimmen. Marschak knüpfte mit diesem Ansatz, der die Bedeutung und Problematik dezentralisierter Informationen - und von Anreizsystemen für die Teammitglieder - hervorhob, in seinem Spätwerk wieder an die bereits in seinem ersten wissenschaftlichen Artikel zur sozialistischen Wirtschaftsrechnungsdebatte behandelte Thematik an. Seine Teamtheorie kann als grandiose Interpretation des wirtschaftlichen Koordinationsproblems angesehen werden, das nicht nur für die Funktionsfähigkeit sozialistischer, sondern auch kapitalistischer Systeme relevant ist und zugleich der von -» Friedrich August Hayek betonten Dispersion des Wissens voll Rechnung trägt. Marschaks herausragende wissenschaftliche Leistungen führten zu zahlreichen Ehrungen. So wählte ihn die Econometric Society 1944-45 zum Vizepräsidenten, 1946 zum Präsidenten und 1965-70 zum Council Member. Marschak wurde

1962 Fellow der American Academy of Arts and Sciences, 1963 Honorary Fellow der Royal Statistical Society und 1972 Mitglied der National Academy of Sciences. Er erhielt zahlreiche Gastprofessuren und Ehrendoktorate in den USA, Europa und Israel. Die American Economic Association kürte ihn 1967 zum Distinguished Fellow und 1976-77 zum President Elect, dessen Aufgabe es ist, das Programm der nachfolgenden Jahrestagung vorzubereiten, bei der der Amtsantritt erfolgt. Kurz zuvor erlitt Marschak einen Herzinfarkt, der eines der ungewöhnlichsten Forscherleben eines Wirtschaftswissenschaftlers in diesem Jahrhundert beendete. Schriften in Auswahl: (1924a) Wirtschaftsrechnung und Gemeinwirtschaft. Zur Mises'schen These von der Unmöglichkeit sozialistischer Wirtschaftsrechnung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 51, S. 501-520. (1924b) Die Verkehrsgleichung, in: Archiv für SozialWissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 52, S. 344-384. (1924c) Der korporative und der hierarchische Gedanke im Fascismus I + Π, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Bd. 52, S. 695-728 und Bd. 53, S. 81-140. (1926) Die Klassen auf dem Arbeitsmarkt und ihre Organisationen (zus. mit Emil Lederer), in: Grundriss der Sozialökonomik, Bd. IX, T. 2, Tubingen, S. 106-258. (1930a) Das Kaufkraft-Argument in der Lohnpolitik, in: Magazin der Wirtschaft, S. 1443-1447. (1930b) Die Lohndiskussion, Tübingen. (1930c) Zur Politik und Theorie der Verteilung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 64, S. 115. (1931a) Einige Thesen zur Krisenpolitik, in: Wirtschaftsdienst, Bd. 16, H. 51, S. 2041-2042. (1931 b) Elastizität der Nachfrage, Tübingen. (1935) Wages: Theory and Policy, in: Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 15, New York, S. 291-302. (1938) Money and the Theory of Assets, in: Econometrica, Bd. 6, S. 311-325.

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Marsehak, Thomas A. (1944)

Random Simultaneous Equations and the Theory of Production, in: Econometrica, Bd. 12, S. 143-205 (mit W.H. Andrews).

(1949)

Role of Liquidity under Complete and Incomplete Information, in: American Economic Review, Bd. 39, S. 182-195.

(1950)

Rational Behavior, Uncertain Prospects, Measurable Utility, in: Econometrica, Bd. 18, S. 111-141.

(1951)

Income, Employment, and the Price Level, New York.

(1971)

Recollections of Kiew and the Northern Caucasus, 1917-18. An Interview conducted by Richard A. Pierce, University of California, Regional Oral History Office, Bancroft Library, Berkeley, CA. Economic Theory of Teams (zus. mit Roy Radner), New Haven. Economic Information, Decision, and Prediction. Selected Essays, 3 Bde., Dordrecht/ Boston.

(1972) (1974)

Bibliographie: Arrow, K.J. (1978): Jacob Marschak's Contributions to the Economics of Decision and Information, in: American Economic Review, Bd. 68 (2), Papers and Proceedings, S. XII-XIV. Arrow, K.J. (1979): Jacob Marschak, in: Sills, D. L. (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 18: Biographical Supplement, New York/ London, S. 500-507. Burchardt, F. u.a. (1944): The Economics of Full Employment, Oxford. Christ, C.F. (1994): The Cowles Commission's Contributions to Econometrics at Chicago, 19391955, in: Journal of Economic Literature, Bd. 32, S. 30-59. Hagemann, Η. (1997): Jacob Marschak (18981977), in: R. Blomert, H.U. Eßlinger, Ν. Giovannini (Hrsg.): Heidelberger Sozial- und Staatswissenschaften. Das InSoSta zwischen 1918 und 1958, Marburg, S. 219-254. Koopmans, T. (1978): Jacob Marschak, 18981977, in: American Economic Review, Bd. 68 (2), Papers and Proceedings, S. IX-XI. Krohn, C.-D. (1993): Jacob Marschak, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 16, Berlin, S. 251-252.

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McGuire, C.BVRadner, R. (Hrsg.) (1972): Decision and Organization. Α Volume in Honour of Jacob Marschak, Amsterdam/London (enthält Bibliographie). Mussgnug, D. (1988): Die vertriebenen Heidelberger Dozenten. Zur Geschichte der RuprechtKarls-Universität nach 1933, Heidelberg. Radner, R. (1984): On Marschak, in: Spiegel, H. WVSamuels, W. J. (Hrsg.): Contemporary Economists in Perspective, Greenwich, CT/London, S. 443-460. Samuelson, P.A. (1988): The Passing of the Guard in Economics, in: Eastern Economic Journal, Bd. 14, S. 319-329. Quellen: Β Hb Π; SPSL 235/5; NP; Archivalien, Special Collections Department, University Research Library, University of California in Los Angeles (UCLA), Collection 1275 (Jacob Marschak Papers) und Universitätsarchiv Heidelberg (UAH), Personalakte 3099/Marschak. Harald Hagemann

Marschak, Thomas Α., geb. 31.5.1930 Heidelberg; Sohn von dessen Frau Marianne

in Jacob Marschak und

Marschak war drei Jahre alt, als er im Frühjahr 1933 zusammen mit seinen Eltern über Österreich zuerst nach Frankreich und schließlich im Herbst desselben Jahres nach Großbritannien emigrierte. 1939 verließ die Familie Europa und siedelte in die Vereinigten Staaten über, wo Marschaks Vater in New York eine Professur an der New School for Social Research erhielt. Seinen ersten akademischen Titel erwarb Marschak mit dem Bachelor of Arts 1947 an der Universität von Chicago. Fünf Jahre später Schloß er an der Stanford Universität, wo er 1957 auch promovierte, mit dem Master of Arts ab. Zuvor war er schon seit 1954 als Ökonom bei der RAND Corporation tätig, für die er seit Antritt einer Stelle als Assistenzprofessor an der University of California in Berkeley im Jahr 1960 als Berater fungiert. 1962 wurde er vom dortigen Department of Business Administration zum Associate Professor und 1967 schließlich zum Professor ernannt. Aktuell ist er an der Haas School of Business der UCLA in Berkeley tätig. Marschak war 1962 bis 1963 Research Fellow der Ford Foundation und 1965 bis 1966 Guggenheim Fellow. Zur selben Zeit erhielt er den FulbrightHayes Research Grant.

Marschak, Thomas A. Marschaks wissenschaftliches Werk befaBt sich im wesentlichen mit zwei Themengebieten, deren Auswahl sicherlich auch einen EinfluB der Arbeiten seines Vaters Jacob Marschak widerspiegeln. Zum einen stehen in seinen Veröffentlichungen Fragen der Gestaltung effizienter Organisationen, zum anderen entscheidungstheoretische Aspekte im Vordergrund. Die Grundlagen für diese Ausrichtung wurden in seiner von Kenneth Arrow und Hendrik Houthakker betreuten Dissertationsschrift mit dem Titel Centralization and Decentralization in Economic Organizations gelegt, von der 1959 eine kürzere Fassung unter demselben Titel in Econometrica veröffentlicht wurde. Ausgehend von der Debatte über die Vor- und Nachteile zentraler bzw. dezentraler Planungssysteme innerhalb einer sozialistischen Volkswirtschaft untersuchte Marschak die Frage, welche Planungs- und damit Entscheidungssysteme für ökonomische Organisationen (z.B. Unternehmen) sinnvoll sind. Zu diesem Zweck entwickelte er Definitionen für zentrale, dezentrale und nicht-beschränkte Schemata zur Entscheidungsfindung, die sich vor allem hinsichtlich der Informationsbeziehungen zwischen den Akteuren unterscheiden. Daniber hinaus wurden mögliche Kriterien zur Beurteilung der Effizienz der verschiedenen Vorgehensweisen entworfen und analysiert. Während innerhalb der sozialistischen Wirtschaftsrechnungsdebatte mehrheitlich die dezentrale Lösung bevorzugt wurde, verdeutlichte Marschak, daß eine eindeutige Aussage hinsichtlich der Überlegenheit des einen oder anderen Entscheidungssystems nicht ohne weiteres möglich ist. Das sich einstellende Ergebnis hängt u.a. auch davon ab, welche Kenntnisse eine Organisation über ihre Zukunft hat und welche Zeit ein Entscheidungsprozeß in Anspruch nehmen darf und kann. Marschaks Überlegungen haben auch in die Diskussionen Uber die Vorteile der Marktwirtschaft gegenüber der Zentralverwaltungswirtschaft Eingang gefunden. In seinem 1969 in der American Economic Review veröffentlichten Aufsatz On the Comparison of Centralized and Decentralized Economies unterscheidet er zwischen zwei Gruppen von Ökonomen, die sich dem Vergleich zwischen den Wirtschaftssystemen widmen. Während ein Teil der Wissenschaftler, zu dem er selbst gehört, anhand von abstrakten Modellen Beurteilungskriterien entwickelt, untersucht der andere Teil zur Klärung dieser Frage real existierende Volkswirtschaften mit Hilfe von statistisch-öko-

nometrischen Methoden. Beide Vorgehensweisen haben zwar Erkenntnisse gebracht, doch kann Marschak zufolge nur eine Kombination beider Analysemethoden die Forschung über Wirtschaftssysteme entscheidend voranbringen. Der Erfolg eines Entscheidungsfindungsverfahrens in einer Organisation ist in großem Maße von den verfügbaren Informationen abhängig. Unter der Annahme vollständiger Information werden sich andere Planungs- und Entscheidungsprozesse anbieten als bei unvollständiger Information. Hieraus läßt sich der Inhalt eines weiteren Teils der Arbeiten Marschaks erklären, der sich mit den Konsequenzen unterschiedlicher Infonnationsniveaus fur ökonomisches Verhalten auseinandersetzt. In dem zusammen mit Richard Nelson verfallen Aufsatz Flexibility, Uncertainty, and Economic Theory (1962) untersucht Marschak die These, daß in einer unsicheren Welt Flexibilität prinzipiell von Vorteil ist Es zeigt sich, daß flexibles Reagieren vor allem dann von Vorteil ist, wenn sich erwarten läßt, daß zwischen zwei Zeitpunkten, in denen Entscheidungen neu überdacht werden, eine große Menge an neuen Informationen verfügbar wird. Je mehr man lernen und damit die Unsicherheit Uber die Umwelt reduzieren kann, desto mehr Ertrag bringt flexibles Verhalten. Informationsbeschränkungen spielen auch in mehreren gemeinsamen Arbeiten mit Reinhard Selten eine entscheidende Rolle. So analysieren beide Autoren z.B. in General Equilibrium with Price-Making Firms (1974) alternative Gleichgewichtslösungen im Monopol und Oligopol unter Verwendung des von ihnen entwickelten Konvolutionskonzepts, das z.B. die Reaktionen von oligopolistischen Unternehmern auf Handlungen ihrer Mitanbieter abbildet. Die jüngeren Veröffentlichungen Marschaks befassen sich ebenfalls mit der Rolle von Informationen in ökonomischen Systemen. Ein Weg zum Abbau von Informationsdefiziten wird durch die Kommunikation mit anderen Individuen und Organisationen eröffnet. Durch die aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologien hat sich die Struktur und Qualität von Kommunikationsprozessen verändert. Sowohl innerhalb als auch außerhalb von Unternehmen gewinnen Netzwerke an Bedeutung. In dem zusammen mit Stefan Reichelstein verfaßten Aufsatz Network Mechanisms, Informational Efficiency, and Hierarchies (1998) konzentriert sich Marschak auf diesen Aspekt. Es werden

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Martin, Kurt die Konsequenzen von Untemehmenshierarchien für die Entwicklung der Kommunikationskosten und damit für die Effizienz von Kommunikationssystemen untersucht. Marschaks Beitrag zur ökonomischen Theorie ist vor allem in seinen theoretischen Arbeiten zu finden, in denen Definitionen entwickelt werden, die die Basis fur eine gemeinsame Sprache und damit für ein besseres Verständnis bilden. Darüber hinaus werden Kriterien entwickelt, die Vergleiche zwischen verschiedenen Handlungsalternativen erleichtern. Sie tragen somit letztendlich zur Verbesserung des eigentlichen Untersuchungsgegenstandes, nämlich den Entscheidungen bei.

Schriften in Auswahl·. (1957)

(1959)

(1962)

(1969)

(1974)

(1987)

(1998)

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Quellen: AEA; Β Hb I. Stephan Seiter

426

Martin, Kurt (bis 1947: Kurt Mandelbaum), geb. 13.11.1904 in Schweinfurt, gest. 28.9.1995 in London Mandelbaum zählt zusammen mit -> Paul N. Rosenstein-Rodan und Hans W. Singer zu jenen Pionieren auf dem Gebiet der Entwicklungsökonomie, die als Vertriebene des Nationalsozialismus aus der Kombination der kontinentaleuropäischen Tradition der Wirtschaftswissenschaften mit der Emigrationserfahrung entscheidende Impulse für ihre bahnbrechenden Forschungsarbeiten erhielten. Dennoch wurde Martin, im Gegensatz zu den letztgenannten, nicht mit einem Beitrag in den beiden im Auftrag der Weltbank publizierten Bänden Pioneers in Development (Meier/Seers 1984 und 1987) gewürdigt, und selbst in dogmenhistorisch orientierten Lehrbüchern zur Entwicklungsökonomik fehlt weitgehend der Hinweis auf Mandelbaums Beitrag zur Entstehung dieses Fachgebiets. Die Ursache hierfür ist einerseits im spezifischen Charakter des Mandelbaumschen Werkes zu finden, das wesentliche Einflüsse der Marxschen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie verdankt, andererseits in Martins ausgeprägter selbstkritischer intellektueller Bescheidenheit. Der Sohn eines bei Arbeiterfamilien äußerst beliebten jüdischen Arztes war von seiner frühen Jugend an politisch aktiv. Bereits im Alter von 14 Jahren beteiligte er sich als Kurier auf der Seite der Aufständischen an der nach Münchner Vorbild errichteten, jedoch kurzlebigen Schweinfurter „Räterepublik". Unmittelbar nach der Aufnahme seines Studiums in München, wohin er von der Universität Würzburg gewechselt war, trat Mandelbaum 1922 der Kommunistischen Partei bei. Vor dem Hitlerputsch gewarnt, floh er am 8. November 1923 nach Berlin und setzte dort sein Studium bei Werner Sombart und Ladislaus v. Bortkiewicz fort. Dessen Auseinandersetzung mit dem Marxschen Transformationsproblem weckte Mandelbaums Interesse an der Marxschen Wirtschaftstheorie. Marxistische Einflüsse erhielt er darüber hinaus von dem damals in Berlin lebenden führenden Mitglied der Dritten Internationale Eugen Varga, der Mandelbaums wirtschaftspolitische Beiträge für die Rote Fahne redigierte. Wichtiger noch wurde für Mandelbaums weitere intellektuelle Karriere der freundschaftliche Kontakt zu Karl Korsch, der ihn an das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) empfahl. Unter der Betreuung des Institutsdirektors -» Carl Grünberg

Martin, Kurl Schloß Mandelbaum 1926 als einer der ersten Doktoranden des Instituts sein Studium mit der Dissertationsschrift zum Thema Die Erörterungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie über das Problem des Imperialismus (1895-1914) ab und wurde anschließend Assistent des stellvertretenden Institutsdirektors -» Friedrich Pollock. Wie dieser arbeitete er nun zu den frühen Versuchen der Wirtschaftsplanung und den Industrialisierungsdebatten in der Sowjetunion. Eine wichtige und direkte Informationsquelle bildeten dabei die Kontakte des IfS mit dem Marx-Engels-Institut in Moskau, die durch zusätzliche Verbindungen, unter anderem einem Besuch Pollocks in Moskau, ergänzt wurden (vgl. Greffrath 1979, S. 506). In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, daß Mandelbaums Verhältnis zur Sowjetunion sehr kritisch war. Laut Wiggershaus (1988, S. 47) gehörte er im Institut zu jenen „Korsehisten bzw. Trotzkisten", die „der sowjetrussischen Entwicklung den kommunistischen Charakter absprachen". Das Frankfurter Institut wurde nach der nationalsozialistischen 'Machtergreifung' 1933 geschlossen. Mandelbaum, der nur mit einer Aktentasche reisend die Institutsleitung in Paris aufsuchte, erfuhr dort von einer Hausdurchsuchung der Gestapo und entschloß sich kurzfristig, nicht nach Deutschland zurückzukehren, sondern zunächst in Paris zu bleiben, wo nun das Institutsperiodikum, die Zeitschrift jur Sozialforschung (ZfS) herausgegeben wurde. Nach einigen Interimsaufenthalten in der Tschechoslowakei und in Wien - dort wurde er Mitglied der Widerstandsgruppe Neu Beginnen - ging Mandelbaum 1935 mit seiner Frau Hanna, einer gebürtigen Tschechoslowakin, die nach einem staatswissenschaftlichen Studium in Wien am IfS studiert hatte und seit 1934 mit ihm verheiratet war, nach London. Vom neuen Institutsdirektor Max Horkheimer war er angeblich nicht eingeladen worden, mit dem IfS nach New York überzusiedeln (FitzGerald 1991, S. 7), da sein wirtschaftstheoretisches Verständnis vom philosophischen Ansatz Horkheimers zu weit entfernt war: „[Mandelbaum] had nothing whatever u> do with the 'Critical Theory'" (Greffrath 1979, S. 508: siehe aber Wiggershaus 1988, S.163f. zur grundsätzlichen Übereinstimmung der Faschismusinterpretationen von Herbert Marcuse, Erich Fromm. Max Horkheimer, Mandelbaum und -» (ierhard Meyer). Dennoch verfaßte er bis 1936 für die ZfS noch mehrere Aufsätze und blieb bis

1939 als Verwalter eines Teils des Institutsvermögens sowie als europäischer Korrespondent Pollocks mit dem IfS verbunden. Von -» Frank A. Burchardt, dem stellvertretenden Direktor des Oxford University Institute of Statistics (OIS), mit dem Mandelbaum seit dessen Frankfurter Zeit als Assistent -» Adolph Lowes befreundet war, erhielt er 1940 das Angebot zur Mitarbeit im Institut. Der OIS-Forschungsgruppe gehörten mit -» Josef Steindl, Emst F. Schumacher und Michal Kalecki noch weitere vertriebene kontinentaleuropäische Ökonomen an, so daß ihre (gemeinsamen) Arbeiten ein wertvolles, von der kontinentalen Tradition der Politischen Ökonomie getragenes Gegengewicht zur britischen Neoklassik bildeten (vgl. FitzGerald 1991, S. 8). Zu der herausragenden OIS-Studie The Economics of Full Employment trug Mandelbaum den Aufsatz An Experiment in Full Employment (1944) bei, in dem sich seine weiteren, entwicklungsökonomischen Interessen bereits andeuteten. Im Jahr 1950 verließ Martin das OIS, um bis 1967 eine Dozentur an der Universität Manchester zu übernehmen, wo er sich nun zusammen mit dem späteren Nobelpreisträger W. Arthur Lewis ausschließlich entwicklungsökonomischen Fragestellungen widmete. Während dieser Zeit in Manchester erhielt er gemeinsam mit Alec Nove eine Einladung an die School of Oriental and African Studies in London und wurde dort 1964 einer der Herausgeber der von ihm mitgegründeten Zeitschrift Journal of Development Studies. Zugleich blieb Martins Interesse an der ökonomischen Entwicklung in den sozialistischen Ländern Südostund Osteuropas auch nach seinem Weggang vom OIS erhalten. Davon zeugen zahlreiche Besuche in Ungarn - zusammen mit Maurice Dobb und Joan Robinson - , Polen und der Sowjetunion wiederum mit Joan Robinson - während seiner Arbeit in Manchester (vgl. FitzGerald 1991, S. 11).

Nach einem einjährigen Aufenthalt in Princeton und einem weiteren Jahr als Mitglied des Harvard International Advisory Service in Indonesien kehrte Martin 1969 nach Kontinentaleuropa zurück. Er lehrte bis 1985 am Institute of Social Studies in Den Haag, einer Ausbildungsstätte für graduierte Wissenschaftler aus Ländern der 'Dritten Welt', fungierte dort als Mitherausgeber der Zeitschrift Development and Change und ging erst im Alter von 81 Jahren, ausgezeichnet mit einem Honorary Fellowship des Instituts, zurück nach Lon-

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Martin, Kurt don in den Ruhestand, den er noch fast zehn Jahre zusammen mit seiner Frau Hanna genießen konnte. Die entwicklungsökonomischen Arbeiten Mandelbaums/Martins ab Mitte der 1940er Jahre hatten ihre theoretischen Wurzeln in seinen Forschungen am IfS. In der 1929 publizierten Einleitung zum Briefwechsel von Karl Marx und Friedrich Engels mit dem nissischen Marx-Übersetzer Nikolai Franzewitsch Danielson (Nikolai-on) versuchte Mandelbaum, die russischen Industrialisierungsdebatten der 1920er Jahre mit der Debatte in den 1870er Jahren zu verbinden, als die russischen Narodniki ('Volkstümler') mit den Marxisten die Möglichkeit eines direkten Übergangs zum Sozialismus in einem revolutionären, ökonomisch jedoch rückständigen Rußland diskutierten. Er stellte dabei fest, da£ Marx in der Korrespondenz mit Nikolai-on, einem führenden Narodnik, wie auch in anderen Schriftwecheln an diesen Debatten teilnahm und - überraschenderweise - der Position der Narodniki zuneigte (Greffrath 1979, S. 506). Mandelbaum fand die Antwort auf diesen scheinbaren Widerspruch zu Marx' Stufentheorie in der außergewöhnlichen historischen Situation, in welcher sich die russische bäuerliche Dorfgemeinschaft ('Mir') Ende des 19. Jahrhunderts befand. Während in den westlichen Ländern die kapitalistische Produktionsweise bereits hoch entwickelt war, hatte der russische Agrarkommunismus nach wie vor Bestand. Daher konnte sich die russische Gesellschaft die Ergebnisse der Industrialisierung aneignen, ohne die kapitalistische Gesellschaftsform zu übernehmen. Die Dorfgemeinschaften würden daher schrittweise zur mechanisierten landwirtschaftlichen Massenproduktion übergehen, wobei jedoch infolge der nach wie vor existenten archaischen Vergemeinschaftung im Mir die neuen Produktivkräfte unmittelbar in der Form des Gemeineigentums eingeführt werden würden. Die einzige verbleibende, allerdings notwendige Voraussetzung für diese Entwicklung war der Sturz des Zarenregimes, das durch Besteuerung und Schuldknechtschaft der Bauern diese Dorfgemeinschaft zu zerstören drohte (Mandelbaum 1929, S. Xmff.). Wenngleich Mandelbaum später aus diesen Debatten nicht mehr dieselben Schlüsse ziehen wollte, stellte er doch fest, daß diese frühen Studien zu den Problemen der russischen Landwirtschaft seine späteren entwick-

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lungsökonomischen Überlegungen maßgeblich befruchtet hatten (Greffrath 1979, 506f.). Gleiches galt für das Thema der Wirtschaftsplanung, dem sich Mandelbaum - angeregt durch Pollocks Reise in die Sowjetunion von 1927 (Jay 1979, S. 546) und die Weltwirtschaftskrise - daran anschließend zuwandte. In seinem ersten Beitrag zu diesem Themenkomplex befaßte er sich mit den vom 7a/-Kreis Ferdinand Frieds vorgetragenen Autarkiegedanken, mithin der Forderung nach Errichtung hoher Zollschranken in Kombination mit selektiver binnenwirtschaftlicher Planung. In einem unter dem Pseudonym Kurt Baumann publizierten Artikel Autarkie und Planwirtschaft (1933) wies er diesen Ansatz zurück und forderte demgegenüber gesamtwirtschaftliche Planung auf internationaler Ebene, deren unterschiedliche Formen Mandelbaum (1934) zusammen mit seinem Institutskollegen -» Gerhard Meyer wiederum in der ZfS ausfuhrlich darlegte. Von den vier in diesem Beitrag diskutierten Idealtypen der sozialistischen Planwirtschaft - (1) reiner Verwaltungssozialismus, (2) modifizierter Verwaltungssozialismus, (3) reiner Marktsozialismus und (4) modifizierter Marktsozialismus (1934, S. 235ff.) - schien ihm letztgenannter unter den damaligen Bedingungen die geringsten Schwierigkeiten bei der Implementierung zu bieten (ebd., S. 258). Die weiteren Aufsätze Mandelbaums für die ZfS waren im wesentlichen Buchbesprechungen und ausführlichere Literaturübersichten, in denen er sich unter anderem mit der neueren Literatur zur Planwirtschaft, zum technischen Fortschritt (vgl. z.B. 1932) sowie (1936) mit Keynes' General Theory auseinandersetzte. Die letztgenannte zwanzigseitige, jetzt unter dem Pseudonym Erich Baumann veröffentlichte Arbeit gehört zum Besten, was aus marxistischer Perspektive zu diesem so bedeutungsvollen Buch gesagt wurde. Der marxistische Hintergrund wird nur indirekt deutlich, denn Mandelbaum trat keineswegs - wie etwa sein Frankfurter Institutskollege -» Henryk Grossmann - mit der Generalprämisse der Eindeutigkeit und Überlegenheit der Manschen Akkumulationstheorie an. Vielmehr bemühte er sich zunächst unter Berücksichtigung der aktuellsten englischen Diskussionsbeiträge (z.B. von Hicks, Pigou und Joan Robinson) zur General Theory erfolgreich um eine zusammenhängende Darstellung ihrer Kerngedanken. Zentraler Ansatzpunkt seiner Kritik waren die psychologischen Begründungen der

Martin, Kurt Konsumneigung, der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals und der Liquiditätspräfenz bei Keynes, die „eine wissenschafliche Analyse der diese psychischen Vorgänge auslösenden und nur zum kleinsten Teil von ihnen beeinfluBten ökonomischen Bewegungsgesetze nicht ersetzen können" (1936, S. 401, vgl. auch S. 395). Bezüglich der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals ging es Mandelbaum in erster Linie um den EinfluB der tatsächlichen Profitentwicklung auf die Profiterwartungen, wobei die Rolle des technischen Fortschritts bzw. der Wettbewerbssituation nicht negiert weiden könnten. Die Liquiditätsvorliebe hielt Mandelbaum für ein monetäres Krisenphänomen, wobei die Krise selbst primär aus der realen Entwicklung zu erklären sei. Die Zinserklärung über die Liquiditätsvorliebe schneide den existierenden Zusammenhang mit den Gewinnerwartungen ab (vgl. ebd., S. 396). Mandelbaum kritisierte auch die einseitige makroökonomiscbe Perspektive, die zur Vernachlässigung von Disproportionalitäten führe, sowie Keynes' gelegentliche Rückfälle in eine recht primitive unterkonsumtionistische Argumentationsweise (vgl. z.B. ebd., S. 402). Das ernüchternde theoretische Resümee lautete denn auch, daß vieles von dem, was richtig sei, nicht neu sei, und daß vieles Neue nicht richtig sei (vgl. ebd., S. 400). Für Mandelbaum lag die Bedeutung des Buches darin, daß sich dort ein prominenter Liberaler von Standardaussagen liberaler Theorie und liberalen wirtschaftspolitischen Positionen absetzte. Er sah Keynes nicht als echten Sozialreformer an. Die faktischen sozialen Verhältnisse würden durch Keynes' Hervorhebung des Gegensatzes zwischen aktiven Kapitalisten und parasitären Rentiers falsch wiedergegeben, und für die übergroße Mehrzahl der Bevölkerung weise Keynes' Revision der klassischen Lehre „nicht in eine bessere, sondern in eine triibe Zukunft" (ebd., S. 403). Mandelbaums Haltung zur Keynes'sehen Theorie wurde im Laufe der Zeit positiver, nicht zuletzt unter dem Eindruck der kaleckianischen Variante derselben. Dieser intellektuelle Wandel kam vor allem in seinem Aufsatz An Experiment in Full Employment. Controls in the German Economy, 1933-1938 (1944) zum Ausdruck, mit dem er die theoretisch-analytischen Beiträge seiner OISKollegen zur Studie The Economics of Full Employment empirisch abzurunden versuchte, wenngleich er dabei - in Ermangelung anderer geeigneter empirischer Beispiele - auf die Erfahrungen

in Nazi-Deutschland zurückgreifen mußte (vgl. 1944, S. 181). Der OIS-Band, der wesentlich stärker die Ideen Kaleckis als diejenigen von Keynes reflektierte, postulierte in seiner Gesamtkonzeption die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Kontrolle der privaten Investitionstätigkeit (vgl. FitzGerald 1991, S. 8). So stellte auch Mandelbaum fest, daß zur Vermeidung eines inflationären Drucks in einem Zustand der Vollbeschäftigung Außenhandels-, Lohn- und Preiskontrollen notwendig seien, um nicht wieder in eine Situation der Unterbeschäftigung zu geraten (vgl. 1944, insbes. S. 20Iff.). Am OIS verfaßte Mandelbaum auch seinen bahnbrechenden Beitrag The Industrialisation of Backward Areas (1945), der ihn zusammen mit Rosenstein-Rodan (1943) Mitte der 1940er Jahre zum Begründer der Entwicklungsökonomik machte (vgl. Chakravarty 1980, S. 523; Singer 1979, S. 583 und Singer 1996). Er selbst hat die Entstehung des Buches „merkwürdigen Umständen" zugeschrieben, da ihm im Rahmen seiner Forschungstätigkeit am OIS die Aufgabe zugewiesen worden war, mögliche Probleme der Nachkriegsrekonstniktion in Südosteuropa zu untersuchen. Da inmitten des Zweiten Weltkrieges jedoch niemand wissen konnte, was in diesen Ländern zukünftig geschehen würde, schlug er vor, sich nicht mit praktischen Rekonstniktionsproblemen, sondern mit der Frage zu befassen, wie mit Hilfe von Fünflahresplänen am Beispiel dieser Länder 'rückständige' Agrarstaaten industrialisiert werden könnten - eine Aufgabe, für die er auch auf seine früheren Studien zur Industrialisierung in Rußland und seine Interessen auf dem Gebiet der Wirtschaftsplanung zurückgriff (vgl. Greffrath 1979, S. 510f.). Den Ausgangspunkt für Mandelbaums Überlegungen bildete das Massenphänomen der 'verdeckten Arbeitslosigkeit' im Agrarsektor der südosteuropäischen Volkswirtschaften, wobei er eine Doppelgesichtigkeit der verdeckten Arbeitslosigkeit darin begründet sah, daß sie einerseits das zentrale Problem, andererseits die größte Ressource für einen erfolgreichen Entwicklungsprozeß bildete, denn „if these surplus workers were withdrawn from agriculture and absorbed into other occupations, farm output would not suffer, while the whole new output would be a net addition to the community's income. The economic case for the industrialisation of densely populated countries rests upon this mass phenomenon of disgui-

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Martin, Kurt sed rural unemployment" (1945, S. 2). Mandelbaum rückte damit neun Jahre vor seinem späteren Kollegen W.A. Lewis sowohl das Problem als auch die ökonomischen Möglichkeiten des Economic Development With Unlimited Supplies of Labour (Lewis 1954) in den Mittelpunkt der Entwicklungsdebatte. Lewis erwähnt Mandelbaums Buch in seinem Hauptwerk nur einmal in Form eines Literaturhinweises (Lewis 1956, S. 421), bedankte sich jedoch für Lektüre und Kritik seines Manuskripts u.a. bei Dr. Karl (sie!) Martin (Lewis 1956, S. VO). In Einklang mit der Industrialisierungstheorie seit Marx argumentierte Mandelbaum, daB der strukturelle Arbeitskräfteüberschuß in der Landwirtschaft der rückständigen Länder zusammen mit dem monopolistischen Verhalten der entwickelten Volkswirtschaften die ricardianischen Bedingungen fur eine effiziente Ressourcenallokation durch den freien Handel außer Kraft setzte und daher die einzige Möglichkeit der Erzeugung von Vollbeschäftigung die Absorption der überschüssigen Arbeit in den sekundären und tertiären Sektor sei (1945, S. 3f.). Zur Überwindung der zu geringen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage wie auch der zu niedrigen Realkapitalbildung in den rückständigen Regionen waren sowohl massive Kapitalimporte als auch staatliche Eingriffe erforderlich zum einen durch 'deficit spending' für den Aufbau der Infrastruktur (ebd., S. 5) und zum anderen durch Umverteilung von (Luxus-) Konsumgütem, Zwangssparen und die Besteuerung hoher Einkommen (ebd., S. 8), womit sowohl der von Singer (1979, passim) hervorgehobene Einfluß von Keynes auf das Werk Mandelbaums als auch die von FitzGerald (1991, S. 9 und passim) betonte Beeinflussung durch Kalecki deutlich wird. Auf der Grundlage statistischen Materials für Südosteuropa aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg formulierte Mandelbaum im zweiten Teil des Buches ein rudimentäres Input-OutputModell, ohne - wie er selbst hervorhob - von den Ideen, die mit dem Namen Leontief verbunden waren, Kenntnis gehabt zu haben (1945 2 , S. xi; Greffrath 1979, S. 511; allerdings findet sich in Mandelbaum 1945, S. 49n. ein Verweis auf Leontiefs (1943/44) Aufsatz Output, Employment, Consumption and Investment). Das Planungsziel, den Output in Abhängigkeit von begrenzten Ersparnissen zu maximieren, bis die verdeckte Arbeitslosigkeit im industriellen Sektor absorbiert war, erreichte er daher nicht mit Hilfe der Inver-

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tierung einer Input-Output-Matrix, sondern auf iterativem Wege durch die Anwendung einer heuristischen Methode, die er als einen Kreislauf von Angebot und Nachfrage („Circular Flow of Supply and Demand") bezeichnete (1945, S. 42). Mandelbaum selbst stand seinem Werk bereits in einem ausführlichen Vorwort zur unveränderten zweiten Auflage kritisch gegenüber. So wies er unter anderem darauf hin, daß er die Möglichkeit der Erhöhung der Output-Wachstumsrate durch steigende Skalenerträge nicht genügend berücksichtigt habe und daß die Finanzierung der Investitionen nicht durch hohe Kapitalimporte sondern durch eine Erhöhung der Sparquote im landwirtschaftlichen Sektor erfolgen solle, denn ausländisches Kapital werde lediglich einen Bruchteil der benötigten Investitionen finanzieren können (19452, S. viii ff.). Darüber hinaus sah er das Problem der Technologiewahl nicht tiefgehend genug diskutiert, ebensowenig die Rolle der Zinssätze, die Entwicklung der Terms of Trade, die Bedeutung des starken Bevölkerungswachstums in Entwicklungsländern, die politökonomischen Konsequenzen staatlicher Interventionen und die Probleme innerhalb des Agrarsektors im Entwicklungsprozeß (Greffrath 1979, S. 511; vgl. auch Singer 1979, passim). Jedoch ist eine Vielzahl der Defizite der Zeitgebundenheit der Mandelbaumschen Arbeit geschuldet, so daß das Urteil Singers sicherlich zutrifft, das Buch sei „a mixture of, on the one hand, wonderful insight, points of true premonition, anticipation of future and current debates ... and, on the other hand, a number of statements and approaches very much conditioned by the circumstances of the time and place" (Singer 1979, S. 577). Wenngleich Martin mit den beiden Aufsätzen A Note on the Evolution of Development Thinking (1984) und Modern Development Theory (1991) noch zwei dogmenhistorisch wichtige Arbeiten publizierte, in denen er insbesondere auf die Wurzeln seiner Disziplin in der Klassischen Politischen Ökonomie hinwies und die Pioniere der modernen Entwicklungsökonomik gegen die neoklassische Konterrevolution der 1980er Jahre verteidigte, so blieb doch The industrialisation of Backward Areas von 1945 sein wesentlicher und herausragender Beitrag zur entwicklungsökonomischen Literatur. Abgesehen von kleineren Artikeln und Reports widmete er sich in den vier darauffolgenden Jahrzehnten der Lehre in der neuen Fachrichtung und der Betreuung entsprechender

Martin, Kurt Studiengänge. Wie sehr ihn die Lehraufgaben intellektuell in Anspruch nahmen und welch großes Gewicht er dieser Tätigkeit bei maß, verdeutlicht Martins Aufsatz Teaching Economic Development at Manchester (1967), in dem er detailliert über den ursprünglich von John Mars im Jahr 1960 an der Universität Manchester eingerichteten Diplomstudiengang 'Entwicklungsökonomie' referierte. Diese Ausrichtung seiner Arbeit setzte er auch am Institute of Social Studies in Den Haag fort, wobei er sich dort verstärkt dogmengeschichtlichen Betrachtungen in seinen Vorlesungen zuwandte und auf den Zusammenhang zwischen Industrialisierung und der Agrarfrage, mit der er sich in seinen frühen Arbeiten auseinandergesetzt hatte, rekurrierte (vgl. FitzGerald 1991, S. 12). Martin hatte in seinem 1945 publizierten Hauptwerk in einer bemerkenswerten Präzision, Klarheit und Geschlossenheit zahlreiche zentrale Themen aufgegriffen, welche die frühe entwicklungsökonomische Diskussion bestimmen sollten (vgl. Srinivasan 1994, S. 19). Singer (1996) stellt daher in seinem Nachruf auf Martin fest, daß jener in gewissem Sinne das Schicksal des Schumpeterschen Pionierunternehmers teilte, indem er mit seinen Ideen einer ganzen Reihe herausragender Nachfolger den Weg ebnete, wobei jedoch die unmittelbaren Nachfolger in weit größerem Ausmaß als der Pionierunteraehmer selbst die Hauptgewinne zuericannt bekamen. An dieser Unterschätzung war er gewissermaßen selbst verantwortlich beteiligt durch seine für angelsächsische Verhältnisse untypische Haltung zum Verzicht auf Publizieren und auf Selbstanpreisung. Seine eigenen Veröffentlichungen verdanken sich nahezu ausschließlich den Anforderungen der jeweiligen Arbeitssituation. Ansonsten lautete seine „sparsame" Maxime eher, daß Dinge, die bereits gesagt worden oder selbstverständlich sind, nicht wiederholt oder schriftlich fixiert werden müssen. Indirekte Beiträge durch Lancierung von Ideen bzw. Kritik und Kommentar seien ebenso nützlich wie eigene Originalbeiträge. Man könne eigene Leistungen überdies schlecht „verkaufen", wenn man wissenschaftliche Selbstkritik, wie Martin das tat, als Tugend praktizierte (vgl. Greffrath 1979, passim). Die Anerkennung seiner Leistungen seitens derjenigen, die ihn in seinen Arbeitszusammenhängen gekannt und schätzen gelernt haben, korrigiert zurecht seine quasi-offi-

zielle Vernachlässigung durch die ökonomische Profession. Auch wenn die Übergänge von der Erörterung von Fragen revolutionärer Strategie zur Beschäftigung mit praktischer Entwicklungspolitik, vom kommunistischen Aktivisten der Jugendzeit zum eher skeptischen Labour-Wähler des Alters oder vom marxistischen Kritiker zum kaleckianischen Anhänger keynesianischer Theorie Brüche in der intellektuellen Entwicklung Martins vermuten lassen, so zeigt die detaillierte Lektüre seiner Schriften, von Selbst- und Fremdzeugnissen, daß dem nicht so ist. Vielmehr machen sie klar, daß Martins Entwicklung, ähnlich der vieler Altersgenossen mit vergleichbaren Ausgangspositionen, eine aktive Reaktion auf veränderte historische Bedingungen, theoretische Innovationen und den sich aus den jeweiligen Arbeitszusammenhängen ergebenden Impulsen war. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß die im Jahre 1947 erfolgte Namensänderung nicht als Indiz für einen Abschied von einer alten politischen oder wissenschaftlichen Identität anzusehen ist. Er folgte damit vielmehr dem Wunsch seiner Frau, die angesichts der bitteren gemeinsamen Erfahrungen und der Abwesenheit jüdischer religiöser Bindungen den beiden Kindern der Ehe mögliche zukünftige Belastungen ersparen wollte.

Schriften in Auswahl: (1926)

(1929)

(1932)

Die Erörterungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie über das Problem des Imperialismus (1895-1914), Frankfurt/M (Diss). Das russische Agrarproblem bei Marx, Engels, Lenin. Einleitung zur Neuausgabe der Briefe von Marx und Engels an Danielson, Wiederabdruck in: Bibliothek der Rätekommunisten, Bd. 11, Berlin 1969, S. IÜ-XXXIV; engl. Übers.: Introduction to the Correspondence of Marx and Engels and Danielson (Nikolai-on), in: Development and Change, Bd. 10 (1979), S. 515-544. [Rezension] Emil Lederer, Technischer Fortschritt und Arbeitslosigkeit, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 1, S. 237.

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Mayer, Thomas (1933)

(1934)

(1936)

(1944)

(1945)

(1967)

(1984)

(1991)

Autarkie und Planwirtschaft (Pseudonym: Kurt Baumann), in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 2, S. 79103. Zur Theorie der Planwirtschaft (zus. rait G. Meyer), in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 3, S. 228-262. Keynes' Revision der liberalistischen Nationalökonomie (Pseudonym: Erich Baumann), in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 5, S. 384-403. An Experiment in Full Employment. Controls in the German Economy, 1933-1938, in: The Economics of Full Employment. Six Studies in Applied Economics prepared at The Oxford University Institute of Statistics, Reprint, Oxford 1945, S. 181-203. The Industrialisation of Backward Areas (= Oxford Institute of Statistics, Monograph No. 2), Oxford; 2. Aufl. 1955. Teaching Economic Development at Manchester, in: Martin, K./Knapp, J. (Hrsg.): The Teaching of Development Economics. Its Position in the Present State of Knowledge. The Proceedings of the Manchester Conference on Teaching Economic Development, April 1964, London, S. 141146. A Note on the Evolution of Development Thinking, in: Ekonomi da keangan Indonesia. Economics and Finance in Indonesia, Bd. 32, S. 291-315. Modem Development Theory, in: Martin, K. (Hrsg.): Strategies of Economic Development. Readings in the Political Economy of Industrialization, Basingstoke/London, S. 27-73.

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Mayer, Thomas, geb.

18.1.1927 in Wien

Die meisten Ökonomen betrachten ihre Disziplin als 'exakte Wissenschaft', eine Domäne logischer Argumentation, die von der Person des Wissenschaftlers streng zu trennen ist. Thomas Mayer ist einer der wenigen 'Mainstream'-Ökonomen, die offen die Ansicht vertreten, daß individuelle Lebensgeschichten durch die Formung von Vorurteilen in die Wahl von Gegenstand und Methode der

Mayer, Thomas wissenschaftlichen Albeit einfließen. Vorurteile prägen folglich die Entwicklung ganzer Forschungsdisziplinen, sofern sie die Argumentationskontrollen auf logische Konsistenz und empirische Plausibilität passieren. Wo sich, wie etwa in der Ökonomie, nur selten eindeutige Indizien finden lassen, hängt zudem die Akzeptanz der Prüfungskriterien selbst von Vorlieben für die eine oder andere Denkungsart ab. Die Bedeutung der methodologischen Präferenzen zeigt sich insbesondere an Konflikten zwischen der 'inneren' Konsistenz einer Theorie (im Sinne ihrer Widerspruchsfreiheit) und der 'äufieren' Konsistenz von Theorie und Beobachtung. „Preconceptions function as hidden assumptions, and hence should be brought out into the open" lautet Mayers Credo (1990b, S. 2), das er am eigenen Werdegang zu einem pessimistischen Außenseiter mit einer Vorliebe für monetaristisches Gedankengut illustriert. Die Verbindung von Ökonomie und Emigration ist in Mayers Lebensgeschichte weniger eindeutig als bei vielen Emigranten der Ersten Generation. Dennoch führt Mayer seine pessimistische Grundhaltung wie auch sein Interesse an Ökonomie auf die Kindheit und die Emigration zurück. Die 'postkakanische' Wiener Melange aus sozialem Elend, politischen Unruhen und ironischer Melancholie prägte ihn, das spätgeborene Einzelkind jüdischer Eltern, welche in der Weltwirtschaftskrise um ihr materielles Überleben zu kämpfen hatten. Nach dem 'Anschluß' Österreichs an Deutschland 1938 beschloB die Familie, das Land zu verlassen. Doch wurde zunächst nur dem Kind die Einreise nach England erlaubt, und Thomas Mayer blieb dort die meiste Zeit getrennt von seinen Eltern, bis die Familie 1944 in New York wieder zusammenfand. Die Schulzeit in England verhalf Mayer immerhin zu einem umfassenden Interesse an ökonomischer Literatur. Nach seinem Dienst in der U.S.-Armee 1945/46 erhielt er ein Armeestipendium, das er zum Ökonomiestudium am Queens College und an der Columbia University nutzte. Neben der Arbeit in verschiedenen Behörden in Washington schrieb Mayer seine Dissertation (über demographische Aspekte der Stagnationsthese), mit der er 1953 an der Columbia University promoviert wurde. Die weiteren Stationen waren Professuren an der West Virginia University (1953-54), Notre Dame University (1954-56), Michigan State University (1956-60), Berkeley (1960-61) und schließlich (bis zur Emeritierung 1992) die University of California in Davis.

Im Rückblick beschreibt sich Thomas Mayer (1990b, S. 4) als Einzelgänger, der sich von anderen Kindern wie von ökonomischen Schulen lieber femhielt. Dennoch ist sein Name eng mit der Denkrichtung des Monetarismus verbunden. Mayers Zwischenbilanz der Monetarismus-Kontroverse (1975) hat zumindest im deutschen Sprachraum am stärksten zu seiner Bekanntheit beigetragen. Die meisten seiner Veröffentlichungen kreisen um „heiße Eisen" in der Monetarismus-Debatte, wie z.B. The Empirical Significance of the Real Balance Effect (1959), Monetary Policy in the United States (1968), Forecast Errors and Stabilization Policy (1990a) - um nur drei von mehr als hundert Titeln zu nennen. Warum entwickelte Mayer eine Vorliebe für monetaristische Themen? In den fünfziger und sechziger Jahren war das ökonomische Denken weithin durch den keynesianischen Glauben an die Effizienz der Stabilitätspolitik geprägt. Der Monetarismus bildete eine Minderfaeitsmeinung, die diesen Glauben infragestellte und Mayers skeptischen Neigungen entgegenkam (1990b, S. 14 f.). Dessen psychologische Plädisposition wäre jedoch kaum von allgemeinem Interesse, wenn sie nicht durch seine Präferenz für logischen Empirismus zu beachtlichen theoretischen Leistungen geführt hätte. Mayers Hauptverdienst liegt zweifellos in der Identifikation und Diskussion verschiedener makroökonomischer Denkweisen aus der Sicht eines empirisch orientierten Skeptikers. Als die 'monetaristische Gegenrevolution' in den frühen siebziger Jahren einen neuen Höhepunkt erreichte, waren die Trennlinien zwischen Monetarismus und Keynesianismus unschärfer als es der Stil der Debatte und spätere Lehrbuchvereinfachungen vermuten lassen. Es war keineswegs klar, ob der Monetarismus überhaupt ein eigenständiges Theoriegebäude darstellte. Aus den vielen Versuchen einer Systematisierung der Streitpunkte ragen zwei heraus: Robert Gordons Sammlung von Beiträgen Milton Friedmans und seiner Kritiker (Gordon 1974) sowie Thomas Mayers Zwischenbilanz der Monetarismus-Kontroverse (1975). Diese begann mit einer Bestandsaufnahme von Hypothesen, welche bis dahin als Unterscheidungsmerkmale gegenüber dem Keynesianismus betrachtet wurden: 1. die Gültigkeit der Quantitätstheorie des Geldes; 2. das monetaristische Modell des Transmissionsprozesses; 3. die Annahme einer inhärenten Stabilität des privaten Sektors; 4. der Glaube an einen gut funktionieren-

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Mayer, Thomas den Kapitalmarkt; 5. die Betonung der Bedeutung des Preisniveaus gegenüber der Preisstruktur; 6. das größere Vertrauen in kleine als in große ökonometrische Modelle; 7. die Verwendung der 'Geldbasis' als Indikator für die Geldpolitik; 8. die Verwendung der Geldmenge als Zwischenzielgröße der Geldpolitik; 9. die Befürwortung einer festen Regel für das Geldmengenwachstum; 10. die Ablehnung eines trade-off zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation; 11. die Prioritiening des Globalzieles der Geldwertstabilität; und 12. die Abneigung gegenüber staatlichen Eingriffen. Mayer prüfte jede dieser Hypothesen auf ihre Unabdingbarkeit und Unvereinbarkeit mit keynesianischen Positionen. Obwohl dabei wesentliche Unterschiede zwischen monetaristischen und keynesianischen Sichtweisen klar zutage traten, fand Mayer auch überraschend viele Gemeinsamkeiten - jedenfalls genug um weitere Klarstellungen zu provozieren. Mit dem Vorteil des Rückblicks mag man kritisieren, daß die Gemeinsamkeiten geringer gewesen wären, wenn Mayer zwei Voraussetzungen der Hypothesen 1 und 7-11 mehr Beachtung geschenkt hätte, nämlich der Annahme der exogenen Kontrollierbarkeit des Geldangebotes und dem angebotsorientieiten Konzept einer 'natürlichen Rate' der Unterbeschäftigung. Mayer selbst stellte zudem fest, daß er auch die unterschiedlichen Zeithorizonte keynesianischer und monetaristischer Ansätze vernachlässigt hatte. Ein Großteil der Kontroverse drehte sich letztlich darum, wie lang der keynesianische short-run ist. Dessen ungeachtet bildete Mayers taxonomischer Ansatz zweifellos einen geeigneten Ausgangspunkt fur die weitere Debatte. Mayers neutraler Diskussionsstil beließ seine eigenen Ansichten zu den genannten Hypothesen weitgehend im Dunkeln. Er betonte allerdings, daß man einige darunter vertreten, andere dagegen ablehnen könne. In späteren Beiträgen (z.B. 1990b und 1990c) wird deutlich, daß er weniger mit monetaristischen Glaubensartikeln und Politikempfehlungen als mit Milton Friedmans Methodologie sympathisiert. Er ist skeptisch gegenüber 'laissez faire'-Positionen der Hypothesen 3 und 12 sowie gegenüber dem Glauben an die generelle Vorteilhaftigkeit von Regelbindungen (Hypothesen 7-10; vgl. 1990b, S. 12 ff.). Seine Vorliebe für den Monetarismus beruht nicht auf dem Optimismus im Hinblick auf die Stabilität freier Marktwirtschaften, wie ihn Friedman verbreitet, sondern eher auf dem Pessimismus in bezug auf die

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Effizienz von Staatseingriffen, der auch die geldpolitische Domäne der Monetaristen nicht verschont. Beiläufig erzählt Mayer von seiner Mitgliedschaft im Shadow Open Market Committee, das Karl Brunner und Allan Meitzer ins Leben gerufen hatten um das Federal Reserve System auf monetaristischen Kurs zu bringen. Sie endete damit, daß Mayer „wegen Linksabweichlertums hinausgesäubert" wurde (1990b, S. 14). Friedmans Betonung der Vorhersagekraft einfacher, kleiner Modelle (Hypothesen 4-6) bildet Mayers Leitmotiv, die Grundlage seiner Vorliebe für den Monetarismus. Sie entwickelte sich in den fünfziger Jahren, als das positivistische Programm der 'kühnen Hypothesenbildung und rücksichtslosen Falsifikation' durch empirische Tests die a priori-Plausibilität keynesianischer Doktrinen infragestellte. Die Liquiditätspräferenztheorie, die Konsumfunktion und andere Elemente wurden im Vergleich zu alternativen Hypothesen - wie dem 'permanenten Einkommen' - getestet. Mayers Integrität zeigt sich auch darin, daß er seinen Anspruch auf empirische Relevanz sowohl gegen keynesianische als auch gegen monetaristische Positionen wendete. In einem Aufsatz, den er mit Martin Bronfenbrenner über die Zinselastizität der Geldnachfrage (1960) schrieb, kamen beide zu dem Ergebnis, daß die keynesianische Warnung vor Liquiditätsfallen weder theoretisch noch empirisch haltbar ist. In einem späteren Aufsatz testeten Mayer und Michael de Prano (1965) die relative Bedeutung autonomer Ausgaben und der Geldmenge für Schwankungen des Volkseinkommens und zeigten, daß die monetaristischen Schlußfolgerungen von Friedman und Meiselman (1963) einer empirischen Überprüfung nicht standhalten. Nichtsdestotrotz ist sich Mayer bewußt, daß Arbeiten im Sinne des logischen Empirismus nur selten ihren eigenen Anforderungen gerecht werden. Die meisten empirischen Studien sind eher auf die „Verifikation" der vorausgesetzten Modelle ausgerichtet als auf deren rücksichtslose Überprüfung (1990c, S. 63). Mayer (1993, Kap. 10) hat eine einfache Erklärung für derlei „Kunstfehler": Auch Ökonomen seien rational handelnde Wirtschaftssubjekte. Sie verfolgten ihre Interessen nach Maßgabe von Publikationsfiltem und anderen institutionalisierten „Sachzwängen", die eher die Bestätigung als die Widerlegung etablierter Doktrinen förderten. Er bleibt jedoch bei seiner Forderung nach empirisch orientierter Skepsis -

Mayer, Thomas um so mehr als ein grundlegender Wandel im Selbstverständnis der Disziplin diesen Anspruch aus der Mode gebracht zu haben scheint. Der Umschwung kam mit dem Siegeszug der Neuen Klassischen MakroÖkonomik und mit verschiedenen Entwicklungsspriingen in den Techniken der Ökonometrie. Obwohl die „Neue Klassik" zunächst als Monetarismus 2. Grades betrachtet wurde, brachte sie eine Götterdämmerung des Monetarismus mit sich, die Mayer (1990c) aus der Perspektive eines selbstkritischen Insiders analysiert. Seine Kritik an heutigen Modeströmungen der Methodologie legt er ausführlich in Truth versus Precision in Economics (1993) dar. Hier steht wieder der trade-off zwischen theoretischem Raffinement und empirischer Relevanz ökonomischer Forschung im Mittelpunkt. Mittlerweile sieht Mayer die Bedrohung der Ökonomie weniger in der Verschleierung durch überladene Makromodelle als im Reduktionismus der (primär neuklassischen) Forderung nach rigoroser Mikrofundierung der Makrotheorie. Er bezweifelt nicht, daß die Kriterien der exakten Beweisführung fUr die 'reine' axiomatische Theorie notwendig sind. Aber er hält die Unterordnung aller empirisch orientierten Forschung unter diese Kriterien für anmaßend und irreführend: „In trying to meet these unrealistic criteria empirical science economists have been tempted either to dress up formalist theory as empirical science theory, or to focus attention on the strongest link in the chain of their argument, and to pretend that their whole argument is rigorous because this one link is" (1993, S. 7). Nach Mayers Dafürhalten droht das zunehmende Prestige formalistischen Theoretisierens den Mainstream der Ökonomie in eine verkehrte Ordnung von Mitteln und Zielen zu zwängen. Statt die Wahl der Forschungsmethoden nach deren Eignung zur Lösung gegebener Probleme auszurichten, werden sowohl die Fragen als auch die Antworten durch die neuen „Werkzeugkästen" vordefiniert. Der formale Reduktionismus verengt überdies den Forschungshorizont auf das jeweils stärkste Gliedes in der Beweiskette. Aber die Verdikte der 'Adhocerei', die von neuklassischer Seite über keynesianische und monetaristische Theorien verhängt worden sind, fallen auf ihre Urheber zurück, die ihre 'Mikrofundierung' z.B. auf die übervereinfachende Annahme repräsentativer Akteure gründen und ihre Modelle mit lockeren Anwendungen feinster ökonometrischer Techniken

auf unzureichende Datensets 'testen'. Als empirische Sozialwissenschaft ist diese Art Ökonomie so zweckmäßig wie das Befahren von Holzwegen mit einer Luxuskarosse. „The car is sleek and elegant; too bad the wheels keep falling off" (1993, S. 132 und 149). Obwohl Mayer seine Bestandsaufnahme der ökonomischen Wissenschaft mit einer gehörigen Portion Pessimismus durchsetzt, fragt sich der Leser seiner Werke, ob Mayers Selbstbeschreibung als „pessimistic outsider with a Monetarist bias" (1990b) wirklich zutrifft. In der positivistischen Methodologie, die Mayer vertritt, steckt sicherlich gehöriger Optimismus, obschon Mayer nicht dem naiven Glauben anhängt, daß die Wissenschaft stets neues Wissen schafft. Insgesamt ist Mayers Sicht der Dinge wohl besser als skeptische Offenheit zu bezeichnen. Natürlich lassen sich die persönliche Erfahrungen eines Einzelgängers und Außenseiters nicht infragestellen. Doch seine wohlartikulierten Ansichten über den Zustand der 'Forschungsfront' werden von vielen geteilt, wenn nicht gar von einer 'schweigenden Mehrheit'. Mayers Denken hat zudem die Arbeit vieler anderer Ökonomen beeinflußt - sei es als Stmkturhilfe oder als Inspiration zur Auseinandersetzung mit vorherrschenden Denkrichtungen. In dieser Hinsicht sind Kevin Hoovers Arbeiten über die Neue Klassische MakroÖkonomik hervorzuheben (z.B. Hoover 1988). Was Mayers Monetarismus betrifft, so hat er ihn selbst in die passende Perspektive gerückt: ,J do call myself a moderate monetarist, but that is an arbitrary label, which I adopt in part because monetarists are in a minority. If it were the dominant school I would probably call myself a moderate Keynesian." (1990b, S. 14) Heutzutage sind beide Etiketten ein wenig veraltet. Damit sind keineswegs alle Fragen, die unter diesen Etiketten gestellt wurden, beantwortet oder vergessen. Thomas Mayer gehört zu denen, die ständig daran erinnern. Schriften in Auswahl·. (1959) The Empirical Significance of the Real Balance Effect, in: Quarterly Journal of Economics, Bd. 73, S. 275-291. (1960) Liquidity Functions in the American Economy (zus. mit Μ. Bronfenbrenner), in: Econometrica, Bd. 28, S. 810-834.

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Meidner, Rudolf (1965)

(1968) (1975)

(1990) (1990a) (1990b) (1990c) (1993)

Tests of the Relative Importance of Autonomous Expenditures and Money (zus. mit Μ. de Prano), in: American Economic Review, Bd. 55, S. 729-752. Monetary Policy in the United States, New York. The Structure of Monetarism, in: Kredit und Kapital, Bd. 8, S. 191-218 und 293-316 (neu hrsg. mit Beiträgen von M. Bronfenbrenner u.a., New York/London 1978; dt. Übers, in: Die Monetarismus-Kontroverse. Eine Zwischenbilanz, Beihefte zu Kredit und Kapital 4,1978). Monetarism and Macroeconomic Policy, Aldershot. Forecast Errors and Stabilization Policy, in: (1990), S. 91-115. Getting older, but not much wiser, in: (1990), S. 1-16. The Twilight of the Monetarist Debate, in: (1990), S. 61-90. Truth versus Precision in Economics, Aldershot.

Bibliographie: Friedman, M./Meiselman, D. (1963): The Relative Stability of Monetary Velocity and the Investment Multiplier in the United States, 1897-1958, in: Stabilization Policies, hrsg. von der Commission on Money and Credit, Englewood Cliffs, S. 165-268. Gordon, R. (1974): Milton Friedman's Monetary Framework, Chicago. Hoover, K. (1988): The New Classical Macroeconomics. A Sceptical Inquiry, Oxford/New York. Monetarism and the Methodology of Economics. Essays in Honour of Thomas Mayer, hrsg. von Kevin Hoover und Steven Sheffrin, Aldershot (im Erscheinen). Quellen: Β Hb Π; Blaug; Laidler, D.: Brief vom 14.9.1993 an den Verfasser; Mayer, Th.: Brief vom 22.4.1994 an den Verfasser. Hans-Michael Trautwein

Meidner, Rudolf, geb. 23.6.1914 in Breslau Schweden war lange Zeit Modell für einen Wohlfahrtsstaat, in dem Vollbeschäftigung und soziale Gleichheit Vorrang vor anderen Zielen der Wirt-

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schafts- und Gesellschaftspolitik genießen. Mochten sich die Geister daran scheiden und das 'schwedische Modell' über Gebühr preisen oder verdammen; mochte es auch fragwürdig sein, die Realität der Nachkriegsjahrzehnte als Realisierung der Entwürfe einiger Sozialingenieure zu betrachten: Die damals erfolgreiche Gestaltung der Lohn- und Arbeitsmarktpolitik in Schweden war ohne Zweifel in wesentlichen Teilen auf Vorarbeiten der Gewerkschaftsökonomen Gösta Rehn und Rudolf Meidner zurückzuführen. Die Grundkonzeption, in der sie makroökonomische Stabilität, technischen Fortschritt und sozialen Fortschritt miteinander zu vereinbaren suchten, ist unter der Bezeichnung Rehn-Meidner-Modell in die Literatur eingegangen (vgl. z.B. Lundberg 1985, S. 17 ff. undErixon 1995). Meidner kam 1933 als Jurastudent nach Schweden. Über seine Jugend in Deutschland ist kaum mehr zu erfahren als der Vermerk, daß er bereits in der Weimarer Republik zu einer sozialistischen Einstellung gefunden hatte, die ihm das Studium an einer deutschen Universität unmöglich machte (1984a, S. 7). Nach seinem Examen 1937 arbeitete er zunächst als Assistent bei Gunnar Myrdal, später im Konjunkturinstitut unter der Leitung von Erik Lundberg, dann während des Krieges in der staatlichen Lebensmittelkommission und in der Werbebranche. Im Jahr 1945 übernahm er die Stelle eines Leiters der Untersuchungsabteilung in der LO, dem Dachverband der Arbeitergewerkschaften. Aus den anstehenden Untersuchungsaufgaben entwickelte sich bald das Thema, das im Zentrum von Meidners Lebenswerk stehen sollte: die Solidarische Lohnpolitik. Die inflationsträchtigen Booms des ersten Nachkriegsjahrzehnts zwangen die schwedischen Gewerkschaften zur Entwicklung einer neuen lohnpolitischen Strategie, die Einkommenszuwächse und Vollbeschäftigung mit Preisniveaustabilität und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht vereinbaren konnte. Bei der Ausarbeitung eines entsprechenden wirtschaftspolitischen Programms der LO waren Meidner und Rehn 1951 federführend. Bereits Ende der vierziger Jahre hatten beide in einer Kontroverse mit Erik Lundberg richtungsweisende Aufsätze veröffentlicht (englische Fassungen in Turvey 1952), die nach den Arbeiten Knut Wicksells und der Stockholmer Schule einen weiteren Höhepunkt in der Geschichte der schwedischen Politischen Ökonomie bildeten. Meidner hat in typischer Selbstbescheidung häufig betont

Meidner, Rudolf (z.B. in 1984b), da£ das Hauptverdienst in der Entwicklung des Modells bei Rehn gelegen habe. Es ist jedoch nicht sinnvoll, zwischen individuellen Anteilen an der Gesamtkonzeption zu trennen. Meidner ortete den Ausgangspunkt für die Neuorientierung der Gewerkschafts- und Wirtschaftspolitik im Dilemma der Lohnpolitik bei Vollbeschäftigung (schwedisch 1948, englisch 1952): In dem Maße, in dem die Arbeitsmarktlage die Verhandlungsposition der Gewerkschaften stärkt, zwingt sie diese auch zur Mitwirkung an einer Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Lage, die bei den Mitgliedern leicht den Eindruck des Verzichts auf mögliche Einkommensverbesserungen hervorruft. Die gesamtwirtschaftliche Orientierung der Lohnpolitik mag somit zwar den gewerkschaftlichen Zusammenhalt gefährden, aber der Verzicht auf ökonomisch gebotene Lohnzurückhaltung birgt letztlich größere Risiken für die Organisation der Arbeitnehmerinteressen: Kurzfristige Einkommensmaximierung führt zu LohnPreis-Spiralen, Positionskämpfen zwischen Verbänden und Belegschaften und infolgedessen zu Realeinkommensverlusten oder durch Kostendruck zu Entlassungen. Meidner und Rehn lehnten die indirekte Regulierung des Lohnniveaus durch den Druck der Arbeitslosigkeit ab - nicht nur weil Gewerkschaftsökonomen selbstverständlich die Sache der Vollbeschäftigung verfechten, sondern auch weil drohende Segmentierungen auf dem Arbeitsmarkt verhindern, daß sich unter der Drohung von Arbeitslosigkeit das gesamtwirtschaftlich verträgliche Lohnniveau naturwüchsig einstellt. Gleichzeitig kritisierten sie die damals propagierten Alternativen der Beschäftigungssicherung: Lohn- und Preiskontrollen wie auch eine globale NachfrageSteuerung der öffentlichen Hand seien ineffizient, inflationstreibend und letztlich gewerkschaftsschädigend. Dagegen schlugen sie zentralisierte Tarifverhandlungen vor, um die Lohnpolitik zwei Zielen unterwerfen zu können: erstens der Aushandlung eines makroökonomisch vertretbaren Lohnerhöhungsrahmens für die Verhandlungen auf Verbands- und Unternehmensebene, und zweitens der Angleichung der Löhne nach dem Prinzip 'gleicher Lohn für gleiche Arbeit'. Meidner hat stets deutlich gemacht, daß dieses Konzept einer 'Solidarischen Lohnpolitik' nicht nur eine arbeitsbezogene Komponente der Lohnnivellierung, sondern auch eine allgemeine Verringerung bestehender Lohndifferentiale beinhaltet.

Indem die Solidarische Lohnpolitik ertragsschwachen Unternehmen die Option der Gewinnkompensation durch niedrige Lohnzahlungen nahm, sollte sie nicht nur den gewerkschaftlichen Zusammenhalt stärken, sondern auch zu Strukturrationalisierungen und Produktivitätsfortschritten beitragen, die ihrerseits den Lohnrahmen erweitem. Rationalisierungsdruck kostet allerdings Arbeitsplätze, weshalb Rehn und Meidner für die Einbettung der Solidarischen Lohnpolitik in ein wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept plädierten, dessen Hauptkomponenten in selektiver Arbeitsmarktpolitik und 'straffer' Finanzpolitik bestanden. Anstelle keynesianischer Beschäftigungssicherung, die durch Ausgabenexpansion das Nachfrageniveau hochhält, damit aber auch das Zinsund Preisniveau langfristig nach oben treibt, sollte die Förderung der Mobilität und Flexibilität im Arbeitsangebot sowohl die Inseln der Arbeitslosigkeit 'wegduschen', die mit Beschränkungen der effektiven Nachfrage entstehen, als auch der Bildung von personellen Kapazitätsengpässen in anderen Bereichen vorbeugen. In jedem Falle erhielt die Arbeitsförderung Vorrang vor bloßen Lohnersatzleistungen. Die Finanzpolitik spielte im Rehn-Meidner-Modell ebenfalls eine tragende Rolle. Hohe Steuern sollten Inflationstendenzen im Keim ersticken. Die damit einhergehende Kapitalbildung in öffentlicher Hand erhielt die Aufgabe, mit dem Zinsniveau zugleich die Kapitalkosten und Gewinnansprüche der Unternehmen zu senken und die Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik sowie weiterer wohlfahrtsstaatlicher Programme zu ermöglichen. Der Zielkonflikt von Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität wurde somit im Rehn-Meidner-Modell lange vor der „Entdekkung" der Phillips-Kurve thematisiert und durch die verteilungspolitische Konfliktminimierung in Form verschiedener Begrenzungen von Lohn- und Gewinnansprüchen entschärft. Es läßt sich trefflich darüber streiten, wie weit das Rehn-Meidner-Modell umgesetzt worden ist und die beabsichtigten Effekte erzielt hat. Faktum ist jedoch, daß die Lohnpolitik in Schweden zwischen 1956 und 1982 tatsächlich stark zentralisiert war, daß in diesem Zeitraum die Lohndifferentiale in verschiedener Hinsicht stark verringert wurden, und daß die schwedische Arbeitsmarktpolitik zu einem internationalen Vorbild avancierte (vgl. 1984b). Auch das Konzept der kollektiven Kapitalbildung wurde in gewissem Maße realisiert -

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Meidner, Rudolf durch genossenschaftlichen Wohnungsbau in den Ballungszentren (eine Folge der regionalen Strukturrationalisiening) ebenso wie durch die Einrichtung allgemeiner Pensionsfonds, deren Verwaltungsräte nicht zufällig zunächst mit Rudolf Meidner als gewerkschaftlichem Repräsentanten besetzt wurden (1984a, S. 11). Eine Streitfrage ist auch der expansive Rationalisierungseffekt einer nivellierenden Lohnpolitik. Die lange Zeit hindurch beeindruckend hohen Beschäftigungsquoten wurden in Schweden (bei ständig zunehmenden Erwerbsquoten) weniger durch einen Umbau des privatwirtschafitlichen Sektors als vielmehr durch den Ausbau des öffentlichen Sektors erreicht. Gegen den Zeitgeist der achtziger Jahre hat Meidner (1979 und 1984b) betont, daß der öffentliche Sektor primär als Ressource zur effizienten Deckung des zunehmenden Bedarfs an sozialen Dienstleistungen zu betrachten ist, und nicht als volkswirtschaftliche Belastung. Dabei ist Meidner keineswegs blind für die Inflationsgefahren gewesen, die von der Verhandlungsmacht der Angestellten des öffentlichen Dienstes im Rahmen einer Solidarischen Lohnpolitik ausgehen. Überhaupt durchzieht die (selbst)kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Problemen der Solidarischen Lohnpolitik das umfangreiche Schrifttum Meidners wie ein roter Faden. Seine Sorge gilt der mangelhaften Umsetzung des Konzepts - etwa in bezug auf eine systematische Arbeitsbewertung - ebenso wie den Problemen, die eine erfolgreiche Lohnnivellierung aufwirft - etwa in der Frage der 'Übergewinne', die durch solidarische Lohnzuriickhaltung entstehen. Diese verteilungspolitische Kehrseite des Nivellierungserfolges kennzeichnet das zweite Thema, mit dem Meidner weit über die Grenzen Schwedens bekannt geworden ist: die Arbeitnehmerfonds - polemisch auch oft als „Meidnerfonds" bezeichnet. Die LO-Führung erteilte Meidner 1973 den Auftrag, die Frage einer Bildung von Branchenfonds aus Gewinnbeteiligungen und Investivlöhnen zu untersuchen. Ausgangspunkt der Untersuchung war ein Trilemma, das sich mit der Bildung lohnpolitisch bedingter Übergewinne in ertragreichen Unternehmen ergab: Der Verbleib von Übergewinnen im Privateigentum der Kapitalbesitzer vergrößerte langfristig deren ökonomische Macht zum Nachteil der Gewerkschaften.

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Die Verwendung von Übergewinnen für außertarifliche Lohnzuschläge vergrößerte die Lohndifferentiale und provozierte innergewerkschaftliche Konflikte. Die Abschöpfung von Übergewinnen durch tarifliche Lohnerhöhungen gefährdete die gesamtwirtschaftliche Stabilität durch Kostendruck und Nachfragesog. Eine Verbindung von obligatorischer Gewinnteilung und kollektiver Kapitalbeteiligung schien Auswege aus diesem Trilemma zu eröffnen. Meidner und seine Mitarbeiter schlugen daher 1975 (deutsche Fassung 1978) ein System von Arbeitnehmerfonds vor, dem unter den Restriktionen von Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität und ausreichenden Wachstumsraten folgende Ziele gesetzt wurden: 1.

Ergänzung der Solidarischen Lohnpolitik durch Sozialisierung von Übergewinnen, 2. Abbau der privaten Kapitalkonzentration durch den Aufbau kollektiver Investitionsfonds, 3. Verstärkung der arbeitsrechtlichen Mitbestimmung durch vermögensrechtliche Mitsprache. Der erste Vorschlag ließ die technische Konstruktion des Fondssystems weitgehend offen. In der Diskussion waren zunächst obligatorische Aktienemissionen (in Höhe von 2 0 % des Bruttojahresüberschusses) an einen zentralen Ausgleichsfonds, der den Aktienbesitz und dessen Erträge verwalten sollte, während die Stimmrechte in Ausbalancierung lokaler und überbetrieblicher Interessen bei Branchenfonds und gewerkschaftlichen Ortsund Betriebsgruppen liegen sollten. Meidner selbst stellte vergleichende Berechnungen verschiedener Gewinnteil ungssätze und Ertragssätze an, anhand derer das Ziel deutlich wurde, langfristig eine Stimmenmehrheit der Arbeitnehmer in schwedischen Unternehmen zu sichern. Obwohl Meidners Vorschlag in hypothetischer Form gehalten war, ist es daher nicht erstaunlich, daß die Arbeitnehmerfonds - vom LO-Kongreß 1976 zum Programm erhoben - zu einem Konfliktthema gerieten, das in zunehmend unsachlichen Auseinandersetzungen die Wahlkämpfe der folgenden Jahre bestimmen sollte. Schließlich wurden Arbeitnehmerfonds 1984 in stark veränderter Form (als lohn- und vermögenspolitisch unbedeutendes Anhängsel der allgemeinen Pensionsfonds) von der damaligen sozialdemokratischen Regierung eingeführt und 1993 von der nachfolgenden bürgerlichen Regierung wieder aufgelöst. Obwohl sich

Mendelsohn, Kurt (Yonah) die Fondsdebatte nach 1975 in der politischen Dynamik verschiedener Machtfragen verselbständigt hatte, muß das Scheitern der Meidnerschen Idee auch auf zwei fundamentale Mängel zurückgeführt werden: Zum einen fehlte es an lohnpolitischen Präzisierungen des Begriffs und Umfanges der 'Übergewinne'. Zum anderen wurde nie recht deutlich, worauf die vermögensrechtliche Mitsprache bei unternehmerischen Entscheidungen zielte (vgl. Trautwein 1986). Obwohl die Debatte um die Arbeitnehmerfonds zeitweise das heißeste Eisen der politischen Debatte in Schweden bildete, war die persönliche Integrität Rudolf Meidners im Grunde nie umstritten. Wie sehr seine bescheidene Art geschätzt wird, in der er sachliche Argumentation mit gewerkschaftlichem Engagement ständig zu weiterführenden Ideen verbindet, zeigen auch etliche, keineswegs selbstverständliche „Forscherprivilegien", die man ihm im Laufe seiner Karriere zugebilligt hat. Hierzu zählen Freistellungen vom Alltagsgeschäft der LO-Untersuchungen - zunächst 1949/50 für Arbeiten am Konjunkturinstitut, die in seine Dissertation Uber den schwedischen Arbeitsmarkt bei Vollbeschäftigung (1954) eingingen, dann 1962 für Forschungsreisen nach Uganda, Mexiko, Israel und in die USA, und 1977/78 für eine Gastprofessur an der University of Wisconsin. Hierzu zählt weiterhin die Einrichtung eines auf ihn zugeschnittenen Instituts für Arbeitsmarktfragen an der Universität Stockholm, dem er von 1966 bis 1971 vorstand, sowie die Einrichtung einer freien Forschungsstelle bei der LO, die er von 1971 bis zu seiner Pensionierung 1979 innehatte. Damit war sein Forscherieben keineswegs beendet: 1979/80 folgte ein Aufenthalt am Berliner Wissenschaftszentrum und seitdem arbeitet Meidner am Arbetslivscentrum in Stockholm. Unter vielfältigen Ehrungen sind vor allem die Ernennung zum Professor (1983) sowie verschiedene Festgaben - z.B. in Form eines „Meidnerseminars" (LO 1980) und eines kommentierten Querschnitts durch Meidners Schriften (1984a) zu nennen. Schriften in Auswahl: (1952) The Dilemma of Wages Policy under Full Employment, in: Wages Policy under Full Employment, hrsg. von R. Turvey, London/Edinburgh. S. 16-29. (1978) Vermögenspolitik in Schweden, Köln.

(1979)

(1984a) (1984b)

Die Expansion des öffentlichen Sektors - Einige Überlegungen auf Grundlage der schwedischen Entwicklung. (Wissenschaftszentrum, IIM/dp79-112) Berlin. I arbetets tjänst, Stockholm. Modell Schweden. Erfahrungen einer Wohlfahrtsgesellschaft (zus. mit A. Hedborg), Frankfurt.

Bibliographie: Erixon, L. (1995): Das Rehn-Meidner-Modell ein dritter Weg in der Wirtschaftspolitik, in: Schweden im Umbruch, hrsg. von O. Schneider, Baden-Baden. LO (1980): Lönepolitik och solidaritet. Debattinlägg vid Meidnerseminariet den 21-22 februari 1980, Stockholm. Lundberg, E. (1985): The Rise and the Fall of the Swedish Model, in: Journal of Economic Literature, Bd. 23, S.I-36. Rehn, G. (1952): The Problem of Stability. An Analysis and Some Policy Proposals, in: Wages Policy under Full Employment, hrsg. von R. Turvey, London/Edinburgh, S. 30-54. Trautwein, H.-M. (1986): Arbeitnehmerfonds in Schweden - der dritte Weg? Frankfurt/Bern. Quellen: WA; Müssener. Hans-Michael Trautwein

Mendelsohn, Kurt (Yonah), geb. 8.1.1902 in Breslau, gest. im Juli 1973 in Israel Mendelsohn entstammte einer jüdischen Arztfamilie, sein Vater Nathan starb bereits 1933, seine Mutter Elfriede wurde - wahrscheinlich 1943 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Im Spätjahr 1925 promovierte Mendelsohn bei -> Emil Lederer an der Universität Heidelberg zum Dr.phil. 1927 wurde er in Berlin Mitarbeiter in der Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Diese Stellung verlor er nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 ebenso wie die seit 1930 gleichzeitig ausgeübte Dozentur an der Hochschule für Politik. Noch im selben Jahr emigrierte er in die Niederlande. Mendelsohn, der Mitglied der zionistischen Jugendbewegung gewesen war, wurde dort Mitgriinder eines Umschulungszentrums für jüdische Emigranten, für das er in der Folgezeit als Schrift-

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Mendelsohn, Kurt (Yonah) fiihrer arbeitete. 1938 gelang ihm die Einwanderung nach Palästina. In Tel-Aviv war er bis 1948 als Mitarbeiter in der Wirtschaftsabteilung fur die Jewish Agency tätig und daneben Wirtschaftsberater der Anglo-Palestine-Bank, der späteren Bank Leumi. Danach bekleidete Mendelsohn bis 1958 verschiedene fuhrende Positionen im israelischen Finanzministerium: zunächst leitete er die Zollabteilung, dann den AusschuB für Staatseinkünfte. Daniber hinaus nahm er an den Verhandlungen über die Wiedergutmachungsabkommen mit der Bundesrepublik Deutschland teil. 1957 trat er als Leiter der Zweigstelle Tel-Aviv in das Washingtoner Wirtschaftsberatungsuntemehmen R. Nathan & Assoc. ein, dem er bis 1973 angehörte. Parallel dazu hatte er zeitweise den Vorsitz der Österreichisch-Israelischen und die Leitung der Australisch-Israelischen Handelskammer inne gehabt. In seinen Publikationen befaßte sich Mendelsohn mit zwei Themenbereichen: zum einen mit der Umgestaltung des Wirtschaftssystems der Weimarer Republik in eine sozialistische Planwirtschaft und zum anderen mit den Voraussetzungen für die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina. Mendelsohn fühlte sich - wie sein akademischer Lehrer - den Ideen des demokratischen Sozialismus verpflichtet. Bereits in seiner Dissertation (1925) hatte er sich mit den Krisen- und Entwicklungsproblemen der kapitalistischen Wirtschaft im Lichte der marxistischen Theorie auseinandergesetzt. In den späteren Arbeiten verzichtete er jedoch aufgrund seiner gewerkschaftlichen Tätigkeit - und im Gegensatz zu Lederer - weitgehend auf die theoretische Fundierung der Argumentation zugunsten einer stärkeren politischen Akzentuierung seiner Schriften. Unter dem Eindruck von Massenarbeitslosigkeit und extremer Kapazitätsunterauslastung in der Weltwirtschaftskrise entstand 1932 Mendelsohns Buch Kapitalistisches Wirtschaftschaos oder sozialistische Planwirtschaft?. Durch die auch von Lederer (1931) diagnostizierte Kapitalfehllenkung und -Verschwendung im Monopolkapitalismus sowie durch eine „planlose und ungleichmäßige Kreditgewährung" (1932, S. 30) der Banken, die eine zu starke Kapazitätserweiterung besonders in monopolisierten Branchen ermöglicht habe, sei ein „Friedhof der Industrieanlagen" (ebd., S. 11) entstanden. Im Gegensatz zu anderen gewerkschaftnahen Ökonomen wie -» Fritz Baade oder -» Wladimir Woytinsky, die eine nachfrageseitige Konjunkturbele-

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bung mit Hilfe staatlicher Beschäftigungsprogramme erreichen wollten, forderte Mendelsohn umfangreiche Sozialisierungsmaßnahmen, die in das „Endziel der sozialistischen Planwirtschaft" münden sollten, um die ,4m Kapitalismus unvermeidlichen Krisenerscheinungen" zu beseitigen (ebd., S. 66). Mit den Möglichkeiten und Problemen gemeinwirtschaftlichen Handelns hatte er sich zusammen mit Waither Pähl bereits im Handbuch der öffentlichen Wirtschaft (1930b) auseinandergesetzt. Der Band, an dem u.a. auch Baade, Alfred Braunthal, - Alfred Kähler (1933) aufweist, die engen Grenzen, die einer Wiederbeschäftigung der freigesetzten Arbeiter durch Lohnsenkungen gesetzt sind (1932, S. 440-455). Im Zentrum von Neissers Ausführungen steht dabei die große Bedeutung des Kapitalstocks fur den Beschäftigungsgrad der Arbeit. Obwohl die Argumente von Neisser und anderen 'Kieler' Ökonomen gegen Lohnsenkungen als Mittel der Vollbeschäftigungspolitik viele Gemeinsamkeiten mit der von Keynes vertretenen Position aufweisen, zeigt sich hier ein wichtiger Unterschied: in der Betonung der Möglichkeit von Arbeitslosigkeit aufgrund eines Kapitalmangels (was ein wichtiges Problem vor Einsetzen der Weltwirtschaftskrise war) und der Rolle der Kapitalakkumulation für die Wiederbeschäftigung der durch die Einführung neuer Technologien freigesetzten Arbeitskräfte. Die Kapitalakkumulation ist eine notwendige Bedingung der Kompensation, keineswegs jedoch eine hinreichende Bedingung. Man sei daher , .nicht zu der Schlußfolgerung berechtigt, daß jede Arbeitslosigkeit früher oder später durch Kapitalakkumulation beseitigt würde" (1932, S. 454). So kann der technische Fortschritt zur Folge haben, daß der Kapitalaufwand pro Arbeitsplatz zunimmt. Wegen der engen Wechselbeziehung zwischen dem technischen Fortschritt und der Investitionstätigkeit kann die Kapitalakkumulation ihrerseits zur Quelle neuer Instabilitäten werden. Neisser prägte hierfür später unter Berufung auf Marx das berühmte Bild vom Wettrennen zwischen der Freisetzung von Arbeit durch technischen Fortschritt und der Wiederbeschäftigung der freigesetzten Arbeiter durch einen Prozeß der Kapitalakkumulation, dessen Ausgang ungewiß sei (1942, S. 70f.).

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Hayek, in dessen Konjunkturtheorie der 'RicardoEffekt' eine entscheidende Rolle für die Erklärung des oberen Wendepunktes spielt, verweist darauf, daß er tiefere Kenntnisse über die Diskussion zum Maschinerieproblem durch Neissers klassischen Aufsatz (1932) und Kählers Studie (1933) erwarb (Hayek 1942, S. 127 f.). Neisser seinerseits unterzog die von Hayek in Preise und Produktion entwickelte Konjunkturtheorie einer ebenso kritischen Analyse (1934b) wie die beiden Hauptwerke von Keynes, die Treatise und die General Theory (1931c, 1936a) oder Hicks' Value and Capital, für das der Autor 1972 den Nobelpreis erhalten sollte. Ebenso wie bei seiner Auseinandersetzung mit dem Walras-Cassel-Modell sowie mit marxistischen Ansätzen in den Weimarer Diskussionen waren für Neisser die Treffsicherheit und Unbestechlichkeit des Urteils, die Faimeß und Präzision seiner Kritik sowie ein für damalige, aber auch für heutige Verhältnisse ungewöhnliches Maß an Freiheit von dogmatischem Denken charakteristisch, die ihn zu einem allseits geachteten Ökonomen machte, der von keiner Schule vereinnahmt werden konnte. Neissers wissenschaftliche Produktivität blieb durch die Emigration ungebrochen. Dies zeigen seine zahlreichen Publikationen in führenden internationalen Fachzeitschriften, wie z.B. seine eigenständige Kritik des Sayschen Gesetzes (1934a), zwei Jahre bevor es aufgrund der Keynesschen Attacke zu einem Leitthema moderner makroökonomischer Debatten werden sollte, sowie seine ausführlichen Studie zur internationalen Transmission von Konjunkturzyklen (1936b). Neisser war auch einer der Pioniere im Bereich der Ökonometrie. Seine zusammen mit Franco Modigliani durchgeführte quantitative Analyse der Beziehungen zwischen dem Außenhandelsvolumen der am Welthandel beteiligten Länder und seiner Determinanten in der Zwischenkriegszeit, National Incomes and International Trade (1953), war die umfassendste ökonometrische Untersuchung weltwirtschaftlicher Zusammenhänge, die bis dato vorgenommen wurde. In ihrer Studie, die im Rahmen der Forschungsarbeiten am Institute of World Affairs in New York durchgeführt wurde, entwickelten die Autoren ein komplexes System von 36 simultanen Gleichungen, um die Entwicklung des Welthandels zwischen 1925 und 1937 zu analysieren. Unter Ausschluß der Sowjetunion werden dabei sechs Länder bzw. Ländergruppen unterschieden: die USA, Großbritannien,

Neisser, Hans Philipp Frankreich und Deutschland sowie zwei Gruppen von Ländern, die primär Industrieerzeugnisse (Italien, Japan, Schweden, Belgien, Schweiz, Österreich und die Tschechoslowakei) bzw. Rohstoffe und Agrarprodukte exportieren. Insgesamt gelangen die Autoren zum Ergebnis, daß der Einfluß von Änderungen des Volkseinkommens auf die Importe eine viel größere Rolle spielt als deijenige von Preisändeningen, während die Exporte dagegen stärker preisabhängig sind. Für alle Länder ist in den dreißiger Jahren eine bemerkenswerte Veränderung in der Importneigung fur Industrieprodukte festzustellen. Überhaupt gehört die spezielle Studie zum relativen Verfall des Welthandels in den 1930er Jahren zu den interessantesten Teilen des Buches, zu dem Neisser umfangreiche Vorarbeiten zur Entwicklung der internationalen Arbeitsteilung und deren Folgen für den Welthandel geleistet hatte. Im Gegensatz zu vielen anderen frühen ökonometrischen Studien, die durch eine geringe Halbwertzeit gekennzeichnet sind, wird die bahnbrechende Arbeit von Neisser und Modigliani zur Entwicklung des internationalen Handels auch heute noch in der Literatur zitiert. Hierzu hat sicherlich entscheidend beigetragen, daß beide Autoren nicht nur als Theoretiker Herausragendes leisteten, sondern auch die neu aufkommenden ökonometrischen Techniken schnell assimilierten und selbst vorantrieben. Modigliani hatte bereits als Doktorand am informellen Seminar zur Ökonometrie teilgenommen, das Marschak vor seinem Weggang zur Cowles Commission nach Chicago in den Jahren 1940 bis 1942 am Wochenende in New York durchführte und an dem z.B. auch Wald, Haavelmo und Koopmans teilnahmen. Dank Neissers Aktivitäten, die zur Gründung eines Ausbildungszentnims für ökonometrische Studien führten, wurde die New School die erste akademische Institution im Großraum New York, an der sich dieses neue Fachgebiet etablierte. In Anerkennung seiner Verdienste verlieh die Econometric Society Neisser den Ehrentitel eines 'Fellow'. Unter den zahlreichen Aufsätzen, die Neisser in den vierziger und fünfziger Jahren in der Zeitschrift Econometrica publizierte, ragt seine Untersuchung The Pricing of Consumer Durables (1959c) heraus, in der er sich mit einem Problem auseinandersetzte, das ihn lange beschäftigt hatte: das Verhältnis zwischen BestandsStromgrößen-Nachfragen sowie zwischen den

verschiedenen Nachfragetypen und den dynamischen Preisbewegungen. Bemerkenswert ist auch Neissers kurz zuvor erschienener Aufsatz Oligopoly as a Non-zero-sumGame (1957), der verschiedene Stränge seiner wirtschaftswissenschaftlichen Leistungen sowie seiner Biographie in charakteristischer Weise vereint. Zunächst einmal war es typisch für Neissers Offenheit gegenüber neuen Entwicklungen sowie seines Qualitätsbewußtseins bei der Einschätzung ihrer Bedeutung, daß er die von John von Neumann und -» Oskar Morgenstern in den vierziger Jahren begründete Spieltheorie von Beginn an nachhaltig verfolgt hatte. Zusammen mit seiner frühen Analyse der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie sowie seinem intensiven Interesse an industriepolitischen Studien seit seiner Zeit im Office of Price Administration konnte er die Spieltheorie auf Oligopolprobleme in eigenständiger Weise anwenden. In seinem Nachruf bezeichnet Lowe Hans Neisser als „the 'guardian of good theory', meaning by this that his mind was a touchstone for testing the genuine gold in scientific work" (Lowe 1975, S. 188 f.). Dies zeigt die bemerkenswerte analytische Tiefe bei einer zugleich außergewöhnlichen Breite von Neissers Arbeiten, die von der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie, der Ökonometrie und der Spieltheorie über die Geld-, Konjunktur- und Beschäftigungstheorie bis zur Marxistischen Wirtschaftstheorie (1959a) reichen. Neisser hat sich jedoch nicht nur theoretisch wie empirisch, einschließlich der wirtschaftspolitischen Schlußfolgerungen, mit nahezu allen relevanten Gebieten der Makro- und MikroÖkonomik auseinandergesetzt, sondern seine wissenschaftlichen Interessen reichten weit in die Philosophie, Geschichte und Soziologie hinein. Hiervon zeugen sein in einer philosophischen Zeitschrift erschienener Essay über Husserls Logische Untersuchungen (1959b), vor allem aber sein abschließendes größeres Werk On the Sociology of Knowledge (1965). Inspiriert durch die Wissenssoziologie von Karl Mannheim gibt der Autor hier einen kompetenten Überblick über die Geschichte und Philosophie der Sozialwissenschaften. Neisser, der zum Zeitpunkt seiner Emigration auf der Höhe seines Schaffens im 38. Lebensjahr stand, ist eines der herausragenden Beispiele, die zeigen, welchen großen Verlust die deutsche Wirtschaftswissenschaft durch die Vertreibung vieler ihrer führenden Vertreter erlitten hat.

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Neisser, Hans Philipp Schriften in Auswahl: (1922) Das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag und die wirtschaftliche Entwicklung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 49, S. 421-466 (Diss.)· (1928) Der Tauschwert des Geldes, Jena (Habil.). (1930a) Arbeitsbeschaffung durch Bauprogramme, in: Magazin der Wirtschaft, S. 1347-1351. (1930b) Lohnsenkung als Heilmittel gegen Arbeitslosigkeit? in: Magazin der Wirtschaft, S. 1301-1306 und 14471448. (1931a) Ankurbelung oder Inflation? Eine Entgegnung, in: Der deutsche Volkswirt, Bd. 6, S. 80-85, wiederabgedruckt in: Bombach, G. u.a. (Hrsg.): Der Keynesianismus II. Die beschäftigungspolitische Diskussion vor Keynes in Deutschland, Berlin u.a. 1976, S. 48-54. (1931b) Der Kreislauf des Geldes, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 33, S. 365-408. (1931c) Kredit und Konjunktur nach J.M. Keynes, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 34, S. 1*-15*. (1932) Lohnhöhe und Beschäftigungsgrad im Marktgleichgewicht, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 36, S. 414455; engl. Übersetzung in: Structural Change and Economic Dynamics, Bd. 1, 1990, S. 141-163. (1933) Öffentliche Kapitalanlagen in ihrer Wirkung auf den Beschäftigungsgrad. Ein Beitrag zur Theorie der Arbeitsbeschaffung, in: Economic Essays in Honour of Gustav Cassel, London, S. 459-470. (1934a) General Overproduction. Α Study of Say's Law of Markets, in: Journal of Political Economy, Bd. 42, S. 433465. (1934b) Monetary Expansion and the Structure of Production, in: Social Research, Bd. 1,S. 434-457. (1936a) Commentary on Keynes, in: Social Research, Bd. 3, S. 459-487. (1936b) Some International Aspects of the Business Cycle, Philadelphia.

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(1941)

(1942)

(1953)

(1957)

(1959a)

(1959b)

(1959c) (1965) (1977)

Capital Gains and the Valuation of Capital and Income, in: Econometrica, Bd. 9, S. 198-220. „Permanent" Technological Unemployment, in: American Economic Review, Bd. 32, S. 50-71. National Incomes and International Trade (zus. mit F. Modigliani), Urbana/ Illinois. Oligopoly as a Non-zero-sum Game, in: Review of Economic Studies, Bd. 25, S. 1-20. Der ökonomische Imperialismus im Lichte moderner Theorie, in: Ortlieb, H.-D. (Hrsg.), Zur Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Festausgabe für Eduard Heimann, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, S. 209-224. The Phenomenological Approach in Social Science, in: Philosophy and Phenomenological Research. The Pricing of Consumer Durables, in: Econometrica, Bd. 27, S. 547-574. On the Sociology of Knowledge, New York. Selected Papers. With an Introduction by Murray Brown and a Tribute by Adolph Lowe, El Cerrito, Kalifornien (enthält ausgewählte Bibliographie).

Bibliographie: Arrow, K.J. (1989): Von Neumann and the Existence Theorem for General Equilibrium, in: Dore, M., Chakravarty, S., Goodwin, R. (Hrsg.): John von Neumann and Modern Economics, Oxford, S. 15-28. Cassel, G. (1918): Theoretische Sozialökonomie, Leipzig. Ellis, H.S. (1934): German Monetary Theory 1905-1933, Cambridge/ Mass. Garvy, G. (1975): Keynes and the Economic Activists of Pre-Hitler Germany, in: Journal of Political Economy, Bd. 83, S. 391-405. Hagemann, H. (1984): Lohnsenkungen als Mittel der Krisenbekämpfung? Überlegungen zum Beitrag der „Kieler Schule" in der beschäftigungspolitischen Diskussion am Ende der Weimarer Republik, in: Hagemann, H., Kurz, H.D. (Hrsg.), Beschäftigung, Verteilung und Konjunktur. Zur Politischen Ökonomik der modernen Gesellschaft. Festschrift für Adolph Lowe, Bremen, S. 97-129.

Neumann, John von Hagemann. Η. (1990): Neisser's 'The Wage Rate and Employment in Market Equilibrium': An Introduction, in: Structural Change and Economic Dynamics, Bd. 1, S. 133-139. Hayek, F.A. (1929): Geldtheorie und Konjunkturtheorie, Wien. Hayek, F.A. (1942): The Ricardo Effect, in: Economica, Bd. 9, S. 127-152. Kahler, A. (1933): Die Theorie der Arbeiterfreisetzung durch die Maschine, Greifswald. Keynes, J.M. (1930): A Treatise on Money. Vol. I: The Pure Theory of Money, London. Krohn, C.-D. (1987): Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt/New York. Lederer, E. (1931): Wirkungen des Lohnabbaus, Tübingen. Lowe, A. (1975): Hans Philipp Neisser 18951975, in: Social Research, Bd. 42, S. 187-189. Marschak, J. (1930): Das Kaufkraft-Argument in der Lohnpolitik, in: Magazin der Wirtschaft, S. 1443-1447. Schlesinger, K. (1935): Über die Produktionsgleichungen der ökonomischen Wertlehre, in: Menger, K. (Hrsg.), Ergebnisse eines mathematischen Kolloquiums 1933-34, Leipzig, S. 10-11. Stackelberg, H.v. (1933): Zwei kritische Bemerkungen zur Preistheorie Gustav Cassels, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. 4, S. 456-472. Uhlig, R. (Hrsg.) (1991): Vertriebene Wissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) nach 1933, Frankfurt a.M. u.a. Weintraub, E.R. (1985): General Equilibrium Analysis. Studies in Appraisal, Cambridge. Wicksell, Κ. (1913): Vorlesungen über Nationalökonomie auf Grundlage des Marginalprinzipes. Bd. 1, Jena. Quellen: BHb II; Blaug; Who was who in America. Harald Hagemann

Neumann, John von, geb. 28.12.1903 in Budapest, gest. 8.2.1957 in Washington, D.C. John (Janosc) von Neumann, der Sohn eines Bankiers, zeigte bereits frühzeitig ein Talent für abstraktes Denken, Mathematik und Sprachen. Im Alter von zwölf Jahren studierte er E. Boreis Theorie des Fonctions. Dem Schüler wurde von seinem Mathematiklehrer empfohlen, Unterricht

in fortgeschrittener Mathematik zu nehmen, da er, der Lehrer, ihm nichts mehr beibringen könne. Im Alter von 18 Jahren veröffentlichte von Neumann mit seinem Tutor Michael Fekete seine erste Arbeit. 1921 schrieb er sich an der Universität Budapest in Mathematik ein, wechselte aber sofort nach Berlin, um bei Erhard Schmidt zu studieren. Er pflegte gegen Ende eines jeden Semesters nach Budapest zurückzukehren, um dort Prüfungen abzulegen, ohne die jeweiligen Vorlesungen je gehört zu haben. Von Berlin aus begab er sich oftmals mit dem Zug nach Göttingen, wo er den damals berühmtesten Mathematiker Deutschlands, David Hilbert, besuchte und lange Gespräche mit ihm führte. Hilbert war zur damaligen Zeit von der Idee fasziniert, alle Mathematik lasse sich aromatisieren, um schließlich in mechanischer Weise Lösungen für die verschiedensten Probleme zu generieren. 1930 lieferte Kurt Gödel den Beweis, dafi die Hilbertsche Idee nicht trägt. 1923 ging von Neumann an die Eidgenössische Technische Hochschule (ΕΤΗ) Zürich, blieb aber an der Universität Budapest eingeschrieben. In Zürich studierte er bei dem deutschen Mathematiker Hermann Weyl und dem ungarischen Mathematiker George Polya; von Neumann wurde Weyls berühmtester Schüler. 1925 erhielt er an der ΕΤΗ ein Diplom in Chemie, ein Jahr darauf ein Doktorat in Mathematik in Budapest. 1927 wurde er Privatdozent an der Universität Berlin, 1929 wechselte er an die Universität Hamburg. 1930 besuchte er auf Einladung der Universität Princeton als Gastdozent für mathematische Physik erstmalig die USA. Die Dozentur wurde in eine Gastprofessur und 1931 in eine Professur umgewandelt. 1933 wurde er eingeladen, als jüngstes ständiges Mitglied und Professor für Mathematik dem Institute for Advanced Study in Princeton beizutreten. Einer seiner Kollegen war Albert Einstein. Von Neumann behielt die Professur bis zu seinem Lebensende. Sein reiches Schaffen befruchtete die Mathematik, Physik, Astrophysik, Meteorologie, Computerwissenschaft und Nationalökonomie. Angesichts dieses Lebenswegs, bei dem die fachliche Karriere im Vordergrund stand, kann von Neumann nicht als Emigrant im politischen Sinn betrachtet werden. Gleichwohl war von Neumann ein erbitterter Gegner des Nationalsozialismus und anderer Totalitarismen. Dies ergibt sich u.a. aus seiner Tätigkeit als Berater des amerikanischen und des britischen Verteidigungsministeriums während des Zweiten

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Neumann, John von Weltkriegs. 1943 wurde er wissenschaftlicher Berater im sogenannten 'Manhattan Project', welches in Los Alamos, New Mexiko, die Atombombe baute und in der Wüste testete. Von Neumann wurde bei diesen Tests großen Dosen radioaktiver Strahlung ausgesetzt. 1944 wurde er Konsulent jener Gruppe von Forschern, darunter Arthur Burks, John Eckert, Herman Goldstine und John Mauchly, die an der Universität von Pennsylvania den ersten elektronischen Computer, den ENIAC, entwickelten. Von Neumann steuerte nach übereinstimmender Auffassung der Mitglieder dieser Gruppe die bedeutendsten Ideen zum Projekt bei (vgl. Goldstine 1972 und Heims 1980). Nach dem Krieg setzte von Neumann seine Zusammenarbeit mit Goldstine in Princeton fort, wo sie zusammen mit anderen das Nachfolgemodell des ENIAC, den JONIAC, entwickelten. Von Neumann arbeitete darüber hinaus an der Theorie sich selbst steuernder Automaten. Auch auf militärtechnischem Gebiet arbeitete von Neumann nach dem Krieg weiter. Zusammen mit Edward Teller war er an der Entwicklung der Wasserstoffbombe beteiligt. 1955 wurde er vom Präsidenten der Vereinigten Staaten in die Atomenergie-Kommission berufen. Er ließ sich deshalb in Princeton beurlauben und zog nach Washington. Im Sommer des Jahres brach er sich eine Schulter. Die ärztliche Untersuchung ergab, daß er an Knochenkrebs litt, der bereits weit fortgeschritten war. Dennoch arbeitete er intensiv in der Kommission weiter und schrieb an einem Vorlesungsmanuskript, den Silliman Lectures, das er jedoch nicht mehr vortragen konnte. Es wurde 1958 unter dem Titel The Computer and the Brain veröffentlicht. Von Neumann starb Anfang 1957 in einem Krankenhaus der amerikanischen Bundeshauptstadt. Von Neumanns direkter Beitrag zur Wirtschaftswissenschaft betrifft im wesentlichen zwei Gebiete: die Spieltheorie und die Theorie des wirtschaftlichen Wachstums. Indirekt verdankt ihm die Zunft Leistungen wie die Dualitätstheorie in der linearen Programmierung, kombinatorische Lösungsmethoden des Zuordnungsproblems, Rechenverfahren für Matrixspiele und in der linearen Programmierung, Beiträge zur statistischen Theorie u.v.m. Kaum ein anderer Wissenschaftler hat von außen her, d.h. als Fachfiremder, einen derart großen Einfluß auf die Wirtschaftstheorie ausgeübt wie von Neumann.

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Der erste fundamentale Beitrag von Neumanns zur Gesellschaftswissenschaft ist sein 1928 in den Mathematischen Annalen veröffentlichter Aufsatz Zur Theorie der Gesellschaftsspiele. Zwar finden sich spieltheoretische Ansätze bereits bei früheren Autoren, insbesondere bei dem französischen Mathematiker Borel, konstitutiv für die Entwicklung der modernen Spieltheorie sollte indes von Neumanns Aufsatz werden. Borel hatte einige einfache symmetrische Zwei-Personen-Spiele formuliert, ohne indes eine allgemeine Lösungsmethode zu entwickeln. Tatsächlich vermutete er, daß es eine derartige Lösung nicht gebe. Es sind vor allem die folgenden Ergebnisse des von Neumannschen Aufsatzes, die Erwähnung verdienen (vgl. Thompson 1987): erstens die Formulierung der beschränkten Version der extensiven Form eines Spiels, in dem jeder Spieler entweder gar nichts oder alles über die vorhergehenden Züge der anderen Spieler weiß; zweitens der Beweis des Minimax-Theorems für Zwei-Personen-Nullsummen-Spiele, das die Grundlage aller weiteren Arbeiten ist; und drittens die Definition der charakteristischen Funktion der Normalform von DreiPersonen-Nullsummen-Spielen sowie die Lösung derartiger Spiele. Unter der 'extensiven Form' eines Spieles versteht man die Definition des Spieles durch die Angabe seiner Regeln. Gemeint ist damit die Nennung aller zulässigen Züge, die einem Spieler in jeder möglichen Lage, in der er sich während des Spiels befinden kann, erlaubt sind. Die 'Normalform' eines Spiels, auch 'Matrixspiel' genannt, erhält man durch Auflistung aller möglichen 'reinen Strategien' für einen jeden der Spieler. Unter einer reinen Strategie in einem Spiel versteht man einen vollständigen Satz von Entscheidungen eines Spielers für alle möglichen Lagen, in die er während eines Spiels geraten kann. Die Zahl der möglichen Strategien ist offenbar gleich dem Produkt der Zahl der zulässigen Züge in allen möglichen Lagen. Viele dieser Strategien werden von einem klugen Spieler verworfen werden. Um jedoch analytisch zu einer Lösung zu gelangen, müssen alle Strategien, gute wie weniger gute, berücksichtigt werden. Unterstellt man nun, daß sich jeder Spieler für eine reine Strategie entschieden hat, und konfrontiert diese Strategien miteinander, so ergibt sich ein eindeutiges (erwartetes) Ergebnis des Spiels. Dieses Ergebnis kann in einer sog. 'Auszahlungsmatrix' (payoff matrix) festgehalten werden, welche die am Ende des Spiels für jeden

Neumann, John von Spieler sich ergebenden Zahlungen festhält. In sog. 'Nullsummen-Spielen' ist die Summe der Zahlungen an alle Spieler gleich Null, andernfalls ist sie positiv oder negativ. Die Bedeutung einer sorgfältigen Analyse der extensiven und normalisierten Form eines Spiels liegt darin, dafi sie die Momente der Strategie eines Spielers von deijenigen seiner Psyche zu trennen erlaubt. Wie von Neumann u.a. am Beispiel des von ihm intensiv studierten Pokerspiels verdeutlichte, wird ein „aggressiver" Spieler dazu neigen, zu „bluffen", d.h. bei schlechtem Blatt hoch zu reizen. „Optimal" kann diese Spielweise indes nur dann sein, wenn der Spieler nur zeitweise blufft. Beim Beweis seines Minimax-Theorems machte von Neumann Gebrauch von einem FixpunktTheorem. Dieses Theorem bildete die Grundlage nicht nur der Theorie der Zwei-Personen-Matrixspiele, sondern über das Konzept der 'charakteristischen Funktion' auch deijenigen von n-Personen-Spielen. 1938 besuchte -» Oskar Morgenstern Princeton und traf John von Neumann, dessen Aufsatz großen Eindruck auf ihn gemacht hatte (vgl. Morgenstern 1976). Zwischen beiden entwickelte sich eine enge Freundschaft und Zusammenarbeit, deren Hauptfrucht das 1944 publizierte grundlegende Werk Theory of Games and Economic Behavior war. Zwei bedeutende Änderungen gegenüber dem Aufsatz zeichnen das Buch aus. Zum einen wurde die informationstheoretische Basis verallgemeinert, indem zugelassen wurde, daß die Spieler zum Zeitpunkt ihrer eigenen Entscheidungen nur teilweise über frühere Züge Bescheid wissen. Zum anderen wurde das Konzept der Auszahlungsfunktionen verallgemeinert. Im Aufsatz wurden die 'payoffs' monetär gefaBt und angenommen, daß eine Währungseinheit jedem Spieler gleich viel bedeutet. Im Buch hingegen wurde dem naheliegenden Einwand Rechnung getragen, daß eine Währungseinheit für verschiedene Spieler unterschiedliche Bedeutung haben kann. An die Stelle monetärer Größen trat das Konzept des Nutzens. Dabei gebührt von Neumann und Morgenstern das Verdienst, die Nutzentheorie auf eine axiomatische Grundlage gestellt zu haben. Anfang 1932 trug von Neumann im Mathematischen Seminar der Universität Princeton ein Papier vor, das einen bahnbrechenden Beitrag zum zweiten genannten Feld, der Theorie gleichgewichtigen Wachstums, enthielt, das sogenannte 'von Neumann-Modell'. Auf Einladung des Ma-

thematikers Karl Menger, dem Sohn des Ökonomen Carl Menger, präsentierte von Neumann sein Papier im Jahr 1936 auch in dessen Mathematischem Kolloquium an der Universität Wien. Der knapp zehnseitige Aufsatz wurde 1937 unter dem Titel Über ein ökonomisches Gleichungssystem und eine Verallgemeinerung des Brouwerschen Fixpunktsatzes veröffentlicht; auf Vermittlung Nicholas Kaldors kam es zur Übersetzung ins Englische und zur Publikation 194S im Review of Economic Studies unter dem Titel Α Model of General Economic Equilibrium. Der vorherrschenden Deutung zufolge handelt es sich beim von Neumann-Modell um einen Beitrag zum in den dreißiger Jahren in Mengers Kolloquium diskutierten 'Walras-Cassel-Modell' (vgl. z.B. Weintraub 1985 sowie Dore, Chakravarty und Goodwin 1989). Unter letzterem ist die vom schwedischen Ökonomen Gustav Cassel in dessen 1918 veröffentlichter Theoretischen Sozialökonomie vorgestellte vereinfachte Version des Walrasschen Modells gemeint. Im Rahmen der fraglichen Diskussion lieferte -» Abraham Wald bekanntlich den ersten Existenzbeweis eines neoklassischen Modells des allgemeinen ökonomischen Gleichgewichts. Diese Deutung läßt sich nicht halten. Zum einen entstand von Neumanns Beitrag vor den im Kolloquium zur Sprache kommenden Arbeiten Abraham Walds und -* Karl Schlesingers. Zum anderen lassen sich zentrale Bestandteile des von Neumannschen Modells nicht mit dem neoklassischen, knappheitstheoretischen Ansatz des Walras-Cassel-Modells vereinbaren. (Einiges spricht vielmehr dafür, daß von Neumanns Beitrag u.a. als Antwort auf einen Aufsatz seines Berliner Kollegen, des Mathematikers -* Robert Remak, begriffen werden kann; vgl. hierzu Kurz und Salvadori 1993.) So geht das neoklassische Modell von folgenden Daten aus: (a) den sogenannten Anfangsausstattungen der Ökonomie mit produktiven Faktoren aller Art, gegebenenfalls unter Einschluß von gegebenen Mengen verschiedener Kapitalgüter, (b) den Präferenzen der Akteure und (c) den technischen Alternativen der Produktion. Angebot an und Nachfrage nach Gutem und den in ihrer Produktion verwendeten Faktorleistungen, wobei Angebot und Nachfrage jeweils als funktionale Beziehungen zwischen Preis und Menge verstanden werden, ergeben im Gleichgewicht ein System von Preisen und Mengen, welches mit den genannten Daten kompatibel ist. Der größte Unter-

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Neumann, John von schied zwischen dem von Neumannschen und dem neoklassischen Modell besteht darin, daß man in ersterem vergeblich nach einer Anfangsausstattung sucht, die die Produktionsaktivität und das Wachstum des ökonomischen Systems begrenzen könnte. Es wird vielmehr unterstellt, daß der ExpansionsprozeB weder durch exogen vorgegebene Mengen natürlich vorhandener noch durch solche produzierter Produktionsmittel limitiert wird. Infolgedessen kann auch der Zinssatz nicht als Knappheitspreis eines Faktors Kapital begriffen werden. Eine genauere Betrachtung zeigt, daß das von Neumannsche Modell genuin klassische Züge trägt. (Dies bedeutet nicht, daß von Neumann mit der Analyse der klassischen Ökonomen oder Marxens vertraut war; vgl. hierzu Kurz und Salvador) 1993.) Die Analyse konzentriert sich auf langfristige Gleichgewichte des ökonomischen Systems, charakterisiert durch einen konkurrenzwirtschaftlich einheitlichen Zinssatz (Profitrate). Die Produktion wird als zirkulärer ProzeB der Erzeugung von Waren mittels Waren begriffen und nicht, wie im Modell Cassels, als eine Art Einbahnstraße, die von originären Faktoren zu Endprodukten führt. Während im neoklassischen Modell alle Faktorpreise auf symmetrische Weise als Ergebnis des Zusammenspiels von Faktorangebot und -nachfrage behandelt werden, findet sich im von Neumann-Modell eine die klassische Verteilungstheorie eines David Ricardo kennzeichnende Asymmetrie: Der Reallohnsatz wird als exogene Variable behandelt und die Profitrate (Zinssatz) residual bestimmt. Die Preise der Waren sind gleich deren (Re-)Produktionskosten unter Einschluß der gezahlten Zinsen; diese Preise sind das Resultat der Technikwahlentscheidungen kostenminimierender Produzenten und reflektieren von Neumann zufolge den „normalen Preismechanismus" einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ökonomie. Dieser Preismechanismus arbeitet von Neumann zufolge, sieht man vom potentiell störenden Einfluß des Geldes ab, „effizient". (Sein Kollege Remak hatte dagegen behauptet, die Art der Preisbildung im Kapitalismus sei hauptverantwortlich für dessen Gebrechen in Gestalt von Krisen, Dauerarbeitslosigkeit usw.) Der marginalistische Begriff der Preise als Knappheitsindikatoren ist dem von Neumann-Modell fremd. Die wichtigsten Annahmen und Ergebnisse von Neumanns lassen sich wie folgt zusammenfassen. Es existieren m lineare Produktionsprozesse zur

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Erzeugung von η Produkten. Waren werden mittels Waren in Produktionsprozessen erzeugt, die in elementare Zeiteinheiten, der als uniform unterstellten Produktionsperiode, zerlegt werden können. Kuppelproduktion ist zugelassen. Dies bedeutet, daß sowohl zirkulierende als auch fixe Kapitalgüter behandelt werden können, wobei das fortfungierende Fixkapital als Kuppelprodukt des eigentlichen Produkts betrachtet wird. Auf diese Weise ergibt sich die Abschreibung eines Fixkapitalguts als Differenz der Preise dieses Gutes zu Beginn und am Ende einer Produktionsperiode. Für im Überschuß erzeugte Produkte gilt die 'Regel der freien Güter': Sie erzielen einen Preis von Null. Der gesamte Überschuß (Zins) wird akkumuliert. Im Gleichgewicht wirft keiner der aktivierten Prozesse Extragewinne ab. Prozesse, die Extrakosten aufweisen, werden nicht verwendet. (Überdies unterstellte von Neumann der Einfachheit halber, daß in jedem Prozeß positive Mengen eines jeden Produkts entweder als Input oder als Output vorkommen, eine äußerst restriktive Annahme, die in der Folgezeit als erste aufgehoben wurde.) Auf der Basis dieser Annahmen bestimmte er, (a) welche Prozesse aktiviert werden, (b) mit welcher Rate die Ökonomie wächst, (c) welche Preise sich ergeben und (d) wie hoch der Zinssatz ist. Er zeigte, daß eine Lösung existiert und daß unter den gegebenen Bedingungen der Zinssatz notwendigerweise gleich der Wachstumsrate ist. Das von Neumann-Modell war Ausgangspunkt bedeutender Entwicklungen in der mathematischen Wirtschaftstheorie. Die Verallgemeinerung des Brouwerschen Fixpunktsatzes wurde schnell zum Hauptwerkzeug der allgemeinen Gleichgewichtstheorie. Das lineare Produktionsmodell ebnete der Theorie der Linearen Programmierung von Kantorowitsch und Dantzig, der Aktivitätsanalyse von Koopmans und der dynamischen Variante von Leontiefs Input-Output-Analyse den Weg. Kaum ein anderer Forscher hat auf die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft einen ähnlich tiefgehenden und umfänglichen Einfluß genommen wie von Neumann - bei insgesamt nur drei dem Fachgebiet direkt zuzurechnenden Publikationen. Schriften in Auswahl: (1928) Zur Theorie der Gesellschaftsspiele, in: Mathematische Annalen, Bd. 100, S. 295-320.

Neumann-Tönniessen, Hedwig (1937)

(1945)

(1944)

(1958) (1963)

Über ein ökonomisches Gleichungssystem und eine Verallgemeinerung des Brouwerschen Fixpunktsatzes, in: Ergebnisse eines mathematischen Kolloquiums, hrsg. von K. Menger, Bd. 8, S. 73-83. Α Model of General Economic Equilibrium, in: Review of Economic Studies, Bd. 13, S. 1-9. Theory of Games and Economic Behavior (zus. mit O. Morgenstern), Princeton, 2. Aufl. 1947, 3. Aufl. 1953. The Computer and the Brain, New Haven. Collected Works (4 Bde.), New York.

Bibliographie: Dore, M., Chakravarty, S., Goodwin, R. (Hrsg.) (1989): John von Neumann and Modern Economics, Oxford. Goldstine, H.H. (1972): The Computer from Pascal to von Neumann, Cambridge, Mass. Heims, S.J. (1980): John von Neumann and Norbert Wiener, Cambridge, Mass. Kurz, H.D., und Salvadori, N. (1993): Von Neumann's Growth Model and the 'Classical' Tradition, in: The European Journal of the History of Economic Thought, Bd. 1, S. 129-160. Morgenstern, Ο. (1958): Obituary. John von Neumann, 1903-57, in: Economic Journal, Bd. 68, S. 170-174. Morgenstern, Ο. (1976): The Collaboration between Oskar Morgenstern and John von Neumann on the Theory of Games, in: Journal of Economic Literature, Bd. 14, S. 805-816. Oxtoby, J.C., Pettis, B.J., und Price, G.B. (Hrsg.) (1958): John von Neumann 1903-1957, in: Bulletin of the American Mathematical Society, Bd. 64 (2), S. 1-129. Thompson, G.L. (1987): von Neumann, John, in: J. Eatwell, u.a. (Hrsg.): The New Palgrave. A Dictionary of Economics, London, Bd. 4, S. 818-822. Ulam, S. (1958): John von Neumann 1903-1957, in: Bulletin of the American Economic Society, Bd. 64(2), S. 1-49. Weintraub, E.R. (1985): General Equilibrium Analysis. Studies in Appraisal, Cambridge. Quelle: National Encyclopaedia of American Biography 1963. Heinz D. Kurz

Neumann-Tönnlessen, Hedwig, geb. 25.5.1902 in Esenshamm/Oldenburg; Todesort und -datum sind unbekannt. Am 26.3.1931 heiratete sie Dr. Konrad Neumann. Nach der Hochschulreife in Wilhelmshaven studierte sie ab 1922 in Göttingen, Jena, Hamburg, Kiel und Heidelberg Philosophie, Geschichte, Nationalökonomie und Jura. In Hamburg und Kiel war Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld ihr akademischer Lehrer. An der Universität Kiel Schloß sie am 23.3.1926 mit dem volkswirtschaftlichen Diplom ab. Danach setzte sie ihr Studium am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften (InSoSta) der Universität Heidelberg bei -» Alfred Weber fort. Gleichzeitig arbeitete sie von 1926 bis 1929 am InSoSta als zweite Assistentin. 1928 beendete sie ihre Dissertation Zur Analyse der quantitativen Betrachtungsweise in der ökonomischen Theorie (1931) . Ihre mündliche Prüfung in Nationalökonomie, Soziologie, Neuere Geschichte und Philosophie legt sie am 15.11.1928 bei A. Weber und K. Jaspers ab. In der Dissertation kritisierte sie die ausschließlich quantitative Analyse in der Wirtschaftstheorie und plädierte für eine dynamische Analyse, um „alle auf die tatsächliche Gestaltung eines Wirtschaftsprozesses einwirkenden Tatbestände in ihrer ökonomischen Relevanz zu analysieren*4 (1931, S. 24). Ihre Kritik bezieht sich u.a. auch auf die Arbeiten Emst Schusters, der ein exponierter Vertreter der quantitativen Analyse war. Die Beschränkung auf die quantitative Analyse kann jedoch nach Tönniessen der Nationalökonomie als deutender Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben nicht gerecht werden. Sie verzichte so darauf, „daß die Nationalökonomie eine Sozialwissenschaft, eine Wissenschaft vom rationalen menschlichen Handeln und vom vernunftmäßigen Geschehen ist" (ebd., S. 79). Im Gegensatz zu Schuster plädiert Tönniessen dafür, die quantitative mit einer qualitativen Analyse zu verbinden, die ihre Zusammenhänge und ihren Sinn verständlich zu machen in der Lage ist. Für eine Forschungsarbeit über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der arabischen Bevölkerung des britischen Mandatsgebiets in Palästina, mit der sich Neumann-Tönniessen habilitieren wollte, erhielt sie ein Fellowship der Rockefeiler Foundation. Von 1931 bis 1934 war sie am InSoSta als Bibliothekarin und als a.o. Assistentin beschäftigt. Ehe sie ihre Habilitation abgeschlos-

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Neumark, Fritz sen hatte, wurde sie im Oktober 1934 entlassen. Im gleichen Monat (28.10.34 ) brachte sie einen Sohn zur Welt. Nach dem 2.10.1936 war sie in Karlsruhe gemeldet. Sie emigrierte 1938 mit ihrem Mann nach Australien. „There they started a business ... a retail shop" war die letzte Nachricht, die der britische Academic Assistance Council 1944 erhalten hatte. Schriften in Auswahl: (1927) Die studierende Frau und das Geschlechterproblem, in: Die Frau, 34. Jg., S. 673-680. (1928/29) Dante und die Gesellschaft des 14. Jahrhunderts, in: Die Frau, 36. Jg., S. 362-370. (1929) Die deutsche Volkshochschulbewegung, in: Die Frau, 36. Jg., S. 690693. (1931) Zur Analyse der quantitativen Betrachungsweise in der ökonomischen Theorie, Wertheim a.M. (Diss.). Quellen: UA Heidelberg; Stadtarchiv Heidelberg; SPSL 353/5. Theresa Wobbe

Neumark, Fritz, geb. 20.7.1900 in Hannover, gest. 9.3.1991 in Baden-Baden Sohn einer Kaufmannsfamilie jüdischer Abstammung. Nach dem Realgymnasium (Notreifepriifung) und Wehrdienst (1918-1919) studierte er Germanistik und Wirtschaftswissenschaften (Rechts- und Staatswissenschaften mit angrenzenden Gebieten) in München, Hamburg und Jena, wo er 1921 über Begriff und Wesen der Inflation (1922) bei J. Pierstorff promovierte. Es folgte eine juristische Ergänzungsausbildung; von 1923-1925 arbeitete er als wissenschaftliche Hilfskraft im Berliner Reichsfinanzministerium (Abteilung Auslandsarchiv). Der Reichshaushaltplan (1929) wurde als Habilitationsschrift bei W. Gerloff in Frankfurt verfaßt, bei dem er von 1925-1927 als Assistent tätig war und wo er von 1927-1932 als Privatdozent lehrte. Bald nach seiner Berufung zum außerordentlichen Professor wurde er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten seiner Stellung enthoben.

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Neumark emigrierte mit seiner Frau und zwei Kindern in die Türkei, wo er von 1933-1951 als ordentlicher Professor an der juristischen, später wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Istanbuler Universität wirkte. 1952 nahm er einen Ruf an den Lehrstuhl fur wirtschaftswissenschaftliche Staatswissenschaften, insbesondere Finanzwissenschaft, in Frankfurt an, wo er als Nachfolger seines Lehrers Gerloff bis zu seiner Emeritierung 1970 lehrte und 1954/55 sowie 1961/62 als Rektor fungierte. Gastprofessuren nahm er in Basel (1954/55) und in New York an der Columbia University wahr (1962/63). Als Auszeichnungen erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband, das Komtuikreuz d. Palmes acad. und die Wilhelm-Leuschner-Medaille. Er war Ehrensenator der Universität Frankfurt und erhielt zahlreiche Ehrendoktorate deutscher (FU Berlin, Göttingen) und ausländischer Universitäten (Istanbul, Paris/Sorbonne). Neumark war Präsident und Ehrenpräsident des Institut International de Finances Publiques, Ehrenpräsident der Gesellschaft türkischer Volkswirte, Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik, Mitglied der wissenschaftlichen Beiräte der Bundesministerien fur Wirtschaft und für Finanzen (Vorsitzender 1965) und Mitglied des Steuer- und Finanzausschusses der EG. Neumaik gilt unbestritten als Nestor und Mentor der deutschen Finanzwissenschaft, der dafür sorgte, daß diese nach 1945 bald wieder Anschluß an die internationale Entwicklung des Faches gewann. Er ging aber weder durch ein bestimmtes finanzwissenschaftliches 'Theorem' noch durch ein volkswirtschaftliches 'Modell' in die Dogmengeschichte und in finanzwissenschaftliche Lehrbücher ein, so daß seine Bedeutung oft unter Zugrundelegen eines gradlinigen, stetigen Erkenntnisfortschritts primär in der frühen Rezeption der angelsächsischen Fiskalpolitik gesehen wird, deren zunehmende Ökonomisierung und Formalisierung seinen verbalen Ansatz heute als überholt erscheinen lassen mag. Diese Sichtweise widerspricht Neumarks eigener Auffassung der Zyklen in der Geschichte ökonomischer Ideen (1975), die ein bezeichnendes Licht auf seine zur heutigen Situation heterodoxen Auffassung von Wesen und Aufgaben der (auch fmanzwissenschaftlichen) Theoriebildung wirft und erklärt, weshalb Neumark die Abfassung eines dogmenhistorischen Lehrbuches in türkisch und die Gründung und Tätigkeit als erster Ausschußvorsitzen-

Neumark, Fritz der des seit 1980 bestehenden dogmenhistorischen Ausschusses im Verein für Socialpolitik für essentielle Aufgaben auch des Wirtschaftstheoretikers hielt. Neumark hielt eine von Raum und Zeit unabhängige Gültigkeit der Wirtschaftstheorie für unmöglich, da sich deren Allgemeinheitscharakter zwar nicht auf die Lösung bestimmter aktueller wirtschaftspolitischer Aufgaben, sehr wohl aber auf die Analyse und Erklärung „der Zusammenhänge des wirtschaftlichen Alltags" (Eucken) der jeweiligen „dominanten Wirtschaft" (Perroux) bezieht und hierbei die „materiellen wie ideologischen Bedingungen der ökonomisch-sozialen Wirklichkeit" (1961, S. S) zu berücksichtigen sind, d.h. man „finanzwirtschaftliche Erscheinungen und Institutionen auch unter politisch-soziologischen Aspekten zu betrachten" (1961, S. 87) habe, deren Analyse auch historische Kenntnisse voraussetzt (siehe seine frühe Arbeit über Regalien 1925). Bereits in seiner Dissertation über Begriff und Wesen der Inflation wird aber unter Berücksichtigung wirtschaftssystemischer (Sombait) und -stilistischer Aspekte (Spiethoff), die als reflektierte Übernahme der Forschungen der Historischen Schule angesehen werden können, neben der anschaulichen die von Salin so bezeichnete Rezeption rationaler Theorieelemente zunächst in Form der Entwicklung einer Theorie der Inflation, die auf eine Theorie des Geldes zu basieren habe, unternommen. Sie setze einen eindeutigen Begriffsapparat voraus und habe von allen historischen Besonderheiten zu abstrahieren, wie es im Vorwort seiner Arbeit programmatisch heißt. Charakteristisch für den Neumarkschen „Denkstil" (Fleck) ist seine Bestimmung der Geltung des Geldes im Sinne Knapps, der die Veränderung der 'Beteiligungsintensität' des Geldes als ökonomische Kategorie des Verhältnisses zwischen Geld und Gutem, dessen konkrete Bestimmung den Gesetzen der Preisbildung unterliegt, an die Seite zu stellen sei. „Geld ermöglicht die Beteiligung am Sozialprodukte. Sein Besitz verleiht dem Wirtschafter die Fähigkeit, wirksame Nachfrage auf dem Markte auszuüben, das heiBt: Kaufkraft; es ist zugleich das Mittel, diese Kaufkraft geltend zu machen ... Dadurch, daß die Geldmenge die Kaufkraft beeinfluBt, diese wiederum die Nachfrage und damit die Preisbildung, bestehen Einwirkungsmöglichkeiten der Geldmenge auf die Preisgestaltung" (1922, S. 12). Unter Inflation, die sich staatlicher Maßnahmen „interessierter

Wirtschafter" verdankt, versteht er eine Vermehrung der Zahlungsmittel ohne entsprechende gleichzeitige Vergrößerung des Sozialprodukts (1922, S. 24). Neben statisch-quantitätstheoretischen Überlegungen finden sich im Anschluß an Schumpeter auch dynamische Überlegungen, neben den Wirkungen einer sich in Grenzen haltenden allgemeinen Preissteigerung wird die Überlegung angestellt, daß bei produktiver Verwendung zusätzliche Kaufkraft das Sozialprodukt steigere und als kompensierende Wirkung die vormalige Preissteigerung zurückgenommen würde. Diese, auf den Weg der keynesianischen Revolution führenden Gedanken werden durch die Behauptung, dem Wesen nach sei Inflation aber stets Geldschöpfung ohne Zusammenhang zur Güterbereitstellung, abrupt unterbrochen (1922, S. 38) und ökonomische und soziologische Argumente dafür angeftthrt, daß die scheinbaren Inflationsvorteile in Wirklichkeit Nachteile seien (soziale Ungerechtigkeiten, die Einstellung zum Sparen wird verändert, das Verschwinden des Mittelstandes setze ein usw.). Neumarks Erstlingsschrift belegt eindrücklich seine komplementäre wirtschaftstheoretische Ausrichtung, die dazu führte, daß er sowohl in Istanbul, als auch später in Frankfurt allgemeine Wirtschaftstheorie las und zwischen 1939 und 1942 auf türkisch eine zweibändige allgemeine Wirtschaftstheorie verfaßte und sein institutionell-soziologische Einflüsse berücksichtigender Ansatz stets enge Tuchfühlung zur Wirtschaftstheorie suchte und bewahrte, was später zu einer nicht fiskalisch verengten gesamtwirtschaftlichen Sicht der Finanzwissenschaft führte. Neumarks Schriften zeichnet generell ein goldener Mittelweg zwischen Abstraktion und Konkretion aus. Bereits seine frühe Schrift läßt eine überlegte Indifferenz gegenüber Schulstreitigkeiten erkennen, da er sich im weitesten Sinne zu den Ausläufern der Historischen Schule zählte, sich einem statistisch-empirischen Ansatz verpflichtet fühlte und auch die einsetzende angloamerikanische Neoklassik verarbeitete. Die Wahl des Dissertationsthemas selbst läßt seine Auffassung der Nationalökonomie als Wirklichkeitswissenschaft hervortreten, über die er auch biographisch Rechenschaft ablegte (1980, S. 28-36): Nach „Glanz und Herrlichkeit" des wilhelminischen Reiches, dessen „blinden Nationalismus" er in der Schule erlebte und er auf dem Realgymnasium die Notreifeprüfung mit dem

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Neumark, Fritz Thema des Abituraufsatzes: „Warum verdienen die Taten der Heerführer vor allem das höchste Lob?" im Friihsommer 1918 abschloß, seinem kurzen Militärdienst und dem Zusammenbruch Anfang 1918, erlebte er 1919, vor allem aber 1922/23 das Ende des Goldstandards in der Hyperinflation, dessen Fundament bereits unter dem damaligen Reichskanzler K. Helfferich mittels einer inflatorischen Kriegskostenfinanzierung gelegt wurde (1980, S. 35). Der Erste Weltkrieg brachte eine weitere Veränderung, die Neumarks Aufmerksamkeit auf sein eigentliches „Spezialgebiet", die Finanzwissenschaft, lenken sollte: die staatliche Planung der Ökonomie und der sprunghafte Anstieg der Staatsquote. So wechselte Neumark nach Berlin zum konservativen Ministerialdirektor und späteren Staatssekretär (und noch Anfang 1945 hingerichteten) .Johannes Popitz, jener führende Kopf des Reichsfinanzministeriums, unter dem ich als sogenannter 'wissenschaftlicher Hilfsarbeiter' von 1923 bis 1925 lernte, was es heiBt, praktische und zugleich pragmatische, eben deshalb aber auch erfolgreiche Finanzpolitik zu betreiben" (1980, S. 53). Dort traf er auch Anfang 1925 den als Berater des Amtes tätigen W. Gerloff, der ihn als Professor für Finanzwissenschaft an der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät in Frankfurt dazu ermunterte, bei ihm zu habilitieren, ein Angebot, das Neumark, der in der Nachkriegsinflation selbst alle Reserven verlor, aus finanziellen, hochschulpolitischen und vor allem wissenschaftstheoretischen Gründen gerne annahm. Als Gerloffs Assistent wurde er mit zur Herausgabe der ersten Auflage des Handbuchs der Finanzwissenschaft herangezogen, dessen zweite und wesentlich umfangreichere Auflage er 1952 mit diesem begann und nach dessen Tod allein weiter führte, und durch die ausgeglichene Gewichtung von Theoretischem und Institutionellem beeinfluBte; mit mehr als 70 Jahren gab er 20 Jahre später mit N. Andel und H. Haller die dritte Auflage heraus. Aus seiner Assistentenzeit bei Gerloff stammt auch Neumarks 400 Seiten umfassende Habilitationsschrift über den Reichshaushaltplan (1929), in der er die praktischen Erfahrungen im Reichsfinanzministerium in eine theoretische Analyse einmünden läßt, die nicht additiv Einzelprinzipien unter juristischem Blickwinkel aufzählt, sondern zu einer vergleichenden und allgemeinen Budgetlehre mit einer theoretisch fundierten Auffassung vom Begriff und der Funktion des Budgets über-

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haupt unter Beachtung der rechtlichen und politischen Seite führen sollte. Seine Arbeit beinhaltete auch eine vergleichende Betrachtung ausländischer Institutionen und abschließende Reformvorschläge. Neumarks Überlegungen schlossen stets praktische Entscheidungsfragen ein, was sich in späteren Jahren in seiner Mitarbeit in den bereits erwähnten wirtschafts- und finanzwissenschaftlichen Beiräten niederschlug, femer in seiner Verbindung detaillierter juristischer und empirischer Daten und Regelungen, die aber eine theoretische Bündelung durch die Klarstellung der finanzpolitischen Funktionen und der Grundsätze des Budgetwesens erfahren, die Neumark nach dem Aufgreifen der Fiskalpolitik und durch die Unterscheidung der finanz-, wirtschafts- und sozialpolitischen Funktion durch die Diskussion alter und neuer Besteuerungsprinzipien auf den jeweiligen Stand der Diskussion brachte (1952 und 1970, ein Buch, das nach Timm als dauerhaftes Standardwerk anzusehen ist). Charakteristisch ist Neumarks stark international ausgerichtete Rezeption der Literatur und der behandelten Beispielsfälle, die auch bei seinen Überlegungen zur Ausgestaltung der Einkommensbesteuening (1949) hervorsticht. Schließlich tritt neben einem typisierenden Verfahren (so unterscheidet er z.B. nationale Typen der Finanzwissenschaft und nimmt eine Klassifikation der Steuerformen vor, siehe 1961) bereits in seiner Habilitationsschrift die praxeologische Ausrichtung seines Denkens deutlich hervor; gute Theorie muß sich für ihn auch und gerade in der Politikberatung bewähren, für die bereits seine Schrift Konjunktur und Steuern (1930) ein Beispiel bietet, in der Neumark versucht, die Beziehung zwischen Konjunkturen und Steuern theoretisch-deduktiv, aber unter Einschluß empirischen Materials zu klären, und mit der er vorgreifend auf die wirtschaftspolitische Entwicklung reagierte, die schließlich in Brünings Deflationspolitik als Versuch der Abschüttelung der Reparationslasten mit der Folge des viele Millionen umfassenden Arbeitslosenheeres endete. Er schließt die ihn später wesentlich beschäftigende Frage nach der Möglichkeit einer steuerpolitischen Beeinflussung der Konjunktur im weitesten Sinne bewußt aus und beschränkt sich auf die Frage, inwiefern bei einer Wirtschaftsdepression durch Senkung einer bestimmten Steuerart auf Kosten der Erhöhung einer anderen eine Stok-

Neumark, Fritz kungsperiode überwunden werden könne (vgl. ebd., S. 14) und wie sich allgemein konjunkturell bedingte einzelne Steuerertragsschwankungen auf den öffentlichen Haushalt auswirken. Nach der Darlegung der Konjunkturempfindlichkeit der einzelnen Steuerarten und der Feststellung der Konjunktuneagibilität des Gesamtsystems wird abschließend überlegt, ob nicht eine aktiv elastische Ausgestaltung z.B. der Einkommensteuer durch jährliche Festlegung der 'Grundrate' im Haushaltsgesetz oder eine automatische Anpassungsfixierung zum Ausgleich der Steuereitragsschwankungen sinnvoll wäre (vgl. ebd., S. 58f.); hier deuten sich Überlegungen zur volkswirtschaftlichen Beeinflussung durch die Budgetgestaltung an, die allerdings vom Leitziel eines ausgeglichenen Budgets ausgehen und daher eine prozyklische Parallelpolitik beinhalten. Die bald darauf einsetzende tatsächliche weltweite Wirtschaftsdepression, die sie begleitende Deflationspolitik und die langsame politische Aushöhlung der inneren Fundamente der Weimarer Republik brachten auch für Neumark schmerzliche biographische Veränderungen (1980, S. 37SS). Der 33jährige, gerade zum außerordentlichen Professor der Finanzwissenschaft Berufene, befand sich als einer der Ersten auf der Entlassungsliste im Rahmen des sogenannten 'Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums'. Als Mittelloser und Zeuge mehrfacher gewalttätiger Aktionen nazifreundlicher Studenten und der Verbrennung der Werke Manns, Brechts und anderer auf dem Frankfurter Römerberg sowie als Adressat zahlreicher Schmähbriefe entschloß sich Neumark zur Emigration. Mitte Oktober 1933 betraten die Neumarks erstmals den Boden der 10 Jahre alten türkischen Republik, der ihnen die nächsten 18 Jahre zur zweiten Heimat werden sollte. Dank der Vermittlung der in Genf ansässigen 'Notgemeinschaft Philipp Schwartz' (1972) gehörte Neumark zu den rund ISO Wissenschaftlern, die auf Geheiß Kemal Atatürks zum Neuaufbau des türkischen Bildungswesen beitragen sollten (Widmann 1973). An der Universität Istanbul hatte er an der neu gegründeten Wirtschaftsfakultät mit -» Wilhelm Röpke als erstem Direktor die Professur für Sozialhygiene und Statistik inne, tatsächlich las er aber alternativ mit Röpke und einem türkischen Kollegen Theorie und Politik der Volkswirtschaftslehre. Bald kam die ausschließlich von ihm vertretene Finanzwissenschaft hinzu, ergänzt durch dogmenge-

schichtliche Vorlesungen. Neumark wohnte im Stadtteil Kadiköy nur wenige Meter vom Marmarameer entfernt auf der asiatischen Seite mit Blick auf das ehemalige Sultanschloß Saray ganz in der Nähe Röpkes und -» Alexander Rüstows, den zwei liberalen, aus rein politischen Gründen emigrierten Nationalökonomen, denen er freundschaftlich und im wissenschaftlichen Dialog verbunden war. Bis zu 1000 Studenten mußten zunächst mit Hilfe von Übersetzern pro Semester geprüft werden. Im Unterschied zu vielen anderen Emigranten beherrschte Neumark nach zwei Jahren die türkische Sprache leidlich, später bis zu seinem Lebensende ziemlich perfekt. Was die wissenschaftliche Seite betrifft, erfüllte er seine Veitragsverpflichtungen vorbildlich. Neben der Herausgabe einer universitären mehrsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschrift (Revue de la Faculty des Sciences Economiques de l'Universiti d'lstanbul) mit zwei türkischen Kollegen verfaßte er eine zweibändige allgemeine Wirtschaftstheorie, ein Buch Uber Außenhandels- und Agrarpolitik, einen Band über die Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, eine umfassende Sammlung finanzwissenschaftlicher Essays und eine Monographie über moderne Einkommensbesteuerung. Die dort niedergelegten Erkenntnisse setzte Neumark auch in praktische Politikberatung um, die er bis weit nach dem Krieg u.a. durch seine Studie zur Abwertungsfrage der Türkischen Lira für die Zentralbank und sein Gutachten über die Möglichkeiten einer Rationalisierung der Steuerverwaltung 1949 für die Regierung verfolgte. Grundsätzlich ging Neumaik davon aus, „daß ein fiskalisch ergiebiges und steigerungsfähiges, gerechtes und ökonomisch rationales Steuersystem folgende Abgaben, aber auch nur folgende Abgaben, enthalten muß: 1) Eine allgemeine Einkommensteuer, 2) eine Körperschaftsteuer, 3) eine allgemeine Vermögensteuer, 4) eine als allgemeine Verbrauchsteuer angelegte Umsatzsteuer, S) eine Erbschaftsteuer. Dazu kommen noch einige Abgaben" (1970, S. 390). In einem solchen Steuersystem, das „ungeachtet aller aus Traditionalismus, Ignoranz, Gruppenegoismus u. dgl. mehr resultierenden Schwierigkeiten verwirklicht werden könnte und sollte" (ebd.) kam der Einkommensteuer eine hervorgehobene Rolle zu, die sich auch in ihrer internationalen Verbreitung beweise. Ihre Hauptmerkmale als Personalsteuer unter Berücksichtigung von Alter und Familienstand, ihre

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Neumark, Fritz progressive Ausgestaltung unter Beachtung außergewöhnlicher Belastungen und die Erfassung des wirklichen Reineinkommens bilden Merkmale, die bewiesen, daß sie „eine Steuer ist, die sowohl außerordentlich ergiebig und elastisch ist als auch eine nach Maßgabe der vorherrschenden Anschauung gerechte Lastenverteilung gestattet. Es kommt hinzu, daß die heutige Einkommensteuer dank ihrer großen Reichweite und ihrer bevorzugten Stellung im Gesamtsteuersystem, aber auch infolge ihrer technischen Eigenart in hervorragendem Maße geeignet ist, neben ihrer 'vocation financifere' eine Reihe von nicht-fiskalischen, insbesondere wirtschafts- und sozialpolitischen Funktionen zu versehen" (1949, S. 44f.). Neumark begründet ihre tatsächliche und wünschenswerte Rolle (Neumarks Einkommensteuerbuch steht das Motto F. Meiseis: 'Es gibt keine demokratischere, und keine bessere und keine sozialere Steuer als die Einkommensteuer' voran) nicht vermittels eines abstrakten Modells, sondern wie im Zitat angedeutet mit einer causa finalis in Abhängigkeit von den jeweiligen „materiellen, institutionellen und ideologischen Bedingungen" (1961, S. 81), ein Verfahren, das er in seiner zweiten, die Gesetzgebung verschiedener Länder vergleichenden Studie zur Praxis modemer Einkommensbesteuerung zur Anwendung bringt (1947). Die meisten dieser Bedingungen waren im Fall der Türkei als bestenfalls „halbmodemes" Land mit bedeutendem Agrarsektor, einer sechzigprozentigen Analphabetenquote und einer bescheidenen Finanzverwaltung nur sehr bedingt gegeben. Für Neumark, der durch den EinfluB der Ausläufer der Historischen Schule institutionellen, kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen große Beachtung schenkte, kam eine mechanische Anwendung vorliegender Einkommensteuergesetze im Falle der Türkei natürlich nicht in Frage, die noch den Zehnten und die Viehsteuer kannte, wo fiskalische und Verteilungsgesichtspunkte aber eine Reform verlangten. Im türkischen Steuersystem überwogen die regressiv wirkenden indirekten Abgaben (insbesondere Verbrauchsteuern). Neumark arbeitete mehrere Jahre in einer Steuerreformkommission mit, die schließlich einen umfangreichen Bericht vorgelegte, in dem die Schaffung einer Abgabenordnung nach deutschem Muster sowie die Einführung einer Einkommen- und einer Körperschaftsteuer beschlossen wurde, die man trotz heftiger öffentlicher Widerstände 1950 in wesentlichen Teilen als Gesetz übernahm.

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Das Reformwerk wählte den amerikanisch-deutschen Steuertyp als Vorbild mit der Einkommensteuer als Kern des Ganzen. Vor allem in der Betriebsteuer und der allgemeinen Abgabenverordnung drückt sich die Anpassung an die spezifischen Landesbedingungen aus, da die Kleingewerbetreibenden von der Einkommensteuer befreit wurden, weil man vermutete, daß die gesetzlich auferlegte Buchführungspflicht nicht erfüllt werden konnte; an ihre Stelle trat eine Abgabe für kleinere und mittelständische (Handwerksbetriebe. Im Falle der Landwirtschaft erfolgte eine generelle Befreiung der Landwirtschaftsgewinne von der Einkommensteuer, die ebenso wie andere Unvollständigkeiten (z.B. die Nichteinbeziehung der Kinderzahl) von Neumark für situativ notwendig gehalten wurde (zu den Determinanten und Voraussetzungen der Reform siehe 1947 sowie Andic/Andic 1981). Neumark kapselte sich aber in seinem neuen Wirkungsfeld nicht ab, sondern versuchte nach besten Möglichkeiten internationale, vornehmlich angloamerikanische Diskussionszusammenhänge zu verfolgen, durch die Revue mit der Fachwelt in Verbindung zu bleiben und die Ursachen der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Katastrophe zu erschließen. Im Unterschied zu seinen Istanbuler Nachbarn Rüstow und Röpke, die sich mit weit ausgreifenden Zivilisations- und Kulturkritiken befaßten, suchte Neumark nach einer realistischen Wirtschaftspolitik als Antwort auf die Deflationspolitik der Vorkriegszeit und deren Folgen. Bereits kurz nach Erscheinen der Keynesschen General Theory publizierte Neumark Artikel über die revolutionären Folgen für eine Fiskalpolitik (siehe z.B. 1937) in Kenntnis der wesentlichen Literatur, betonte aber stets, daß der Gegensatz der alten und neuen Ökonomik auch in methodischer Hinsicht nicht so schroff sei, wie von Keynes und einigen seiner Anhänger behauptet (1961, S. 4), jedes Theoriegebäude - auch das klassische - in sich logisch geschlossen sei und die Allgemeinheit/Überlegenheit einer Theorie sich wesentlich hinsichtlich ihrer wirtschaftspolitischen Umsetzbarkeit in einem bestimmten und konkreten materiell-ideologischen Milieu der dominanten ökonomischen Formation zu beweisen habe, denn „die Wirtschaft und ihre Ordnung sind nicht etwas naturgegeben-unabänderliches, sondern weitgehend durch menschlichen Willen und menschliche Tatkraft gestaltbar" (1964, S. 48).

Neumark, Fritz Neumark hielt den Trend zu einem höheren Staatsanteil wie A. Wagner für zwangsläufig. Die fortschreitende Industrialisierung bewahre zwar prinzipiell Privateigentum, Konsumwahlfreiheit und Unternehmerautonomie, erfordere aber Modifikationen, die zu einem Mischgebilde der Wirtschaftsordnung führen. Da Neumark tendenziell universal gültigen und anwendbaren theoretischen Aussagen mißtraute, bezweifelte er z.B. auch den allgemeinen Erkläningswert der Lehre der säkularen Stagnation A. Hansens, die keinen logisch-systematischen und unentbehrlichen Bestandteil der neuen Theorie ausmache und sie sich ,jn prinzipiell der gleichen Weise wie für Depressionsperioden zur Deutung von Boom-Entwicklungen eignet" (1961, S. 17). Nach Angaben zum allgemein anzustrebenden Policy-Mix von Geld-, Fiskalund Steuerpolitik sucht man bei Neumark vergebens, da es ihm auf die jeweilige (Konjunktur-) Lage und das materiell-ideologische Milieu ankam, welches bestimme, welche konkreten Maßnahmen am geeignetsten seien. Die Kunst des situativ-hermeneutischen Feingefühls sei wichtiger als die formal-hydraulische Suche nach einem theoretisch bestimmbaren allgemeinen „Optimum" anhand generalisierter Konzepte wie der Phillipskurve, gegen die er einwendet, „daB es sich den Anschein einer Allgemeingiiltigkeit bzw. -anwendbarkeit gibt, obwohl sie weitgehend auf ganz bestimmten institutionellen Verhältnissen aufbaut, die beispielsweise gegenwärtig in gleicher Art wie in England oder auch den USA in der Bundesrepublik nicht gegeben sind ... Die Fragwürdigkeit von Versuchen, an sich (oft bis zur Banalität) einsichtige Beziehungen als auch quantitativ fixierbare Gesetzmäßigkeiten hinzustellen" (1967, S. 12f.), wo bestenfalls von plausiblen Arbeitshypothesen die Rede sein könne. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hielt Neumark noch vor der Währungsreform Vorträge in Frankfurt und Heidelberg. Über die Ereignisse im Dritten Reich hat sich Neumark nie im Sinne einer Kollektivschuld oder eines generellen Antisemitismusvorwurfs geäußert, sehr wohl aber das Verhalten von Einzelpersonen und die „schlappe Haltung oder Rückgratlosigkeit" zahlreicher Zeitgenossen kritisiert (1980, S. 43) und die eigene Unterschätzung der Ereignisse 1932/33 zugestanden; nur selten und bei ausdrücklich dafür vorgesehenen Anlässen wie in seiner Rede in der Paulskirche 1955 zu „Der 20. Juli" nahm er Stellung u.a. zur unterlassenen und damals noch möglichen Ge-

genwehr nach der Einsetzung eines Reichskommissars am 20.07.1932 in Preußen durch Papen. Neben der allgemein freundlichen Aufnahme (zur Lehr- und Studiensituation zu Zeiten seiner Rückkehr siehe den Erlebnisbericht von K. Häuser 1981) mag der kurz nach seiner Ankunft 1950 erfolgte Anruf des damaligen Ministerialdirektors im Finanzministerium mit der Bitte um Teilnahme am neu gebildeten Beirat dieses Amtes beigetragen haben, in dem auch GerlofT, Stucken und Schmölders mitarbeiteten und der es Neumark ermöglichte, die Finanzwissenschaft als WirklichkeitsWissenschaft unter Einschluß politisch-sozialer Faktoren zu betreiben und ihn bald auch zum Mitglied im Finanzbeirat und des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium werden ließ. Neumaik hebt dankbar hervor, nicht der Gefahr zu abstrakten modelltheoretischen Denkens erlegen zu sein (1980, S. 242), ohne auf dieses zu verzichten, was besonders deutlich in seinem Beitrag über Grundsätze und Arten der Haushaltfiihrung und FinamJbedarfsdeckung (1952) hervortritt. Er erklärte zunächst die Prinzipien der klassischliberalen Finanzpolitik aus den materiellen und ideologischen Bedingungen ihrer Zeit und die hieraus folgenden Budgettheorien mit entsprechenden Deckungsgnindsätzen, um dann auf die Prinzipien der interventionistischen Finanzpolitik einzugehen, die strikt gegen eine dirigistische Steuerpolitik abgegrenzt wird (1961, S. 279-290), und der es „auf das Streben nach einer zugleich stetigen und die größtmögliche Ausnutzung der Produktivkräfte sichernden Wirtschaftsentwicklung einerseits, nach einer gleichmäßigeren Verteilung von Volkseinkommen und -vermögen in Verbindung mit 'sozialer Sicherheit' andererseits" (1952, S. 622) ankomme. Er erläutert die Bedeutung des finanzwissenschaftlichen Bereichs für die Gestaltung der Gesamtwirtschaftslage anhand des Keynesschen Kreislaufgedankens. Die Bedeutung der Verbrauchs- und Investitionsneigung und die Beeinflußbarkeit des Sparen-Verbrauchs-Verhältnisses durch ausgaben- und kreditpolitische Maßnahmen sowie antizyklische Steuertarifvariationen werden hervorgehoben. Von besonderem Wert ist seine Unterscheidung der Prinzipien eines zyklischen und kompensatorischen Budgetausgleichs, wobei letzterer die auch längerfristige Korrespondenz zwischen Haushaltseinnahmen und -ausgaben zugunsten einer permanenten Defizit- und Schuldenwirtschaft

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Neumark, Fritz aufgebe, was u.a. durch die Behauptung einer strukturellen Tendenz des Übersparens begründet werde. Dazwischen steht die stabilisierende Budgetpolitik, die eine Mittelstellung einnimmt, da sie eher auf die 'Built-in-flexibility' des Haushalts (deren Wirkungen Neumark aber für keineswegs ausreichend zur Konjunktursteuerung hielt) und auf die längerfristige Kompensation von Einnahmen und Ausgaben setzt. Schließlich diskutiert er das Problem der Staatsschuldentilgung im Lichte der neueren Deckungslehren; seine Meinung lautet: . f i n e rationelle Finanzpolitik sollte ... weniger darauf aus sein, ein einmal erreichtes, auch hohes Schuldenniveau wieder zu reduzieren, als vielmehr sich bemühen zu verhindern, daß die Staatsverschuldung ein finanziell und sozial bedenkliches M a ß erreicht. Auf alle Fälle verbieten sich ä tout prix, d.h. ohne Berücksichtigung der aktuellen Wirtschaftlage erfolgende (vertragliche) Tilgungen" (1952, S. 654). W o genau dieses bedenkliche M a ß liege, ließe sich nicht allgemein bestimmen, was ihm vor allem in den 1970er Jahren gelegentlich den Vorwurf eintrug, eine steigende Staatsverschuldung als unbedenklich anzusehen, wobei aber zu berücksichtigen ist, daß Neumark die Realisierung von Preisstabilität und Vollbeschäftigung als wenn auch oft konfligierende, so doch prinzipiell gleichrangige Ziele ansah (1961, S. 262-278). Den Abschluß seiner noch heute lesenswerten Ausführungen bilden Überlegungen zu den psychologisch-soziologischen und staatsrechtlich-politischen Erfolgsbedingungen einer Kombination Steuer-, ausgaben- und kreditpolitischer Maßnahmen zur Erfüllung der Ziele der Bedarfsdeckungsund Ordnungsfinanz. Ein Wesenszug des Neumarkschen Denkens und Ausdruck seiner wissenschaftlichen Redlichkeit kommt in seiner steten Hervorhebung der Schwierigkeiten der von ihm frühzeitig unterstützten Fiskalpolitik zum Ausdruck; so sprach er bei seiner akademischen Antrittsvorlesung am 3.7.1952 in Frankfurt offen von den Antinomien interventionistischer Wirtschaftspolitik, daß staatliche Eingriffe nämlich in „Realdemokratien" die Tendenz hätten, an Zahl und Intensität zuzunehmen und sich zu perpetuieren, was u.a. der Unternehmerinitiative nicht zugute käme und gegen die notwendige Promptheit und Elastizität der zu ergreifenden Maßnahmen verstoße; in seinem Handbuchartikel werden ferner erwähnt: die Schwierigkeit des verwickelten Einflusses steuerlicher Maßnahmen auf Konsum und

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Sparen, was ihre Schätzung erschwere, die Bedeutung der qualitativen Zusammensetzung der Investitionen. z.B. der Kapitalanlagen neben den realen Globalgrößen, der begrenzte Handlungsspielraum durch die Schaffung von Disincentives z.B. ab einer bestimmten Steuerprogression bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer, die mögliche Verstärkung der Ungleichheit der Einkommens· und Besitzverhältnisse und eine Erhöhung der Sparrate (Deflationstendenz) bei steigenden Schulden und einhergehenden Zinsverpflichtungen sowie das allgemeine Problem der Schnelligkeit der Maßnahmen angesichts einer Vielzahl von Wahmehmungs- und Umsetzungslags. Zu diesen Schwierigkeiten gesellte sich in den 1960er Jahren noch das von Neumark für sehr bedenklich gehaltene Phänomen der schleichenden Inflation (1961, S. 262-278), die eine restriktive Fiskalpolitik erfordere. Für die angesprochenen Probleme hatte auch Neumark kein Patentrezept, sehr wohl aber gab es seiner Meinung nach tragfähige Kompromisse im Einzelfall, an denen er in seinen Beiratstätigkeiten mitarbeitete. 1962 legte er als Vorsitzender des Steuer- und Finanzausschusses der Kommission der E W G einen Bericht über die Steuerharmonisierung vor, der als 'Neumark-Bericht' bekannt wurde. Er gehörte 1964 der sogenannten Troegerkommission als einziger Wissenschaftler an, deren Bericht inhaltliche und formulatorische Spuren Neumarks verrät, und der die Gemeindefinanzreform, die mittelfristige Finanzplanung und den Finanzausgleich sowie grundsätzliche Ideen zum am 8.6.1967 verabschiedeten Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft betraf. Das Gesetz greift in den §§ 26 und 27 Neumarks alte Forderung einer nicht automatischen, demokratisch kontrollierten, aber flexiblen antizyklischen Variation des Einkommensteuersatzes zur Konjunkturglättung auf (1970, S. 289f.). Es sah vor, daß durch Rechtsverordnung bei Zustimmung des Bundestages und -rates die Einkommen- und Körperschaftsteuer um maximal 10 Prozent für ein Jahr unter bestimmten Bedingungen herauf- oder herabgesetzt werden kann. Neben diesen Aktivitäten trug er zur Lösung wirtschaftlicher Probleme durch die kritische Rezeption der amerikanischen Erfahrungen und Lösungswege bei (siehe z.B. 1966) und trug handfeste Vorschläge z.B. zur Ausgestaltung der kleinen und großen Steuerreform vor (1954). Neumark formulierte die Aufgaben der Finanzpolitik in ei-

Neumark, Fritz ner Wirtschaft, die primär durch Wachstumsschwankungen gekennzeichnet ist, und gab neben der mit N. Kloten edierten Reihe Wissenschaft und Gesellschaft von 1955 bis 1988 das Finanzarchiv, zunächst mit H. Teschemacher, später mit N. Andel als offenes Forum der diskursiven Auseinandersetzung heraus, dessen institutionelle Ausrichtung unter Neumark durch wirtschaftstheoretische Beiträge ergänzt wurde, ohne dem angelsächsischen formalen Ökonomisierungsprozeß der Finanzwissenschaft nachzugeben. Finanzwissenschaft war für ihn Politische Ökonomie, die die Fragen des eigentlich Erwünschten und administrativ-institutionelle Aspekte zu berücksichtigen habe. Neumarks Aktivitäten waren getragen von der zwar skeptisch beurteilten, aber doch nicht für unmöglich gehaltenen Notwendigkeit einer „ökonomischen Erziehung" (1952, S. 663) und einer vernünftigen Orientierung der öffentlichen Meinung. Neumark setzte auf einen abgeklärten alteuropäischen Humanismus, den er auch durch seinen Lebensstil als Theater-, Opera-, Musik- und Literaturliebhaber pflegte; in seiner Rektoratsrede 1954 über Wirtschaftsprobleme im Spiegel des modernen Romans und in seiner ImmatrikulationsFede 1955 Dem Gedenken Friedrich Schillers ist vom Dichter der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit die Rede, Werte, die auch für Neumark galten. Seine wissenschaftliche Seriosität, seine Belesenheit und eine immense Arbeitskraft dienten dem Bemühen „der Verbesserung der Welt", d.h. den materiell-geistigen Wohlstand zu wahren und mit einer gerechteren Verteilung zu verbinden. Sein wirtschaftstheoretisch-nichtformalistischer, institutionelle Faktoren mit internationalem Weitblick verbindender Ansatz, der auch zur Politikberatung taugen sollte, steht in der heutigen Finanzwissenschaft nicht im Vordergrund. Gemäß seiner anfanglich angesprochenen zyklischen Sicht der Theoriekonjunkturen - vielleicht im Rahmen einer tiefgreifenden ökologischen Umgestaltung auch des Steuersystems - könnte sein institutionell, historisch und theoretisch ausgerichteter Ansatz als anschauliches (Lehr-)Beispiel dienen.

(1925)

(1929)

(1930) (1936)

(1937)

(1947) (1949)

Ausgleichsprobleme der öffentlichen Finanzwirtschaft, in: Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, Bd. 73, S. 582-617. Theorie und Praxis der modernen Einkommensbesteuerung, Bern. Internationale Entwicklungstendenzen auf dem Gebiete der Einkommensbesteuerung, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 63, S. 1-48.

(1952)

Grundsätze und Arten der Haushaltfuhrung und Finanzbedarfsdeckung, in: Gerloff, WiNeumark, F. (Hrsg.): Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 1, Tübingen, S. 606-669.

(1954)

Probleme der deutschen Steuerreform, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 166, S. 297326. Wirtschafts- und Finanzprobleme des Interventionsstaates, Tübingen. Einige neuere Probleme und Aspekte der Fiskalpolitik, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. 26, S. 204219. Fiskalpolitik und Wachstumsschwankungen (= Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der J.W. Goethe-Universität, Frankfurt/ M., Bd. 6), Wiesbaden.

(1961) (1966)

(1967)

(1970)

(1975) Schriften in Auswahl: (1922) Begriff und Wesen der Inflation (= Abhandlung des staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena, Bd. 15/4), Jena (Diss.).

Regalien, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 6, 4. Aufl., S. 1208-1214. Der Reichshaushaltsplan. Ein Beitrag zur Lehre vom öffentlichen Haushalt, Jena (Habil.). Konjunktur und Steuern, Bonn. Neue Ideologien der Wirtschaftspolitik (= Wiener Staats- und Rechtswissenschaftliche Studien, N.F., Bd. 25), Leipzig/Wien.

(1980)

Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, Tübingen. Zyklen in der Geschichte ökonomischer Ideen, in: Kyklos, Bd. 28, S. 257-285. Zuflucht am Bosporus. Deutsche Gelehrte, Politiker und Künstler in der Emigration 1933-1953, Frankfurt.

507

Neurath, Otto Bibliographie: Andic, F.M./Andic, S. (1981): Fritz Neumark. Teacher and Reformer: A Turkish View, in: Finanzarchiv, N.F., Bd. 39, S. 11-19. Häuser, K. (1981): Ansprache eines Mitglieds der früheren Fakultät, in: Finanzarchiv, N.F., Bd. 39. S. 1-10. Haller, H. u.a. (1970): Theorie und Praxis des finanzpolitischen Interventionismus. Fritz Neumark zum 70. Geburtstag, Tübingen (enth. Bibliographie, S. 663-675). Schwartz, P. (1972): Notgemeinschaft, Kopenhagen. Widmann, H. (1973): Exil und Bildungshilfe, Frankfurt. Quellen: Β Hb II; SPSL 236/3, 61/2; ACEP 5/40; Widmann, H. (1983): Exil und Bildungshilfe, Frankfurt/M.; Andel, N. (1991): Nachruf, in: UniRepoit, J.W. Goethe-Universität, Frankfurt/M., v. 2.5.1991, Nachruf von Karl Häuser, in: Sitzungsberichte der Wiss. Gesellschaft an der J.W. Goethe-Universität Frankfurt/M., Bd. 28, Nr. 6, Stuttgart 1992, S. 349-353. Helge Peukert

Neurath, Otto, geb. 10.12.1882 in Wien, gest. 22.12.1945 in Oxford Ab 1901 studierte Neurath, Sohn des Nationalökonomen Wilhelm Neurath, zunächst einige Semester Mathematik und Physik in Wien. Während er sein Studium in Berlin fortsetzte, wandte sich sein Interesse immer mehr der Ökonomie und anderen Gesellschaftswissenschaften zu. Mit der Arbeit Zur Anschauung der Antike über Handel, Gewerbe und Landwirtschaft promovierte er 1906 summa cum laude zum Dr. phil. Von 1907 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterrichtete Neurath an der Neuen Wiener Handelsakademie. Mit seinen ab 1909 verfaßten Abhandlungen vornehmlich zu Problemen der Kriegswirtschaftslehre - als deren Begründer Neurath gemeinhin angesehen wird - habilitierte er sich 1916 in Heidelberg und wurde ebendort zum Privatdozenten ernannt. Das Kriegsende und die revolutionären Unruhen 1918/19 erlebte Neurath in Deutschland, wo er alsbald zum beachteten Sozialisierungstheoretiker und Präsidenten des Bayerischen Zentralwirtschaftsamts avancierte. Mit der Niederschlagung der Räterepublik wurde er verhaftet, verlor seine

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Heidelberger Privatdozentur und erhielt ein Einreiseverbot ins Deutsche Reich. Zurück in Wien nahm er den Posten des Generalsekretärs des Österreichischen Verbandes für Siedlungs- und Kleingartenwesen an und gründete ein Museum für Siedlungswesen und Städtebau. Hieraus ging 1924 das Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum hervor, dessen Direktor er bis zur Auflösung 1934 blieb. Noch im selben Jahr emigrierte Neurath, der sich dank eines Auslandsaufenthalts der Verhaftung entziehen konnte, in die Niederlande. In Den Haag übernahm er die Leitung der von ihm ins Leben gerufenen International Foundation for the Promotion of Visual Education by the Vienna-Method sowie des Mundeanum Institute The Hague. Im Zuge der Besetzung Hollands durch deutsche Trappen floh Neurath 1940 nach England, wo er in Oxford zu Problemen des Logischen Empirismus, insbesondere der empirischen Sozialwissenschaften lehren konnte. Außerdem war er von 1941 bis zu seinem Tode Secretary and Director of Studies des von ihm gegründeten Isotype Institute in Oxford. Die kulturellen Anregungen des Wiener Bildungsbürgertums aufnehmend, hatte sich Neurath zu einem sowohl natur- als auch geisteswissenschaftlich vielseitig gebildeten Menschen entwickelt, dessen Interessen von der Nationalökonomie über die Soziologie und Philosophie bis hin zur Physik reichten. In Neuraths umfangreichem wissenschaftlichen Werk lassen sich unter chronologischen und systematischen Aspekten vier Forschungsschwerpunkte erkennen: 1. Die Phase bis zum Ende des Ersten Weltkriegs mit vornehmlich ökonomischen Studien zur Wirtschaftsgeschichte und Kriegswirtschaftslehre, sodann 2. Versuche als Gesellschaftstechniker und Sozialisierungstheoretiker während der Novemberrevolution, 3. die Beschäftigung mit Fragen der Philosophie und Soziologie sowie 4. die Bemühungen um die Entwicklung und Verbreitung der Wiener Methode der Bildstatistik. Die zentrale Aufgabe der Kriegswirtschaftslehre sah Neurath insbesondere in der ökonomischen Wirkungsanalyse von Krieg und Kriegsvorbereitungen auf den Wohlstand der Menschen. Im Rahmen seiner wirtschaftshistorischen Untersuchungen der Kriege des 19. Jahrhunderts glaubte er feststellen zu können, daß kriegerische Auseinandersetzungen den Lebensstandard nicht beeinträchtigt, sondern allgemein erhöht hätten. Zur Erklärung dieses Phänomens untersuchte er die Al-

Neurath, Otto lokationsmechanismen, die im Kriegsfalle die Güterproduktion steuern. Er konstatierte die Ausschaltung der Marktmechanismen zugunsten einer am Kriegsbedarf orientierten Verwaltungswirtschaft und schrieb diesem Wechsel des ökonomischen Koordinationssystems die entscheidende Bedeutung fur den wachsenden Wohlstand unter Kriegsbedingungen zu. Während des Ersten Weltkriegs, den Neurath für seine kriegswirtschaftlichen Studien intensiv analysierte, sah er zwar das sich ausbreitende Massenelend, war jedoch von der hohen Effizienz einer Verwaltungswirtschaft, die trotz mangelnder Ressourcen ein solches Zerstörungspotential über Jahre bereitzustellen vermochte, beeindruckt. In dieser Wirtschafitsordung erkannte er zunehmend die idealen Voraussetzungen für eine planmäßig und effizient produzierende Wirtschaft, die es nach Kriegsende zu gestalten gelte. Nach längerem Zögern entschloB sich Neurath Ende 1918 der sozialdemokratischen Partei beizutreten, um auf diese Weise bei der Schaffung einer sozialistischen Wirtschaftsordnung, die er nicht nur für effizienter, sondern zunehmend auch für humaner hielt, mitwirken zu können. Den Angelpunkt seiner Sozialisierungsstrategie bildeten die Ergebnisse seiner kriegswirtschaftlichen Studien. Beispielsweise formulierte er: „So wie man die Volkswirtschaft durch ein Hindenburgprogramm dem Kriege dienstbar machen konnte, miiBte man sie auch dem Glück dienstbar machen können." (1919a, S. 3) Neuraths Konzept sah eine Vollsozialisierung auf der Basis einer ausschließlichen Naturalrechnung vor, die er in Bayern in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren zu realisieren hoffte. Aber weder bei den gemäßigten Sozialdemokraten noch bei den orthodoxen Kommunisten fand Neuraths Programm Anerkennung. Während für die einen eine Vollsozialisierung unausweichlich ins Chaos fuhren mußte, bemängelten die anderen seinen fehlenden revolutionären Elan und lobten allenfalls sein organisatorisches Talent. Aber Neurath verstand sich nicht als Revolutionär. sondern als Gesellschaftstechniker, fur den die Sozialisiening ein gesellschaftstechnisches Problem darstellte, das durch strategische Eingriffe zu lösen sei. Fragen nach der politischen und gesellschaftlichen Durchsetzbarkeit seiner Vorstellungen thematisierte er nicht und reihte sich damit in die breite Phalanx von Utopisten ein, deren Entwürfe das Papier nie verließen. Allerdings bekannte er sich dazu, daß man den Mut aufbrin-

gen sollte, höher zu greifen, als es die politische Realität im Moment zuzulassen scheine. Internationales Renommee erlangte Neurath jedoch nicht als Ökonom, sondern als Philosoph des Logischen Empirismus. So wurde er Ende der 1920er Jahre zu einem der Mitbegründer und fuhrenden Vertreter der neopositivistischen Schule des sogenannten Wiener Kreises. Hier avancierte er zu einem der kompro mißloses ten Verfechter eines radikalen Physikalismus und forderte eine Einheitswissenschaft, die eine rein behavioristische Soziologie, in welcher sich Ökonomie und Geschichte vereinigen sollten, umfaßte, nicht ohne seine enge Geistesverwandtschaft mit dem Marxismus zu betonen, da diese Vereinigung bei Marx de facto vollzogen sei. Mit zunehmendem Alter und Einsicht revidierte Neurath jedoch viele seiner radikalen Forderungen, die keineswegs von allen Neopositivisten geteilt wurden. Obwohl Neurath Karl Poppers Wissenschaftsauffassung scharf kritisierte, hielt dieser ihn für einen wirklich orginellen Denker, eine der stärksten Persönlichkeiten, die ihm je begegnet sei und einen unerschrockenen Kämpfer, der von einer besseren und humaneren Welt träumte. Neben seinen ökonomischen, soziologischen und philosophischen Studien engagierte sich Neurath stark im bildungspolitischen Bereich. Hier stellte er sich die Aufgabe, die politische Aufklärung und Weiterbildung der breiten Masse so zu konzipieren, damit jeder, unabhängig von Bildung und Sprache, auch die häufig unverständlichen statistischen Zusammenhänge verstehen könne. Um dieser Aufgabenstellung gerecht zu werden, galt es eine neue Aufklärungs- und Darstellungstechnik zu entwickeln. In der Visualisierung gesellschaftlicher Tatbestände durch eine international verständliche Bildersprache erkannte Neurath ein wirksames Instrument, das er während seines Wirkens im Wiener Gesellschaft- und Wirtschaftsmuseum konzipierte. Dieses Projekt, das insbesondere in Rußland ein positives Echo fand, führte er auch im Exil mit Nachdruck weiter. Im Rückblick zeigt sich, daß lediglich seine Arbeiten zur Weiterentwicklung der neopositivistischen Schule, vor allem im angelsächsischen Raum, von bleibender Dauer waren.

Schriften in Auswahl: (1906a) Antike Wirtschaftsgeschichte, Leipzig/Berlin.

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Niebyl, Karl-Heinrich (1906b)

(1910)

(1917)

(1919a) (1919b) (1920) (1925) (1928) (1930)

(1931)

(1933) (1936) (1939) (1944)

Zur Anschauung der Antike über Handel, Gewerbe und Landwirtschaft, Berlin (Diss.). Zur Theorie der Sozialwissenschaften, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Bd. 34, S. 37-67. Aufgaben, Methoden und Leistungsfähigkeit der Kriegswirtschaftslehre, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 44, S. 760-774. Durch die Kriegswirtschaft zur Naturalwirtschaft, München. Die Sozialisierung Sachsens, Chemnitz. Vollsozialisiemng, Jena. Wiitschaftsplan und Naturalrechnung, Berlin. Lebensgestaltung und Klassenkampf, Berlin. Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung, in: Erkenntnis, Bd. 1, S. 106-125. Empirische Soziologie. Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und Nationalökonomie, Wien. Bildstatistik nach der Wiener Methode in der Schule, Wien/Leipzig. International Picture Language, London. Modern Man in the Making, London. Foundation of the Social Sciences, Chicago.

Bibliographie: Neurath, M./Cohen, R.S. (1973): Empiricism and Sociology, Dordrecht. Quellen: Hegselmann, R. (Hrsg) (1979): Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, Frankfurt; SPSL 531/4; BHb II; HDSW; ACEP 5/41. Gerhard J. Mauch

Niebyl, Karl-Heinrich, geb. 30.6.1906 in Prag, gest. 13.4.1985 in San Jose, Kalifornien Sohn von Leo Niebyl und Carolina Elisabethe Sofie geb. Zahn. Niebyl studierte an der Universität Frankfurt am Main bei -» Adolph Lowe. Er hatte im Jahre 1933 an der Universität eine Rede gegen Hitler gehalten, wegen der er inhaftiert wurde.

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Deshalb konnte er seine Promotion in Frankfurt nicht abschließen. Jedoch glückte ihm die Flucht aus dem Gefängnis. Mit der Hilfe von Freunden gelangte er nach England. Dort studierte er 1933 und 1934 an der London School of Economics. Im Jahr 1934 siedelte er in die USA über, wo er an der University of Wisconsin promovierte. Das Thema seiner Dissertation lautete The Change of Function of Trade Unionism in the Epoch of Imperialism (1936). Während des Krieges war er von 1940 bis 1941 als ökonomischer Berater in der Advisory Commission to the Council on National Defense in Washington, D.C. tätig. Danach diente er bei der Marine in Hawaii. Nach dem Kriege war er in verschiedenen Lehrtätigkeiten aktiv: so am Black Mountain College, North Carolina und am Chaplain College in Platsburg, New York. Im Anschluß daran war er Lecturer an der New School for Social Research in New York (1956 bis 1966), von 1965 bis 1973 Professor of Economics an der Temple University in Philadelphia und im Jahre 1969 an der University of Connecticut. Von 1973 bis zu seiner Pensionierung 1979 war er Professor of Economics an der San Jose State University in Kalifornien. Danach gründete Niebyl das Center for Marxist Research in San Jose. Seine umfangreiche Bibliothek wurde Grundlage für die Niebyl-Proctor Marxist Library for Social Research in Oakland, California, die seine Kollegen und Freunde nach seinem Tode einrichteten. Neben seinen akademischen Tätigkeiten war er zugleich von 1954 bis 1966 Economic and Financial Consultant in New York City. Eines der Hauptgebiete der Veröffentlichungen Niebyls war die Dogmengeschichte. In seinen Artikeln A Reexamination of the Classical Theory of Inflation (1940a) und Some Dynamic Aspects of Mercantile Concepts of Money (1940b) setzte er sich mit theoretischen Ansätzen der Geldpolitik im Ubergang vom Merkantilismus zur Quantitätstheorie der Klassik auseinander. Sein Hauptinteresse galt dabei der Bullion-Kontroverse. Niebyl begriff Theorien als Ausdruck der ökonomischen Dynamik der Zeitabschnitte, in denen sie entstanden. Eine Beurteilung als falsch oder richtig war aus seiner Sicht nur dann möglich, wenn sie zu den wirtschaftlichen Realitäten in Beziehung gesetzt wurden, die sie erklären und deuten sollten. Deshalb hatte sich Dogmengeschichte stets auch der Wirtschaftsgeschichte zuzuwenden.

Niebyl, Karl-Heinrich Die in seiner dogmengeschichtlichen Forschung aufgetretenen Probleme und Fragestellungen beschäftigten ihn auch später weiter. So setzte er sich in What Rights Should the Holder of Money Have (1947) mit geldpolitischen Fragestellungen auseinander. Niebyl unterschied zwei Gruppen von Geldbesitzern: die Unternehmen und die Masse der einfachen Leute. An diesem Klassengegensatz ließ sich nach Niebyls Ansicht der sich wandelnde Charakter des Geldes darstellen. Das zeigte sich am zeitgenössischen Phänomen der Inflation. Früher diente sie der Entschuldung des Untemehmenssektors, als dieser Nettoschuldner war. Damit sei die Grundlage für die weitere Expansion des industriellen Bereichs gelegt worden. Heute jedoch sei die Funktion der Inflation eine andere. Dadurch, daß die Preise schneller stiegen als die Löhne, werde für die Unternehmen die reale Kostenbelastung durch den Faktor Arbeit geringer, was sich positiv auf die Profite auswirke. Das sei erst im Zeitalter der monopolistischen Produktionskontrolle möglich geworden. Die Masse der Geldbesitzer sei zu „Bauern auf dem Schachbrett des Monopolspiels" (vgl. 1947, S. 302) geworden. Ein weiterer wichtiger Untersuchungsgegenstand war für Niebyl die Wissenschaftstheorie. Beispielhaft steht hierfür sein Aufsatz The Need for a Concept of Value in Economic Theory (1939/40). Als Anforderungen an wissenschaftliche Theorien benannte er zum einen die Anwendbarkeit auf konkrete ökonomische Probleme, zum anderen die von ihm so bezeichnete Einheitlichkeit bzw. Interdependenz. Nach Niebyl zeichnet sich die Gesellschaft dadurch aus, daB es eine sich im Zeitablauf ändernde „dominante" Gruppe gibt, die repräsentativ für die Gesellschaft als Ganzes ist und die deshalb die ökonomische Theoriebildung bestimmt. Aufgrund einer kulturellen Lücke könne der Fall eintreten, daB die Theorie einer bestimmten Gruppe weiter gelte, auch wenn sie schon längst nicht mehr die dominante sei. Die Theorie werde dann statisch und quantitativ. Da Niebyl die Ökonomie als einen qualitativen, das heißt ständig im Wandel befindlichen Prozeß verstand, postulierte er die Notwendigkeit zur ständigen Überprüfung und Erneuerung des herrschenden Wissenschaftsparadigmas. Einen gewissen Abschluß fanden seine dogmengeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Überlegungen in seiner Monographie Studies in the Classical Theories of Money (1946). Darin

setzte er sich ausfuhrlich mit der Entwicklung der klassischen Geldtheorie bis zur Ausformulierung der Quantitätstheorie auseinander. Dabei bezog er sich auf seine Prinzipien der dogmengeschichtlichen Analyse und thematisierte den Zusammenhang zwischen Theorien und gesellschaftlichen Klassen. Besonders hob er hervor, daß sich mit der Quantitätstheorie eine eigentlich überholte Form der Theorie durchgesetzt habe. Angesichts der seinerzeitigen kontraktiven Dynamik müsse an die Stelle der statischen Quantitätstheorie, die nichts zur Überwindung der wirtschaftspolitischen Probleme habe beitragen können, ein neuer dynamischer Ansatz treten. Daneben beschäftigte sich Niebyl auch mit entwicklungspolitischen Fragestellungen. In Criteria for the Formulation of an Adequate Approach in Aiding the Development of Underdeveloped Areas (1952) fragte er nach richtigen entwicklungspolitischen Konzepten. Aufgrund von strukturellen Unterschieden verbot sich aus seiner Sicht dabei eine einfache Übertragung der wiitschaftspolitischen Konzepte der entwickelten Volkswirtschaften. Aus diesen Überlegungen ergab sich für Niebyl die Notwendigkeit eines Neuentwurfes. Ziel müsse ein Mittelweg sein, auf den sich beide Ländergruppen einigen könnten. Eine Kompromißmöglichkeit liege in der zunehmenden Demokratisierung der Wirtschaft, die seiner Meinung nach in einer stärkeren öffentlichen Kontrolle bestehen könne. In späteren Schriften (z.B. 1968, 1969 oder 1979) setzte sich Niebyl mit Sachverhalten auseinander, die weit über das Gebiet der Ökonomie hinausgingen und beschäftigte sich mit historischen, philosophischen und wissenschaftstheoretischen Fragestellungen. Hervorzuheben ist dabei seine marxistisch inspirierte materialistische und klassenbezogene Vorgehensweise, die fur sein gesamtes sozialwissenschaftliches Werk kennzeichnend ist. Es ging ihm stets darum, Klassengegensätze aufzudecken und im Sinne der arbeitenden 'Massen' aufzulösen. Außerdem beschränkte er sich nie auf nur rein ökonomische Sachverhalte. Sein Ziel war es, stets die Gesellschaft als Ganzes im Blick zu behalten. Schriften in Auswahl: (1936) The Change of Function of Trade Unionism in the Epoch of Imperialism, Diss., University of Wisconsin.

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Nissen, Ferdinand (1939/40)

(1940a)

(1940b)

(1946) (1947)

(1952)

(1968)

(1969)

(1979)

The Need for a Concept of Value in Economic Theory, in: The Quarterly Journal of Economics, Bd. 54, S. 201-216. A Reexamination of the Classical Theory of Inflation, in: The American Economic Review, Bd. 30, S. 759773. Some Dynamic Aspects of Mercantile Concepts of Money, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, Bd. 64, S. 417432. Studies in the Classical Theories of Money, New York. What Rights Should the Holder of Money have?, in: The American Economic Review, Bd. 37, S. 299-303. Criteria for the Formulation of an Adequate Approach in Aiding the Development of Underdeveloped Areas, in: The Canadian Journal of Economics and Political Science, Bd. 18, S. 365-371. Ein Beitrag zur Genesis des amerikanischen Kapitalismus, in: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für Wirtschaftsgeschichte (Hrsg.): Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1968, Teil IV, Berlin (Ost), S. 241-253. Über Wesenszüge in der antiken griechischen Denkweise und ihr Verhältnis zu der Denkweise in der westlichen Welt des 20. Jahrhunderts, in: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für Wirtschaftsgeschichte (Hrsg.): Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1969, Teil III, Berlin (Ost), S. 171-177. Science, Medicine and the Puritan Society, in: The Journal of European Economic History, Bd. 8, S. 149-156.

Quellen: IFZ; SPSL 532/1; AEA; briefliche Mitteilung der Niebyl-Proctor Library vom 13.11.1998 und femmündliche Mitteilung der Tochter von K.-H. Niebyl vom 1.12.1998 an den Verfasser. Guntram R. M. Hepperle

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Nissen, Ferdinand, geb. 2.4.1901 in Neisse (Schlesien), gest. 15.10.1952 in New Rochelle, New York Nach einem mißglückten Habilitationsversuch bei Alfred Amonn in Bern brach er seine akademische Laufbahn ab und übte bis zu seinem Tod kaufmännische Tätigkeiten aus. Nissen studierte von 1919 bis 1925 Wirtschaftswissenschaften in Breslau, Berlin und Würzburg. Parallel dazu arbeitete er bei der Deutschen Bank und beim Schlesischen Bankverein. Geldtheorie und Geldpolitik wurden seine Spezialgebiete. Er promovierte 1926 an der Universität Breslau und wechselte dann als Assistent von Paul Arndt nach Frankfurt am Main. Dort stand er mit -» Fritz Neumark im engen Kontakt und verließ wie dieser 1933 das nationalsozialistische Deutschland. Neumark erhielt eine Professur in Istanbul, während Nissen an die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bem ging. Er schloB aber die angestrebte Habilitation nicht ab, sondern folgte mit Frau und Tochter seinem Bruder 1936 in die Türkei. Der Chirurg Rudolf Nissen, ein Schüler von Ferdinand Sauerbruch, war 1933 als Professor mit dem Spezialgebiet Lungenchirurgie an die medizinische Fakultät der Universität Istanbul gegangen. Er hatte zusammen mit dem Frankfurter Pathologen Philipp Schwartz sowie Albert Malche von der Universität Genf in Ankara mit dem türkischen Bildungsminister ein Vertragspaket ausgehandelt, das die Anstellung deutschsprachiger Wissenschaftler in der jungen Republik Türkei regelte. Die in Zürich 1933 ins Leben gerufene und später nach London verlegte „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland" vermittelte ab 1933 zahlreiche Akademiker in die Türkei. Aus bisher nicht ermittelten Gründen ging Ferdinand Nissen aber keine Hochschulbeschäftigung ein, sondern engagierte sich im Holzexport für eine türkische Firma in Istanbul. Mit der zweiten Emigration von der Schweiz, aus der seine Frau stammte, in die Türkei brach er seine akademische Laufbahn ab. Über seine kaufmännische Tätigkeit läßt sich nichts näheres sagen. Nachforschungen in den Akten der Handelskammer in Istanbul und der entsprechenden Behörden in Ankara haben keine Hinweise auf seine Person ergeben. Noch vor Kriegsbeginn ging er 1938 oder 1939 (wie sein Bruder Rudolf) in die USA, wo er bis 1942 in Boston beim Gilchrist Department Store

Oelßner, Fred beschäftigt war. Nach kurzer Tätigkeit als Einkäufer für Blauner' s in Philadelphia war er 19431950 Leiter der Warenkontrolle bei Jonas Shops Co. in New York, anschließend im Amt für Preisstabilisiemng für die Erarbeitung von Textiipreisvorschriften für Ladenketten verantwortlich und schließlich ab 1951 bis zu seinem Tod Leiter des Ein- und Verkaufs bei R.H. Miller Co. Schriften in Auswahl: (1928) Die bankmäßige Betätigung der Sparkassen, Stuttgart. Quellen: BHb I; Seligman 54/142; Neumark, F. (1980): Zuflucht am Bosporus, Frankfurt a.M. Matthes Buhbe

Oelßner, Fred, geb. 27.2.1903 in Leipzig, gest. 7.11.1977 in (Ost-)Berlin Oelßner, Sohn eines Gewerkschafters und KPDFunktionärs in den zwanziger Jahren, gehörte zu den Repräsentanten der Albeiterelite, die erst nach der Emigration und Remigration in der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR als Politiker und zugleich als Wissenschaftler Karriere machten. Über die USPD war er 1920 zur KPD gekommen und bereits mit siebzehn Jahren Bezirksleiter des kommunistischen Jugendverbandes in Halle/Merseburg geworden. Wegen seiner Teilnahme am kommunistischen Aufstand 1921 in Mitteldeutschland, der sog. März-Aktion, ging er zunächst in die Illegalität, ehe er 1923 vom Reichsgericht zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde. Danach arbeitete er für das ZK der KPD und als Redakteur verschiedener kommunistischer Zeitungen. 1926 delegierte ihn die Partei zum Studium des Marxismus-Leninismus an die Internationale Leninschule in Moskau. Nach seiner Rückkehr 1932 betätigte er sich als Partei-Propagandist. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten zwang ihn in die Illegalität, aber noch 1933 emigrierte er auf Weisung der Partei nach Frankreich und von dort 1935 nach Moskau. Dort wurde er Lektor an der Leninschule, ehe er im Zusammenhang mit den Moskauer Prozessen 1937 wegen ideologischer Abweichung zur Arbeit in einer Papierfabrik degradiert wurde. Nach der Rehabilitierung übernahm er 1941 die Deutschland-Abteilung des Moskauer Rundfunks.

Wenige Tage vor Kriegsende kehrte Oelßner im Schutze der Roten Armee nach Berlin zurück. Bis Ende der vierziger Jahre nickte er in den engsten Führungszirkel der Partei, das Politbüro, auf, wo er für Propaganda zuständig war; unter anderem gab er das theoretische Organ der SED, Einheit, heraus. 1955 wurde er stellvertretender Ministerpräsident und Vorsitzender der Kommission für Fragen der Konsumgüterproduktion. Zur gleichen Zeit erhielt er auch noch einen Lehrstuhl für politische Ökonomie beim Institut für Gesellschaftswissenschaften der SED sowie den Vorsitz der Sektion Wirtschaftswissenschaften bei der Akademie der Wissenschaften. Seit 1949 hielt er außerdem ein Abgeordneten-Mandat in der DDRVolkskammer. Wegen seines Eintretens für Wirtschaftsrefonnen in der Entstalinisierungsphase der Sowjetunion nach dem 20. Parteitag der KPdSU, die zur Aufgabe des einseitigen Ausbaus der Schwerindustrie zugunsten einer Förderung der Konsumgüterproduktion führen sollte, verlor er alle Parteiämter. Auch nach der mehrfach geübten Selbstkritik seiner 'opportunistischen Auffassungen' und seiner 'politischen Blindheit' 1958/ 59 bekam er diese nicht zurück. Fortan wirkte er bis zu seiner Pensionierung 1969 als Direktor des Instituts ftlr Wirtschaftswissenschaften an der Akademie der Wissenschaften. Angesichts der Vielzahl seiner öffentlichen Funktionen erstaunt, daß Oelßner darüber hinaus noch die Zeit für die Publikation zahlreicher Bücher und Aufsätze zur politischen Ökonomie fand. Allerdings dokumentieren schon ihre stereotypen Titel, daß es in ihnen vor allem um den Nachweis von der Richtigkeit der marxistisch-leninistischen Analye und ihrer Einsichten in die gesetzmäßige historische Entwicklung vom Kapitalismus zum Sozialismus geht. Seine Vorstellungen von Wirtschaftsreformen während der kurzen Abweichung von der Ulbrichtschen Parteilinie nach 1956 sind auffallenderweise nicht veröffentlicht worden. Schriften in Auswahl: (1948) Der Marxismus der Gegenwart und seine Kritiker, Berlin. (1949) Die Wirtschaftskrisen, Bd. 1: Die Krisen im vormonopolistischen Kapitalismus, Berlin. (1953) Eine neue Etappe der marxistischen politischen Ökonomie. Über die Bedeutung des Werkes J.W. Stalins

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Oppenheimer, Franz

(1959)

(1965)

„Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR", Berlin. Die ökonomische Theorie von Karl Marx als Anleitung für die sozialistische Wirtschaftsführung, Berlin. 20 Jahre Wirtschaftspolitik der SED, Berlin.

Quellen: BHb I; Ökonomenlexikon, hrsg. v. W. Krause u.a., Berlin-DDR 1989. Claus-Dieter Krohn

Oppenheimer, Franz, geb. 30.3.1864 in Berlin, gest. 30.9.1943 in Los Angeles Oppenheimer wurde als Sohn des Predigers der jüdischen Reformgemeinde, Dr. phil. Julius Oppenheimer aus Uslar am Solling und seiner Ehefrau Antonie, Tochter des praktischen Arztes Dr. Johann Davidson zu Pyritz (später Prenzlau) in Pommern geboren. Er besuchte das FriedrichsGymnasium in Berlin von 1870 bis 1881. In Freiburg begann er sein Medizinstudium, blieb dort jedoch nur ein Semester und absolvierte den Rest seiner Studienzeit in Berlin. Am 7. März 1885 promovierte er an der Klinischen Abteilung Paul Ehrlichs mit einer Dissertation über Eigelb Diazo, und am 27. Mai 1886 bestand er das medizinische Staatsexamen. Er praktizierte dann zehn Jahre lang, zuerst als praktischer Arzt, später als Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, in Berlin. Während dieser Zeit wurde Oppenheimer mit den Lebensumständen der sozialen Unterschichten konfrontiert. In Berlin lernte er die sozialhygienischen Zustände in den licht- und luftlosen „Mietskasernen" kennen und während einiger Vertretungen im Ostelbischen (als Oppenheimer noch keine eigene Praxis hatte, waren Vertretungen oder die Assistenz bei niedergelassenen praktizierenden Ärzten seine Einkommensquelle) kam ihm die verheerende Lage des Landproletariats zum Bewußtsein. Doch trotz der gelungenen Niederlassung als praktischer Arzt in Berlin kam Oppenheimer nicht zu innerer Ruhe: meine besten Fähigkeiten lagen doch brach; ein junger Praktiker sieht selten Fälle, in denen mehr als handwerkliches Können gefordert ist, zu denken gibt es nicht viel" (1964, S. 130). Er suchte zunächst einen Ausweg im eigenen Beruf und bildete sich als Assistenzarzt bei einem Professor für Hals-, Nasenund Ohrenheilkunde zum Facharzt für HNO aus.

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Aber der erhoffte Ausweg war keiner. 1896 Schloß er seine Praxis und schlug damit, wie er sich selbst ausdrückte, ein Tor hinter sich zu. Es begann die Suche nach einem neuen Ziel und Lebensinhalt. In dieser Zeit kam er mit der Idee des liberalen Sozialismus in Berührung. Von dieser Idee ausgehend drang er nun in die klassischen Werke von Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx ein und beschäftigte sich darüber hinaus mit den Schriften Saint-Simons, einem der Schöpfer des modernen Sozialismus und zugleich der modernen Soziologie. Die ungeheuere Produktivität Oppenheimers schlug sich in vier Büchem nieder, wobei er noch während seiner Zeit als Facharzt das Buch die Siedlungsgenossenschaft. Der Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage (1896) schrieb. Dann folgten 1898 die Arbeit über Großgrundeigentum und soziale Frage. Versuch einer neuen Grundlegung der Gesellschaftswissenschaft, im Jahre 1900 das Buch mit dem Titel Das Bevölkerungsgesetz des T.R. Malthus und der neueren Nationalökonomie. Darstellung und Kritik, und 1903 erschien die Arbeit über Das Grundgesetz der Manschen Gesellschaftslehre. Darstellung und Kritik. Nach der Schließung der Praxis verdiente Oppenheimer als Redakteur und Kolumnist bei mehreren großen Tages- oder Wochenzeitungen den Lebensunterhalt für sich und seine Familie. Diese Tätigkeit ließ ihm genügend Zeit zu wissenschaftlichen Studien, und nach einigen Jahren spielte Oppenheimer mit dem Gedanken, sich in Berlin zu habilitieren. Zu diesem Zwecke nahm er Kontakt mit Gustav von Schmoller und Adolf Wagner auf. Schmoller riet ihm zunächst an einer anderen preußischen Universität den philosophischen Doktorgrad zu erwerben. 1908 promovierte Oppenheimer bei Ludwig Bernhard in Kiel mit einer Arbeit über Rodbertus' Angriff auf Ricardos Rententheorie und der Lexis-Diehlsche Rettungsversuch. 1909 habilitierte er sich bei Wagner und Schmoller in Berlin für das Fach Nationalökonomie. Oppenheimer war dann zehn Jahre, unterbrochen durch die Zeit des Ersten Weltkriegs, Privatdozent in Berlin, bevor er 1919 einen Ruf auf das Ordinariat für Soziologie und theoretische Nationalökonomie an der Universität Frankfurt am Main erhielt und annahm. Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1929 wirkte er dort. Nach seiner Emeritierung ging er vor allem aus gesundheitlichen Gründen nach Berlin zurück und widmete

Oppenheimer, Franz sich vornehmlich seinen genossenschaftlichen Siedlungsprojekten. Außerdem vollendete er die letzten beiden Bände seines Systems der Soziologie (1922-26). 1933 wurden ihm mit dem 'Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' sämtliche Emeritierungsprivilegien entzogen und durch eine Pensionsregelung ersetzt. Im Winter 1934/35 hielt er Lehrveranstaltungen in Palästina ab, und im Frühjahr 1936 bereiste er für einige Monate die USA, um die Möglichkeiten einer Auswanderung zu sondieren, die sich wegen seiner Tochter Renata (aus der zweiten Ehe) als schwierig erwies. Ende 1938 wurde ihm und seiner Tochter von den Nazis nach großen Schwierigkeiten die Ausreise nach Japan genehmigt, als er an der Keio-Universität in Tokio einen Lehrauftrag erhalten hatte. Doch dieser Aufenthalt war begrenzt, denn Japan hatte mit Nazi-Deutschland ein sogenanntes Kulturabkommen geschlossen, worin sich die japanische Regierung verpflichtete, niemand zu beschäftigen, der ihren deutschen Freunden mißliebig sein könnte. Nach einem halben Jahr verließ Oppenheimer Japan und wanderte in Shanghai ein. Da er dort nichts verdienen durfte, lebte er vom Verkauf seiner Bibliothek. Trotz dieser widrigen, für einen Menschen seines Alters demütigenden Umstände, arbeitete Oppenheimer mit der Hilfe seiner Tochter an einer verkürzten englischen Neuausgabe seiner ökonomischen und soziologischen Schriften. Als er endlich im Sommer 1940 in die USA Weiterreisen konnte, waren bereits drei Bände dieser Neuausgabe fertiggestellt. In den USA ließ er sich in Los Angeles nieder, wo seine jüngere Schwester bereits wohnhaft war. Dort gelang ihm mit Hilfe einer Gruppe von Freunden und Anhängern des Bodenreformers Henry George die Gründung einer vierteljährlich erscheinenden wissenschaftlichen Zeitschrift. Im Oktober 1941 erschien diese bis heute fortbestehende Zeitschrift als The American Journal of Economics and Sociology zum ersten Mal. Die in den letzten Briefen an seine Söhne ausgedrückte Hoffnung, Hitler zu überleben, um seine Söhne und Enkel in Friedenszeiten noch einmal zu sehen, erfüllte sich nicht. Franz Oppenheimer starb am 30.9.1943 in seinem 80. Lebensjahr. Oppenheimers Werdegang als Nationalökonom und Soziologe war, wie sein Lebenslauf verdeutlicht, sehr ungewöhnlich. Er hatte bei keinem der damals bedeutenden Nationalökonomen wie Gustav Schmoller, Adolf Wagner, Werner Sombart

oder Max Weber studiert. Seine fast ausschließlich autodidaktische Beschäftigung mit den großen englischen Nationalökonomen Smith, Ricardo und Malthus auf der einen Seite sowie mit Marx auf der anderen machte ihn zu einem .Außenseiter" im damaligen deutschsprachigen Raum. Er verstand sich als Theoretiker und damit als Antipode zu Schmoller, ohne sich jedoch der Wiener Schule der subjektiven Wertlehre zuzurechnen. Im Kem war Oppenheimer ein Verfechter der klassischen Nationalökonomie. Er verstand sich jedoch nie als Ökonom im engeren Sinne, sondern für ihn war die Ökonomie eine in das System der Soziologie einzugliedernde Teildisziplin. Die Verbindung von Theorie mit Geschichte und sozialer Praxis war das von ihm häufig selbst genannte Arbeits- und Lebensziel. Obwohl sich Oppenheimer von Wagner, Weber und Sombart im methodischen Ansatz und der theoretischen Grundanschauung unterschied, schwebte ihm doch wie diesen die Einheit der Sozialwissenschaften vor. Hiervon zeugt auch sein in sechs Halbbänden veröffentlichtes Werk System der Soziologie. Oppenheimer gehört zu einer Wissenschafitlergeneration, die ihre ganze intellektuelle Kraft in die Entwicklung eines 'Lehrgebäudes' oder eines 'Systems' steckten. Dieser „ganzheitliche Impetus" der Systembildung spiegelt sich auch in seiner Person wider: im Ineinandergreifen von wissenschaftlichem, politischem und sozialem Engagement. Letzteres schlug sich in den genossenschaftlichen Siedlungsprojekten und in seinem Engagement für die zionistische Bewegung nieder. Seine ausgeprägten sozialreformerischen Ideen und politischen Überzeugungen treten dann auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten deutlich hervor. Dreh- und Angelpunkt seines gesamten wissenschaftlichen Werkes bildet die ,3odensperrung". In ihr sieht Oppenheimer die Wurzel allen „irdischen Übels". Kurz und prägnant läßt sich seine Theorie wie folgt zusammenfassen: Durch den Großgrundbesitz und die totale Aneignung des Bodens komme es zu einem Bodenmonopol, d.h. der freie Zugang zum Produktionsmittel Boden ist versperrt. Durch die Abwanderung der Arbeiter vom Land in die Industriezentren (Städte) falle dort der Lohn so tief, daß der Kapitalprofit entstehen könne. Gäbe es keine Bodensperre, d.h. freien Zugang zum Land, könnten die Arbeiter den Boden bewirtschaften und damit Einkommen erzielen, wenn der Lohn zu tief falle. Bestünde nicht

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Oppenheimer, Franz die Bodenspeming, die zu Monopoleinkommen führe, dann wäre eine „gerechte" Einkommensverteilung möglich, die die Armut des Industrieund Landproletariats beseitige. Erst mit der Aufhebung des Bodenmonopols sei wirkliche, freie Konkurrenz möglich, so da£ deren Segen dann allen Bevölkerungsschichten zugute komme. Das politische System, in dem die Bodensperre aufgehoben sei, nannte Oppenheimer liberalen Sozialismus. Dies sei neben Kapitalismus und Kommunismus der dritte Weg. Selbstbewufit und wortgewaltig setzte sich Oppenheimer mit vielen seiner Zeitgenossen über wirtschaftstheoretische, politische und soziale Grundprobleme auseinander. Als ein Beispiel sei hier kurz seine Debatte mit -» Joseph A. Schumpeter skizziert. Den Kem der Auseinandersetzung bildete Oppenheimers Monopolbegriff, den er von Adolf Wagner übernahm und der im wesentlichen auf die Klassik zurückgeht. Dieser Monopolbegriff berührt das in der Tauschtheorie unterstellte Axiom der „Freiwilligkeit des Tauschs". Für Oppenheimer ist ein Monopol dann gegeben, wenn eine „einseitige Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses" vorliegt. In dem von ihm angeführten Fall besteht beim Arbeiter diese Dringlichkeit, seine Arbeitsdienste zu verkaufen, um Einkommen zu erzielen, wohingegen der Bodeneigentümer, neben anderen Verwendungsmöglichkeiten, den Boden letztendlich selbst bearbeiten kann, um davon „zu leben". Schumpeter kritisiert diesen Monopolbegriff und hält den der neoklassischen Theorie dagegen. Oppenheimer begegnete dieser Kritik ausweichend, indem er Schumpeter vorwarf, er habe die Kritik ins Terminologische verschoben". Er setzte sich jedoch nicht nur mit Zeitgenossen über grundlegende verteilungstheoretische Fragen auseinander, sondern untersuchte und kritisierte auch die klassische politische Ökonomie Smiths und Ricardos. So rühmt er sich, er habe den Rodbertusschen Angriff auf Ricardo „mit den Mitteln der Ricardoschen Theorie völlig widerlegen" können, und gegen Ricardo wendet er ein, seine Theorie sei lediglich „eine Teiltheorie ...., [die] sich aber selbst für eine volle Erklärung, für eine Volltheorie hält" (1964, S. 205). Es ist verständlich, daB Adolf Wagner angesichts dieses Bühnenstücks, bei dem alle Handelnden zum SchluB tot auf der Bühne lagen, die Hände über dem Kopf zusammenschlug und fragte: „Ja um Gottes Willen, was bleibt denn dann noch übrig?" Was Oppenheimer darauf geantwortet hat, ist

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nicht überliefert. Seine Auseinandersetzung mit den Klassikern läßt allerdings den Eindruck entstehen, daß er sie nicht vollständig und wohl auch nicht im Original studiert hat, sonst wäre er nicht auf die Idee gekommen, Smith und Ricardo, ja sogar Marx, als Lohnfondstheoretiker zu bezeichnen. Obwohl sich Oppenheimer einer „Systembildung" befleißigte, gelang ihm keine Schulenbildung, was jedoch nicht heiBen soll, daB er keine Schüler hatte. Immerhin zählen sich Erich Preiser, Ludwig Erhard und -» Adolph Lowe zu diesen. Keiner jedoch teilte Oppenheimers „agrozentrische Betrachtungsweise", und folglich verfielen sie auch nicht seiner „Monomanie" von der Bodensperre. Gleichwohl übernahmen alle drei - jeder auf seine Weise - die von Oppenheimer gepflegte Grundorientierung an der ökonomischen Theorie der Klassik. Ludwig Erhard mit seinem antimonopolistischen Konzept der sozialen Marktwirtschaft, Preiser in seiner Version der Monopolgradtheorie der Verteilung und Lowe in seiner klassischen Wachstumstheorie. Vielleicht muB man im Festhalten an der klassischen ökonomischen Theorie das eigentliche Verdienst Oppenheimers sehen. Denn er entwickelte sein an der Klassik orientiertes System zu einer Zeit, in der die Historische Schule die Staatswissenschaften im Deutschen Reich eindeutig dominierte und „Theorie" mit der Wiener Grenznutzenschule gleichgesetzt wurde. Oppenheimers Engagement in der Genossenschaftsbewegung umschrieb er selbst mit dem Begriff „Soziale Experimente". Erstmals aktiv wurde er bei der Gründung der Obstbausiedlung Eden' in der Nähe Oranienburgs. Diese Aktivität beschränkte sich jedoch auf die Mithilfe bei der Abfassung der Statuten. Mit Otto Jackisch, der lange Zeit ein Leiter der Genossenschaft war, verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Sein erstes eigenes „Experiment" war der Ankauf des Gutes Wenigenlupnitz bei Eisenach im Jahre 1905. Falsche Bodengutachten und die Unbilden der Witterung in den zwei folgenden Jahre führten zu einem Scheitern des Siedlungsprojekts. Einen zweiten Versuch unternahm Oppenheimer im Jahre 1911 in Palästina. Hierzu hatte er Theodor Herzl und den ZionistenkongreB zu Basel gewonnen. Südlich von Nazareth, in der Nähe des Berges Tabor, entstand die Siedlung Merchawjah, die jedoch von Anbeginn mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Sie wurde später in eine aus

Oppenheimer, Ludwig Yehuda selbständig wirtschaftenden Bauern bestehenden „Produzentengenossenschaft" umgewandelt. Sein dritter Versuch, eine Siedlungs- und Produktionsgenossenschaft zu errichten, gelang im Jahre 1920. Er gründete die Gemeinnützige SiedlungsTreuhandgesellschaft m.b.H., die Trägerin der Siedlung Bärenklau in der Nähe Berlins wurde. Der preußische Staat beteiligte sich mit einer halben Million Mark, indem er ein sogenanntes 'Remontegut' zur Verfugung stellte. Diese Siedlungsund Produktionsgenossenschaft expandierte in den folgenden Jahren und entwickelte sich sehr erfolgreich. Nach den vorangegangenen Fehlschlägen war dies nicht nur eine große Genugtuung für Oppenheimer, sondern auch ein „Beweis" ftir ihn, daß seine „Idee der inneren Kolonisiemng" keine Utopie bleiben mußte. Zu seinem 60. Geburtstag erschien eine von -» Robert Wilbrandt, Adolph Lowe und Gottfried Salomon herausgegebene Festschrift unter dem Titel Wirtschaft und Gesellschaft (1924). Sie enthält Beiträge von Oppenheimers Freunden und Schülern zu seinen beiden großen, eng verknüpften Forschungsgebieten Ökonomie und Soziologie. Schriften in Auswahl: (1895) Freiland in Deutschland, Berlin. (1896) Die Siedlungsgenossenschaft. Versuche einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Loslösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage, Leipzig. (1898) Großgrundeigentum und soziale Frage. Versuch einer Grundlegung der Gesellschaftswissenschaft, Berlin. (1900) Das Bevölkerungsgesetz des T.R. Malthus und der neueren Nationalökonomie. Darstellung und Kritik, Bern/ Leipzig. (1903) Das Grundgesetz der Marx'schen Gesellschaftslehre. Darstellung und Kritik, Berlin. (1907) Der Staat, Frankfurt (franz., engl., Ungar. und südslaw. Übers.). (1908) Rodbertus Angriff auf Ricardos Rententheorie und der Lexis-Diehl'sche Rettungsversuch, Berlin (phil. Diss). (1909) David Ricardos Grundrententheorie. Darstellung und Kritik, Berlin. (1910) Theorie der reinen und politischen Ökonomie, Berlin.

(1912)

(1916) (1919)

(1922-26)

Die soziale Frage und der Sozialismus. Eine kritische Auseinandersetzung mit der marxistischen Theorie, Jena. Wert und Kapitalprofit. Neubegriindung der objektiven Wertlehre, Jena. Kapitalismus - Kommunismus Wissenschaftlicher Sozialismus, Berlin/ Leipzig. System der Soziologie. I. Bd. Allgemeine Soziologie: 1. Halbbd. Grundlegung (1922), 2. Halbbd. Der soziale Prozeß (1923); Π. Bd. Der Staat (1926); ΙΠ. Bd. Theorie der reinen und politischen Ökonomie: 1. Halbbd. Grundlegung (1923), 2. Halbbd. Die GesellschaftsWirtschaft (1924), Jena.

Bibliographie: Löwe, AJSalomon, GTWilbrandt, R. (Hrsg.) (1924): Wirtschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Ökonomik und Soziologie der Gegenwart Festschrift für Franz Oppenheimer zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. Oppenheimer, F. (1964): Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes. Lebenserinnerungen. Mit einem Geleitwort von Ludwig Erhard und einer Einleitung von Joachim Tiburtius, hrsg. von L.Y. Oppenheimer, Düsseldorf (Oppenheimers autobiographische Aufzeichnungen wurden 1930 geschrieben und 1931 veröffentlicht). Schefold, B. (Hrsg.) (1989): Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler in Frankfurt am Main, Marburg. Quellen: BHb Π; HDSW; WA; IESS; ISL 1959; EC85. Volker Caspari

Oppenheimer, Ludwig Yehuda, geb. 21.10.1897 in Berlin, gest. Februar 1979 in Israel Sohn -* Franz Oppenheimers aus dessen erster Ehe mit Marta Oppenheimer (geb. Oppenheim). Oppenheimer studierte in Berlin, Frankfurt/Main und Heidelberg Ökonomie mit dem Schwerpunkt Agrarökonomie und promovierte mit der Arbeit Die Einheit des Proudhonschen Systems 1923 bei Werner Sombart und Hermann Schumacher zum Dr.rer.pol. Für einen akademischen Bildungsgang

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Pachter, Henry Μ. recht ungewöhnlich, machte Oppenheimer dann von 1923 bis 1925 noch eine Banklehre. Von 1927 bis 1933 war er Dozent an der Hochschule für Politik in Berlin. Im April 1933 wurde er aus dem Staatsdienst entlassen. Von 1934 bis 1938 war er als Berater der 'ReichsVertretung' in Berlin tätig. Oppenheimer war stark von den Ideen und Arbeiten Proudhons und von denen seines Vaters beeinflußt. Als Agrarökonom interessierte er sich vor allem fur die praktischen Probleme landwirtschaftlicher Siedlungs- und Produktionsgenossenschaften. Davon zeugen sowohl seine Arbeit Groß- und Kleinbetrieb in der Siedlung (1934) als auch Untersuchungen über die Rentabilität der Kibbuzim und Moschaw, die er nach seiner 1938 erfolgten Emigration im landwirtschaftlichen Forschungszentrum in Rehovot, Israel, durchführte. Bis 1960 war er Forschungsleiter des israelischen Landwirtschaftsministeriums. Da Oppenheimer seine akademische Karriere abgebrochen hat, findet man, abgesehen von einem in Koautorenschaft verfaßten Beitrag über Israel im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften aus dem Jahre 1956, keine weiteren wissenschaftlichen Publikationen. Er hat die Lebenserinnerungen seines Vaters neu herausgegeben und sie um eine biographische Skizze der letzten Lebensjahre Franz Oppenheimers ergänzt (1964). Ferner veröffentlichte er einen von ihm bereits in der Jerusalem-Post 1953 publizierten Artikel Landreform and World Peace in einer Aufsatzsammlung zur Erinnerung an seinen Vater (1958). Vor dem Hintergrund der Erfahrung mit verschiedenen Bodenrechtsreformen in der Sowjetunion, in China, Nordkorea und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg betonte er den „agrozentrischen Ansatz" seines Vaters und glaubte diesem in Hinblick auf die Entwicklungsländer besondere Relevanz zumessen zu können. Schriften in Auswahl: (1923) (1934) (1956)

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Die Einheit des Proudhonschen Systems, Diss. Berlin. Groß- und Kleinbetrieb in der Siedlung, Jena. Israel (zus. mit A.L. Gaathon und M. Alter), in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften. Bd. 5, Tübingen/ Göttingen, S. 373-398.

(1958)

(1964)

Landreform and World Peace, in: LH. Bilsky (Hrsg.): Means and Ways Towards a Reown of Justice. A Collection of Articles Dedicated to the Memory of Prof. Franz Oppenheimer, 1864-1943, Tel-Aviv (= Wiederabdruck eines Artikels in der Jerusalem Post, 1953). Franz Oppenheimers letzte 12 Lebensjahre. Versuch einer biographischen Skizze, in: Franz Oppenheimer. Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes. Lebenserinnerungen. Ergänzt durch Berichte und Aufsätze von und über Franz Oppenheimer, hrsg. von L.Y. Oppenheimer, Düsseldorf, S. 257276.

Quellen: BHb I; SPSL 236/5, 61/2; EC Volker Caspari

Pachter, Henry M. (Pächter, Heinz Maximilian), geb. 22.1.1907 in Berlin, gest. 10.12.1980 in New York Der Historiker, Politikwissenschafter und Publizist Pachter studierte von 1925 bis 1930 in Freiburg i.Br. und Berlin bei Georg von Below und Arthur Rosenberg, er promovierte 1930 bei Hermann Oncken mit einer Untersuchung über Die ursprüngliche Akkumulation und die Arbeiterklasse in Deutschland 1800-1848. Zunächst Mitglied der Jugendbewegung, trat er der KPD bei, geriet aber später unter den intellektuellen EinfluB von Karl Korsch. Dessen libertärintellektueller Sozialismus prägte sein Denken auch noch als „American citizen of the Left", wie der Autor sich einmal selbst beschrieb, mit ausgeprägter Distanz zur marxistischen Orthodoxie. In Abgrenzung zum „kirchlichen Charakter der KPD" engagierte sich Pachter zu Anfang der dreißiger Jahre in der SPD, veröffentlichte in —* Rudolf Hilferdings Die Gesellschaft und unterrichtete in der Erwachsenenbildung über soziale Themen und Fragen der Arbeiterbewegung. Während seiner Studien hatte Pachter unter anderem bei -» Robert Liefmann und Karl Diehl (Freiburg i.Br.), später in Berlin bei Werner Sombart auch Nationalökonomie gehört. Anfang der dreißiger Jahre wandte er sich zunehmend ökonomischen Fragen der internationalen Sozial- und Wirtschaftsentwicklung zu, wobei er marxistische

Palyi, Melchior Deutungsmuster nicht nur auf Agrarfragen anwendete, sondern vor allem Steuerungsprobleme der rechts-totalitären Wirtschaftspolitik jener Jahre untersuchte. Nach der 'Machtergreifung' gab Pachter zusammen mit Richard Löwenthal in Berlin die erste illegale Zeitung (Die Aktion) heraus, mußte aber noch 1933 nach Frankreich fliehen, von wo aus er 1941 über Spanien und Portugal in die USA emigrierte. Während des Krieges Mitarbeiter im Office of Strategie Services, veröffentlichte Pachter zwischen 1945 und 1950 ein wöchentliches Marktforschungs-Blatt (Economic Trends), das erfolgreich mit marxistischen Kategorien die amerikanische Geschäftsentwicklung analysierte. In dieser Zeit verlagerte sich Pachters Arbeitsinteresse in den Bereich der Zeit- und Ideengeschichte. Nicht gerade ein Professionswechsel, aber doch eine merkliche Umakzentuierung seiner Themenstellung fand statt, die zugleich eine Entökonomisierung seiner Argumentation bewirkte. Schon bald nach Kriegsende als Korrespondent für die Deutsche Zeitung (Köln) tätig, blieb Pachter hinfort zudem publizistisch (Der Monat, Weltwoche, Das Handelsblatt etc.) als transatlantischer Vermittler engagiert. Seit 1952 war Pachter als Dozent an der New School for Social Research angestellt. Seine Veröffentlichungen beschäftigten sich zunehmend mit weltpolitischen Konfliktanalysen, insbesondere mit europäischen Fragen und der Entwicklung in Deutschland. Geistesgeschichtliche Fragestellungen, mit denen er sich bereits in Europa auseinandergesetzt hatte, prägen sein Spätwerk. Sein posthum veröffentlichtes Buch Weimar Etudes (1982) diskutiert die Gemeinschaftsvorstellung der Jugendbewegung und die Bedeutung der Entfremdungsdebatte seit Nietzsche. Pachter, der nach seiner Pensionierung (1967) verschiedene Gastdozenturen wahrnahm, wurde von seinen Mitstreitern in der Zeitschrift Dissent liebevoll-distanziert „the German" genannt, weil ihm an einer Verständnisvermittlung europäischer (sozialzentriert) und amerikanischer (präferenzorientiert) Gesellschaftsvorstellungen lag. Walter Laqueur hat in einem Nachruf auf die intellektuelle Sonderrolle hingewiesen, die sich hieraus ergab. Pachter läßt sich keiner Schule zurechnen, er begründete auch keine. Gleichwohl hatte seine sozialwissenschaftliche Expertise erheblichen Einfluß auf den transatlantischen Wissenschafts- und Informationsaustauch. Zudem fand er laut Antho-

ny Heilbut als Gesellschaftsanalytiker großen Anklang. Am ehesten wird der Impetus seines Denkens in die Nähe der heutigen 'Communitarians' zu zählen sein. Auf die Ausbildung dieser Richtung, die ohnedies eher an Johannes Althusius erinnert denn an John Locke, hat er über Michael Walzer einwirken können, seinen Mitherausgeber der Zeitschrift Dissent. Schriften in Auswahl: (1932) Italiens Wirtschaft unterm faschistischen Rutenbündel, Berlin. (1939) Espagne creuset politique, Paris. (1944) Nazi-Deutsch. A Glossary of Contemporary German Usage. With Appendices on Government, Military and Economic Institutions (zus. mit Bertha Hellman, Hedwig Paechter, Karl O.Paetel), New York. (1955) Paracelsus. Das Urbild des Doktor Faustus, Stuttgart. (1963) Chruschtschow-Kennedy-Castro. Die Oktoberkrise und ihre Folgen, Köln/ Berlin. (1970) Weltmacht Rußland. Tradition und Revolution in der Sowjetpolitik, München. (1975) The Fall and Rise of Europe. A Political, Social, and Cultural History of the Twentieth Century, London. (1978) Modem Germany. A Social, Cultural, and Political History, Boulder/Colorado. (1982) Weimar Etudes, New York. Quellen: BHb Π; SPSL 236/ 6; Pachter, H.M.: Weimar Etudes, S. 3 ff. Sven Papcke

Palyi, Melchior, geb. 14.3.1892 in Budapest, gest. 28.7.1970 in Chicago Palyi war ein liberaler Ökonom aus der BrentanoSchule, deren Syndikalismus er jedoch nicht teilte. Der Sohn eines Zeitungsverlegers erhielt seine ökonomische Ausbildung vor dem Ersten Weltkrieg in Ungarn, der Schweiz und in Deutschland. Seine Promotion erfolgte in München bei Lujo Brentano mit einer Dissertation über die damals von der staatsgläubigen Wirtschaftswissenschaft wieder neu belebte Geldlehre

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Palyi, Melchior des Romantikers Adam Müller (Die romantische Geldlehre, 1916/17). Nach der Habilitation 1918 (Der Streit um die staatliche Theorie des Geldes), eine Auseinandersetzung mit der damals viel beachteten Theorie Knapps, lehrte er zunächst als Privatdozent an der Handelshochschule München und seit 1921 an den Universitäten Göttingen und Kiel. Schließlich erhielt er 1922 eine Privatdozentur an der Handelshochschule Berlin, wo er 1929 zum Honorarprofessor ernannt wurde. In den Jahren seiner Berliner Privatdozentur versuchte Palyi, die englische Literatur wieder stärker in die Diskussion in Deutschland einzubringen. Diese war in der von Schmoller dominierten Ära der jüngeren Historischen Schule immer mehr vernachlässigt worden. Auch die Rezeption der Wiener Schule nach Schmollers Tod 1918 hatte daran nur wenig geändert. Palyi gab in kurzer Abfolge mehrere englischsprachige Lehrbücher in deutscher Sprache heraus, deren Übersetzung er in den meisten Fällen selbst erledigte; es waren dies die Leitfäden, die am Trinity College in Cambridge entstanden waren: H. Hendersons Angebot und Nachfrage (1924), D.H. Robertsons Das Geld (1924a) und Produktion (1924b) sowie H. Wrights Bevölkerung (1924). Zu dieser Serie von Übersetzungen gehört auch der Leitfaden Finanzwissenschaft (1926) von H. Dalton aus London und abschließend dann das hervorragende Lehrbuch F.W. Taussigs Theorie der internationalen Wirtschaftsbeziehungen (1929). Robertsons Geld erschien in einer zweiten Auflage im Jahre 1935. Da inzwischen das englische Original in sieben weiteren Auflagen sehr starke Veränderungen erfahren hatte, war eine Neuübersetzung unerläßlich. Sie wurde nicht mehr Palyi übertragen, sondern von -> Karl Bode besorgt. In dieser wirkt das Geleitwort Schumpeters befremdlich: Es erweckt, ohne auf Palyi zu verweisen, den Eindruck, als wäre das Buch nie zuvor in deutscher Sprache verfügbar gewesen. Als eine herausragende Leistung muß das von Palyi mit Quittner zusammen herausgegebene Handwörterbuch des Bankwesens (1933) eingestuft werden. Es hält unter den rund 2300 Einträgen in über 200 umfangreichen Artikeln nicht nur einen hohen geldtheoretischen Anspruch durch, sondern ist auch als Fundgrube für die kompetente Kommentierung der währungspolitischen Entscheidungen am Ende der Weimarer Republik unübertroffen.

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Während der Berliner Jahre erschienen drei auch heute jenseits des rein dogmengeschichtlichen Interesses lesenswerte Abhandlungen. Die ungelösten Fragen der Geldtheorie (1925), die in der Brentano Festschrift enthalten ist, leuchtet den Wandel der geldtheoretischen Debatte seit der Gründung der Reichsbank aus. Zusammen mit dem Beitrag S.P. Altmanns Zur deutschen Geldlehre im 19. Jahrhundert (1908) in Schmollers Festschrift dürfte es sich hierbei um die bedeutendste Zusammenfassung der Geldtheorie jener Zeit im deutschen Sprachraum handeln. Palyi beschränkt sich dabei nicht nur auf die deutsche Theoriegeschichte, es gelingt ihm darüber hinaus, die Einzelströmungen klar darzustellen und einer nachvollziehbaren Kritik zu unterwerfen. Man kann nicht behaupten, die von ihm als ungelöst bezeichneten Probleme der Geldtheorie hätten in der Gegenwart ihre Auflösung erfahren. Zugleich erschien sein Beitrag Quantitätstheorie zur 4. Auflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften (1925a). Als den ungelösten Fragen ebenbürtig kann der Beitrag Zur Geschichte und Kritik der Theorie des internationalen Handels (1929) angesehen werden, der als Anhang zur deutschen Fassung von Taussigs Theorie der internationalen Wirtschaftsbeziehungen erschien. Beide Abhandlungen bilden im Grunde eine Einheit. Sie geben einen kritischen Einblick in die damals nur unzureichend erkannten Zusammenhänge von Geld, Zins, Wechselkurs, Preisniveau und Beschäftigungsmenge. Die Beziehung zwischen Notenbank und Kreditbanken diskutierte Palyi in einem Vortrag im Jahre 1931. Er sah weniger eine durch das Notenbankmonopol dominierte Hierarchie, sondern schätzte die Möglichkeiten der Zentralbank, in der Konkurrenz des Geldmarktes determinierend zu wirken, eher gering ein. In Berlin übernahm Palyi eine Reihe wichtiger Funktionen, die sein Wissenschaftlerleben entscheidend geprägt haben. Er war ab 1928 der Chefvolkswirt der Deutschen Bank und von 1931 bis 1933 Berater der Reichsbank. Zugleich war er der Leiter des von ihm begründeten und der Reichsbank nahestehenden Deutschen Währungsinstituts. Palyi verließ das Deutsche Reich Anfang März 1933. Kurzfristig wirkte er als Guest Economist der Midland Bank London und als Lecturer am University College in Oxford. Noch im gleichen Jahr führte ihn sein Weg in die USA. Dort war er von 1934 bis 1937 Visiting Professor und Re-

Palyi, Melchior search Economist an der Universität von Chicago und ab 1940 Lecturer an der Northwestern University, Chicago. Während der amerikanischen Jahre schrieb Palyi neben wissenschaftlichen Aufsätzen eine Vielzahl von wirtschaftsjoumalistischen Artikeln. In der Zeit von 1961 bis 1968 hatte er eine wöchentliche Kolumne in der Chicago Tribune, zahlreiche Artikel schrieb er ferner für den Commercial and Financial Chronicle in New York. Darin setzte er sich zumeist mit Problemen der Wechselkurse und mit den internationalen Finanzbeziehungen auseinander. Für die Chicago Tribune reiste er mehrfach nach Europa, um mit Bankern und Ökonomen die Währungsverhältnisse zu diskutieren. Aber die journalistische Tätigkeit war nur ein Glanzlicht seiner Laufbahn. Immer hat er die Verbindung zur scientific community auch über das Buch gesucht und gefunden. The Chicago Credit Market (1937) zeigte trotz der widrigen Umstände, die mit der Vertreibung verbunden waren, wie schnell er sich am neuen Standort zurechtfand. Die Jahre des Zweiten Weltkrieges beendeten seine Beziehungen zu Europa nicht Sowie die europäischen Wirtschaften die ersten geld- und finanzpolitischen Entscheidungen für die Nachkriegsentwicklung trafen, meldete er sich als sachkundiger Beobachter und Kritiker zurück. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang: The Dollar Dilemma. Perpetual Aid to Europe? (1954). Palyi hat schärfer als andere mit seinem durch die große deutsche Inflation und die Finanzmanipulationen Schachts geübten Blick die Unmöglichkeit einer Entwicklung bei beständigem Kapitalzustrom aus den USA gesehen. Seine Abhandlung ist in zweifacher Hinsicht noch heute interessant. Sie zeigt, warum unter den europäischen Staaten nur die Kapital reexportierende Bundesrepublik Deutschland einen wirtschaftlichen Wiederaufschwung erlebte, während die alte Großmacht England nicht anders als Frankreich und erst recht die Mittelmeerländer von Portugal bis zur Türkei als Nettokapitalimporteure im Verhältnis zu ihrer relativen Vorkriegsbedeutung in den fünfziger Jahren wirtschaftlich abstiegen. Sie zeigt aber auch, warum die heute Entwicklungsländer genannten Staaten mit derselben oder doch einer ähnlich fehlerhaften Geld- und Finanzpolitik noch immer vergeblich versuchen, den Anschluß an die Wohlfahrtsentwicklung in den führenden Wirtschaltsräumen zu gewinnen.

Palyis Werk liest sich wie ein Fortsetzungsgeschichte. Sein folgendes Buch, Managed Money at the Crossroad - The European Experience (1958) leuchtet nochmals den Weg aus, über den Europa zu seinen Wähningsproblemen der Nachkriegsjahre gelangt war. Um verständlich zu machen, warum die dirigistisch betriebene Geldpolitik in England, Frankreich und Italien nicht die erhofften Wirkungen hatte, erläutert er die Funktionsbedingungen eines Währungssystems am Beispiel des Goldstandards. Palyi zeigt wie die Vollbeschäftigungspolitik und die Subventionspolitik mit Hilfe von Defiziten der öffentlichen Haushalte und der darauf für ihn zwangsläufig folgende wirtschaftspolitische Dirigismus im Rahmen eines europäischen Protektionismus exekutiert wurden. Er zeigt auch, wie bei unablässigem Dollarzustrom gleichzeitig eine Ablenkung des Handels von Amerika praktiziert wurde. Statt aber damit die „Kultivierung des eigenen Gartens" zu verwirklichen, hätten die Europäer eine Dollar-Inflations-Spirale installiert. „Das 'freie Europa' jagt der Fata Morgana einer ewigen Hochkonjunktur nach. In diesem ProzeB werden seine vertraglichen Rechte und wirtschaftliche Freiheiten langsam aber unwiederbringlich aufgezehrt Die manipulierte Währung zwingt die Verantwortlichen uneibittlich dazu, ihre väterliche Fürsorge von einem Wirtschaftsgebiet auf das andere auszudehnen, die Produktion zu lenken, die Preise und Löhne zu halten, den Außenhandel und den Inlandskredit zu reglementieren und so fort, um die inflationäre Abdrift zu korrigieren, die sich ihrer Kontrolle entzieht" (1960, S. 286). Am Beispiel des Verfalls der französischen Währung wird das noch einmal deutlich ausgeführt in: A Lesson in French Inflation (1959). Palyi sah die Möglichkeit einer Rückkehr zum Goldstandard. Dim war bewußt, daß dies nicht ohne schmerzende Anstrengung möglich sein werde. Er war aber sicher, kein manipuliertes Geldsystem werde seinen angeblich bestehenden Kodex zur Knapphaltung des Geldes jemals einhalten können. Nur die Bindung der Währung an ein von Zentralbanken stabilisiertes Gold könne die Funktionsbedingungen einer erfolgreichen Wirtschaft herstellen. Es war wie eine Bestätigung seiner These, als nun auch der Dollar selbst in den Strudel geriet, der durch die mangelnde monetäre Disziplin in Westeuropa verursacht worden war. An Inflation Primer (1961) zeigt, wie auch hier die Erbschaft aus dem New Deal der

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Palyi, Melchior Zwischenkriegszeit ihre Spätwirkungen zeitigte. Durch den Glass-Steagall-Akt von 1936 war nämlich auch für den Dollar die Möglichkeit geschaffen worden, Staatsschulden zu monetisieren. Allerdings geschah es weniger direkt als in Frankreich, Italien und Großbritannien. Der Weg wurde formal korrekt über den Wertpapiermarkt eingeschlagen. Es ist die gesetzliche Aufgabe des Offenmarkt-Ausschusses, die Kurse der Bonds auf Rechnung des Zentralbanksystems zu pflegen, um ihre Aufnahme beim Publikum durch die so hergestellte Geldnähe zu erhöhen. Damit war die Erosion des Dollars vorbestimmt, sowie der Bundeshaushalt sich den Budgetbeschränkungen der ordentlichen Staatseinnahmen entledigte. Bonds wurden im Übermaß in den Markt gedrückt, und das Zentralbanksystem kaufte sie getreu seinem gesetzlichen Auftrag an, um ihren Kurs zu stabilisieren. Die Wirkung war der Regierung durchaus recht. Sie durchbrach nicht nur ihre Budgetrestriktion, ohne auf Widerstand in der Öffentlichkeit zu stoßen. Sie verbilligte auch ihre Schulden durch die mit der Geldmengensteigerung eintretende Zinssenkung. Steigende Preise und fallende Zinsen sorgten aber für ein Ungleichgewicht im Vermögensmarkt und lösten damit erstmals 1960 die Kapitalflucht und damit den Abwertungsdnick auf den Dollar aus. In mehreren Wellen hat sich inzwischen dieses Ereignis wiederholt. Der Dollar ist von 1960 bis 1995 auf 36 Prozent seines Nachkriegswechselkurses zur Deutschen Mark gefallen. Palyi hat die Möglichkeit der Kompensation der Kurspflegemaßnahmen durch eine rigide Refinanzierungspolitik gegenüber den Geschäftsbanken nicht diskutiert. Bei einer Gesamtschau seines Werkes kommt nicht der Eindruck auf, er hätte diese nicht erkannt. Viel eher muß man annehmen, er habe vorhergesehen, daß diese Politik nichts nutzen würde. Da jede US-Regierung seither in Übereinstimmung zu dem von Palyi demonstrierten Pessimismus auf die bequeme Möglichkeit der Sprengung der Budgetrestriktion im Ernstfall zurückgegriffen hat, ist faktisch Schuldendienst nur aus Nettoneuverschuldungen erfolgt. Damit bedeutete selbst die erfolgreiche Kompensation eine Verwässerung des US-Dollars. Das Vermögen des Zentralbanksystems wäre durch den Aktivtausch im Zentralbanksystem um gute Forderungen vermindert und um schlechte vermehrt worden. Keine Währung ist besser als die Vermögenswerte, die die Zentralbank bei der Geldemission ankauft oder beleiht.

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Nicht erstaunlich ist, daß Palyi seine letzten Lebensjahre dazu nutzte, das Währungssystem, von dessen Funktionstüchtigkeit er überzeugt war. noch mit einem eindrucksvollen abschließenden Werk zu würdigen. The Twilight of Gold 19141936, Myths and Realities (1972), ist von seinem Autor jedoch nicht mehr vollendet worden. Aber es waren nur wenige Striche, die von Donald Kemmerer nachzutragen waren. Für den Leser schließt sich hier ein Kreis: Palyi, dessen Laufbahn mit einer strengen Analyse und Kritik der Geldtheorie im deutschen Sprachraum begann, und der so hoffnungsvoll versuchte, die neue monetäre Ökonomie aus Cambridge nach Deutschland zu holen, war durch die Gewaltherrschaft des Naziregimes gezwungen, sich in der Emigration ein breites Publikum als Journalist und Fachbuchautor zu suchen, um wirtschaftlich überleben zu können. Es gehört zur Tragik seiner Laufbahn, daß der NS-Staat sich gerade auf die Lehren von Keynes berief und auch berufen konnte. Wen wundert da seine Abneigung gegen die Währungsmanipulateure und seine zuweilen demonstrative Gegnerschaft zum toten Keynes. Die Praxis des manipulierten Geldes hatte im Namen der Vollbeschäftigungspolitik in den faschistischen Systemen Europas die negativsten Auswüchse gezeigt, und sie endeten in einer Orgie menschenverachtender Gewalt. Die Rückkehr zum Goldstandard, zu einem System, das ihm Willkür durch Wettbewerb am sichersten zu ersetzen schien, ist daher nicht Resignation, sondern Option für ein Weltwährungssystem, von dem Palyi immer angenommen hatte, es liefere ein Geld, das ausgemünzte Freiheit sei. Die Universität Köln verlieh ihm im Jahre 1961 die Ehrenpromotion. Schriften in Auswahl: (1916/17)

Die romantische Geldlehre, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 42, S. 89-118 und S. 535-560.

(1922)

Der Streit um die staatliche Theorie des Geldes, München/Leipzig.

(1924)

Lujo Brentano. Eine Bio-Biographie von H. Neisser und M. Palyi, Berlin. Quantitätstheorie, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 6, 4. Aufl., Jena, S. 1147-1152.

(1925a)

Papanek, Gustav Fritz (1925b)

(1926a)

(1926b)

(1928)

(1929)

(1930)

(1931)

(1933)

(1937) (1954)

(1958)

(1959)

Ungelöste Fragen der Geldtheorie, in: Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege. Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag (hrsg. zus. mit M.J. Bonn). Band II: Stand der Forschung, München/Leipzig, S. 455-517. Zur Frage der Kapitalwanderung nach dem Kriege, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 171, S. 3-100. Internationale Kapital Wanderung und ihre wirtschaftliche Bedeutung, in: Das Werden in der Weltwirtschaft, hrsg. von der Industrie- und Handelskammer zu Berlin, Berlin, S. 99-127. Die Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten von Amerika als Gläubigerland, in: Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 174, 3. Teil, S. 221300. Zur Geschichte und Kritik der Theorie des internationalen Handels, Anhang in: F.W. Taussig: Theorie der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, Leipzig. S. 344-378. Das Problem der Lotteriereform, in: Staatslotterie und Kapitalbildung. Gutachten für die Aussprache der Sachverständigen in Berlin am 1. Juni, hrsg. von der Friedrich List-Gesellschaft als Ms., S. 3-22. Notenbank und Kreditbanken, in: B. Harms (Hrsg.): Kapital und Kapitalismus. Bd. 1, Berlin, S. 374-399. Handwörterbuch des Bankwesens (als Hrsg. zus. mit P. Quittner), Berlin. The Chicago Credit Market, Chicago. The Dollar Dilemma. Perpetual Aid to Europe?, Chicago; dt. Übers.: Das Dollar-Dilemma. Licht und Schatten der Amerikahilfe, München 1955. Managed Money at the Crossroad The European Experience, Notre Dame/Indiana; dt. Übers.: Währungen am Scheideweg. Lehren der europäischen Experimente, Frankfurt 1960. A Lesson in French Inflation, New York.

(1961)

(1972)

An Inflation Primer, Chicago; dt. Übers.: Die Inflation in Amerika, Frankfurt am Main 1962. The Twilight of Gold 1914-1936. Myths and Realities, posthum hrsg. von D. Kemmerer, Chicago.

Bibliographie: Altmann, S.P. (1908): Zur deutschen Geldlehre im 19. Jahrhundert, in: Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im neunzehnten Jahrhundert. Gustav Schmoller zur 70. Wiederkehr seines Geburtstags, Leipzig, Teil I.VI, S. 1-67. Benham, F. (1933): Das englische Währungsexperiment, dt. hrsg. von M. Palyi, Berlin. Dalton, H. (1926): Einführung in die Finanzwissenschaft, hrsg. von M. Palyi, deutsch von H. Neisser, Berlin. Henderson, Η. (1924): Angebot und Nachfrage, dL hrsg. von M. Palyi, Berlin. Robertson, D.H. (1924a): Das Geld, dL hrsg. von M. Palyi, Berlin; 2. neu übersetzte Aufl. von K. Bode mit einem Vorwort von J.A. Schumpeter, Berlin 1935. Robertson, D.H. (1924b): Produktion, dL hrsg. von M. Palyi, Berlin. Taussig, F.W. (1929): Theorie der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, dL hrsg. und mit einem Nachwort von M. Palyi, Leipzig. Wright, Η. (1924): Bevölkerung, dt. hrsg. von M. Palyi, mit einem Vorwort von J.M. Keynes, Berlin. Quellen: BHb Π; WA; EC 27; Ebel, W.: Catalogue Professorum Gottingensium; HldWiWi 1929. Hans-Joachim Stadermann

Papanek, Gustav Fritz, geb. 12.7.1926 in Wien Mit seiner Familie emigrierte Papanek 1938 nach Frankreich und von dort zwei Jahre später in die USA. Er wurde rasch eingebürgert und diente als 16-jähriger in der amerikanischen Armee. Mit 25 promovierte Papanek bei John Kenneth Galbraith in Harvard, nachdem er in Cornell und Harvard Ökonomie studiert hatte. Bis 1973 blieb er der Harvard Universität als Dozent verbunden und war lange Direktor des Harvard University Development Advisory Service, dem späteren Harvard Institute for Internationa] Development.

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Papanek, Gustav Fritz 1974 wurde er als Professor an die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Boston sowie an das dortige Asian Center berufen. Zugleich ist er Direktor des Boston Institute for Developing Economies. Bemerkenswert ist Papaneks rasche Integration in die damals gerade erst entstehende amerikanische Entwicklungspolitik. Seine Beratertätigkeit begann im amerikanischen Außenmini Stenum, wo er 1951-53 als stellvertetender Direktor die technische Zusammenarbeit im Süd- und Südostasienprogramm betreute. Später arbeitete er für die US Agency for International Development (US AID), die Ford Foundation und die Weltbank. Erste Entwicklungslandserfahrangen sammelte Papanek 1954-58 als Wirtschaftberater bei der pakistanischen Plankommission. Nach Beratertätigkeiten im Iran und in Indien leitete er 1971-73 ein Team der Harvard Advisory Group an der Plankommission und im Finanzministerium Indonesiens, wo er 1987-88 erneut mit angewandten Forschungsarbeiten zur Beschäftigungs-, Handelsund Industriepolitik tätig wurde. Papaneks Engagement insbesondere im jungen Pakistan trug ihm später dort den Spitznamen „Papa Nek" - Tugendvoller Vater - ein (Naqvi, 1986). Diese Rolle kam besonders in seiner Lehrtätigkeit in Harvard und Boston zum Ausdruck, wo er an der Ausbildung zahlreicher Studenten, vor allem aus Asien, beteiligt war, die später wichtige Posten in Plankommissionen, Ministerien und Zentralbanken übernehmen sollten. Papanek wird auch die Einfuhrung von Fallstudien in der Ökonomenausbildung zugeschrieben, einer Lehrmethode, die von vielen amerikanischen Business Schools aufgegriffen wurde (Naqvi, 1986). Papanek wurde vor allem durch empirische Arbeiten und Länderstudien, insbesondere zu asiatischen Entwicklungsländern, bekannt. Inhaltliche Schwerpunkte seiner Forschungs-, Lehr- und Beratertätigkeit liegen bei drei Themenkomplexen: in der Entwicklungsplanung, insbesondere dem Wirken ökonomischer Anreize, Wachstum, Einkommensverteilung und Armutsbekämpfung und, daraus abgeleitet, Beschäftigungspolitik. Theoretisch verficht er, im Gegensatz zu der eher strukturalistisch beeinfluBten Entwicklungstheorie, die gerade auch in Südasien stark vertreten ist, eine marktwirtschaftlich orientierte Position, nach der Staatseingriffe darauf zu beschränken seien, Marktdysfunktionen auszugleichen und Sozialpo-

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litik zu betreiben. Empirisch orientiert, entwikkelte er beispielsweise ein Alternativmodell zur Erklärung von Lohneinkommen und Beschäftigung, das auf Zeitreihenanalysen, Befragungen und empirischer Beobachtung beruhte. Er verwarf gängige Standardtheoreme der Entwicklungstheorie wie ζ. B. die Kuznets-Hypothese, der zufolge sich Einkommensdisparitäten im Wachstumprozeß zunächst verstärken; das Lewis-Fei-RanisModell, das von struktureller Unterbeschäftigung ausgeht; aber auch neoklassische Ansätze in der Verteilungstheorie, die einen Ausgleich von Lohn- und Beschäftigungsniveaus zum Gleichgewicht hin annehmen. Ausgehend von seinem feldforschungsnahen Ansatz, spielte für Papanek der informelle Sektor bereits in fhihen Arbeiten eine wichtige Rolle, ein Sektor, der in der konventionellen Theorie damals eher vernachlässigt wurde. Typisch für seinen Analyseansatz ist ζ. B. seine Studie zur Armut in Indien (Papanek 1988). Er zeigt anhand empirischer Untersuchungen, daB über den Zeitraum 1955-1975 für arme Bevölkerungsschichten sowohl der Tageslohnsatz als auch die Anzahl der entlohnten Arbeitstage gestiegen sei, und zwar im formellen wie im informellen Sektor. Dennoch lägen Löhne auf diesem Arbeitsmarkt etwa zur Hälfte unter dem Lohnniveau von gewerkschaftlich organisierten Großbetrieben. Angesichts des leichten Anstiegs im Volkseinkommen habe sich folglich die Einkommmensverteilung zuungunsten der nichtqualifizierten Arbeitskräfte in ländlichen Gebieten verschoben. Die daraus resultierende beharrliche Armut schreibt Papanek der Ausrichtung der Wirtschaftpolitik zu: Trotz Arbeitsbeschaffungsprogrammen und einer antiinflationären Politik bewirke u.a. die hohe Kapitalintensität in Industrie und Handel stagnierende Beschäftigung. Skeptisch betrachtet Papanek auch die selektive Industrieförderungspolitik. Sie ermögliche zwar in einzelnen Industriezweigen höhere Wachstumsraten, und damit gesteigerte Gewinne und Lohneinkommen, gehe aber zu Lasten der Effizienz und der Einkommen in anderen Industriezweigen und Sektoren der Volkswirtschaft. Um dem entgegenzusteuern und das Einkommen ungelernter Arbeiter zu erhöhen, plädiert Papanek für vorsichtig austarierte, arbeitsintensive Wachstumsstrategien und insbesondere für die Förderung arbeitsintensiver Exporte.

Papanek, Gustav Fritz Letzteres erfordere u.a. eine Liberalisierung von Vorschriften und Lizenzen. Über steigende Arbeitsnachfrage würde dann der Mindestlohnsatz steigen. Interessant ist auch Papaneks Position in einer Kernfrage entwicklungspolitischer Debatten, nämlich der nach dem trade-off zwischen inländischer Sparquote und Entwicklungshilfezuflüssen; laut Papanek würden Entwicklungshilfemittel inländische Spar- und damit Investitionsvorhaben nicht verdrängen, sondern vielmehr den Entwicklungsprozeß unterstützen. Diese Argumentationsketten sind deswegen von Interesse, weil Kritiker Papanek bisweilen vorwerfen, sich nicht genügend von der von auBenpolitischen Interessen determinierten amerikanischen Entwicklungszusammenarbeit abgekoppelt zu haben. So fällt beispielsweise auf, daB er, trotz seiner starken empirischen Orientierung und kritischen Distanz zu herrschenden Paradigmen, in der wirtschaftspolitischen Empfehlung auf konventionelle marktorientierte Instrumentarien setzt. Papaneks Beiträge zur Entwicklungspolitik sind vor allem deswegen bedeutend, weil seine Verbindung zur empirischen Forschung ihn interdisziplinär arbeiten und die Grenzen zwischen ökonomischer und soziologischer Theorie sprengen ließ. So vertrat er bereits 1960, in seiner Schrift Framing α Development Program einen pluralistischen und multidisziplinären Ansatz, der postkeynesianische, humankapitalbegründete und politologisch-psychologische Ansätze in der Entwicklungs- und Projektplanung kombiniert. Darin hob sich seine Arbeit von den engen ökonomischen Kosten-Nutzen-Analysen jener Jahre ab. Diese sozialwissenschaftliche Vielseitigkeit verdankt Papanek vielleicht seinem Lehrer Galbraith, sie rührt aber sicherlich auch aus seinem Engagement in der angewandten Wirtschaftsforschung und Beratertätigkeit her.

(1967)

(1971)

(1973)

(1975)

(1981)

(1986a)

(1986b)

(1987)

(1988) Schriften in Auswahl: (1954) Development Problems Relevant to Agricultural Tax Policy. Konferenzpapier, Harvard Law School, Cambridge, Mass. (1960) Framing a Development Program, in: International Conciliation, Carnegie Endowment for International Peace, New York, Nr. 527, S. 307-372 (verschiedentliche Wiederabdrucke 1963, 1964).

Pakistan's Development. Social Goals and Private Incentives, Cambridge, Mass. (weitere Ausgaben: Karachi 1968 und 1971; dt. Teilübers.: Die Herausbildung von industriellen Unternehmen, in: Wachstumtheorie (=Wege der Forschung, Bd. 472), Darmstadt 1978, S. 267-297. Development Policy Π - The Pakistan Experience (hrsg. zus. mit W. Falcon), Cambridge, Mass. Aid, Foreign Private Investment, Savings and Growth in Less Developed Countries, in: Journal of Political Economy, Bd. 81, S. 120-130. The Poor of Jakarta, in: Economic Development and Cultural Change, Bd. 24, S. 1-27 (Abdrucke u.a. Jakarta 1976,1986). The Indonesian Economy (als Hrsg.), New York (übers, als: Ekonomi Indonesia, Jakarta 1987). Development Policy - Theory and Practice (als Hrsg.), Boston (übers, als: Teoria y Practica de la Politica del Desarollo, Fondo de Cultura Economica, Mexico 1972). Lectures on Development Strategy, Growth, Equity and the Political Process in Southern Asia, Pakistan Institute of Development Economics, Islamabad. Flattening the Kuznets Curve: The Consequences for Income Distribution of Development Strategy, Government Intervention, Income and the Rate of Growth (zus. mit Ο. Kyn), in: Pakistan Development Review, Bd. 26, S. 1-54. Poverty in India, in: R. Lucas und G. Papanek (Hrsg.): The Indian Economy. Recent Development and Future Prospects, Boulder/London (Weitere Auflagen: New Delhi 1988 und 1989).

Bibliographie: Naqvi, S.N.H. (1986): Introductory Remarks, in: Lectures on Development Strategy, Growth, Equity and the Political Process in Southern Asia, Pa-

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Pappenheim, Fritz kistan Institute of Development Economics, Islamabad (op. cit.). Quellen: BHb II; AEA; Papanek, G.Korrespondenz vom 2.4.1992. Gabriele Köhler

Pappenheim, Fritz, geb.

18.5.1902 in Köln, gest. 31.7.1964 in Cambridge, Massachusetts

Kurz vor dem Abitur mußte Pappenheim die Schule mit der Unterprima-Reife verlassen, da sein Vater durch die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war. Er absolvierte zunächst eine Lehre bei der Deutschen Bank und begann dann auf Empfehlung des Soziologen Paul Honigsheim mit der sog. kleinen Matrikel das fachgebundene Studium der Ökonomie in Köln und anschließend in Kiel. Bei einem Preisausschreiben der Kölner wirtschafte- und sozialwissenschaftlichen Fakultät über die Wirkungen der Inflation auf den sozialen Frieden gewann er den ersten Preis. Mit der eingereichten Arbeit konnte er im Januar 1927 die Begabtenpriifung des Preußischen Kultusministeriums zur Erlangung der vollen Hochschulreife ablegen; diese Arbeit bildete auch die Grundlage seiner Dissertation, mit der er 1928 bei Erwin von Beckerath in Köln promovierte. Von dem Soziologen Ferdinand Tönnies während seines Kieler Studienaufenthalts nachhaltig beeinflußt, suchte der überzeugte Marxist Pappenheim anschließend dessen Werk in sein Wissenschaftskonzept zu integrieren, worüber er einige Aufsätze vorlegte. 1929 übernahm er die Leitung eines Volkshochschulheims für junge Arbeiter in Leipzig und bereitete dort die Gründung von Werkheimen vor, die im Herbst 1930 von der Stadtverwaltung für jugendliche Arbeitslose eingerichtet wurden. Von 1931 bis zu seiner Entlassung 1933 arbeitete er als Leiter des Bundes für Volksbildung in Frankfurt/Main in enger Kooperation mit den Gewerkschaften. Als Sozialist und Jude gehörte Pappenheim zu den besonders Verfolgten der Nationalsozialisten. Renommierte Gelehrte wie Beckerath, Tönnies oder Max Horkheimer empfahlen ihn den internationalen Hilfskomitees für vertriebene Wissenschaftler, doch Pappenheim flüchtete bereits im März 1933 in die junge spanische Republik, wo er in Barcelona weiterhin in der Arbeiterbildung tätig sein konnte. Im Auftrag des katalanischen

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Agrarministeriums und des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam führte er daneben ein Forschungsprojekt über die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der kleinen Weinbauern und Landpächter durch. 1937 suchte er auf einer Vortragsreise durch England, die Öffentlichkeit zur finanziellen Unterstützung der republikanischen Seite im Bürgerkrieg zu gewinnen. Nach dem Sieg Francos floh er wie viele Republikaner und die Angehörigen der Internationalen Brigaden nach Frankreich, wo er fur die nächsten zwei Jahre interniert wurde. Freunde an der Western Reserve University in Cleveland beschafften ihm im August 1941 ein Non Quota-Visum, um dort am Social Science Department zu lehren. 1944 erhielt er vom Talladega College in Alabama, einem von der amerikanischen MissionarsVereinigung betriebenen College für Afro-Amerikaner, den Ruf auf eine Professur für Wirtschaftswissenschaften, die die Verpflichtung umfaßte, die deutsche Sprache zu unterrichten. Während der Kämpfe an den amerikanischen Hochschulen um die akademischen Freiheiten in der McCarthyÄra wurde Pappenheim 1952 gegen den Protest der Fakultät entlassen, wobei die spektakulären Umstände des 'Pappenheim Case' auch den College-Präsidenten das Amt kostete. Bis zu seinem Tode lebte Pappenheim in Cambridge, Mass. als freier Autor und als Vortragsredner zumeist in sozialistischen Kreisen und in der entstehenden Bürgerrechtsbewegung. Finanziert durch ein Stipendium der Carnegie Foundation entstand in den fünfziger Jahren auch sein großes Werk The Alienation of Modern Man, das in zahlreichen Auflagen erschien und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Es untersuchte auf der vergleichenden Basis von Marx' Frühschriften und Tönnies' Klassiker Gemeinschaft und Gesellschaft die soziale und die Selbstentfremdung des Menschen in der modernen Industriegesellschaft. Während Marx die Prägung des kulturellen Überbaus durch die ökonomischen Strukturen nur konstatiert hatte, suchte Pappenheim diese Wirkungen an zahlreichen Beispielen des zeitgenössischen philosophischen Denkens, der Psychologie oder der Kunst nachzuweisen.

Peltzer, Ernesto Schriften in Auswahl: (1928) Neue Schriften von Ferdinand Tönnies, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, Bd. 7, S. 81-92, 208-216, 344-358. (1930) Aufriß der Sozialgeschichte der Geldentwertungen in Frankreich bis John Law. Untersuchungen über die Einwirkung des Geldwertschwundes auf das Staatsgefühl und den sozialen Frieden, Frankfurt/Main (Diss.). (1933) Die Bewertung der geistigen Arbeit in der Wirtschaftslehre von Karl Marx, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 139, S. 71-74. (1937) La Rabassa Moria, Ministerio del Agriculture, Bolletino, Barcelona. (1959) The Alienation of Modem Man, New York. (1967) Alienation in American Society. Ed. by Monthly Review Press [mit einer biogr. Einführung v. Dirk J. Struik], New York- London. Quelle: SPSL 534/1. Claus-Dieter Krohn

Peltzer, Ernesto (früher: Ernst Peltzer), geb. 16.5.1901 in Stolberg, Rheinland, gest. 5.9.1975 in Deutschland Nach dem Abitur am Gymnasium seines Geburtsorts im Jahr 1920 nahm der einer protestantischen Fabrikantenfamilie entstammende Peltzer zunächst eine praktische Ausbildung an der Fachschule für Metallbearbeitung in Aue/Sachsen auf, die er jedoch bereits kurz darauf krankheitsbedingt abbrechen mußte. Ab dem Frühjahr 1922 studierte er zunächst an den Universitäten Bonn und München Rechtswissenschaft und Nationalökonomie, bevor er 1925 die Prüfung zum Diplom-Volkswirt an der Universität Freiburg i.Br. ablegte, wo er unter anderem bei Karl Diehl, Götz Briefs und Eduard Heimann gehört hatte. Sein Studium setzte er an der Universität Hamburg fort und wurde dort 1930 von Heimann mit der Arbeit Der reale Kapitalzins und der Darlehenszins (1932) 'summa cum laude' zum Dr.phil. promoviert. Nach einem längeren Kuraufenthalt in der Schweiz arbeitete Peltzer in den Jahren 1932 bis 1934 mit einem Stipendium

der Rockefeller-Foundation als Forschungsassistent im Forschungsprojekt „Gemeinschaftsarbeiten zur Frage der neuesten Handelspolitik in ihrer Beziehung zum Wirtschaftssystem und ihrer Bedeutung fur die gegenwärtige Wirtschaftskrisis", das von -» Herbert von Beckerath an der Universität Bonn zusammen mit Arnold Wolfers an der Hochschule für Politik, Berlin, geleitet wurde. Im Anschluß an eine vorübergehende Tätigkeit als Geschäftsführer der sich in Abwicklung befindlichen Berliner Dependence eines österreichischen Modeverlagshauses emigrierte Peltzer, der seit 1930 mit einer Jüdin verheiratet war und daher als 'jüdisch versippt' keine Aussichten auf eine weitere universitäre Beschäftigungsmöglichkeit in Nazi-Deutschland hatte, 1935 zunächst nach Spanien, wo er in Madrid eine Dozentur am Institute de Estudios Internacionales y Econömicos ausübte. Im Jahr 1936 hatte Peltzer, der gleichzeitig als Spanienkorrespondent des Deutschen Volkswirt (1936a; 1936b) tätig gewesen war, nochmals eine Urlaubsreise nach Deutschland unternommen, wurde dort jedoch wegen eines angeblichen Devisenvergehens kurzfristig verhaftet und gelangte als „wehrfähiger Arier" nur mit Hilfe des Academic Assistance Council (AAC) und einer fingierten Einladung der Universität Leeds wieder zurück nach Madrid. Die iberische Halbinsel verließ Peltzer 1938, um für die Dauer eines Jahres in Genf Forschungsarbeiten durchzuführen, darunter auch als Mitarbeiter - wiederum gefördert durch die RockefellerFoundation - in einem von -» Wilhelm Röpke am Institute Universitaire des Hautes Etudes Internationales geleiteten Projekt zur Desintergration der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Mitte des Jahres 1939 folgte er dann dem Angebot des venezolanischen Außenministeriums zur Übernahme einer Position als technischer Berater und Dozent an der Escuela Diplomätica y Consular dieses Ministeriums in Caracas. Zwei Jahre darauf wurde Peltzer, der inzwischen auch zahlreiche Berichte für das dortige Finanzministerium zu Problemen des Geld- und Bankenwesens ausgearbeitet hatte, zum Chef der Wirtschaftsforschungsabteilung der damals neu gegründeten Zentralbank von Venezuela ernannt. Zwar wechselte er im Jahr 1952 als Professor für Wirtschaftswissenschaften an die Universidad Central de Venezuela, jedoch blieb er über seine Emeritiemng im Jahr 1966 hinaus ökonomischer Berater der Zentralbank. Peltzer, bei dem im Gegensatz zur überwiegenden Mehr-

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Peltzer, Ernesto heit der nach Lateinamerika emigrierten Wissenschaftler (vgl. von zur Mühlen 1988, S. 88ff.) keine nennenswerten Akkulturationsprobleme aufgetreten waren, verstarb 1975 während einer Besuchsreise zu seinem in Deutschland lebenden Bruder. Im Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit Peltzers standen von Beginn an Fragen der monetären und bald auch der außenwirtschaftlichen Theorie und Politik. So untersuchte er in seiner Dissertationsschrift (1932) die Wirkungen einer Kreditexpansion auf die Kapitalgüterproduktion und die Produktionskapazitäten sowie die damit einhergehenden geld- und realwirtschaftlichen Anpassungsreaktionen. In dieser Arbeit knüpfte er u.a. an den Beiträgen von -» Ludwig Albert Hahn, -» Ludwig v. Mises, Knut Wicksell und vor allem -» Joseph A. Schumpeter an, der Peltzers Studie in einem Empfehlungsschreiben für den AAC als „one of the ablest contributions to the theories of capital, credit and interest, which have appeared for the last twenty years" (Brief von J. A. Schumpeter an W. Adams vom 9.11.1935; SPSL 236/8) bezeichnete. Peltzer kam in seiner Analyse zu dem SchluB, daß es mit Hilfe der Kreditausweitung, wenngleich nicht ohne Krisen und Friktionen, durchaus möglich sei, die „Produktionsgrenze hinauszuschieben", so daß die Volkswirtschaft „in das ursprünglich zu weit bemessene [monetäre; d.Verf.] Kleid" hineinwachsen werde (1932, S. 442). Im spanischen Exil befaßte sich Peltzer dann erstmals mit den wirtschaftlichen Problemen einer sich industrialisierenden Volkswirtschaft und diskutierte in kleinen Korrespondentenbeiträgen für den Deutschen Volkswirt u.a. Fragen des Außenhandels, der Handelsbilanzdefizite und der Währungspolitik (1936b) sowie der sozialen und (agrar-)politischen Struktur seines Zufluchtslandes (1936a), wobei er jedoch Anbiederungen an die nationalsozialistischen Machthaber vermied. In seinem Aufsatz Industrialization of Young Countries and the Change in the Division of Labor (1940) befaßte sich Peltzer dann in einem breiteren Kontext mit der Entwicklungsländerproblematik. Die Arbeit erschien, obschon als Kurzfassung eines Memorandums im Rahmen des Genfer Forschungsprojekts unter Röpke entstanden, nach Peltzers Übersiedelung nach Venezuela in Social Research, der Institutszeitschrift der Graduate Faculty der New Yorker New School, an die sein Doktorvater Heimann emigriert war.

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Zwar kann dieser Beitrag Peltzers nicht als ein Beginn der modernen Entwicklungsökonomik angesehen werden, da in ihm kein geschlossenes theoretisches Konzept für die Industrialisierung einer 'rückständigen' Volkswirtschaft vorgestellt wurde, wie kurz darauf von -» Kurt Martin (Mandelbaum), Paul N. Rosenstein-Rodan und anderen nach Großbritannien emigrierten deutschsprachigen Ökonomen (vgl. dazu allgemein EBlinger 1999), jedoch ging er an entscheidenden Punkten über das (neo-)klassische Paradigma der allseitigen Vorteilhaftigkeit der internationalen Arbeitsteilung hinaus, die Peltzer infolge der Inhomogenität der Volkswirtschaften - insbesondere zwischen industrialisierten und sich entwikkelnden Ländern - für nicht anwendbar erachtete (1940, S. 303f.). Peltzer diskutierte in diesem Artikel ansatzweise jene Elemente, die nach -» Albert O. Hirschman (1981) für moderne Entwicklungstheorien charakteristisch sind. Er akzeptierte die These der beiderseitigen Vorteilhaftigkeit der weltweiten Handelsbeziehungen für Entwicklungs- wie fur Industrieländer (vgl. 1940, S. 321), wies jedoch gleichzeitig implizit die These zurück, daß für beide Ländergruppen dasselbe (orthodoxe) ökonomische Modell anwendbar sei, so daß dem Staat durch „Interventionen" im Entwicklungsprozeß insbesondere bei der Bereitstellung von Infrastruktur· und Bildungseinrichtungen sowie bei der Übernahme unternehmerischen Risikos wichtige ökonomische Gestaltungsaufgaben zufielen (vgl. ebd., S. 304f.). Dabei ließ er erneut Schumpetersche Ideen anklingen, indem er betonte, daß der Staat in sich industrialisierenden Ländern einen Großteil jener Funktionen ausführen müsse, die ansonsten von Unternehmern geleistet werden, wenn sie versuchen, im Entwicklungsprozeß 'neue Kombinationen' einzuführen (vgl. ebd., S. 305). Mit der Aufnahme seiner Tätigkeit in der venezolanischen Zentralbank wandte sich Peltzer wieder seinem ursprünglichen Themengebiet der monetären Theorie und Politik zu und veröffentlichte eine Vielzahl von Publikationen zu geld-, zinsund währungspolitischen Fragen seines Emigrationslandes (1944; 1965a und b; 1971). Dabei bildeten jene Teile seines Werkes einen besonders wichtigen Beitrag zur Theorie und Praxis des Bankensystems in Venezuela, in denen er die Entstehung und die Beendigung monetärer Expansionsphasen untersuchte, denn im Zentrum des Pelt-

Philipp, Perry Fred zerschen Denkens stand die Erkenntnis, daB eine Ökonomie, die den „Kontakt" zum Zinssatz verloren habe, steuerungslos werde (vgl. Llamozas 1980, S. XLVI f.). Neben zahlreichen Ehrungen, mit denen Peltzer in Venezuela von Seiten des Staates, der Universität und ökonomischer Standesorganisationen für seine wissenschaftlichen Leistungen ausgezeichnet worden war, stiftete die Zentralbank im Jahr 1974 den Ernesto-Peltzer-Preis zur Förderung des wirtschaftswissenschaftlichen Nachwuchses und verlieh ihrer 1941 gegründeten Bibliothek zwei Monate nach Peltzers Tod den Namen „Biblioteca Emesto Peltzer". Schriften in Auswahl: (1932) Der reale Kapitalzins und der Darlehenszins. Zur Frage der Beziehungen zwischen Kapital, Kreditschöpfung, Zins und Preisniveau (= Untersuchungen zur theoretischen Nationalökonomie. Hrsg. von Karl Diehl, H. 9), Jena (Diss.); span. Übers., Caracas 1980. (1936a)

(1936b)

(1940)

(1944) (1965a) (1965b)

(1971)

Hintergründe der sozialen Entwicklung in Spanien, in: Der Deutsche Volkswirt, 10. Jg., Nr. 32, S. 15391541. Problematik des spanischen Außenhandels, in: Der Deutsche Volkswirt, 10. Jg., Nr. 21, S. 962-965. Industrialization of Young Countries and the Change in the International Division of Labour, in: Social Research, Bd. 7, S. 299-325. Algunos Aspectos del Desarollo monetario en Venezuela, Caracas. Ensayos sobre Economia, Caracas; Repr. 1997. La Sobrevaluaciön del Bolivar y la Integraciön econömia Latino-am6ricano, Caracas. El Sistema monetario Venezolano, Caracas.

Bibliographie: Eßlinger, H.U. (1999): Entwicklungsökonomisches Denken in Großbritannien. Zum Beitrag der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, Marburg.

Hirschman, A.O. (1981): The Rise and Decline of Development Economics, in: ders.: Essays in Trespassing. Economics to Politics and Beyond, Repr., Cambridge 1984, S. 1-24. Llamozas, H.E. (1980): Una Introducciön a la Teoria del Interns, in: Peltzer, E.: El Interns real del Capital y el Interns de los Prfstamos: Estudio de las Relaciones entre la Capital, la Expansiön del Credito, el Interns y el Nivel de los Precimos, Caracas, S. XV-XLVII. von zur Mühlen, P. (1988): Fluchtziel Lateinamerika. Die deutsche Emigration 1933-1945: politische Aktivitäten und soziokulturelle Integration, Bonn. Quellen: BHb Π; SPSL 236/8; Silva, C.R. (1980): El Autor y su Obra en Venzuela, in: E. Peltzer (19322); L. Diaz, Banco Central de Venezuela, persönl. Korrespondenz vom 6.7.1998. Hans Ulrich Eßlinger

Philipp, Perry Fred, geb. 8.10.1913 in Köln Philipp studierte im Jahre 1931 ein Semester Volkswirtschaftslehre an der Universität Frankfurt a.M„ bevor er 1933 nach Palästina und 1938 weiter in die USA emigrierte. Dort studierte er Agrarwissenschaft an der University of California at Davis und graduierte im Jahre 1940 zum Bachelor of Science. In den Jahren 1940 bis 1945 studierte Philipp Agrarökonomie im Rahmen des Graduiertenprogramms an der University of California at Berkeley. Parallel dazu unterrichtete er von 1942 bis 1944 als Assistent im Fach Ökonomische Statistik. Nach Beendigung seines Studiums trat Philipp im Jahre 1945 eine Stelle als Assistent im Fachbereich Volkswirtschaftslehre an der Universität Hawaii an. 1950 kehrte er zurück nach Berkeley, wo er seine Dissertation vollendete und im Januar 1951 den Doktortitel verliehen bekam. Anschließend nahm Philipp seine Assistententätigkeit an der Universität Hawaii wieder auf, wo er im Jahre 1952 zum Associate Professor und 1959 zum Full Professor berufen wurde. Diese Position bekleidete Philipp bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1979. Während seiner wissenschaftlichen Tätigkeit an der Universität Hawaii war Philipp mehrere Jahre Vorsitzender des Fachbereichs Agrarökonomie und betreute zahlreiche wissenschaftliche Forschungsvorhaben.

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Philipp, Perry Fred Schon früh in seiner beruflichen Laufbahn war Philipp in die Einführung und Weiterentwicklung des staatlichen landwirtschaftlichen Nachrichtendienstes für Hawaii involviert, der vor der Anbindung an das Landwirtschaftsministerium der USA zur Universität Hawaii gehörte. In den 1950er Jahren konzentrierte sich Philipp auf die Analyse der Wirtschaftlichkeit der diversifizierenden Landwirtschaft von Hawaii und veröffentlichte im Jahre 1953 das Buch Diversified Agriculture of Hawaii, das eine erweiterte und aktualisierte Version seiner Dissertation darstellt. Daneben hielt Philipp Vorlesungen in Agrarökonomie, Produktionslehre, Farmgestaltung sowie Agrarökonomie der Entwicklungsländer Asiens. Insbesondere die Erforschung von Farmsystemen in Entwicklungsländern nahm in seiner späteren Schaffensperiode wachsenden Raum ein. In den Jahren 1979-81 war er diesbezüglich an Forschungsarbeiten der United States Agency for International Development beteiligt. Im Rahmen dieser Tätigkeit arbeitete Philipp eng mit W.W. Shaner und W.R. Schmehl von der Colorado State University zusammen. Gemeinsam mit diesen Kollegen veröffentlichte er das Werk Farming Systems Research and Development: Guidelines for Developing Countries. Die Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet dienten in erster Linie einer Realisierung der Ausdehnung der Lebensmittelproduktion und der Verbesserung des Lebensstandards der Bauern mit kleineren Bewirtschaftungsflächen in den Entwicklungsländern. Das Buch fand weltweite Beachtung und trug zu einer Neuausrichtung der landwirtschaftlichen Forschung auf nationaler und internationaler Ebene bei. Seit 1982 ist Philipp in leitender Position im Bereich Agrarökonomie am East West Center in Honolulu tätig. Darüber hinaus unterstützt er die Implementierung sowie den Ausbau von Forschung und Lehre seines Fachgebietes in asiatischen Entwicklungsländern. Nach Beendigung seiner aktiven Lehrtätigkeit an der Universität Hawaii arbeitete Philipp im Rahmen von zahlreichen Entwicklungsprogrammen selbst vor Ort, so z.B. unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen als Verantwortlicher für das Marketing der Agrarwirtschaft am thailändischen Landwirtschaftsministerium sowie als Forscher für Tierproduktion in Neuseeland und Neu Guinea. Nicht zuletzt unter-

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nahm er Forschungsreisen in verschiedene Entwicklungsländer, um einen umfassenden Einblick in die Erfordernisse der weiteren landwirtschaftlichen Entwicklung zu gewinnen. Schriften in Auswahl: (1953)

Diversified Agriculture of Hawaii An Economist's View of Its History. Present Status and Future Prospects, Honolulu, University of Hawaii Press.

(1959)

The Economics of Grassland Development and Improvement in New Zealand, in: Journal of Range Management, Bd. 12, Nr. 4, S. 170-175. Australian and New Zealand Meat Exports to the United States With Particular Reference to Hawaii, University of Hawaii Agricultural Experiment Station, University of Hawaii Press.

(1962)

(1967)

Requirements of Success of Village Cooperatives, in: Developing Countries of Asia, Annals of Public and Cooperative Economy, Bd. 6, S. 199210.

(1970)

Establishing Market Information Services in Less Developed Countries A Practical Case in Northeastern Thailand, in: FAO Monthly Bulletin of Agricultural Economics and Statistics, Bd. 19, S. 1-7. Issues of Cooperative Settlement in Developing Countries of Asia - A Case Study of West Pakistan, in: The Journal of Developing Areas. Farming Systems Research and Development. Guidelines for Developing Countries (zus. mit W.W. Shaner und W.R. Schmehl), Boulder, Colorado, Westview Press. Socio-Cultural Effects on the Farming Systems Research and Development Approach (zus. mit K.K. Wilson und W.W. Shaner), in: Agricultural Systems, Bd. 19/20, S. 83-110.

(1972)

(1982)

(1986)

Quelle: Β Hb II. Frank Scott Jr.

Plaut, Theodor Friedrich Stephan Leberecht Plaut, Theodor Friedrich Stephan Leberecht, geb. 14.10.1888 in Leipzig, gest. 14.11.1948 in London Theodor Plaut war der Sohn des Bakteriologen Dr. med. et phil. Hugo Carl Plaut (1858-1928), außerordentlicher Professor an der Universität Hamburg, zuletzt Direktor des Pilzforschungsinstituts im Universitätskrankenhaus Eppendorf, Entdecker der Plaut-Vincentschen Angina. Der väterliche Großvater stammte aus einer bekannten Bankiersfamilie aus Nordhausen i. Thüringen und war Bankier in Leipzig. Der mütterliche Großvater Rudolph Brach war Kaufmann und Reeder in Hamburg. Seit 1920 war Theodor Plaut verheiratet mit Ellen Warburg, einer Tochter des Bankiers Abraham S. Warburg aus dem sog. AlsteruferZweig der bekannten Hamburger Familie. Nach dem Abitur am humanistischen Wilhelmgymnasium in Hamburg (1908) studierte Plaut Nationalökonomie an den Universitäten Freiburg i.Br., Berlin und München. Er wurde 1912 in Freiburg bei Karl Diehl und Gerhart Schulze-Gävernitz zum Doktor der Staatswissenschaften promoviert mit einer Arbeit Der Gewerkschaftskampf der deutschen Aerzte (1913). Von 1912 bis 1914 volontierte er bei Banken in Leipzig, Berlin, Hamburg und London; in London hörte er gleichzeitig zwei Semester lang Vorlesungen an der London School of Economics. Plaut war von schwacher Gesundheit, er war stark kurzsichtig, litt an Asthma und hatte bereits mit 47 Jahren einen Schlaganfall. Bei Kriegsausbruch 1914 wurde er zunächst für untauglich erklärt; 1916 wurde er zum Landsturm eingezogen und in Rußland, Makedonien und im Oberelsaß eingesetzt, bis er Anfang 1918 wegen der Verschlimmerung seines Augenleidens und einer Kniegelenkentzündung entlassen wurde. Während der Hamburger Spartakistenunruhen 1919 gehörte Plaut dem Bahrenfelder Freiwilligenkorps (Einwohnerwehr) an. In den Monaten vor und nach seinem Militärdienst war Plaut wissenschaftlicher Hilfsarbeiter (Assistent) bei Bernhard Harms am Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Universität Kiel (bis August 1918), danach an der Zentralstelle des Hamburgischen Kolonialinstituts (seit 1919: Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv). Im Oktober 1920 wechselte er an das Seminar fur Nationalökonomie der Universität Hamburg. 1922 habilitierte er sich für Nationalökonomie mit einer Arbeit über Entstehung, Wesen und Bedeutung

des Whitleyismus, des englischen Typs der Betriebsräte-, seine Antrittsvorlesung hielt er über Wesen und Bedeutung des Gildensozialismus (1922b). Plaut blieb bis zu seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten 1933 wissenschaftlicher Hilfsarbeiter (Assistent); 1924 wurde ihm vom Hamburger Senat für die Dauer der Zugehörigkeit zur Hamburger Universität die Amtsbezeichnung 'Professor' verliehen. Er las zunächst vorwiegend über Handels-, Gewerbe- und Sozialpolitik sowie über Geld-, Bank- und Börsenwesen; seit 1927 kamen regelmäßige Vorlesungen zur Finanzwissenschaft (im Wechsel mit Terhalle) hinzu. Nachdem Anfang April 1933 der nationalsozialistische Studentenbund die Hamburger Hochschulbehörde aufgefordert hatte, Plaut, Eduard Heimann und andere jüdische Hochschullehrer zu entlassen, wurde Plaut zunächst nahegelegt, die für das Sommersemester angekündigten Vorlesungen nicht zu halten. Wenig später folgten die Entlassung als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, die Entziehung der Lehibefugnis und der Verlust der Amtsbezeichnung „nichtbeamteter ao. Professor" zum 31.7.1933. Plaut emigrierte am 4.7.1933 mit seiner Frau und seinen beiden Kindern zunächst nach Holland und bewarb sich von dort aus bei zahlreichen außerdeutschen Universitäten. Zum 1.10.1933 erhielt er einen 2-Jahres-Vertrag für den neu geschaffenen (zur späteren Besetzung durch Eric Roll vorgesehenen) wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstuhl des Hull University College; die Hälfte seines Jahresgehalts wurde von der jüdischen Gemeinschaft aufgebracht. Seit 1935 war Plaut Fellow des Hull University College. Im Herbst 1935 wurde er Lecturer der Workers' Educational Association in Leeds; das Angebot einer Professur an der Universität in Lima (Peru) schlug er aus. Es gehört zu den Absonderlichkeiten der nationalsozialistischen Bürokratie, daß ihm nach den Akten des deutschen Konsulats in Liverpool am 30.5.1935 das (1934 gestiftete) 'Ehrenkreuz für Frontkämpfer 1914-1918' verliehen wurde. Bis 1937 kam Plaut noch wiederholt zur Regelung von Familienangelegenheiten jeweils für kurze Zeit nach Hamburg. Anfang 1939 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, sein Vermögen wurde beschlagnahmt. In seinen frühen Schriften beschäftigte sich Plaut zeitweilig mit Fragen des Geld- und Bankwesens und der Kriegsfinanzierung, insbesondere mit dem damals vieldiskutierten Schlagwort „Das

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Plaut, Theodor Friedrich Stephan Leberecht Geld bleibt im Lande". Im übrigen aber ist Plauts wissenschaftliches Werk fast ausschließlich zwei anderen Fragenkreisen gewidmet, der Außenhandelspolitik einerseits und der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik mit Schwerpunkt Gewerkschaftswesen und Schlichtungsverfahren andererseits. Dabei gilt seit seiner Praktikantenzeit in London und seit seiner Tätigkeit für den Wirtschaftsdienst, für den er 1919 bis 1922 regelmäßig Berichte zur wirtschaftlichen Lage Englands geschrieben hatte, Plauts besonderes Interesse den Verhältnissen im angelsächsischen Sprachraum, die er auf wiederholten Studienreisen studierte. Nach dem Vorbild von Max Weber, Emst Troeltsch und Gerhart v. Schulze-Gaevemitz untersuchte er namentlich die geistigen Grundlagen der englischen und amerikanischen Sozialpolitik, speziell die Einflüsse des „asketischen Protestantismus" der Puritaner und der Quäker. Plauts Neubearbeitungen der Artikel 'Differentialzölle', 'Durchfuhrzölle' und 'Einfuhrverbote' im Handwörterbuch der Staatswissenschaften dagegen setzen die institutionell-historische Ausrichtung des früheren Bearbeiters Lexis fort, und auch sein in zwei Auflagen 1924/ 1929 erschienenes Lehrbuch Deutsche Handelspolitik ist in erster Linie eine faktenreiche, historisch weit ausholende Darstellung der Etappen der deutschen Binnenhandels- und (vor allem) Außenhandelspolitik.

(1922b)

Wesen und Bedeutung des Gildensozialismus, Jena.

(1924)

Deutsche Handelspolitik. Ihre Geschichte, Ziele und Mittel, Leipzig/ Berlin; 2. Aufl. Leipzig/Berlin 1929.

(1925)

Probleme englischer Handelspolitik, in: Eulenburg, F. (Hrsg.): Neue Grundlagen der Handelspolitik, 2. Teil: Ausland (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 171), München/Leipzig. S. 69-121.

(1926)

Artikel „Differentialzölle", „Durchfuhrzölle und Durchfuhrverbote" und „Einfuhrverbote" in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 3, 4. Aufl., Jena, S. 241-246, 309-315 u. 355-366.

(1929)

Zwischenstaatliche Kapitalbewegungen und Besteuerung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 87, S. 449-461.

(1930)

Die geistigen Grundlagen der englischen Sozialpolitik, in: Kölner Sozialpolitische Vierteljahresschrift, Bd. 9, S. 87-112.

(1932a)

Das Schlichtungswesen in England, in: Bonn, M. J. (Hrsg.): Untersuchungen über das Schlichtungswesen, 2. Teil: Das Schlichtungswesen des Auslandes (= Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 179, Teil 2), München/Leipzig. S. 1-54.

(1932b)

Die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und die verschiedenen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung (= Sozialpolitische Schriften des Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften, Köln, Heft 1), 2. Aufl., Köln [erweiterte Fassung seines Aufsatzes in der Kölner Sozialpolitischen Vierteljahresschrift 10 (1931)].

(1937)

Industrial Relations in the Modern State. An Introductory Survey (zus. mit R.K. Kelsall), London.

Schriften in Auswahl: (1913)

Der Gewerkschaftskampf der deutschen Aerzte (= Volkswirtschaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen, N.F., Heft 14), Karlsruhe (Diss.).

(1915)

Der Einfluß des Krieges auf den Londoner Geldmarkt (= Kriegswirtschaftliche Untersuchungen aus dem Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Universität Kiel, Heft 1), Jena.

(1918)

Kriegsfinanzen und Geldtheorie. Ein Beitrag zur Beurteilung der Freizügigkeit des Geldes, in: Finanz-Archiv, Bd. 35, S. 527-632.

(1922a)

Entstehung, Wesen und Bedeutung des Whitleyismus, des englischen Typs der Betriebsräte, Jena.

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Polanyi, Karl Quellen: Staatsarchiv Hamburg: Hochschulwesen. Dozenten- und Personalakten IV/791 (Plaut, Theodor) u. IV 1415 (Personalakte Plaut, Oberschulbehörde, Sektion der wissenschaftlichen Anstalten); Vorlesungsverzeichnisse Universität Hamburg 1919 ff.; Kürschners Gelehrtenkalender 1924, 1931; HLdWiWi 1929; Chemow, R. (1994): Die Warburgs. Odyssee einer Familie, Berlin; Liebeschütz, R. [geb. Plaut]: My Memories of the Time when Hitler was Dictator of Germany. maschinenschriftliches Manuskript o_J.; Schwarz, W. (1958): A Jewish Banker in the Nineteenth Century [Moritz Plaut], in: Leo Baeck Institute of Jews from Germany, Year Book 3, S. 300 ff. Christian Scheer

Polanyi (Pottnyi), Karl, geb. 25.10.1886 in Wien, gest. 23.4.1964 in Pickering/Kanada Polanyi begann in Budapest Rechtswissenschaften zu saldieren, sah sich jedoch als Mitglied des freidenkerischen „Galilei-Kreises" wegen schwerer Auseinandersetzungen mit nationalistischen Studentengruppen von der Universität verwiesen. Er promovierte daraufhin in Klausenburg 1909 zum Dr. jur. und wurde Rechtsanwalt Im Ersten Weltkrieg diente er als Kavallerieoffizier, bis er schwer verwundet aus dem Militärdienst entlassen wurde. Schon voiher hatte er zusammen mit dem Grafen Michael Kirolyi in Ungarn eine „Radikale Partei" gegründet, deren Zeitung er jahrelang leitete. Der Organisation blieb der politische Erfolg versagt, nicht zuletzt wegen ihrer multikultuiellen Offenheit gegenüber den Minderheiten im Lande, deren Zahl zusammengenommen die der Magyaren Uberstieg, was Ängste hervorrief. Während Kärolyi ins Exil ging, zog der fünfundzwanzigjährige Polanyi als populärer Redner in das donauländische Parlament ein. Erst als der Krieg auch für Ungarn im Herbst 1918 mit dem Zerfall der Donaumonarchie endete, wurde Kärolyi nach Budapest zurückgeholt. Als erster Ministerpräsident der jungen Republik Ungarn berief er seinen Mitstreiter aus früheren Tagen ins Kabinett. Die neue Regierung war indessen nicht imstande, das Nachkriegschaos im Karpatenbecken in den Griff zu bekommen. Im März 1919 wurde sie durch die Kommunisten unter Böla Kun gestürzt. Polanyi flüchtete nach Wien, wo er sich zuerst als Redak-

teur, dann als Mitherausgeber des angesehenen Österreichischen Volkswirt in den 1920er Jahren sowie als politischer Leitartikler auch international einen Namen machte. Als Mitglied der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs" (SDAP) wurde er 1933 jedoch entlassen, da sich das Politikklima in Österreich verschlechterte. So endete auch Polanyis journalistische Karriere, obschon er sich weitertiin publizistisch durchbringen mußte. Der Rechtsentwicklung in Wien wich Polanyi 1933 nach England aus, wo er sich mit Vorträgen (Workers' Educational Association) und Artikeln mühsam über Wasser hielt. Zugleich begann er hier mit umfassenderen wissenschaftlichen Analysen, in die seine bisherigen Erfahrungen und Fragestellungen einflossen. Vor allem interessierten ihn die wirtschafts- und somit die sozialhistorischen Beweggründe für den damals vor allem außenpolitisch so beängstigenden Tatbestand, dafi die Marktdynamik das neuzeitliche Freiheitsveiständnis in schwere Bedrängnis brachte. Wie war dieses politische Versagen des Fabriksystems zu erklären? Oder anders gefragt, wie ließ sich eine für die Menschen erträgliche und damit einigermaßen stabile Wirtschafts- und Lebenswelt ausbalancieren? Polanyi wanderte 1940 in die USA weiter. Zu Beginn des Jahres 1941 konnte ihm -+ Peter Drucker am Bennington College in Vermont eine Stellung vermitteln. Hier fand er die nötige Muße, um den Widerspruch von Produktivität und sozialer Kohäsion im Rahmen einer höchst unorthodoxen Lesart der Industriellen Revolution theoretisch zu bearbeiten. Seine breitangelegte Modemi tätskritik (1944) erregte so viel Aufsehen, daß der Sechzigjährige 1947 von der Columbia University aufgefordert wurde, als Gastprofessor Allgemeine Wirtschaftsgeschichte zu lehren. Dort in New York unterrichtete Polanyi seit Ende der vierziger Jahre bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1953, wobei seine Infragestellung der universellen Geltung markttheoretischer Wirtschaftsbegriffe - jedenfalls im angelsächsischen Raum - die Diskussion in so unterschiedlichen Wissensfeldern wie Ökonomiegeschichte, Anthropologie und Soziologie nachhaltig beeinfluBte. Mehr und mehr faszinierten Polanyi nun die Wirtschaftsstnikturen vormodemer Kulturen. Immer noch war er Vergesellungsformen auf der Spur, in denen die menschlichen Beziehungen nicht - oder noch nicht - dem Selbstlauf der Marktkräfte überantwortet waren. In die-

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Polanyi, Karl sem Forschungszusammenhang gewannen auch seine Studien auf dem Gebiet der Kulturethnologie (1957) erhebliche Beachtung. Polanyi war freilich „ein zutiefst enttäuschter Mensch" (Drucker), denn er fand auch in der Vorgeschichte nirgends so etwas wie eine 'menschenfreundliche' Nicht-Markt-Gesellschaft. Seine Suche nach wenigstens historischen Alternativen zu der vom Wirtschaftsliberalismus der Gegenwart unterstellten Nutzenanthropologie blieb vergeblich. Jene von Polanyi unterstellte Wechselseitigkeit von Ökonomie und Gesellschaft, die sowohl Wirtschaftswachstum und Stabilität als auch Freiheit und Gleichheit garantieren sollte, ließ sich jedenfalls empirisch nicht belegen. Ihn verbitterte überdies, daB bei aller Resonanz seiner Forschungsergebnisse vor allem seine sozialhistorisch begründeten Bedenken gegen das wirtschaftstheoretische Konzept einer per se vom Markt vermittelten 'spontanen Ordnung' ignoriert wurden. Demgegenüber redete das öffentliche Meinungsklima einer Deregulierungspolitik das Wort, wie sie später als „survivor principle" (Stigler) des Wirtschaftens auch politisch auf den Begriff gebracht wurde. Seit seinen Wiener Tagen bewegte Polanyi zudem die Frage nach der Leistung beziehungsweise dem Versagen des modernen Staates als Regelungszentrum der Gesellschaft im Krisenfall. Auch in einer auf dem Eigennutz beruhenden Wirtschaftsmoderne war es angeraten, daß „ M a c h t Vorrang vor Profit hat" (Polanyi). Handelt es sich doch wie zu allen Zeiten um die Geltungssicherung normativer Absprachen in der jeweiligen Kulturepoche. Polanyi erweist sich bei der Nachzeichnung dieser Zuständigkeit der öffentlichen Hand keineswegs als ein Romantiker der guten alten Zeit; dennoch redet er mit Blick auf die unabsehbaren Rückwirkungen der vielen Wellen des Wirtschaftswandels einer defensiven Sozialregulation das Wort, ohne freilich einen „vormundschaftlichen Staat" (Eduard Gans) zu befürworten. Polanyis Hauptwerk Uber die politischen und ökonomischen Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, The Great Transfonnation, (1944), setzte sich wissenschaftspolitisch zwischen alle Stühle. Der Linken war Polanyi nicht genehm, weil er von einer selbstverständlichen, wenngleich sozialverpflichteten Autonomie der Wirtschaftssubjekte ausging. Auf Marktdogmatiker wirkte er hingegen wie ein Sozialist, weil er zeitlebens an der Wohlfahrtsidee als Staatszweck

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festhielt. Polanyi zeichnete die Ordnungsleistung der traditionalen Gesellschaftskräfte nach, die mit Hilfe staatlicher Maßnahmen die kapitalistische Selbstrevolutionierung Europas kanalisiert hatten. Er verbuchte etwa die sozialpolitische Frühintervention der Königshöfe als Selbstschutz der Gesellschaft gegen die neuen Wirtschaftszwänge, die allen sozialen Zusammenhalt zu sprengen drohten. Laut Polanyi bestand das gedankliche wie praktische Hauptproblem seiner Epoche nicht zuletzt darin, die „institutionelle Trennung von Politik und Wirtschaft" rückgängig zu machen. Diese Spaltung, die mit der Frühindustrialisierung einsetzte, nachdem der Absolutismus schon vorher Staat und Gesellschaft einander entfremdete, habe sich mittlerweile als „tödliche Gefahr fur die Substanz der Gesellschaft erwiesen" (Polanyi), weil nicht nur die sozialen Ordnungskräfte schwänden, sondern zugleich die gesellschaftspolitischen Steuerungsinstnimente für kommende Krisenzeiten in Mitleidenschaft gezogen würden. Schriften in Auswahl: (1922) Sozialistische Rechnungslegung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 49/2, S. 377 ff. (1936) The Essence of Fascism, in: J. Lewis (Hrsg.): Christianity and the Social Revolution, New York, S. 359 ff. (1937) Europe Today, London. (1944) The Great Transformation, Boston u.a. (dt. Übers. Frankfurt/M. 1978). (1957) Trade and Market in the Early Empires. Economies in History and Theory (hrsg, zus. mit C. Μ. Arensberg und Η. W. Pearson), Glencoe/Illinois. (1963) The Plough and the Pen (zus. mit I. D. Polanyi), London/Toronto. (1966) Dahomey and the Slave Trade. An Analysis of an Archaic Economy (zus. mit Α. Rotstein), Seattle/London. (1967) Tribal and Peasant Economies: Readings in Economic Anthropology (hrsg. von G. Dalton), New York. (1968) Primitive, Archaic and Modem Economies: Essays (hrsg. von G. Dalton), Garden City, Ν. Y. (1977) The Livelihood of Man, New York u.a.

Pollard, Sidney (1979)

Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt/M.

Bibliographie: Polanyi-Levitt, K./Mendell, M. (1987): Karl Polanyi: His Life and Times, in: Studies in Political Economy, Bd. 22, S. 7-39. Quellen: Β Hb II; SPSL 536/ 1; Dnicker, P: Zaungast der Zeit. Ungewöhnliche Erinnerungen an das 20. Jahrhundert, Düsseldorf/Wien 1979, S. 97 ff.; Stadler I. Sven Papcke

Pollard, Sidney, geb. 21.4.1925 in Wien, gest. 22.11.1998 in Sheffield Siegmund Pollak wurde als Sohn des Handelsreisenden Moses Pollak und seiner Frau Leontine geboren. Mit dem Anschluß Österreichs an NaziDeutschland 1938 verstärkte sich der antisemitische Druck in Wien. Pollaks Eltern gelang es, ihren Sohn mit einer Gruppe anderer jüdischer Kinder nach Großbritannien in Sicherheit bringen zu lassen. Unter schwierigen Umständen vollzog sich die Weiterbildung Pollaks. 1943 hatte er es soweit gebracht, daß ihm ein Studienplatz an der London School of Economics angeboten wurde. Zu diesem Zeitpunkt jedoch meldete er sich jetzt als Brite Sidney Pollard - freiwillig zur britischen Armee. Erst 1947 kehrte er nach Großbritannien zurück und nahm jenen Studienplatz wahr. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und promovierte bei T.S. Ashton mit einer Arbeit über die Geschichte des britischen Schiffbaus zwischen 1870-1914 (1950,1979). 1952 kam er zur Universität von Sheffield in Nordengland, wo er zunächst als Forschungsassistent arbeitete. 1955 wurde er Lecturer, 1963 übernahm er eine dort eingerichtete Professur für Wirtschaftsgeschichte. 1980 nahm er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bielefeld an. Nach seiner Emeritierung 1990 kehrte Pollard wieder nach Sheffield zurück. Das wissenschaftliche Werk von Sidney Pollard ist nahezu unübersehbar. Es ist zudem thematisch so breit gefächert, daß es sich nicht leicht charakterisieren läßt. Einen wichtigen Schwerpunkt kann man grob umschreiben mit dem Titel 'Geschichte der Arbeiterbewegung'. Dazu zählt bereits das 1959 veröffentlichte Buch A History of Labour in Sheffield. 1850-1939, das nicht nur ei-

nen langen Zeitraum - und somit mehrere wichtige Etappen der Arbeiterbewegung - umfaßte, sondern auch vermochte, die Lebensverhältnisse und den breiteren Kontext der Arbeitenden gleichsam als frühen Beitrag zur 'Alltagsgeschichte' in den Blick zu bringen. Es versteht sich, daß aus diesem Projekt viele weitere Früchte zur Geschichte der Arbeiterbewegung abfielen, wie z.B. Aufsätze zu Arbeitskonflikten ('The Sheffield Outrages') u.ä. Im Rahmen der Behandlung breiterer Themen kam Pollard immer wieder auf die Arbeiterfrage und Arbeitsverhältnisse zu sprechen, z.B. in seinem Überblick zur Wirtschaftsgeschichte Britanniens im 20. Jahrhundert oder als Teil der Entwicklungsgeschichte des modernen Industriemanagements. Damit ist ein zweites Arbeitsfeld Pollards angesprochen, das er in seinem Buch Genesis of Modem Management (1965) behandelte: die Herkunft und Ausbildung der frühen Industrieunternehmen und ihrer Manager, die Probleme der Organisation und Finanzierung sowie die Rekrutierung und Disziplinierung ihrer Arbeitnehmer. Gerade zum letztgenannten Thema - die Fabrikdisziplinierung während der industriellen Revolution hat Pollard einen der Klassiker der modernen Wirtschaftsgeschichtsschreibung vorgelegt (1962). Durch die Brille des Arbeitgebers gesehen gewinnt die Frage der Arbeitsbeziehungen neue Konturen, die einen Zusammenhang zwischen sozial- und wirtschaftshistorischen Problemen besser herstellen lassen, ohne daß die Härte der damaligen Arbeitsverhältnisse bagatellisiert wird. Ein weiteres langjähriges Arbeitsgebiet Pollards stellt die Erforschung der Kapitalbildung der britischen Wirtschaft dar. Hier ging es um quantitative Schätzungen, die zum größten Teil aus Primärquellen mühsam herausgearbeitet werden mußten - zunächst auf sektoraler Ebene und vorwiegend für die Zeit der Frühindustrialisierung im 18. Jahrhundert. Neben einer Anzahl von besser begründeten Schätzungen des Kapitalstocks als sie bis dahin vorlagen entstand aus diesem Projekt ein weiterer 'Klassiker' zur Geschichte der industriellen Revolution - der Beitrag zur Rolle des Fixkapitals in der industriellen Revolution (1964). Hiermit war zum ersten Mal in der Diskussion der britischen industriellen Revolution ein relativ gut belegter Versuch vorgelegt worden, die häufig vertretene These eines Investitions- und Finanzierungsengpasses als limitierendem Faktor der britischen Industrialisierung in Frage zu stellen. Der

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Pollard, Sidney Beitrag hat die weitere Diskussion deutlich geprägt. Bevor Pollard den Sitz seiner Lehr- und Forschungstätigkeit nach Deutschland verlegte, hatte er bereits begonnen, sich einem neuen Paradigma der Wirtschaftsgeschichte zu widmen: dem regionalen Muster der europäischen Industrialisierung. Entgegen der von Wissenschaftlern wie Simon Kuznets, Walt W. Rostow oder -» Alexander Gerschenkron praktizierten Konzentration auf den internationalen Vergleich von Ländern bzw. nationalen Volkswirtschaften empfahl Pollard die Beschäftigung mit Regionen: Nicht Länder hätten sich industrialisiert (und deindustrialisieit), sondern Regionen; und Regionen im wirtschaftlichen Sinne wären sehr häufig nicht auf einzelne Länder beschränkt, sondern länderübergreifend. Die europäische Industrialisierung - so Pollard - sei am besten als Ergebnis einer Vielzahl von regionalen Industrialisierungen zu analysieren, wobei sowohl Aufstiegs- als auch Abstiegsprozesse in den Blick zu nehmen seien. In einer Reihe von Aufsätzen und schließlich in seinem Buch Peaceful Conquest: the Industrialisation of Europe, 1760-1970 (1981) hat Pollard diesen Prozeß der internationalen Diffusion neuer Industrietechnologien als interregionalen Prozeß geschildert. Weil der Nationalstaat im Laufe des 19. Jahrhunderts als Wirtschaftsfaktor an Bedeutung gewann - sei es, um ökonomische Interessen zu schützen oder zu fordern, sei es, um den sozialen Frieden zu sichern - , mußte auch der Staat mit in die Analyse einbezogen werden, aber nicht als positiv gestaltende Kraft. Ein letztes hier erwähnenswertes Themenfeld umfaßt die Frage des Niederganges der britischen Wirtschaft im 20. Jahrhundert - eines der großen Themen der britischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung überhaupt. In einem recht polemisch gehaltenen Essay The Wasting of the British Economy (1982) schreibt Pollard einer fehlerhaften Wirtschaftspolitik des Staates die Hauptverantwortung fur das relative Zurückfallen der britischen Wirtschaft zu. Ansätze hierzu sieht er in früheren Perioden - z.B. die 1925 beschlossene Rückkehr zur Vorkriegsparität zwischen Pfund und Dollar - , aber seine gründliche Prüfung der viktorianisch-edwardianischen Zeit von 1870 bis 1914 führte ihn zu dem Schluß, daß die damals erreichten volkswirtschaftlichen Ergebnisse viel näher an dem durch verfügbare Ressourcen gegebenen Potential lagen als nach 1945. Somit werden

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die wirtschaftlichen und politischen Akteure der Nachkriegszeit aus ihrer Verantwortung für die negative Bilanz nicht entlassen. Das wissenschaftliche Werk Sidney Pollards spannt einen weiten Bogen von den Anfängen der Industrialisierung bis zur Gegenwart. Was an dieser Stelle nicht vermittelt werden kann, ist der positive, anregende Einfluß, der von Pollard auf seine Schüler und Kollegen in Seminaren, Konferenzen und persönlichen Gesprächen aufgrund der Breite seines Wissens und der Originalität seiner Denkweise ausging. Schriften in Auswahl: (1950) The Economic History of British Shipbuilding, 1870-1914, Diss., University of London. (1959) A History of Labour in Sheffield, 1850-1939, Liverpool. (1962) Factory Discipline in the Industrial Revolution, in: Economic History Review, Bd. 16, S. 254-271. (1964) Fixed Capital in the Industrial Revolution in Britain, in: Journal of Economic History, Bd. 24, S. 299-314. (1965) The Genesis of Modem Management. A Study of the Industrial Revolution in Britain, London. (1973) Industrialization and the European Economy, in: Economic History Review, Bd. 26, S. 636-648. (1979) The British Shipbuilding Industry, 1870-1914 (zus. mit P. Robertson), Cambridge/Mass. (erw. Ausg. d. Diss, von 1950). (1980) Region und Industrialisierung. Studien zur Rolle der Region in der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte (als Hrsg.), Göttingen (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 42). (1981) Peaceful Conquest: the Industrialization of Europe, 1760-1970, Oxford. (1982) The Wasting of the British Economy. British Economic Policy 1945 to the Present, London/Canberra. (1989) Britain's Prime and Britain's Decline, London. Bibliographie: Holmes, C./Booth, A. (1991): Sidney Pollard. His Life and Work, in: dies. (Hrsg.): Economy and Society. European Industrialization and its Social

Pollock, Friedrich Consequences. Essays Presented to Sidney Pollard, Leicester, S. IX-XXVII. Richard H. Tilly

Pollock, Friedrich, geb. 22. Mai 1894 in Freiburg, gest. 16.12.1970 in Montagnola (Schweiz) Pollock wurde als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren, dessen Unternehmen er einmal übernehmen sollte - ganz ähnlich, wie das für Max Horkheimer (geb. 1893) galt, den Pollock mit 17 Jahren kennenlernte und mit dem ihn dann eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Nach einem gemeinsam verbrachten Auslandsaufenthalt während der letzten eineinhalb Kriegsjahre holten beide zusammen in München ihr Abitur nach und nahmen dort 1919 ihr Studium auf Pollock das der Nationalökonomie. Schon nach einem Semester wechselte er - wiederum gemeinsam mit Horkheimer - an die 1914 neu gegründete Universität Frankfurt am Main und promovierte dort 1923 mit einer Arbeit über die Marxsche Geldtheorie (der 1928 im Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung erschienene Aufsatz Zur Marxschen Geldtheorie basiert darauf, setzt sich aber vor allem kritisch mit einer zwischenzeitlich erschienenen Arbeit über die Marxsche Geldtheorie auseinander). Wie viele Intellektuelle seiner Zeit verfolgte Pollock mit großem Interesse die Versuche in der Sowjetunion, eine Planwirtschaft zu etablieren. Als Ergebnis einer Reise in die Sowjetunion entstand die Schrift Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917-1927, mit der er sich 1928 bei -> Grünberg habilitierte und die 1929 als zweiter Band der Schriften des Instituts für Sozialforschung erschien. Eine für Pollock entscheidende Entwicklung war schon vorher eingetreten. Felix Weil, Sohn eines Millionärs, hatte der Universität Frankfurt seinen Plan zur Gründung eines von der Universität unabhängigen, aber dieser angegliederten Instituts unterbreitet, zu dessen Finanzierung er seinen Vater „überredet" hatte, wie es Horkheimer später ausdrückte. Pollock und Horkheiiner standen in engem Kontakt mit Weil, kamen 1923, als die Genehmigung zur Errichtung des Instituts für Sozialforschung erteilt wurde, als gerade erst Promovierte für dessen Leitung allerdings (noch) nicht

in Frage. Immerhin wurde Pollock die kommissarische Leitung übertragen bis schließlich mit Carl Grimberg der erste Direktor gefunden war und 1924 die formelle Eröffnung stattfand. Pollock wurde, wie auch -» Henryk Grossmann, Assistent von Grünberg. Nach einem Schlaganfall im Jahr 1928 konnte Grünberg sein Amt als Direktor des Instituts nicht mehr wahrnehmen. Wiederum war es Pollock, dem die kommissarische Leitung übertragen wurde. Zum neuen Direktor wurde 1930 dann aber nicht er, sondern sein Freund Horkheimer berufen. Dieser war 1925 zum Privatdozenten an der Universität Frankfurt ernannt worden und erst kurz vor seiner Ernennung Inhaber eines Lehrstuhls für Sozialphilosophie geworden - gestiftet von der Gesellschaft für Sozialforschung, die damit offensichtlich bewirken wollte, den ihrerseits gewünschten Direktor berufen zu können. Pollock scheint diese Entwicklung ohne Groll akzeptiert zu haben. Als Generalbevollmächtigter Weils war es sogar er, der für die Gesellschaft für Sozialforschung den - für Horkheimer äußerst günstigen - Vertrag unterzeichnete. Festgeschrieben war damit aber auch die Rolle, die Pollock im Institut zukünftig zufiel, nämlich die des Verwalters und Organisators, der seine eigene wissenschaftliche Arbeit angesichts der damit verbundenen Tätigkeiten oft zurückzustellen hatte. Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 machte eine Fortsetzung der Arbeit in Frankfurt unmöglich, Pollock und Horkheimer gingen in die Schweiz. Die schon zuvor gegründete Zweigstelle in Genf wurde nun vorübergehend zum Hauptsitz des Instituts, die 1932 erstmals erschienene Zeitschrift für Sozialforschung - sie hatte das letztmals 1930 herausgegebene Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung ersetzt - wurde mit ihrer zweiten Nummer in Paris herausgebracht (später in New York). Mit der in der ganzen Zeit des Exils beibehaltenen Praxis, die Beiträge weitgehend in deutscher Sprache zu veröffentlichen, sollte der Anspruch dokumentiert werden, daß das kulturelle Erbe nun von denen verwaltet werden mußte, die von der nationalsozialistischen Diktatur vertrieben worden waren. 1934 übersiedelten Pollock und Horkheimer in die USA. Die noch immer bestehende Stiftung ihr Vermögen war z.T. rechtzeitig ins Ausland verlagert worden - trug dazu bei, daß die Columbia Universität in New York sich zu einer ähnli-

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Pollock, Friedrich chen Konstruktion bereit fand, wie sie schon in Frankfurt bestanden hatte. Die Arbeit des Instituts konnte fortgesetzt werden, wobei neben Horkheimer und Pollock, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal und - etwas später dazu stoßend Theodor W. Adorno den 'inneren Kreis' bildeten. Zu denjenigen, die zumindest zeitweise dem Institut verbunden waren, gehörten u.a. Franz Neumann, Otto Kirchheimer, -» Karl A. Wittfogel, Walter Benjamin und -> Kurt Mandelbaum. Pollocks Rolle während der amerikanischen Emigration war im wesentlichen eine wissenschaftspolitische. Zusammen mit Horkheimer ermöglichte er hochbegabten, aber durch die Emigration einer gesicherten Existenz beraubten Wissenschaftlern, wissenschaftlich zu arbeiten. Herrschaftsfrei waren die Verhältnisse dabei aber gewiß nicht. Horkheimer und Pollock hatten darüber zu entscheiden, wer zu welchen Konditionen und für welche Zeit mit dem Institut verbunden sein sollte. Da zumindest in den ersten Jahren für Emigranten mit entsprechender wissenschaftstheoretischer Orientierung kaum Alternativen bestanden, gab die privilegierte Arbeitgeberposition von Horkheimer und Pollock Anlaß für mancherlei Konflikte. An den Arbeiten des Instituts, die die große Reputation der Kritischen Theorie begründeten und die in den sechziger Jahren für die Studentenbewegung von so großer Bedeutung werden sollten, war Pollock kaum beteiligt. Die Studien über Autorität und Familie, basierend auf empirischen Erhebungen, die noch in Genf durchgeführt wurden, enthalten keinen Beitrag von ihm - die drei zentralen Beiträge (Theoretische Entwürfe) stammen von Horkheimer, Marcuse und Fromm. An The Authoritarian Personality war vom Institut Adorno beteiligt, und die Dialektik der Aufklärung ist das Werk von Horkheimer und Adomo (die sich dafür zeitweilig nach Kalifornien zurückzogen). Von Pollock selbst sind während seines Exils nur die Aufsätze State Capitalism. Its Possibilities and Limitations und Is National Socialism a New Order? veröffentlicht worden, die beide 1941 erschienen. 1950 kehrten Adorno, Horkheimer und Pollock nach Frankfurt zurück. Das Institut fiir Sozialforschung wurde unter zunächst provisorischen Bedingungen neu gegründet und noch im gleichen Jahre wurde Horkheimer zum Dekan der Philosophischen Fakultät gewählt, 1951 wurde er Rektor der Universität. Pollock erhielt 1951 eine außer-

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planmäßige. 1958 schließlich eine ordentliche Professur. Zuvor war „bearbeitet von Friedrich Pollock" Gruppenexperiment erschienen, eine Gemeinschaftsarbeit des Instituts, in der die politische Einstellung der Deutschen untersucht wurde. Es folgte die Arbeit, die seine bekannteste werden sollte: die 1956 erschienene (und 1964 in überarbeiteter Form wieder herausgegebene) Studie Automation. Materialien zur Beurteilung ihrer ökonomischen und sozialen Folgen. Am 16. Dezember 1970 starb Pollock in Montagnola (Tessin). Er wohnte dort seit 1958 Haus an Haus mit Horkheimer. Pollocks wissenschaftliche Interessen können ohne allzugroße Willkür chronologisch dargestellt werden: Den Anfang bildet die Befassung mit der Marxschen Theorie, vor allem mit dessen Geldtheorie, es folgt die Darstellung der planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion, dann die Analyse des Kapitalismus in den dreißiger und vierziger Jahren, insbesondere unter dem Aspekt, welche Rolle planwirtschaftliche Elemente im Kapitalismus spielen. Den Abschluß und gleichzeitig den Höhepunkt stellt dann Pollocks Beschäftigung mit der Automation dar. Die für die erste Phase kennzeichnenden Arbeiten sind, neben der Dissertation, Sombarts 'Widerlegung' des Marxismus (1926) und Zur Marxschen Geldtheorie (1928). In der ersteren setzt er sich kritisch mit Sombarts Der proletarische Sozialismus auseinander, in letzterer wird die Funktion des Geldes als „allgemeines Äquivalent" herausgestellt, die die besondere Stellung des Geldbesitzers gegenüber dem Warenbesitzer begründet: „in seinen Händen ist die 'allgemeine Ware', um deren Besitz jeder Eigentümer einer 'besonderen' Ware sich abmüht" (1928, S. 201). Er betont die für Marx zentrale Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung und wirft Herbert Block, dem Verfasser eines 1926 erschienenen Buches über die Marxsche Geldtheorie, Blindheit gegenüber dieser Unterscheidung vor - die von letzterem bei Marx vermuteten zwei Betrachtungsweisen des Geldes - eine sozialphilosophische und eine wirtschaftstheoretische - gibt es nach seiner Auffassung nicht, nur das Übersehen der für die Marxsche Theorie so wichtigen Unterscheidung kann zu einer solchen Vorstellung führen. Die noch recht Marx-philologische Vorgehensweise dieser Arbeit spielte dann in allen künftigen Arbeiten Pollocks keine Rolle mehr. Das macht bereits die 1929 erschienene Studie Die planwirt-

Pollock, Friedrich .schaftlichen Versuche in der Sowjetunion 19171927 deutlich. Im Vorwort heißt es: „Dieses Buch berichtet über Geschichte, Methoden und Resultate der planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion während der Jahre 1917-27; eine spätere Arbeit soll das Material theoretisch auswerten" (1929, S.V). Zu dieser theoretischen Auswertung ist es nie gekommen. Dennoch kann die Untersuchung Interesse beanspruchen. Zum einen ist sie neben Dobbs 1928 erschienenem Buch Russian Economic Development Since the Revolution die einzig nennenswerte Arbeit, die in dieser Zeit außerhalb der Sowjetunion über deren ökonomische Entwicklung erschienen ist, wobei sich Pollock allerdings ausschließlich auf die mit der Planung verbundenen Probleme konzentrierte. Zum anderen versuchte er nun das einzulösen, was er gegen Sombarts phänomenologische Wesensschau vorgebracht hatte: die Forderung nach empirischer Untersuchung. Dies erschien ihm offenkundig als der erste notwendige Schritt, um einer Position entgegenzutreten, die die systematische Ineffizienz, wenn nicht Unmöglichkeit einer Planwirtschaft zu begründen versuchte, wie sie insbesondere Ludwig von Mises vertrat. Mit einer systematischen Ausweitung der durch die Sowjetunion vorliegenden Evidenz sollte offenbar eine empirisch fundierte Auseinandersetzung mit dieser Position erfolgen. Da der notwendige zweite Schritt - die angekündigte theoretische Auswertung - unterblieb, wurde von Pollock keine überzeugende Gegenposition entwickelt - dies ist dann durch andere, insbesondere von Oscar Lange, geleistet worden. Im übrigen war Pollocks Einschätzung der sowjetischen Planung ambivalent. Ihm war klar, daß sein Untersuchungsgegenstand nicht den reinen Typus einer Planwirtschaft darstellte, man es vielmehr mit einer Übergangsgesellschaft zu tun hatte, deren spezifische Erscheinungsformen kaum geeignet waren, allgemeine Gesetzlichkeiten einer Planwirtschaft zu erkunden. Auch die Besonderheiten, die sich daraus ergaben, daß der von der Marxschen Theorie nicht vorgesehene Fall einer Revolution in einem nicht kapitalistisch entwickelten Land eingetreten war, wurden von ihm recht klar gesehen. Im Resümee ist es dann aber doch der kapitalismuskritische und seine Hoffnungen damit auf das als höchst unvollkommen erkannte Projekt setzende Marxist, der sich durchsetzt: „An die Stelle des Seifinterests als Triebfeder allen wirtschaftlichen Handelns sind

bei einer allem Anschein nach ziemlich großen Minorität die Motive des für seine Überzeugung kämpfenden Soldaten getreten. Nicht wenige unter den oberen Funktionären verdienen wohl den Titel, den ein alter zaristischer Gelehrter einem der leitenden Männer des OVWR (Oberster Volkswirtschaftsrats, P.K.) als Widmung in ein Buch geschrieben hat : 'Helden und Märtyrer der Planwirtschaft'" (1929, S. 382). Es ist offenkundig, daß Pollock mit solchen Aussagen den Vertretern eines liberalen Projekts die Gegenargumente an die Hand liefert: Sie können darauf verweisen, daß eine Wirtschaftsordnung nur dann Bestand haben kann, wenn sie nicht die Existenz oder Herausbildung von Helden und Märtyrern voraussetzen muß. Die aus der Beschäftigung mit der sowjetischen Planung gewonnenen Einschätzungen flössen auch in den Aufsatz Sozialismus und Landwirtschaft (1932) ein. Pollock vertritt darin den orthodox marxistischen Standpunkt, daß der kleinbäuerliche Besitz mit einer sozialistischen Gesellschaft unverträglich ist Interessanter als diese Position ist, was zu den technischen und organisatorischen Veränderungen ausgesagt wird, die sich im Agrarsektor immer stärker bemerkbar gemacht haben. Die eingetretenen Produktivitätssteigerungen widerlegen Pollock zufolge die traditionellen Vorstellungen von der tendenziellen Verknappung des Nahrungsmittelspielraums. Wenngleich ihm die festgestellten Tendenzen vor allem zur Begründung des Arguments dienen, daß allein schon aus technischen Gründen eine Tendenz zum landwirtschaftlichen Großbetrieb besteht, kommt hier erstmals Pollocks Interesse am technologischen Wandel zum Ausdruck. Den dritten Bereich von Pollocks Arbeiten bilden die vier Aufsätze, die in dem 1975 von Dubiel herausgegebenen Band Stadien des Kapitalismus enthalten und ursprünglich zwischen 1932 und 1941 erschienen sind. Ihre Themen sind: Wirtschaftskrise, Veränderung des Kapitalismus, insbesondere Möglichkeiten und Grenzen der Planung im Kapitalismus, Nationalsozialismus. Die Weltwirtschaftskrise wird darin zwar als klassische ökonomische Krise dargestellt, verschärft allerdings zum einen durch besondere historische Bedingungen, vor allem aber auch durch die strukturellen Veränderungen, die im Kapitalismus eingetreten sind. Wie auch bei anderen Ökonomen seiner Generation wird von Pollock die qualitative Veränderung betont, die der Kapitalismus

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Pollock, Friedrich gegenüber der liberalen Ära erfahren habe - er spricht von Staatskapitalismus im Gegensatz zu Privatkapitalismus. Der Preismechanismus scheint ihm bei ersterem teilweise außer Kraft gesetzt, mit der Folge, daB das System an Flexibilität verloren hat und die Krisen in verschärfter Form auftreten. In der Sprache der modernen Theorie lieBe sich das vielleicht so ausdrücken: die Mengenreaktionen dominieren nun die Preisreaktionen. Der Nationalsozialismus wird von Pollock nicht einfach als eine der Erscheinungsformen des Monopolkapitalismus verstanden, wie das insbesondere unter marxistischen Autoren verbreitetet war. Er interpretiert ihn als ein System, in dem das Primat der Politik über die Wirtschaft eindeutig errichtet worden ist. Diese, vom Ökonomen der Frankfurter Schule ausgesprochene Vermutung von der sekundär gewordenen Bedeutung des Ökonomischen, steht in deutlichem Widerspruch zur Manschen und neomarxistischen Theorie und dürfte dazu beigetragen haben, daB die „Frankfurter Schule" den ökonomischen Bedingungen viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt hat als man das angesichts ihrer theoretischen Wurzeln eigentlich hätte erwarten müssen. Die Untersuchungen zur Automation stellen den AbschluB von Pollocks wissenschaftlichem Werk dar; das 1956 und dann vollständig überarbeitet 1964 dazu erschienene Buch ist es vor allem, das die meisten mit seinem Namen verbinden. Der Untertitel ist bescheiden: Materialien zur Beurteilung ihrer ökonomischen und sozialen Folgen. Zutreffend ist das insofern, als er auch hier sein schon früheres Verfahren anwendet, zunächst das empirische Material zu besichtigen. Er geht aber entschieden darüber hinaus, indem er dann in einzelnen Kapiteln auf die Probleme der Automation eingeht, die in der schon zu seiner Zeit festzustellenden, von ihm aber nicht akzeptierten Arbeitsteilung, dann zu Themen der Ökonomie und Soziologie werden sollten: das Problem der technologischen Arbeitslosigkeit, EinfluB der Automation auf die Stabilität der Wirtschaft, EinfluB auf die Qualifikationsanfordeningen („upgrading" oder „downgrading"), EinfluB auf die Betriebsgröße. Vergleicht man Pollocks Ausführungen zu diesen verschiedenen Aspekten einzeln mit dem damaligen Stand der Forschung, wird man zu einem eher verhaltenen Urteil gelangen. -» Emil Lederer und -» Alfred Kähler etwa haben schon in den dreißiger Jahren theoretisch ambitioniertere Analysen

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zum Freisetzungsproblem vorgelegt. Ihnen und anderen Theoretikern ist Pollock aber in seiner sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise überlegen, die die nach ihm nicht mehr aufzuhaltende, aber keineswegs nur positiv zu beurteilende Arbeitsteilung zwischen Soziologen und Ökonomen nicht akzeptiert. In der Wirtschaftswissenschaft sind Pollocks Arbeiten auf wenig Resonanz gestoBen. Das hat sicher mit der nach dem Zweiten Weltkrieg immer stärker sich durchsetzenden Trennung zwischen Ökonomie und Soziologie zu tun: Sozialwissenschaftler wie Pollock mußten so als Vertreter eines überholten wissenschaftstheoretischen Programms erscheinen. Nicht viel anders verhielt es sich seitens der Soziologie: In ihrem Bemühen, zu einer eigenständigen und respektablen Disziplin zu werden, wurden sozialwissenschaftliche Universalisten wie Pollock eher als schädlich erachtet. Auch zur kritischen Theorie hat Pollock mit seinen Publikationen wenig beigetragen: sie gehören nicht zu denjenigen, die zitiert werden, um deren besondere Leistungen zu begründen. Dabei sollte man freilich nicht übersehen, daB Pollock während der amerikanischen Emigration eine Rolle übernommen hat, die Wissenschaftler nur selten zu übernehmen bereit sind: die der administrativen und finanziellen Absicherung anderer Arbeiten. Es wäre gewiß falsch, ihn deshalb zum wahren „Helden und Märtyrer" der Emigration zu stilisieren. Zur Relativierung einer nur an den Publikationen gemessenen Einschätzung eines Wissenschaftlers, trägt es aber gewiß bei, wenn man auch auf diesen Aspekt der Emigration verweist: Wissenschaftler mußten zur Ermöglichung von wissenschaftlicher Arbeit Rollen übernehmen, für die sie unter anderen Verhältnissen wohl nicht bereit gewesen wären, ihre wissenschaftlichen Interessen zurückzustellen. Schriften in Auswahl: (1923) Die Geldtheorie von Marx, Frankfurt (Diss.). (1926) Sombarts 'Widerlegung' des Marxismus (= Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Beiheft 3), Leipzig. (1928) Zur Marxschen Geldtheorie, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. 13, S. 193-209.

Prager, Theodor (1929)

(1932)

(1941a)

(1941b)

(1955)

(1956)

(1975)

Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917-1927, Leipzig (Habil.). Sozialismus und Landwirtschaft, in: Festschrift für Carl Grünberg zum 70. Geburtstag. Mit Beitr. von M. Adler u.a., Leipzig, S. 397-431. Is National Socialism a New Order?, in: Studies in Philosophy and Social Science (=Zeitschrift für Sozialforschung), Bd. 9, S. 440-455. State Capitalism. Its Possibilities and Limitations, in: Studies in Philosophy and Social Science (=Zeitschrifi für Sozialforschung), Bd. 9, S. 200-225. GmppenexperimenL Ein Studienbericht (als Beaib.). Mit einem Geleitwort von Franz Böhm (= Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd. 2), Frankfurt a.M. Automation. Materialien zur Beurteilung der ökonomischen und sozialen Folgen, Frankfurt a.M., (vollständig überarbeitete Neuausgabe 1964). Stadien des Kapitalismus, hrsg. von H. Dubiel, München [enthält die Aufsätze: Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus und die Aussichten einer planwirtschaftlichen Neuordnung (1932); Bemerkungen zur Wirtschaftskrise (1933); Staatskapitalismus (1941); Ist der Nationalsozialismus eine neue Ordnung? (1941)].

Quellen: BHb Π; Wiggershaus, R. (1988): Die Frankfurter Schule, Geschichte, theoretische Entwicklung, polititsche Bedeutung, München; HldWiWi 1966; ISL 1959/84. Peter Kalmbach

Prager, Theodor, geb. 17.5.1917 in Wien, gest. 22.2.1986 in Wien Pragers Vater kam aus dem Bankgewerbe und war in der Zwischenkriegszeit als Makler an der Wiener Börse tätig. Theodor Prager besuchte in Wien das Gymnasium und wurde 1934 wegen Verteilung von Flugblättern einer illegalen Organisation zu einer Polizeistrafe verurteilt, die auch mit dem AusschluB von allen Mittelschulen in Österreich verbunden war. Als er 1935 neuerlich von der Polizei verfolgt wurde, entschloß er sich

zur Emigration nach England. Er studierte Ökonomie an der London School of Economics (LSE). Das Doktoratsstudium mußte Prager 1940 unterbrechen, als er als sog. 'enemy alien' zunächst auf der Insel Man interniert und später nach Kanada deportiert wurde. 1941 wieder entlassen, konnte Prager sein Studium an der im Krieg nach Cambridge übersiedelten LSE fortsetzen und erwarb 1943 den Grad eines Ph.D. mit einer Dissertation über German Banking in Depression and Recovery. Danach trat er in das Londoner Institut for Political and Economic Planning (PEP) ein, an dem er bis zu seiner Rückkehr nach Österreich tätig war. Am Beginn des politischen Lebenswegs Theodor Pragers stand sein Eintritt in den Verband Sozialistischer Mittelschüler, einer Organisation der österreichischen Sozialdemokratie. Noch vor seiner Emigration nach England hatte er sich dem Jugendverband der kommunistischen Bewegung angeschlossen. In England war Prager Vorsitzender der Vereinigung österreichischer Studenten in Großbritannien, Mitglied der Association of Scientific Workers und für den Left Book Club tätig. Im November 1945 kehrte er nach Wien zurück, wo er seit 1946 als hauptberuflicher Mitarbeiter des Zentralkomitees der KPÖ tätig war. Als wirtschaftspolitischer Experte der Partei wurde er 1947 als Kammerrat in die Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte gewählt. Nachdem er dort 1959 ausgeschieden war, wechselte er 1963 aus seiner Position als Angestellter beim ZK der KPÖ in die damals von Eduard März geleitete wirtschaftswissenschaftliche Abteilung der Wiener Arbeiterkammer über, der er dann bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1982 angehörte. 1961 war Prager in das Zentralkomitee der KPÖ gewählt worden, dem er acht Jahre lang angehörte. In dieser Zeit gehörte Prager zum Kern jener Theoretiker und Intellektuellen in der KPÖ, die sich darum bemühten, ihre Partei von einem streng orthodoxen, Moskau-orientierten Kurs auf eine eurokommunistische Linie zu bringen, was zu einem offenen Kampf mit der Moskau-treuen Parteiführung und schließlich zum Bruch mit der KPÖ führte. Schon Ende der fünfziger Jahre war Prager unter 'Revisionismus-Verdacht' geraten, als er von 1957 an im theoretischen Organ der KPO Weg und Ziel eine Artikelserie veröffentlichte, die sich mit der aus der Sicht des Marxismus nicht leicht erklärbaren Dynamik und Prosperität der Wirt-

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Prager, Theodor Schaft in den westlich-kapitalistischen Ländern beschäftigte. Nach dem Vorbild der italienischen KP plädierte Prager fur eine Politik der 'presenza', welche „unmittelbare Tagesförderungen mit den weitergehenden Perspektiven struktureller Reformen" verbindet, die „stets solche Altemativlösungen vorschlägt und beharrlich vertritt, die durchsetzbar ... und gleichzeitig Ausgangspunkt für weitergehende Forderungen [sind]" (1963, S. 65). Die günstige Aufnahme der Buchversion unter dem Titel Wirtschaftswunder oder keines? 1963 in einer Reihe von kommunistischen Ländern überdeckte eine Zeitlang die Kritik von Seiten der Orthodoxie (insbes. aus der DDR). Die Parteinahme für den DDR-Dissidenten Robert Havemann und schließlich sein kompromißloses Eintreten fur die Reform versuche des 'Prager Frühlings' brachten Prager in immer gröfieren Gegensatz zur KPÖ-Fühmng, die nach anfänglichem Protest gegen den Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei wieder auf die Linie der KPdSU einschwenkte. Gemeinsam mit den um die ehemalige KP-Zeitschrift Tagebuch (seit 1969 Wiener Tagebuch) gruppierten Parteikritikern Emst Fischer, Franz Marek und Leopold Spira brach Prager 1969 mit der KPÖ. Seine politische Tätigkeit setzte er als unabhängiger linker Publizist vor allem im Wiener Tagebuch fort, dessen Mitherausgeber er blieb. Die internationale Anerkennung Pragers als marxistischer Theoretiker und politischer Ökonom fand ihren Niederschlag in seinen Beiträgen zu den Festschriften für Michal Kalecki (1964) und Maurice Dobb (1967) sowie in seiner Berufung als Overseas Fellow ans Churchill College der Universität Cambridge im Jahre 1973. Seinen Werdegang in Politik und Ökonomie erzählt Präger anregend in seinem Erinnerungsbuch Zwischen London und Moskau. Bekenntnisse eines Revisionisten (1975). Die von seiner in England geprägten Denkart her immer stark pragmatische Orientierung befähigte ihn dazu, in der österreichischen Wirtschaftspolitik bald nach seinem Eintritt in die wirtschaftswissenschaftliche Abteilung der Arbeiterkammer eine aktive Rolle zu spielen. Als Verfasser der 1965 erschienenen Studie Forschung und Entwicklung in Österreich wurde Prager zum Mitgestalter einer Politik zur Förderung von Forschung und Entwicklung, welche damals gerade als eigener Bereich der Wirtschaftspolitik etabliert wurde. Er war Mitglied des Kuratoriums des Forschungsförderungsfonds der gewerblichen Wirtschaft und

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Mitverfasser der 1972 erstellten Forschungskonzeption der österreichischen Bundesregierung. Für seine Verdienste um die Forschungspolitik wurde Prager 1976 das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse verliehen. Ein weiterer Tätigkeitsbereich Prägers war die Energiepolitik. Seine Kollegen ehrten ihn anläßlich seines 65. Geburtstags mit der Herausgabe der Festschrift Expansion, Stagnation und Demokratie (1982), welche ihm gemeinsam mit seinem langjährigen Freund -> Philipp Rieger gewidmet ist. Prager starb plötzlich und unerwartet am 22.2.1986 in Wien. Während seines Studiums in England war Prager unmittelbar mit den neuen Strömungen der ökonomischen Theorie und der Wirtschaftspolitik in Kontakt gekommen und durch den Keynesianismus in seinem Denken nachhaltig geprägt worden. Mit vielen Freunden seiner Cambridger Zeit - Joan Robinson, Nicholas Kaldor, Thomas Balogh, Maurice Dobb - stand er bis zuletzt in regelmäßiger Verbindung. Den philosophischen Wurzeln des Marxismus eher abgeneigt, versuchte Prager von Anfang an, links-keynesianische Ökonomie mit den ihm zeitgemäß erscheinenden Teilen der Marxschen Theorie zu verbinden. Die im Vorwort des Buches Wirtschaftswunder oder keines? gestellte Frage: „Hat sich der Kapitalismus gewandelt?" beantwortet Prager trotz gelegentlicher terminologischer und inhaltlicher Konzessionen an den Marxismus eindeutig mit ja, indem er die Hebung des Wohlstandsniveaus breiter Teile der Arbeiterschaft im Kapitalismus durch wirtschaftliches Wachstum und Vollbeschäftigung als nachhaltige Errungenschaft anerkennt, zu der die Arbeiterbewegung mit ihrem beharrlichen Eintreten für sozialpolitische Verbesserungen und eine angemessene Partizipation am wirtschaftlichen Fortschritt ebenso beigetragen habe wie die weltweite Konkurrenz der Wirtschaftssysteme. Noch deutlicher ist der konflikttheoretische Ansatz herausgearbeitet und durchgeführt in der Aufsatzsammlung Konkurrenz und Konvergenz (1972), die gleichsam unter dem Motto steht: „socialism has proved a great success - for capitalism." Die Widersprüche des Kapitalismus führten nicht notwendig zu dessen Niedergang, sondern könnten auch eine expansive Dynamik auslösen bzw. gezielt für diese eingesetzt werden. In einem 1967 gehaltenen Vortrag Zur politischen Ökonomie des Sozialismus (1972, S. 182 ff.) konstatierte Prager die zunehmende wirtschaftliche Rückständigkeit der „sozialistischen Staaten" und führte diese vor

Pribram, Karl allem auf den Mangel an Demokratie zurück. Die Funktion von Markt und Wettbewerb im WirtschaftsprozeB wird explizit kaum erörtert, wohl aber betont Prager stets die Bedeutung von Staatsinterventionen und Elementen der gesamtwirtschaftlichen Planung für den unerwarteten Erfolg des kapitalistischen Systems in der Nachkriegszeit. Bei aller Anerkennung von dessen Leistungsfähigkeit blieb Theodor Prager zeitlebens bei seiner systemkritischen Grundeinstellung, die ihn zuletzt im Kontext der in den siebziger Jahren durchbrechenden Umweltproblematik wieder eine eher skeptische Position einnehmen ließ: „so perhaps we ought to call a halt to this blind pursuit of growth and to bethink ourselves as to what really constitutes the good life, and how to set about achieving it". (1973, S. 157) Sein Engagement für die Umsetzung konkreter umweltpolitischer Zielsetzungen läfit jedoch auch in der Lösung dieser Frage einen pragmatischen Ansatz erkennen, wie er der Persönlichkeit Theodor Pragers entsprach. Schriften in Auswahl: (1963) Wirtschaftswunder oder keines? Zur politischen Ökonomie Westeuropas, Wien; Übersetzungen ins Ungarische (1964), Polnische (1965) und Tschechische (1966). (1964) The Political Element in Post-war Economic Growth, in: Problems of Economic Dynamics and Planning. Essays in Honour of Michal Kalecki, Warschau. (1965) Forschung und Entwicklung in Österreich, Schriftenreihe der Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte, Wien. (1967) On the Political Compulsions of Economic Growth, in: Socialism, Capitalism and Economic Growth. Essays presented to Maurice Dobb, Cambridge. (1972) Konkurrenz und Konvergenz. Wirtschaft, Umwelt, Wissenschaft. Wien u.a.; Übersetzung ins Japanische (1981). (1973) Laying Waste Our Powers, in: Sozialismus, Geschichte und Wirtschaft. Festschrift für Eduard März, Wien. (1975) Zwischen London und Moskau. Bekenntnisse eines Revisionisten, Wien.

(1979)

Expansion und Stagnation, Linkstrend und Rechtsruck. Zur Dialektik von Ökonomie und Politik, in: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Jg., Heft 3, S. 269-282.

Bibliographie: Expansion, Stagnation und Demokratie. Festschrift für Theodor Prager und Philipp Rieger, erschienen als: Wirtschaft und Gesellschaft, 8. Jg, Heft 2/1982, (enth. Auswahlbibliographie bis 1982); Nachträge in Heft 3/1982. Quellen: Β Hb I; WUG 1/1986, S. 145 f.; Prager, M. (Brief vom 30.5.1992). Günther Chaloupek

Pribram, Karl, geb. 2.12.1877 in Prag, gest. 14.7.1973, Washington, D.C. Aus einer deutschsprachigen jüdischen Rechtsanwaltsfamilie stammend besuchte Pribram in der damals noch zweisprachigen Stadt Prag die deutschen Bildungseinrichtungen, zuerst das Gymnasium und anschließend die deutsche Karls-Universität, wo er Rechtswissenschaften studierte. Nach Abschluß dieses Studiums trat er 1900 in die Kanzlei seines Vaters ein, entschloB sich jedoch bereits zwei Jahre spater, seinem Interesse für die Wirtschaftswissenschaften nachzugehen. Er ging für zwei Jahie an die Universität Berlin, wo die ökonomische Wissenschaft von der historischen Schule und von Gustav Schmoller dominiert wurde, der den Gegenpol zur Österreichischen Schule Carl Mengers bildete. An der rechts- und staatwissenschaftlichen Fakultät der Prager Universität hatte die aufstiebende Österreichische Schule mit Emil Sax und Robert Zuckerkandl bereits in den achtziger Jahren Fuß gefaßt. In Berlin war Karl Pribram deshalb „iiappiert" vom fundamentalen Unterschied in Ansatz und Methode der beiden Schulen, und diese Erfahrung sollte seinem gesamten theoretischen Werk ihren Stempel aufdrücken. 1904 wechselte Karl Pribram nach Wien, wo er sich 1907 an der Universität mit einer wirtschaftshistorischen Arbeit über die Geschichte der österreichischen Gewerbepolitik von 1740 bis I860 habilitierte. 1914 wurde er an der Universität Wien zum außerordentlichen Professor ernannt, damals eine Position ohne Besoldung. Seine berufliche Karriere begann Pribram in der k.k. Ministerialbü-

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Pribram, Karl rokratie des alten Österreich, wo er in der Zentralstelle für Wohnungsreform (gemeinsam mit -» Ludwig von Mises), im Handelsministerium und in der Statistischen Zentralkommission tätig war. Pribram war verantwortlich für die Organisation des 1913 in Wien stattfindenden Kongresses des Internationalen Statistischen Instituts (ISI), dem er sein ganzes Leben eng verbunden blieb. 1917 vertrat er den zum Handelsminister berufenen Friedrich Wieser auf dessen Lehrstuhl. Er stand in kollegialer Verbindung mit Kelsen, Mises und -» Joseph Schumpeter. Mises berichtet in seinen Erinnerungen von einer zunächst informellen Vereinigung der Freunde nationalökonomischer Forschung, der u.a. Pribram, Emil Pereis, Else Cronbach und Mises selbst angehörten, und aus der nach dem Krieg die österreichische Nationalökonomische Gesellschaft hervorging; Karl Pribrams freundschaftliche Beziehung zu Eugen von Böhm-Bawerk wurde durch dessen frühen Tod 1914 unterbrochen. 1912 veröffentlichte er ein kleines Büchlein über Die Entstehung der individualistischen Sozialphilosophie, das für seine spätere wissenschaftliche Arbeit richtungweisende Bedeutung erlangen sollte. Zunächst setzte Pribram jedoch seine Laufbahn als Beamter fort und übernahm nach dem Zusammenbrach der Habsburgermonarchie 1918 eine wichtige Funktion im Sozialministerium der neuentstandenen Republik (Deutsch-) Österreich: er wurde Leiter der für die neue Sozialgesetzgebung zuständigen Abteilung des Sozialministeriums. U.a. war er federführend beteiligt an den Gesetzesvorlagen für die Einfuhrung des Achtstundentages, der staatlichen Arbeitslosenversicherung, des Betriebsrätegesetzes und des Arbeiterkammergesetzes. Neben seiner Beamtentätigkeit verfaßte er in dieser Zeit mehrere staatswissenschaftliche Abhandlungen. Als ihm bald darauf als einem hervorragenden Experten der Sozialpolitik die Leitung der Abteilung für Statistik und Forschung des Internationalen Arbeitsamtes (International Labour Organization, ILO) angeboten wurde, nahm er diese Gelegenheit wahr, sich wieder der Forschung zuzwenden, und übersiedelte 1921 nach Genf. 1929 verehelichte er sich mit der ebenfalls aus Wien stammenden Völkerbund-Beamtin Edith Kömei. Die Berufung an die Universität Frankfurt im Jahre 1928 - drei Jahre nach der Berufung des Österreichers Schumpeter nach Bonn - markiert den Höhepunkt der Karriere und des internationalen

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Ansehens von Pribram. 1931 wurde er gemeinsam mit Keynes zu Vorlesungen über Unemployment as α World Problem von der Harris Memorial Foundation nach Chicago eingeladen, seine erste Amerika-Reise, auf der er Kontakte knüpfte, die sich bald als sehr hilfreich erweisen würden. Die Machtübernahme Hitlers setzte der Frankfurter Lehrtätigkeit ein abruptes Ende. Wenn Pribram zunächst noch nicht an die Dauerhaftigkeit dieser fatalen Wende in der politischen Entwicklung Deutschlands glauben wollte, so mußte er sich durch die zunehmende Brutalität und Aggressivität der Anhänger des Nationalsozialismus auch an der Hochschule bald eines Besseren belehren lassen. Pribram nahm deshalb ein Angebot aus den USA für eine zweijährige Forschungstätigkeit an, das er von der Brookings-Institution in Washington, D.C., erhalten hatte und verließ gegen Ende 1933 Deutschland. In den folgenden zwei Jahren erarbeitete er an der Brookings Institution die Studie Cartel Problems: An Analysis of Collective Monopolies. Emeut kam ihm seine reiche sozialpolitische Erfahrung zugute, als er 1935 im Zuge der von der Roosevelt-Administration durchgeführten Neugestaltung der amerikanischen Sozialpolitik in den Social Security Board berufen wurde. Seit 1942 war er als Senior Economist in der US Tariff Commission tätig, von der er 1951 - also erst im Alter von 74 Jahren in Pension ging. Während Karl Pribram in den USA - wie am Beginn seiner Laufbahn - in der staatlichen Wirtschafts- und Sozialbürokratie tätig war, unterrichtete er an der American University und nahm regelmäßig bis ins hohe Alter an internationalen Kongressen teil, wobei er sich besonders für die Veranstaltungen des ISI (nunmehr Internationale Statistische Gesellschaft) engagierte. Seine zahlreichen Reisen führten ihn bald nach dem Krieg wieder nach Deutschland und auch in seine Heimatstadt Wien, die er zuletzt 1957 besuchte. 1953 wurde er von seiner ehemaligen Universität Frankfurt zum Professor emeritus ernannt, was auch mit einer Pension verbunden war. Nach vielen Jahren praktischer Tätigkeit veröffentlichte Pribram 1949 das Buch Conflicting Pattems of Thought und mehrere größere Aufsätze. Im Ruhestand arbeitete er dann an der Ausarbeitung seines noch in der Zeit vor dem Ersten Weltkieg konzipierten Forschungsprogramms über die nationalökonomischen Theorien im Lichte des sein Denken beherrschenden Gegensatzes zwischen Universalismus und Individualismus. Er

Pribram, Karl starb im 96. Lebensjahr am 14. Juli 1973, nur wenige Monate vor Ludwig von Mises, der ebenfalls über 90 Jahre alt wurde. Sein spätes Werk konnte Karl Pribram nicht mehr vollenden; vor allem den Bemühungen seiner Witwe Edith Pribram (gest. 1988) ist es zu verdanken, dafi es dennoch 1983 erscheinen konnte. Pribram als Wirtschaftshistoriker. Die Habilitationsschrift über die österreichische Gewerbepolitik im 18. Jahrhundert (geplant als erster Band einer bis 1860 reichenden Darstellung - der zweite Band ist nie erschienen) ist eines der bedeutendsten Werke der älteren österreichischen Wirtschaftsgeschichte. Das Buch gibt eine ausführliche, auf sorgfältigem Akten- und Faktenstudium beruhende Darstellung und Analyse der gewerbepolitischen Entwicklung in Österreich von Maria Theresia über Joseph Π. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Ist die Themenstellung des Buches von der historischen Schule geprägt, so steht die inhaltliche Behandlung des Themas in deutlichem Kontrast zu dieser. Während für die deutsche historische Schule die Herausaibeitung einer Eigenbedeutung des Staates im Wirtschaftsgeschehen bzw. von kollektiven Bindungen der Wirtschaftssubjekte gegenüber dem Marktmechanismus als alternative Prinzipien zur Ökonomie des Marktes im Vordergrund stand, bildete die allmähliche Durchsetzung der letzteren gegenüber staatlichem Paternalismus und zünftischen Beschränkungen das Leitmotiv von Pribrams Darstellung. Andererseits würde diese bei aller Präferenz, die schon das erste Buch des Autors für den Individualismus eindeutig erkennen läßt, niemals doktrinär etwa in dem Sinne, daB er Interventionen der merkantilistischen Wirtschaftspolitik aus ordnungspolitischideologischen Gründen verurteilte. Davor bewahrte ihn eine historisch-pragmatische Betrachtungsweise, welche die Ziel-Mittel Relation nie aus dem Auge verlor. Wirtschaftspolitische Schriften. Aus der Zeit vor dem Ende des Ersten Weltkriegs stammt die kleine Schrift Die Grundgedanken der Wirtschaftspolitik der Zukunft. Darin zieht Pribram die Konsequenzen aus den wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Veränderungen der Kriegsjahre für die Wirtschaftspolitik nach einem Friedensschluß. Der individualistische Liberalismus der Vorkriegszeit werde nach dem Krieg nicht wiedererstehen. Nicht mehr der Wettbewerb der einzelnen Unternehmungen werde den wirtschaftlichen Prozeß bestimmen, sondern die politische und wirt-

schaftliche Auseinandersetzung der einzelnen Staaten. Um in der internationalen Auseinandersetzung zu bestehen, müsse sich der Staat auch nach innen in der Wirtschaftspolitik der kollektiven Organisationsformen bedienen, welche die Kriegswirtschaft geschaffen habe und welche nach dem Krieg eine unentbehrliche und aktive Rolle bei der Gestaltung des Wirtschaftsprozesses zu spielen hätten. In dem Aufsatz Deutscher Nationalismus und deutscher Sozialismus (1922) war seine Haltung zu den kollektivistischen Tendenzen wieder deutlich kritischer und distanzierter. Der umfangreiche, 1921 geschriebene Aufsatz über Die Sozialpolitik im neuen Österreich, ein Nebenprodukt der damaligen Tätigkeit Pribrams als leitender Beamter des Sozialministeriums, ist eine ebenso profunde Darstellung wie Evaluierung der sozialpolitischen Reformen nach dem Krieg, die der Autor im Gegensatz zu den Sozialisierungsplänen grundsätzlich positiv bewertet. An der reformistischen Orientierung der Politik hätten die Gewerkschaften einen entscheidenden Anteil gehabt Dogmengeschichte und Sozialphilosophie: Gegenstand der 1912 veröffentlichten kleinen Schrift Die Entstehung der individualistischen Sozialphilosophie ist die Entstehung des modernen wirtschaftlichen Denkens aus der mittelalterlichen und der frühneuzeitlich-merkantilistischen Wirtschaftslehre. Beide hätten in universalistischen Weltanschauungen bzw. Erkennnistheorien ihre Grundlage. Die Herausbildung einer individualistischen Sozialphilosophie und deren schlieBlicher Triumph mit Adam Smiths Wealth of Nations sieht Pribram in ursächlichem Zusammnhang mit der Infragestellung der universalistischen Philosophie zuerst durch den Nominalismus William von Ockhams und dem von dessen Schriften ausgehenden Siegeszug der individualistischen Erkenntnistheorie. In seiner History of Economic Reasoning wandte Pribram das Hauptmotiv seiner Untersuchung von 1912, den polaren Gegensatz zwischen Universalismus und Nominalismus, auf die Entwicklung des ökonomischen Denkens vom Mittelalter bis zur Gegenwart an. Mit dem Triumph der anglo-amerikanischen Ökonomie in der Gesamtheit der westlichen Industrieländer nach 1945 sei allerdings diese Polarität der Entwicklung, wie sie etwa noch im Gegensatz der deutschen historischen Schule zur Marshallschen Neoklassik bzw. zur Österreichischen und zur Lausanner Schule zum Ausdruck gekommen sei, zu ei-

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Radomysler, Asik nem Ende gekommen. Ein neuer Gegenpol sei dem westlichen, individualistischen Wirtschaftssystem in den „sozialistischen", auf der dialektischen Lehre beruhenden Ökonomien erwachsen. Von seiner Konzeption her ist Pribrams Werk in gewissem Sinne komplementär zu Schumpeters History of Economic Analysis. Sein Hauptinteresse gilt nicht der Entwicklung der analytischen Werkzeuge der Wissenschaft, sondern den fundamentalen Kategorien und Ideen, die explizit oder implizit der ökonomischen Wissenschaft wie auch der Ökonomie selbst zugrunde liegen. Schriften in Auswahl: (1907) Geschichte der österreichischen Gewerbepolitik von 1740 bis 1860. Erster Band. 1740 bis 1798, Leipzig. (1912) Die Entstehung der individualistischen Sozialphilosophie, Leipzig. (1918) Die Grundgedanken der Wirtschaftspolitik der Zukunft, (= 3. Heft der 'Zeitfragen aus dem Gebiete der Soziologie'), Graz/Leipzig. (1920/21) Die Sozialpolitik im neuen Österreich, in: Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 48, S. 645-680. (1922) Deutscher Nationalismus und deutscher Sozialismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 49, S. 298-376. (1931) World Unemployment and its Problems, in: Q. Wright (Hrsg.): Unemployment as a World Problem, Chicago. (1935) Cartel Problems: An Analysis of Collective Monopolies in Europe. With American Applications, Washington, DC. (1949) Conflicting Patterns of Thought, Washington, D.C. (1983) A History of Economic Reasoning, Baltimore/London, (enth. Bibliographie, S. 737 ff.; dt. Übers.: Geschichte des ökonomischen Denkens, 2 Bände, Frankfurt a.M 1992). Quellen: SPSL 237/4; EC 108; Β Hb Π; NL Pribram/SUNY; Pribram, Κ. (1983): S. XIX ff. (biographical introduction). Günther Chaloupek

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Radomysler, Asik, geb. 10.10.1914 in Hannover, gest. 1.1.1952 in England Radomysler muBte 1935 sein in Deutschland begonnenes Studium abbrechen und emigrierte noch im selben Jahr nach Großbritannien, wo er sich im Oktober an der London School of Economics (LSE) für das Studium der Wirtschaftswissenschaften immatrikulierte, das er 1938 mit Auszeichnung abschloB. Im direkten AnschluB daran begann er, ebenfalls an der LSE, die Arbeit an seiner Dissertation, die zwischen 1938 und 1940 mit einem Leverhulme Research Studentship gefördert wurde. Die Schrift mit dem Titel Some Aspects of the Relationship between Wages and Development reichte Radomysler jedoch bei seinen beiden Gutachtern Lionel Robbins und Frederic Benham nicht ein. Obwohl unpromoviert, konnte der „liberale Sozialist" (Prager), den Robbins als einen seiner besten Studenten, die er jemals gehabt hatte, bezeichnete, an der LSE bleiben. Am Department of Banking war Radomysler bereits seit 1939 als Temporary Assistant in Economics tätig und hatte dort von 1941 bis zu seinem durch psychische Probleme ausgelösten Freitod eine Stelle als Minor Lecturer inne; unterbrochen worden war diese Institutsarbeit von der Internierung in England und Kanada, wo Radomysler neben dem Soziologen Norbert Elias auch -» Theodor Prager und -» Heinz W. Arndt kennenlernte, mit denen er nach seiner Freilassung im Jahr 1941 in brieflichem Kontakt blieb und unter anderem ausführliche Anmerkungen zu Arndts Buch The Economic Lessons of the Ninteen-Thirties (1944) verfaßte. Die wenig geglückte Integration Radomyslers in den akademischen Bereich spiegelt sich in der geringen Zahl seiner Publikationen wider. Neben zwei kurzen Rezensionen in der LSE-Zeitschrift Economica (1942a und b) ist lediglich ein längerer Aufsatz zur Kritik der Wohlfahrtstheorie im selben Journal (1946) bekannt. Jedoch zählt gerade diese Arbeit über Welfare Economics and Economic Policy zusammen mit dem - ebenfalls in der von der American Economic Association herausgegebenen Aufsatzsammlung Readings in Welfare Economics wiederabgedruckten - Beitrag von John R. Hicks (1959) zu den grundlegenden Schriften auf diesem Gebiet. Sowohl Hicks als auch Radomysler wiesen auf die restriktiven Modellannahmen der traditionellen Wohlfahrtsökonomik hin und warnten vor der daraus allzuleicht

Radomysler, Asik resultierenden Unfruchtbarkeit dieses theoretischen Ansatzes. Kernpunkt der Kritik war die Frage nach den Aufgaben und der Reichweite wohlfahrtsökonomischer Theoriebildung. Radomysler zufolge kommt der (wohlfahrts-)ökonomischen Theorie in Anlehnung an das Max Webersche Postulat der Werturteilsfreiheit allein eine positive, erklärende Funktion zu. Normative Aussagen hingegen, wie sie von Wohlfahrtsökonomen teils explizit, teils implizit formuliert werden, sind in dieser Sicht nicht zulässig, da sie auf Abstraktionen und Annahmen Uber die ökonomische und gesellschaftliche Realität aufbauten, die Werturteile beinhalteten und darüber hinaus werturteilsbeladene Regeln über die zukünftige Gestaltung dieser Realität aufstellten; dies gilt auch dann, wenn die Regeln, wie in den von Kaldor und Hicks erarbeiteten Kompensationskriterien, allgemeine Zustimmung finden würden. Wissenschaftliche Wohlfahrtsökonomik sei allein die Untersuchung der Ursachen der Wohlfahrt, so wie sie in Pigous klassischem Werk (1920) vorgenommen worden war „Professor Pigou in his Economics of Welfare does not prescribe; he examines what would increase welfare, and leaves it at that.... As the Economics of Welfare is concerned with the causes of welfare, it follows that it is a positive study, and not a normative study of what ought to be done [Herv. im Orig.]" (1946, S. 199) - eine Position, die auch von Little (1950, S. 78) in seiner vielbeachteten Critique of Welfare Economics unter direkter Bezugnahme auf Radomysler vertreten wurde. Das Ableiten von normativen Handlungsempfehlungen aus der positiven Analyse ist in dieser Sicht einzig Aufgabe der Politik, nicht jedoch der Wissenschaft. Darüber hinaus wandte sich Radomysler auch gegen die Wohlfahrtsmessung mit Hilfe der Aufstellung einer gesamtgesellschaftlichen, aggregierten Wohlfahrtsfunktion, da diese lediglich allokative Aspekte berücksichtige, nicht jedoch Gesichtspunkte der Einkommensverteilung als wesentliche Tatsachen des sozialen Lebens und sozialer Wandlungsprozesse. Gerade letztgenannte aber könnten mit Blick auf die realen Verteilungskonflikte zwischen Individuen, Interessengruppen, Gesellschaftsklassen und Nationen nicht außer acht gelassen werden. Radomysler bezog sich bei dieser Argumentation explizit auf Myrdals lange vor der Entwicklung derartiger Wohlfahrtsfunktionen geschriebenes Werk über Das politische Element in der naiionalökonomischen Doktrinbil-

dung (1932, insbes. Kap. VIII), dessen englische Übersetzung jedoch erst 1953 veröffentlicht wurde. Mit der Rezeption dieser Arbeit stellte Radomysler daher dem angelsächsischen Rationalismus das kontinentale Denken in der Tradition von Karl Marx, Joseph A. Schumpeter, Max Weber oder eben Myrdal gegenüber, das nicht von abstrakten Vorstellungen über 'soziale Wohlfahrt' oder 'allgemeine Wohlfahrt' sondern von den fur die soziale Wirklichkeit relevanten Normen ausging (vgl. Myrdal 19322, S. VII). Nicht nur sei die Vorstellung einer Interessenharmonie - als Begriff oder als wünschenswertes Ziel - verfehlt, sondern Konflikte seien geradezu konstituierende Merkmale des gesellschaftlichen Zusammenlebens; die Entstehung von Konflikten zu erklären und Möglichkeiten für ihre Beseitigung zu suchen, darin sah Radomysler die eigentliche Aufgabe der Wohlfahrtsökonomie (1946, S. 204). Wenngleich Radomysler jener Generation von Emigranten zuzurechnen ist, die wie Heinz W. Arndt, -» Richard A. Musgrave, -* Hans W. Singer und -» Wolfgang F. Stolper infolge ihrer emigrationsbedingten doppelten Ausbildung einen intellektuellen Gewinn erzielten und nur relativ geringe Akkulturationsprobleme in den jeweiligen Aufnahmeländem aufwiesen, blieb ihm im akademischen Bereich der Erfolg versagt Seine kritische Arbeit zur angelsächsisch geprägten Wohlfahrtstheorie zeigt deutlich die kontinentaleuropäischen Wurzeln, die auch nach der Emigration Radomyslers ökonomisches Denken leiteten. Schriften in Auswahl: (1942a) [Rezension] The Social Policy of Nazi Germany. By C.W. Guillebaud. Cambridge 1941, in: Economica, Bd. 9, S. 105-106. (1942b) [Rezension] The Economics of Price Determination. By C. Clive Saxton. Oxford 1942, in: Economica, Bd. 9, S. 388-389. (1946) Welfare Economics and Economic Policy, in: Economica, Bd. 13, S. 190-204; Wiederabdruck in: Readings in Welfare Economics, hrsg. von der American Economic Association, London 1969, S. 81-94. Bibliographie: Arndt, H.W. (1944): The Economic Lessons of the Nineteen-Thirties, London.

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Ranis, Gustav Hicks, J.R. (1959): Preface - And a Manifesto, Wiederabdruck in: Readings in Welfare Economics, hrsg. von der American Economic Association, London 1969, S. 95-99. Little, I.M.D. (1950): A Critique of Welfare Economics, 2. Aufl, Reprint, Oxford u.a., 1970. Myrdal, G. (1932): Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, 2. Aufl. mit einem Vorwort von Paul Straeten, Bonn-Bad Godesberg 1976; engl. Übers. 1953. Pigou, A.C. (1920): The Economics of Welfare, London. Quellen: Schreiben von J.M. Alstin, Graduate Office, LSE vom 17. Januar 1992; Prager, T. (1975): Bekenntnisse eines Revisionisten, Wien, passim.; Archivalien des Royal Institute of Economic Affairs, London, Box 9/22f. Hans Ulrich Eßlinger

Ranis, Gustav, geb. 24.10.1929 in

Darmstadt

Ranis ist in einer jüdischen Familie aufgewachsen. Sein Vater, Max Ranis, war Offizier in der Deutschen Armee während des ersten Weltkrieges, promovierte später zum Dr. iur. und wurde nach der Machtergreifung Hitlers im Konzentrationslager Buchenwald interniert. Er emigrierte 1939 zunächst nach Großbritannien und 1941 in die USA, wo er 1943 starb. Ranis' Mutter, Bettina Goldschmidt, floh 1941 mit ihren beiden Söhnen über Frankreich und Spanien zunächst nach Kuba. 1943 emigrierten sie in die USA. Die Familie erhielt finanzielle Unterstützung von einer jüdischen Organisation und Ranis arbeitete stundenweise in einer Fabrik. Von 1948 bis 1952 studierte er dann an der Brandeis University, Mass., wo er mit einem Bachelor of Arts abschloß. An der Yale University absolvierte er zunächst 1953 den Master of Arts in Ökonomie und promovierte dort nach einem Studienaufenthalt in Japan über Japan: A Case Study in Development (1956). Die Yale University blieb - mit einigen Unterbrechungen - bis heute Ranis' berufliche Heimat. Er begann dort zunächst als Dozent, wurde später Assistant Professor (1960-1961), dann Associate Professor (1961-1964), Professor of Economics (1964-1982) und ist seit 1982 Frank Altschul Professor of International Economics. Ranis war darüber hinaus Direktor des Economic Growth Centers in Yale (1967-1975). Daneben arbeitete er von 1957 bis 1958 am Overseas Development

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Program der Ford-Stiftung in New York und von 1959 bis 1961 am Pakistan Institute of Development Economics in Karachi/Pakistan. In den 1970er Jahren besuchte er Mexiko und war als Gastprofessor an der Universidad de los Andes in Bogota/Kolumbien tatig. Im Jahr 1982 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Brandeis University. Ranis hat in vielen wichtigen Entwicklungshilfeprojekten und Kommissionen als Berater mitgewirkt und ist Mitglied in mehreren politischen und ökonomischen Organisationen. Das Hauptforschungsgebiet von Ranis ist die Entwicklungstheorie und -politik. Seine wissenschaftliche Tätigkeit ist von Beginn an mit einer beeindruckend umfangreichen Publikationstätigkeit verbunden. Seit über vierzig Jahren veröffentlicht Ranis jedes Jahr mehrere Artikel, viele davon in Zusammenarbeit mit anderen Ökonomen. Daneben hat er eine Vielzahl von Büchern publiziert und (mit-)herausgegeben. Während in den 1960er Jahren die Ableitung theoretischer Entwicklungsmodelle im Vordergrund stand, widmet sich Ranis heute zunehmend auch Länderstudien. Mit der graphischen und mathematischen Formulierung der einflußreichen entwicklungstheoretischen Arbeiten von W.A. Lewis (1954) ist Ranis zusammen mit J.C.H. Fei Anfang der 1960er Jahre international bekannt geworden (vgl. 1961, 1963, 1964). Das Modell gehört zu den sog. dualistischen Entwicklungstheorien, in denen die Volkswirtschaft in zwei Sektoren aufgeteilt wird: in einen Subsistenzsektor und einen kapitalistischen, modernen Sektor, die aus didaktischen Gründen häufig mit dem Landwirtschaftssektor und dem Industriesektor gleichgesetzt werden. Ausgangspunkt der Theorie ist eine unterentwikkelte, stagnierende Volkswirtschaft mit einem Überschuß an Arbeit, d.h. weit verbreiteter verdeckter Arbeitslosigkeit im vorherrschenden Agrarsektor sowie hohen Bevölkerungswachstumsraten. Daneben besteht bereits ein kleiner Industriesektor, der zum vorgegebenen Lohnsatz zunächst auf ein vollkommen elastisches Arbeitsangebot zurückgreifen kann (Lewis' berühmte, klassische Annahme des 'unlimited supply of labour'). Die zentrale Frage dieser Theorie ist, wie ein Prozeß des sich selbsttragenden Wachstums ('self-sustained growth') eingeleitet werden kann. Die Antwort liegt in einem Strukturwandel, bei dem der Schwerpunkt vom Agrarsektor in den Industriesektor mittels einer schnellen und starken Reallokation des landwirtschaftlichen Arbeitsü-

Ranis, Gustav berschusses verlagert wird. Der Aufbau der Industrieproduktion muß durch Kapitalakkumulation eingeleitet werden. Damit wird der Engpaß der ökonomischen Entwicklung wie in der klassischen Theorie in einer Knappheit des Produktionsfaktors Kapital gesehen (vgl. Fei/Ranis 1963, S. 283f.). Für die notwendige Realkapitalbildung müssen die industriellen Profite steigen, die vollständig gespart und investiert weiden, während die Löhne zur Gänze konsumiert werden (super-klassische Sparhypothese). Fei und Ranis unterscheiden mehrere Phasen der strukturellen Transformation. Im Agrarsektor wird zunächst ein institutioneller Lohn gezahlt, der der Entlohnung nach dem Durchschnittsprodukt entspricht. Wenn es in der ersten Phase zu einer teilweisen Reallokation der Arbeiter vom Agrarsektor zum Industriesektor kommt, dann wird im Industriesektor ein positiver Beitrag zum Sozialprodukt erwirtschaftet. Jedoch sinkt der gesamtwirtschaftliche Agraroutput nicht, da das Grenzprodukt des landwirtschaftlichen Arbeitseinsatzes null war. Auf diese Weise kann die Landwirtschaft den Strukturwandel finanzieren, denn für die in die Industrie alloziierten Arbeiter steht nun ein Agrarsurplus pro Kopf in Höhe des institutionellen Lohnes zur Verfügung, der annahmegemäB auch gezahlt wird. Eine Nahrungsmittelknappheit tritt nicht auf, so daß die Preisrelation zwischen den Sektoren konstant bleibt. Die zweite Phase wird durch den sog. 'Knappheitspunkt' eingeleitet, ab dem durch den Arbeitertransfer Opportunitätskosten in Form eines Verzichts positiver Grenzprodukte im Agrarsektor entstehen. Die so erzeugte relative Knappheit von Agrarprodukten induziert eine Verschlecherung der Terms of Trade der Industrie, was zu einer Steigerung des industriellen Lohns in Industriegütern führt. Die Kommerzialisierung der Landwirtschft leitet die dritte Phase ein. Die Grenzproduktivität der Arbeit im Agrarsektor ist auf des Niveau des institutionellen Lohns gestiegen. Der Industriesektor hat alle verdeckten Arbeitslosen absorbiert. In beiden Sektoren werden nun die Reallöhne steigen. Damit ist das Ende des 'takeoff-Prozesses' und die Schwelle des sich selbsttragenden Wachstums erreicht (vgl. 1961, S. 534ff.). Die Bedingungen des ausgewogenen Wachstums ('balanced growth') zeigen, daß wirtschaftliche Entwicklung nicht nur Industrialisierung, sondern auch Wachstum und Produktivitätssteigerungen in

der Landwirtschaft voraussetzt. Diese notwendige Ausgewogenheit der beiden Sektoren im Entwicklungsprozeß erfordert auch eine bestimmte Allokation des volkswirtschaftlichen Investitionsfonds. Einerseits müssen die Investitionen im Industriesektor angemessen sein, um Beschäftigungsmöglichkeiten für die vom Agrarsektor abgegebenen Arbeitskräfte und die steigende Bevölkerung zu bieten. Andererseits müssen die Investitionen und induzierten Produktivitätssteigerungen im Agrarsektor ausreichend sein, um angesichts steigender Bevölkerung und des Verlusts eines positiven Grenzprodukts ab dem Knappheitspunkt eine Versorgung der Menschen mit Lebensrnitteln zu gewährleisten (vgl. 1961, S. 540ff.). Nach dem Kriterium der kritischen Minimalanstrengungen ('critical minimum effort criterion') muß die Investitionstätigkeit in beiden Sektoren mindestens so groß sein, daß die Rate der Arbeitsabsorption im Industriesektor größer ist als die Bevölkerungswachstumsrate. Dadurch sinkt der Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft und ein Industrialisierungsprozeß wird eingeleitet (vgl. 1963, S. 289). Dem einmaligen 'big push' wird damit eine eindeutige Absage erteilt, denn der erfolgreiche take-off Prozeß erfordert eine ausgewogene, starke Realkapitalbildung, die permanent und langfristig durchgefühlt weiden muß. Die dafür notwendigen Profitsteigeningen gehen auf Kosten der Reallöhne in beiden Sektoren - eine Konsequenz, die sich aus der super-klassischen Sparhypothese ergibt. Der Lebensstandard der Bevölkerung wird somit erst nach einem erfolgreichen Übergangsprozeß, der allerdings 20 bis 30 Jahre dauern kann, über das Niveau des Existenzminimums steigen. Heimischer, kapitalsparender Technischer Fortschritt (i.S.v. Hicks) - und nicht der Hochtechnologietransfer aus den reichen Industrieländern - sowie eine Drosselung der Bevölkerungswachstumsrate begünstigen den erfolgreichen Entwicklungsprozeß (vgl. ebd., S. 302ff.). Unberücksichtigt bleibt, dafi dieser kapitalsparende Technische Fortschritt mit einer Senkung der Profitquote einhergeht. Es ist allerdings das Verdienst dieses Modells - das in seiner elaborierten Version auch einen Zuschlagsatz für den Industrielohn sowie intersektorale Handelsbeziehungen berücksichtigt - , auf die bedeutende und häufig unterschätzte Rolle der Landwirtschaft im Industrialisierungsprozeß hingewiesen zu haben. Nur die Landwirtschaft ist in der Lage, die notwendigen Arbeitskräfte freizusetzen, die Lebens-

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Ranis, Gustav mittelmittelversorgung der Bevölkerung sicherzustellen und bei mangelnden Exportchancen dem Industriesektor Absatzmöglichkeiten für seine Produkte zu bieten. Für Entwicklungsprozesse in offenen Volkswirtschaften unterscheidet Ranis vier Phasen. Am Anfang steht eine koloniale Phase mit Agrar- oder Rohstoffexporten, die abgelöst wird durch eine Importsubstitutionsphase, in der bisher importierte Konsumgüter nun vom eigenen Industriesektor mit arbeitsintensiven Techniken hergestellt werden. Die dritte Phase kann in einer anhaltenden Importsubstitution von Gütern in nun kapitalintensiveren Produktionsprozessen bestehen oder zu einem Export der weiterhin arbeitsintensiv produzierten Produkte fuhren. Die letzte Phase ist durch den Transfer und die Anwendung modernster Technologien und intensive Außenhandelsbeziehungen gekennzeichnet (vgl. u.a. 1989, S. 197f.). Die Frage nach der Bedeutung der Einkommensverteilung in Entwicklungsprozessen wurde zunehmend in den 1970er und 1980er Jahren diskutiert. Ranis, Fei und S. W. Y. Kuo stellten in ihrem Buch Growth with Equity: The Taiwan Case (1979) fest, daß die Einkünfte in Taiwan personell sehr gleichmäßig verteilt waren, so daß die Verschlechterung der Einkommensverteilung - i. S. einer stärkeren relativen Ungleichheit - nicht länger als historische Notwendigkeit zur Einleitung eines Wachstumsprozesses gesehen werden konnte. Anläßlich des 25. Geburtstages des Yale Economic Growth Centers 1986 haben Ranis und T.P. Schultz eine Sammlung von Aufsätzen zum Thema The State of Development Economics (1988) editiert, die in der Fachwelt auf breite Resonanz stieß. Zunehmend finden in Ranis' Erklärung von Entwicklungsprozessen neben den 'klassischen' Determinanten der Kapitalbildung und des Technischen Fortschritts auch politische Faktoren eine Berücksichtigung. Diese Wandlung kommt auch in dem von S. Mahmood und Ranis veröffentlichten und viel beachteten Buch The Political Economy of Development Policy Change (1992) deutlich zum Ausdruck. Die Autoren präsentieren eine geglückte Kombination aus einem theoretischen Entwicklungsmodell und einer vergleichenden Analyse von sechs Entwicklungsländern in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte (von 1960 bis 1985). In dem theoretischen Modell wird zunächst

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die 'natürliche Evolution' der Volkswirtschaften abgeleitet, d.h. jene, die durch die natürlichen Ressourcen, die technologischen Möglichkeiten und die bisherige Geschichte ohne Berücksichtigung von aktiver Wirtschaftspolitik bestimmt wird. Dann werden die durch Staatseingriffe erzeugten Abweichungen von diesem Pfad in einzelnen Ländern untersucht. Es wird deutlich, daß unterschiedliche Politikbündel in den Ländern für die dramatischen Entwicklungsunterschiede verantwortlich sind. Nach Ranis und Mahmood strebten die ostasiatischen Länder Südkorea und Taiwan eine weitgehende Liberalisierung des Außenhandels an und folgten eher dem natürlichen Wachstumspfad, d.h. verzichteten weitgehend auf eine künstliche Wachstumsstrategie. Diese 'Entpolitisierungsstrategie' erwies sich als äußerst günstig für die Wirtschaftsleistung. Die lateinamerikanischen Länder Mexiko und Kolumbien hingegen verfolgten eine stärker interventionistische, häufig prozyklische und auch unstetige Entwicklungspolitik mit geringerem Erfolg. Bei dem Versuch der teilweisen Endogenisiening der Entwicklungspolitik fragten die Autoren nach den Gründen für die unterschiedliche Wahl von Maßnahmen. Sie stellten dazu die These auf, daß die unterschiedlichen Strategien nicht auf dem fachlichen Unvermögen der Politiker beruhen, sondern vielmehr in den ökonomischen und institutionellen Ausgangsbedingungen der Volkswirtschaften begründet sind. So entstehen z.B. nach Ranis und Mahmood in Ländern, die relativ reich an natürlichen Ressourcen sind, 'rent-seeking' - Aktivitäten von Interessengruppen, die ökonomisch sinnvolle Maßnahmen häufig verhindern. In Anlehnung an S. Kuznets (1966) betont Ranis in vielen Schriften auch die Bedeutung von Weltlichkeit, Gleichheitsprinzipien und nationaler Gesinnung als entscheidende Dimensionen staatlichen Handelns im institutionellen Entwicklungsprozeß. Schriften in Auswahl: (1956) Japan: A Case Study in Development, Diss., Yale University. (1961) A Theory of Economic Development (zus. mit J.C.H. Fei), in: The American Economic Review, Bd. 51. S. 533-565. (1963) Innovation, Capital Accumulation and Economic Development (zus. mit J.C.H. Fei), in: The American Economic Review, Bd. 53, S. 283-313.

Rattner, Heinrich (1964)

(1979)

(1988)

(1989)

(1992)

Development of the Labour Surplus Economy: Theory and Policy (zus. mit J.C.H. Fei), Homewood/Illinois. Growth with Equity: The Taiwan Case (zus. mit J.C.H. Fei und S. Kuo), Oxford. The State of Development Economics (als Hrsg. zus. mit T.P. Schultz), Oxford. Labour Surplus Economies, in: Eatwell, J. u.a. (Hrsg.): The New Palgrave: Economic Development, London/ Basingstoke, S. 191-198. The Political Economy of Development Policy Change (zus. mit S. Mahmood), Cambridge/Mass.

Bibliographie: Kuznets, S. (1966): Modem Economic Growth: Rate, Structure and Spread, New Haven. Lewis, W.A. (1954): Economic Development with Unlimited Supplies of Labour, in: Manchester School of Economics and Social Studies, Bd. 22, S. 139-191. Quellen: BHb Π; AEA. Karin Knottenbauer

Rattner, Heinrich, geb. 5.2.1923 in Wien Seiner jüdischen Herkunft wegen floh Rattner aus seinem Geburtsland unmittelbar nach dem sog. 'Anschiuß' an Deutschland im Jahr 1938 und emigrierte nach Palästina, wo er für zweieinhalb Jahre in einem Kibbuz arbeitete. Danach diente er während des Zweiten Weltkriegs für weitere zweieinhalb Jahre bei der britischen Marine. 1946 ging er nach Belgien, wo er das Psychologiestudium am Institute for Advanced Studies in Brüssel abschloB. 1951 wanderte er schließlich nach Brasilien aus. Dort wurde sein ausländischer Studienabschluß jedoch nicht anerkannt, da sein spezielles Fachgebiet in diesem Land nicht existierte. Daher absolvierte er nochmals ein komplettes Studium, das er 1960 an der Universität von Säo Paulo in Sozialwissenschaften abschloß. Zwei Jahre später erhielt er dort auch den Magister-Grad. Danach änderte er allmählich die Ausrichtung seiner Studien und Forschungen hin zu den Wirtschaftswissenschaften, obwohl sein soziologischer Hintergrund während seiner akademischen Karriere, einschließlich seiner Interessen an technologi-

schen Fragen, immer präsent blieben. 1968 erwarb er den Ph.D. in Politischer Ökonomie, ebenfalls an der Universität von Säo Paulo, mit der Arbeit Industrializafäo e concentrafäo econömica em Säo Paulo (1972). Von 1970 an hatte er bei der Getülio Vargas Foundation - einem fuhrenden College auf den Gebieten Management und Ökonomie in Säo Paulo - und an der Universität von Säo Paulo verschiedene Professuren inne. An der Fakultät für Management und Volkswirtschaftslehre dieser Universität wurde er 1979 Ordinarius fur Technologie und Entwicklung. An derselben Universität rief er 1990 interdisziplinäre Postgraduiertenkurse in Umweltwissenschaft ins Leben. Die Fragestellung, die das Werk Rattners bestimmt, ist das Verhältnis der Technologie zur Kapitalakkumulation und wirtschaftlichen Konzentration, zu Entwicklung, Beschäftigung und schließlich zur Umwelt Unter dem Einfluß der Klassischen Politischen Ökonomie und des Marxismus wird Technologie als Ware betrachtet, deren Entwicklung und Verbreitung die Interessen deijenigen widerspiegelt, die die gesellschaftliche Produktion sowie die nationalen und internationalen Märkte kontrollieren, auf denen sie um Monopolpositionen konkurrieren. Daher lehnt Rattner es ab, Technologie als politisch neutralen oder nicht-ethischen Faktor zu behandeln. Vielmehr stehen die Maschinerie und die Arbeitsprozesse, ebenso wie ihre Einrichtung, in einer engen Beziehung zu den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen. Entwicklung, Auswahl, Einführung und Nutzung einer gegebenen Technologie resultieren aus ökonomischen und politischen Faktoren - und nicht aus einer vermuteten technischen Überlegenheit. Daher reflektiert der Kampf um den Einsatz 'angemessener' Technologie in einer vorgegeben Gesellschaft das Streben nach einem gleicheren und gerechteren gesellschaftlichen Leben (vgl. 1979a; 1980; 1984; 1985a; 1988). Unter diesem Gesichtspunkt weist Rattner die Konzeption des Transfers fortgeschrittener Technologie in Entwicklungsländer als die optimale und neutrale Lösung für das Entwicklungsproblem zurück. Da sich Technologie nicht nur auf technische Prozesse, sondern auf alle eingesetzten Ressourcen in einer bestimmten Gesellschaft, die sich bemüht ihre Subsistenz und ihre Reproduktion zu sichern, bezieht, bringen technologische Änderungen notwendigerweise kulturelle Änderungen mit sich und wirken sich auf die soziale Struktur sowie auf die Verteilung von Macht,

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Rattner, Heinrich Wohlstand und Prestige innerhalb der Gesellschaft aus. Die vornehmlich mit Hilfe ausländischer Direktinvestitionen von transnationalen Unternehmen ausgeübte Praxis des Transfers hochentwickelter, arbeitsparender und hohe Anfangsinvestitionen erfordernder Technologie von den Zentren in die Peripherieländer tendiert dazu, in letzteren die Einkommensungleichverteilung sowie die sozialen und kulturellen Ungleichheiten zu verschärfen. Dies verstärkt die Dominiening der Gesellschaft durch jene Gruppen, die diese neuen Technologien und ihre Anwendung in den Produktionsprozessen, in der Konsumtion, der Kommunikation und in der Entscheidungsfindung beherrschen. Der von Rattner vorgeschlagene Weg der Entwicklung beinhaltet die Anwendung zweier unterschiedlicher Technologietypen, vorausgesetzt, Entwicklungsländer weisen duale Gesellschaften auf: Die 'mittlere', d.h. arbeitsintensive Technologie sollte in der Landwirtschaft und in jenem Sektor, der Rohmaterialien direkt in Konsumgüter transformiert, angewandt werden, um die reichlich vorhandene Ressource (Arbeit) einzusetzen und so einen demographischen Druck auf die Städte und die damit einhergehenden sozialen Probleme zu vermeiden. Die modernere Technologie dagegen sollte im industriellen Sektor eingesetzt werden. In beiden Fällen muß die nationale Technologiepolitik jedoch an drei Zielen ausgerichtet sein: (1) Erweiterung der nationalen technologischen Fähigkeiten, um Technologien entwickeln zu können, die den jeweiligen nationalen Gegebenheiten 'angemessen' sind, d.h., diese Technologien sollen den nationalen kulturellen Werten, den Umweltbedingungen und den Grundbedürfnissen der unteren Gesellschaftsklassen entsprechen, während sie gleichzeitig die Abhängigkeit von ausländischer Technologie vermindern; (2) Kontrolle und Rationalisierung der Technologieimporte, die zu günstigeren Bedingungen für die Entwicklungsländer durchgeführt werden müssen; (3) Verstärkung der Anstrengungen in den Bereichen Erziehung und Ausbildung der Arbeitskräfte. Jedoch ist bei den gegebenen ökonomischen und sozialen Charakteristika des technologischen Wandels die Einführung dieser Politik nur bei einer gleichzeitigen Änderung in der Machtverteilung innerhalb der Gesellschaft und des Staates möglich.

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Unter denselben Gesichtspunkten hat Rattner von den 1980er Jahren an die Umweltproblematik in seine Arbeiten einbezogen. Umweltzerstörung ist die Folge einer Konzentration der produktiven Ressourcen in großen Einheiten, kontrolliert durch ein hochgradig zentralisiertes Management, das die Macht hat, die Kosten von Extemalitäten zu sozialisieren und sich selbst die Profite anzueignen, um so die Ertragsrate der Investitionen zu maximieren. In die entgegengesetzte Richtung weist das Konzept des 'Sustainable Development' im Sinne einer Verbesserung der Lebensbedingungen durch die Optimierung der Nutzung natürlicher Ressourcen bei einem minimalen Einsatz jener Faktoren, die ein Ungleichgewicht im Ökosystem hervorrufen. Rattner verwirft jedoch den ökonomischen und technischen Reduktionismus und baut die soziale und politische Dimension in das Konzept ein. Der Kampf für Sustainable Development ist weder das Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnis über die Vorteile eines natürlichen Gleichgewichts noch ein Ziel um seiner selbst Willen. Sustainable Development ist vielmehr ein Banner, unter dem sich die Zivilgesellschaft sammeln soll, um darauf zu drängen, Kosten und Nutzen des Produktionsprozesses sowie der Nutzung natürlicher Ressourcen verstärkt nach rationalen und egalitären Kriterien zu verteilen. Das Konzept muß wirtschaftliche Durchführbarkeit, soziale Gleichheit, ökologische Erhaltung und moralische Akzeptanz miteinander kombinieren. Rattner wählte Sustainable Development nicht nur als eines seiner Hauptforschungsgebiete (vgl. 1994), sondern wurde darüber hinaus in Brasilien der Koordinator eines von der Rockefeller-Stiftung finanzierten aktionsorientierten Programms, das zum Ziel hat, die gesellschaftlichen Führungsschichten und Meinungsführer auszubilden, um so einen Konsens über Umwelt- und Entwicklungsfragen zu erreichen; dies in der Absicht, Sustainable Development durchzusetzen und letztendlich lokale Handlungen in den weltweiten Kontext einzubinden. Einige der anderen Themen, mit denen sich Rattner in seiner Forschungsarbeit befaßte, waren die Rolle kleiner und mittlerer Unternehmen im Kontext oligopolistischer Kapitalakkumulation in einem Entwicklungsland (vgl. z.B. 1979b; 1985b), die städtische, regionale und soziale Planung (vgl. z.B. 1974; 1977), die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft (1956) sowie die kulturellen und de-

Redlich, Fritz Leonhard mographischen Charakteristika der jüdischen Bevölkerung sowohl in Brasilien als auch international (vgl. z.B. 1973; 1976). Mit Blick auf die geographische Ausrichtung orientierte sich seine Forschung an der Sorge um die Entwicklungsländer im allgemeinen und Brasilien im besonderen. Mehrfach arbeitete er als Berater der Vereinten Nationen, des Internationalen Arbeitsamtes, der Weltgesundheitsorganisation und der brasilianischen Regierung in den Bereichen Technologie, Entwicklung und Beschäftigung sowie später auch in Umweltfragen. Schriften in Auswahl: (1956) Condiföes de vida dos operärios na indiistria pesada, Säo Paulo. (1972) Industrializafäo e concentra^äo econömica em Säo Paulo, Rio de Janeiro. (1973) Nos caminhos da diäspora (als Hrsg.), Säo Paulo. (1974) Planejamento urbano e regional, Säo Paulo. (1976) Tradi^äo e mundan^a. A comunidade judaica de Säo Paulo,Säo Paulo. (1977) Planejamento e bem-estar social, Säo Paulo. (1979a) Brasil 1990. Caminhos alternatives de desenvolvimento (als Hrsg.), Säo Paulo. (1979b) Pequena e m£dia empresa no Brasil, 1963/1976 (als Hrsg.), Säo Paulo. (1980) Tecnologia e sociedade. Uma proposta para os paises subdesenvolvidos, Säo Paulo. (1984) Politica e gestäo de tecnologia, Säo Paulo. (1985a) Informätica e sociedade, Säo Paulo. (1985b) Pequena empresa. Ο compoprtamento empresarial na acumula(äo e na luta pela sobrevivincia (als Hrsg.), Säo Paulo/Brasilia. (1988) Impactos sociais da automa^äo. Ο caso do Japäo, Säo Paulo. (1994) Impactos ambientais. Minerafäo, metalurgia (als Hrsg.), Säo Paulo/Brasilia. Quelle: Β Hb II. RolfTraeger

Redlich, Fritz Leonhard, geb. 7.4.1892 in Berlin, gest. 21.10.1978 in Newton, Massachusetts Der Sohn eines wohlhabenden Berliner Textilkaufmanns absolvierte seit 1910 in Berlin und München zunächst ein Chemiestudium und legte 1912 an der TH Charlottenburg das Verbandsexamen für Chemiker ab. Anschließend studierte er in Berlin Nationalökonomie bei Gustav Schmoller, Heinrich Herkner und Ignaz Jastrow. Bei Herkner promovierte er im Sommer 1914 mit der Dissertation Die volkswirtschaftliche Bedeutung der deutschen Teerfarbenindustrie. Als Freiwilliger, Leutnant der Reserve und Führer einer Maschinengewehrkompanie nahm er vier Jahre lang am Ersten Weltkrieg teil. Nach der Revolution von 1918/19 schloB er sich als 'Vefnunftrepublikaner' Stresemanns Deutscher Volkspartei an. Entgegen seiner Neigung trat er in das Unternehmen seines Vaters ein, was ihn hinderte, sich frühzeitig einer wissenschaftlichen Laufbahn zuzuwenden. Bei den Zusammenkünften der von Friedrich v. Gottl-Ottlilienfeld geleiteten Staatswissenschaftlichen Vereinigung wurde sein Interesse auf die Geschichte des Unternehmertums gelenkt. 1927 schied er aus der Familienfinna aus, die wenig später in der Weltwirtschaftskrise unterging. Redlich leitete fortan als Geschäftsführer eine Absatzgenossenschaft der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG), fand aber daneben endlich Zeit für wissenschaftliche Arbeiten. Ein erster Habilitationsversuch mit einem handelsgeschichtlichen Thema scheiterte 1929 an Widerständen in der Fakultät gegen den Außenseiter, ein weiterer mit einer 1933 fertiggestellten Schrift über Reklame als geschichtliches und Ökonomisches Phänomen erwies sich nach der nationalsozialistischen Machtergreifung als aussichtslos. Im März 1936 emigrierte Redlich in die USA, weil ihm sein Abscheu vor dem neuen System einen Verbleib in Deutschland unmöglich machte. Nahezu mittellos fristete er zunächst ein entbehrungsreiches Leben, wandte sich aber sogleich wieder wissenschaftlicher Arbeit zu. An der Mercer University in Georgia erhielt er eine Dozentur, die er bis 1942 ausübte, vermochte aber auch Kontakte zur Harvard University zu knüpfen, wo -» Joseph A. Schumpeter und Frank Taussig ihn zur Fortsetzung seiner unternehmensgeschichtlichen Studien ermutigten. 1943 erwarb er die amerikanische Staatsbürgerschaft und erhielt im sel-

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Redlich, Fritz Leonhard ben Jahr eine Anstellung als Economic Analyst bei der Federal Public Housing Authority in Boston. 1948-50 war er Direktor der Wohnungsbehörde des Staates Massachusetts. Als Frucht mehr als zehnjähriger Arbeit legte Redlich 1947/51 die beiden umfangreichen Bände seiner Geschichte des frühen amerikanischen Bankwesens vor. Auf Einladung von Arthur H. Cole trat er 1950 als Senior Associate in das Research Center in Entrepreneurial History an der Harvard University ein, dem er bis zu seiner Emeritiening 1958 angehörte. Seine große Studie über den deutschen Militänintemehmer war die wohl bedeutendste monographische Leistung, die aus dem Center hervorging. Innerhalb kurzer Zeit gelangte Redlich hiemach auch in Deutschland zu bedeutendem Ansehen, das sich u.a. in Ehrendoktoraten der Universität Erlangen (1960) und der FU Berlin (1967) zeigte. 1964 erschien eine Sammlung seiner wichtigsten Aufsätze in deutscher Sprache. Kontakte mit zahlreichen deutschen Kollegen sicherten seinen wachsenden EinfluB auf die Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Bundesrepublik. Zu einer Rückkehr nach Deutschland konnte er sich aber trotz wiederholter Einladungen zu Vorträgen und Gastprofessuren nicht entschließen. Von einer bescheidenen Rente lebend, arbeitete und publizierte er mit ungebrochener Schaffenskraft bis ins hohe Alter. Redlich war gleichermaßen Wirtschafts- wie Sozialhistoriker. Im Mittelpunkt seines theoretischen Interesses stand der Versuch, die Vorzüge der in Deutschland erlernten historischen Arbeitsmethodik mit theoretischen Ansätzen der amerikanischen Sozialwissenschaften zu verbinden. Die Schnittstelle beider Sphären fand er im persönlichen Element des wirtschaftlichen Geschehens: in der historischen Erscheinung des Unternehmers. Die Unternehmer- und Unternehmensgeschichte, die er durch eine Vielzahl neuer Themen und Fragestellungen bereicherte, stand deshalb im Mittelpunkt seines Schaffens. Methodischer Ausgangspunkt des Historikers wie auch des Nationalökonomen und Sozialwissenschaftlers Redlich war aber stets der anschaulich-vergleichende, 'verstehende' Ansatz der deutschen Geisteswissenschaften, nicht die von starrer Methodik und mathematisch-statistischen Techniken geprägte angelsächsische Analytik. Mit den Mitteln der Typologie und des historischen Vergleichs versuchte er, der facettenreichen Gestalt des Unternehmers näherzukommen und so dem menschlichen Element in

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der Wirtschaftsgeschichte nachzuspüren. Den dieses ignorierenden kontrafaktischen Modellkonstruktionen der New Economic History trat er mit scharfer Kritik entgegen. In geringerem Maße Theoretiker als seine Vorbilder Max Weber, Werner Sombart und Schumpeter, übertraf Redlich letzteren durch seine weniger einseitige, wiiklichkeitsnähere Konzeption des Unternehmers als eines Wirtschaftsgestalters mit vielfaltigen Talenten und fast unbegrenzter Wandlungsfähigkeit. Von seinen jüngeren amerikanischen Kollegen war Alfred D. Chandler in seinem funktionell-typologischen Ansatz am stärksten durch ihn beeinflußt. Ein weiteres Thema, das Redlich intensiv beschäftigte und dem er mehrere einfühlsame Arbeiten widmete, war das Sichtbarwerden von Generationenfolgen in der Kulturgeschichte. Schriften in Auswahl: (1935) Reklame. Begriff, Geschichte, Theorie, Stuttgart. (1940) History of American Business Leaders, Bd. I: Theory/Iron and Steel / Iron Ore Mining, Ann Arbor. (1947/51) The Molding of American Banking, Men and Ideas, 2 Bde., Neudr. 1968, New York. (1956) De Praeda Militari, Looting and Booty 1500-1815, Wiesbaden. (1959) Anfänge und Entwicklung der Firmengeschichte und Unternehmerbiographie. Das deutsche Geschäftsleben in der Geschichtsschreibung, Göttingen. (1961) Recent Developments in American Business Administration and Their Conceptualization, in: Business History Review, Bd. 35, 1961, S. 1-27 (zus. mit A.D. Chandler). (1964) Der Unternehmer, Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Studien, Göttingen. (1964/65) The German Military Enterpriser and His Work Force, 2 Bde., Wiesbaden. (1973) Steeped in Two Cultures, A Selection of Essays, New York. Bibliographie: Fischer, W. (1979): Fritz Redlich (1892-1978): Ein Leben für die Forschung, in: Bankhistorisches Archiv, Bd. 5, S. 53-58.

Reinhardt, Hedwig Herrmann, W. (1979): Fritz Redlich. Nachruf, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Bd. 24, S. 1-9. Jaeger, Η. (1979): Fritz Leonhard Redlich, 18921978, in: The Business History Review, Bd. 53, S. 155-160. Kellenbenz, H. (1978): Nachruf Fritz Redlich, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 65, S. 598-602. Kellenbenz, H. (1982), Fritz Redlich (1892-1978), in: The Journal of European Economic History, Bd. U . S . 447-472. Ulimann, W. (1993): Der Einfluß Fritz Redlichs auf die historische Unternehmensforschung in Deutschland, Diplomarbeit im Fach Betriebswirtschaftslehre (ungedr.), Köln. Quellen: Β Hb Π ; ISL 1984. Hans Jaeger

dort zum Assistant Professor und 1958 zum Associate Professor auf. 1968 wechselte sie an das Bernard Μ. Baruch College (CUNY) über, wo sie 1972 Professor of Economy and Finance wurde. Diesen Rang bekleidete sie bis zu ihrer Emeritiening 1976. Hedwig Reinhardt gehört der American Economic Association und der American Finance Association an.

Schriften in Auswahl: (1929)

Grundfragen der deutschen öffentlichen Verschuldung, Berlin (phil. Diss.).

(1945)

On the Incidence of Public Debt, in: Social Research, Bd. 12, S. 205-226.

(1947)

Credit and Collection Management (zus. mit W.J. Shultz), New York (2. Aufl. 1954, 3. Aufl. Englewood Cliffs, N.J. 1962).

(1948)

The Great Debt Redemption 19461947, in: Social Research, Bd. 15, S. 170-193.

(1950)

Problems in Credits and Collections (zus. mit W J . Shultz), New York (2. Aufl. 1961, 3. Aufl. 1967).

(1957a)

Economics of Mercantile Credit. A Study in Methodology, in: Review of Economics and Statistics, Bd. 39, S. 463-467.

(1957b)

„Formula Plans" fiir Wertpapieranlagen, in: Österreichisches Bank-Archiv, Bd. 5, S. 374-379.

(1959)

Zur volkswirtschaftlichen Bedeutung des Warenkredits in den Vereinigten Staaten, in: Österreichisches BankArchiv, Bd. 7, S. 13-22.

(1966)

Economics of Mercantile Credit. Its Place among Nonfinancial and Financial Intermediaries, in: Business Perspectives, Bd. 3, S. 18-24.

(1969)

Lieferantenkredite und ihre marktund finanzwirtschaftliche Vermittlungsfunktion in den Vereinigten Staaten, in: Österreichisches BankArchiv, Bd. 17, S. 11-25.

Reinhardt, Hedwig, geb. 21.2.1906 in Mannheim Die Tochter eines promovierten Kaufmanns legte 1924 an einem Mannheimer Gymnasium die Reifeprüfung ab. Sie nahm 1924/25 ein Studium zunächst der Chemie, dann der Staats- und Sozialwissenschaften an der Universität Heidelberg auf. Ab 1925 studierte sie Wirtschaftswissenschaften an der Handelshochschule Mannheim. Dieses Studium schloB sie mit zwei Diplomprüfungen 1926 und 1927 ab. Von 1927 bis 1929 setzte sie ihr staats- und sozialwissenschaftliches Studium an der Universität Heidelberg fort. Hier wurde sie 1929 mit einer Dissertation über die öffentliche Verschuldung zum Dr. phil. promoviert. Von 1931 bis 1933 war Reinhardt als Gutachterin beim Reichssparkommissar (und Präsident des Rechnungshofs des Deutschen Reiches) Saemisch tätig. Über die folgenden Jahre liegen keine Informationen vor. 1938 verließ sie Deutschland. Sie ging zunächst nach Belgien, von wo aus sie 1939 über England in die Vereinigten Staaten übersiedelte. Im März 1941 wurde sie vom Deutschen Reich ausgebürgert. Sie erwarb die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1941 wurde Hedwig Reinhardt als Instructor of Economy and Finance Fakultätsmitglied am City College, New York (CUNY). 1945 bis 1946 war sie Research Economist bei der Federal Reserve Bank, New York. Danach setzte sie ihre Tätigkeit am City College, New York, fort; 1953 rückte sie

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Remak, Robert Erich Quellen: BHb II; Universitätsarchiv Heidelberg; American Men [and Women] of Science, Abt. Social and Behavioral Sciences, 10. Aufl. Tempe 1962, S. 888, 12. Aufl. New York/London 1973, S. 2028; Dictionary of International Biography 8, 1972, S. 1080; American Economic Review, Bd. 64, 1974, Nr. 5, S. 333, Bd. 79, 1989, Nr. 6, S. 392. Johann Heinrich Kumpf

Remak, Robert Erich, geb. 14.2.1888 in Berlin, vermutlich im Jahr 1942 im Konzentrationslager Auschwitz umgekommen; der Todestag ist unbekannt (Gedenkbuch 1986 sowie Hnl 1969, S. 191) Remak studierte Mathematik und Physik an den Universitäten Berlin, Marburg, Göttingen und Freiburg im Breisgau; zu seinen Lehrern zählten G. Frobenius, H.A. Schwarz und D. Hilbert. Er promovierte 1911 in Berlin mit einer Arbeit zum Thema Über die Zerlegung der endlichen Gruppen in indirekte unzerlegbare Faktoren. Im Ersten Weltkrieg diente er als Soldat. Seine Gesuche um Zulassung zur Habilitation wurden zweimal, 1919 und 1923, abgelehnt - „weniger aus fachlichen Gründen, sondern weil an der Art seines Auftretens AnstoB genommen wurde" (Biermann 1988, S. 209). Richard von Mises, ein Bruder des Ökonomen Ludwig von Mises, begründete seine Ablehnung u.a. wie folgt: „Bei seiner [Remaks] Nervosität wäre es ihm gewiss sehr schwer geworden, sich hier ohne weitere Schädigung seiner Gesundheit in der für ihn zu wünschenden Weise durchzusetzen". Angesichts einer wissenschaftlichen Tätigkeit ohne Arbeitseinkommen sah sich Remak dazu gezwungen, Anfang 1923 eine Stellung als Hilfsarbeiter bei der Deutschen Bank anzunehmen. Erst 1928 sollte ein neuer Antrag erfolgreich sein, ein Jahr darauf wurde Remak habilitiert. Mises setzte durch, daB seine Lehrbefugnis auf die reine Mathematik beschränkt wurde. Dies war jedoch folgenlos, wie das Veranstaltungsverzeichnis der Berliner Universität zeigt: Remak hielt u.a. Vorlesungen über Versicherungsmathematik sowie die Einführungsvorlesung in die Mathematik für Nationalökonomen. Auf Grund von §3 des 'Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' wurde ihm mit Schreiben des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 2.9.1933 die Lehrbefugnis

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an der Universität Berlin entzogen. Von November 1938 bis Januar 1939 war er im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Im März 1939 emigrierte er in die Niederlande. 1942 wurde er in Amsterdam festgenommen und nach Auschwitz (oder Sobibor) verbracht. In der Mathematik ist Remak vor allem durch seine Abhandlungen zur Gmppentheorie, zur Geometrie der Zahlen und zur Algebra bekannt geworden (1952-55). Zur Wirtschaftswissenschaft hat er, soweit bekannt, nur einen Aufsatz und eine sich daran anschließende Bemerkung beigesteuert (1929 und 1933). Der 1929 veröffentlichte Aufsatz trägt den Titel Kann die Volkswirtschaftslehre eine exakte Wissenschaft werden? Remak bejaht diese Frage grundsätzlich, vertritt jedoch die Auffassung, daß die zeitgenössische Nationalökonomie, die er durch die Principles von Alfred Marshall repräsentiert sieht, auf dem falschen Wege sei. Die Konzepte des Grenznutzens und der Nachfragekurve können „weder experimentell noch theoretisch in quantitativer Weise" bestimmt werden und seien daher für eine Wissenschaft, die nur das als „exakt richtig" begreife, was physisch beobachtet, gezählt oder gemessen werden könne, unbrauchbar (1929, S. 711 f.). Ähnlich Wassily Leontief, der in den späten zwanziger Jahren an derselben Universität bei Ladislaus von Bortkiewicz eine Dissertation anfertigte, vertritt Remak eine „naturalistische" Sicht in der Werttheorie. Den durch Angebot und Nachfrage bestimmten Preisen der Marginaltheorie stellt er das Konzept der 'superponierten Preissysteme' gegenüber. Ein derartiges System erfülle die folgende doppelte Bedingung: Jeder Preis deckt die Kosten der in der Erzeugung der betreffenden Ware verbrauchten Produktionsmittel und darüber hinaus den als „möglich und gerecht" angesehenen Konsum des Produzenten (1929, S. 712). Mit anderen Worten, das so konstruierte System der relativen Preise spiegelt einerseits die geltenden technischen Bedingungen der Produktion der verschiedenen Waren wider und andererseits eine Regel oder Norm, die die Verteilung des zu Konsumzwecken verfügbaren Überschusses festlegt. Remak formalisiert das System der superponierten Preise für einen einfachen Fall reiner Einzelproduktion und beweist, daß es eine semipositive und bis auf ein skalares Vielfaches eindeutige Lösung besitzt. Beim betrachteten Modell handelt es sich offenbar um die Konstruktion einer Art idealen Ökonomie; das verwendete Preiskonzept steht in der Traditi-

Remak, Robert Erich on des juslum pretium der ökonomischen Scholastik. Es liefert Remak das Ma£, anhand dessen er die wirkliche kapitalistische Wirtschaft zu beurteilen versucht. Die Hauptaufgabe einer exakt konzipierten Volkswirtschaftslehre bestehe nämlich darin, den ideologischen Streit Uber alternative wirtschaftliche Ordnungen, über Kapitalismus oder Sozialismus, zu entscheiden (1929, S. 704). Remak zufolge sind in diesem Zusammenhang zwei Fragen zu klären. Die erste lautet: Kann fQr eine sozialistische Wirtschaft überhaupt ein System „vernünftiger" Preise ermittelt werden? Sollte diese Frage verneint werden, so scheide die sozialistische Alternative als undurchführbar aus. Beim Nachweis der Existenz eines derartigen Preissystems handele es sich um eine im mathematischen Sinn „notwendige Bedingung" dafür, daß eine „zweckmäßige" Wirtschaft ohne Arbeitslosigkeit und Krisen möglich ist (1933, S. 840). Remak glaubt mit seinem Konzept der superponierten Preise diesen Nachweis erbracht zu haben. Er gibt überdies seiner Überzeugung Ausdruck, daß angesichts der Fortschritte bei der Entwicklung elektrischer Rechenmaschinen das technische Problem der numerischen Lösung großer linearer Gleichungssysteme bald überwunden sein werde. Nachdem Remak zufolge die Möglichkeit des Sozialismus, d.h. einer effizienten und gerechten Gesellschaft, ansatzweise erbracht ist, wendet er sich der zweiten und von ihm als weit schwieriger bezeichneten Frage zu: Läfit sich exakt nachweisen, daß und warum der Kapitalismus statisch und dynamisch nicht 'extremal' ist, d.h. das jeweils verfügbare Produktions- und Innovationspotential nicht optimal nutzt (1933, S. 706 und 721 f.). Die Wirklichkeit - es ist die Zeit der Weltwirtschaftskrise - bestätige augenscheinlich und unzweifelhaft den nicht-extremalen Charakter der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Was sind die Ursachen für Massenarbeitslosigkeit, Krisen und soziales Elend? Remaks Erörterung dieser Frage ist zuweilen ziemlich dunkel, aber zwei von ihm angeführte Gründe stechen deutlich hervor: erstens die Rolle, die das Geld im Kapitalismus spielt, und zweitens die Verteilung der Kaufkraft zwischen Kapitaleignem und Arbeitern. Seine Erklärung der Grundübel des Kapitalismus verwebt zwei Momente miteinander, das der Fehlkalkulation und jenes der Unterkonsumtion: Die Preise der verschiedenen Waren ergeben sich im Kapitalismus durch zwei Arten von Aufschlägen auf die

Produktionskosten: einem allgemeinen Aufschlag in Höhe des geltenden (langfristigen) Zinssatzes und einem von den einzelnen Firmen bzw. Branchen unabhängig von den anderen festgelegten mark up. Dies hat zwei Effekte: Zum einen wird Kaufkraft von den Arbeitern weggesteuert und es ergibt sich das Problem eines Mangels an effektiver Nachfrage. Zum anderen gibt es keinen Grund zur Annahme, daß sich bei der geschilderten privat-dezentralen Kalkulation der Preise eine Struktur der effektiven Nachfrage ergibt, die mit der Struktur der Produktionskapazitäten harmoniert Unterkonsumtion und Disproportionalitäten sind die Folge (1933, S. 733 f.). Die abschließende Frage lautet, ob durch einen Übergang von einem kapitalistischen System der Preise zu superponierten Preisen das Problem der mangelnden Nutzung der produktiven Ressourcen überwunden weiden kann. Remak sieht deutliche Hinweise darauf, daß dem so ist Wie er in dem 1933 veröffentlichten Nachtrag zu seinem Aufsatz schreibt, würde eine Verringerung der Aufschlagsätze und damit der Profite, d.h. eine Annäherung an das System der „vernünftigen" Preise, einen Weg aus der Depression weisen. Remaks wirtschaftstheoretische Arbeiten haben zur Zeit ihrer Veröffentlichung und auch danach zunächst wenig explizite Beachtung gefunden. Sein Modell der Produktion und produktiven Konsumtion wird von Gale (1960, S. 290) erwähnt, aber als reines n-Personen Tauschmodell mit gegebenen Anfangsausstattungen der Akteure mißverstanden. Wittmann (1967) deutet Remak als Begründer der Aktivitätsanalyse und ist bemüht, das intellektuelle Umfeld Remaks in dessen Berliner Zeit zu beleuchten. Nach den ihm von früheren Freunden und Kollegen Remaks gegebenen Informationen ist Remak vermutlich von Schülern des Statistikers und Nationalökonomen Ladislaus von Bortkiewicz die Frage nach der Lösbarkeit von Systemen linearer (Preis-)Gleichungen vorgelegt worden. Diese Frage beschäftigte sowohl Ökonomen in der Tradition eines Karl Marx, die sich mit dem Problem der 'Transformation' von (Arbeits-)Werten in Produktionspreise herumschlugen, als auch solche in der Tradition eines Leon Walras und vor allem Gustav Cassel, die die Bedingungen der Existenz und Nichtnegativität von Preissystemen studierten. Interessanterweise war in der Zeit von 1927 bis 1929 unter Remaks Kollegen am Mathematischen Institut der Universität Berlin auch John von

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Reuss, Frederick Gustav Neumann. Von Wittmann (1967, S. 407 f.) wissen wir, daß Remak seinen Aufsatz anläßlich eines Treffens der Berliner Mathematischen Gesellschaft vortrug und dieser auch am Mathematischen Institut diskutiert wurde. Wittmanns Recherchen zufolge stießen Remaks Argument und seine Schlußfolgerungen im Kollegenkreis auf Ablehnung. Es gibt Hinweise darauf, daB zu den Kritikern auch John von Neumann gezählt hat. Dieser trug Anfang 1932 im Mathematischen Seminar der Universität Princeton eine Fassung seines schließlich 1937 veröffentlichten Aufsatzes Über ein ökonomisches Gleichungssystem und eine Verallgemeinerung des Brouwerschen Fixpunktsatzes vor. Eine genaue Textanalyse der beiden Aufsätze bringt Erstaunliches ans Licht (vgl. Kurz und Salvadori 1993). In beiden Arbeiten geht es um die Effizienz bzw. Inefifizienz des 'normalen' Preisbildungsmechanismus im Kapitalismus. Während Remak in diesem Mechanismus die letzte Ursache von Dysfunktionalitäten erblickt, gelangt von Neumann zum Ergebnis, daß dieser effizient ist. In beiden Aufsätzen spielen knappe natürliche Ressourcen, die in der neoklassischen Theorie im Vordergrund stehen, keine Rolle. Beide Autoren konzentrieren sich auf Systeme der Produktion von Waren mittels Waren in der Ruhelage eines Reproduktionsgleichgewichts. In jeder weiteren Hinsicht ist von Neumanns Modell jedoch allgemeiner als Remaks. Während Remak nur Einzelproduktion thematisiert und eine stationäre Ökonomie unterstellt, geht von Neumann von universeller Kuppelproduktion aus und diskutiert eine gleichschrittig expandierende, d.h. 'quasi-stationäre' Ökonomie. Während Remak annimmt, daß für jedes Produkt nur ein technisches Produktionsverfahren existiert, thematisiert von Neumann das Problem der Wahl der kostenminimierenden Technik. Darüber hinaus zeigt von Neumann, daß der allgemeine Aufschlagsatz des Systems, der uniforme Zinssatz, für gegebenen Reallohnsatz endogen bestimmt ist, ein Problem, dem sich Remak nicht gestellt hatte. Die Deutung, daß von Neumanns Modell u.a. auch eine implizite Antwort auf den Entwurf seines Kollegen Remak enthält, liegt daher nahe. Schriften in Auswahl: (1929) Kann die Volkswirtschaftslehre eine exakte Wissenschaft werden?, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 131, S. 703-735.

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(1933)

(1952-55)

Können superponierte Preissysteme praktisch berechnet werden?, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 138, S. 839-842. Die Gnmdlehren der mathematischen Wissenschaft (als posthumer Mithrsg.), 2. Aufl., Berlin.

Bibliographie: Biermann, K.-R. (1988): Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität 1810-1933. Stationen auf dem Wege eines mathematischen Zentrums von Weltgeltung, Berlin. Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945 (1986), bearb. vom Bundesarchiv Koblenz und dem Internationalen Suchdienst, Arolsen. Gale, D. (1960): The Theory of Linear Economic Models, New York. Kurz, H.D., Salvadori, N. (1993): Von Neumann's Growth Model and the 'Classical' Tradition, in: The European Journal of the History of Economic Thought, Bd. 1, S. 129-160. Neumann, J. von (1937): Über ein ökonomisches Gleichungssystem und eine Verallgemeinerung des Brouwerschen Fixpunktsatzes, in: Ergebnisse eines mathematischen Kolloquiums, hrsg. von K. Menger, Bd. 8, S. 73-83. Pinl, M. (1969): Kollegen in einer dunklen Zeit, in: Jahresbericht der Deutschen Mathematischen Vereinigung, Bd. 71, S. 167-228. Wittmann, W. (1967): Die extremale Wirtschaft. Robert Remak - ein Vorläufer der Aktivitätsanalyse, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 180, S. 397-409. Quellen: Β Hb O; Walk. Heinz D. Kurz

Reuss, Frederick Gustav, geb. 5.7.1904 in Würzburg, gest. 3.12.1985 in Baltimore Von 1922 bis 1929 studierte Reuss an den Universitäten Würzburg, Kiel und München Nationalökonomie und Rechtswissenschaft. Promoviert zum Dr. iur. (1927, München) und zum Dr. rer. pol. (1929, Würzburg) arbeitete er in Deutschland zunächst als Ökonom im Reichs-Finanzministerium und im Verkehrsministerium, bevor er zur Viktoria Lebensversicherung ebenfalls in Berlin wechselte. Nach seiner Emigration in die USA im

Reuss, Frederick Gustav Jahre 1938 besuchte er zunächst die Catholic University of America in Washington, D.C., um anschließend von 1939 bis 1941 als Professor für Volkswirtschaftslehre am St. Francis College in Loretto, Pennsylvania, zu lehren. Über eine zweijährige Professur an der Xavier University in New Orleans führte ihn 1943 sein Weg zurück nach Washington. Bis 1946 blieb er in der volkswirtschaftlichen Abteilung der U.S. Social Security Administration. Danach kehrte er in die akademische Laufbahn zurück. Bis zu seiner Emeritiening 1971 hielt er eine Professur am Goucher College in Towson, Maryland; zunächst als Associate Professor, ab 1952 als Full Professor und später gar als Department Chairman. Gleichzeitig wirkte er auch noch an anderen Universitäten. So war Reuss von 1948 bis 1959 Lecturer an der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland, und von 1949 bis 1962 Lecturer am Loyola College ebenfalls in Baltimore. Das akademische Jahr 1965/1966 verbrachte er als Fulbright Fellow an der University of Bangalore in Indien. Das 1963 erschienene Fiscal Policy for Growth without Inflation - The German Experience kann sicherlich als das Hauptwerk von Reuss gelten. Aus der kritischen und fachkundigen Distanz des Emigranten heraus analysiert er die Fiskalpolitik seines Geburtslandes. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Erfolgen, welche die deutschen Nachkriegsregierungen bei der fiskalpolitischen Steuerung des Wiederaufbaus für sich in Anspruch nehmen dürfen. Er weist dabei besonders auf die geschickte Investitionsförderung hin, die gekoppelt mit Maßnahmen zur Ankurbelung der privaten Spartätigkeit das Fundament für einen zügigen Aufbau des Kapitalstocks bildete. Es geht ihm besonders darum zu zeigen, wie in geeigneten Phasen staatliche Eingriffe zur makroökonomisch orientierten Lenkung und Steuerung der Wirtschaftsubjekte maßgeblich Wirtschaftswachstum fördern oder gar erst ermöglichen können. Er weist ganz ausdrücklich auf die Notwendigkeit einer engen Verknüpfung des legislativen Prozesses mit administrativen Abläufen hin. Bemerkenswert ist dabei auch die enge Verzahnung seiner theoretischen Analysen mit empirischen Untersuchungen; seinen Schwerpunkt legt er auf die primäre Datenerhebung in Interviews und Befragungen. Weitere Arbeiten von Reuss umfassen ein weites Themenspektrum. 1957 erschien das Lehrbuch Money and Banking, für das er als Co-Autor verantwortlich zeichnete. In einzelnen Aufsätzen be-

schäftigte er sich mit Themen, die eher seine Beziehung zur Sozialwissenschaft unterstreichen. 1947 zum Beispiel untersuchte er den 'Railroad Retirement Act' und seine Auswirkungen auf das gesamte Sozialversicherungssystem in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Neben den Publikationen war die Lehrtätigkeit für Frederick Gustav Reuss von fast noch höherer Priorität. Seine erfolgreiche, von Kollegen und Studenten geschätzte Lehrtätigkeit an verschiedenen Colleges mag dafür Beleg sein. Die wissenschaftliche Arbeit von Reuss war geprägt von der Überzeugung, daß dem Staat eine aktive Rolle im Wirtschaftsgeschehen zukommt. Aktiv nicht nur bei der Gestaltung und Steuerung des Wirtschaftswachstums, sondern auch bei der Fürsorge für schwache und unteiprivilegierte Mitglieder der Gesellschaft. Er verbindet damit, für seine Zeit nicht untypisch, den Interventionsoptimismus keynesianischer Prägung mit einem sozialen Verantwortungsgefühl, welches über das bei seinen Zeitgenossen übliche Maß hinausgeht. Er erkennt allerdings auch Grenzen und Gefahren der staatlichen Eingriffsmentalität. Seine Betrachtungen zur Anfang der sechziger Jahre aufflammenden Phillips-Kurven-Diskussion sind dafür ein deutlicher Beleg. Reuss bindet die Erfolgsaussichten einer staatlichen Nachfragelenkung nicht nur in den historischen Zusammenhang ein, er verweist auch, fast im Sinne der 'Neuen Institutionenökonomik', auf die gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen, die erfüllt sein müssen, um keynesianisch orientierter NachfrageSteuerung nachhaltig zum Erfolg zu verhelfen. Schriften in Auswahl: (1947) The Amended Railroad Retirement Act and the Old-age and Survivors' Insurance System Under the Social Security Act, in: Social Forces, Bd. 25, S. 446-451. (1957) Bank Investments (zus. mit M.H. McCann), in: Money and Banking. A Collaborative Writing Group of Money and Banking Professors, New York u.a., S. 157-168. (1963) Fiscal Policy for Growth Without Inflation - The German Experience, Baltimore. Quellen: Β Hb II; AEA. Rolf Daxhammer

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Richter, John Η. Richter, John Η. (Richter-AltschäfFer, Hans), geb. 23.6.1901 in Mödling bei Wien, gest. 21.9.1976 in McLean, Virginia Richter begann seine Laufbahn im Jahre 1924 als landwirtschaftlicher Assistent an der amerikanischen Botschaft in Wien. Von dort ging er an die amerikanische Botschaft in Berlin, wo er als Berater in Landwirtschaftsfragen tätig war. Während seiner Tätigkeit an der US-Botschaft knüpfte er enge wissenschaftliche Kontakte mit dem von -» Karl Brandt geleiteten Institut für landwirtschaftliche Marktforschung an der Universität Berlin, die zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des Instituts, vor allem -+ Arthur Hanau und -» Naum Jasny fühlten. Diese Zusammenarbeit gründete sich nicht nur auf das gemeinsame Interesse an den agrarökonomischen Fragestellungen, sondern auch an deren methodischer Bearbeitung. Richters groBe Begabung auf dem Gebiet statistischer Methoden befähigte und veranlaßte ihn dazu, eine Schrift über die Technik der Korrelationsanalyse zu verfassen, die in erster und dann in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung in der vom Institut herausgegebenen Schriftenreihe fiir landwirtschaftliche Marktforschung als erstes (1931) und fünftes Heft (1932) veröffentlicht wurde. In dieser Kapazität wirkte er auch zeitweilig an der amerikanischen Botschaft in Belgrad. 1936 promovierte er an der Universität Berlin mit einer Arbeit Volkswirtschaftliche Theorie der öffentlichen Investitionen. Im Jahre 1938 muBte Richter wegen der sogenannten 'rassischen' Abkunft seiner Frau Deutschland verlassen. Er blieb zwei Jahre in England und kam im Jahre 1940 nach Washington, wo er als Beamter in das Office of Foreign Agricultural Relations (OFAR) des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums eintrat. In der Nachfolgeorganisation dieses Büros, dem Foreign Agricultural Service war Richter Direktor der European Analysis Branch, einer Forschungsabteilung, die sich mit allen Aspekten der europäischen Landwirtschaft befaBte. In der SchluBphase des Krieges wirkte Richter in London im Rahmen eines Studienausschusses der Alliierten an der Vorbereitung von Plänen für die Lebensmittelversorgung Westeuropas nach der Befreiung. Während zweier Jahre nach Kriegsende war Richter Wirtschaftsberater des amerikanischen Oberbefehlshabers General Clark und als

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solcher Mitglied des Alliierten Rates in Österreich. Richter vertrat das amerikanische Landwirtschaftsministerium in vielen Sitzungen der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) und in vielen anderen internationalen Organisationen. Im Zusammenhang mit dem Marshall-Plan war er Vorsitzender der amerikanischen Delegation in den Sitzungen des Landwirtschaftskomitees der OECD. Er vertrat die Vereinigten Staaten auch in vielen Sitzungen des GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen). In den letzten Dienstjahren war Richter Hauptberater des Foreign Agricultural Service. Er verließ den Regierungsdienst im Jahre 1962. Im Jahre 1963 wurde er zuerst Berater und dann nordamerikanischer Direktor der Internationalen Föderation landwirtschaftlicher Produzenten (BFAP) und Herausgeber des Journals World Agriculture. Er trat 1971 in den Ruhestand. Richter galt als Autorität auf dem Gebiet der europäischen Landwirtschaft. Auf Grund von persönlichen Beobachtungen, aber vor allem auf Grund von umfassenden theoretischen Studien des Zusammenhanges verschiedener in der Landwirtschaft wirkender Kausalfaktoren entwickelte er neue analytische Methoden, die eine realistische Erfassung des Standes der Agrarproduktion und der Versorgungslage mit Lebensmitteln in den Nachkriegsjahren möglich machten. Er war daher eminent befähigt, in der European Analysis Branch die Untersuchungen über die Einfuhrbedürfnisse der europäischen Länder zu leiten. Die amerikanische Lebensmittelhilfe unter dem Marshall-Plan beruhte auf den Ergebnissen dieser Arbeiten. Richters bedeutendstes theoretisches Werk führte den Titel Volkswirtschaftliche Theorie der öffentlichen Investitionen, worin er manche Gedanken entwickelte, die Keynes in seiner im gleichen Jahr 1936 erschienenen General Theory vorgetragen hat. Dieses Werk wurde zwar noch in Deutschland verlegt, fand aber nicht das Interesse der so einseitig 'historisch' ausgerichteten deutschen Nationalökonomen und fiel wohl auch der politischen Entwicklung in Deutschland zum Opfer. Spätere Kritiken bezeichneten es als eines der bedeutendsten volkswirtschaftlichen Werke der dreißiger Jahre. Richter besaB aber nicht nur wirtschaftstheoretisch orientierte Neigungen, wie in dieser bedeutenden Untersuchung dokumentiert, sondern auch eine exzellente Begabung für statistische Metho-

Richter, Lothar den und deren Anwendung, was sich mit seinem Interesse an landwirtschaftlichen Fragen verband und ihn so erfolgreich in der Analyse und Prognose agrarökonotnischer Bedingungen und Entwicklungen werden ließ. Zeugnisse seiner methodischen Leistungen sind seine oben erwähnten Berliner Arbeiten zur Konelationsanalyse. Seine agrarökonomischen Interessen sind in den zahlreichen, vielfach unveröffentlichten Analysen und Berichten Uber die Landwirtschaft, die Ernährungssituation, die Agrarpolitik in Westeuropa sowie den internationalen Agraihandel dokumentiert. Im Zusammenhang mit dem Marshall-Plan schrieb Richter im Jahre 1951 einen Bericht über Food an Agriculture in the European Recovery Program. Sein 1964 erschienenes Werk Agricultural Protection and Trade enthält Vorschläge für Verhandlungsmetboden und Verhandlungsziele auf dem Gebiet der Landwirtschaft in der damals stattfindenden Kennedy-Runde sowie die Suche nach vernünftigen Kompromissen zwischen Freihandel und Schutzpolitik im internationalen Verkehr mit Agrarprodukten.

Schriften in Auswahl: (1931)

Einführung in die Korrelationsrechung (= Schriftenreihe des Instituts für landwirtschaftliche Marktforschung, Heft I), Berlin.

(1932)

Theorie und Technik der Korrelationsanalyse (= Schriftenreihe des Instituts für landwirtschaftliche Marktforschung, Heft S), Berlin.

(1936)

Volkswirtschaftliche Theorie der öffentlichen Investitionen, München/ Berlin (Diss.). Food an Agriculture in the European Recovery Program, U.S. Economic Cooperation Administration, Paris. Technological Factors in the Expansion of Agricultural Production in West Europe (zus. mit Κ. Friedmann und L. Bacon), Washington. Agricultural Production and Trade.

(1931)

(1957)

(1964)

Proposals for an International Policy, New York.

(1974)

World Food Crisis and Agricultural Trade Problems (zus. mit Ε. de Vries), Center for Strategie an International Studies, Washington Paper, Nr. 17, Beverly Hills.

Quelle: BHb Π. Emest Koenig

Richter, Lothar, geb. 22.8.1894 in Myslowitz b. Kattowitz, gest. 11.11.1948 in Halifax, Nova Scotia Nachdem Richter 1912 das Zeugnis der Reife am humanistischen Gymnasium in Myslowitz erhalten hatte, studierte er in Berlin und Breslau Rechts- und Staatswissenschaften, um wie sein Vater Paul, ein Justizrat, Rechtsanwalt und Notar, die juristische Laufbahn einzuschlagen. 1915 promovierte er in Breslau bei R. Leonhaid und R. Schott mit der Arbeit Die Form der Verträge, die Grundstiicksverkäufe abändern (1916) zum Dr.iur. Bevor er 1916 das Referendariat antrat, studierte Richter noch für ein Semester Theologie, Philosophie und Pädagogik an der Universität Leipzig. An die Referendarszeit und einen einjährigen Studienaufenthalt in Frankreich und England schloB sich eine Tätigkeit als Geschäftsführer des Kreiswohlfahrtsamtes in Landeshut in Schlesien, dem heutigen Kamienna Göra, an. Auf den dort gesammelten Erfahrungen basierte seine Schrift Kreiswohlfahrtsamt und ländliche Wohlfahrtspflege (1919), mit der er - wiederum in Breslau - bei Adolf Weber den Dr.rer.pol. erwarb; zugleich bildete sie den Ausgangspunkt für Richters weitere berufliche und wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der Sozialpolitik. Von 1920 bis 1933 war er im Reichsarbeitsministerium beschäftigt, wo er zunächst in der Wohlfahrtsabteilung, später als Oberregierungsrat in der Sozialversicherungsabteilung u.a. an der Ausarbeitung von Gesetzen im Bereich des Gesundheitswesens, der Arbeitslosen- und der Arbeitsunfallversicherung beteiligt war. Neben juristischen Kommentaren zu den neuen Gesetzen (vgl. z.B. 1927) publizierte Richter ab 1930 auch mehrere Artikel, in denen er das soziale Sicherungssystem in Deutschland mit der Sozialversicherung in England, Frankreich und den USA verglich. Darüber hinaus war er in leitender Funktion für die Volkshochschule in Elsinore, Dänemark, tätig und un-

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Richter, Lothar tenichtete am lutherischen St. Johannis-Stift in Berlin. Nach der aus sog. rassischen Gründen erfolgten Entlassung aus dem Staatsdienst emigrierte Richter 1933 zunächst nach Großbritannien, wo er an der University of Leeds Forschungsarbeiten durchführte. Im darauffolgenden Jahr siedelte er nach Kanada über und wurde zunächst mit Unterstützung der Carnegie Corporation Professor für Germanistik an der Dalhousie University in Halifax. 1936 erhielt er an derselben Universität eine Professur fur Wirtschafte- und Politische Wissenschaften und war noch im gleichen Jahr einer der Gründer des dortigen Institute of Public Affairs, dessen Leitung er anschließend inne hatte. Da in seinem Emigrationsland Kanada das System der sozialen Sicherung nach der Weltwirtschaftskrise erst im Aufbau begriffen war, konnte Richter die in Deutschland gewonnene praktische Erfahrung auf dem Gebiet des Sozialversichemngswesens und der Sozialpolitik für eine akademische Karriere nutzen. Dies wird aus seinen zahlreichen Schriften zur Arbeitslosen- und Krankenversicherung deutlich, in denen er sich bei der Beurteilung des kanadischen Systems häufig auf die Konstruktionsprinzipien aber auch die Probleme der sozialen Sicherung in Deutschland und in anderen europäischen Ländern bezog (vgl. z.B. 1935; 1944). Dabei bot filr ihn das Sozialversicherungsprinzip zum einen die Möglichkeit, jene Lebensrisiken im ökonomischen Bereich kollektiv abzusichern, die von privaten Versicherungen, die entsprechend der individuellen Risikozuweisung aufgebaut sind, für breite Bevölkerungsschichten ungenügende Leistungen anbieten oder zu teuer sind. Zum anderen sah Richter in der Einbeziehung der Arbeitgeber und des Staates in die Beitragspflicht ein Mittel, die soziale Verantwortung auch der Unternehmen gegenüber der Arbeitnehmerschaft zu verwirklichen und damit einen Beitrag zum sozialen Frieden sowie zur Stabilität des Gesellschaftssystems zu leisten. Aufgrund der hohen Defizite in der deutschen und englischen Sozialversicherung in den 1930er Jahren plädierte er jedoch für den selektiven Einbau von Elementen aus der privatwirtschaftlichen Individualversicherung wie Wartezeiten, die Koppelung der Versicherungsleistungen an die Beitragshöhe und den AusschluB extrem schlechter Risiken (vgl. 1935). Das Problem des Moral Hazard bei den Versicherungsnehmern hatte Richter zwar erkannt (vgl. 1944, S. 194), diskutierte es jedoch nicht ausführ-

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licher, obwohl er aufgrund empirischer Untersuchungen festgestellt hatte, daß die Nachfrage nach Versicherungsleistungen im Gesundheitswesen nach Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung deutlich anstieg (vgl. ebd., S. 195ff.). Die von Richter 1937 gegründete Institutszeitschrift Public Affairs sollte dazu beitragen, die sozialen und ökonomischen Probleme, die das gesellschaftliche Leben beeinflussen, zu diskutieren und einer breiteren Öffentlichkeit nahezubringen. Darüber hinaus wollte er durch die enge Zusammenarbeit mit der öffentlichen Verwaltung die Kooperation zwischen Universität und regionalen Verwaltungsorganen fordern sowie deren Arbeit effizienter gestalten. Er führte im Auftrag des Bundesstaates Nova Scotia zahlreiche, z.T. empirische Untersuchungen durch, deren Ergebnisse auch in Public Affairs veröffentlicht wurden (vgl. z.B. die Studie über Jugendarbeitslosigkeit, 1937). Zwei aus Mitteln der Rockefeiler und der Carnegie Stiftung geförderte Forschungsvorhaben konnte er nicht mehr zu Ende fuhren. Richter, dessen Arbeiten zunehmend auch außerhalb des kanadischen Ostens Beachtung gefunden hatten, starb bei einem Verkehrsunfall. Schriften in Auswahl: (1916) Die Form der Verträge, die Grundstücksveräußerungen abändern. Breslau (iur. Diss.). (1919) Kreiswohlfahrtsamt und ländliche Wohlfahrtspflege. Die Organisation der Wohlfahrtsarbeit in den Landkreisen, Berlin (rer.pol. Diss.). (1927) Das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter mit den einschlägigen Vorschriften, Berlin; 2. erw. Aufl. 1931. (1935) The Employment and Social Insurance Bill, in: Canadian Journal of Economics and Political Science, Bd. I (3), S. 436-448. (1937) Youth on Relief. Preliminary Results of a Survey in Halifax, in: Public Affairs, Bd. 1 (1), S. 8-10. (1939) Canada's Unemployment Problem (als Hrsg.), Toronto. (1944) The Effect of Health Insurance on the Demand for Health Services, in: Canadian Journal of Economics and Political Science, Bd. 10 (2). S. 179205.

Rieger, Philipp Quellen: Β Hb II; SPSL 237/5; Bates, S. (1948): Obituary, in: Canadian Journal of Economics and Political Science, Bd. 15, S. 543-544. Hans Ulrich Eßlinger

Rieger, Philipp, geb. 3.1.1916 in Wien Der Vater Dipl. Ing. Jakob Rieger, Anlagenbautechniker, stammte aus der Slowakei, die Mutter Stephanie geb. Loth, aus Prag. Nach Absolvierung des Gymnasiums studierte Rieger an der Universität Wien Rechtswissenschaften. Von 1933 bis 1938 war er in der illegalen sozialistischen Mittelschüler- und Studentenbewegung tätig. Nach der Besetzung Österreichs durch Hitler-Deutschland wurde Rieger - zusammen mit seinem Vater verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Nach seiner Entlassung konnte er nach England flüchten. 1940 wurde Rieger als 'enemy alien' interniert und später nach Kanada deportiert. Erst 1942 konnte er wieder nach England zurückkehren. Um eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu finden, erlernte er den Beruf eines Instmmentenmachers und war 1942 bis 1947 als Monteur, später bei der Austrian Travel Agency beschäftigt. Rieger betätigte sich gewerkschaftlich als Shop Steward und als Mitglied der Amalgamated Engineering Union sowie als Mitglied der Vereinigung österreichischer Gewerkschafter in England. Er gehörte dem Austrian Labour Club, der Labour Party und der Fabian Society an. Neben seinem Beruf widmete sich Rieger dem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität London, wo er 1947 den Grad eines B.Sc.Economics (Hons.) erwarb. Danach studierte er an der London School of Economics. 1952 bis 1957 war Philipp Rieger als Education Officer bei der Pakistan High Commission tätig. Dabei oblag ihm die Betreuung von etwa 200 pakistanischen Studenten, Beamten, Lehrlingen und anderen Arbeitskräften, die sich zur Ausbildung in England aufhielten. 1957 kehrte Philipp Rieger nach Österreich zurück, nachdem ihm von Stefan Wirlandner, damals Direktor der Wiener Arbeiterkammer, mit dem Rieger gemeinsam ein Jahr in kanadischer Internierung verbracht hatte, eine Stelle in der damals neu aufgebauten wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Kammer angeboten worden war. 1960 erwarb er an der Universität Wien den Grad eines Dr.rer.pol. Rieger wurde später zum

Leiter der statistischen Abteilung der Arbeiterkammer berufen und war ab 1963 erster Geschäftsführer des neu eingerichteten Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen, eines Unterausschusses der Paritätischen Kommission für Preisund Lohnfragen. 1965 verließ er die Arbeiterkammer als er zum Mitglied des Direktoriums der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) bestellt wurde. In dieser Funktion, die er bis 1982 ausübte, war Rieger auch stellvertretender Gouverneur Österreichs beim Internationalen Währungsfonds. Als Mitglied des Direktoriums der OeNB war er für die Administration des Devisengesetzes, für Fragen der Zahlungsbilanz und der internationalen Währungspolitik zuständig. Nach seiner Pensionierung 1982 war er bis 1991 als Konsulent des Vorstandes der Creditanstalt-Bankverein tätig. In dieser Funktion organisierte er u.a. das Osteuropa-Seminar der Bank, in dessen Rahmen viele prominente Ökonomen aus den ehemaligen RGW-Ländern in Wien Vorträge hielten. Seit 1979 leitet Rieger den Workshop on EastWest European Economic Interaction and Integration im Rahmen des Wiener Instituts für Internationale Wirtschafitsvergleiche, dessen Kuratorium er ebenfalls angehört. Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen Riegers sind statistischen und wirtschaftspolitischen Fragestellungen gewidmet. In mehreren Studien untersuchte er Fragen der Preisentwicklung v.a. in ihrer Wirkung auf das Realeinkommen der Arbeitnehmer sowie der Entwicklung der Konsumstruktur. Daneben war es Rieger, der aus England eine Ausbildung in den modernen Denkweisen und Methoden der Wirtschaftswissenschaft mitgebracht hatte; sein primäres Anliegen war, diese für die Wirtschaftspolitik in Österreich fruchtbar zu machen. Es ging dabei zunächst um die Rezeption der Lehren des Keynesianismus und ihre Konsequenzen für eine wirtschaftspolitische Strategie des Österreichischen Gewerkschaftsbundes. Darüber hinaus stellte sich an der Wende von den fünfziger zu den sechziger Jahren die Frage nach einer mittelfristigen Entwicklungsperspektive Österreichs sowie nach geeigneten Konzepten und Strategien für eine moderne Wachstums- und Investitionspolitik. In seiner 1962 erschienenen Broschüre Die Teuerung unterzog Rieger die Wirtschaftspolitik der damaligen Koalitionsregierung einer systematischen Kritik. Eine Weichenstellung fur die Modernisierung der österreichischen Wirtschaftspolitik war die Gründung des Beirats

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Riemer, Svend fur WLrtschafts- und Sozialfragen der Arbeiterkammer. Als erster von Arbeitnehmerseite nominierter Geschäftsführer dieses Gremiums hat er wesentlich dessen Arbeitsprogramm sowie die inhaltliche Orientierung der ersten Studien in den Bereichen Arbeitsmarktpolitik, Budgetpolitik, Investitions- und industrielle Stnikturpolitik mitgeprägt. In der OeNB fällt in die Zeit der Amtsführung Philipp Riegers die Entwicklung und Ausgestaltung der sog. 'Hartwährungspolitik' (seit 1973), d.h. der Aufrechterhaltung eines möglichst stabilen Wechselkurses des Schilling gegenüber den wertbeständigen europäischen Währungen, was de facto nach und nach auf einen Währungsverbund mit der DM hinauslief. Die Hartwährungspolitik bildet - zusammen mit der Lohnund Einkommenspolitik - das grundlegende Fundament für die auf gesamtwirtschaftliche Stabilität und Kontinuität gerichtete Wirtschaftspolitik. Von Anfang an engagierte sich Rieger in der innerparteilichen wirtschaftspolitischen Diskussion in der SPÖ. In einem mit Eduard März und Emst Veselsky gemeinsam verfaBten Artikel (19S8) trat er fur eine verstärkte Orientierung des damals in Ausarbeitung befindlichen neuen Programms der SPÖ an keynesianischen Ideen ein. Rieger war auch an der Erstellung des Wirtschaftsprogramms der Partei 1968 beteiligt. Er ist einer der Mitbegründer (1961) des 'Arbeitskreises Dr. Benedikt Kautsky', dessen Obmann er bis 1983 war. Der Kautsky-Kreis ist als Diskussionsforum von Ökonomen aus Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokratie jene Plattform, wo die Bedeutung wirtschaftspolitischer Konzeptionen und Strategien grundsätzlich diskutiert wird. Nach seinem Ausscheiden aus der OeNB hat sich Rieger intensiv den Problemen der osteuropäischen Wirtschaften zugewendet, zunächst den Fragen einer Wirtschaftsreform, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus der Transformation vom planwirtschaftlichen zum marktwirtschaftlichen System.

Schriften in Auswahl: (1958) Der Programmentwurf und die österreichische Wirtschaft (zus. mit E. März und E. Veselsky), in: Die Zukunft, Heft 2/1958. (1959) Der Lebensstandard von Wiener Arbeiterfamilien im Lichte langfristiger Familienbudgetuntersuchungen, in:

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(1962) (1971)

(1976)

(1979)

(1993)

Arbeit und Wirtschaft 13. Jg., Beilage Nr. 8. Die Teuerung. Eine Untersuchung der schleichenden Inflation, Wien. Wirtschaftswachstum und Entwicklungshilfe, in: W. Schmitz (Hrsg.): Geldwertstabilität und Wirtschaftswachstum. Festschrift für Andreas Korp, Wien, u.a. Die Keynes'sche Revolution, in: Wirtschaft und Politik. Festschrift fur Fritz Klenner, Wien. Die Intemationalisierung der Finanzmärkte. Euromärkte und ihre Probleme, in: Wirtschaftspolitik zwischen Weltanschauung und Sachzwang. Festschrift für Maria Szecsi, (= Sondernummer von Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Jg.). Die Rezeption der Keynes'sehen Ideen in Österreich. Erinnerungen eines Zeitzeugen, in: Austrokeynesianismus in Theorie und Praxis, hrsg. von der Stiftung Bruno Kreisky-Archiv, Wien.

Bibliographie: Expansion, Stagnation und Demokratie. Festschrift fur Theodor Prager und Philipp Rieger, erschienen als: Wirtschaft und Gesellschaft, 8. Jg., Heft 2/1982, (enth. Auswahlbibliographie bis 1982); Nachträge, ebd., Heft 3/1982. Quelle: Rieger, P. (Brief vom 13.3.1992). Günther Chaloupek

Riemer, Svend, geb. 28.10.1905 in Berlin, gest. 15.5.1977 in Fullerton/Kalifomien Der Nationalökonom und Soziologe studierte in Berlin bei Wemer Sombart und Gustav Mayer, wechselte dann zu -* Emil Lederer und Karl Mannheim nach Heidelberg, wo er im Sommer 1930 über Das Denkschema der statischen Wirtschaftstheorie und das Problem der wirtschaftlichen Dynamik promovierte. Die Arbeit unterwarf jene Auffassung einer kritischen Analyse und „erkenntnistheoretischen Besinnung", die das Konjunkturphänomen als einen sich periodisch wiederholenden StörungsprozeB versteht, der angeblich aus einem gleichgewichtigen Wirtschaftssystem herausbricht und „nach dem Phasenablauf

Riemer, Svend des wirtschaftlichen Auf- und Abstiegs zur Ruhelage immer wieder zurückkehrt". Der Assistent von Lederer ging 1930 als Mitarbeiter an die von -» Adolph Löwe geleitete 'Volkswirtschaftliche Zentralstelle für Hochschulstudium und akademisches Berufswesen' in Kiel. Als einer der wenigen Universitäts-Soziologen setzte er sich kritisch mit dem Aufkommen der Nationalsozialisten auseinander (Soziologie des Nationalsozialismus, 1932b). Nach seiner Entlassung aus dem Universitätsdienst Ende 1933 emigrierte der Sozialdemokrat Riemer ein Jahr später aus politischen Gründen nach Schweden. Am ' Social vetenskapliga Institut' der Universität Stockholm arbeitete er unter Gunnar Myrdal, der ihn als „one of the most brilliant young man you could come across" beschrieben hat. Riemer wanderte 1938 in die USA weiter. Er war Rockefeller Fellow, unterrichtete Sozialwissenschaften in verschiedenen akademischen Positionen in Washington, Cornell, N.Y., Wisconsin. Seit 19S2 war er bis zu seiner Emeritiening im Jahr 1971 als Professor für Soziologie an der University of California in Los Angeles beschäftigt Der in Schweden vorbereitete, in Amerika vollzogene Schwerpunktwechsel von der Ökonomie zur Soziologie kündigte sich bei Riemer bereits in den Tätigkeiten beziehungsweise Veröffentlichungen vor seiner Emigration an. Die Aufgeschlossenheit gegenüber soziologischen Fragen und seine sozialpraktischen Beschäftigungen zählten ohnedies zum Arbeitsstil, den Emil Lederer als Universitätslehrer und Herausgeber des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik in Heidelberg vertrat. So setzte sich Riemer als Leiter des Akademischen Auskunftsamtes in Kiel intensiv mit soziologischen Detailfiragen des Ausbildungswesens auseinander, kriminalpolitische Herausforderungen zählten zu seinen Themen, später kamen vor allem Probleme der Urbanistik und der Familiensoziologie hinzu. Diese Interessenverlagerung hatte weniger mit den Schwierigkeiten zu tun, sich mit Blick auf den akademischen Markt im Exil zu orientieren. Vielmehr läßt sich die Hinwendung zu eher soziologisch-konkreten Forschungsfeldern spätestens seinem noch heute aktuellen Hauptwerk (19S2) über Stadtsoziologie entnehmen, das von Herbert Blumer in die angesehene 'Prentice-Hall Sociology Series' aufgenommen wurde. Dieser Wechsel von der theoretischen Nationalökonomie zu eher mikrologischen Sozialfragen wurde von Riemer

bereits 1930 in einem Beitrag zur Theorie der Sozialpolitik begründet. Dort wurde nicht allein auf „das Zwingende einer Soziologie" verwiesen, „die unmittelbar von dem Wirken sozialer Kräfte, die den 'Ereignissen' abgelesen sind, ausgeht". Riemer vertrat zugleich ein Analysemodell, das „aus der ungeheuren Mannigfaltigkeit des Zusammenwirkens" gesellschaftlicher Faktoren bis zu einer „geschlossenen Konzeption von dem Werden der Gesellschaft" durchdringen wollte. Theoretisch konnte dieses Modell, wenn überhaupt, nur transökonomisch beschrieben werden. Schriften in Auswahl: (1930) Theorie der Sozialpolitik, in: Die Gesellschaft, Bd. 7/1, S. 348 ff. (1932a) Sozialer Aufstieg und Klassenschichtung, in: Archiv für SozialWissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 67, S. 531 ff. (1932b) Soziologie des Nationalsozialismus, in: Die Arbeit, Bd. 9, S. 101 ff. (1933) Struktur und Grenzen der statischen Wirtschaftstheorie, Tübingen. (1937) Upward Mobility and Social Stratification, Washington. (1940) Α Research Note on Incest, in: The American Journal of Sociology, Bd. 45/4, S. 566 ff. (1942) Marriage on the Campus, in: American Sociological Review, Bd. 7/6, S. 802 ff. (1947) Social Planning and Social Organization, in: The American Journal of Sociology, Bd. 52/6, S. 508 ff. (1948) Designing the Family Home, in: H. Becker/R. Hill (Hrsg.): Family, Marriage and Parenthood, Boston, S. 493 ff. (1950) Hidden Dimensions of Neighborhood Planning, in: Journal of Land Reform, Bd. 26/2, S. 197 ff. (1951) Villagers in Metropolis?, in: British Journal of Sociology, Bd. 2/1, S. 31 ff. (1951) Functional Housing in the Middle Ages, in: Proceedings of the Wisconsin Academy of Sciences and Letters, 1949, S. 77 ff. (1952) The Modem City. An Introduction to Urban Sociology, New York.

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Röpke, Wilhelm (1959)

Die Emigration der deutschen Soziologen nach den Vereinigten Staaten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 11, S. 100 ff.

Quellen: Β Hb Π; SPSL 253/ 6; Wittebur, K.: Die deutsche Soziologie im Exil, Münster 1991; List of Displaced German Scholars, London 1936. Sven Papcke

Röpke, Wilhelm, geb.

10.10.1899 in Schwarmstedt, Lüneburger Heide, gest. 12.2.1966 in Genf

Röpke, nach dem Zweiten Weltkrieg einer der herausragenden Vertreter des liberalen Konservatismus, ist jener kleinen Gruppe exilierter Wirtschaftswissenschaftler zuzurechnen, deren Emigration weder durch rassische Verfolgung noch durch ihre Zugehörigkeit zur politischen oder wissenschaftlichen Linken erzwungen wurde, sondern die aufgrund ihrer liberalen Gesinnung und persönlichen Überzeugung mit dem Nationalsozialismus in Konflikt gerieten. Auch wenn der Liberale Röpke unter dem Eindruck der politischen und wirtschaftlichen Instabilitäten der Weimarer Republik mehr und mehr zum Konservatismus tendierte, lag seine Gegnerschaft zur 'konservativen Revolution' und zum Nationalsozialismus abgesehen von Differenzen über geeignete wirtschaftspolitische Konzepte - doch hauptsächlich in der einem Teil des liberalen Bildungsbürgertums eigenen Abscheu vor der Emotionalisierung der Massen, der plebejisch-gewalttätigen Politik der Straße ebenso wie in seinem Kampf gegen den völkischen Irrationalismus und in seinem Eintreten fur eine Rückbesinnung auf christlichabendländische Wertvorstellungen begründet. Für das - wie ein Blick in sein Werk vor 1933 belegt - im wesentlichen durch die Erfahrungen der Weimarer Republik und der Weltwirtschaftskrise geprägte wissenschaftliche und publizistische Schaffen Röpkes kam der Emigrationserfahrung allenfalls akzidentelle Bedeutung zu, abgesehen davon, da£ die Schweiz manches Beispiel für die von ihm präferierten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse gab. Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in Stade nahm Röpke im Sommersemester 1917 das Studium der Jurisprudenz in Göttingen auf. Gegen Ende des Jahres 1917 zum Militär-

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dienst eingezogen und in der Somme-Schlacht verwundet, setzte er seine Ausbildung im darauffolgenden Jahr zunächst in Göttingen, später in Tübingen und ab dem Wintersemester 1919/20 in Marburg fort, wobei er sein Augenmerk zunehmend auf die Nationalökonomie richtete. Im Jahr 1921 Schloß er das Studium mit einer Dissertation über Die Arbeitsleistung im deutschen Kalibergbau, unter besonderer Berücksichtigung des hannoverschen Kalibergbaus (1922a) ab - eine Arbeit, die sich noch ganz im Rahmen der ausgehenden jüngeren Historischen Schule bewegte und allenfalls in Ansätzen über das bloBe Sammeln historischer Daten hinausreichte. Nach kurzer Assistentenzeit habilitierte sich Röpke bei seinem Doktorvater Walter Troeltsch bereits 1922 mit einer Studie über Die Konjunktur. Ein systematischer Versuch zur Morphologie der Verkehrswirtschaft (1922b) für das Fach Nationalökonomie. Diese gerade 130 Seiten starke Habilitationsschrift lieferte - wie von einer in so kurzer Zeit absolvierten Pflichtaufgabe nicht anders zu erwarten - keine neuen Bausteine einer Konjunkturtheorie, sondern systematisierte bereits veröffentlichte Arbeiten unter Hervorhebung monetärer Erklärungsansätze sowie einer stärkeren Beachtung psychischer Komponenten. Röpke aufgrund dieses Werkes zu einem Pionier der Konjunkturforschung zu stilisieren, ist sicherlich verfehlt. Die Themenwahl zeigt allerdings, ebenso wie die Arbeit selbst, daB er sich dem damals aktuellen Diskussionsstand der ökonomischen Theorie näherte. Wenige Wochen nach AbschluB des Habilitationsverfahrens erfolgte seine Berufung in eine vom Auswärtigen Amt zur Aufarbeitung der Reparationsprobleme eingesetzte wissenschaftliche Kommission. Nach diesem ersten Ausflug in die Politikberatung erhielt er 1924 - als jüngster Hochschullehrer im deutschen Sprachraum - einen Ruf als außerordentlicher Professor nach Jena. Diese Lehrtätigkeit unterbrach er 1926/27 für einen Aufenthalt in den USA, wo er als Visiting Professor der Rockefeller-Foundation Probleme des amerikanischen Agrarsektors untersuchte. Sein erstes Ordinariat übernahm Röpke 1928 in Graz, um dann 1929 als ordentlicher Professor nach Marburg, seinem wichtigsten Studienort, zurückzukehren. Hier entfaltete er neben seiner wissenschaftlichen Arbeit alsbald rege publizistische Aktivitäten auf politischem Terrain. Erinnert sei nur an seine jahrelange Fehde mit dem Antiliberalismus des 'Tat-Kreises', seine beißende Polemik

Röpke, Wilhelm gegen alle Formen einer 'nationalen' Wirtschaftspolitik, aber auch an seinen 1930 verfaßten, unmittelbar gegen die NSDAP gerichteten Wahlaufruf. Noch in den ersten Monaten des Jahres 1933, als sich eine Vielzahl seiner Kollegen bereits mit dem Naziregime zu arrangieren versuchte, trat Röpke unerschrocken an die Öffentlichkeit, z.B. mit der berühmten Grabrede für seinen akademischen Lehrer Troeltsch. So wurde Röpke als einer der Ersten wegen 'liberaler Gesinnung' auf Grundlage des 'Gesetzes zur Wiederherstellung des Benifsbeamtentums' im September 1933 in den vorläufigen Ruhestand versetzt. Welch hohes Ansehen Röpke jedoch schon zu dieser Zeit genoB, zeigen die Bemühungen der Nationalsozialisten, sich mit einer Mischung aus Rehabilitationsversprechen und Erpressungsversuchen seines Wohlverhaltens zu versichern. Dies wies Röpke jedoch, ebenso wie Versuche aus seinem Freundeskreis, ihn zu einem Mindestmaß an Kooperationsbereitschaft zu bewegen, kompromißlos zurück. Im Herbst 1933 emigrierte Röpke, nach kurzen Aufenthalten in der Schweiz und in Holland, wie zahlreiche andere deutsche Wissenschaftler aller Fachrichtungen in die Türkei. Trotz der Mitwirkung am Aufbau eines modernen türkischen Hochschulwesens sowie der schwierigen äußeren Bedingungen - neben enormen Sprachschwierigkeiten hatte Röpke insbesondere mit der fremdartigen Kultur zu kämpfen - fand er in der Türkei die Muße und Umgebung, um mit Lehre von der Wirtschaft (1937) sein - an Auflagenhöhe und Zahl der Übersetzungen gemessen - erfolgreichstes Buch zu verfassen, das vor allem die theoretischen Eckpunkte seiner späteren Werke absteckte. Darüber hinaus fand er die Zeit, um im gedanklichen Austausch mit seinen Kollegen, allen voran Alexander Rüstow, die großen kulturkritischsoziologischen Werke, die nach 1942 in Genf veröffentlicht werden sollten, zu konzipieren. Zum Wintersemester 1937/38 erhielt Röpke die Möglichkeit, sein zunehmend ungeliebtes türkisches Exil zu beenden. Im Zusammenhang mit einem von der Rockefeller-Foundation finanzierten Forschungsauftrag zur Untersuchung des Strukturwandels der Weltwirtschaft übernahm er eine Professur für internationale Wirtschaftsbeziehungen am Institute Universitaire des Hautes Etudes Internationales in Genf, die er bis zu seinem Tode 1966 inne hatte. Bei einer äußerst gering bemessenen Lehrverpflichtung fand Röpke hier die idea-

len Voraussetzungen, um sein großes literarisches Werk in Angriff zu nehmen. So vollendete er noch während des Krieges seine Trilogie zu den Grundfragen der Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatsordnung: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart (1942), Civitas Humana (1944) und Internationale Ordnung (1945). Diese Werke markieren eindrücklich den Werdegang eines universitären Nationalökonomen zum politischen Schriftsteller. Diese Richtung setzte sich in der 1950 erschienenen Aufsatzsammlung Maß und Mitte fort, worin er vor allem auf die Gefahren der Inflation glaubte hinweisen zu müssen, denn er gelangte' immer mehr zu der Überzeugung, daß die Geldentwertung „unter den heutigen Verhältnissen regelmäßig die Form einer 'zurückgestauten' Inflation annimmt und damit zum Kollektivismus führen muß." (1950a, S. 132). Als letztes großes Werk, gleichsam als Resümee seines Schaffens, entstand 1958 die Abhandlung Jenseits von Angebot und Nachfrage. Hierin versuchte er, die in der Trilogie entworfene Diagnose und Therapie der wirtschaftlichen, insbesondere aber der gesellschaftlichen Entwicklung im Lichte der Nachkriegserfahrungen zu überprüfen und nochmals das Grundkonzept eines liberal-konservativen Rechtsstaats herauszuarbeiten, wobei aber kein anderes Werk das Dilemma der Röpkeschen Position zwischen gesellschaftspolitischem Konservatismus und wirtschaftsliberaler Grundeinstellung deutlicher zum Ausdruck bringt. Obwohl Röpke nach dem Krieg Angebote mehrerer deutscher Universitäten vorlagen, siedelte er nicht in die Bundesrepublik über, denn in der Schweiz fand er nicht nur seine Wahlheimat, sondern er erkannte in ihr auch ein Staatsgebilde nach seinen ordnungstheoretischen Vorstellungen, das den Nationen des sich reorganisierenden Europa als Vorbild dienen sollte. So wurde dann in den 1950er Jahren immer wieder der Vorwurf laut, Röpkes wissenschaftliches Denken unterliege einer zunehmenden „Verschweizerung". Darüber hinaus liegt der Schluß nahe, daß ihm, dem für Zeitströmungen so Sensiblen, nicht entging, welche Ressentiments vielen Emigranten im Nachkriegsdeutschland entgegenschlugen, so daß er es vorzog, die Entwicklung der Bundesrepublik aus der Distanz zu kommentieren. Nichtsdestoweniger beeinflußte Röpke durch sein großes persönliches Engagement und mit einer wahren Publikationsflut die wirtschaftliche und politische Ent-

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Röpke, Wilhelm Wicklung Deutschlands in den Jahren des Wiederaufbaus wie kaum ein anderer. Welches Renommee Röpke im In- und Ausland trotz seines, selbst liberal-konservative Gesinnungsgenossen zunehmend befremdenden, bisweilen manische Züge annehmenden Kampfes gegen alle Formen des Kollektivismus, dessen zersetzendes Wirken er allerorts vermutete, genoB, belegen seine zahllosen Ehningen und Auszeichnungen. So wurde ihm beispielsweise 1954 die Ehrendoktorwürde der Columbia University, New York, verliehen, 1960 die der Universität Genf und 1964 das Ehrendoktorat der Technischen Hochschule München. Außerdem wurde er 1952 als erster Nichtitaliener mit dem Literaturpreis Premio Cremisini ausgezeichnet. Im Jahre 1953 erhielt er das Bundesverdienstkreuz, wurde 1959 korrespondierendes Mitglied der Acad6mie des Sciences morales et politiques, 1960 wurde ihm die Hugo-Grotius-Medaille sowie 1962 die Willibald-Pirkheimer-Medaille zuerkannt und 1964 wurde er schließlich mit dem großen Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland geehrt. Darüber hinaus war Röpke von 1960-1962 Präsident der neoliberalen Mont-Pfelerin-Society, zu deren Mitbegründern er 1947 zusammen mit -» Friedrich August v. Hayek, Albert Hunold u.a. zählte. Röpkes breitgefächertes wissenschaftliches Werk erstreckt sich von der Konjunkturtheorie und -politik über Fragen der nationalen und internationalen Wirtschaftsordnung bis hin zu philosophischen Abhandlungen zur Begründung einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Ferner enthält das weit über tausend Publikationen zählende Gesamtwerk Röpkes Arbeiten zu beinahe allen ökonomischen Teildisziplinen sowie zu tagesaktuellen wirtschaftlichen und politischen Fragestellungen. Eine zusammenfassende Würdigung dieses umfangreichen Oeuvres ist sowohl der ungeheuren Menge beschriebenen Papiers als auch der heterogenen Arbeitsfelder wegen nahezu unmöglich, weshalb im folgenden in erster Linie auf einige zentrale Aspekte seines ökonomischen Schaffens eingegangen wird. Röpkes wissenschaftliches Ansehen gründet sich zweifelsohne auf die konjunkturtheoretischen, mehr noch -politischen Arbeiten der späten 1920er und 1930er Jahre, die ihn als einen profilierten, wenn auch bereits kritischen Vertreter keynesianischer Wirtschaftspolitik vor Keynes ausweisen; einer Politik, die er in späteren Jahren

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und unter veränderten Rahmenbedingungen aufs Äußerste bekämpfen sollte. Röpkes Grundauffassung zum Konjunkturphänomen nahm jedoch erst in Krise und Konjunktur (1932) und Crises and Cycles (1936) konkrete Gestalt an. Während das erstgenannte die historische Situation bis Februar 1932 aufgriff und unverkennbar von den „driikkenden Sorgen des Tages" (1932, S. 115) geprägt war, stellt Crisis and Cycles gleichsam den Abschluß der konjunkturtheoretischen Reflexionen Röpkes dar, worin nun die bislang vernachlässigte Theorie ein größeres Gewicht erhielt. Zu den überzeugendsten Teilen beider Bücher zählt die Diskussion einer angemessenen Konjunkturpolitik, worin er trotz seines Eintretens für die Dilemmathese zwischen Stabilität und Fortschritt die Auffassung vertrat, daß einerseits konjunkturelle Glättungsversuche die Dynamik des Kapitalismus nicht zum Erliegen brächten und andererseits die sozialen Kosten einer sich frei entfaltenden Konjunkturdynamik nicht unterschätzt werden sollten. Desweiteren findet in Crises and Cycles eine kreislauftheoretisch orientierte Fiskalpolitik, wie sie u.a. -» Fritz Neumark in Konjunktur und Steuern vorlegte, eine stärkere Berücksichtigung In den Brennpunkt einer regen öffentlichen Diskussion traten Röpkes konjunkturpolitische Vorstellungen mit seiner Berufung in die von der Regierung Brünning 1930 eingesetzte Kommission zum Studium der Arbeitslosenfrage, nach ihrem Vorsitzenden, dem langjährigen Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns, auch Brauns-Kommission genannt. Die von diesem Gremium, das Röpke als „schwerfällig" und „kompromißlerisch" bezeichnete und dessen Mitgliedern er eine mangelnde Eignung zur Beurteilung nationalökonomischer Zusammenhänge attestierte, vorgeschlagenen Strategien lassen sich mit den thematischen Schwerpunkten der drei Gutachten zusammenfassen: 1. Arbeitszeitverkürzung und Kampf gegen Doppelverdiener, 2. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Arbeitsbeschaffung sowie 3. Reform der Arbeitslosenhilfe ( 1931c, S. 423ff.). Während Röpke die lediglich symptomlindernden, arbeitsmarktpolitischen Kommissionsvorschläge zur Arbeitszeitverkürzung, zur Doppelverdienerhatz sowie zur Reform der Arbeitslosenhilfe als mögliche Elemente einer von ihm geforderten rationalen Konjunkturpolitik äußerst skeptisch beurteilte, gehen die Vorschläge zur expansiven Konjunkturpolitik im wesentlichen auf seine Arbeiten zurück, zumal er, nach dem Ausscheiden

Röpke, Wilhelm -» Eduard Heimanns, der seine Berufung in die Kommission durchgesetzt hatte, als einziger Fachgelehrter verblieb. Den Grundtenor des zweiten Gutachtens bestimmte Röpkes These von der 'sekundären Stagnation', mit deren Hilfe er einerseits den Krisenverlauf zu erklären und andererseits seine konjunkturpolitischen Vorstellungen - ein durch Auslandskredite finanziertes öffentliches Investitionsprogramm, das in Deutschland eine konjunkturelle 'Initialzündung', so der von ihm in Die Angst vor der Produktion (1931a) geprägte Begriff, entfachen sollte - zu rechtfertigen versuchte. Ausgehend von einer kreditinduzierten, monetären Überinvestitionstheorie, ergänzt um eine Zusammenstellung unterschiedlicher Krisenmomente, so z.B. des übermäßigen Tempos der Rationalisierung und des technischen Fortschritts, das die zeitaufwendigen Kompensationsprozesse überfordere, verbunden mit dem Bekenntnis zur Notwendigkeit schmerzhafter Reinigungskrisen im kapitalistischen Wirtschaftssystem, beschrieb Röpke den Verlauf der Depression in Deutschland als Prozeß eines in einer sekundären Stagnation mündenden, ökonomisch sinnlosen, kumulativen Niedergangs, den er kreislauftheoretisch begründete. In diesem Prozeß, so Röpke, füge sich eine allgemeine Nachfrage-, Einkommens- und Produktionsschrumpfung zum Gesamtbild einer volkswirtschaftlichen Kontraktion, in deren Folge Preissenkungen nur noch das Hinterherhinken der Produktionsschrumpfung hinter der Nachfrageschrumpfung zum Ausdruck brächten, d.h., in der Phase der sekundären Stagnation erkannte er eine Umstellung des üblichen Preis- zum Mengenanpassungsmechanismus (1933, S. SS9). Zur Hauptursache dieses Phänomens erklärte er ein Auseinanderklaffen von Einkommensentstehung und Einkommensverwendung, wobei er die durch einen „strike of entrepreneurs" (1936, S. 131) bedingte Investitionslähmung besonders hervorhob. Mit der Beschreibung der sekundären Stagnation als einem destabilisierenden, kumulativen Prozeß, gelang Röpke ein zwischen den Überlegungen von Wicksell und Keynes anzusiedelnder, bedeutender konjunkturtheoretischer Beitrag. Denn die Erkenntnis, daß ein Ausgleich von Sparen und Investieren nicht durch eine stabilisierende Änderung des Zinses, wie dies Wickseil noch forderte, sondern durch eine kumulative Kontraktion der Produktionsmenge herbeigeführt werde - ein Kerngedanke des keynesianischen Unterbeschäfti-

gungsgleichgewichts - bildet bereits 1933 die Grundlage Röpkescher Überlegungen. Die Frage nach einem systemimmanenten unteren Wendepunkt, die er grundsätzlich bejahte, thematisierte Röpke lediglich beiläufig, zumal er diesem Aspekt kaum praktische Relevanz zumaß, da vor dessen Erreichen mit einem Umsturzversuch einer extremistischen Richtung zu rechnen sei. Insbesondere im erstarkenden Nationalsozialismus erkannte er eine nachhaltige Bedrohung des liberaldemokratischen Verfassungssystems der Weimarer Republik und damit auch der liberalen Wirtschaftsordnung. Seit dem Frühjahr 1931, als für ihn die Weltwirtschaftskrise, im Gegensatz zu den zahlreichen „Reinigungsfanatikern" und „Durchhaltenihilisten", wie er sie bezeichnete, als Ausnahmeerscheinung feststand, sah er in kreditfinanzierten öffentlichen Ausgaben den einzigen Weg zur Überwindung der Krise, da er die Selbstheilungskräfte des Marktes lahmgelegt glaubte. In einer solchen, vom Staat getragenen Initialzündung erblickte er die einzige noch verbleibende Möglichkeit, die Kreditexpansion „effektiv", d.h. nachfragewirksam zu gestalten, solange private Investoren in der Phase der sekundären Stagnation keine Ertragschancen sehen und damit als Kreditnehmer ausfallen. Mit dem Eintreten für stabilisierende Interventionen rückte Röpke jedoch keineswegs von seinen liberalen Grundpositionen ab, sondern verwies lediglich auf die krisenverschärfenden Folgen eines passiven Laissez-faire in der Sondersituation einer sekundären Stagnation. Auch weiterhin betrachtete er die Markttheorie als geeignetes analytisches Instrumentarium wirtschaftlicher Normalphasen, an deren Stelle die Kreislaufanalyse einzig in Ausnahmefällen treten sollte. Auf dieser Feststellung basierte auch Röpkes Kritik an Keynes, mehr noch an dessen Rezipienten, denen er vorwarf, eine für die Sondersituation der Weltwirtschaftskrise geeignete Analysemethode zur allgemeingültigen Theorie zu erheben sowie die latente Inflationsgefahr einer Politik zu vernachlässigen, die mittels einer expansiven Geldund Fiskalpolitik dem Ziel einer Niveaustabilisierung nachhänge, ohne die Notwendigkeit reinigender Krisen zu akzeptieren. Diese Kritikpunkte klangen bereits in Röpkes wohlwollender Rezension der Keynesschen Treatise on Money an (1931b, S. 1742ff.). Während sich Röpke an der beginnenden Diskussion um die theoretischen Inhalte der General Theory und deren Weiterent-

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Röpke, Wilhelm wicklung allenfalls sporadisch beteiligte, galten seine Angriffe ab Mitte der 1940er Jahre der „kollektivistisch-inflatori sehen", keynesianischen Wirtschaftspolitik, die mit ihrem Schlagwort von der Vollbeschäftigung „eine der verlockendsten, aber auch gefährlichsten Parolen geliefert" habe. Außerdem befürchtete er als Folge der Verabsolutierung der Kreislaufanalyse eine Degradierung der Nationalökonomie zu einer „An volkswirtschaftlicher Ingenieurskunde", womit das Bewußtsein für die Selbstregulierungsmechanismen des Marktes zunehmend verloren zu gehen drohe (1959, S. 256ff.)· Aufgrund solcher Attacken, die Röpke nicht nur in ökonomischen Fachzeitschriften, sondern auch in Zeitungsartikeln publizierte, verfaßte dann -> Erich Schneider, der mit seiner mehrbändigen Einführung in die Wirtschaftstheorie (1947-1962) wesentlich zur Durchsetzung keynesianischen Gedankenguts in Deutschland beitrug, mit seinem Aufsatz Der Streit um Keynes. Dichtung und Wahrheit in der neueren deutschen Keynes-Diskussion (1953) einen, zumindest in seiner Wirkung auf die akademische Öffentlichkeit, vernichtenden 'Anti-Röpke'. Hierin attestierte er Röpke, weder den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Keynes-Diskussion erlangt noch die Werke Keynes ausreichend zur Kenntnis genommen, geschweige denn intellektuell durchdrungen zu haben. Aus der Beschäftigung mit den Möglichkeiten aber auch den Gefahren einer aktiven Konjunkturpolitik erwuchs in der Untersuchung des Inflationsphänomens ein weiteres Arbeitsgebiet Röpkes, das ihn, besonders im Hinblick auf die deutsche Nachkriegsentwicklung, zunehmend beschäftigte. Als Kernproblem jeder auf Dauer angelegten Vollbeschäftigungspolitik identifizierte er den Übergang von einer kompensatorischen zu einer inflatorischen Phase, eine Entwicklung, die sowohl in totalitären Wirtschaftsordnungen als auch in Vollbeschäftigungsökonomien keynesianischer Prägung zu beobachten sei. Bereits in seiner Charakterisierung der nationalsozialistischen Rüstungswirtschaft erkannte er im Stadium der Hochkonjunktur, d.h. dem Erreichen von Kapazitätsgrenzen und dem hieraus resultierenden Inflationsdruck, dem die Regierung durch administrative Maßnahmen entgegenzutreten versuche, deren entscheidenden Schwachpunkt. Hierdurch werde eine Interventionsspirale in Gang gesetzt, die zunächst zu desorganisierenden und leistungshemmenden Lohn- und Preiskontrollen sowie zu einer

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unvermeidlichen Devisenbewirtschaftung führe und schließlich die individuellen Freiheitsrechte bedrohe. Ein Phänomen, das Röpke mit dem von ihm geprägten Terminus der „zurückgestauten'· Inflation belegte. (1947, S. 57ff.) In der mit der Übernahme des Systems der Zwangsbewirtschaftung durch die Alliierten perpetuierten zurückgestauten Inflation erkannte Röpke dann auch den Schlüssel zu den meisten Problemen der unmittelbaren Nachkriegsentwicklung Deutschlands. Also entwickelte er, losgelöst von tagesaktuellen Detailfragen, aus der Analyse der Gesamtsituation klare und konsistente Vorstellungen einer Totalreform, die sowohl eine Währungs- als auch eine umfassende Wirtschaftsreform einschließen sollte, wodurch er entscheidenden Einfluß auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Deutschland ausübte. Obgleich Röpke in seinen den beginnenden Aufschwung begleitenden Gutachten für die Regierung Adenauer die Notwendigkeit einer produktions- und exportorientierten Wachstumspolitik für ein überbevölkertes und rohstoffarmes Land akzeptierte, forderte er doch nachdrücklich, die sich durch einen Neubeginn eröffnende Chance zur Durchsetzung seiner in der Trilogie skizzierten gesellschaftspolitischen Visionen zu nutzen. Denn Röpke glaubte, die Entartungen des Monopolkapitalismus, die er in einer zunehmenden Vermessung, Proletarisierung, Konzentration und Überorganisation sowie einer Entpersönlichung der Arbeit vermutete, seien durch eine konsequente, marktkonforme Struktur-, Dezentralisierungs- und Wettbewerbspolitik zu überwinden (1950b, S. 25). Kleine Bauernhöfe und Gewerbebetriebe, die er auf dem Weltmarkt als wettbewerbsfähig erachtete, sofem der Staat die notwendigen Rahmenbedingungen schaffe, könnten durch eine Stärkung von Familie, Kirche und Tradition die im Laufe der industriellen Modernisierung verschütteten sozialen Nonnen wie Ehrlichkeit, Gerechtigkeits- und Gemeinsinn, Faimeß und Achtung der Menschenwürde wiederbeleben. Röpke gelangte mehr und mehr zu der Überzeugung, daß der Markt durch seinen Rückgriff auf institutionelle Voraussetzungen ebenso wie auf kulturelle und moralische Normen diese zerstöre, sie jedoch nicht selbst hervorbringe. In einem auf einem breiten Eigentumsfundament - eigenes Haus, eigene Werkstatt, eigener Garten - ruhenden Kleinkapitalismus sah Röpke darüber hinaus die einzige mit einer Marktwirtschaft zu vereinbarende

Rogowsky, Bruno Form der Sozialpolitik, die nicht durch eine Überbeanspruchung der öffentlichen Haushalte in einen die inflatorischen Tendenzen verstärkenden „Fiskalsozialismus" abgleite. Aber bereits diese knappen Hinweise auf die gesellschaftspolitischen Vorstellungen verdeutlichen das Hauptproblem der Arbeiten Röpkes: wie soll beispielsweise sein nur marktkonforme Interventionen zulassendes marktwirtschaftliches Credo mit den von ihm als notwendig erachteten gesellschaftspolitischen Maßnahmen oder wie die Erhaltung bäuerlicher Familienbetriebe mit der liberalen Ablehnung von Erhaltungsinterventionen in Einklang gebracht werden? Röpke entging diesem ihm durchaus bewußten Dilemma, indem er seine wirtschafte- und gesellschaftspolitischen Programmpunkte in unterschiedlichen Veröffentlichungen vorstellte und soweit dies nicht möglich war, den wirtschaftspolitischen Aspekten eine klare Vorrangstellung einräumte, wodurch sich die Kluft zwischen den beiden Seiten seines Schaffens zusehends verbreiterte. Eine Synthese dieser auseinanderstrebenden Standpunkte gelang Röpke trotz seines umfangreichen Werkes nie. Auf diesen Umstand mag es auch zurückzufuhren sein, daß er heute mehr als Verfechter des Neoliberalismus, denn als emstzunehmender Kultuikritiker und Moralist mit durchaus wichtigen Einsichten im Bewußtsein geblieben ist.

Schriften in Auswahl: (1922a) Die Arbeitsleistung im deutschen Kalibergbau, unter besonderer Berücksichtigung des hannoverschen Kalibergbaus, Berlin (Diss.). (1922b) Die Konjunktur. Ein systematischer Versuch zur Morphologie der Verkehrswirtschaft, Jena (Habil.). (1931a) Die Angst vor der Produktion, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 260 vom 9.4.1931. (1931b)

(1931 c)

(1932)

Geldtheorie und Weltkrise, in: Der Deutsche Volkswirt, 5. Jg., Nr. 52, S. 1742-1747. Praktische Konjunkturpolitik. Die Arbeit der Brauns-Kommission, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 34, S. 423-464. Krise und Konjunktur, Leipzig.

(1933)

(1936) (1937) (1942) (1944) (1945) (1947) (1950a) (1950b) (1958) (1959)

Die säkulare Krise und ihre Überwindung, in: Economic Essays in Honour of Gustav Cassel, London, S. 553568. Crises and Cycles, London. Die Lehre von der Wirtschaft, Wien. Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach-Zürich. Civitas Humana, Erlenbach-Zürich. Internationale Ordnung, ErlenbachZürich. Offene und zuriickgestaute Inflation, in: Kyklos, Bd. 1, S. 57-71. Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig?, Stuttgart MaB und Mitte, Erlenbach-Zürich. Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach-Zürich. Gegen die Brandung, hrsg. von A. Hunold, Erlenbach-Zürich.

Bibliographie: In Memoriam Wilhelm Röpke, Maiburg 1968, S. 22-51. Neumark, F. (1930): Konjunktur und Steuern, Bonn. Schneider, E. (1947-1962): Einführung in die Wirtschaftstheorie, Tübingen. Schneider, E. (1953): Der Streit um Keynes. Dichtung und Wahrheit in der neueren deutschen Keynes-Diskussion, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 165, S. 89-122. Quellen: Oswalt, W. (1994): Masseneigentum und Freiheit, in: Die Zeit (Hrsg.): Die großen Ökonomen, Stuttgart, S. 202-207; Tuchtfeld, EVWillgerodt, H. (1994): Wilhelm Röpke - Üben und Werk, in: W. Röpke: Die Lehre von der Wirtschaft, 13. Aufl., Bern, S. 340-371; Peukert, H. (1992): Das sozialökonomische Werk Wilhelm Röpkes, Frankfurt; SPSL 61/2; Β Hb Π; NP; ISL 1980. Gerhard J. Mauch

Rogowsky, Bruno, geb. 18.11.1890 in Osterode/Ostpreußen, gest. 27.11.1961 in Köln Rogowsky begann seinen beruflichen Werdegang mit einer kaufmännischen Lehre in Danzig (19091912) und arbeitete anschließend in der Speditions- und Reedereibranche. Nebenher legte er als Externer das humanistische Abitur ab. Es folgte

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Rogowsky, Bruno ein Studium an der Handelshochschule Köln, wo er 1916 das Kaufmannsdiplom erwarb. Im Jahr 1920 promovierte er bei August Skalweit in Gießen mit dem Dissertationsthema Die Organisation der deutschen Fischwirtschaft im Kriege (Berlin/ Leipzig 1922). Nach erfolgreicher Habilitation an der Handelshochschule Königsberg wurde Rogowsky dort zunächst hauptamtlicher Dozent und wenig später ordentlicher Professor für Handel und Industrie (1924 bis 1933). Zudem übernahm er an dieser Hochschule das Amt des Rektors (ab 1928). Als er gegen Ausschreitungen rechtsradikaler Studenten einschritt, wunde er zunächst beurlaubt (1933) und anschließend aus dem Hochschulbetrieb entlassen (1934). Neben seiner akademischen Lehrtätigkeit arbeitete Rogowsky seit dem Februar 1932 als Staatskommissar im Priifungsausschuß fur Wirtschaftsprüfer an der Industrie- und Handelskammer fur Ost- und Westpreußen und war in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft als Wirtschaftssachverständiger tätig. Nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur erhielt er schon 194S einen Ruf der Wirtschaftshochschule Berlin als ordentlicher Professor für Revision und Treuhand. An dieser Hochschule im damaligen Ostsektor wurde er später auch Ordinarius für den Fachbereich Revisions- und Treuhandwesen. Als der politische Druck seitens der Regierenden der sowjetischen Besatzungszone zu groß wurde, siedelte er 19S0 nach Westdeutschland über und übernahm eine Gastprofessur an der Universität Köln. Dort lehrte er bis zu seiner Emeritiening im Jahre 1956. Nach schwerer Krankheit (Leberzirrhose) verstarb Bruno Rogowsky 1961 in Köln. In seiner akademischen Laufbahn widmete sich Rogowsky ganz dem Revisions- und Treuhandwesen. Davon zeugen zahlreiche Veröffentlichungen in der Fachpresse. Zu nennen ist hier vornehmlich ein Artikel zum Thema Ursachen und Methoden des Staatseingriffs in die Kartellpreisbildung, der 1931 anläßlich einer Festschrift zum 60. Geburtstag von Kurt Wiedenfeld entstand. In diesem Beitrag vertrat Rogowsky die These, daß grundsätzlich Preiskartelle eine krisenmildernde Funktion ausüben können. Darin liegt wohl auch der Grund, weshalb die damalige Reichsregierung die Kartellentwicklung vor dem Ersten Weltkrieg kaum behinderte und sie während des Krieges sogar forderte. Der Autor macht

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in seinem Beitrag dann auf die in Öffentlichkeit und Wissenschaft bekannten Fehlentwicklungen aufmerksam, die durch die Bildung von Preiskartellen auftreten können (u.a. Existenzsicherung überalterter Betriebe, Fehlallokation von Kapital). Daher suchen private und gewerbliche Verbraucher gleichermaßen Schutz vor ungerechtfertigten Preisschwankungen bzw. -erhöhungen mit Beschwerdemeldungen bei der Reichsregierung (insbesondere Wirtschaftsministerium). Diese geht derartigen Einsprüchen nach, indem ein sog. Preisreferent eingesetzt wird, um im jeweiligen Fall die Preisfindung betroffener Betriebe zu überprüfen. Das Ergebnis solcher Prüfungen wird natürlich nicht immer einhellig begrüßt, da in diesem Bereich ganz unterschiedliche Interessen aufeinanderstoßen. Abschließend stellt Rogowsky in diesem Artikel fest, daß die Kartellverordnung fur die Reichsregierung ein Instrument darstellt, um einerseits die Preisfront aufzulockern, andererseits damit auch Umwälzungen in der deutschen Industrie herbeigeführt werden können. Bemerkenswert an den Ausführungen des Autors ist, daß dieser sich intensiv mit den Themen „Substanzerhaltung der Industrie" und „Abschreibungen" beschäftigt und schon frühzeitig deren Bedeutung für den betriebswirtschaftlichen Prozeß erkannt hat. Bruno Rogowsky wurde in seiner akademischen Lehrtätigkeit gleichermaßen von Volks- und Betriebswirten beeinflußt. So fühlte er sich insbesondere Kurt Wiedenfeld, Adolf Weber, Hermann Schumacher und August Skalweit in der Volkswirtschaftslehre sowie -* Eugen Schmalenbach, -» Julius Hirsch und Ernst Walb in der Betriebswirtschaftslehre verbunden. Davon zeugen auch seine zahlreichen Tätigkeitsbereiche, in denen er sich vornehmlich mit der Betriebswirtschaftslehre des Handels und der Industrie sowie mit dem Revisions- und Treuhandwesen beschäftigte. Auf diesen Gebieten war Rogowsky ein Vordenker, der viele Sachverhalte klar erkannte und für manche Problemstellungen sinnvolle Lösungen erarbeitete. Schriften in Auswahl: (1922) Die Organisation der deutschen Fischwirtschaft im Kriege, Gießen (Diss.). (1924) Sorgen der deutschen Wirtschaft zur Zeit des Dawesgutachtens, Königsberg.

Rohrlich, George F. (1926/28)

[Beiträge zu] Handwörterbuch der Betriebswirtschaft. 5 Bde., hrsg. von H. Nicklisch, Stuttgart. Ursachen und Methoden des Staatseingriffs in die Kartellpreisbildung, in: M.R. Behm (Hrsg.): Öffentliche Hand und Wirtschaftsgestaltung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Kurt Wiedenfeld, Leipzig, S. 1-19.

Rohrlich, George F., geb. 6.1.1914 in Wien

ren Forschungsthemen stark durch seine vorherigen Arbeitsgebiete geprägt wurden. Von 1964—1967 lehrte er Wirtschaftstheorie und Sozialpolitik an der School of Social Service Administration der University of Chicago. 1967 erhielt er einen Ruf auf die Professur für Politische Ökonomie und Sozialversicherung an die School of Business Administration der Temple University in Philadelphia, wo er bis zu seiner Emeritierung 1981 lehrte. 1968 gründete er dort das Institute for Social Economics and Policy Research, dessen Direktor er auch nach seiner Emeritierung blieb. Darüber hinaus nahm er Gastprofessuren an der Columbia University in New York, der Universität Triest sowie als Fulbright Research Scholar an der Victoria University in Wellington, Neuseeland wahr.

Kurz nach seiner Promotion in Rechtswissenschaft an der Wiener Universität emigrierte Rohrlich im September 1938 in die USA, deren Staatsbürgerschaft er im Juni 1944 erwarb. Seine bereits in Wien begonnenen Studien in Ökonomie und Politischer Wissenschaft, wo er 1933 ein Zertifikat der Handelskammer und 1938 ein Postgraduiertendiplom der Konsularakademie erworben hatte, setzte er von 1939-1941 als 'Harvard Refugee Scholar' fort und vertiefte sie durch die Teilnahme an einem Traineeprogramm an der Brookings Institution in Washington. 1943 erwarb Rohrlich an der Harvard University den Doktorgrad der Philosophie im Bereich Politischer Ökonomie und Regienmgslehre. Anschließend nahm Rohrlich eine Reihe bedeutender Positionen im amerikanischen Staatsdienst ein. So war er von 1944-1947 beim Office of Strategie Services and Department of State sowie dem Office of Intelligence Research tätig. Von 1947-50 diente er als Sozialökonom in der Health and Welfare Section des Supreme Commander der Alliierten Streitkräfte in Tokio. Nach seiner Dienstzeit in Japan bei General MacArthur war er von 1950-1953 Leiter der Disability Research Branch in der Sozialbehörde in Baltimore, Maryland. Von 1953-1959 war er Leiter der Division of Actuarial and Financial Services des Bureau of Employment Security im Department of Labor in Washington. In dieser Zeit war er u.a. Berater der Kommission des amerikanischen Präsidenten zu den Pensionen der Kriegsveteranen. Nach seiner Zeit in der Abteilung für soziale Sicherheit beim Internationalen Arbeitsamt in Genf von 1959-64 begann Rohrlichs späte akademische Karriere, de-

Neben vielfältigen Beratungstätigkeiten war Rohrlich auch als (Mit-)Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften tätig, so beim The Forum for Social Economics, dem Review of Social Economy und dem International Journal of Social Economics. Rohrlich war 1978-79 Präsident der Association for Social Economics (vgl. seine Präsidentsc haftsadresse, 1980b) und ist Mitglied der American Association for the Advancement of Science. Rohrlichs Schriften spiegeln seine ausdauernden Bemühungen wider, das Los der arbeitenden Schichten zu verbessern. Als Sozialökonom hat er einen Großteil seines Lebens den Problemen der Gesundheitsversorgung und sozialen Sicherheit, Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie den Pensionen von Veteranen gewidmet. Zu diesen Themen hat er zahlreiche Bücher und mehr als 80 Aufsätze verfaßt, die überwiegend in den USA, aber auch in England, Japan und der Schweiz veröffentlicht wurden. Dabei setzte er sein immenses Wissen und seine soziale Phantasie nicht nur zum Nutzen von Amerikanern, sondern auch zugunsten von Staatsbürgern Tansanias bzw. Japans und anderer asiatischer Länder ein. So hielt er z.B. 1966 vier Vorlesungen an der Universität Triest über die Appellationsprozeduren bei der Erhebung von Sozialversicherungsanspriichen. Als Vertreter einer ganzheitlichen Sichtweise setzte sich Rohrlich auch mit der Sozialphilosophie gesellschaftlicher Probleme auseinander und schrieb über die Rolle des Selbstinteresses, Freiheit und das Verfolgen von Glückseligkeit. Als Sozialökonom transzendierte er das Eigeninteres-

(1931)

Quellen: E.C.; HLdWiWi 1929/32; Hasenack, W. (1962): Bruno Rogowsky, in: Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis, Bd. 14, S. 57-58. Christian Lobke

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Rosenbaum, Eduard se und engagierte sich für die arbeitende Bevölkerung wie für den Weltfrieden. Seine größte Sorge in hohem Alter gilt den furchterregenden Destruktionspotentialen eines unmoralischen Gebrauchs nuklearer Kräfte. So nahm er z.B. auch am 38. Jahrestag der Atombombenexplosionen im August 1983 mit einer Gruppe gleichgesinnter Amerikaner an Gedenkveranstaltungen in Hiroshima und Nagasaki teil und verfaßte einen Aufsatz über The Dual Nature of the Nuclear Arms Quandary (1986). Das Lebenswerk von Rohrlich ist durch ein großes Engagement fur die Gemeinschaft gekennzeichnet. Schriften in Auswahl: (1944) Equalization Schemes in German Unemployment Compensation, in: Quarterly Journal of Economics, Bd. 58, S. 482-497. (1960) Social Security in Asia, in: International Labour Review, Bd. 82, S. 70-87 und 163-183. (1970) Social Economics for the 1970s: Programs for Social Security, Health and Manpower, Cambridge, Mass. (1974) Social Economics - Concepts and Perspectives, Monograph No. 2, International Institute of Social Economics, Hull. (1977)

(1980a)

(1980b)

(1986)

Beyond Self-Interest; Paradigmatic Aspects of Social Economics, in: Review of Social Economy, Bd. 35, S. 331-343. Maintaining Social Security Programs Adequate and Solvent - A Transnational Synopsis of Problems and Policies, in: International Social Security Review, Bd. 33, S. 119-154. Social Economics Approaches to Teaching and Policy Analysis, in: Review of Social Economy, Bd. 38, S. 215-222. The Dual Nature of the Nuclear Arms Quandary, in: International Journal of Social Economics, Bd. 13, S. 35-61.

Bibliographie: O'Brien, J.C. (Hrsg.) (1984): Festschrift : in Honour of George F. Rohrlich, Volume III, International Journal of Social Economics, Bd. 11, Heft

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3/4 [enthält biographische Angaben und Werkverzeichnis]. Quellen: BHbll, AEA; Rohrlich, G.F. (Brief vom 22.11.91) John C. O'Brien

Rosenbaum, Eduard, geb. 26.7.1887 in Hamburg, gest. 22.5.1979 in London Rosenbaum war ein Sohn des Kaufmanns Samuel Rosenbaum aus Sassendorf in Westfalen. Zwei seiner fünf Geschwister wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Rosenbaum legte 1906 das Abitur an einer Hamburger Oberrealschule ab und studierte an den Universitäten München, Berlin, Straßburg und Kiel Rechts- und Staatswissenschaften. 1910 promovierte er bei Bernhard Harms in Kiel zum Dr. rer.pol. mit einer Arbeit über Ferdinand Lassalle (1911). Anschließend war er zunächst Volontär und Mitarbeiter in einem Hamburger Export- und Importhaus sowie fur anderthalb Jahre 1913/1914 Assistent am Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft in Kiel. Zum 1.11.1914 wechselte Rosenbaum an die Handelskammer Hamburg. 1918 wurde er stellvertretender Syndikus und 1919 Syndikus der Handelskammer; zugleich übernahm er 1919 die Leitung der 1735 gegründeten Commerzbibliothek, der ältesten Wirtschaftsbibliothek Europas. 1918 war Rosenbaum Sekretär der von Albert Ballin kurz vor seinem Freitod gegründeten Vereinigung für den Wiederaufbau des deutschen Wirtschaftslebens. Im Mai 1919 nahm Rosenbaum auf Veranlassung des späteren Reichskanzlers Cuno, des Nachfolgers von Ballin in der Leitung der HAPAG, als Sachverständiger der deutschen Delegation an den Versailler Verhandlungen zum Friedensvertrag teil; zusammen mit den übrigen Mitgliedern legte er aus Protest gegen die starre Haltung der Siegermächte sein Mandat vor Unterzeichnung des Vertrages nieder. Auch in der Folge machte man sich Rosenbaums Fähigkeiten und diplomatisches Geschick zunutze: 1921/22 nahm er als persönlicher Mitarbeiter von Cuno an den Brüsseler Reparationsverhandlungen teil, und 1928 führte er auf Veranlassung des Hamburger Bürgermeisters in Berlin erfolgreich Verhandlungen über die Gründung einer hamburgisch-preußischen Hafengemeinschaft. Seit 1921 nahm Rosenbaum Lehraufträge an der Universität Hamburg wahr, zunächst (während der Vakanz des finanz-

Rosenbaum, Eduard wissenschaftlichen Lehrstuhls) Einführungen in die Finanzwissenschaft, dann Vorlesungen über Gewerbe- und Industriepolitik, über Weltwirtschaftslehre und über die wirtschaftlichen Folgen des Vertrages von Versailles; im Sommersemester 1923 hatte er ferner einen Lehrauftrag für Weltwirtschaftslehre an der Universität Kiel. Von 1928 bis 1933 war Rosenbaum außerdem Hauptschriftleiter der vom Hamburgischen Welt-Wiitschafts-Archiv herausgegebenen Zeitschrift Wirtschaftsdienst (in der seit 1917 zahlreiche Artikel aus der Feder Rosenbaums erschienen waren). Wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machtergreifung und dem ErlaB des 'Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' ersuchte die Handelskammer Rosenbaum im Sommer 1933 seiner Entlassung zuzustimmen; mit Schreiben vom 2S.8.1933 bat er daraufhin, ihn zum 1.4.1934 als Syndikus der Handelskammer und Direktor der Commerzbibliothek in den Ruhestand zu versetzen; bereits eine Woche zuvor hatte der Hamburger Senat für Rosenbaum ein Ruhegehalt (als Oberregierungsrat) genehmigt Rosenbaum emigrierte mit seiner Frau und seinen beiden Kindern 1934 nach England und fand dort zunächst Beschäftigung als Editorial Assistant (mit Piero Sraffa) an der von der Royal Economic Society herausgegebenen Ricardo-Ausgabe sowie als Berater der Bibliothek des Royal Institute of Foreign Affairs in London und der Universitätsbibliothek Cambridge für die Anschaffung deutschsprachiger Bücher. Nachhaltige Unterstützung bei seinem Neubeginn in England wurde ihm durch John Maynard Keynes zuteil, den er während der Versailler Verhandlungen 1919 kennengelernt hatte und mit dem ihn in der Folge ein langjähriger schriftlicher und mündlicher Austausch verband. Von 1935 bis 1952 war Rosenbaum dann Bibliothekar an der London School of Economics (anfangs als jederzeit kündbarer Hilfsbibliothekar). 1946 erwarb er die britische Staatsbürgerschaft. Rosenbaum hat nach der Emigration den Kontakt mit der Handelskammer Hamburg nicht abreißen lassen und der Kammer bis zum Kriegsausbruch brieflich über sein Ergehen berichtet. Nach dem Krieg nahm er regen Anteil an der Entwicklung 'seiner' Commerzbibliothek. In der Festschrift der Bibliothek heiBt es zu seinem letzten Besuch noch kurz vor seinem Tode: „Seine geistige Frische und Erzählkunst beeindruckten, seinem Charme konnte sich niemand entziehen". Rosenbaum hat, wie Die Zeit in einem Nachruf

1979 schrieb, „seit Kriegsende viel für die Verständigung zwischen Deutschen und Engländern getan - in der stillen Art eines feinsinnigen Gelehrten, auf dessen Rat und Urteil Kaufleute und Unternehmer hörten, hüben wie drüben." Rosenbaums wirtschaftswissenschaftliches Werk und Wirken sind nicht ohne weiteres mit den üblichen Kategorien zu erfassen. Er war vieles zugleich: AuBenwirtschaftsökonom und Sachverwalter der Interessen des Hamburger Handels, Gelehrter, Bibliophiler, ein vielseitig interessierter und umfassend gebildeter 'homme de lettres' im Stile des alten Europas, ein glänzender Stilist und ein aufmerksamer Beobachter mit klugem Urteil. Zu seinem großen persönlichen Bekanntenkreis zählten neben Ballin und Keynes Persönlichkeiten wie Max Warburg, Carl Melchior, Walter Rathenau, Ernst Robert Curtius und Martin Buber. Seine einfühlsamen biographischen Studien über Ballin, Keynes, Lassalle und Stuhlmann sind elegante Essays, immer wieder über die bloße biographische Erfassung hinausgreifend, „historiographical meditations", wie er es einmal nannte. Daß sein Interesse nicht nur den 'eigentlichen' ökonomischen Fragen des Außenhandels und der Wirtschaftspolitik, sondern von Anfang auch den soziologischen und philosophischen Aspekten von Gesellschaft und Wirtschaft galt, tritt in der Liste seiner Publikationen deutlich hervor. Zahlreiche Rezensionen (nach 1945 vor allem im Merkur) gaben ihm Anlaß zu weiter ausholenden kulturhistorischen, geschichtsphilosophischen und soziologischen Betrachtungen u.a. zur soldatischen Widerstandspflicht (1954a), zu Jürgen Habermas' Dialektik der Rationalisierung und zur Automation (1954b u. 1957), zu Helmut Schelskys „Skeptischer Generation" (1958b), zur Soziologie der „mittleren Stadt" (1929) und zu Clausewitz (1978). In ihrem eigenwilligen Urteil unverändert anregend und faszinierend sind seine Überlegungen Über diplomatische Konferenzen als Mittel zwischenstaatlicher Beschlußfassung in der Tönnies-Festgabe (1925). Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Rosenbaum vor allem bekannt durch seine verschiedenen Veröffentlichungen zu den Bestimmungen und den ökonomischen Auswirkungen des Versailler Friedensvertrages, dessen Regelungen er sehr deutlich, aber mit leidenschaftsloser Kühle kritisiert. Sein letztes Werk (zusammen mit A.J. Sherman) ist die Geschichte des Bankhauses M.M. Warburg & Co 1798-1938

575

Rosenbaum, Eduard (1976), deren englische Ausgabe im Jahr seines Todes erschien.

(1958b)

Schriften in Auswahl: (1911)

Ferdinand Lassalle. Studien Uber historischen und systematischen Zusammenhang seiner Lehre, Jena (Diss.).

(1970)

(1914)

Ferdinand Tönnies' Schmollers Jahrbuch, 2149-2196.

Werk, in: Bd. 38, S.

(1976)

(1917)

Der angemessene Preis [Zum Streit zwischen Reichsgerichtsrat Lobe und den Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin], in: Wiitschaftsdienst, Bd. 2, 5. Beiheft, S. 1-20.

(1978)

(1921)

Der Veitrag von Versailles. Inhalt und Wirkung, gemeinverständlich dargestellt, Leipzig; 8. Aufl. 1933.

(192S)

Über diplomatische Konferenzen als Mittel zwischenstaatlicher BeschluBfassung, in: Kölner Vierteljahrshefte für Sozialwissenschaft, Bd. 5 (= Festgabe Ferdinand Tönnies), S. 157-170.

(1929)

Mittlere Stadt, in: Hamburg-Amerika-Post, Bd. 1, S. 338-345. War Economics. A Bibliographical Approach, in: Economica, Bd. 9, S. 64-94. John Maynard Keynes, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Bd. 5, S. 892-896.

(1942)

(1951)

(1954a)

Ein unorthodoxer Staatsdiener, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Bd. 8, S. 483487.

(1954b)

Zum Fragenkreis der Rationalisierung, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift fur europäisches Denken, Bd. 8, S. 1072-1078.

(1956)

Über eine Vorform soziologischen Denkens, in: Freundesgabe für Ernst Robert Curtius zum 14. April 1956, Bern, S. 167-181.

(1958a)

Albert Ballin: A Note on the Style of his Economic and Political Activities, in: Year Book of the Leo Baeck Institute of Jews from Germany, Bd. 3, S. 257-299.

576

„Die skeptische Generation". Eine soziologische Fehlanzeige, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Bd. 12, S. 1077-1081. Zahlungsbilanzen. Zur Programmierung durch falsche Begriffe, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Bd. 24, S. 685-693. Das Bankhaus M.M. Warburg & Co. 1798-1938 (zus. mit A.J. Sherman), Hamburg; engl. Übers. 1979. 'Penser la guerre, Clausewitz'. By Raymond Aron. 1978 [Rezension], in: History and Theory. Studies in Philosophy of History, Bd. 17, S. 235-240.

Übersetzer bzw. Hrsg.: (1925)

(1956)

Alfred Marshall: Die zollpolitische Regelung des Außenhandels. Eine Denkschrift [The Fiscal Policy of International Trade (1903/1908)]. Berechtigte Übers, von A.H.R. Wach, hrsg. von Eduard Rosenbaum. Jena. J.M. Keynes: Politik und Wirtschaft. Männer und Probleme. Ausgewählte Abhandlungen, Tübingen - Zürich. (Übersetzer u. Hrsg.).

Quellen: BHbll; Schriftliche Auskunft der Handelskammer Hamburg; Bielfeld, H. (1980): Vom Werden Groß Hamburgs. Citykammer, Gauwirtschaftskammer, Handelskammer. Politik und Personalia im Dritten Reich (Staat und Wirtschaft. Beiträge zur Geschichte der Handelskammer Hamburg, Bd. 1), Hamburg 1980; Borchardt, K. (1988): Keynes' „Nationale Genügsamkeit" von 1933. Ein Fall von kooperativer Selbstzensur, in: Zeitschrift fur Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Bd. 108, S. 274; „250 Jahre Commerzbibliothek der Handelskammer Hamburg 17351985", Hamburg 1985 (u.a. Portrait); Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft, 2. Bd., Berlin 1931, S. 1560 (u.a. Portrait); Volbehr, F./Weyl. R. (1956): Professoren und Dozenten der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel 1665-1954, 4. Aufl., Kiel, S. 69 f.; Kürschners Gelehrtenkalender, 1926, 1928/29, 1931; Die Zeit v. 1.6.1979; Vorlesungsverzeichnisse Universität Hamburg. Christian Scheer

Rosenberg, Wolfgang Rosenberg, Wolfgang, geb. 4.1.1915 in

Berlin

1937 emigrierte Rosenberg über die USA nach Neuseeland, im Gegensatz zu seinen Eltern und Geschwistern, die nach Schottland auswanderten. Später nahm er die neuseeländische Staatsbürgerschaft an. Neuseeland erschien ihm, wie er rückblickend in seinem Buch Full Employment - Can the New Zealand Economic Miracle Last? formulierte, als das „gelobte Land", „ein Land ohne Bettler" (1960, S. 9). Am Französischen Gymnasium in Berlin, an dem er sein Abitur ablegte, erhielt Rosenberg eine humanistische Schulbildung. Durch das sozialdemokratische Engagement seines Vaters, einem Anwalt, angeregt, trat Rosenberg der Sozialistischen Arbeiterjugend bei. Dort kam er in Kontakt mit den Lehren von Marx, Hegel und Schopenhauer. 1932 begann Rosenberg eine Ausbildung bei der Reichskreditgesellschaft in Berlin, die er jedoch bei einer privaten Bank in Hamburg beenden mußte; bis zu seiner Emigration arbeitete er dann bei M.M.Warburg & Co. In seiner neuen Heimat studierte Rosenberg 1938 bis 1942 im Rahmen eines Teilzeitstudiums Volkswirtschaftslehre und Rechnungswesen an der Victoria University of Wellington. 1944 bis 1946 diente er bei der Royal New Zealand Air Force. Von 1946 bis zu seiner Emeritierung 1980 arbeitete er an der University of Canterbury in Christchurch, zunächst als Lecturer, seit 1960 als Reader in Economics. Während seiner Lehrtätigkeit fand Rosenberg die Zeit, sich einem Studium der Jurisprudenz zu widmen, das er 1979 abschloB. Seit seiner Emeritierung ist Rosenberg als selbständiger Anwalt in Christchurch tätig. 1952 kehrte er für ein Jahr, das er für einen Studienaufenthalt an der London School of Economics sowie für eine praktische Tätigkeit bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel nutzte, nach Europa zurück. Weitere Studienreisen und Vortragsreihen führten ihn u.a. nach China, Nordkorea, Moskau und in die ehemalige DDR. Rosenberg ist Mitbegründer der New Zealand Monthly Review Society (1960), deren Sekretär er für lange Zeit war, sowie Präsident des Canterbury Council for Civil Rights und Mitglied der Economic Society of New Zealand and Australia. Entsprechend seinen Erfahrungen mit der Massenarbeitslosigkeit im Deutschland der 1920er und 1930er Jahre und seiner politischen Herkunft mißt Rosenberg den Erfolg jeglicher Wirtschaftspolitik

nicht allein an statistischen Daten, sondern auch an den sozialen und psychologischen Folgen für den einzelnen Menschen; die negativen Effekte erfolglos bekämpfter Krisen und Arbeitslosigkeit sieht er nicht zuletzt in einer Radikalisierung der mit der Wirtschaft eng verknüpften Politik. Umsomehr war Rosenberg von der Vollbeschäftigungssituation Neuseelands bis in die 1970er Jahre hinein fasziniert. Zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit genüge es nicht, ein liberales, kapitalistisches Wirtschaftssystem zu errichten, dem Rosenberg eine latente Instabilität zuspricht. „Economic theory (be it the out-dated 'free enterprise type' or of the then modem 'Keynsian' type) is mere rationalisation of policies which arise as the logical outcome of specific historical situations" (1980, S. 129). Daher sieht er die Gefahr für die Wissenschaft, daß die aus der Theorie entwickelten wirtschaftspolitischen Empfehlungen der ökonomischen Realität nachhinken und wenig adäquat sind. Nur die staatliche Kontrolle und Beeinflussung der effektiven Nachfrage könne ein mit Vollbeschäftigung kompatibles Angebot erzeugen. Preiskontrollen, Zinsfestsetzung und expansive Fiskalpolitik, durch die Zentralbank finanziert, lange Zeit als Wirtschaftspolitik der neuseeländischen Labour-Regierung durchgeführt, garantierten ein Nachfrageniveau, das Vollbeschäftigung erzeugt und langfristig erhält. Ein zentrales Kriterium für die Wirksamkeit staatlicher Kontrolle sei die außenwirtschaftliche Unabhängigkeit der Ökonomie, die nicht durch Beachtung von Zahlungsbilanzungleichgewichten eingeschränkt sein dürfe. Import- und Kapitalverkehrskontrollen dienten nicht nur dem Aufbau neuer Industrien, sondern auch dem Schutz von Arbeitsplätzen in international nicht wettbewerbsfähigen Industriezweigen. Darüber hinaus werde dadurch eine internationale Verschuldung aufgrund von Importüberschüssen („over-importation") sowie die Abhängigkeit von ausländischen Kapitalimporten und ausländischen Direktinvestitionen vermieden. Abkoppelung von internationalen Wettbewerbskriterien, Kapitalbewegungen und Konjunkturschwankungen sowie Vollauslastung der eigenen Ressourcen führe zu einer höheren gesellschaftlichen und sozialen Wohlfahrt als sie durch die am Kriterium der optimalen Ressourcenallokation orientierte klassische Freihandelstheorie möglich sei.

577

Rosenberg, Wolfgang Auch hinsichtlich der Entwicklungstheorie richtet sich Rosenberg leidenschaftlich gegen die „orthodoxen" Strategien des exportgeleiteten Wachstums und der Exportförderung. Zwar erkennt er Samuelsons erste Stufe landwirtschaftlicher Entwicklungsländer als junge Schuldnerländer an. Durch Kapitalimporte und Direktinvestitionen steigen Produktion, Investition und Nachfrage in diesen Ländern an, bei gleichzeitig starker Auslandsverschuldung und Kapitalbilanzdefiziten. Wenig empirische Evidenz sieht Rosenberg allerdings für die zweite Phase der Entwicklungsländer als reife Schuldnerländer, in der Kapitalimporte und Zinszahlungen zu einer ausgeglichenen Zahlungsbilanz führen sollen, da nun ausreichend Exporterlöse erzielt werden könnten. Vielmehr zeige sich nun eine Verlangsamung des Wachstums durch Überschuldung; eine Nettoneuverschuldung sei allein schon zur Aufrechterhaltung der Zinszahlungen notwendig. Die Terms of Trade für die (Primärgüter produzierenden) Entwicklungsländer verschlechterten sich Rosenberg zufolge im Zuge dieses Prozesses. Exportförderung von Primärgütern nach klassischem Zuschnitt führt nach Rosenberg zu Verelendungswachstum (Einkommenselastizität der Exportgüter kleiner als eins); numerisches Wachstum allein, wie etwa in Südkorea, genügt Rosenbergs sozialen Ansprüchen hinsichtlich einer erfolgreichen Entwicklungsstrategie nicht. Zentraler Kritikpunkt dabei ist die tautologische Gleichsetzung von Investition und Sparen, sowohl in der keynesianischen als auch in der (neo-) klassischen Theorie. Rosenberg greift hier Pigous Konzept der Lohngüter- und Nicht-Lohngüterproduktion auf. Er entwickelt dazu ein an Kalecki (1954) und Nicholls (1963) angelehntes zweisektorales Entwicklungsmodell, in dem ein KonsumgüterüberschuB zur Versorgung der Lohnempfänger im Investitionsgütersektor Voraussetzung für den Wachstumsprozeß ist. Rosenberg wendet sich dabei gegen eine Interpretation des Sparens als monetäre GröBe im Keynesschen Sinne. Da die Wirtschaftssubjekte in Entwicklungsländern im agrarisch geprägten Konsumgütersektor lediglich reale Ersparnisse bilden könnten, müßten diese Güter zur Entlohnung der Arbeitskräfte in die kleinen, sich entwickelnden Investitionsgüterindustrien transferiert werden. Damit konzentriert sich seine entwicklungstheoretische Sichtweise auf die Mobilisierung binnenwirtschaftlicher Ressourcen (vgl. 1967) unter Zurückstellung monetärer und

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außenwirtschaftlicher Einflüsse auf die Ausdehnung der Investitionsgüterproduktion. Mit seinen Arbeiten wollte Rosenberg über den akademischen Bereich hinaus auch eine breitere Öffentlichkeit ansprechen. So hielt er Vorlesungen über die ökonomischen Probleme Neuseelands im Radio und schrieb eine Reihe populärwissenschaftlicher Bücher What every New Zealander should know about..., in denen er Themen wie Arbeitslosigkeit, das Bretten Woods-System, die EWG und den Internationalen Währungsfonds behandelte. Schriften in Auswahl: (1960) Full Employment - Can the New Zealand Economic Miracle Last?. Wellington. (1961) Capital Imports and Growth - The Case of New Zealand - Foreign Investment in New Zealand, 18401958, in: Economic Journal, Bd. 71, S. 93-113. (1967) A Consumer Goods Surplus, in: The Indian Economic Journal, Bd. 14, S. 423-439. (1973) Hong Kong Model for Development?, in: The Economic Record, Bd. 49, S. 629-636. (1980) South Korea. Export-led Development - Sewered and Unsewered, in: Journal of Contemporary Asia, Bd. 10, S. 300-308. (1980) Forty Years of Joy and Sorrow of a New Zealand Economist, in: Willmott, W.E. (Hrsg.): New Zealand and the World - Essays in Honour of Wolfgang Rosenberg, Christchurch. Bibliographie: Willmott, W.E. (Hrsg.) (1980): New Zealand and the World - Essays in Honour of Wolfgang Rosenberg, Christchurch. Kalecki, M. (1954): The Problem of Financing Economic Development, Wiederabdruck in: Collected Works of Michal Kalecki, Bd. 5, Developing Economies, hrsg. von. J. Osiatynski, Oxford 1993, S. 23-44. Nicholls, W.H.L (1963): An Agricultural Surplus as a Factor in Economic Development, in: Journal of Political Economy, Bd. 71, S. 1-29. Quelle: Β Hb II. Bernhard Holwegler

Rosenbluth, Gideon Rosenbluth, Gideon (früher: Rosenblith), geb. 21.1.1921 in Berlin Rosenbluths Vater Martin war für eine zionistische Organisation und später für den israelischen Staat tätig. Im Jahre 1933 emigrierte die Familie nach Großbritannien. In der Zeit von 1938 bis 1940 war Rosenbluth an der London School of Economics eingeschrieben, wo er aufgrund der Internierung als 'enemy alien' in Kanada keinen Abschluß erreichen konnte. Dort setzte Rosenbluth sein Studium an der University of Toronto erst 1941 fort und Schloß 1943 als Bachelor of Arts im Fach Economics and Political Science ab. Dieser universitären Zeit folgten 1943 bis 1948 Tätigkeiten in staatlichen Stellen; zuerst als Economist beim Wartime Price and Trade Board der kanadischen Regierung und anschließend als Statistiker beim Dominion Bureau of Statistics. Parallel hierzu besuchte er zwischen 1947 und 1949 die Columbia University in New York. Ende der vierziger Jahre arbeitete Rosenbluth als Lecturer in Princeton und von 19S0 bis 19S2 als Reserach Associate beim National Bureau of Economic Research. 1953 promovierte er bei A.F. Bums und G. Stigler an der Columbia University mit dem Thema Industrial Concentration in Post-war Canada (vgl. auch 1957b). Nach einer Assistenzprofessur in Stanford (1952 bis 1954) wechselte Rosenbluth für acht Jahre als Associate Professor an die Queens University in Kingston, Kanada. 1962 nahm er einen Ruf an die University of British Columbia an. Er blieb dort bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1986. Parallel zu seinen universitären Verpflichtungen war Rosenbluth Mitglied in zahlreichen Gremien unterschiedlicher Organisationen wie z.B. der Canadian Association of University Teachers (Präsident), dem Academic Panel of the Canadian Council und der Canadian Economic Association (Präsident). Zu diesen Aktivitäten kommen noch einige Beraterfunktionen wie für das Department of Consumer and Corporate Affairs, das Federal Cultural Policy Review Committee und die Alberta Human Rights Commission. Des weiteren ist Rosenbluth Fellow der Royal Society of Canada. Das Hauptinteresse Rosenbluths gilt der empirischen Forschung, die es ermögliche, die Funktionsweise von Volkswirtschaften besser zu verstehen und geplante wirtschaftspolitische Maßnahmen effizienter zu gestalten. Schon seine Dissertationsschrift aus dem Jahre 1953, die 1957 bei

der Princeton University Press erschienen ist, zeigt dieses Interesse. Rosenbluth gibt darin einerseits eine deskriptive Analyse der Konzentration im kanadischen verarbeitenden Gewerbe, andererseits greift er auf relevante theoretische Erklärungsansätze zurück. Die anschließende, kritische Besprechung dieser Studie durch Stykolt im Canadian Journal of Economics and Political Science (1958; vgl. auch 1959) führte zu einer kurzen, aber leidenschaftlichen Kontroverse zwischen Stykolt, Buckley (1959) und Rosenbluth (1959) über Rosenbluths Vorgehensweise. Insbesondere Fragen nach der Aussagekraft von Regressionsrechnungen wurden diskutiert. Dabei erfüllt fur Rosenbluth die Multiple Regressionsanalyse zwei Aufgaben. Zum einen gibt sie Auskunft, ob die unabhängigen und abhängigen Variablen tatsächlich in der Art miteinander verbunden sind, welche die zu testende Hypothese vorgibt Zum anderen zeige sie, wie stark der ermittelte Zusammenhang ist, d.h. welche Variable mehr und welche weniger Einflufi auf die zu erklärende Größe haben. Aus diesem Grand stellt er in seiner Arbeit nicht nur das bloße Phänomen der Konzentration im verarbeitenden Gewerbe Kanadas dar, sondern diskutiert auch die Faktoren, die seines Erachtens für Konzentrationsprozesse verantwortlich sind. Um diese EinfluBgröBen zu bestimmen, wendet Rosenbluth das Verfahren der Mehlfachregression an. Großen Erklärungsgehalt weisen die Kapitalintensität, die Größe der Branche und die Transportkosten auf. Ergänzt wird diese umfangreiche Untersuchung durch die Betrachtung der Unterscheidung zwischen Betriebs- und Firmenkonzentration sowie durch einen Vergleich zwischen den USA und Kanada. Die Konzentrationsmessung bildete auch in anderen Arbeiten Rosenbluths einen Schwerpunkt, so z.B. in Measures in Concentration (1955). Studenten der Statistik und Ökonometrie verbinden den Namen Rosenbluth deshalb insbesondere mit dem nach ihm benannten Index zur Konzentrationsmessung, der auf der Fläche oberhalb der Konzentrationskurve (A) als Maß für die Konzentration basiert, wobei der RosenbluthIndex durch [I = (2A)-1] definiert ist. Der Rosenbluth-Index stellt somit das Gegenstück zu dem bekannteren, aus der Lorenzkurve abgeleiteten Gini-Koeffizienten dar (vgl. 1%1). Mit Sicherheit würde man Rosenbluth nicht gerecht, seinen Beitrag zur Ökonomie ausschließlich auf dem Gebiet der Konzentrationsmessung zu sehen. Vielmehr hat er sich mit einem breiten Spek-

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Rosenbluth, Gideon tram von Problemen beschäftigt, welche die kanadische Volkswirtschaft betreffen. Beispielweise stehen Fragen der Wettbewerbspolitik und der Kontrolle kanadischer Industrien durch ausländische Unternehmen in enger Beziehung zu diesen Überlegungen. So untersuchte er während seiner Tätigkeit fur die Task Force on the Structure of Canadian Industry den EinfluB, den ausländische Eigentümer auf den Konzentrationsprozeß in Kanada hatten und das Ausmaß ausländischen Eigentums an den kanadischen Unternehmen (vgl. z.B. 1970). Die durchgefiihrten Regressionsanalysen lassen nach Rosenbluth keinen RUckschluß auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Grad der Konzentration einer Branche und dem Ausmaß ausländischer Kontrolle zu. Eng mit diesem Themengebiet verwandt sind weitere Arbeiten, die sich mit den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und Kanada auseinandersetzen. Hierbei steht insbesondere der konjunkturelle Einfluß der USA auf die Volkswirtschaft Kanadas im Vordergrund, wie z.B. in Changes in Canadian Sensitivity to United States Business Fluctuations (1957a) und Changing Structural Factors in Canada's Cyclical Sensitivity (1958). Rosenbluth wies zwar eine sich verändernde Empfindlichkeit der kanadischen Volkswirtschaft gegenüber US-amerikanischen Konjunkturschwankungen aufgrund der geringeren Reagibilität der Exporte und Investitionen nach, doch sah er auf Dauer keinerlei Anzeichen dafür, daß Kanada ökonomisch resistent gegenüber Einflüssen aus den Vereinigten Staaten sein würde. Die sich seit dieser Zeit intensivierende Integration der beiden Volkswirtschaften, die in der Gründung der NAFTA ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hat, scheint die Überlegungen von Rosenbluth zu bestätigen.

Auch nach seiner Emeritierung im Jahr 1986 wandte sich Rosenbluth immer wieder aktuellen Problemen der kanadischen Volkswirtschaft zu. So beschäftigte er sich unter anderem mit den Folgen von Migrationsbewegungen für regionale Unterschiede bei der Lohnstruktur bzw. mit der Effizienz regionaler Beschäftigungs- und Lohnpolitik (vgl. 1987). Vor allem aber diskutiert er die Konsequenzen konservativer Wirtschaftspolitik für die Einkommensverteilung und die Wachstumschancen der kanadischen Ökonomie (z.B. 1992). Rosenbluth steht Forderungen nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt kritisch gegenüber. Die Konsolidierung der staatlichen Ausgaben geschehe vorrangig auf Kosten von Kürzungen im sozialen Bereich sowie bei der Förderung der Humankapitalbildung, weshalb die Wachstumspotentiale Kanadas und somit das erreichbare Wohlfahrtsniveau entscheidend unter dieser Wirtschaftspolitik zu leiden haben.

Ein weiteres Betätigungsfeld Rosenbluths bildet der Bereich der Input-Output-Analyse. Neben dem theoretischen Interesse an diesem Gebiet (vgl. z.B. 1968) steht die praktische Umsetzung dieser Methodik im Mittelpunkt seiner Arbeiten. In mehreren Studien, wie z.B. The Economic Consequences of Disarmamant (1965) und The Canadian Economy and Disarmament (1967 und 1978) über die Folgen der Abrüstung für die kanadische Volkswirtschaft untersucht er unter Anwendung der Input-Output-Analyse die Wirkungen von kanadischen und US-amerikanischen Militärausgaben auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung.

(1957a)

580

Rosenbluths wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten zeugen somit in allen Bereichen von dem Interesse, mit Hilfe empirischer Untersuchungen ein besseres Verständnis der ökonomischen Realität, insbesondere der kanadischen Ökonomie, zu erreichen, um eine bessere, den Interessen der Menschen dienende Wirtschaftspolitik realisieren zu können. Schriften in Auswahl: (1953) (1955)

(1957b)

(1958)

Industrial Concentration in Postwar Canada, Diss., Columbia University. Measures in Concentration, in: Business Concentration and Price Policy, National Bureau of Economic Research, Special Conference Series, Nr. 5, S. 57-99. Changes in Canadian Sensitivity to United States Business Fluctuations, in: Canadian Journal of Economics and Political Science, Bd. 23, S. 480502. Concentration in Canadian Manufacturing Industries, Princeton (Überarb. Fassung der Diss, von 1953). Changing Structural Factors in Canada's Cyclical Sensitivity, in: Canadian Journal of Economics and Political Science, Bd. 24, S. 21-43.

Rosenstein- Rodan, Paul Narziß (1959)

(1961)

(1965)

(1967) (1968)

(1970)

(1975)

(1978)

(1987)

(1992):

A Note on the Concentration Controversy, in: Canadian Journal of Economics and Political Science, Bd. 25, S. 336-340. Diskussionsbeitrag im 'Round TableGespräch über Messung der industriellen Konzentration', in: Neumark, F. (Hrsg.): Die Konzentration in der Wirtschaft, (=Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd. 22), Berlin, S. 391-394. The Economic Consequences of Disarmament, in: House of Commons, Special Studies Prepared for the Special Committee on Matters Relating to Defence, Ottawa, S. 109-130. The Canadian Economy and Disarmament, London/Basingstoke. Input-Output-Analysis: A Critique, in: Statistische Hefte, Bd. 9, S. 255268. The Relation between Foreign Control and Concentration in Canadian Industry, in: Canadian Journal of Economics, Bd. 3, S. 14-38. The 'New' Theory of Consumer Demand and Monopolistic Competition (zus. mit G.C. Archibald), in: Quarterly Journal of Economics, Bd. 89, S. 569-590. The Canadian Economy and Disarmament, updated with a new introduction, Toronto. The Causes and Consequences of Interprovincial Migration, University of British Columbia, Department of Economics, Discussion Paper, Nr. 87-20. False Promises: The Failure of Conservative Economics (als Hrsg. zus. mit R.-C. Allen), Vancouver.

Bibliographie: Buckley, Κ. (1959): On Rosenbluth's 'Concentration in Canadian Manufacturing Industries', in: Canadian Journal of Economics and Political Science, Bd. 25, S. 195-200. Stykolt, S. (1958): The Measurement and Causes of Concentration, in: Canadian Journal of Economics and Political Science, Bd. 24, S. 415^19.

Stykolt, S. (1959): A Comment, in: Canadian Journal of Economics and Political Science, Bd. 25, S. 200-204. Quellen: Β Hb II; AEA; Blaug. Stephan Seiter

Rosenstein-Rodan, Paul Narziß, geb. 19.4.1902 in Krakau, gest. 28.4.1985 in Boston, Massachusetts Rosenstein-Rodan nimmt unter den kontinentaleuropäischen Pionieren der Entwicklungsökonomie eine Sonderstellung im doppelten Sinne ein, denn einerseits gilt er mit seiner in den 1940er Jahren durchgeführten Analyse ungleichgewichtiger Wachstumsprozesse (1943 und 1944) als „Doyen" der Entwicklungstheoretiker (Bhagwati/Eckaus 1972, S. 7). Andererseits unterscheidet ihn seine intellektuelle Herkunft von anderen bedeutenden, dem deutschen Sprachraum entstammenden frühen Entwicklungsländerforschern wie -» Heinz Wolfgang Arndt, -» Kurt Maitin (Mandelbaum) oder -» Hans Wolfgang Singer, da seine wissenschaftlichen Wurzeln nicht in einem reformökonomischen Umfeld gründeten, sondern in der gleichgewichtstbeoretischen Tradition der österreichischen Schule. Rosenstein-Rodan verbrachte bereits seine frühe Jugend in Wien. Das Studium begann er zwar auf dem Gebiet der physikalischen Chemie an der Universität Lausanne, kehrte jedoch schon bald nach Wien zurück und nahm an der dortigen Universität das Studium der Staatswissenschaften auf, das er im Jahre 1925 mit der Promotion zum Dr.rer.pol. abschloB. Von 1926 bis 1929 fungierte er als Assistent von Hans Mayer und wurde de facto Direktor eines Projektes, dessen Ergebnis das vierbändige Werk Wirtschaftstheorie der Gegenwart (Mayer 1927-1932) war. Im AnschluB an einen Aufenthalt als RockefellerStipendiat in Italien nahm Rosenstein-Rodan 1931 eine Stelle als Special Lecturer am Department of Political Economy des University College der University of London an. Im Jahr 1936 wurde er dort zum Reader und später zum Senior Professor ernannt. Von 1939 bis 1947 war er überdies Leiter des dortigen Department of Political Economy. Trotz seiner universitären Anbindung in London blieb Rodan bis 1934 als Schriftleiter der Zeitschrift für Nationalökonomie mit der Universität Wien verbunden, eine Aufgabe, die er zu-

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Rosenstein-Rodan, Paul Narziß sammen mit Oskar Morgenstern mit der Gründung dieser Zeitschrift im Jahre 1930 übernommen hatte. Erst 1938, im Jahr des 'Anschlusses' Österreichs an Hitlerdeutschland, wurde Rosenstein-Rodan, unter anderem mit Unterstützung von Lionel Robbins, in Großbritannien naturalisiert. Parallel zu seiner universitären Tätigkeit nahm Rosenstein-Rodan 1941 das Angebot des Royal Institute of International Affairs (RHA) in London an, als Secretary die Leitung des Committee of Reconstruction - Economic Group zu übernehmen und eine Strategie für die Entwicklung der 'rückständigen' Länder Ost- und Südosteuropas zu entwerfen. Der von Rodan projektierte Forschungsplan war äußerst umfangreich, wie ein Anfang 1945 zusammengestellter Arbeitsplan zum Report on the Economic Development of Central and South-Eastem Europe (vgl. NCSRS, Box 10/8) zeigt. Im Zuge dieses Forschungsprojekts, das allerdings nie abgeschlossen wurde, entstand Rosenstein-Rodans bahnbrechendes Werk zur Entwicklungökonomie, der Aufsatz Problems of Industrialisation in Eastern und South-Eastem Europe (1943), in dem er nahezu all jene Fragen antizipierte, die in den darauffolgenden vier Jahrzehnten bis zur neoliberalen Gegenrevolution im Mittelpunkt der entwicklungsökonomischen Diskussion standen. Im Jahr 1947 verließ Rosenstein-Rodan Großbritannien und nahm die Stellung eines Assistant Director am Economic Department der International Bank for Reconstruction and Development an, deren Economic Advisory Staff er gleichzeitig bis zu seinem Ausscheiden bei der Weltbank 1953 leitete. Auch dort befaßte er sich mit Fragen des ökonomischen Wiederaufbaus der durch den Zweiten Weltkrieg schwer getroffenen europäischen Volkswirtschaften sowie mit entwicklungsökonomischen Fragestellungen. In diesen Jahren verfaßte Rodan zahlreiche unveröffentlichte Reports zum Marshall-Plan, zur Entwicklung Süditaliens und zur Entwicklungsprogrammierung (vgl. Bhagwati/Eckaus 1972, S. 337), die den engen Zusammenhang zwischen den ökonomischen Instrumenten zur Bewältigung der Rekonstruktionsperiode in Europa und der damals jungen Disziplin Entwicklungsökonomie zeigen. Anschließend bekleidete Rodan bis 1959 die Position eines Visiting Professor, danach jene eines Professor of Economics am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Im Zuge seiner entwicklungspoliti-

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schen Arbeiten am MIT trug er 1955 zur analytischen Fundierung des sogenannten 'VanoniPlans' bei, der als Zehn-Jahres-Plan die Leitlinie für die weitere Entwicklung Italiens bilden sollte (vgl. auch 1955). In ähnlicher Weise befaßte sich Rodan als Direktor von Entwicklungsprojekten in Indien und Chile mit Fragen der makroökonomischen Entwicklungsplanung, wie sie beispielhaft in seinem Aufsatz Alternative Numerical Models of the Third Five Year Plan of India (1964a) zum Ausdruck kamen. Parallel dazu war RosensteinRodan als Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler Gremien an der Ausarbeitung entwicklungspolitischer Programme beteiligt, so auch von 1962 bis 1966 als Mitglied der Expertengnippe Committee of IX der Alliance for Progress - der sogenannten 'Nine Wise Men'. Bereits im Ruhestand nahm er 1968 nochmals eine Professur an der University of Texas at Austin und 1972 an der Boston Unversity an, wo er das Center for Latin American Development Studies gründete. Für seine Beiträge zur ökonomischen Theorie der Entwicklungsländer und seine entwicklungspolitische Arbeit wurde Rosenstein-Rodan unter anderem 1958 mit dem italienischen, 1967 mit dem venezuelanischen und 1970 mit dem chilenischen Verdienstorden ausgezeichnet. Er war Fellow der American Academy of Arts and Sciences sowie des Institute of Social Studies, Den Haag. Rosenstein-Rodan begann seine wissenschaftliche Laufbahn auf dem Gebiet der reinen ökonomischen Theorie, deren Ergebnisse jedoch in seine späteren entwicklungökonomischen Arbeiten durchaus Eingang gefunden haben. Als Schüler von Hans Mayer, dem Nachfolger Friedrich von Wiesers als Führungsfigur der Österreichischen Schule, publizierte er 1927 den Artikel Grenznutzen im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, der von -» Joseph A. Schumpeter (1954, S. 1056) als „[a] brilliant and compact survey of arguments and counterarguments" zur Grenznutzentheorie hervorgehoben wurde. In diesem Beitrag legte Rodan besonderes Gewicht auf die Frage der Komplementaritätsbeziehungen (1927, S. 1193f. sowie S. 1202f.; vgl. auch 1933) zwischen Gütern auf der Nachfrageseite in dem Sinne, daß eine Preissenkung (-erhöhung) fur ein Gut die gesamte Nachfrage nach Komplementärgütern zu jedem Preis erhöhen (senken) wird. Aus dieser Komplementarität des Nutzens leitete Rodan die ,,'Interdependenz' aller wirtschaftlichen Erscheinungen"

Rosenstein-Rodan, Paul N a r z i ß (1927, S. 1194) ab, die sich in seinen Aufsätzen zur Industrialisierung und zum 'Big Push'( 1961b) als logische Grundlage der Entwicklungsplanung wiederfindet. Dies gilt auch für die folgende Passage in Rodans Aufsatz, die zwar mit Blick auf die Konsumentscheidungen von Individuen formuliert wurde, jedoch ebensogut für die rationale Wirtschaftsplanung auf gesamtwirtschaftlicher Ebene gelten kann: „Die Aufstellung des Wirtschaftsplanes hat die Auswahl der zweckmäßigsten Verfügungen über die Güter zum Ziel. Da alle Verfugungen, welche die einzelnen Güter betreffen, untereinander in einem engen Zusammenhang stehen, der durch die psychische und technische Komplementarität der Güter bedingt ist, so muß ihre Auswahl systematisch einheitlich bestimmt werden" (ebd., S. 1196). Das Zeitmoment in der mathematischen Theorie des wirtschaftlichen Gleichgewichts (1930) bildete den zweiten, gleichfalls für Rosenstein-Rodans spätere entwicklungsökonomischen Beiträge bedeutsamen theoretischen Baustein. In der unter dem Titel The Röle of Time in Economic Theory (1934) überarbeiteten englischen Fassung dieses Beitrags diskutierte er drei Problemfelder, die mit der Berücksichtigung der Rolle der 'Zeit' in der ökonomischen Theorie zusammenhängen: Die Frage der Periodisiening ökonomischer Planung, Zeit als ökonomisches Gut sowie die Diskussion von Anpassungsprozessen in der Zeit (1934, S. Iii.). Insbesondere der erste und der dritte Punkt waren für Rodans entwicklungsökonomische Überlegungen bedeutsam, denn er sah aufgrund der zunehmenden Unsicherheit der Bedürfnisse des Individuums in der immer ferneren Zukunft die Notwendigkeit der Einführung des Konzepts des 'rollierenden Planes' („rolling plan") (vgl. Chakravarty 1983, S. 74). Die aufgrund der Unsicherheit unspezifizierte Bedürfnis- (und Produktions-)Struktur in späteren Perioden (1934, S. 81ff.) wird zwar im Zeitablauf einer zunehmenden Konkretisierung unterworfen, jedoch treten gleichzeitig immer wieder neue, zeitlich weiter entfernt liegende Perioden hinzu, so daB sich hier das Problem des Gleichgewichts im Zeitablauf stellt - im Gegensatz zum Gleichgewicht innerhalb einer Periode. In seiner Diskussion des Verlaufs des Anpassungsprozesses - zwischen Gütemachfrage und Preis sowie zwischen Güterangebot und Preis stellte Rodan fest, daß nur dann ein Gleichgewicht eintritt, wenn die 'Partialgeschwindigkeiten' oder

'Zeitkoeffizienten' der Wechselbeziehungen Nachfrage/Preis, Preis/Nachfrage, Angebot/Preis und Preis/Angebot jeweils gleich groß sind. Andernfalls treten entweder Verzögerungen im Anpassungsprozeß auf oder es kommt zu einer nichtkonvergierenden Oszillation (1930, S. 130f.; 1934, S. 88ff.) - ein Phänomen, das später von Paul Samuelson und Oscar Lange sowie von Kenneth J. Arrow, Leonid Hurwicz und anderen eingehender untersucht und als 'Cobweb-Theorem' bekannt wurde (vgl. Chakravarty 1983, S. 74). Hiermit zeigt sich ein weiterer Anknüpfungspunkt der Arbeiten Rosenstein-Rodans zur Entwicklungsökonomie an seine „österreichisch" geprägten Schriften, obwohl er selbst in seinem Beitrag für die Weltbank-Publikation Pioneers in Development (1984, S. 207) darauf hinwies, daß nicht die traditionelle statische Gleichgewichtstheorie sondern die Analyse des ungleichgewichtigen Wachstumsprozesses für das Verständnis der Probleme ökonomischer Entwicklung entscheidend sei und charakterisierte rückblickend seine frühen Gedanken zur Entwicklungsökonomie durch den Leitspruch 'natura facit saltum' - in Umkehrung des Marshallianischen Mottos 'natura non facit saltum'. So untersuchte Rosenstein-Rodan in seinem Aufsatz Problems of Industrialisation of Eastern and South-Eastem Europe (1943) eben jenen dynamischen Anpassungspfad, der in Richtung eines Gleichgewichts führen konnte und nicht die Bedingungen, die in einem Gleichgewichtspunkt erfüllt sein mußten. Diesen Anpassungsprozeß hatte Rodan bereits zu Beginn der 1930er Jahre am Beispiel der Verfolgung eines Hasen durch einen Hund erläutert: Der Verfolgungspfad verlaufe nie gradlinig und auf dem kürzesten Wege und ende möglicherweise mit dem Entkommen des Hasen (1930, 138f.; 1934, 92f.; 1984, 208). Dies verdeutlicht, daß Rodans Hinwendung zur Entwicklungsökonomie nicht, wie zunächst von Bhagwati und Eckaus (1972, S. 7) sowie von Eckaus (1979, S. 680) angenommen, einen 'Strukturbnich' in seiner wissenschaftlichen Arbeit darstellte, sondern daß, wie er auch selbst betonte (1984, S. 210), die von ihm skizzierten ungleichgewichtigen Entwicklungspfade durchaus an seine 'österreichische Phase' anknüpften. Für die Abbildung der spezifischen Kennzeichen sich entwickelnder Volkswirtschaften ergänzte Rosenstein-Rodan in den Problems (1943) diese 'österreichischen' Kontinuitätsfaktoren jedoch

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Rosenstein-Rodan, Paul Narziß durch „vier Innovationen" (1984, S. 208): die verdeckte Arbeitslosigkeit hervorrufende Überbevölkerung im Agrarsektor, die Existenz pekuniärer und technologischer Externalitäten sowie die fehlende - Infrastruktur in Entwicklungsländern. Als Ausgangspunkt und 'erste Innovation' für die Aufstellung eines Entwicklungsplans für Ost- und Südosteuropa untersuchte Rosenstein-Rodan mit seiner Forschungsgruppe am RIIA die 'Überschußbevölkerung' im Agrarsektor, die im Rahmen des Programms für die Industrialisierung dieser Region eingesetzt werden konnte und sollte. Entsprechend der von der Forschungsgmppe verfolgten empirischen Herangehensweise erforderte dies eine quantitative Schätzung der 'verdeckten Arbeitslosigkeit' in der Landwirtschaft. Mit der Quantifizierung wurde -» Heinz W. Arndt beauftragt, der in seinem Bericht Agricultural Surplus Population irt Eastern and Southeastern Europe (Arndt 1942) jene Definition der agrarischen 'Überschußbevölkerung' prägte, die über das Rodansche Forschungsprojekt hinaus auf die frühe entwicklungsökonomische Diskussion erheblichen Einfluß hatte (vgl. z.B. den UN-Report Measures for the Economic Development of Underdeveloped Countries, 1951, S. 8). Danach warder Umfang der verdeckten Arbeitslosigkeit definiert als „the number of people engaged in agriculture (active and dependents) who, in any given conditions of agricultural production, could be removed from the land without reducing agricultural output" (Arndt 1942, S. 4). Auf der Grundlage von Arndts Schätzungen bezifferte Rosenstein-Rodan (1943, S. 202) die Überbevölkerung im Agrarsektor auf zwanzig bis 25 Prozent. Die zentrale Stellung, die Rod an und die moderne Entwicklungsökonomie der verdeckten Arbeitslosigkeit als Element zur Erklärung ökonomischer 'Rückständigkeit' beimaßen, wird auch daran deutlich, daß er 1956 das Konzept mit seinem Aufsatz Disguised Unemployment and Underemployment in Agriculture gegen die Kritik von Theodore W. Schultz, der, wie andere Vertreter der ökonomischen Orthodoxie die Existenz dieser Form der Unterbeschäftigung negierte (Schultz 1956, insbes. 375), verteidigte und am Beispiel des italienischen Mezzogiomo empirisch untermauerte. Mit der zweiten und dritten Neuerung knüpfte Rosenstein-Rodan an Jacob Viners (1931, S. 38) im Rahmen der statischen Gleichgewichtstheorie getroffene Unterscheidung zwischen technologi-

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schen und pekuniären Externalitäten an. Jedoch stellen allein die erstgenannten direkte Interdependenzen zwischen Produzenten dar, die nicht über den Preismechanismus internalisiert werden und damit zu einer Abweichung vom Pareto-Optimum in der Gleichgewichtstheorie führen (vgl. Scitovsky 1954, S. 296ff.). Als Beispiel für die von Scitovsky diskutierten technologischen Externalitäten, die über die Produktionsfunktion direkt auf den Output wirken, können Investitionen eines Unternehmens in Humankapital dienen: Im Falle der Abwanderung von Arbeitern ist es dem in das Humankapital investierenden Unternehmen A nicht möglich, den (gesamten) Nutzen aus den Ausbildungsmaßnahmen zu internalisieren - im Gegensatz zu einem zweiten Unternehmen B, in dessen Produktionsfunktion dieses qualitativ höherwertige Humankapital ohne Kompensationsleistung an das Unternehmen Α eingesetzt wird. Rosenstein-Rodan sah in diesem bereits von Pigou (1920, S. 172f.) diskutierten Falle der Abweichung zwischen „'private and social marginal net product' where the latter is greater than the former" (1943, S. 205) einen der bedeutendsten Gründe für staatliche Aktivitäten im Industrialisierungsprozeß in Form der Bereitstellung von Ausbildungseinrichtungen für die Arbeitskräfte (ebd., S. 204f.; 1944, S. 160). Im Gegensatz zu technologischen Externalitäten begründen pekuniäre Externalitäten in der statischen Gleichgewichtstheorie noch kein Marktversagen - und damit auch keine Rechtfertigung staatlicher Eingriffe - , da sie in den Marktpreisen reflektiert werden. Anders in der dynamischen Betrachtung: Dort spielen pekuniäre Externalitäten im gesamtwirtschaftlichen Entwicklungs- und Industrialisierungsprozeß eine entscheidende Rolle, da sie bei den einzelwirtschaftlichen Investitionsentscheidungen nicht vollständig berücksichtigt werden (1961b, S. 59); denn durch Investitionen entstehen pekuniäre Externalitäten, die Unternehmen in anderen Branchen oder Sektoren begünstigen. Da jedoch nur im Gleichgewicht der ex ante-Investitionsbetrag der gesamtwirtschaftlich optimale ist, wird - bei Existenz von pekuniären Externalitäten - auf Grundlage der privatwirtschaftlichen Rentabilität der Investitionen die gesamtgesellschaftlich erwünschte Investitionshöhe unterschätzt. Rosenstein-Rodan zog daraus die Schlußfolgerung, daß erst durch die vollständige Integration aller Unternehmen und Branchen in einen die gesamte Volkswirtschaft umfassenden

Rosenstein-Rodan, Paul Narziß Investmenttrust die Abweichungen zwischen privaten Profiten und gesamtwirtschaftlichen Nutzen aufgelöst werden könne. Damit hatte er gezeigt, daß in seiner Entwicklungsstrategie des 'balanced growth' die gesamte neu zu schaffende Industrie in den Ländern Ost- und Südosteuropas wie ein einziger Konzern geplant und geleitet werden muß (1943, S. 204). Als 'vierte Innovation' diskutierte Rodan das Marktversagen bei der Bereitstellung öffentlicher Güter, insbesondere von Inftastnikturinvestitionen, die eine wichtige Voraussetzung für nachfolgende private Investitionen bilden, denn nur mit Hilfe massiver öffentlicher Investitionen könne das kritische Minimum an Investitionen erreicht werden, das für den erfolgreichen Start des Entwicklungsprozesses notwendig sei. RosensteinRodan betonte, daß dieser Infrastrukturkomponente ein zusätzliches Gewicht zukomme, wenn berücksichtigt werde, daß Entwicklung zugleich Urbanisierung bedeute, die ebenfalls erhebliche öffentliche Investitionen erfordere (1943 passim; 1961a, S. 107; 1961b, S. 63; 1984, S. 208 und 214). Um diese Entwicklungshindernisse, die jedoch zugleich Entwicklungschancen darstellten, überwinden bzw. ausnutzen zu können, sah Rosenstein-Rodan die Notwendigkeit staatlicher Entwicklungsprogramme - nicht partielle, inkrementelle Entwicklungsprojekte welche die gesamte Ökonomie umfassen mußten, um die Komplementaritäten in Konsum und Produktion für den Entwicklungsprozeß zu nutzen. Durch den damit auf einer breiten industriellen Basis und nicht nur in einzelnen Branchen steigenden Güteroutput in einem sich ständig vergrößernden Markt sollten sich alle Sektoren der Volkswirtschaft gleichmäßig entwickeln, wodurch wiederum positive Externalitäten entstehen würden und das (Absatz-) Risiko für den individuellen Produzenten vermindert werde (1943, passim). Rosenstein-Rodan hatte damit jene Elemente benannt, die in seiner Theorie des 'Big Push' (1961b; für eine Formalisierung des Modells vgl. Murphy u.a. 1989) als Bedingungen für den erfolgreichen Start eines gleichgewichtigen Entwicklungsprozesses ('balanced growth') notwendig waren (vgl. 1984, 201 f.). Bedingt durch seine Arbeit für diverse Entwicklungsorganisationen wandte sich Rosenstein-Rodan ab den 1950er Jahren verstärkt quantitativen Untersuchungen im Rahmen der Entwicklungs-

programmierung und der Entwicklungsplanung zu. Anknüpfend an seine früheren theoretischen Untersuchungen sah er die Programmierung der Investitionen als notwendig an, um marktliche Verzerrungen aufgrund von Unteilbarkeiten, Extemalitäten und Infomationsmängeln zu korrigieren, so daß „'programming' is just another word for rational, deliberate, consistent and coordinated economic policy" (1955, S. 4). Ein neuartiges Konzept zur Ermittlung der erforderlichen Höhe der ausländischen Kapitalhilfe für Entwicklungsländer legte Rodan 1961 vor (1961a; erweiterte deutsche Fassung 1964b). & untersuchte dazu den Entwicklungsstand und die Entwicklungspotentiale der Ökonomien von mehr als achtzig Ländern und bestimmte ihre 'Kapitalaufnahmefähigkeit' , d.h. ihre Fähigkeit, ausländische Kapitalzuflüsse produktiv zu nutzen. Ziel war dabei nicht der Ausgleich von Einkommensunterschieden zwischen den Ländern, sondern die Ermittlung einer Kenngröße, die es erlaubte, den Ländern ausreichend Kapital zur Verfügung zu stellen, damit ihre Volkswirtschaften auf einen sich selbst tragenden Wachstumspfad einschwenken konnten, bei gleichzeitigem optimalem Einsatz der endogenen Ressourcen dieser Volkswirtschaften (1961a, S. 107; 1964a, S. 165; 1969, S. 9f.). Dabei sollten die Kapitalzuflüsse der Art 'harte' oder 'weiche' Kredite - , nicht jedoch der Höhe nach von der „RückZahlungsfähigkeit" des jeweiligen Landes abhängig gemacht werden, um die Chancengleichheit zwischen den Ländern herzustellen. „Die RückZahlungsfähigkeit sollte nicht durch statische Projektion der gegenwärtigen Wirtschaftslage bestimmt werden, sondern das Einkommens- und Ersparniswachstum in Rechnung stellen, das sich mit der Durchführung eines wohldurchdachten Entwicklungsprogramms einstellen wird" (1964b, S. 168). Auch wenn sich die in dem Aufsatz The Have's and the Have-Not's around the Year 2000 geäußerte entwicklungspolitische Prognose Rosenstein-Rodans, die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts in den Entwicklungsländern würden jene der Industriestaaten langfristig überholen und damit die Wohlstandslücke zwischen beiden Ländergruppen schließen (1972, S. 32), bislang allenfalls für einige wenige Volkswirtschaften erfüllt hat (vgl. bspw. Bairoch 1993, insbes. S. 7), hatte Rodan einen herausragenden Anteil an der Generierung jenes Kems von entwicklungsökonomischen Theoriebausteinen, der die „high deve-

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Rosenstein-Rodan, Paul Narziß lopment theory" (Krugman 1993, S. 16) charakterisierte und der seinen intellektuellen Wert für die Analyse sich entwickelnder Ökonomien behalten wird. So sei, urteilte Krugman (ebd., S. 31), die 'Philosophie' der Neuen Wachstumstheorie letztlich jene der „high development theory". Sie stelle nur eine andere Frage, nämlich wie die Persistenz eines Wachstumsprozesses erklärt werden könne und nicht: Wie kann der Wachstumsprozeß selbst in Gang gesetzt werden? Schriften in Auswahl: (1927) [Artikel] Grenznutzen, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 4, Jena; S. 1190-1223; engl. Übers, durch W.F. Stolper: Marginal Utility, in International Economic Papers, Bd. 10(1960), S. 71-106; japan. Übers. 1930, Italien. Übers. 1937. (1930) Das Zeitmoment in der mathematischen Theorie des wirtschaftlichen Gleichgewichts, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. 1, S. 129142. (1933) La Complementarity: Prima delle Tre Etappe del Progresso della Teoria Economica Rura, in: La Riforma Sociale, Bd. 44, S. 257-308. (1934) The R61e of Time in Economic Theory, in: Economica, Bd. 1, S. 77-97. (1943) Problems of Industrialisation of Eastern and South-Eastern Europe, in: Economic Journal, Bd. 53, S. 202211.

(1944)

(1955)

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(1961a)

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(1964a)

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Rosovsky, Henry (bis 1944 Rosowsky), geb. 1.9.1927 in Danzig Rosovskys Eltern waren 1920 aus Rußland nach Danzig gekommen, wo der Vater als Holzhändler tätig war. Die von den Nationalsozialisten aus 'rassischen' Gründen verfolgte Familie emigrierte 1937 über Portugal zunächst nach Belgien, 1940

dann in die USA. Im Anschluß an den Militärdienst in den Jahren 1946 bis 1947 studierte Rosovsky am College of William and Mary, Williamsburg/Va., wo er 1949 den Bachelor's Degree erwarb. Nach zwei weiteren Jahren als First Lieutenant bei der U.S. Army setzte er sein Studium von 1953 bis 1959 in Harvard fort. Dort erlangte er 1953 den Master's Degree und wurde 1959 mit der Arbeit Japan's Capital Formation, 1868 1940 von -» Alexander Gerschenkron promoviert. Die Dissertation erschien 1961 unter leicht verändertem Titel. Sie legte den Grundstein für Rosovskys spätere Veröffentlichungen in seinen beiden Hauptarbeitsgebieten, der quantitativen und vergleichenden Wirtschaftsgeschichte sowie der Analyse des Entwicklungs- und Wachstumsprozesses Japans. Von 1957 bis 1958 war Rosovsky parallel zu seinem Graduiertenstudium in Harvard als Research Associate am Research Center in Economic Development and Cultural Change der University of Chicago tätig. Danach wirkte er bis 1965 an der University of California at Berkeley zunächst als Acting Assistant Professor und Associate Professor, ab 1962 dann als Full Professor. Ferner leitete er dort von 1962 bis 1965 als Chairman das Center of Japanese and Korean Studies. Seit 1965 arbeitet Rosovsky als Professor of Economics an der Harvard University. Von 1973 bis 1984 war er Dekan der Faculty of Arts and Sciences. Unter seinen zahlreichen Gastdozenturen und -Professuren haben die Aufenthalte an der Hitotsubashi University (1957 bis 1958), am Stanford Center in Tokio (1961 bis 1962) und an der University of Tokyo (1962) besonders zu seiner detaillierten Kenntnis der japanischen Wirtschaftsgeschichte beigetragen. Bereits mit seiner Dissertationsschrift (1961) wandte Rosovsky - neben einer quantitativen Darstellung des japanischen Wirtschaftswachstums seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - eine wirtschaftshistorisch vergleichende Methode an. So analysierte er die Ursachen der im internationalen Vergleich hohen Wachstumsraten des Realkapitals in Japan vor dem Hintergrund des Gerschenkronschen Modells der 'relativen Rückständigkeit'. In Übereinstimmung mit dem Industrialisiemngsmuster entwickelter europäischer Volkswirtschaften konnte er auch für Japan feststellen, daß dem Staat mit der Beseitigung institutioneller Entwicklungshemmnisse eine wichtige Rolle zukam und der moderne industrielle Sektor

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Rosovsky, Henry Japans mit Hilfe imitierter oder 'geborgter' Technologien entwickelt wurde. Diese Imitation bezog sich allerdings nicht auf den Konsum, wodurch in dem rohstoffarmen Land Konsumgüterimporte die Zahlungsbilanz nicht belasteten. Im Gegensatz zu den von Gerschenkron analysierten Faktoren stellte er jedoch das Vorhandensein relativ disziplinierter und gut ausgebildeter Arbeitskräfte, die friktionslos vom traditionellen in den modernen Sektor transferiert werden konnten und die somit einen effizienten Einsatz des knappen Produktionsfaktors Kapital ermöglichten, als besonderes Kennzeichen des japanischen Entwicklungsprozesses heraus. Ferner richtete sich der nachholende Industrialisierangsprozeß in Japan nicht wie in Deutschland oder RuBland auf die Schwerindustrie. Vielmehr wurde in einem traditionellen Industriezweig, der Textilgüterproduktion, die modernste und kapitalintensivste Technik angewandt. Daher übertrafen die japanischen Textilgüterexporte bereits am Ende des Ersten Weltkriegs diejenigen der USA und Indiens, in den frühen 1930er Jahre auch diejenigen Großbritanniens. Damit hatte die Textilindustrie in der japanischen Industrialisierung die gleiche Pionierrolle eingenommen, die sie auch in der britischen Industrialisierung gespielt hatte (vgl. 1961, S. 98 f. und 1979, S. 1011 f.; vgl. auch Pollard 1990, S. 83 f.). Obwohl Gerschenkron sein Modell hauptsächlich für die europäischen Volkswirtschaften entwickelt hatte, sah Rosovsky in ihm eine universellere Anwendbarkeit als bei der Rostowschen Entwicklungstheorie, die weltweite Gültigkeit über die Zeit hinweg für sich beanspruchte. Deren Stufenabfolge verglich er mit der Funktionsweise einer Wurstmaschine: Auf der einen Seite würden die jeweiligen Ressourcen eines Landes, sein unternehmerisches Potential, die Produktivität des Agrarsektors, die Außenhandelsmöglichkeiten usw. zugegeben und auf der anderen Seite kämen italienische Salami, deutsche Wurst oder russische Kolbassa heraus. Ein Entwicklungsmuster wie das japanische sei daher zwar mit der Gerschenkronschen, nicht jedoch mit der Rostowschen Theorie erklärbar (vgl. 1965b, S. 274). Dem 'take-off, der in der Rostowschen Stufentheorie am heftigsten umstrittenen Entwicklungsphase (vgl. Kuznets 1964), stellte Rosovsky das Konzept des 'Übergangs' gegenüber. Diese Übergangsperiode definierte er als „Zeitraum ... zwischen dem Augenblick, da modernes Wirtschaftswachstum zu einem nationalen Anliegen wird.

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und dem, da es erstmalig spürbar wird" (1968. S. 119), wobei er sich des Begriffs des 'modernen Wirtschaftswachstums' im Sinne der von Kuznets (1959) formulierten Kriterien bediente. Bei der Initiierung des Übergangs kam dem Staat eine wesentliche Bedeutung zu, da „mehr oder weniger spontanes Wachstum" zwar in England, nicht jedoch für andere Länder nachgewiesen werden könne. Gerade die japanische Regierung hatte während der Übergangsphase mit dem Betrieb von Fabriken, mit der Unterstützung einzelner Industriezweige und der Entwicklung des Humankapitals eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt, die wichtige Beiträge für das Anstoßen eines modernen Wachstumsprozesses darstellten (vgl. 1968, S. 146). In seiner Analyse der Übergangsphase wies Rosovsky auch auf die Bedeutung der institutionellen Reformen hin, die vor allem seit North (1992) wieder als Schlüssel für das Verständnis des historischen und ökonomischen Wandels angesehen werden. In der inflexiblen japanischen Klassenstruktur mit ihren strengen gesellschaftlichen Normen erkannte er ein Haupthindernis für den Beginn des modernen Wachstums, die zu einer Unterbeschäftigung - und damit zu einem ineffizienten Einsatz - gerade der gebildeten Bevölkerungsschichten geführt hatten. Durch die Neugruppierung der Gesellschaftsklassen in Verbindung mit der Schaffung eines modernen Systems des Privatbesitzes, mit Rechtsreformen und mit einer Aufhebung der rigiden Kontrollen sowohl bei Inund Auslandsreisen als auch bei Geschäftsverbindungen schuf die japanische Regierung zwischen 1868 und 1885 die institutionellen Voraussetzungen für die danach einsetzende ökonomische Expansion (vgl. 1968, S. 146 ff.). Die Rolle der Institutionen in der Transformationsperiode griff Rosovsky auch in den zusammen mit Herbert S. Levine verfaßten Kapiteln zu dem Band The Modernization of Japan and Russia (1975) auf. Wie in Japan so wurden auch in Rußland zu Beginn der dortigen Industrialisierung zwischen den 1860er und 1880er Jahren institutionelle Reformen - insbesondere die Bauernbefreiung - durchgeführt. Angesichts der zunächst unvollständig gebliebenen russischen Reformversuche, wies Rosovsky darauf hin, daß die Veränderung der Institutionen zunächst auch zu negativen ökonomischen Effekten fuhren könnten (vgl. 1975, S. 167). Damit kommt seine wirtschaftshistorische Analyse einer Auffassung des institutio-

Rosovsky, Henry nellen Wandels nahe, die von North (1992, S. 9) als Wechselspiel eines erfolgreichen Entwicklungsverlaufs mit fortgesetzten Fehlschlägen charakterisiert wurde. Gemeinsam mit Kazushi Ohkawa publizierte Rosovsky 1973 das Buch Japanese Economic Growth. Trend Acceleration in the Twentieth Century, in dem sich die Autoren dem auf die erfolgreich abgeschlossene Übergangsphase folgenden modernen Wachstumsprozeß zuwandten. Unter Rückgriff auf die von ihnen entwickelte Theorie der 'long swings' (19S8 und 1965a) modellierten die beiden Autoren diesen Prozeß als wiederkehrende, jedoch in ihrer Dauer und Stärke unterschiedliche Wellen mit gemeinsamen Charakteristika. Die 'long swings' basieren auf anderen Ursachenfaktoren als die etwa gleich langen Kuznets-Zyklen für Westeuropa und Nordamerika. Der Wachstumszyklus habe in der Form eines Gerschenkronschen Investitionsspurts (vgl. 1973, S. 211) mit dem Aufholen eines technologischen Rückstandes durch den Einsatz fortgeschrittener ausländischer Technik im modernen Sektor der japanischen Wirtschaft begonnen. In der Folge seien jedoch die interne Kapitalverzinsung und die Löhne gestiegen. Die dadurch gesunkenen Ertragserwaitungen für technische Innovationen lösten eine Wachstumspause aus. Diese sei mit einem neuerlichen Zurückfallen des technologischen Standes verbunden gewesen. Gleichzeitig habe sich jedoch ein Stau an ungenutzten technischen Neuerungen gebildet, die den Prozeß von neuem in Gang setzten. Mit ihrer auf importierten Innovationen basierenden 'internationalen Schumpeter-Entwicklungstheorie' wandten sich Ohkawa und Rosovsky vor allem gegen die Auffassung vom exportgesteuerten Wachstumsprozeß der japanischen Wirtschaft (vgl. 1973, S. 173 f.). Das wissenschaftliche Werte Rosovskys mag in seiner Konzentration auf Japan zunächst den Eindruck gewisser Einseitigkeit erwecken. Jedoch gewinnen seine Arbeiten gerade daraus ihre besondere Bedeutung, denn in ihnen spiegelt sich die wirtschaftshistorische Kontroverse um die Gültigkeit der Stufentheorie zwischen Rostow (1960) auf der einen und Gerschenkron (vgl. z.B. 1962) sowie Kuznets (vgl. z.B. 1964) auf der anderen Seite wider. Darüber hinaus entwickelte Rosovsky zusammen mit Ohkawa auf der Basis der Analyse des Wachstumsprozesses der japanischen Wirtschaft mit seiner Theorie der 'long swings' eine eigenständige, explizit nicht universell gültige Er-

klärung langer Perioden des homogenen Wirtschaftswachstums (vgl. 1965b, S. 275). Neben anderen akademischen Ehningen erhielt Rosovsky 1963 den Schumpeter-Preis der Harvard University und 1982 den Ehrendoktor der Hebrew University of Jerusalem. 1984 ernannte ihn die französische Regierung zum Ritter der Ehrenlegion. Schriften in Auswahl: (1961) Capital Formation in Japan, 18681940, New York (Diss.). (1962) Economic Fluctuations in Prewar Japan. A Preliminary Analysis of Cycles and Long Swings (zus. mit Κ. Ohkawa), in: Hitotsubashi Journal of Economics, Bd. 3, S. 10-33. (1963) Recent Japanese Growth in Historical Perspective (zus. mit Κ. Ohkawa), in: American Economic Review, Bd. 53 (2), S. 578-588. (1965a) A Century of Japanese Economic Growth (zus. mit Κ. Ohkawa), in: W. W. Lockwood (Hrsg.): The State and Economic Enterprise in Japan. Essays in the Political Economy of Growth, Princeton, NJ., S. 47-92. (1965b) The Take-Off into Sustained Controversy, in: Journal of Economic History, Bd. 25, S. 271-275. (1968) Japans Übergang zum modernen Wirtschaftswachstum 1868-1885, in: W. Fischer (Hrsg.): Wirtschaftsund sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, Berlin, S. 118-178 (engl. Org.: Japan's Transition to Modern Economic Growth, 1868-1885, in: Industrialization in Two Systems. Essays in Honor of Alexander Gerschenkron, hrsg. von H. Rosovsky, New York u.a. 1966, S. 91-139). (1973) Japanese Economic Growth. Trend Acceleration in the Twentieth Century (zus. mit Κ. Ohkawa), London, Stanford, Cal. (1975) [Kapital 4, 10 und 16 (zus. mit H.S. Levine) in:] The Modernization of Japan and Russia. A Comparative Study, by C.E. Black u.a., London, New York.

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Rothbarth, Erwin (1979)

(1985)

(1992)

Alexander Gerschenkron. Α Personal and Fond Recollection, in: The Journal of Economic History, Bd. 39, S. 1009-1013. The Japanese Economy in Transition (zus. mit H. Patrick), in: T. Shishido, R. Sato (Hrsg.): Economic Policy and Development. New Perspectives, Dover u.a., S. 159-170. The Political Economy of Japan. Bd. 3, Cultural and Social Dynamics (hrsg. zus. mit S. Kumon), Stanford, Cal.

Bibliographie: Gerschenkron, A. (1962): Economic Backwardness in Historical Perspective, in: Ders.: Economic Backwardness in Historical Perspective. A Book of Essays, Cambridge, Mass., S. 5-30 (= ergänzter Nachdr. d. Aufsatzes in: The Progress of Underdeveloped Areas, hrsg. von B.F. Hoselitz, Chicago 1952). Kuznets, S. (1959): Lecture I, in: Six Lectures in Economic Growth, Glencoe, S. 13-28. Kuznets, S. (1964): Notes on the Take-off, in: W.W. Rostow (Hrsg.): The Economics of Takeoff into Sustained Growth, London, New York, S. 22-43. North, D.C. (1992): Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen (engl. Orig.: Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge u.a. 1990). Pollard, S. (1990): Typology of Industrialization Processes in the Nineteenth Century, Chur. Rostow, W.W. (1960): The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifesto, Cambridge, Mass. Quellen: Β Hb II; AEA; Blaug. Hans Ulrich Eßlinger

Rothbarth, Erwin, geb. 16.12.1913 in Frankfurt/Main, gest. 25.11.1944 in Venraij/ Niederlande Erwin Rothbarth wurde als Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts in Frankfurt geboren, wo er im Herbst 1932 mit dem Studium der Rechtswissenschaft an der dortigen Reformuniversität begann. Bereits nach einem Semester muBte Rothbarth, der auch Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war, sein Studium in Frankfurt abbrechen und

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emigrierte im Frühjahr 1933 nach England, wo er mit der finanziellen Unterstützung des Ehemannes einer Kusine nunmehr Wirtschaftswissenschaft an der London School of Economics studierte. Rothbarth, dem sein Tutor schon nach einem Jahr bescheinigte, to be „the nearest approach to genius I have struck among students" (Champemowne/ Kaldor 1945, S. 130), graduierte 1936 mit Auszeichnung und erhielt eine Reihe von Preisen und Forschungsstipendien. Seit 1936 war er in engem Kontakt mit Nicholas Kaldor und Michal Kalecki, mit dem er sich intensiv über die dynamische Entwicklung kapitalistischer Ökonomien austauschte (vgl. Kaleckis Nachruf)· 1938 wechselte Rothbarth auf Empfehlung Kaldors als Forschungsassistent fur Statistik an die Faculty of Economics and Politics der Universität Cambridge, wo er als enger Mitarbeiter von David Champemowne u.a. mit Pigou und vor allem mit Keynes zusammenarbeitete. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs gehörte er vom 13. Mai bis zum 24. August 1940 zu den Emigranten, die als 'enemy aliens' auf der Isle of Man interniert wurden. Im AnschluB an seine Freilassung aus der Internierungshaft verblieben ihm vier Jahre reger Forschungstätigkeit, in denen er seine Reputation als Statistiker und mathematischer Ökonom weiter ausbaute. Eine Reihe kleiner, aber gewichtiger Artikel und Rezensionen erschien in den beiden Zeitschriften Economic Journal und dem Review of Economic Studies, derem Gremium junger Herausgeber Rothbarth selbst seit März 1937 angehörte. Eine größere theoretisch, empirisch und historisch angelegte Studie über den zyklenhaften Wachstumsprozeß der kapitalistischen Wirtschaft konnte er nicht mehr beenden. Rothbarth, der als Kriegsfreiwilliger kurz nach der alliierten Landung in einer Einheit des Suffolk-Regiments der britischen Armee nach Frankreich gegangen war, starb einige Monate später beim Angriff der Alliierten auf Schloß Geijsteren nahe Venraij in den Niederlanden. Er hinterließ Myfanwy Charles, die er im September 1940 geheiratet hatte, und einen Sohn. Als Keynes unmittelbar nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit seinen Studien über die angemessene Finanzierung der Kriegslasten begann, die zu den beiden Aufsätzen The Income and Fiscal Potential of Great Britain und dem Klassiker How to Pay for the War (Keynes 1978, S. 52 ff.) führte, kam es zu einer engen Zusammenarbeit mit Rothbarth, der entscheidende statistische Zuarbeiten leistete. Die von Keynes und Rothbarth

Rothbarth, Erwin vorgenommenen Schätzungen des Volkseinkommens im Anhang des zweiten Aufsatzes verwenden erstmals ein konsequentes System der doppelten Buchführung und stellen damit ein wichtiges Bindeglied in der Geschichte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung von den Arbeiten Colin Clarks zu jenen von James Meade und Richard Stone dar (vgl. ausfuhrlich Cuyvers 1983). So ist es denn auch verständlich, daB Rothbarth zusammen mit dem Italiener Piero Sraffa sowie -» Hans Singer und -» Eduard Rosenbaum zum Kreis derjenigen internierten Ökonomen gehörte, für deren Freilassung sich Keynes besonders intensiv einsetzte (Moggridge 1992, S. 635 f.). Keynes erachtete die Intemierung der vor dem Faschismus nach Großbritannien geflohenen Emigranten als „the most disgraceful and humiliating thing which has happened for a long time" und schloB seinen Brief an F.C. Scott vom 23. Juli 1940 mit der Feststellung ab: „If there are any Nazi sympathisers at large in this country, look for them in the War Office and our Secret Service, not in the internment camps" (1978, S. 191). Keynes, der bis hin zum Home Secretary intervenierte, gelang es, Rothbaith, dessen Arbeiten er als sehr wichtig einstufte, relativ frühzeitig für seine Forschungstätigkeit in Cambridge freizubekommen. Rothbarths unmittelbar danach verfaßter Aufsatz The Measurement of Changes in Real Income under Conditions of Rationing (1941a), in dem er das Konzept des virtuellen Preissystems in der Theorie der Rationierung entwickelte, mufi als sein wichtigster Beitrag angesehen werden, der auch weit nach Kriegsende in der führenden Literatur Beachtung fand, wie z.B. Tobins grundlegender Überblicksartikel zur Rationierungstheorie (1952, S. 529 f.) zeigt. Rothbarths Analyse, in der er sich mit dem in Kriegszeiten besonders relevanten Rationierungsphänomen auseinandersetzt, zeugt von einer genauen Kenntnis der neuesten Entwicklungen in der von Hans Staehle, -»Abraham Wald u.a. geprägten Theorie der Preisindexzahlen (vgl. auch Rothbarth 1943-45) ebenso wie in der von Slutsky, Hicks, Kaldor u.a. geprägten Wohlfahrtstheorie und stellt einen „fundamentalen Beitrag zur Lösung des Problems" (Kalecki 1944-45, S. 121) der Messung von Realeinkommensänderungen unter Bedingungen der Rationierung dar. Das Grundproblem, die wohlfahrtsökonomischen Konsequenzen der Rationierung zu bestimmen, besteht darin, das „virtuelle Preissystem" zu ermitteln, welches die unter den Bedin-

gungen der Rationierung tatsächlich konsumierten Gütermengen zu den „optimalen", d.h. vom Konsumenten unter den Bedingungen freier Marktpreisbildung bei gegebenen nominellen Einkommen präferierten Gütermengen macht (Rothbarth 1941, S. 106). Die Bestimmung eines solchen virtuellen Preissystems erweist sich jedoch angesichts der interpersonellen Unterschiede in den Präferenzen und in den Einkommen als ausgesprochen schwierig, wenn nicht unmöglich. Gleichwohl stellt Rothbarths Versuch der Bestimmung der erforderlichen Einkommensänderung bei freier Marktpreisbildung einen wichtigen Schritt in der Auseinandersetzung mit den wohlfahrtsökonomischen Konsequenzen der Rationierung dar. Rothbarths Reputation als Ökonom war größer in der berühmten Oral Tradition von Cambridge, als es in der Wirkung über die Publikationen nach außen zum Ausdruck kam. Dies dokumentiert z.B. auch das Vorwort von Joan Robinson zu ihrem bekannten Essay zur Marxistischen Wirtschaftstheorie, in dem sie Rothbarth „for many helpful discussions and criticisms" (Robinson 1966, S. XXIV) dankt. Publizistisch kamen Rothbarths Forschungsinteressen auch in einer Reihe brillanter Rezensionsartikel zum Ausdruck, so von Colin Clarks Conditions of Economic Progress (Rothbarth 1941b) und vor allem Jan Tinbergen's Testing of Business-Cycle Theories (Rothbarth 1941c) sowie Joseph A. Schumpeters Business Cycles (Rothbarth 1942), die wahre Kleinode darstellen. Bei aller Wertschätzung der besprochenen Autoren verdeutlichen diese Artikel die Originalität und Reichhaltigkeit des Rothbarthschen Denkens, sowie sein Streben nach einer Erklärung der langfristigen Wachstumszyklen kapitalistischer Ökonomien. Rothbarth demonstriert dabei profundes Wissen über die neuesten Entwicklungen in der Wirtschaftstheorie wie auch in der kurz zuvor begonnenen ökonometrischen Revolution. Hinzu kommen genaue Kenntnisse der Statistik und der Wirtschaftsgeschichte. Dies alles reflektiert sein letzter als Soldat verfaßter Aufsatz Causes of the Superior Efficiency of U.S.A. Industry as Compared with British Industry (1946), der posthum veröffentlicht wurde. In diesem auch aus heutiger Sicht interessanten Fragment fuhrt Rothbarth die höhere Produktivität der US-amerikanischen Wirtschaft vor allem darauf zurück, daß die Industrie angesichts des Landreichtums und der Knappheit von Arbeitskräften auf die Einführung

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Rothschild, Kurt Wilhelm arbeitsparender Maschinerie angewiesen war, bis die Produktivität hinreichend groB war, um gegenüber der Landwirtschaft relativ attraktive Löhne zahlen zu können. Die Kostenvorteile der Massenproduktion seien dadurch verstärkt worden, daß die Kaufkraft weitgehend in die Hände von Wirtschaftssubjekten flöß, die - anders als bei den in Großbritannien auch in der Mittelklasse vorhandenen „aristokratischen" Kaufgewohnheiten mit einer Präferenz für individuelle Produkte - auch bereit waren, große Mengen dieser standardisierten Produkte zu erwerben. Schriften in Auswahl: (1941 a) The Measurement of Changes in Real Income under Conditions of Rationing, in: Review of Economic Studies, Bd. 8, S. 100-107. (1941b) Rezension des Buches 'The Conditions of Economic Progress' (1940) von Colin Clark, in: Economic Journal, Bd. 51, S. 120-124. (1941 c) Rezension des Buches ' Statistical Testing of Business-Cycle Theories, Bd. Π: Business Cycles in the United States of America, 1919-32' von Jan Tinbergen, in: Economic Journal, Bd. 51, 1941, S. 293-297. (1942) Rezension des Buches 'Business Cycles: A Theoretical, Historical and Statistical Analysis of the Capitalist Process' von Joseph A. Schumpeter, in: Economic Journal, Bd. 52, S. 223229. (1943-45)

(1946)

A Note on an Index Number Problem, in: Review of Economic Studies, Bd. 11-12, S. 91-98. Causes of the Superior Efficiency of U.S.A. Industry as Compared with British Industry, in: Economic Journal, Bd. 56, S. 383-390.

Bibliographie: Champemowne, D.G./Kaldor, N. (1945): Erwin Rothbarth, in: Economic Journal, Bd. 55, S. 130132. Cuyvers, L. (1983): Keynes's Collaboration with Erwin Rothbarth, in: Economic Journal, Bd. 93, S. 629-636. Cuyvers, L. (1983-84): Erwin Rothbarth's life and work, in: Journal of Post Keynesian Economics, Bd. 6, S. 305-312.

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De V. Graaff, J. (1947-18): Rothbarth's „Virtual Price System" and the Slutsky Equation, in: Review of Economic Studies, Bd. 15, S. 91-95. Kalecki, M. (1944-45): The Work of Erwin Rothbarth, in: Review of Economic Studies, Bd. 12, S. 121-122. Keynes, J.M. (1978): The Collected Writings of John Maynard Keynes. Bd. XXII, Activities 1939-45: Internal War Finance, hrsg. von D. Moggridge, London. Moggridge, D.E. (1992): Maynard Keynes. An Economist's Biography, London und New York. Robinson, J. (1942): An Essay on Marxian Economics, 2. Aufl., London 1966. Tobin, J. (1952): A Survey of the Theory of Rationing, in: Econometrica, Bd. 20, S. 521-553. Quelle: NP. Harald Hagemann

Rothschild, Kurt Wilhelm, geb. 21.10.1914 in Wien Er studierte zunächst Rechtswissenschaften an der Universität Wien (von 1933 bis 1938), interessierte sich aber bald für die Probleme der Wirtschaftspolitik und -theorie. Diesem Interesse konnte er aber in Wien nicht mehr nachgehen. Denn als er 1938 seinen Titel als Doktor der Rechtswissenschaften erhielt, war er einer der letzten jüdischen Studenten, die ihren Titel im Rahmen einer 'inoffiziellen' Zeremonie verliehen bekamen. Angesichts der drohenden Gefahr bewarb sich Kurt Rothschild um ein Stipendium an der Universität von Glasgow. Von 1938 bis 1940 studierte er dort Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsphilosophie und erwarb den M.A. (Hons.) in Economics and Political Philosophy (1940). Von 1940 bis 1947 arbeitete er als Assistant Lecturer und später als Lecturer in Economics an der Universität Glasgow. 1947 kehrte Rothschild nach Österreich zurück und wurde als wissenschaftlicher Referent am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung tätig. Er blieb dort bis 1966, als er einen Ruf als ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an die Universität Linz erhielt. Dort emeritierte er 1985. Gastprofessuren nahm er in Glasgow, St. Andrews, Salford, Saarbrücken und Melbourne wahr. Er wurde mit Ehrendoktoraten der Universitäten Aachen, Augsburg und Bremen ausgezeichnet.

Rothschild, Kurt Wilhelm Die Arbeiten von Keynes und Kalecki haben, zusammen mit jenen von Schumpeter, Marx, Lange und Sweezy das Denken Rothschilds nachhaltig geformt. Dabei hatten einige Erfahrungen in seinem Leben einen entscheidenden Einfluß auf seine Arbeit und seine Persönlichkeit. In erster Linie erklärt wohl die schreckliche Erfahrung der Massenarbeitslosigkeit in den dreißiger Jahren das tiefe Interesse Rothschilds für die Aibeitsmarktund Beschäftigungspolitik, die eines der Hauptthemen seiner späteren Forschungen werden sollten. Außerdem trug der Wechsel von der marginalistischen Schule in Wien zur Keynesianischen Ökonomie in Glasgow zu seinem Interesse an einem fruchtbaren Nebeneinander rivalisierender Schulen bei (1989). Liest man Rothschilds Artikel und Bücher und beschäftigt man sich mit seinen Beiträgen zur wissenschaftlichen Diskussion, so kann man seine Toleranz gegenüber widersprüchlichen Ideen und Theorien kaum übersehen: Seine Fähigkeit, sich mit Pardigmen auseinanderzusetzen, die er nicht teilt oder teilen kann, spiegelt Toleranz und Liberalität wider. Seine Arbeiten zeichnen sich auch durch einen klaren und prägnanten Stil und die Fähigkeit aus, kurze und verständliche Erklärungen für komplizierte Zusammenhänge zu geben. Schließlich war auch seine Forschungstätigkeit am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung, wo er beinahe 20 Jahre arbeitete, eine entscheidende Erfahrung. Dort war er in der täglichen Arbeit gezwungen, sich mit empirischen Daten und statistischen Methoden gründlich vertraut zu machen. Aufgrund der Notwendigkeit, mit seinem wirtschaftstheoretischen Ansatz an praktische Anwendungen und politische Ratschläge heranzugehen, verstärkte sich seine schon immer sehr kritische Haltung gegenüber eleganten, aber nutzlosen Theorien. Sie sollten als Werkzeuge betrachtet werden, die man dem zu behandelnden Problem entsprechend wählt (Joan Robinson). Da Rothschild unter dem Einfluß zweier sehr verschiedener wirtschaftstheoretischer Schulen stand, wird es niemanden überraschen, daß er sein eigenes, unabhängiges wirtschaftstheoretisches Denken entwickelte. „Er kann kaum als jemand betrachtet werden, der einer ökonomischen Schule zuzuordnen ist" (Laski 1987). Aus dem Blickwinkel seiner makroökonomischen Schriften, etwa zur Verteilungs- oder Wachstumstheorie (1954, 1985 sowie 1959) könnte man ihn als Keynesianer

bezeichnen, dies jedoch nicht im Sinne der amerikanischen Tradition von Tobin und Samuelson, sondern in der fundamentalistischen Tradition von Joan Robinson und Kahn. Sein wahrscheinlich wichtigster mikroökonomischer Beitrag war sein 1947 publizierter Artikel über Price Theory and Oligopoly, eine wegbereitende Arbeit, die Ausgangspunkt vieler anderer Arbeiten zur Oligopoltheorie wie z.B. jene zu 'Limit pricing' (Andrews 1964, Sylos-Labini 1962) oder zur Reservekapazität als Mittel des Konkurrenzkampfes (Cowling 1982) war. Rothschild vertrat die Ansicht, daß Oligopole bei weitem die wichtigste Marktform darstellten, obwohl sie in den Lehrbüchern als eher nebensächlich und als Sonderfall behandelt würden. Letztere Einschätzung scheint von den Autoren der meisten mikroökonomischen Lehrbücher (mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen, zum Beispiel Koutsoyiannis 1975) noch immer geteilt zu werden. Will man Preise und Preisveränderungen in oligopolist! sehen Märkten erklärbar machen, so müsse der methodologische Ansatz von rein mechanistischen Modellen zu Modellen strategischen Verhaltens - analog zu jenen militärischen Denkens und Planens - verschoben werden. Das Verhalten großer Oligopole werde von dem Wunsch gelenkt. Gewinne zu sichern und mittel- und langfristig zu Uberleben, aber nicht notwendigerweise vom Streben nach kurzfristiger Maximierung der Gewinne. Diese Unternehmen seien sich ihrer gegenseitigen Abhängigkeit wohl bewußt und sie schöpften den breiten Rahmen wirtschaftlicher und politischer Aktivitäten, der ihnen zur Erreichung ihrer Ziele zur Verfügung steht, sehr wohl aus. Die aus solchem Umstand resultierende Unsicherheit über das Verhalten dieses wichtigen Teils der Wirtschaftsakteure mache die Existenz oder zumindest die Eindeutigkeit eines Gleichgewichtspreissystems unmöglich (1981, S. 20). Daher ist Rothschilds Meinung hinsichtlich des methodologischen Status des allgemeinen Gleichgewichts sehr klar: Das allgemeine Gleichgewichtsmodell sei eine hochentwickelte Formalisierung des Konzepts der unsichtbaren Hand von Adam Smith. Es sei aber weder eine positive Beschreibung der realen Welt noch ein normatives Modell dieser Welt: die dominierenden oligopolistischen Märkte machten ein allgemeines Gleichgewicht unmöglich. Es sei außerdem unwahrscheinlich, daß unter pareto-optimalen Bedingun-

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Rothschild, Kurt Wilhelm gen Gleichheit und soziale Gerechtigkeit entstehen können (1981). Gehe man davon aus, daB große Oligopole in den modernen Wirtschaftssystemen eine entscheidende Rolle spielen, müsse man den Begriff der 'Macht' in die ökonomischen Überlegungen einbeziehen (1971). Rothschild konnte erfolgreich nachweisen, daB Macht, strategisches Verhalten, soziale Institutionen und psychologische Elemente in Betracht gezogen werden müssen, will man makroökonomische Phänomene verstehen. Auf der Basis dieser methodologischen Prämisse befaßte er sich (unter anderem) mit der Außenwirtschaftstheorie, der Verteilungstheorie, der Theorie des Arbeitsmarkts im allgemeinen und der Arbeitslosigkeit im besonderen. Rothschild wurde nicht müde, auf den entscheidenden Unterschied zwischen Gütermarkt und Arbeitsmarkt hinzuweisen: Während Güter von ihrem Produzenten getrennt werden können und ihre Transaktionen als von ihnen unabhängig betrachtet werden können, sei die Arbeit ein untrennbarer Teil des Lebens eines Arbeitenden, sie könne von ihrem Produzenten nicht getrennt gesehen werden. Daher brächten Preisdifferentiale am Arbeitsmarkt, also Lohnunterschiede, den Arbeiter nicht notwendigerweise dazu, seinen Arbeitsplatz, sein Heim und sein Land zu wechseln. Der Marktmechanismus sei somit auf den Arbeitsmärkten von geringerer Relevanz, und Lohnflexibilität sei nicht notwendigerweise ein Allheilmittel gegen Arbeitslosigkeit. Schließlich überzeugte Rothschild seine Studenten davon, die Ökonomie als ein Instrument zu betrachten, das in letzter Konsequenz sozial relevant sein sollte und nicht reine l'art pour Part. Er ruft in Erinnerung, daß die Wirtschaftswissenschaft sowohl eine Sozialwissenschaft als auch eine positive Wissenschaft ist (1989). Es sei daher weder akzeptabel, daB die Ökonomie sich auf den Status der reinen Formalwissenschaft zurück-, noch daß sich die politische Ökonomie dem öffentlichen Leben und der öffentlichen Diskussion entziehe.

Schriften in Auswahl: (1947) Price Theory and Oligopoly, in: Economic Journal, Bd. 57, S. 299-320, (dt. Übers.: Preistheorie und Oligopol, in: Α. E. Ott (Hrsg.): Preistheorie, Köln/Bonn, 1965, S. 354-375). (1954) The Theory of Wages, Oxford.

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(1959)

(1971) (1981) (1985)

(1989)

(1990)

(1993a)

(1993b)

The Limitations of Economic Growth Models: Critical Remarks on Some Aspects of Mr. Kaldor's Model, in: Kyklos, Bd. 12. S. 567-588. Power in Economics, Harmondsworth. Einführung in die Ungleichgewichtstheorie, Berlin. Some Notes on Weintraub's Eclectic Theory of Income Shares, in: Journal of Post Keynesian Economics, Bd. 7, S. 575-593. Political Economy or Economics? Some Terminological and Normative Considerations, in: European Journal of Political Economy, Bd. 5, S. 1-12. Arbeitslose: Gibt's die? Ausgewählte Beiträge zu den ökonomischen und gesellschaftspolitischen Aspekten der Arbeitslosigkeit. Herausgegeben von Reiner Buchegger, Monika Hutter und B61a Löderer, Marburg, (enth. Bibliographie, S. 295-320). Employment, Wages and Income Distribution: Critical Essays in Economics, London. Ethics and Economic Theory. Ideas Models - Dilemmas, Aldershot.

Bibliographie: Andrews, P.W.S. (1964): On Competition Theory, London. Cowling, K. (1982): Monopoly Capitalism, London. King, J.E. (1994): Kurt Rothschild and the Alternative Austrian Economics, in: E. Matzner/E. Nowotny (Hrsg.), Was ist relevante Ökonomie heute? Festschrift für Kurt W. Rothschild, Marburg, S. 13-35. Koutsoyiannis, A. (1975): Modern Microeconomics, London. Laski, K., u.a. (Hrsg.) (1979): Beiträge zur Diskussion und Kritik der neoklassischen Ökonomie. Festschrift für Kurt W. Rothschild und Josef Steindl, Berlin u.a. (enth. Bibliographie, S. 261264). Laski, K. (1987): Rothschild, Kurt Wilhelm, in: The New Palgrave. A Dictionary of Economics, Bd. 4, London/Basingstoke S. 223-224. Sylos-Labini, P. (1962): Oligopoly and Technical Progress, Cambridge, Mass.

Rüstow, Alexander Quellen: Persönliches Gespräch mit K.W. Rothschild; Rothschild, K.W.: Glimpses of a Non-Linear Biography, in: Banca Nazionale Del Lavoro, No. 176, 1991; BHb II; AEA; Arestis/Sawyer. Wolfgang Blaas

Rüstow, Alexander, geb. 8.4.1885 in Wiesbaden, gest. 30.6.1963 in Heidelberg Rüstow muB zugleich als der wichtigste Mitbegründer der neoliberalen Schule und als 'Vollender' - in jenem Hegeischen Doppelsinn - der Heidelberger kultursoziologischen Schule angesehen werden. Er entstammte einer alten preußischen Offiziersfamilie, der nichtgeadelte Vater stieg späterhin zum General auf, sein Großonkel war jener Friedrich Wilhelm Rüstow, der als einer der wenigen königlich preußischen Offiziere 1848/49 für die Freiheit optiert hatte und späterhin Generalstabschef Garibaldis wurde. Rüstow zitierte gern dessen von Franz Mehring berichteten Ausspruch, „so erhaben wie heiter", seinem Freund Herwegh gegenüber „Wir beide passen für diese kleinen Skandalgeschichten nicht, auf welche die ganze Arbeitersache hinausläuft". Rüstow selber offenbarte bereits beim Besuch des BismarckGymnasiums zu Berlin, an dem er vorzeitig 1903 die Reifeprüfung ablegte, die angeborenen wissenschaftlichen Neigungen. Gleichzeitig war er führend in der Jugendbewegung tätig, die er auf jener denkwürdigen Tagung, von der noch heute am Steglitzer Rathaus eine Gedenktafel zeugt, mitbegründet hatte. In den Jahren 1903 bis 1908 studierte der eigenwillige Student Mathematik, Physik, Philosophie, Psychologie, klassische Philologie und Nationalökonomie an den Universitäten Göttingen, München und Berlin; in der ersten Vorlesungsstunde hatte er bereits den Entschluß gefaßt, daß Lektüre und Dialog die ihm gemäße Form des Studiums seien. Im Krieg bewährte er die ererbten soldatischen Tugenden - er hatte eine Habilitationsarbeit über Parmenides unverrichtet abbrechen müssen - als Beobachtungsoffizier der Feldartillerie, weit vor der Front, indem er die Feuerleitstelle dirigierte. Zuvor war er von 1908 bis 1911 verantwortlicher wissenschaftlicher Abteilungsleiter des B.G. Teubner Verlages zu Leipzig gewesen, dessen jedem Gymnasiasten gut erinnerliche Bibliotheca Scriptorum et Romanorum er insbesondere betreute. Aus dem Krieg mit dem ΕΚ 1. und 2. Klas-

se und dem Hausorden der Hohenzollern heimgekehrt, übernahm er von 1919 bis 1924 eine Position als Referent im damaligen Reichswirtschaftsministerium. Er wurde insbesondere mit Kartellfragen betraut und wirkte federführend an der bekannten 'Verordnung gegen den Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellung' (1923) mit, über deren mangelnde Wirksamkeit er vom ersten Tage an illusionslos war, so daß der Abschied von der Ministeriumstätigkeit ihm erwünscht war. Obwohl auch er damals von der „barocken Felsenmelodie" des Marxismus fasziniert war, wurde doch bereits der Keim zu jenen Einsichten gelegt, die 1957, wenn auch längst nicht in dem von ihm vorgeschlagenen Umfang, ihren Niederschlag im 'Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen' gefunden haben. Von 1924 bis 1933 war Rüstow dann wissenschaftlicher und wirtschaftspolitischer Berater des Vereins Deutscher Maschinenbauanstalten, was Gelegenheit bot, die einmal konzipierten Einsichten analytisch zu vertiefen und systematisch zu erhärten. Im September 1932, als es in Deutschland mehr als fünf Millionen Arbeitslose gab und die wirtschaftliche Not zu einer tiefgreifenden Erschütterung der Weimarer Republik führte, kam der Verein für Socialpolitik zu seiner letzten Tagung vor seiner Auflösung zusammen. Rüstow trat dort jener lautstarken Gruppe entgegen, die eine völlige Abkehr von liberalen Prinzipien und die Unterstellung der Volkswirtschaft unter staatliches Kommando postulierte. In seinem grundlegenden Referat in Dresden konnte er demgegenüber die längst in ihm gereiften Prinzipien der späterhin sog. neoliberalen Schule entwickeln, indem er zugleich den Begriff des liberalen Interventionismus prägte. Alsbald nach der nationalsozialistischen 'Machtergreifung', die Rüstow heraufziehen gesehen hatte, ging er aus freien Stücken, ohne 'rassische' Versippung oder formale politische 'Belastung' in die Emigration, was sich nachträglich als sehr ratsam erwies, da er auf der letzten, nicht mehr verwirklichten Kabinettsliste des Generals von Schleicher als präsumptiver Wirtschaftsminister fungierte, was im Zusammenhang mit dem 30. Juni 1934 sicher auch fiir ihn die bekannten Folgen gezeitigt hätte. Noch im selben Jahr 1933 wurde er durch Vermittlung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft in Zürich auf den neugeschaffenen Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie und Sozialgeschichte an der Universität Istanbul berufen.

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Rüstow, Alexander Doit entwickelte und vertiefte er seine Konzeptionen in der Diskussion mit -» Wilhelm Röpke weiter, für den diese ,,unvergeBliche[n] Jahre gemeinsamen Wirkens und täglichen Gesprächs miteinander" ebensolche Bedeutung hatten. Die intensive Anteilnahme am weltpolitischen Umbruch mag Rüstows Teilnahme an dem 1938 unter dem Patronat des Institut International de Cooperation Intellectuelle in Paris abgehaltenen 'Colloque Walter Lippmann' illustrieren, auf dem er eins der wichtigsten Referate hielt. Dort wurde auch der für die ganze Schule charakteristische neue Name 'Neoliberalismus' geboren, was in Röpkes Augen allerdings „das am wenigsten glückliche Ergebnis der Konferenz gewesen ist". Die Umstände verhindern während des Krieges, einen Ruf in die USA anzunehmen, was der reichen wissenschaftlichen Arbeit in Istanbul zugute kam. Im Jahr 1949 ist Rüstow dann, zuerst als Gastprofessor, dann als Ordinarius der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften aus der Emigration an die Universität Heidelberg als Nachfolger Alfred Webers zurückgekehrt. Seine zahlreichen Briefe, seine Mitteilungen und Anfragen weit über Fakultätskollegen hinaus, diese kontinuierliche wissenschaftliche Kommunikation mit Philologen und Historikern, Nationalökonomen und Politikern, Juristen und Biologen, Theologen und Anthropologen bildete bis zu seinem Tode ein zu dieser Zeit einzigartiges wissenschaftsgeschichtliches Phänomen. Allerdings war sie zugleich Informationsvermittlung und Wissensbedürfnis und diente sowohl der Vollendung seines wissenschaftlichen Werkes als auch der wirtschaftspolitischen Intervention und Korrektur, denen freilich der Effekt nicht selten versagt bleiben mußte. Er setzte sie auch nach seiner Emeritierung 1960 unverdrossen fort, ohne daß seine vielseitige Vortragstätigkeit darunter gelitten hätte. Am Anfang der wissenschaftlichen Leistungen Rüstows „steht die wahrlich bahnbrechende Doktordissertation" (J.M. Bochenski) Der Lügner. Theorie, Geschichte und Auflösung (1910) - gemeint ist der bekannte kretische Lügner des antiken Fangschlusses - , aufgrund derer ihn „die zeitgenössische wissenschaftliche Geschichte der Logik als ihren ersten Forscher ehren" (Boch6nski) kann. Erst in jüngster Zeit ist die außerordentliche Bedeutung dieser scharfsinnigen Untersuchung wieder hervorgehoben worden. Erfahrungen und Beobachtungen und deren analytische Verarbeitung brachten Rüstow, der sich auch späterhin mit

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der fur ihn charakteristischen Offenheit dazu bekannte, dafi er „selbst einmal im Bann dieser (marxistischen) Heilslehre stand, und daB es ihm nicht leichtgefallen ist, diesen Bann zu brechen" (1957, S. 648), schon in den zwanziger Jahren zu der Auffassung, es bliebe „uns nichts anderes übrig, als mit dem Mut der Verzweiflung nach dem 'dritten Weg' zu suchen, der zwischen dem zusammengebrochenen historischen Liberalismus und dem drohenden Kollektivismus die Menschheit zu einer neuen Möglichkeit führt, als Mensch menschlich und menschenwürdig zu leben" (1945, S. 90). Es hinge durchaus von der staatlichen Wirtschaftspolitik ab, ob dem Unternehmer die Flucht ins Monopol offen stünde oder nicht. In seinem grundlegenden Referat Interessenpolitik oder Staatspolitik? (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 87, 1933) konnte er daher als Ergebnis dieser Überlegungen das Konzept der „sozialen Marktwirtschaft" vortragen, demzufolge der Funktionsmechanismus des Marktes zu erhalten und die staatliche Intervention auf „marktkonforme" Eingriffe zu beschränken sei. Das Ziel jeder wirtschaftspolitischen Maßnahme des Staates habe die Wiederingangsetzung des gestörten Marktmechanismus zu sein, zu dessen Voraussetzungen auch der „Marktrand" in seiner sozialen Gestaltung und Sicherheit gehöre. Diese prinzipiellen Erkenntnisse wurden erst kurz darauf in einem Aufsatz von dem befreundeten Walter Eukken aufgegriffen. Die Emigration gab Gelegenheit zu Untersuchungen über Die Konfession in der Wirtschaftsgeschichte (1942) und Der moderne Pflicht- und Arbeitsmensch (1944), mit denen Rüstow seine Position gegenüber Max Weber - indem er dessen Gedankenbahnen teils bereicherte, teils berichtigte immer stärker abgrenzte. In dieser Richtung lag insbesondere seine, in ihrer kultursoziologischen Bedeutung längst nicht ausgeschöpfte Entdekkung, daB in der Geistesgeschichte der Neuzeit neben Katholizismus, Luthertum und Calvinismus der pagane Humanismus als Erbe der Antike als „vierte Konfession" gestellt werden muß. Hervorzuheben ist auch seine damalige Untersuchung über Die geistesgeschichtlich-soziologischen Ursachen des Verfalls der abendländischen Baukunst im 19. Jahrhundert (1947), die wiederum ökonomische, soziologische und geistesgeschichtliche Faktoren analytisch verknüpfte. In diesem Zusammenhang gehört ebenso sein Beitrag Ver-

Riistow, Alexander einzelung. Tendenzen und Reflexe (1949), der in modifizierter Form in sein Hauptwerk einging. Aber bei seiner Rückkehr drängte sich in den Vordergrund des Interesses zunächst sein kleines, aber höchst aufschlußreiches Buch Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem (1945). Es erbrachte nicht nur den Nachweis der „subtheologischen Befangenheit" aller älteren Wirtschaftstheorien, sondern rechnete auch schonungslos mit dem „Paläoliberalismus" ab, dessen Desaster unverkennbar in die Weltwirtschaftskrise geführt hatte. Die neoliberale Konzeption wurde ganz und gar unter die Voraussetzung der lebensfähigen sozialen Bedingungen des Marktrandes gestellt und in die größeren soziologischen Zusammenhänge eingebettet, die heutzutage leider wieder so oft verkannt oder gar übersehen werden. Vor allem wurde der Blick über die Grenzen des Wirtschaftlichen hinaus auf die reale „Vitalsituation" des Menschen als des Endzwecks alles Wirtschaftlichen gelenkt, wie überhaupt die meisten Kerabegriffe der neoliberalen Schule der geistreichen Prägungskraft Rüstows ihre Entstehung verdanken. Niemals vergaß er auch, sich und seine Mitstreiter, wie er die Kollegen in Theorie und Praxis auffaßte, energisch von dem Paläoliberalismus abzugrenzen. In der Zeit der Emigration hatte er bereits sein Hauptwerk vorbereitet und größtenteils ausgearbeitet, so daß bereits 1950 der erste Band der Ortsbestimmung der Gegenwart erscheinen konnte, ein Titel, der bald zum Schlagwort werden sollte. In der Tradition der Heidelberger kultursoziologischen Schule, weder den Einfluß von Karl Marx noch von Max Weber verleugnend, in deren Nachfolge er sich sah, suchte Rüstow, dennoch ganz und gar originärer geistiger Herkunft, eine genetisch-geschichtssoziologische Totalanalyse der Vitalsituation der gegenwärtigen Menschheit zu liefern. Auf umfassende ethnologische, prähistorische, archäologische, ökonomische und universalhistorische Forschungen und Vorarbeiten gestützt, erneuerte Rüstow eindrucksvoll die Gumplowicz-Oppenheimersche soziologische Staatstheorie, indem er zugleich den Nachweis ihrer weit darüber hinausgehenden Bedeutung erbrachte. Seine „Überlagerungssoziologie" sieht so den eigentlichen Sündenfall in der blutigen Überwältigung und Überlagerung von friedliebenden und seßhaften Bauernvölkern durch kriegerische Nomaden, woraus für die Folge, trotz der Ermöglichung der Hochkulturen, die Beherrschung und

Ausbeutung der Mehrheit der Menschen durch eine jeweilige Minderheit resultierte: „Als Erbfluch und Ursünde lastet sie, und sei es auch noch so verborgen, auf allem, was aus ihr entsprang". Diese Erkenntnisse bildeten gleichzeitig Beleg für das Gesetz der Kulturpyramide, das man deutlicher das 'Gesetz der Verhältnismäßigkeit zwischen Grundflächenbreite und möglicher Spitzenhöhe der Kulturpyramide' nennen könnte. Andererseits mußte Rüstow der nach dem Tode von P. Wilhelm Schmidt eingetretene Zusammenbrach der Wiener kulturhistorischen Schule, deren Theorien zu einem wesentlichen Teil das Fundament seiner eigenen Anschauungen bildeten, schmerzlich treffen. Die eigenen Lebenserfahrungen, insbesondere in der Weimarer Republik, sowie der anthropologisch fundierte Glauben an die Konstanz der menschlichen Natur - die er am liebsten mit dem Ausspruch des Apostels Paulus von den fleischernen Tafeln des Herzens (2. Kor. 3,3 und Römer 2, 1415) zu charakterisieren liebte - hatten Rüstow davon überzeugt, daß jede soziologische Analyse einwandfrei auf den eigenen Watungen beruhen müsse. „Aus dieser meiner grundsätzlichen methodologischen Überzeugung habe ich für mich selber die Folgerung gezogen, keinerlei Zweifel zu lassen über das, was ich in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bejahe und verneine. Ich bejahe die Freiheit und verneine die Herrschaft, ich bejahe die Menschlichkeit und verneine die Barbarei, ich bejahe den Frieden und verneine die Gewalt Und diese Gegensatzpaare sind demgemäß die großen Polaritäten, zwischen denen sich für mich die Weltgeschichte abspielt" (1950, S. 18 f.). Im Koordinatenkreuz dieser Weitungen wird man daher fairerweise Rüstows ganzes wissenschaftliches Werk zu beurteilen und zu messen haben. Daher blieb er auch bei der Diagnose nicht stehen, sondern zielte auf Therapie. „Die Überlagerung gleicht einer stark giftigen Substanz, die im Laufe eines chemischen Produktionsprozesses ... unentbehrlich ist, die aber später vollständig wieder ausgeschieden werden muß, wenn nicht das Produkt mit entsprechend giftigen Eigenschaften belastet bleiben soll" (1950, S. 99). Der menschheitliche Werdegang wird dann im zweiten Band als jeweiliger verhängnisvoller Rückschlag um die .Angelpunkte" 546/545 v. Chr. und 1792/93 gruppiert, die jedes Mal einen folgenreichen „herrschaftlichen" Rückschlag für den eingeleiteten Befreiungsprozeß erbrachten.

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Riistow, Alexander Die daraus abgeleitete Kulturkritik, die nur andeutungsweise rekapituliert werden kann, hat „eine evolutionistisch-voluntaristische Geschichtsphilosophie" (1952, S. 477) zur Grundlage, die ihre geistigen Affinitäten zur Philosophie eines Fries und Leonard Nelson nicht verleugnet. Je näher jedoch die Darstellung der Gegenwart kam, um so schwieriger muBte die übergreifende Synthese, um so delikater das Beibringen der Detailbelege und um so problematischer die vorgenommenen Wertungen werden. Befand sich Rüstow bei der Bewertung des ,.Bündnisses zwischen Ostelbiern und Schwerindustrie" (1957, S. 204) noch auf sicherem Grund, so mufite dieser schwankend werden bei einem so komplexen Phänomen wie dem italienischen Faschismus. Andererseits wurde z.B. nichts als verkehrter nachgewiesen als die naheliegende und im Ausland fast allgemein herrschende Meinung, das deutsche Offizierkorps oder gar der deutsche Generalstab seien kriegslüstern gewesen oder hätten zum Kriege gehetzt (1957, S. 490 ff.). Sollte mit diesem Werk gewissermaßen das soziologische Fundament des theoretischen Konzepts der sozialen Marktwirtschaft geliefert werden, so bedachte er eine große Leser- und Zuhörerschaft nach seiner Rückkehr mit einer Vielzahl wirtschaftspolitischer Tagesschriften. Hier ist vor allem das kleine, aber gehaltvolle Buch Zwischen Kapitalismus und Kommunismus (1949) hervorzuheben. Kurz erwähnt seien ferner Die Kehrseite des Wirtschaftswunders (1961), Wirtschaftspolitik und Moral (1962) und Zielgemeinschaft tut not (1962). Sie und manche andere konnte er noch in einer Aufsatzsammlung zusammenfassen. Bevor Rüstow Ende des Wintersemesters 1955/56 emeritiert wurde, hatte er nicht nur der Wissenschaft als Mitbegründer und erster Vorsitzender der Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik und ebenso als erster Vorsitzender, später Ehrenvorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft e.V. (ASM) sowie als Mitglied des Kuratoriums der Forschungsstelle fur bäuerliche Familienwirtschaft e.V. und als Gesellschafter und Kurator der FAZIT-Stiftung der Frankfurter Allgemeine Zeitung weitere wertvolle Dienste geleistet. Seine Verdienste erfuhren durch die Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stem 1956 und des Freiherr-vom-Stein-Preises ihre Anerkennung. Zwei Festschriften spiegelten die Fülle von Anregungen und Bereicherungen wider, die er vermittelt hatte. Die beiden Universitäten

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Bem und Erlangen zeichneten ihn „in Würdigung seines wissenschaftlichen Werkes, das in der mit umfassender kultur- und wirtschaftssoziologischen Schau vollzogenen Verklammerung von Wirtschafts- und Sozialwissenschaften seinen Mittelpunkt hat" mit der Verleihung eines Dr. h.c. der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ehrenhalber aus. Zu seinem 100. Geburtstag hat man ein Colloquium veranstaltet und an seinem Wohnhaus in Heidelberg eine Gedenkplatte angebracht. Er war als Denker so sehr auch ein Täter, daß er sich das stolze und tapfere Wort Wilhelms von Oranien zu eigen machen konnte: „Point n'est besoin d'espdrer pour entreprendre, ni de rdussir pour ρ β κ έ ν έ Γ β Γ . " Schriften in Auswahl: (1910) Der Lügner. Theorie, Geschichte und Auflösung, Leipzig (Diss.). (1932) Interessenpolitik oder Staatspolitik?, in: Der deutsche Volkswirt, Bd. 7 (6), S. 169-172. (1942) Die Konfession in der Wirtschaftsgeschichte, in: Revue de la Faculti des Sciences £conomiques de l'Universitö d'Istanbul, Bd. 3, S. 362-389. (1944) Der moderne Pflicht- und Arbeitsmensch, in: ebd., Bd. 5, S. 107-136. (1945) Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, Istanbul u.a. (2. Aufl. Bonn 1950). (1947) Die geistesgeschichtlich-soziologischen Ursachen des Verfalls der abendländischen Baukunst im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Philosophie, Istanbul, Bd. 2, S. 123-190. (1949a) Vereinzelung. Tendenzen und Reflexe, in: Gegenwartsprobleme der Soziologie, hrsg. von G. Eisermann, Potsdam, S. 45-78. (1949b) Zwischen Kapitalismus und Kommunismus, in: ORDO, Bd. 2, S. 100-169 (2. Aufl. Godesberg 1949). (1950-57) Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik. Bd. 1: Ursprung der Herrschaft (1950); Bd. 2: Weg der Freiheit (1952, 2. Aufl. 1963); Bd. 3: Herrschaft oder Freiheit (1957), Erlenbach-Zürich.

Rusche, Georg (1961)

(1962a)

(1962b)

(1963)

Die Kehrseite des Wirtschaftswunders. Akademie-Vorträge zu sozialethischen Grundfragen, Hamburg (= Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche, H. 7). Wirtschaftspolitik und Moral. Referat auf der 19. Arbeitstagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, Tagungsprotokoll Nr. 19, Ludwigsburg, S. 17-29, 37-39, 134 (Wiederabdr. in: (1963), S. 9-29). Zielgemeinschaft tut not. Referat auf der 17. Arbeitstagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, Tagungsprotokoll Nr. 17, Ludwigsburg, S. 9-20, 45-47, 153-154 (Wiederabdr. in: (1963), S. 30-55). Rede und Antwort, Ludwigsburg (enth. Bibliographie).

Bibliographie: Eisermann, G. (1963): Alexander Rüstow (18851963), in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 15. Jg., S. 593-604. Eisermann, G. (1963): Alexander Rüstow zum Gedächtnis, in: ORDO, Bd. 14, S. XXDI-XXVI. Eisermann, G. (1966): Alexander Rüstow, in: Die westdeutsche Wirtschaft und ihre führenden Männer. Bd. 6, Frankfurt, S. 8-9. Eisermann, G. (1986): Alexander Rüstow, in: Internationales Soziologielexikon, Bd. I, 2. Aufl., Stuttgart. Eisermann, G. (1990): Alexander Rüstow, in: Badische Biographien, NF, Bd. m , Stuttgart. Eisermann, G. (Hrsg.) (1955): Wirtschaft und Kultursystem. Festschrift für Alexander Rüstow, Stuttgart/Zürich. Meier-Rust, K. (1993): Alexander Rüstow, Stuttgart. Quellen: BHb Π; WA; NL Rüstow, BA. Gottfried Eisermann

Rusche, Georg, geb. 17.11.1900 in Hannover, gest. 19.10.1950 in London (Selbstmord) Rusche repräsentierte den Grenzfall eines Wirtschaftswissenschaftlers. Er promovierte 1925 bei Erwin von Beckerath an der Universität Köln mit einer Arbeit über die logischen Grundlagen der theoretischen Ökonomik und Schloß daran noch eine philosophische Dissertation bei Max Scheler,

ebenfalls in Köln, an. Bei einem mehljährigen Forschungsaufenthalt in Paris und London und der folgenden Tätigkeit als Sozialwissenschaftler in der Gefängnisverwaltung in Frankfurt/Main sammelte er Material für ein Projekt über das Verhältnis von Arbeitsmarktentwicklung, Straffälligkeit und juristischer Urteilspraxis im internationalen Vergleich. Dieser Gegenstand und der methodische Ansatz fand das Interesse des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (IfS), das ebenfalls einem disziplinübergreifenden Forschungsprogramm verpflichtet war. Es vermittelte ihm 1930 eine Anstellung als Assistent an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt und erteilte ihm 1931 den bezahlten Auftrag, jene Studie anzufertigen. Rusches Entlassung nach dem nationalsozialistischen Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zum 1. Juli 1933 aufgrund seiner jüdischen Herkunft verhinderte den AbschluB dieser Arbeit, obwohl er im August ein umfangreiches Manuskript vorgelegt hatte. In der vom Institut herausgegebenen Zeitschrift für Sozialforschung erschien 1933 lediglich ein erster Überblicksaufsatz. Noch im gleichen Jahr floh Rusche nach Großbritannien. Sein weiterer, nur noch schwer zu rekonstruierender Lebensweg zeigt die offenbar völlige Entwurzelung dieses Emigranten. Ohne Perspektive hielt er sich zunächst mit einem Stipendium des Instituts sowie mit Gelegenheitsarbeiten in London und dann - von 1936 bis Frühjahr 1939 - in Palästina über Wasser. Mehrere Jahre lang versuchte das IfS vergeblich, ihn zur Fertigstellung des inzwischen übersetzten Textes zu bewegen und die von zwei amerikanischen Kriminologen als Gutachter gemachten Änderungsvorschläge zum Strafvollzug in den USA einzuarbeiten. Zunächst hielt Rusche das Institut mit Zusagen hin, dann brach er den Kontakt ab, so daß Max Horkheimer schließlich den emigrierten Juristen Otto Kirchheimer mit der Endfassung betraute. Die Studie erschien 1939 unter dem Titel Punishment and Social Structure als erste Publikation des IfS in New York. Wie amerikanische Rezensenten bemerkten, wurde damit erstmalig in den USA ein Werk vorgelegt, das die ökonomischen Hintergründe der Strafrechtspraxis herausstellte. In weitem historisch-soziologischen Rückblick zeigte es, wie einerseits das Strafrecht weniger von humanitären Motiven als von Arbeitsmarkterfordernissen in den jeweiligen Epochen geprägt wurde und ande-

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Salz, Arthur rerseits die Verbrechensrate nicht von penaler Abschreckung, sondern von der Wirtschaftskonjunktur und dem Beschäftigungsgrad abhing. Auffallenderweise sind in der publizierten Fassung die kritischen Passagen über die Brutalität des amerikanischen Strafvollzugs aus dem ursprünglichen Text nicht aufgenommen worden. Rusches weiteres Schicksal ist nur in Bruchstükken bekannt. Nach Kriegsausbruch wurde er in Großbritannien interniert. Am 2. Juli 1940 wurde die „Arandora Star", die ihn mit 1200 Flüchtlingen aus Deutschland und Italien nach Kanada deportieren sollte, von einem U-Boot versenkt. Rusche wurde gerettet und noch für ein weiteres Jahr in Großbritannien interniert. 1943/44 arbeitete er in A.S. Neills antiautoritärem Internat Summerhill, anschließend hat er mit Freunden eine eigene Reformschule in Lancashire eröffnet, die allerdings nach kurzer Zeit wieder Schloß. Über mehrere Jahre versuchte das 1933 gegründete britische Hilfskomitee fur vertriebene deutsche Wissenschaftler, die Society for the Protection of Science and Learning, vergeblich, Rusches Aufenthalt nach 194S zu ermitteln. Im Mai 19S1 bekam es von dem Kriminologen an der London School of Economics und Emigranten Hermann Mannheim die Mitteilung, er habe im Evening Standard die Notiz gelesen, „that a Georg Rusche had taken his own life." Rusche hatte am 19.10.1950 Selbstmord begangen, weil ein Betrugsverfahren gegen ihn anhängig war. Schriften in Auswahl: (1929) Bemerkungen zur logischen Grundlage der theoretischen Ökonomik. Eine Untersuchung über den Begriff der Wirtschaft und die Grundsätze der Wirtschaftswissenschaft, Leipzig (Diss.). (1930) Zuchthausrevolten oder Sozialpolitik, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 403 v. 1.6. (1933) Arbeitsmarkt und Strafvollzug, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 2, S. 63-78. (1939) Rusche, G./O. Kirchheimer, Punishment and Social Structure, New York. Quellen: SPSL 238/1-75; Max Horkheimer-Archiv, SUB Frankfurt/Main VI 30.146. Claus-Dieter Krohn

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Salz, Arthur, geb. 31.12.1881 in Staab (Böhmen), gest. 10.8.1963 in Worthington, Ohio Sohn des Landwirts und Fabrikbesitzers Heinrich Salz und seiner Frau Rosa, geb. Popper. Salz studierte zunächst in Berlin und ab 1901 in München. Mit Friedrich Gundolf seit dieser Zeit befreundet, lernte er dort auch Stephan George und Karl Wolfskehl kennen. Am 31. März 1905 wurde er bei Lujo Brentano mit summa cum laude zum Dr.cam. promoviert. Seine Dissertation erschien im selben Jahr unter dem Titel Beiträge zur Geschichte und Kritik der Lohnfondstheorie. Nach Erkrankung des Vaters leitete er zwischen 1904 und 1906 den elterlichen Betrieb, ehe er 1906 sein Studium in Wien und Prag fortsetzte. Dort freundete er sich mit Else Jaff£ und -» Alfred Weber an, der zwischen 1904 und 1907 Professor für Nationalökonomie an der deutschen Universität in Prag war. Er folgte Weber bei dessen Weggang nach Heidelberg, wo er am 8.5.1909 die venia legendi fur Nationalökonomie erhielt. Seine Habilitationsarbeit schrieb er über Wallenstein als Merkantilist (1909). Die Probevorlesung hielt er über Leibniz als Volkswirt, ein Bild aus dem Zeitalter des deutschen Merkantilismus. 1910 setzte er seine Arbeit über Die Geschichte der Preise in Böhmen (deren erster Teil die Habilitationsarbeit war) fort. Salz wohnte in Heidelberg eine Weile mit Friedrich Gundolf zusammen. Nach seiner Heirat 1912 zog er mit seiner Frau Soscha Kantorowicz, der Schwester des Historikers Emst Kantorowicz, in eine eigene Wohnung. Dort beherbergte er auch Stefan George. Im Jahre 1914 wurde er von einem Prager Professor der Volkswirtschaft des Plagiats geziehen. Max Weber verteidigte ihn mit Erfolg. Als Kriegsfreiwilliger trat Salz 1915 in Wien in den Heeresdienst ein. Er kam bald in den Nahen Osten und wurde im selben Jahr, auf eine Empfehlung von Maximilian Zürcher, als Nationalökonom zu Djemal Pascha abkommandiert. Für letzteren verfaßte er eine Denkschrift über den künftigen Wiederaufbau Anatoliens. 1917 wurde er dem Höchstkommandierenden in Syrien (Damaskus) zugeteilt, dann dem türkischen Marineminister. Sowohl von österreichischer, als auch von türkischer Seite erhielt er militärische Auszeichnungen (Eisernes Kreuz, goldenes Verdienstkreuz, signum laudis, eiserner Halbmond). Das persönliche Verhältnis, das er zu Djemal Pa-

Salz, Arthur scha entwickelte, reichte über das Ende des Kriegs hinaus. Er assistierte ihm nach dem Krieg in Deutschland und quartierte ihn vorübergehend bei Fine ν. Kahler ein. Dort trafen sich Djemal Pascha und Stefan George. Nach Djemal Paschas Ermordung am 24. Juli 1922 in Tiflis schrieb Arthur Salz in der Frankfurter Zeitung einen Nachruf. Am 11. Juni 1918 wurde Salz zum außerordentlichen Professor ernannt. Die venia gab er im April 1919 an die Philosophische Fakultät zurück. Während der Münchner Räterepublik versteckte er Eugen Levinö und wurde wegen Hochverrats nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik angklagt aber freigesprochen (vgl. Demm 1990, S.285 f.; Dahms/Neumann 1994, S.129 sowie Anm. 66, S. 142). Zwischen 1919 und 1924 lehrte er an der Frankfurter Akademie der Arbeit. Auf Antrag der Philosophischen Fakultät wurde am 7. Januar 1924 die venia durch das badische Kulturministerium erneuert. Salz nahm feiner Lehraufträge, Vertretungen sowie eine Dozentur an der Handelshochschule Mannheim wahr. Er wurde Mitherausgeber der Heidelberger Studien des Instituts fiir Sozial- und Staatswissenschaften (sechs Titel zwischen 1930 und 1933. Titel Nr. 6 als Reprint 1974) und Mitarbeiter am Programm des InSoSta Zum wirtschaftlichen Schicksal Europas, das von der Rockefeller-Stiftung gefördert wurde. Aufgrund des sog. 'Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' wurde er am 20.4.1933 „bis auf weiteres" beurlaubt. Seine Weiterbeschäftigung, die aufgrund seiner Kriegsteilnahme möglich gewesen wäre, scheiterte am fehlenden „Nachweis über die Teilnahme am Weltkrieg bei der fechtenden Truppe". Die Papiere waren, wie Salz erfuhr, 1920 an die tschechoslowakische Militärbehörde ausgeliefert worden. Die Lehrbefugnis wurde ihm am 11.10.1933 endgültig entzogen. Bereits im September 1933 war Salz jedoch einer Einladung zu einem Aufenthalt nach Cambridge gefolgt, wo er eine neunmonatige Gastprofessur antrat. Gleichzeitig bewarb er sich an eine tschechoslowakische Hochschule, da die tschechische Reichskanzlei im Mai 1933 erwog, „reichsdeutsche Professoren/Emigranten an tschechoslowakischen Universitäten unterzubringen" (Mußgnug 1988, S. 173). Die Bewerbung schlug fehl: „Für Arthur Salz" - so die Aktennotiz - „bestehe ... kaum Hoffnung auf Berufung. Er sei in wissenschaftlicher Beziehung nicht von großer Bedeutung und könne daher kaum vorgeschlagen werden" (ebd., S. 174). In den USA

erhielt er 1934 eine Professur in Columbus, Ohio, die er bis zu seiner Emeritierung bekleidete. Er hatte dort Kontakte zu den Kreisen der deutschen Emigration: „Heinrich Zimmer besuchte ihn im Frühjahr 1941. Zimmer schrieb Frau Gerty von Hofmannsthal: Arthur Salz und seine Frau Soscha (...) seien dort 'eher unglücklich'. 'The place is of the usual dullness of these places that means unusually dull'" (ebd., S. 146). 1945 gehörte Salz zu den sieben seit 1933 entlassenen Professoren der Heidelberger Philosophischen Fakultät, die nicht mehr nach Heidelberg zurückkehrten. 1949/50 strengte er ein Wiedergutmachungsverfahren an und gab dem Willen Ausdruck, mit seiner Frau nach Deutschland zurückkehren zu wollen. Die Fakultät bestätigte, „sie schätze seine sachliche und menschliche Qualität aufs höchste". Seine Möglichkeit, ein Ordinariat zu eifaalten, sei mit dem Jahr 1933 vernichtet worden. Doch trotz persönlicher Fürsprache der ehemaligen Kollegen Alfred Weber und Walter Waffenschmidt, die bestätigten, daß er 1933 fiir eine Berufung auf den volkswirtschaftlichen Lehrstuhl der Mannheimer Handelshochschule vorgeschlagen gewesen sei, konnte ihm „als ehemaligem nichtbeamteten ao. Professor zu diesem Zeitpunkt keine Entschädigung zugesprochen werden." Das Amt für Wiedergutmachung, das auf einen dorthin weitergeleiteten Brief von Salz an den Bundespiüsidenten reagierte, erklärte: „bislang hätten keine Zahlungen geleistet weiden können, da 'das anderweitige Einkommen in Ohio das überstieg, das (er) während der Verfolgungsmaßnahmen' erhielt" (Mußgnug 1988, S. 269f.). Im Juli 1952 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg. Im September 1955 gewährte ihm das Kultusministerium eine laufende monatliche Unterstützung, die im Juli 1959 in Emeritenbezüge umgewandelt wurden. Er kehlte - soweit aus den Quellen ersichtlich - nicht mehr nach Deutschland zurück. Salz' ökonomisch-theoretische Schriften behandeln vor allem die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. In der Lohntheorie sucht er sowohl von der reinen Macht-Verteilungstheorie wegzukommen als auch von Deutungen der Art Franz Oppenheimers ('Bodensperre'). Für Salz ist die Arbeitskraft eine Ware, die zwar gewisse spezifische Eigenschaften hat (nicht lombardierbar, nicht kreditfähig, nicht börsenfähig), aber nicht über diesen Charakter hinaus bestimmten außerökonomischen Gesetzen (wie etwa dem 'ehernen Lohn-

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Salz, Arthur gesetz' Lassalles oder der marxistischen Arbeitswertlehre. die einen Zusammenhang mit den Reproduktionskosten herzustellen versucht) gehorcht. Als intermittierendes Element zwischen Angebot und Nachfrage tritt allein die Gewerkschaft der Arbeiter, die einen Konjunkturpuffer in beide Richtungen (sowohl bei konjunkturellen Rückschlagen, als auch im konjunkturellen Aufschwung) darstellt. Damit versucht er, wie auch beim Kapitalbegriff, die Diskussion um die Produktionsfaktoren aus dem Bereich politisch umstrittener Bewertungen herauszuziehen. Seine Anschauungen bleiben dabei stets historisch-genetisch, wodurch ihm eine Überwindung statischer Begrifflichkeiten gelingt. Auch ist es ihm darum zu tun, die strukturellen von den historischen Momenten abzuheben und dadurch die Bewertungsfragen von den rein ökonomischen Verfahrensfragen zu trennen. Dabei gelingt ihm diese Trennung freilich nur partiell, da er die gewonnenen Erkenntnisse wiederum in einen übergreifenden wertenden Zusammenhang einbringt, der den Kapitalismus als kulturhistorisches Phänomen erklärlich machen will. Sein Hauptinteresse galt jedoch der Frage nach den historischen Formen der Macht. Insbesondere interessierte ihn der Verfall der Staatsmacht und der gleichzeitige Zuwachs an ökonomischer Macht, den er in den zwanziger Jahren in Deutschland beobachtete. Dabei ging er von der Nation als einem einheitlichen Gebilde aus, das von einer Idee selbstdarstellerischer Art nach außen und innen geleitet werde. Er zeigt, wie stark die Märkte und der Staat von ihrem Idealtypus (ihrer Idee) abweichen, wie der Staat durch Machtentfaltung in der Wirtschaft in Wirklichkeit infolge Profanierung eine Machteinbuße erleidet und welche gesellschaftlichen Folgen aus einer „überspannten Staatsgläubigkeit" resultieren. Salz glaubte, daß Kapitalbildung und Kapitalverwertung in der Weimarer Republik nicht ökonomisch, sondern überwiegend politisch bedingt waren. Dementsprechend sah er den 'Kapitalismus' dieser Zeit als bürokratisch kontrollierte Wirtschaftsform. Seine Interessen richteten sich auf das Verhältnis von Wirtschaftsgesetz und politischer Macht, das er an historischen und aktuellen Beispielen in ihren historisch variierenden Bedeutungen (u.a. am Beispiel von Wallenstein als Merkantilisten, am Beispiel der politischen und ökonomischen Implikationen des 'Imperialismus') dargestellt hat. Ähnlich wie seinem zeitweiligen

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Kollegen Edgar Salin bedeuteten ihm die mathematischen Methoden, wie sie sich heute als Hauptströmung in der Nationalökonomie durchgesetzt haben, wenig. Salz griff außerhalb der Nationalökonomie 1921 mit einer Schrift Für die Wissenschaft gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern in die Kontroverse um Max Webers Vortrag Wissenschaft als Beruf ein. Er nahm darin Stellung gegen den Angriff des Historikers Erich v. Kahler auf Max Weber und verteidigte dessen Auffassung von den Grenzen wissenschaftlicher Betätigung. In seinem volkswirtschaftlichen Werk orientiert er sich immer wieder (freilich auch kritisch) an Max Webers umstrittener Protestantismusthese. Als Lehrer regte er zu einer Reihe von Doktorarbeiten an, die ebenfalls Grenzgebiete der Nationalökonomie betrafen: Wirtschaft und Zeit, 1930; Mechanisierung der Haushalte·, Die Antithese Marxismus-Sozialismus als Basis der Ideenwelt der National-sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, 1932, die eine frühe Totalitarismusthese darstellt; aber auch Arbeiten wie Der Schicksalsweg der deutsche Überseereederei von ihrer überragenden Weltmarktstellung zu gewaltsamer Zerschlagung und das Werk der Neuschöpfung, 1932, die von der schwierigen Verarbeitung der deutschen Weltkriegsniederlage Zeugnis geben. Schriften in Auswahl·. (1905) Beiträge zur Geschichte und Kritik der Lohnfondstheorie, Stuttgart/Berlin (Diss.). (1909) Wallenstein als Merkantilist (= Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Deutschen in Böhmen, 47. Jg., H. 4), Prag. (1910) Leibniz als Volkswirt, ein Bild aus dem Zeitalter des deutschen Merkantilismus, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 34, S. 1109-1134. (1913) Geschichte der böhmischen Industrie der Neuzeit, München. (1920) [Vorworte zu] Adam Müller: Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur, sowie ders.: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland, beide hrsg. von A. Salz, München. (1921) Für die Wissenschaft gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern, München.

Schack, Herbert (1923)

(1925a)

(1925b)

(1927)

(1928)

(1930)

(1930-33)

(1931) (1941)

(1948)

Das ewige Frankreich (= Einzelschriften zur Politik und Geschichte. Beiträge aus dem Archiv für Politik und Geschichte, hrsg. von H. Roeseier), Berlin. Kapital, Kapitalformen, Kapitalbildung, Kapitaldynamik, in: GrundriB der Sozialökonomik, IV. Abt., I. Teil, Tübingen, S. 160-208. Vermögen und Vermögensbildung in der vorkapitalistischen und in der modernen kapitalistischen Wirtschaft, in: ebd., S. 209-257. Der Begriff der Elastizität in der theoretischen Nationalökonomie, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 57, S. 336-391. Grundsätze einer Theorie vom Arbeitslohn, in: Die Wirtschaftstheorie der Gegenwart. Bd. 3: Einkommensbildung. Allgemeine Prinzipien, Lohn, Zins, Grundrente, Untemehmergewinn, Spezialprobleme, hrsg. von H. Mayer, Wien, S. 49-84. Macht und Wirtschaftsgesetz. Ein Beitrag zur Erkenntnis des Wesens der kapitalistischen Wirtschaftsverfassung, Leipzig/Berlin. Heidelberger Studien des Instituts für Sozial- und Staatswissenschaften (als Mithrsg.), Heidelberg. Das Wesen des Imperialismus. Umrisse einer Theorie, Leipzig/Berlin. Economic Liberalism Reinterpreted, in: Social Research, Bd. 8, S. 373389 (Wiederabdruck in: Contemporary Social Reform Movements. Principles and Readings, hrsg. von J.E. Nordskog, New York 1954, S. 5463). The Methamorphosis of Power, in: Synopsis. Festgabe für Alfred Weber, 30.7.1868 - 30.7.1948, hrsg. von E. Salin, Heidelberg, S. 457-476.

Bibliographie: Dahms, H.-J./Neumann, M. (1994): Sozialwissenschaftler und Philosophen in der Münchner Räterepublik, in: Jahrbuch für Soziologie-Geschichte 1992, Opladen, S. 115-146.

Demm, E. (1990): Ein Liberaler in Kaiserreich und Republik. Der politische Weg Alfred Webers bis 1920, Boppard. Meyer-Levini, R. (1972): Levini. Leben und Tod eines Revolutionärs, München. Pascha, A.D. (1922): Erinnerungen eines türkischen Staatsmannes, München. Quellen: Β Hb II; SPSL 238/2; Drüll, D. (1986): Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803-1932, Berlin; UAH, Personalakten 5581 und 614; Akten der Phil. Fak 1930-1934; Mußgnug, D. (1988): Die vertriebenen Heidelberger Dozenten. Zur Geschichte der Ruprecht-Karls-Universität nach 1933, Heidelberg; Helbing, L. u.a. (Hrsg.) (1974): Stefan George. Dokumente seiner Wirkung, Amsterdam, S. 216-220. Reinhard Blomert

Scheck, Herbert geb. 28.10.1893 in Elsenburg, gest. 15.2.1992 Nach dem Studium der Philosophie und Volkswirtschaftslehre wurde er an der Universität Königsberg zweifach promoviert - 1919 zum Dr. phil. mit der Arbeit Die transzendentale Apperzeption bei Kant (1920) und zum Dr. rer. pol. mit Das Geltungsproblem des sozialen Werturteils (1924). 1924 erfolgte die Habilitation und 1926 die Berufung zum ordentlichen Professor der wirtschaftlichen Staatswissenschaften der Handelshochschule Königsberg. Die Universität Dorpat verlieh ihm bereits 1932 eine Ehrenpromotion. Dennoch raußte er seine Tätigkeit als Hochschullehrer aufgeben. Nach seiner Entlassung 1933 übte er bis 1943 eine praktische Tätigkeit im Versicherungswesen aus. Er emigrierte jedoch nicht. Daher wurde er zwischen 1943 und 1945 zum Kriegsdienst verpflichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Schack zunächst als Referent fur landwirtschaftliche Statistik im Statistischen Zentralamt Berlin tätig. Ab 1948 übte er einen Lehrauftrag und später eine Dozententätigkeit an der FU Berlin aus. In zahlreichen Büchern und Beiträgen zu Fachzeitschriften setzte Schack sich mit Problemen auseinander, die im Überschneidungsbereich von Philosophie und Wirtschaftswissenschaften angesiedelt sind. Er versuchte, ein System der Wirtschafts- und Sozialphilosophie zu entwerfen und die unterschiedlichen Formen der Wirtschaftsver-

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Schack, Herbert fassung, Wirtschaftssysteme und Ideologien zu analysieren. Bereits 1932 strebte er in einem grundlegenden Beitrag eine Theorie der Wirtschaftsverfassung an. In diesem für seine späteren Veröffentlichungen wegweisenden Aufsatz legt er das Problem, die Methode, die Untersuchungsschritte, Zwischenergebnisse und Gesamtaussagen dar. Mit Hilfe der verstehenden Methode versucht er, die Wirtschaftsverfassung als grundsätzliche Ordnung der Wirtschaft und als fundamentalen Sinnzusammenhang zu interpretieren und die Prinzipien für die Gestaltung der Wirtschaft abzuleiten. Der Begriff 'Sinn' erhält dabei eine zentrale Bedeutung. Schack erläutert den „Sinn des Wirtschaftens", den „Sinn der Wirtschaft" und das „sinngebende Verhalten" der wirtschaftenden Menschen. Dem ganzheitlich geprägten Verstehen der Wirtschaft entsprechend sieht er das Wirtschaften als „stetes Ringen um den Einklang von Bedarf und Dekkung" an. Die Wirtschaftsverfassung ist nach seiner Auffassung eine Sozialverfassung, weil sich jede Wirtschaft in gesellschaftlichem Zusammenwirken vollzieht. Das geschieht jedoch in unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen, so daB sich ein System der möglichen sozialwirtschaftlichen Verfassungen nachweisen lassen muß. Schack unterscheidet vier mögliche Wirtschaftsverfassungen, die er nacheinander darstellt: (1) die individualistische, (2) die kollektivistische, (3) die personalistische und (4) die universalistische. Diese Gestaltungsmöglichkeiten der Wirtschaftsverfassung schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus, wie Schack hervorhebt, sondern sie müssen sich in der praktischen Durchführung verbinden. Die personalistische Wirtschaftsverfassung werde von der Idee der persönlichen Selbsterfüllung und -entfaltung geprägt. In der individualistischen Wirtschaftsverfassung sei dagegen die Rentabilität maßgebend für die wirtschaftlichen Entscheidungen. Die Preise seien hier der Kompaß. Dagegen sei die persönliche Einstellung irrelevant. Die freie individualistische Verkehrswirtschaft steuere sich selbst. Dies habe jedoch die Auflehnung der Menschen zur Folge. Sie werde in Zusammenschlüssen der Menschen und Eingriffen des Staates in den Wirtschaftsprozeß erkennbar. Die Folgen seien entweder die Rückkehr zur freien individualistischen Verkehrswirtschaft oder die Einführung der kollektivistischen Wirtschaftsverfassung. Hierbei werde das Individuum restlos in die Gesamtwirtschaft eingefugt.

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Gemeineigentum bei Freiheit des Konsums seien die Bedingungen rechenhafter Wirtschaftlichkeit. In der universalistischen Wirtschaftsverfassung gehe dagegen das Ganze dem Einzelnen vor. Die Wirtschaft sei in Stände gegliedert, deren Gleichgewichtigkeit eine wichtige Voraussetzung für die äußere Freiheit sei. An Adam Müller und Othmar Spann anknüpfend stellt Schack dar, wie die Nationalökonomie entsteht, sich aber zugleich in weltwirtschaftliche Kooperation einfügt. Bei der Durchführung der universalistischen Wirtschaftsverfassung seien jedoch in gewissem Grade auch die personalistische, die individualistische und die kollektivistische Wirtschaftsidee zu berücksichtigen. Die Geschichte zeige die wechselseitige Beziehung und Verschränkung dieser Wirtschaftsideen und der entsprechenden Verfassungsgrundsätze. Alle realisierten Wirtschaftsordnungen seien stets vorläufige Lösungen, die immer wieder zur Umgestaltung zwingen. Der idealen Wirtschaftsordnung entspräche die totale Wirtschaftsverfassung. Sie könne als Ideal angestrebt, aber niemals vollständig verwirklicht werden. Seine auf die Grundlagen des Wirtschaftens ausgerichteten Untersuchungen setzte Schack nach dem Zweiten Weltkrieg mit Veröffentlichungen zur Wirtschaft- und Sozialphilosophie und zu den Wandlungen der Wirtschaftsordnungen fort. Dabei stand das Verhalten der Menschen unter verschiedenen Bedingungen ihrer Existenz und Entwicklung im Mittelpunkt. Somit gewinnt auch sein Beitrag über Das Menschenbild in der Geschichte der Volkswirtschaftslehre (1960) eine klärende Bedeutung. Das Studium der Geschichte der Volkswirtschaftslehre soll nach Schacks Auffassung nicht nur Lehren und Theorien darstellen, sondern zugleich den Menschen mit seinen Grunderfahrungen, seinem Lebens- und Sachverständnis zeigen. Daher wendet er sich nachdrücklich der Historischen Schule, der anschaulichen Theorie und den ganzheitlich ausgerichteten Autoren der Wirtschaftswissenschaft zu. Diese Orientierung zeichnet sich auch in Schacks Büchern ab. In seinem Buch Wirtschaftsleben und Wirtschaftsgestaltung (1963) geht der Verfasser den Methoden und Grundformen der Sozialökonomie nach. Er unterscheidet eine natürliche, rationale und normative sozialökonomische Lebensordnung. Als Formen der rationalen sozialökonoraischen Lebensordnung stellt er das Individualsystem und das Kollektivsystem gegenüber. Um auch die „so-

Schack, Herbert zialökonomische Lebenswirklichkeit" zu untersuchen, geht er dem Wirklichkeitscharakter der Güter und der Wirklichkeit des Menschen nach. Er wendet sich der Frage zu, wie die Sozialökonomie vernünftig gestaltet werden kann. Dabei steht für Schack fest, daß die Freiheit eines Staates nichts gilt, wenn der Mensch als Einzelner darin Freiheit und Recht verliert, daB dies zu untersuchen aber nur dem philosophisch denkenden und fragenden Menschen möglich sei. Auch in mehreren Aufsätzen zur Wirtschafts- und Sozialphilosophie setzte Schack sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wirtschaftsfreiheit auseinander, u.a. in einer Reihe von Beiträgen in Schmollers Jahrbuch: Grundprobleme der Wirtschaftsphilosophie (1951), Wirtschaftsfreiheit in den Grundformen menschlicher Selbstbehauptung (1952), Der richtige und gerechte Lohn (1953), Notwendigkeit und Freiheit im Marxismus (1954), Theorie der Wirtschaftseifahrung (1955), Die Problematik des Marxismus-Leninismus (1957). Darüber hinaus wandte er sich in mehreren Studien der Bedeutung und den Wandlungen von Ideologien und der ideologischen Liberalisierung und Humanisiening im Ostblock zu. In dem Band Grenzfragen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (1973) faBte er frühere Aufsätze zusammen. Mit dem Buch Die Grundlagen der Wirtschafts- und Sozialphilosophie (1978) legte er eine neubeaibeitete Auflage seines früheren Buches über Wirtschaftsleben und Wirtschaftsgestaltung (1963) vor. Damit setzte er seine Publikationen zu dem Überschneidungsbereich von Wirtschaftswissenschaft und Philosophie fort. Da in zunehmendem Maße nach der Vernunft gefragt wird - besonders im Hinblick auf die Nutzung und Schädigung der Natur und auf die Möglichkeiten und Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums - , kommt Schacks Untersuchungen gleichermaßen hohe Aktualität und grundlegende Bedeutung zu. Das gilt auch fur seine Marxismusund Neomarxismus-Studien. Indem er herausarbeitet, daß die personale Sphäre in ihrer Breite und Tiefe im Marxismus nicht hinreichend beachtet und geachtet wurde, trägt er dazu bei, die Chancen und Grenzen der Ideologie über den Tag hinaus zu verstehen. Deshalb bleiben seine Monographien lesenswert: Die Revision des Marxismus-Leninismus. Chancen und Grenzen einer Ideologie (1959), Marx, Mao, Neomarxismus (1969) und 'Volksbefreiung'. Sozialrevolutionäre Ideologien der Gegenwart (1971). Sämtliche Ver-

öffentlichungen von Herbert Schack zeichnen sich durch einen übersichtlichen Aufbau, eine klare Sprache und viele Anregungen zum grenzüberschreitenden, interdisziplinären Denken aus. Schriften in Auswahl: (1920) Die transzendentale Apperzeption bei Kant, Königsberg (Diss. phil.). (1924) Das Geltungsproblem des sozialen Werturteils, Königsberg (Diss.). (1927) Wirtschaftsformen. Grundzüge einer Morphologie der Wirtschaft, Jena (japan. Übers. 1930). (1933) Theorie der Wirtschaftsverfassung, in: Festgabe für Werner Sombart zur 70. Wiederkehr seines Geburtstages, München, S. 243-257 (= Schmollers Jahrbuch, Bd. 56, S. 1083-1097). (1951) Grundprobleme der Wiitschaftsphilosophie, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 71, S. 129-149 und 297-318. (1952) Wirtschaftsfreiheit in den Grundformen menschlicher Selbstbehauptung, in: Schollers Jahrbuch, Bd. 72, S. 513-548. (1953) Der richtige und gerechte Lohn, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 73, S. 433466. (1954) Notwendigkeit und Freiheit im Marxismus. Die marxistische Theorie der Lebenspraxis, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 74, S. 385-420. (1955) Theorie der Wirtschaftserfahrung, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 75, S. 641660. (1957) Die Problematik des Marxismus-Leninismus, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 77, S. 305-335. (1959) Die Revision des Marxismus-Leninismus. Chancen und Grenzen einer Ideologie, Berlin, 2. Aufl. 1965. (1960) Das Menschenbild in der Geschichte der Volkswirtschaftslehre, in: Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Köln/Berlin, S. 341-355. (1963) Wirtschaftsleben und Wirtschaftsgestaltung. Die Grundlagen der Wirtschafts- und Sozialphilosophie, Berlin; 2. Aufl. als: Die Grundlagen der Wirtschafts- und Sozialphilosophie, 1978.

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Schenker, Eric (1969)

(1971)

(1973)

Marx, Mao, Neomarxismus. Wandlungen einer Ideologie, Frankfurt/M., 2. Aufl., Frankfurt/M. 1971. 'Volksbefreiung'. Sozialrevolutionäre Ideologien der Gegenwart, Frankfurt/ M. Grenzfragen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Gesammelte Aufsätze, Berlin.

Quelle: HldWiWi 1966. Karl-Heinz Schmidt

Schenker, Eric, geb. 24.2.1931 in

Wien

Schenker emigrierte 1939 mit seinen Eltem in die Vereinigten Staaten, wo er bis heute lebt und arbeitet. Sein Hauptforschungsgebiet liegt im Bereich der Verkehrswissenschaft, wobei sowohl Verkehrsinfrastrukturen als auch das Transportwesen betrachtet werden. Mit dem Gebiet Verkehr hat Schenker sich auch außerhalb des universitären Bereichs beschäftigt, z.B. bereits in seiner Militärzeit von 1952-1954, während der er als Transportation Movement Control Specialist eingesetzt wurde und im Rahmen mehrerer Board Memberships. Schenker studierte an der University of Tennessee, wo er 1954-1955 Teaching Assistant in Economics war, 1955 Schloß er das Studium mit dem Master's Degree ab. Anschließend wechselte er an die University of Florida. Hier war er von 1955-1957 ebenfalls als Teaching Assistant in Economics tätig und erhielt 1957 den Ph.D. Von 1957-1959 war Schenker Assistant Professor an der Michigan State University in East Lansing. Danach wurde er an die University of Wisconsin in Milwaukee berufen, an der er bis heute tätig ist. 1959-1962 war Schenker Assistant Professor, 1962-1965 Associate Professor und schließlich von 1965 bis heute Professor of Economics. Seit 1976 ist Schenker Dekan der School of Business Administration in Milwaukee. Innerhalb der Verkehrswissenschaft beschäftigt Schenker sich schwerpunktmäßig mit dem Gebiet der Schiffahrt und Hafenwirtschaft, u.a. mit der Schiffahrt auf den Great Lakes und der Bedeutung, Planung und Entwicklung von Häfen. Weitere exemplarisch ausgewählte Bereiche sind öffentliche Ausgaben für Infrastrukturprojekte sowie Möglichkeiten und Wirkungen staatlicher Eingriffe in das Transportwesen. In seinem Beitrag Southern State Port Authorities and Florida

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(1959) stellte Schenker Vor- und Nachteile einer Hafenverwaltung auf Gemeinde- (local municipal administration) oder auf Landesebene (state port authority) dar. Er kam zu dem Schluß, daß die State Port Authority vorzuziehen wäre. Ein Grund dafür sei die Bedeutung von Häfen, einerseits für Einzugsgebiete, die meist größer seien als die jeweiligen Hafengemeinden und andererseits für die Gesamtwirtschaft und die Landesverteidigung. Andere Gründe waren aus Schenkers Sicht die auf Landesebene besser zu koordinierenden Expansionswünsche einzelner Häfen sowie die Vermeidung eines für alle Häfen schädlichen Wettbewerbs. In Public Investment in Navigation Projects (1960) analysierte Schenker die damals praktizierten Kosten/Nutzen Schätzungen bezüglich öffentlicher Ausgaben für Schiffahrtsprojekte. Seine grundlegende Annahme war, daß der Steuerzahler, der die Kosten der Projekte trage, auch von diesen profitieren solle. In dieser Fallstudie ging es um die Kosten/Nutzen-Schätzung einer staatlich finanzierten Vertiefung des Hafenbeckens von Port Everglades. Die Maßnahme ermöglichte der diesen Hafen hauptsächlich nutzenden Erdölindustrie den Betrieb modernerer, kostengünstigerer Tanker. Die für die Schätzung zuständige Instanz (United States Corps of Engineers) ermittelte einen positiven Nettonutzen, der das fragliche Projekt rechtfertigte. Schenker setzte sich kritisch mit der Ermittlungsweise dieses Ergebnisses auseinander und stellte fest, daß nicht alle relevanten Einflußgrößen und Alternativen berücksichtigt wurden. Hierzu ist anzumerken, daß Schenker 1956 und 1957 beim Corps of Engineers arbeitete und selber mit dem Projekt Port Everglades befaßt war. Profitierte z.B. eine oligopolistische Branche von der Investition, so war es laut Schenker nicht klar, daß der gesellschaftliche Nutzen das Projekt rechtfertige. Schenker sah die Gefahr, daß das Oligopol den gesamten Nutzen abschöpfe. Außerdem seien die Alternativen der Verwendungsmöglichkeit der öffentlichen Ausgabe, also die Opportunitätskosten und andere Maßnahmen zu prüfen. Zu dem ersten Vorschlag wies Schenker auf die Subvention anderer Verkehrsträger hin, zu dem zweiten Vorschlag führte er die Erhebung von Benutzungsgebühren für Wasserwege an. In der Studie Economic Factors Influenced by a Highway Improvement Program (1961) stellte Schenker die möglichen Auswirkungen eines sol-

Schickele, Rainer Wolfgang chen Programms dar. Er ging dabei z.B. auf direkte Beschäftigungswirkungen und die Möglichkeit, ein derartiges Programm als Instrument der Fiskalpolitik zum Zweck der Konjunktursteuerung zu nutzen, ein. Auch zeigte er die sich möglicherweise für den Bereich des Straßenverkehrs ergebende transportkostensenkende Wirkung und die Implikationen für den gesamten Transportsektor auf. Während Schenkers Forschungsaufenthalt in Großbritannien entstanden u.a. die Beiträge The Profitability of the British Motor Carrier Industry (196S) und Nationalization and Denationalization of Motor Carriers in Great Britain (1963). In letzterem analysierte er die Wirkungen staatlicher Eingriffe in den Bereich des Straßengüterverkehrs. In den frühen 1960er Jahren waren sowohl Großbritannien als auch die USA von einer Krise im Transportwesen betroffen. Schenker versuchte auf Basis der Erfahrungen mit mehr oder weniger starken Staatseingriffen in den Straßengüterverkehr in Großbritannien Erkenntnisse für die USA zu gewinnen. Er kam zu dem Schluß, daß eine wettbewerbliche Struktur des Transportwesens am effizientesten wäre. Auch sei ein ständiger, noch dazu politisch bestimmter Wechsel der Art der Staatseingriffe und deren Intensität (im Extremfall wollte man in Großbritannien ein staatliches Transportmonopol erreichen) ein Nachteil für die gesamte Branche und die Gesellschaft. Damit konform war die Feststellung Schenkers in The Profitability of the British Motor Carrier Industry (1965), daß die Rentabilität des Straßengüterverkehrs in Großbritannien mit Beginn der Verstaatlichungstendenzen drastisch gesunken war. Er räumte ein, daß außer der Verstaatlichung noch andere Faktoren zu dem Rentabilitätsrückgang führen konnten. Aus der Tatsache, daß die Rentabilität der verstaatlichten Betriebe stärker gefallen war als in der gesamten Branche, Schloß er jedoch, daß die Verstaatlichung zumindest zu einem Teil den Rückgang zu verantworten hatte.

(1961)

Economic Factors Influenced by a Highway Improvement Program, in: Economic and Social Effects of Highway Improvements, Reports of a Series of Research Studies by Michigan State University/Highway Traffic Safety Center and five University Departments and Michigan State Highway Department with participation of U.S. Department of Commerce, Bureau of Public Roads, S. 11-17.

(1963)

Nationalization and Denationalization of Motor Carriers in Great Britain, in: Land Economics, Bd. 39 (3), S. 219-230. The Profitability of the British Motor Carrier Industry, in: Land Economics, Bd. 41 (3), S. 257-265. Economic Impact of a Port on the Urban Community, in: Papers-Sixth Annual Meeting-Transportation Research Forum, the Richard B. Cross Company, Oxford, Indiana, S. 355371. The Economic Merits of Extending the St. Lawrence Seaway Navigation Season, in: Proceedings of the 15th Conference on Great Lakes Research, International Association on Great Lakes Research, Universtiy of Toronto, Toronto, S. 737-750. Waterway Tolls - Do They Bear Scrutiny?, in: The Waterways Journal, Bd. 29, S. 21-25. Great Lakes Transportation in the Eighties (zus. mit R. Heitmann und Η. Mayer), University of Wisconsin Sea Grant College Program, Madison, Wisconsin.

(1965)

(1965)

(1972)

(1977)

(1986)

Quellen: BHbll; AEA. Ulrike Ε. Berger

Schickele, Rainer Wolfgang, geb. 27.7.1905 Schriften in Auswahl: (1959)

Southern State Port Authorities and Florida, in: Land Economics, Bd. 35 (1),S. 35-47.

(1960)

Public Investment in Navigation Projects. A Case Study, in: Land Economics, Bd. 36 (2), S. 212-216.

in Berlin Sein agrarökonomisches Studium an der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin Schloß der Sohn Ren6 Schickeies - ein bekannter expressionistischer Schriftsteller und Herausgeber der pazifistischen Zeitschrift Die weißen Blätter - im Jahr 1931 mit der Promotion bei Friedrich Aereboe ab.

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Schickele, Rainer Wolfgang Die Veröffentlichung der Dissertationsschrift Untersuchungen über die Formen der Weidewirtschaft in den Trockengebieten der Erde erfolgte im selben Jahr unter leicht geändertem Titel in der von Bernhard Harms am Kieler Institut für Weltwirtschaft herausgegebenen Schriftenreihe Probleme der Weltwirtschaft. Unmittelbar nach seinem Studienabschluß ging Schickele als Stipendiat in die Vereinigten Staaten, wo er an der Iowa State University, dem International Institute of Education in New York und an der Brookings Institution, Washington, D.C., ein Postgraduiertenstudium absolvielte. Nach der 'Machtergreifung' der Nationalsozialisten kehrte er nicht mehr nach Deutschland zurück, sondern nahm 1934 eine Dozentur am agrarwissenschaftlichen Institut der North Dakota State University an, das er zwischen 1947 und 19S7 als Direktor leitete. Parallel dazu lehrte Schickele 1944 und 194S als Dozent an der George Washington University, Washington, D.C., sowie in den Jahren zwischen 1934 und 1934 an der Iowa State University. Ferner hatte er 1943 bis 1947 die Leitung der Forschungsabteilung des US-amerikanischen Landwirtschaftsministeriums inne. Im Jahr 1954 wechselte Schickele vorübergehend aus der Wissenschaft in die praktische Agrarpolitik und arbeitete bis 1965 als Direktor der Abteilung für Land- und Wasserentwicklung bei der Food and Agricultural Organization (FAO) der Vereinten Nationen in Rom. Daran anschließend war er zunächst als Mitarbeiter des Agricultural Development Council Inc. in New York beschäftigt, wurde jedoch 1967 von dieser Organisation als Agrarentwicklungsexperte bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1970 nach Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, entsandt. Im Rahmen einer Gastprofessur an der Universität von Ceylon nahm Schickele seine universitäre Tätigkeit wieder auf und führte sie nach seiner Rückkehr in die USA mit weiteren Gastprofessuren an der Michigan State University (1971) und der University of Minnesota (1972) sowie als Research Associate an der University of California at Davis und Berkeley zwischen 1973 und 1976 fort. Für seine vier Jahrzehnte lange wissenschaftliche und praktische Tätigkeit auf dem Gebiet der Agrarökonomie wurde Schickele 1971 mit der Ehrenmitgliedschaft der American Agricultural Economics Association, die ihm bereits 1945 den Farm Price Policy Award verliehen hatte, ausgezeichnet.

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Aufgrund seiner während des Stipendiums erfolgten Akkulturation im amerikanischen Wissenschaftsbetrieb konnte Schickele die in Deutschland mit der Dissertation begonnenen agrarökonomischen Forschungen in den USA bruchlos fortführen. Dabei richteten sich seine Studien zur Verbesserung der Vermarktungsstrategien von tierischen und pflanzlichen Fetten, zu den ökonomischen Implikationen der Bodenerosionskontrolle sowie zu unterschiedlichen Ausgestaltungsprinzipien des Verhältnisses zwischen Grundeigentümer und Pächter (1941; 1952) zunächst auf die spezifischen agrarwirtschaftlichen Verhältnisse im amerikanischen Com Belt. Darüber hinaus diskutierte er in diesem Kontext, auch angeregt durch die Arbeiten seines ehemaligen Kollegen an der Iowa State University, des späteren Nobelpreisträgers Theodore W. Schultz, die Reaktionsmöglichkeiten der Farmer auf (klimatische) Risiken, Preisfluktuationen und die daraus resultierenden Einkommensunsicherheiten (1950). Nicht zuletzt aus diesen Problemen ergab sich für Schickele das Erfordernis des - gesellschaftlich kontrollierten - staatlichen Eingreifens in den Marktmechanismus, wobei er in seinem Buch Agricultural Policy (1954), das die Synopse seiner agrarökonomischen Forschungsarbeit bis zu diesem Zeitpunkt darstellt, die Funktionen des Staates insbesondere in den Bereichen Stabilisierung, Bereitstellung öffentlicher Güter - vor allem landwirtschaftliche Infrastruktur - sowie Umverteilung von Einkommen sah (ebd., S. 23-28). Einschränkungen dieser Interventionen ergaben sich allerdings aus Schickeies stark an das alt-liberale Elitedenken Ortega y Gassets angelehnte Vorstellungen zur individuellen Freiheit und sozialen Kontrolle. Ortegas Schrift The Revolt of the Masses (1932) hatte Schickele bereits als Grundlage für seinen Aufsatz über Society and the Masses (1942) herangezogen und diese Gedanken in zahlreichen späteren Arbeiten zur Modellierung des Verhältnisses zwischen den politisch Verantwortlichen und der Bevölkerung aufgegriffen (z.B. 1968, S. 5-9). So waren in dieser Sicht agrarpolitische Programme Ausdruck des gemeinschaftlichen Willens sozialer Gruppen, den die Individuen als Gruppenmitglieder und Wähler äußerten sowie als Gruppen„führer" im administrativen Prozeß umsetzten (1954, S. 14 f.). Mit der Aufnahme seiner Tätigkeit bei der FAO verlagerte sich Schickeies wissenschaftliches Interesse jedoch zu den landwirtschaftlichen Proble-

Schickele, Rainer Wolfgang men in den Ländern der sog. Dritten Welt und zur Entwicklungspraxis im Agrarsektor dieser Volkswirtschaften. Dabei modellierte er in einem - seinem akademischen Lehrer Aereboe gewidmeten Beitrag (1965, S. 189 f.) den planerischen Teil des Entwicklungsprozesses als Aufgabenteilung zwischen „Betriebswirtschaftlern" und Agrarpolitikern: die letztgenannten sollten in einer „top down" Planung die organisatorischen, administrativen und finanzwirtschaftlichen Rahmenbedingungen festlegen, die auf der Grundlage eines Rückkoppelungsprozesses, d.h. „bottom up", mit den von betriebswirtschaftlicher Seite auf der landwirtschaftlichen Mikroebene festgestellten Produktionsmöglichkeiten verglichen - und gegebenenfalls korrigiert - werden müBten. Die für ihn wesentlichen wetteren Faktoren einer erfolgreichen Entwicklungsstrategie faBte Schikkele in einem Leitfaden für die Entwicklungspolitik (1968) folgendermaßen zusammen. Das aus seiner humanistischen Grundhaltung abgeleitete Oberziel stellte die Erhöhung der (landwirtschaftlichen) Produktion bei gleichzeitiger Reduzierung der Armut dar. Dies sollte durch eine parallele Entwicklung des industriellen und des landwirtschaftlichen Sektors gewährleistet werden, in deren Rahmen ein sektoral differenzierter Einsatz von Entwicklungsplanung und Implementieningsmethoden vorgenommen werden müsse. Zur Modernisierung des Agrarsektors sei eine friedliche Revolution in den Bereichen Bildung, Landverteilung und beim Zugang zu den ökonomischen Chancen für die „Massen" notwendig, die weitgehende Partizipationsmöglichkeiten im Planungsund ImplementierungsprozeB von Entwicklungsprojekten erhalten miiBten, um so zu vollwertigen und verantwortungsbewußten Bürgern heranzuwachsen. Dazu sei es auch erforderlich, nationale Entwicklungspläne in einzelne lokale Projekte aufzugliedern und die Planung „von unten" als einen wesentlichen Bestandteil in den staatlichen PlanungsprozeB zu integrieren (ebd., S. VHI f.). Praktische Erfahrungen im Bereich der „grassroots level"-Planung sammelte Schickele unter anderem während seiner Beratertätigkeit in Sri Lanka. Dort sah er seine Vorstellungen einer dezentralen Produktionsplanung der in Kooperativen zusammengeschlossenen bäuerlichen Familienfarmen verwirklicht, die mit staatlicher Unterstützung auf den Gebieten der technischen und organisatorischen Hilfe, der Finanzierung und Bildung zu einer Outputsteigerung geführt habe, wenn-

gleich er weitere Verbesserungen, beispielsweise im Ausbildungsbereich, für notwendig erachtete und die Leitung in den Kooperativen ebenso wie die staatliche Verwaltung noch stärker auf ihre soziale Verantwortung hingewiesen werden müßten. Nicht zuletzt dieses Produktionszuwachses und der weitgehenden Selbstverantwortlichkeit der Farmer wegen sei die kleinbäuerliche Landwirtschaft privaten oder staatlichen Großbetrieben vorzuziehen, deren Existenz zwar unter planerischen Gesichtspunkten Vorzüge aufweise, jedoch zu einer ökonomischen und gesellschaftlichen Schwächung der Familienbetriebe führe und damit den gesamten Entwicklungsprozeß verlangsame (1971, S. 66 ff.). Die Arbeiten Schickeies zur Agrarpolitik zeichnen sich durch eine ausgeprägte empirische Fundierung aus, die von seiner langjährigen Tätigkeit für die FAO und andere Entwicklungsorganisationen herstammen. Allerdings führte dies zu einer Überbetonung der Rolle der Landwirtschaft gegenüber dem industriellen Sektor in seinen Schriften, wobei er Probleme wie das Auftreten adverser Terms of Trade im Agrarsektor nicht thematisierte (vgl. Dovring 1969, S. 126). Darüber hinaus mußte der Vorschlag Schickeies, die Ersparnisbildung in der Landwirtschaft intrasektoral zu verwenden (1968, S. 73 ff.), sie mithin der Kapitalakkumulation im modernen Sektor weitgehend zu entziehen, zu einer Verlangsamung des Entwicklungstempos führen, denn, wie -» Wolfgang Rosenberg (1967, S. 439) betonte, gerade die durch Produktivitätssteigerungen im landwirtschaftlichen Sektor geschaffene (reale) Ersparnis bildet eine wesentliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Entwicklungs- und Industrialisierungsprozeß. Schriften in Auswahl: (1931) Die Weidewirtschaft in den Trockengebieten der Erde (= Probleme der Weltwirtschaft. Schriften des Instituts fur Weltwirtschaft und Seeverkehr an der Universität Kiel, Nr. 53), Kiel (Diss.). (1941) Effects of Tenure Systems on Agricultural Efficiency, in: Journal of Farm Economics, Bd. 23, S. 185-207. (1942) Society and the Masses, in: American Journal of Economics and Sociology, Bd. 2, S. 65-79.

Schiff, Eric(h) (1950)

(1952)

(1954) (1965)

(1968)

(1971)

Farmers Adaptions to Income Uncertainty, in: Journal of Farm Economics. Bd. 32, S. 356-374. Theories Concerning Land Tenure, in: Journal of Farm Economics, Bd. 34, Proceedings, S. 734-744. Agricultural Policy. Farm Programs and National Welfare, New York u.a. Aufgaben der landwirtschaftlichen Betriebslehre in der Wirtschaftsplanung der Entwicklungsländer, in: Zeitschrift für ausländische Landwirtschaft, Bd. 4, S. 181-192. Agrarian Revolution and Economic Progress. A Primer for Development, New York u.a. National Policies for Rural Development in Developing Countries, in: Weitz, R. (Hrsg.): Rural Development in a Changing World, Cambridge, Mass. u.a., S. 57-72.

Bibliographie: Ortega y Gasset, J. (1932): The Revolt of the Masses, New York; span. Orig., Madrid 1930. Dovring, F. (1969): Commentary on Agrarian Revolution and Economic Progress: A Primer for Development (by Rainer Schickele), in: Land Economics, Bd. 45, S. 125-128. Rosenberg, W. (1967): A Consumer Goods Surplus, in: Indian Economic Journal, Bd. 14, S. 423439. Quellen: BHb I; AEA; American Journal of Agricultural Economics, Handbook-Directory, Bd. 54, 1972 und Bd. 58, 1976. Hans Ulrich Eßlinger

Schiff, Eric(h), geb.

18.4.1901 in Wien, gest. ca. 1980 in Washington, D.C.

Eric Schiff war der Sohn des österreichischen Statistikers und Ökonomen -» Walter Schiff. Er promovierte 1925 an der Universität Wien zum Dr. iur. und war seit 1927 als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Konjunkturforschung in Wien tätig. Seit 1935 war er Herausgeber des Allgemeinen Tarif-Anzeigers. Schiff emigirierte nach dem „Anschluß" Österreichs in die USA, wo er zunächst an der University of Michigan in Ann Arbor als Research Fellow Beschäftigung fand. Zu jener Zeit änderte er

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seinen ursprünglichen Vornamen Erich in die englische Schreibweise Eric. Er zog 1940 nach Washington, D.C, und wechselte zur Brookings Institution. Von 1942 bis 1966 war er ebenfalls in Washington als Economist und Assistant Editor am Machinery and Allied Products Institute tätig. Nach seiner dortigen Pensionierung war er von 1966-1968 als Research Associate an der International Finance Section der Princeton University bei Fritz Machlup tätig, mit dem er bis 1980 im Briefwechsel stand. In den frühen 1970er Jahren verfaßte Schiff eine Reihe von Publikationen am American Enterprise Institute for Public Policy Research. Weitere Daten über den Lebensweg von Schiff, der 1944 amerikanischer Staatsbürger geworden war, sind nicht bekannt. Während seiner Assistenz am Institut für Konjunkturforschung veröffentlichte Schiff eine international beachtete Schrift (Petersen 1933 und Walker 1933) über die Kapitalbildung und Kapitalaufzehrung im Konjunkturverlauf (1933) in der Tradition der österreichischen konjunkturtheoretischen Schule, die, aufbauend auf den Arbeiten von Böhm-Bawerk, vor allem von -» Friedrich August von Hayek, - • Oskar Morgenstern und Fritz Machlup geprägt war. Ganz im Sinne der Konjunkturtheorie Hayeks, der zwischen 1927 und 1931 das Institut für Konjunkturforschung leitete, sah auch Schiff monetäre Einflüsse auf die relativen Preise und damit auf die reale Produktionsstruktur als wesentliche Ursache konjunktureller Schwankungen an. Den theoretischen Rahmen für Schiffs Untersuchungen bildete die Hayeksche Konjunkturtheorie. Ausgehend von einer Vollbeschäftigungssituation besteht danach in Aufschwungphasen die Tendenz „die Produktionswege zu verlängern", d.h., daB Investitionen in die Kapitalgüterproduktion rentabler werden und dadurch die Kapitalgüterproduktion relativ zur Konsumgüterproduktion ansteigt. Ausgelöst wird dies durch eine Verschiebung des Geldzinses gegenüber dem natürlichen Zins, dessen Ursache im Kreditschöpfungsmechanismus der Banken zu suchen ist. Diese Entwicklung fuhrt zu „Fehlinvestitionen" und damit zu Diskrepanzen in der realen Produktionsstruktur, da sie nicht durch eine Verschiebung der Zeitpräferenz der Konsumenten, also durch eine parallele Entwicklung der „freiwilligen" Ersparnis und der Investitionstätigkeit begleitet wird. In diesem Ungleichgewicht muß die unveränderte Konsumnachfrage auf eine geringere Konsumgüterpro-

Schiff, Eric(h) duklion treffen, da die Nettoneuinvestitionen im Produktionsgütersektor zunehmende Ersatzinvestitionen fordern. Im weiteren Konjunkturverlauf kommt es daher zu einem Preisanstieg der Konsumgüter gegenüber den Produktionsgütern und zu einem Geldzinsanstieg. Die getätigten Investitionen in die Produktionsgüterindustrie werden dadurch unrentabel. Schiff boten sich zwei Wege, die entstandenen Disproportionalitäten zu bereinigen. Zum einen könne ein erzwungener Konsumverzicht die Rentabilität der Produktionsgüterinvestitionen so lange aufrechterhalten, bis sie kapazitätswirksam würden und sich in einer steigenden Konsumgüterproduktion niederschlügen. Diesen Weg sah Schiff in der Sowjetunion der 1920er Jahre eingeschlagen. In einer Marktwirtschaft wird dies nach Schiff jedoch nicht möglich sein, hier bleibt nur „freie Bahn der Reinigungskrise" (1933, S. 221) mit einer Abwertung unrentabler Kapitalgüter, unterstützt durch Flexibilität von Löhnen und Preisen. Ein Hinauszögern dieser Reinigungskrise sah Schiff als kontraproduktiv an, da sie die Depression nur verschärfen werde und letztlich zum (vermeidbaren und unter allen Umständen zu vermeidenden) physischen Verfall der abgewerteten, unrentablen Kapitalgüter führe. Der Produktionsgüterindustrie empfahl Schiff eine kurzfristige Preissenkung bis zur alleinigen Deckung variabler Kosten. Überhaupt sah er die betriebswirtschaftliche Diskussion von Konjunkturphänomenen, aufbauend auf -» Eugen Schmalenbachs Erkenntnissen über kurzfristige und langfristige Kostendekkungsbeiträge und Schmidts organischer Bilanztheorie, als sehr viel homogener und realitätsnäher an als die volkswirtschaftliche Auseinandersetzung zwischen Unterkonsumtions- und Überinvestitionstheoretikern. Breiten Raum räumte Schiff der empirischen Untersuchung konjunktureller Phänomene in Deutschland zwischen 1925 und 1927 ein. So schätzte er zunächst den Anteil der Kapitalbildung aus Spartätigkeit in Deutschland für 1925 und 1927 auf etwa 45 Prozent, den der Geldkapitalbildung (Kreditschöpfung des Bankensystems) auf etwa 30 Prozent an der gesamten Kapitalbildung. Dies deutete auf ein immenses Gewicht der den konjunkurellen Schwankungen zugnindeliegenden endogenen Mechanismen hin. Zu Recht wies er jedoch gleichzeitig auf die möglichen Fehlschätzungen solcher Berechnungen hin. Gegenüber diesen Kapitalaufbringungsarten stellte

Schiff fest, daß die tatsächlichen Realinvestitionen in diesem Zeitraum um über 10 Prozent niedriger lagen. Diese Differenz sah er vor allem durch reale Substanzverluste der Volkswirtschaft und durch Konsumverwendung von Sparkapital verursacht. Schiff betonte, daB im konjunkturellen Verlauf insbesondere in Zeiten der Depression eine selbstverstärkende Abweichung von Geldkapitalangebot und realer Sachkapitalbildung auftreten kann, verursacht durch steigende Kreditfinanzierung von Konsum und Untemehmensverlusten. Im weiteren Verlauf stellte er fest, daß zwischen 1930 und 1932 das laufende Einkommen um etwa ein Drittel, der laufende Verbrauch jedoch nur um ein Viertel gesunken sei. Dies war für Schiff der Beweis, daß sich die Zeitpräferenz und damit der Konsum nicht in dem Maße veränderten, wie es die vorangegangene Investitionstätigkeit geboten hätte. Zwingende Folge war damit ein Zehren der Wirtschaft vom Sachkapitalbestand, den Schiff durch die Tatsache nachzuweisen versuchte, daß 1931 nur drei Viertel des Verbrauchs durch Produktionstätigkeit gedeckt waren. Daraus folgte nach Schiff für die deutsche Wirtschaft für die Jahre 1930 bis 1932 eine Desinvestition zunächst von Lagerbeständen, dann von Sachkapital in Form von Anlagen. Ein grundlegendes Problem sah er durch seine Analyse aus dem Weg geräumt: die Identifizierung realer Kontraktionsphänomene als primäre Reinigungskrise, als sekundäre Depressionseffekte falscher Wirtschaftspolitik oder als vom Konjunkturzyklus unabhängige säkulare Aufzehrungsprozesse. Für Deutschland Anfang der 1930er Jahre konstatierte er eine konjunkturelle Depression mit heftigen kumulativen Sekundäreffekten. Der entscheidende Unterschied zu früheren Konjunkturkrisen vor 1914 bestand für Schiff in der erstmaligen Souveränität der breiten Masse der Konsumenten hinsichtlich ihrer Zeitpräferenz. Nach seiner Emigration in die USA konzentrierte sich Schiff wohl auf seine Tätigkeiten als ökonomischer Berater und Statistiker. Nur selten schrieb er mehrere Artikel zum selben Thema. Gleichwohl zeigen seine weiteren Veröffentlichungen fundierte Kenntnisse der volkswirtschaftlichen als auch betriebswirtschaftlichen Literatur. Sie reichten von Themen der betriebswirtschaftlichen Bewertungslehre (z.B. 1957 und 1958), Analysen des Wohnungsbaus und der Umsatzsteuer bis hin zur Problematik der Direktinvestitionen in Zahlungsbilanzen (1942).

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Schiff, Walter Bemerkenswert sind die 1971 und 1972 in zwei Bänden erschienenen Schriften über Income Policies Abroad, in denen Schiff die Einkommenspolitik in Großbritannien, Holland, Schweden, Kanada, Frankreich, Westdeutschland, Österreich und Dänemark einer vergleichenden Analyse unterzog. Ziel war es, der damals lebhaften Kontroverse um die US-amerikanische Einkommenspolitik die Empirie anderer Industrienationen gegenüberzustellen. Im jeweiligen real wirtschaftlichen Kontext stellte er die Ausprägungen der Einkommenspolitiken in den besprochenen Ländern dar. Schiff lieferte damit einen zusammenfassenden Überblick über die Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung und der Inflationsbekämpfung in westlichen Industrieländern zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Jahr 1970. Der akademische Lebensweg von Schiff erreichte zweifellos während der zehnjährigen Assistenz am Österreichischen Institut für Konjunkturforschung, an dem er sein wichtigstes Weile (1933) verfafite, seinen Höhepunkt. Nach seiner Emigration wandte sich Schiffs Interesse bald den vielfältigen Tätigkeiten in Behörden und Verbänden zu, eine Entwicklung, die sich jedoch schon in Österreich durch den Wechsel vom Institut für Konjunkturforschung zum Allgemeinen Tarifanzeiger abgezeichnet hatte. Dennoch publizierte er auch in den USA. Seine Veröffentlichungen befafiten sich jedoch nicht mehr mit einem zentralen Forschungsschwerpunkt, sondern behandelten eine weite Themenpalette, die wohl von seiner jeweiligen Tätigkeit vorgegeben war. Schriften in Auswahl: (1933) Kapitalbildung und Kapitalaufzehrung im Konjunkturverlauf, Wien. (1942) Direct Investments, Terms of Trade, and Balance of Payments, in: The Quarterly Journal of Economics, Bd. 56, S. 307-320. (1957) Reinvestment Cycles and Depreciation Reserves under Straight-Line Depreciation, in: Metroeconomica, Bd. 9, S. 23-41. (1958) Reinvestment Cycles and Depreciation Reserves under Declining-Balance Depreciation, in: Metroeconomica, Bd. 10, S. 7-15. (1961) Factor Substitution and the Composition of Input, in: National Bureau of Economic Research (Hrsg.): Output,

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(1971)

(1972)

Input, and the Productivity Measurement (Studies in Income and Wealth. Bd. 25), Princeton. Income Policies Abroad, Part I: United Kingdom, the Netherlands. Sweden, Canada, Washington, D.C. Income Policies Abroad, Part II: France, West Germany, Austria, Denmark, Washington, D.C.

Bibliographie: Walker, E.R. (1933): [Besprechung von] Kapitalbildung und Kapitalaufzehrung im Konjunkturverlauf, ν. Erich Schiff, Wien, 1933, in: The Economic Journal, Bd. 43, S. 288-290. Petersen, O.S. (1933): [Besprechung von] Beiträge zur Konjunkturforschung, hrsg. v. Österreichischen Institut fur Konjunkturforschung. Bd. 2: Fritz Machlup: Börsenkredit, Industriekredit und Kapitalbildung, Wien, 1933 / Bd. 3: Erich Schiff: Kapitalbildung und Kapitalaufzehrung im Konjunkturverlauf, Wien, 1933, in: Nationalökonomisk Tidsskrift, Bd. 71, S. 285-289. Quellen: SPSL 238/5. Bernhard Holwegler

Schiff, Walter, geb. 3.6.1866 in Wien. gest. 1.6.1950 in Wien Schiff, einer Kaufmannsfamilie entstammend, studierte nach der Matura am k.u.k. Staatsgymnasium in Wien ab 1884 Rechtswissenschaft an der Universität Wien, wo er 1889 zum Dr. iur. promovierte. 1894 trat er eine Stelle als Konzeptspraktikant bei der Statistischen Zentralkommission, dem späteren Bundesamt für Statistik, an und wurde einer der engen Mitarbeiter von K.T. von Inama-Sternegg, dem langjährigen Präsidenten dieses Amtes. Ab 1910 gehörte er der Zentralkommission als Ersatzmitglied und korrespondierendes Mitglied an. Daneben war er im österreichischen Handelsministerium zunächst als Sektionsrat, dann als Ministerialrat tätig und leitete das diesem Ministerium angegliederte Arbeitsstatistische Amt. Nach der Auflösung des Amtes im Jahr 1919 wurden dessen Agenden der Statistischen Zentralkommission übertragen, bei der Schiff nun zum Leiter der Abteilungen für Wirtschafts- und Arbeitsmarktstatistik sowie zum Vizepräsidenten ernannt wurde. Ab Ende 1922 fungierte er für kurze Zeit als geschäftsführender Präsident des 1921

Schiff, Walter neu geschaffenen Bundesamtes fur Statistik. Auf sein Betreiben hin entstand 1923 eine neue statistische Monatspublikation, die Statistischen Nachrichten. Diese aus einer Kooperation des Bundesamtes mit den Berufs verbänden hervorgegangene Zeitschrift sollte durch eine Zusammenfassung der amtlichen und der privatwirtschaftlichen Statistiken aktuelle Daten über alle Bereiche des österreichischen Wirtschaftslebens liefern (vgl. Zeller 1979, S. 119f.). Noch in demselben Jahr wurde Schiff jedoch im Zuge des nach Ende des Ersten Weltkriegs einsetzenden „allgemeinen Beamtenabbaus" (Winkler 1950, S. 98) in den vorzeitigen Ruhestand versetzt Er wechselte daraufhin als Berater ins Statistische Amt der Stadt Wien. Neben seiner Karriere in den statistischen Zentralbehörden Österreichs verfolgte Schiff eine wissenschaftliche Laufbahn und war darüber hinaus bereits früh in der Volksbildung tätig. 1910 wurde er zum auBerordentlichen, 1914 zum ordentlichen Professor für Politische Ökonomie und Statistik an der Universität Wien ernannt und lehrte ferner als Dozent in den Fachgebieten Verwaltungs- und Rechtslehre sowie Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Bodenkultur. 1905 zählte er zu den Gründern des Volksheims Wien-Ottakring, dessen staatswissenschaftliche Fachgruppe er ab 1909 leitete. Von 1931 bis 1934 war er geschäftsführender Leiter des Volksheims. Mit Beginn der 1930er Jahre engagierte sich Schiff verstärkt politisch. Als Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs hatte er von 1930 bis 1934 den Vorsitz im Antikriegskomitee inne, war 1933 Mitglied des Dimitrovkomitees, das sich für die Befreiung Dimitrovs aus deutscher Haft nach dem Reichstagsbrand einsetzte, betätigte sich darüber hinaus als Förderer der Roten Hilfe und war Mitglied des Bundes der Freunde der Sowjetunion. Nach dem Februaraufstand mußte er 1934 alle beruflichen und politischen Ämter niederlegen. Wegen der von ihm als „zu lau" angesehenen Haltung der Sozialdemokratie wandte sich Schiff in den folgenden Jahren immer stärker der Kommunistischen Partei Österreichs zu (vgl. Dippelreiter 1994, S. 123). Nach dem sog. 'Anschluß' an Nazideutschland emigrierte er 1938 nach Großbritannien und engagierte sich dort in der österreichischen Freiheitsbewegung. Er wurde Mitglied, später Vorsitzender des Council of Austrians in Great

Britain und ab 1940 Ehrenpräsident des Austrian Centre. Als Nationalökonom befaßte sich Schiff zunächst mit Fragen der Sozialstatistik und -politik sowie mit der Agrarpolitik. Seine frühen Arbeiten im Bereich der Statistik fallen in die Jahre der Bemühungen um eine umfassendere Erhebung arbeitsmarkt- und sozialpolitisch relevanter Daten im Zusammenhang mit dem Aufbau der Sozialversicherung, die 1888 zunächst als Kranken- und Unfallversicherung fur gewerbliche Arbeitnehmer in Österreich eingeführt worden war. Um den Bedürfnissen einer exakten quantitativen Kenntnis der „gesellschaftlichen Zustände" gerecht zu werden, forderte er eine Verbesserung der Organisation und Methoden der Datenerhebung auf betrieblicher und lokaler Ebene sowie die Schaffung zentraler Stellen zur Auswertung und Aufbereitung der Daten (vgl. 1893/94). Mit der Gründung des Arbeitsstatistischen Amtes im Jahre 1898 konnten diese Vorstellungen einige Jahre später verwirklicht werden. Darüber hinaus befaßte sich Schiff in international vergleichenden Studien jedoch auch mit sozialpolitischen und juristischen Fragen des Arbeiter-, insbesondere des Kinder- und Jugendschutzes (vgl. z.B. 1916). Aus der Zeit seiner Tätigkeit im Arbeitsstatistischen Amt sind seine Schriften zur Einkommensund Verbrauchsstatistik als Grundlage für die Gewinnung von Erkenntnissen über die personelle Einkommensverteilung besonders hervorzuheben. Schiff brach dabei mit dem bis dahin in Österreich gängigen Prinzip der Erfassung des „Wohlhabenheitsgrades" der Haushalte nach der Einkommenshöhe. An dessen Stelle rechnete er in Anlehnung an die Arbeiten Ernst Engels das Einkommen mit Hilfe von ' Reduktionsziffem' auf die 'Konsumeinheiten' je Haushalt um, wodurch eine Vergleichbarkeit der sich nach Alter, Geschlecht und Zahl der Personen unterscheidenden Haushaltstypen hergestellt werden sollte (vgl. 1916/17, insbes. S. 522ff.; 1917, Abschnitt 1). Hingegen kann ein Versuch des aus der G.v. Mayr'schen Schule stammenden Schiff, seine im Bereich der angewandten Statistik gewonnenen Ergebnisse mit Hilfe mathematischer Methoden in verallgemeinerter Form darzustellen (vgl. 1917, Abschnitt 2), „schwerlich als geglückt bezeichnet werden" (Winkler 1950, S. 98). In seinen Publikationen auf dem Gebiet der Agrarpolitik vertrat Schiff weitgehend jene Auffassungen, die von der österreichischen Sozialde-

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Schiff, Walter mokratie 1925 in ihrem Agrarprogramm beschlossen worden waren. Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit hatte er sich zunächst mit rechtlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Agrarpolitik sowie mit ihrer historischen Entwicklung auseinandergesetzt (vgl. 1892; 1901). Nach dem Ersten Weltkrieg standen jedoch verstärkt gesellschaftsreformerische Gesichtspunkte im Zentrum seiner agrarpolitischen Beiträge. Allerdings betonte er dabei die Besonderheiten der landwirtschaftlichen im Vergleich zur industriellen Produktion (vgl. 1925) und stand Zwangsmaßnahmen, wie sie ζ. B. -» Otto Bauer (1926, S. 225ff., insbes. S. 244) in Form einer Verstaatlichung des in Österreich nach der sog. 'Grundentlastung' verbliebenen Großgrundbesitzes forderte, zurückhaltend gegenüber. Derartige Eingriffe lehnte er zwar unter politischen Erwägungen nicht ab, verwies jedoch in einem Beitrag für die Agrarsozialistische Bücherei auf die möglichen „Schädigungen der Volkswirtschaft", die aus einer „Zerschlagung der Großbetriebe" infolge des Unterschreitens der Rentabilitätsgrenze im kleinbäuerlichen Betrieb resultieren könnten (1926, S. 37). In den 1930er Jahren rückte Schiff von seiner bis dahin vertretenen „liberal-sozialistischen" Haltung (Glaser 1981, S. 228) ab. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise veröffentlichte er eine Schrift über Die Planwirtschaft und ihre ökonomischen Hauptprobleme (1932). Ausgehend von der Feststellung, „daß der Kapitalismus in seiner heutigen Form nicht imstande sei, die Diskrepanz zwischen Produktion und Konsumtion zu überwinden" (ebd., S. 1), sah er drei Möglichkeiten für die weitere Entwicklung des kapitalistischen Systems: erstens, die Entstehung eines faschistischen Staates - den er in einer 1936 unter Mitarbeit seines Schülers -* Eduard März entstandenen Schrift scharf bekämpfte; zweitens, das Zugnindegehen der Volkswirtschaft im anarchistischen Chaos oder drittens, als die von ihm als am wahrscheinlichsten angesehene Entwicklung (vgl. 1932, S. 106), den Aufbau einer sozialistischen Planwirtschaft in Anlehnung an „die faszinierenden Erfolge ... in der UdSSR" (1932, S. 104). Schiffs Versuch einer umfassenden theoretischen Darstellung des Aufbaus eines derartigen Wirtschaftssystems war durch eine für die Vertreter des Austromarxismus wie z.B. auch -» Emil Lederer (1931, S. 346f.) nicht ungewöhnliche Kombination von Arbeitswertlehre und Grenznutzen-

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theorie gekennzeichnet, die er mit der sozialpolitischen Forderung einer staatlichen Sicherung des individuellen Subsistenzminimums verband (vgl. 1932, insbes. S. 104f.). Gegen diese Verknüpfung von Arbeitswerttheorie und Grenznutzenprinzip richteten sich zwar einerseits die Einwände seiner Schülerin -» Käthe Leichter. Andererseits betonte sie jedoch, daß die Bedeutung der Arbeit gerade in der „wirtschaftstheoretischen Untermauerung der Planwirtschaft und der gleichzeitigen Verwirklichung der sozialistischen Postulate" liege (Leichter 1933, S. 307). Schiff, der sich in seinem Exilland Großbritannien in kommunistisch orientierten Emigrantengruppen engagierte, publizierte 1947 in der bulgarischen Zeitschrift Plan nochmals einen Beitrag über die Theorie der Planwirtschaft, ihr Wesen und ihren soziologischen Charakter. Trotz mehrerer Aufforderungen der Stadt Wien nach Österreich zurückzukehren, ließ er sich erst 1950, wenige Wochen vor seinem Tode, zu diesem Schritt bewegen. Schriften in Auswahl: (1892) Zur Frage der Organisation des landwirtschaftlichen Kredits in Deutschland und Österreich. Zwei Abhandlungen, Leipzig (= Staats- und Socialwissenschaftliche Beiträge, Bd. 1, H.l).

(1893/94)

(1901)

(1916)

(1916/17)

(1917)

Die österreichische Arbeiter-Unfallversicherung und die Sozialstatistik, in: Allgemeines Statistisches Archiv, 3. Jg., S. 66-118. Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft und ihrer Industrien 1848-1898, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 21, S. 375-412. Internationale Studien über den Stand des Arbeiterschutzes bei Beginn des Weltkrieges, Berlin. Die österreichische Erhebung über Wirtschaftsrechnungen und Lebensverhältnisse von Wiener Arbeiterfamilien, Methode und Ergebnisse, in: Allgemeines Statistisches Archiv, 10. Jg., S. 509-594. Der Einfluß von Wohlhabenheitsgrad, Einkommenshöhe und Familiengröße auf die Befriedigung der Bedürfnisse. Theorie und statistische Tatsachen, in: Zeitschrift für Volks-

Schlesinger, Karl Wirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Bd. 26, S. 1-135. (1925)

Über Wesen und Besonderheiten der Agrarpolitik, in: Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 53, S. 427-490.

Quellen: Β Hb I; IFZ; Maitron, J ./Haupt, G. (Hrsg.) (1971): Dictionnaire Biographique du Movement Ouvrier International. Bd. 1: Autriche, Paris, S. 273; Kürschner 1925ff.; persönliche Korrespondenz, Universitätsarchiv Wien vom 7.5.1996. Hans Ulrich Eßlinger

(1926)

Die großen Agrarreformen seit dem Kriege, Wien (= Agrarsozialistische Bücherei, Nr. 5).

Schlesinger, Karl, geb.

(1932)

Die Planwirtschaft und ihre ökonomischen Hauptprobleme, Berlin. Ständestaat und der Aufbau des autoritären Staates. Unter Mitarbeit von E. März, Wien. Theorie der Planwirtschaft, Wesen und soziologischer Charakter (bulgarisch), in: Plan, Bd. 3, Vama.

(1936)

(1947)

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1889 in Budapest, gest.

13.3.1938 in Wien Karol Schlesinger wuchs als Sohn einer jüdischen Bankiersfamilie in Budapest auf, wo er nach dem Abitur auch studierte und 1913 an der dortigen Universität mit einer Arbeit Uber die Theorie der Geld- und Kreditwirtschaft (1914) promovierte. In den revolutionären Wirren kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges verließ Schlesinger 1919 während der Zeit der kommunistischen Räterepublik von Bela Kun Ungarn und übersiedelte nach Wien. In Österreich war er in verschiedenen gehobenen Positionen in der Industrie und im Finanzwesen tätig. Ohne jemals in seinem Leben eine akademische Position innegehabt zu haben, pflegte Schlesinger fortlaufend einen engen Kontakt zur Wissenschaft. So beteiligte er sich aktiv an den Veranstaltungen der Nationalökonomischen Gesellschaft und war vor allem ein regelmäßiger Teilnehmer im mathematischen Seminar von -* Karl Menger. Als Experte in der Geldtheorie und Geldpolitik sowie als hervorragender Mathematiker verfaBte Schlesinger wenige, aber gewichtige wirtschaftswissenschaftliche Publikationen. Am Tag des 'Anschlusses' Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland beging Schlesinger in Wien Selbstmord. Als Schlesingers herausragende wissenschaftliche Leistung muß seine auf Deutsch verfaßte Dissertation angesehen werden, die unmittelbar vor Ausbrach des Ersten Weltkrieges bei Duncker & Humblot in München und Leipzig veröffentlicht wurde. Nicht nur aufgrund des Krieges wurde die Bedeutung von Schlesingers Theorie der Geldund Kreditwirtschaft lange Zeit nicht erkannt, so daß -» Joseph A. Schumpeter dieses Werk noch Jahrzehnte später als ein herausragendes Beispiel dafür anführte, „daß auf unserem Gebiet erstklassige Leistungen weder notwendige noch ausreichende Voraussetzungen für den Erfolg sind" (Schumpeter 1965, S. 1314). Es war die für die seinerzeitigen Verhältnisse ungewöhnliche Kombination einer scharfsinnigen theoretischen Ana-

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Schlesinger, Karl lyse mit praktischen Problemen des Bankwesens, aber vor allem auch dem konsequenten Einsatz des modernen mathematischen Instrumentariums, die eine gründliche Rezeption selbst im deutschen Sprachraum erschwerte. So erkannte anfänglich nur Schumpeter, der dem Verfasser in einer gründlichen Rezension eine ungewöhnliche Leistung „und eine Talentprobe, wie man nicht oft einer begegnet" (Schumpeter 1915, S. 239) bescheinigte, die volle Bedeutung von Schlesingers frühem Hauptwerk. Dies hatte seine inhaltliche Ursache darin, daß Schumpeter nicht nur Walras als den größten Ökonomen ansah, sondern vor allem auch die von Walras vollzogene Integration der Geld- und Kredittheorie in die allgemeine Gleichgewichtstheorie nachhaltig begrüßte, die von Walras erst in der vierten Auflage seiner Elements d'Economie Politique Pure (1900) voll entwickelt worden war. Neben dem Franzosen Albert Aupetit (1901) und dem italienischen Ökonomen Gustavo del Vecchio war Schlesinger einer der wenigen Ökonomen, die nicht nur an Walras' Analyse anknüpften, sondern diese in entscheidender Weise weiterentwickelten (vgl. Marget 1931 und Bridel 1997). Dabei gebührt Schlesinger eindeutig der erste Rang bezüglich der Originalität seiner Ideen. Dies gilt vor allem für das dritte Kapitel - 'Grundzüge der Geldwirtschaft' - von Schlesingers Arbeit, das nach seiner Übersetzung ins Englische (1959), beginnend mit Patinkins bahnbrechender Studie (Patinkin 1965, S. 569 ff.) in der modernen geld- und makroökonomischen Literatur seine späte, aber verdiente Würdigung erfahren hat. Patinkin erkannte unter den Ökonomen, die Walras' innovative Entwicklung einer Integration des Geldes in die allgemeine Gleichgewichtstheorie fortführten, neben Knut Wickseil in Schlesinger sogar „the only one to improve on Walras' theory" (Patinkin 1965, S. 576). Die originäre Weiterentwicklung besteht vor allem in der Überwindung von Walras' statischem Analyserahmen, in dem es keine Unsicherheit bezüglich nicht synchronisierter zukünftiger Transaktionen gibt. Schlesinger unterscheidet systematisch zwischen Zahlungen, deren Höhe und zeitliche Datierung fixiert sind und solchen, die bezüglich Höhe und Zeitpunkt unsicher sind. Es liegt in der Natur des letzteren Zahlungsstroms, der im Zentrum von Schlesingers Analyse steht, daß die Geldhaltung Uber den Transaktionskassenbedarf hinaus für die Individuen rational ist und einen Nutzen hat, wobei der damit verbundene Verzicht auf Zinserträge für

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Wertpapieranlagen eine Risikoprämie darstellt. Schlesinger bestimmt die individuelle Nachfrage nach dieser „Vorsichtskasse" aus dem Gleichgewicht zwischen den Grenznutzen der Versicherung gegenüber drohender Illiquidität durch diese Reservehaltung und der (entgangenen) Zinserträge, wobei er aufzeigt, daß eine Zunahme der Zahl der Transaktionen steigende Skalenerträge impliziert. Die von Schlesinger abgeleitete aggregierte Geldnachfragefunktion erinnert mit ihren beiden Komponenten an die spätere Keynessche Geldnachfragefunktion mit ihrer Unterscheidung der Transaktionskasse von der Vorsichts- und Spekulationskasse. Ähnlichkeiten mit späteren Analysen von John Hicks über den Einfluß der Unsicherheit auf die Geldhaltung und eine gewisse Antizipation von Robert Clowers 'cash-in-advance constraint' sind ebenfalls unübersehbar. Zugleich wird deutlich, daß die Intentionen von Schlesinger trotz der deutlichen Orientierung seiner Vorgehensweise im zentralen dritten Kapitel an den Kapiteln 29 bis 31 in der vierten Auflage von Walras' Hauptwerk eindeutig über die Intentionen von Walras hinausgehen. Während es Walras' erklärte Absicht war, sein statisches allgemeines Gleichgewichtsmodell durch die Integration des Geldes bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung logischer Kohärenz zu schließen, verfolgt Schlesinger die weiterreichende Absicht der Entwicklung einer dynamischen Nachfragetheorie der Geldhaltung, deren Integration der Theorie des allgemeinen Gleichgewichts letztlich unüberwindbare Probleme bereitet. Aufgrund des Kriegsausbruchs setzte sich Schlesinger in seinen anschließenden Aufsätzen mit den drängendsten Problemen der Wirtschaftspraxis auseinander, wobei ihm jedoch seine theoretische Schulung von großem Nutzen war. So betonte er in seiner Analyse der veränderten wirtschaftlichen Situation der Zentralmächte die Unterschiedlichkeit in Zeitpunkt und Tempo der Datenänderungen, mit Blick auf die (gegenüber der Entente wesentlich größere) Hemmung des internationalen Handels, den strukturellen Wandel der Bedürfnisse, die Erosion der Beschränkungen staatlicher Ausgabenpolitik sowie den Aderlaß der Wirtschaft an Arbeitskräften (1915). Bereits frühzeitig erkannte er die Bedeutung der Währungsfragen für die Zeit nach dem Friedensschluß sowie die große Problematik der Veränderungen des Geldwertes im Kriege, deren Analyse er sich

Schlesinger, Karl nun verstärkt zuwandte. In seinem, auf einem Vortrag in der Ungarischen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft basierenden Beitrag konnte Schlesinger (1916) auf die stark durch Wicksell inspirierte theoretische Analyse der Depositenbanken sowie die Untersuchung der Bedingungen, unter denen sich eine Vermehrung oder Verminderung der an die Notenbank gestellten Ansprüche vollzieht, im vierten Kapitel seiner Dissertation zurückgreifen. In seiner Analyse der Wirkungen einer vermehrten Geldzirkulation sowie der Zusammenhänge, denen die Kaufkraft der Valuta am Güter- und Devisenmarkt während des Krieges unterlag, erweist sich Schlesinger als exzellenter Kenner und Advokat der Kaufkraftparitätentheorie. Darüber hinaus sah er frühzeitig die große Bedeutung von Auslandskrediten für die volkswirtschaftliche Kapitalbildung in den Zentralmächten nach Kriegsende (1916, S. 21 f.). Anderthalb Jahrzehnte später veranlaBte erneut eine Krisensituation, nunmehr die einsetzende Weltwirtschaftskrise, Schlesinger zu verstärkten wirtschaftswissenschaftlichen Aktivitäten. Vor dem Hintergrund der hohen Goldimporte Frankreichs nach Verabschiedung des Young-Abkommens im August 1929 setzte er sich in einem vor der Nationalökonomischen Gesellschaft in Wien im Oktober 1930 gehaltenen Vortrag mit dem „Rätsel" der französischen Goldpolitik auseinander (1931b). Dabei analysierte er die Vor- und Nachteile der verschiedenen Optionen der französischen Währungspolitik. Besonders bemerkenswert ist jedoch der im selben Jahr erschienene Aufsatz Felix Somary's Bankpolitik (1931a), in dem Schlesinger das Forum der Rezension eines Buches des aus Wien stammenden Bankiers und Publizisten Felix Somary in der ungewöhnlichen Weise nutzte, eine detaillierte hochmathematische Analyse der Theorie der Kreditschöpfung von Geschäftsbanken und ihrer Wirkungen auf das Preisniveau vorzunehmen. Während der internationalen Finanzkrise sprach er sich für die Kontrolle des Kapitalverkehrs durch die österreichische Regierung, aber gegen die seinerzeit üblichen Währungsmanipulationen aus (vgl. Morgenstern 1968, S. 52). Trotz langer Praxistätigkeit blieben Schlesingers Fähigkeiten zur abstrakten theoretischen und mathematischen Analyse weiterhin herausragend. Dies zeigt beispielsweise sein kurzer Beitrag zu Karl Mengers „Bemerkungen zu den Ertragsgesetzen", in dem er einige Präzisierungen in der ma-

thematischen Beweisführung in Mengers Verfeinerung der Edgeworthsehen Analyse der Ertragsgesetze mit ihrer klaren Unterscheidung von abnehmenden Grenz- und abnehmenden Durchschnittserträgen vornahm (1936). Von besonderer Bedeutung ist Schlesingers Beitrag zur Entwicklung der modernen Allgemeinen Gleichgewichtstheorie (vgl. Arrow 1989). Die vereinfachende Reformulierung von Walras' Ansatz zur Beschreibung eines allgemeinen Konkurrenzgleichgewichts durch den schwedischen Ökonomen Gustav Cassel war der Ausgangspunkt für eine intensive Diskussion Uber die Möglichkeit und ökonomische Sinnhaftigkeit der mathematischen Lösungen im deutschsprachigen Raum, die Anfang der 1930er Jahre zu bahnbrechenden Weiterentwicklungen führte (Weintraub 1985, S. 59107). In Kenntnis der bedeutsamen Beiträge von -» Hans Neisser (1932) und Heinrich von Stackelberg (1933) hielt Schlesinger am 19. März 1934 einen Vortrag Über die Produktionsgleichungen der ökonomischen Wertlehre (1935) im mathematischen Kolloquium von Karl Menger. Er setzte sich in seinem Beitrag mit der Frage der allgemeinen positiven und eindeutigen Lösbarkeit des Gleichgewichtssystems von Cassel auseinander, das er in Form von Ungleichungen darstellte und bezüglich der Annahmen über die Nachfrage präzisierte. Vor allem aber veranlaBte er seinen mathematisch noch talentierteren Freund -» Abraham Wald (1935) dazu, den ersten konsistenten Beweis für die Existenz eines allgemeinen Gleichgewichts für eine stationäre Ökonomie zu führen, den -» John von Neumann kurze Zeit später für eine wachsende Ökonomie ergänzte. Schriften in Auswahl: (1914) Theorie der Geld- und Kreditwirtschaft, München/Leipzig, (Diss.). (1915) Methodologische Vorbemerkungen zu einer Geschichte der zentraleuropäischen Kriegswirtschaft, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 6, S. 1-20. (1916) Die Veränderungen des Geldwertes im Kriege, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Wien, Bd. 25, S. 1-22. (1931a) Felix Somary's Bankpolitik, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 66, S. 1-35.

617

Schmalenbach, Eugen (1931 b)

Das „Rätsel" der französischen Goldpolitik, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. 2, S. 387-407.

(1935)

Über die Produktionsgleichungen der ökonomischen Wertlehre, in: Menger, K. (Hrsg.): Ergebnisse eines mathematischen Kolloquiums, 19331934, Leipzig, S. 10-11; engl. Übers.: 'On the Production Equations of Economic Value Theory', in: Baumol, W.J ./Goldfeld, S.M. (Hrsg.); Precursors in Mathematical Economics, London 1968, S. 278-280.

(1936)

Ein Beitrag zu Mengers „Bemerkungen zu den Ertragsgesetzen", in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. 7, S. 398-400.

(1959)

Basic Principles of the Money Economy, in: International Economic Papers, Bd. 9, S. 20-38.

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618

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Schmalenbach, Eugen, geb. 20.8.1873 in Halver/Westfalen, gest. 20.2.1955 in Köln Schmalenbach zählt neben Wilhelm Rieger (1878-1971) sowie Heinrich Nicklisch (18761946) zu den Nestoren der modernen Betriebswirtschaftslehre im deutschsprachigen Raum. Von seinen väterlichen Ahnen erbte Schmalenbach eher bäuerliches und handwerkliches Blut, von seinen mütterlichen den Unternehmersinn. Nach Erscheinung und Habitus war er nicht feinnervig und intellektuell, sondern eher kantig und naturverbunden. Sein Vater, ein kleiner Handwerksunternehmer, wollte aus ihm einen Fabrikanten der Kleineisenindustrie machen. Nach dem Besuch des Gymnasiums war Schmalenbach deshalb zunächst Volontär in einer Unternehmung des Maschinenbaus und anschließend kaufmännischer Lehrling in einer Unternehmung der Metallverarbeitung. An diese Lernjahre schlossen sich drei schwere Jahre im Betrieb seines Vaters an. Der väterlichen 'Zwangsarbeit' entzog er sich 1896 durch die freiwillige Meldung zum Militär. Nach dem Militärdienst kehrte er geläutert in den väterlichen Betrieb zurück und wurde neben seinem Vater Betriebsleiter. Da sein Vater seine bohrenden Fragen nach betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen nicht beantworten konnte, entschied er sich zu einem wirtschaftswissenschaftlichen Studium. Im Frühjahr 1898 ging Schmalenbach nach Leipzig und nahm an der Handelshochschule seine Studien auf. Da auch die Professoren seine zahlreichen Fragen nur lückenhaft beantworten

Schmalenbeck, Eugen konnten, fing er an, offene Fragestellungen aufzuschreiben und eigenständig zu analysieren. Bereits wenige Monate nach seinem Studienbeginn entstand auf diese Weise sein erster wissenschaftlicher Aufsatz. 1899 verfaßte er einen zehnteiligen Aufsatz zum Problem der fixen Kosten, der unter dem Titel Buchfiihrung und Kalkulation im Fabrikgeschäft in der Deutschen Metall-Industrie Zeitung veröffentlicht wurde. Dieser Aufsatz ließ bereits seine hohe Intelligenz und betriebswirtschaftliche Begabung erahnen. Nach einem zweijährigen Studium in Leipzig erwarb Schmalenbach ein glanzvolles Diplom. Sein finanzieller Rückhalt während der Studien lag in seiner journalistischen Mitarbeit an der Deutschen Metall-Industrie-Zeitung. Darin veröffentlichte er in den Jahren 1899 bis 1906 ca. 130 Aufsätze und sonstige Beiträge. Das Niveau dieser Veröffentlichungen war sehr unterschiedlich. Es reichte von innovativen wissenschaftlichen Erkenntnissen bis zu einfachen Glossen. Sein Stil war lebendig und informativ, bisweilen jedoch zynisch und schneidend scharf. Nachdem im Jahr 1900 eine Bewerbung um eine Assistentenstelle an der Handelshochschule in Köln fehlschlug, wurde er Anfang 1901 bei Karl Bücher in Leipzig Assistent und Bibliothekar. Dem Rate Büchers folgend begann er zusätzlich das Studium der Nationalökonomie. Im S. Semester seiner nationalökonomischen Studien legte er sowohl eine komplette Doktorarbeit als auch eine vollständige Habilitationsschrift vor. Am 2. März 1903 erklärte sich die Handelshochschule zu Köln bereit, seine Habilitationsschrift Verrechnungspreise in Großbetrieben anzunehmen und ihn zum Privatdozenten zu ernennen. Im Alter von 33 Jahren wurde ihm am 1. Oktober 1906 der Professorentitel verliehen. Ohne Abitur und ohne Promotion war dies ein ungewöhnlicher Weg, auf dem nur ein begnadeter Forscher und hoch anerkannter Lehrer zu einer Professur der Betriebswirtschaftslehre gelangen konnte. In den folgenden Jahren zeigten mehrere Universitäten des In- und Auslandes nachhaltiges Interesse an Schmalenbach. So erhielt er Rufe nach Stockholm und Frankfurt (1912), Berlin (1922) und Jena (1923), die er ablehnte. Als er später in politische Bedrängnis kam, erteilten ihm die Universitäten Dorpat in Estland (1933), Istanbul (1937) und Bem (1939) weitere Rufe, die er ebenfalls ablehnte.

Hitlers 'Machtergreifung' brachte in das Leben von Schmalenbach einen scharfen Einschnitt. Da er mit einer Jüdin verheiratet war, mit der er zwei Kinder hatte, geriet er unter starken Druck. Aus dieser Lage suchte er einen Ausweg in einem Forschungssemester und danach in seiner Emeritierung. Er ließ sich deshalb zum 1. Oktober 1933 von seinen Forschungs- und Lehrverpflichtungen entbinden. Der zuständige Minister sprach ihm noch Anerkennung und besonderen Dank für sein akademisches Wirken aus. Danach war er als Gutachter tätig, schrieb neue und überarbeitete die bereits erschienenen Bücher. Die Treuhand AG, eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Köln, überführte er 1941 in eine Studiengesellschaft, deren Erfahrungen dem praktischen Wirtschaftsleben zur Verfugung gestellt wurden. Auf diese Weise wurde sein pragmatisches Wissenschaftsverständnis systematisch fundiert. Die zunehmenden Aktionen gegen Juden und die antijüdische Stimmung in der Bevölkerung hatten auf Schmalenbach eine verheerende psychische Wirkung. Sein Arbeitseifer ging rapide zurück und erlahmte schließlich völlig. Die Offiziellen distanzierten sich Schritt für Schritt von Schmalenbach, während seine Schüler und Freunde nach wie vor zu ihm hielten. Von 1939 an wurden die politischen Bedrängnisse für Schmalenbach immer unerträglicher und führten 1944 dazu, daß er mit seiner Frau in einem Versteck untertauchte. Trotz Denunziation blieb er bis zum Ende des Krieges in diesem Versteck und überlebte damit die nationalsozialistische Schreckenszeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg bereitete Schmalenbach mit anderen Kölner Professoren die Wiedergeburt der Universität zu Köln vor. Im Wintersemester 1945/46 hielt er noch eine Vorlesung über Bilanzen und Finanzen, die seine letzte sein sollte. In den nachfolgenden fünf Jahren bot er nur noch Seminare für Doktoranden und Diplomanden an und ließ damit seine wissenschaftliche Arbeit ausklingen. In dieser Zeit war er ein gesuchter Redner und ein angesehener Ratgeber. Mit 77 Jahren gab er schließlich auch diese akademischen Tätigkeiten auf. 1946 wurde Schmalenbach zum Wirtschaftsprüfer bestellt. In dieser Zeit wurde ihm auch das Amt des Wirtschaftsministers in Nordrhein-Westfalen angeboten, das er jedoch ablehnte. Im Januar 1949 erschien die Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung wieder, in der er als Gründer (1906) angegeben wurde. In dieser Zeitschrift veröffentlichte er im August

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Schmalenbach, Eugen 1950 seinen letzten Aufsatz mit dem Titel Gedanken zur betrieblichen Personalwirtschaft. Seit 1963 trägt diese Zeitschrift den Namen Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (ZfbF). Schmalenbach war nicht nur ein begnadeter Forscher und Lehrer, sondern auch ein begeisterter Journalist, leidenschaftlicher Hobbygärtner und Erfinder. So erfand er unter anderem einen Spaten zum Umsetzen von jungen Pflanzen aller Art sowie den Tonisator', ein Gerät zur Verhinderung der Kesselsteinbildung in Wasserbehältern. Um diese Erfindungen marktlich umzusetzen, betätigte er sich nebenamtlich als Unternehmer. Im Mittelpunkt seiner unternehmerischen Aktivitäten stand jedoch seit 1911 die Treuhand AG. Schmalenbach sah in dieser Beratungs- und Priifungsgesellschaft eine ergiebige Quelle an praktischen Anregungen für seine Forschungs- und Lehrtätigkeiten. Nach heutigem Wissenschaftsverständnis verfolgt Schmalenbach ein angewandtes Wissenschaftsziel und ist daher als Vertreter einer pragmatischen Betriebswirtschaftslehre zu klassifizieren. In seinem gesamten wissenschaftlichen Werk postuliert er eine Wissenschaft, die im Dienste der wirtschaftlichen Praxis zu stehen habe. Praktische Führungserfahrung und Feldarbeit betrachtet er als unverzichtbare Grundlagen seines wissenschaftlichen Wirkens. In einem Methodenstreit mit den Nationalökonomen M.R. Weyermann und Schönitz unterscheidet er zwischen einer 'philosophischen Wissenschaft' und einer 'technologisch ausgerichteten Wissenschaft'. Die zweite Version interpretiert er als 'Kunstlehre', deren Aufgabe darin besteht, pragmatische Regeln zu formulieren, welche angeben, wie ein realer Betrieb wirtschaftlich zu führen ist. Dabei stellt das 'Prinzip der Wirtschaftlichkeit' den systembildenden Grundgedanken der Kunstlehre dar. Diese Wissenschaftsauffassung deckt sich nach heutigem Verständnis weitestgehend mit der Konzipierung der Betriebswirtschaftslehre als entscheidungsorientierte Disziplin. Theoretische Teilaussagen, die für die Erreichung dieses Wissenschaftszieles unverzichtbare Grundlagen sind, haben dem empirischen Geltungskriterium zu genügen. Die Entwicklung eines geschlossenen Systems bzw. eines Theoriegebäudes, das sowohl formal als auch inhaltlich völlig durchstrukturiert ist, hat für Schmalenbach nur zweitrangige Bedeutung. Sein zentrales Postulat ist vielmehr auf

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das pragmatische Wissenschaftsziel bei Zulassung einer Methodenvielfalt gerichtet. In der Diskussion über Methoden sieht er wesentlich weniger Sinn als in einer effizienten praktischen Problemlösung unter Verwendung aller zweckmäßigen Methoden. Im Rückblick kann heute gesagt werden, daB Schmalenbach keinen präzisen Theoriebegriff hat. Im Grunde gibt er sich mit QuasiTheorien zufrieden, um seine praktischen Problemstellungen direkt einer Lösung zuführen zu können. Mit den Anforderungen an eine realtheoretische Wissenschaft hätte er heute erhebliche Schwierigkeiten. Sowohl rational als auch intuitiv erkennt Schmalenbach, daß ein Verfolgen des Wirtschaftlichkeitsprinzips das Formulieren präziser Zielvorstellungen voraussetzt. Diese Zielvorstellungen können einzelwirtschaftlicher (betrieblicher) Art sein oder gesamtwirtschaftlichen (volkswirtschaftlichen) Charakter besitzen. In diesem Sinne unterscheidet er zwischen einer privatwirtschaftlichen (einzelwirtschaftlichen) und einer gemeinwirtschaftlichen (gesamtwirtschaftlichen) Wirtschaftlichkeit. Er selbst bekennt sich letztlich zur 'gemeinwirtschaftlichen Wirtschaftlichkeit', deren Basis heute als Wohlfahrtsfunktion zu verstehen wäre. Nach diesem Verständnis stehen alle Unternehmungen mit ihren individuellen Zielvorstellungen im Dienst der Bedarfsdeckung der Gesamtwirtschaft mit einer übergeordneten Wohlfahrtsfunktion. Damit sind Schmalenbachs Denkkategorien durch das Harmoniestreben des klassischen Wirtschaftsliberalismus geprägt. Er ist sich jedoch der Tatsache bewußt, daß zwischen einzelwirtschaftlich und gesamtwirtschaftlich richtiger Steuerung eines Systems zahlreiche Konflikte entstehen können. Soweit in der Wirtschaftspraxis für einzelne Handlungen (Entscheidungen) der privatwirtschaftliche und der gemeinwirtschaftliche Nutzen auseinanderfallen, verlangt Schmalenbach, durch Erziehung und Wirtschaftspolitik der übergeordneten gemeinwirtschaftlichen Nutzenvorstellung und damit der Gemeinwirtschaftlichkeit zu dienen. Den Begriff der Gemeinwirtschaftlichkeit definiert er jedoch nicht präzise. Aus diesem Grunde attackiert ihn Wilhelm Rieger scharf. Rieger postuliert, daß jede Unternehmung als Zielvorstellung die Gewinnmaximierung zu befolgen habe. Außerdem wirft er Schmalenbach vor, daß sein Prinzip der Gemeinwirtschaftlichkeit nur in einem System der Planwirtschaft durchzusetzen sei. Zudem fehle jede Instanz, die darüber urteilen

Schmalenbeck, Eugen könne, wann und wie eine einzelwirtschaftliche Entscheidung gemeinwirtschaftlich vorteilhaft sei. Im Grunde wird hier die Frage angeschnitten, wie aus wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen betriebsindividuelle Zielvorstellungen herzuleiten sind, wobei davon auszugehen ist, daß die wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen in bestmöglichem Umfang dem Gemeinwohl dienen sollen. Im Ergebnis gibt Schmalenbach auf diese Frage keine Antwort. Vielmehr unterstellt er in allen Untersuchungen, in welchen Zielvorstellungen eine Rolle spielen, stets einzelwirtschaftliche (betriebliche) Zielvorstellungen. Die Forschungsarbeiten Schmalenbachs beziehen sich auf mehrere Teilgebiete der Betriebswirtschaftslehre. Diese sind im einzelnen: Kapitalwirtschaft, Leitung und Organisation, Wirtschaftsordnung, Bilanzierung, Kostentheorie, Kostenrechnung sowie Wertlehre. Auf dem Gebiet der Kapitalwirtschaft setzt er sich intensiv mit Investitions- und Fmanzierungsproblemen auseinander. Außerdem behandelt er systematisch Einzelfragen der Unternehmungsbewertung, der Beteiligungsformen und der Unternehmungsverfassung. Diese wissenschaftlichen Beiträge fundieren und prägen die finanzwirtschaftliche Diskussion nachhaltig. Weitere Forschungsgebiete Schmalenbachs sind Fragen der Betriebsleitung und der Betriebsorganisation. In diesem Zusammenhang analysiert er die Abteilungsgliederung, Fragen der Kompetenz und Verantwortung sowie Probleme der Organisation der obersten Unternehmungsleitung. Hier ist hervorzuheben, dafi er seinen Beitrag zur pretialen Lenkung als Leitungsprinzip in die Organisation einfuhrt. Auch das Forschungsgebiet der Wirtschaftsordnung beschäftigt Schmalenbach intensiv. Nach seinem Wissenschaftsverständnis ist es naheliegend, daB er eine freie Wirtschaft postuliert, die sich am Gemeinwohl orientiert. Dazu untersucht er Stärken und Schwächen der freien Wirtschaft und versucht zu erforschen, welche Überlebenschancen eine derartige Wirtschaftsordnung haben kann. Das Rechnungswesen der Unternehmung steht im Mittelpunkt seiner Forschungstätigkeiten. Auf dem Gebiet des externen Rechnungswesens prägen seine zahlreichen Vorschläge zur Bilanzierung und zum Bilanzrecht die Denkformen mehrerer Generationen von Bilanzfachleuten und Wirtschaftsprüfern. Er befaßt sich unter anderem mit Problemen 'inflationärer Scheingewinne' und

Fragen einer 'realen Kapitalerhaltung'. Kern seines Beitrags zur Bilanzlehre ist die 'dynamische Bilanztheorie' (1919a). Darin wird die These vertreten, daB die Bilanzrechnung nur auf ein einziges Rechnungsziel ausgerichtet ist, nämlich die Ermittlung eines vergleichbaren Periodenerfolgs. Mit diesem Hauptziel der Rechnung sind folgende Nebenziele verträglich: Kontrolle der Betriebsgebarung (insbesondere durch Zeitvergleich), Rechenschaftslegung, Beobachtung von Strukturwandlungen und Berechnung von Gewinnanteilen. Schmalenbach lehnt konsequent nicht nur jedes andere (monistische) Rechnungsziel ab, sondern auch jeden Zieldualismus bzw. -Pluralismus. Nach seiner Meinung ist die Bilanz für eine Vermögensrechnung schon darum nicht geeignet, weil ein operational definierter Vermögensbegriff nicht als Summe von einzeln bewerteten, bilanzierten Wirtschaftsgiitem, sondern nur als Ertragswert festgelegt werden kann. Dieses Vermögen zu ermitteln, ist die Bilanz jedoch nicht imstande. Schmalenbach geht bei seinem Rechnungsansatz von der Fiktion einer Abrechnung des Unternehmungsprozesses über die gesamte Lebensdauer von der Gründung bis zum jeweiligen Lebensende aus (Totalperiode). Die zugehörige Abrechnung kann als realisierte Einnahmen-Ausgaben-Rechnung durchgeführt werden (Totalerfolgsrechnung), in welcher ein Einnahmenuberschuß den Gewinn darstellt. Beim Übergang von der Totalperiode auf Teilperioden muß eine Erfolgsrechnung eingerichtet werden, in welcher ein Einnahmenüberschuß einen Periodengewinn darstellt. Dieser Einnahmenuberschuß muß jedoch modifiziert werden, weil der erfolgswirksame Güterverbrauch bzw. die Güterentstehung häufig in anderen Teilperioden stattfindet als der zugehörige Zahlungsanfall. In allen diesen Fällen entstehen 'schwebende Geschäfte', die bestimmte Einnahmen· und Ausgabenbestände speichern und als Bilanzpositionen festgehalten werden. Nach Schmalenbach ist die Bilanz eine Darstellung des Kräftespeichers der Unternehmung. Der Periodenerfolg wird als Differenz zwischen Ertrag und Aufwand der Abrechnungsperiode definiert, wobei sowohl in der Bilanz als auch in der Gewinnund Verlustrechnung das Anschaffungsprinzip dominiert. Die Bewertungslehre der dynamischen Bilanzauffassung regelt, welchem Bilanzgegenstand zum Bilanzstichtag welcher Wert zuzuordnen ist. Bei der Bewertung kommt das sog. Prinzip der Vorsicht als Niederstwertprinzip zur An-

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Schmalenbach, Eugen wendung. Dieses Prinzip spielt risikoanalytisch eine sehr große Rolle, weil nach Schmalenbach die Erfolgsrechnung unsicher und ein zu hoher berechneter Gewinn für die Gesellschafter und die Unternehmung gefahrlicher ist als ein zu niedrig berechneter Gewinn. An den ermittelten Periodengewinn wird die Forderung gestellt, daß er vergleichbar (insbesondere zum Zeitvergleich) und zur Unternehmungssteuerung geeignet sein soll. Dem wird durch gleichbleibende Bewertungsgrundsätze und durch das Eliminieren der Außeneinflüsse - Preisspannenveränderungen, Beschäftigungsschwankungen und Veränderungen in der Auftragszusammensetzung - entsprochen. Besonders verzerrend wirken sich auf die Vergleichbarkeit der Periodenerfolge stille Rücklagen aus. Dennoch läBt Schmalenbach sie zu, er warnt aber vor ihrem MiBbrauch. Die Gedanken Schmalenbachs zur Bilanzierung werden später vor allem von E. Walb (1926) und E. Kosiol (1940) aufgegriffen und weiterentwickelt. Die dynamische Bilanztheorie beeinflußt maßgeblich die Bilanzierung nach Handels- und Steuerrecht bis in die Gegenwart. Am nachhaltigsten haben die Forschungsbeiträge Schmalenbachs die Entwicklung der Kostentheorie sowie der Kostenrechnung beeinflußt. Seine erste wissenschaftliche Untersuchung bezieht sich auf die Kostentheorie. Bereits 1899 analysiert er die Struktur der Gesamtkosten, die er in fixe und variable Kosten aufspaltet. Als wichtigste Einflußgröße der variablen Kosten arbeitet er die Beschäftigung heraus. Der Zweck dieser Analyse besteht darin, die um die Jahrhundertwende weit verbreitete Ansicht zu widerlegen, daß Gesamtkosten stets proportional zur Beschäftigung verlaufen. Aus der Aufspaltung der Gesamtkosten in fixe und variable Komponenten zieht er den Schluß, daß fixe Kosten aus der Kalkulation und aus der Preispolitik femzuhalten seien. Später präzisiert er seine Vorstellungen zu diesem Problemkreis dahingehend, daß er auch sprungfixe Kosten zuläßt. Vereinfachend definiert Schmalenbach die Fixität bzw. die Variabilität von Kosten in bezug auf eine einzige Einflußgröße (Beschäftigung). Er erkennt jedoch durchaus, daß sich bei Orientierung an anderen Einflußgrößen die Fixität bzw. Variabilität der Kosten ändern kann. Als einen wichtigen Grund für das Anwachsen der fixen Kosten beschreibt er sehr früh die steigende Betriebsgröße. Durch diese Einsicht gelangt er zu einer Analyse der Größendegression bzw. Größen-

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progression. Diese Fragestellung ist wiederum ein zentrales Element im Gesetz der Massenproduktion, das sein Lehrer K. Bücher im Jahr 1910 entdeckt hat. Bis heute ist jedoch offen, ob der Assistent Schmalenbach seinen Lehrer Bücher bei der Entdeckung dieses Gesetzes beeinflußt hat. In seinen weiteren Forschungen präzisiert Schmalenbach die generellen Aussagen über Kostenabhängigkeiten und gelangt zur Abgrenzung degressiver, progressiver und regressiver Kostenkategorien. Mit diesen Aussagen über mögliches Kostenverhalten legt er sowohl formal als auch inhaltlich die Grundlagen für die spätere kostentheoretische Diskussion. Auf dem Gebiet der Kostenrechnung entwickelt Schmalenbach sowohl theoretische als auch rechnungstechnische Grundlagen. Zu den theoretischen Grundlagen sind seine Vorschläge zu den Zielen der Selbstkostenrechnung (Kontrolle der Betriebsgebarung, Beobachtung von Strukturwandlungen, Preiskalkulation, Betriebslenkung, sonstige Ziele) sowie die Grundidee der 'Betriebswertrechnung' zu zählen. In der von ihm entwikkelten Betriebswertrechnung ist die Entscheidungsorientierung der gesamten Kostenrechnung sehr gut zu erkennen. Sein Grundpostulat besteht darin, daß Güter in der Selbstkostenrechnung mit dem 'richtigen' Wert angesetzt werden müssen. Als richtigen Wert definiert er einen Betrag, der dazu dienen soll von den wirtschaftlichen Wahlmöglichkeiten die jeweilige wirtschaftlichste bestimmen zu können. Den richtigen Wert bezeichnet er als 'optimale Geltungszahl' (Kalkulationswert, Betriebswert). Dieser Wert soll die Vorteilhaftigkeit bei alternativer GUterverwendung ausdrücken. Sein Hauptanliegen besteht in diesem Zusammenhang in der Konzipierung einer Wertlehre. Danach entspricht der Wert eines Gutes keineswegs den Ausgaben für dieses Gut. Auch der Preis des Gutes unterscheidet sich von seinem Wert. Schmalenbach begreift den Wert vielmehr als eine Relation, in welcher das Rechnungsziel und das Entscheidungsfeld eine große Rolle spielen. Diese Wertvorstellung deckt sich exakt mit einer entscheidungslogischen Wertkonzeption, wenn an die Stelle des Rechnungszieles eine Zielfunktion gesetzt wird. Soweit der Wert die Kostenseite betrifft, wird mit ihm der 'wertmäßige' Kostenbegriff definiert, der in der heutigen Kostenrechnung einen zentralen Platz einnimmt.

Schmalenbach, Eugen Die Beiträge Schmalenbachs zu den 'rechnungstechnischen Grundlagen der Kostenrechnung' betreffen die Gliederung der Selbstkosten, die Trennung von Grund- und Zweckrechnung, die Struktur der optimalen Geltungszahl, die pretiale Lenkung sowie die Deckungsbeitragsrechnung. Was die Gliederung der Selbstkostenrechnung angeht, schlägt er eine Unterteilung in Kostenarten-, Kostenstellen- (Betriebsabrechnungsbogen) und Kostenträgerrechnung vor. Außerdem erarbeitet er eine Klassifikation in einfache Ausgaben- und Betriebswertrechnung, in Vor- und Nachkalkulation, in systematische und Behelfskalkulation sowie in Divisions- und Zuschlagskalkulation. Eine Trennung von Grund- und Zweckrechnung empfiehlt er nachhaltig, weil auf diese Weise die Kostenrechnung mehreren Entscheidungszielen dienstbar gemacht werden kann. In einer systematischen 'Grundrechnung' sind danach alle wichtigen Kostendaten unabhängig von späteren Entscheidungszielen differenziert nach verschiedenen Kriterien zu erfassen. Die anschließenden 'Zweckrechnungen' sollen nach dem jeweils verfolgten Entscheidungsziel auf die relevanten Kostendaten in der Grundrechnung zurückgreifen und die Formulierung einer Zielfiinktion ermöglichen bzw. die anstehende Entscheidung der Untemehmungsleitung unterstützen. Völlig unabhängig von Schmalenbach macht 1949 der Amerikaner B.E. Goetz einen vergleichbaren Vorschlag zu einer Grundrechnung. Dieselbe Idee tritt später bei P. Riebel (1959) in seinem Ansatz zur relativen Einzelkosten- und Deckungsbeitragsrechnung auf. Die Idee der Grundrechnung verlangt aus heutiger Sicht nach einem Datenbanksystem, das unabhängig von den einzelnen Anwendungen aufgebaut wird. Nach einer Ergänzung durch eine Modellbank und eine Methodenbank lassen sich danach Entscheidungsmodelle formulieren, die das jeweilige Entscheidungsproblem abbilden. Mit seiner Idee der Grundrechnung und der Auswertungsrechnungen antizipiert Schmalenbach eine Entwicklung, die in der heutigen EDV-gestützten Kostenrechnung eine hervorragende Rolle spielt. Auch die Idee der optimalen Geltungszahl transformiert Schmalenbach in ein Rechnungskonzept. Diese Zahl versteht er als einen entscheidungsbezogenen Kostenwert, dessen Bestimmung der Grenzwertidee der Grenznutzenlehre folgt. Diese Geltungszahl ist ein Grenzkostensatz, solange in der Produktion keine Engpässe auftreten. Sobald dagegen die Produktion durch Engpässe gehemmt

wird, ist die optimale Geltungszahl ein Grenznutzensatz. Später hat Schmalenbach den Grenzkostensatz als proportionalen Satz bzw. kurz als Grenzkosten bezeichnet. Im Zusammenhang mit der Preispolitik postuliert er, daß ein Anbieter von Gütern sowohl in einzelwirtschaftlicher als auch in gesamtwirtschaftlicher Sicht die Grenzkosten als Preis verlangen sollte. Solange keine Kapazitätsengpässe auftreten, erwartet Schmalenbach durch diese Preisempfehlung das Erreichen der kostenminimalen Beschäftigung in der Unternehmung. Die Grenzkostenkalkulation soll den Betrieb bei Unterbeschäftigung in seine kostengünstigste Beschäftigungssituation steuern. Bei Produktionshemmnissen (Engpässen) reicht eine Preispolitik auf der Basis von Grenzkosten nicht aus, vielmehr müssen Grenznutzen kalkuliert werden. Als Grenznutzenwert setzt sich die optimale Geltungszahl zusammen aus den Grenzkosten plus dem entgangenen Gewinn voll ausgenutzter Restriktionen. Der entgangene Grenzgewinn wind heute Opportunitätskosten oder Schattenpreis genannt. Simultane Optimierungsmodelle, die im Zweiten Weltkrieg in den USA konzipiert und dann weltweit weiterentwickelt wurden, haben die Idee Schmalenbachs zur optimalen Geltungszahl voll bestätigt. Die Dualwerte, welche in diesen Optimierungsmodellen berechnet werden, sind bei gegebenen Restriktionen und bei gewählter Zielfunktion genau diejenigen entgangenen Größen, welche die Nutzenkomponente in der optimalen Geltungszahl darstellen. Genaugenommen berechnet Schmalenbach seine optimale Geltungszahl nur für einen Engpaß. Bei mehreren Engpässen kann er seine Bewertungsproblematik nur mit 'geschätzten Verrechnungspreisen' lösen. Schmalenbach entdeckt damit ohne Kenntnis der linearen oder nichtlinearen Programmierung duale Werte, die er der Berechnung seiner optimalen Geltungszahl dienstbar macht. Das Konzept der optimalen Geltungszahlen postuliert er auch für dezentralisierte Entscheidungen als Organisationsprinzip. Das zugehörige Leitungsinstrument nennt er die 'pretiale Lenkung'. Für diese schlägt er eine Abteilungserfolgsrechnung vor, in welcher die Kosten und Leistungen mit 'Lenkpreisen' anzusetzen sind. Gemeinsam benutzte knappe Faktoren sind optimal einzusetzen, wobei die optimale Geltungszahl herangezogen werden kann. In diesem Rechnungskonzept sind einzelnen Abteilungen nur diejenigen Kosten zuzurechnen, die vom Abteilungsleiter unmittel-

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Schmalenbach, Eugen bar beeinfluBt werden können. Das Konzept der pretialen Lenkung (1948) ist gegenwärtig die theoretische Grundlage einer modernen Verrechnungspreislehre und damit ein Kernstück der Unternehmungspolitik. Diese Ideen haben ihre Wurzeln in den Anfang des Jahrhunderts verfaßten Arbeiten Schmalenbachs. Am Ende dieser Entwicklung steht heute das 'Profit-Center-Konzept', das Schmalenbach frühzeitig und in jahrzehntelanger wissenschaftlicher Arbeit lange vor seiner praktischen Bewährung theoretisch analysiert. Des weiteren durchdenkt Schmalenbach auch die Gnindzüge der Deckungsbeitragsrechnung sehr friih. Grundlegend ist auch hier die Aufspaltung der Gesamtkosten in fixe und variable Bestandteile als Zugang fur die Entwicklung von Teilkostenrechnungen. Parallel zu der Entwicklung des 'Direct Costing' in den USA wird im deutschsprachigen Raum eine 'Variablen-Kostenrechnung' entwickelt, die bei Einbeziehung der Erlöse zu einer Deckungsbeitragsrechnung auf der Basis von variablen Kosten führt. Insbesondere fUr kurzfristige Entscheidungen erweist sich diese Dekkungsbeitragsrechnung der Vollkostenrechnung als überlegen. Obwohl in der Wirtschaftspraxis die Deckungsbeitragsrechnung auf heftigen Widerstand stößt, weil sie häufig zu Preissenkungen und damit zu Preiskämpfen führt, gibt Schmalenbach nicht nach, dieses Rechnungskonzept zu propagieren. Dabei läBt er sich von der richtigen Idee leiten, daß die Anwendung der Deckungsbeitragsrechnung zu einer präzisen Optimierung des Absatzprogramms führen kann. Das Bewertungsproblem löst er in der Deckungsbeitragsrechnung mit optimalen Geltungszahlen, womit er bei Engpaßsituationen bereits Opportunitätskosten berücksichtigt. Der Schmalenbachsche Ansatz der Dekkungsbeitragsrechnung hat sich jedoch im deutschsprachigen Raum nicht durchgesetzt. Der eigentliche Anstoß zur Verbreitung dieses Konzepts kommt nach dem Zweiten Weltkrieg aus den USA durch das 'Direct Costing'. Schließlich verlangt Schmalenbach bereits 1899 im Zusammenhang mit den Unzulänglichkeiten der Buchführung und der Behandlung fixer Kosten eine differenzierte Analyse der fixen Kosten zur Feststellung ihrer Einflußgrößen. In der neueren Diskussion um die Prozeßkostenrechnung (Activity-Based Costing) stehen gerade diese Einflußgrößen ('Cost Driver') im Vordergrund der Überlegungen. In der Prozeßkostenrechnung wird versucht, eine Antwort auf die Frage zu geben, für

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welchen Prozeß sich Kosteneinflußgrößen bestimmen lassen und welche Anteile (Kategorien) von Gemeinkosten auf diese verursachungsgerecht zugerechnet werden können. Nach dieser Einflußgrößenanalyse fixer Kosten wird im deutschsprachigen Bereich die Prozeßorientierung der Kostenrechnung jedoch nicht weiterverfolgt. Erst die neueren Beiträge zur Prozeßkostenrechnung rufen die frühen Gedanken Schmalenbachs wieder in Erinnerung. Schmalenbach ist weder ein ausgeprägter Systematiker noch ein akribischer Theoretiker. Dennoch gibt er mit seiner pragmatischen Problembehandlung in der Betriebswirtschaftslehre nicht nur der Wirtschaftspraxis große Hilfestellungen, sondern er bringt das Fach als Wissenschaft auf einen Weg, den es heute noch erfolgreich als 'entscheidungsorientierte Betriebswirtschaftslehre' geht. In der Pionierphase der Betriebswirtschaftslehre lenkt er durch sein ungewöhnlich breites Werk das Augenmerk der nachfolgenden Forschergenerationen auf zentrale einzelwirtschaftliche Probleme. Sein wichtigstes Anliegen, das alle anderen dominiert, ist jedoch die Wertlehre als Instrument einer optimalen Betriebsführung. Sein Prinzip der pretialen Lenkung ist das zentrale Führungselement einer divisionalisierten Untemehmungsorganisation. Über dieses Prinzip wird mit Hilfe der Kostenrechnung und der Organisation die Unternehmungsführung strikt marktwirtschaftlich orientiert. Schmalenbachs Visionen sind flexible, wettbewerbsfähige und innovative Unternehmungen. Sein wissenschaftliches Erkenntnisstreben ist auf eine Wirtschaft mit dem Preismechanismus als zentralem Lenkungsinstrument und einer Orientierung aller Unternehmungen am gesamtwirtschaftlichen Ziel des Gemeinwohls gerichtet. Die Forschungsleistungen Schmalenbachs fuhren damit zu einer konsequenten Ausgestaltung der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre. Auch diese dient letztlich dem pragmatischen Wissenschaftsziel, sie ist aber im Ansatz interdisziplinär und integriert das deskriptive, theoretische und pragmatische Wissenschaftsziel des Faches. Im gegenwärtigen Wissenschaftsprogramm der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre erhält die Theorie jedoch ein wesentlich höheres Gewicht, als es Schmalenbach vermutet hat. Die Forschungsleistungen Schmalenbachs beeinflußten die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre auch international. Zeugnis dafür geben die zahlreichen Übersetzungen seiner Werke in ande-

Schmalenbach, Eugen re Sprachen. Die Schrift Dynamische Bilanz (1919a) wurde ins Französische, Englische, Spanische und Japanische übertragen. Seine Schrift zum Kontenrahmen (1929) wurde ins Russische und ins Japanische übersetzt. Ebenfalls ins Japanische übertragen wurde sein Werk Der freien Wirtschaft zum Gedächtnis (1949). Die Leistungen Schmalenbachs wurden international und national durch fünf Ehrendoktorwürden, eine Ehrenbürgerschaft und zwei Ehrensenatorwürden anerkannt. Über Schmalenbach gibt es zwei Biographien. Die erste, kürzere wurde von dem Schotten David A.R. Forrester (1977) veröffentlicht. Die zweite, umfassende Biographie wurde als Sammelband von Walter Cordes (1984) herausgegeben. Beide Biographien kennzeichnen Schmalenbach als genialen und weitsichtigen Gelehrten, welcher der Betriebswirtschaftslehre ein empirisches Fundament und unzählige wissenschaftliche Impulse gab. Vermutlich wird sich in der Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre das faszinierende Ereignis nicht wiederholen, dafi ein Hobbygärtner, Bastler, Erfinder und Unternehmer in Forschung und Lehre vergleichbare Leistungen erbringen wird.

(1919a)

(1919b)

(1929) (1933)

(1947)

(1948) Schriften in Auswahl: (1899) Buchführung und Kalkulation im Fabrikgeschäft, in: Deutsche Metall-Industrie-Zeitung, 15. Jg., S. 98-99 und 106-172 (unveränderter Abdruck: Leipzig 1928). (1902/03) Gewerbliche Kalkulation, in: Zeitschrift für das gesamte kaufmännische Unterrichtswesen, Bd. 15, S. 150-155, 178-180 und 210-214. (unveränderter Abdruck in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung, N.F., Bd. 15 (1963), S. 375384). (1903) (1911/12)

(1915)

Verrechnungspreise in Großbetrieben, Habil., Handelshochschule Köln. Die Privatwirtschaftslehre als Kunstlehre, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung, Bd. 6, S. 304-315. Finanzierungen, Leipzig (7. Aufl. unter dem Titel: Die Beteiligungsfinanzierung, Köln/Opladen 1949; 9. Aufl., 1966).

(1949) (1950)

(1959)

Grundlagen dynamischer Bilanzlehre, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung, Bd. 13, S. 160 und 65-101 (weitere Auflagen unter dem Titel: Dynamische Bilanz; 13. Aufl., Köln/Opladen 1962). Selbstkostenrechnung I, in: Zeitschrift fur handelswissenschaftliche Forschung, Bd. 13. S. 257-299 und 321-356 (2. Aufl. unter dem Titel: Grundlagen der Selbstkostenrechnung und Preispolitik, Leipzig 1925; 6. Aufl. unter dem Titel: Selbstkostenrechnung und Preispolitik, 1934; 8. Aufl. unter dem Titel: Kostenrechnung und Preispolitik, Köln/Opladen 1963). Der Kontenrahmen, Leipzig (6. Aufl., Leipzig 1939). Kapital, Kredit und Zins in betriebswirtschaftlicher Beleuchtung, Leipzig (4. Aufl., Köln/Opladen 1961). Pretiale Wirtschaftslenkung. Band 1: Die optimale Geltungszahl, BremenHorn. Pretiale Wirtschaftslenkung. Band 2: Pretiale Lenkung des Betriebes, Bremen-Horn. Der freien Wirtschaft zum Gedächtnis, Köln/Opladen (3. Aufl. 1958). Gedanken zur betrieblichen Personalwirtschaft, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung, N.F. Bd. 2, S. 386-390. Über die Dienststellengliederung im Großbetriebe, Köln/Opladen.

Bibliographie: Bücher, K. (1910): Das Gesetz der Massenproduktion, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 66, S. 429-444. Cordes, W. (Hrsg.) (1984): Eugen Schmalenbach. Der Mann - Sein Werk - Die Wirkung, Stuttgart. Dantzig, G. (1951): Programming of Interdependent Activities: Mathematical Model, in: Activity Analysis of Production and Allocation, hrsg. von Tjalling C. Koopmans. New York/London, S. 1932. Forrester, D.A.R. (1977): Schmalenbach and After, Glasgow.

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Schmittmann, Benedikt Goetz, B.E. (1949): Management Planning and Control: A Managerial Approach to Industrial Accounting, New York/London. Kosiol, E. (1940): Formalaufbau und Sachinhalt der Bilanz. Ein Beitrag zur Bilanztheorie, in: Wirtschaftslenkung und Betriebswirtschaftslehre. Festschrift für Emst Walb, Leipzig, S. 225-264. Michel, E. (1937): Handbuch der Plankostenrechnung, Berlin (2. Aufl., Berlin 1941). Riebel, P. (1959): Das Rechnen mit Einzelkosten und Deckungsbeiträgen, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung, N.F., Bd. 11, S. 213-238. Rieger, W. (1928): Einführung in die Privatwirtschaftslehre, Nürnberg (2. Aufl., Erlangen 1959). Walb, E. (1926): Die Erfolgsbilanz privater und öffentlicher Betriebe. Eine Grundlegung, Berlin/ Wien. Quellen: Potthoff, E., Sieben, G. (1988): E.S., in: Henning, F.W. (Hrsg.): Betriebswirte in Köln: über den Beitrag Kölner Betriebswirte zur Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre, Köln/ Wien, S. If.; Schmalenbach, E. (1948): Rückblick auf seinen Lebensweg 1873-1948, in: Industrielle Organisation, Bd. 17, S. 198; Haas, P. (1948): E.S. und die Betriebswirtschaftslehre, in: ebd., S. 220-225; Münstermann, H. (1955): E S. in memoriam, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 25. Jg., S. 257-262; HldWiWi 1929. Marceil Schweitzer

Schmittmann, Benedikt, geb. am 4.8.1872 in Düsseldorf, gest. am 13.9.1939 im Konzentrationslager Sachsenhausen Schmittmann, ein selbst Fachkollegen heute kaum bekannter, aus der Praxis berufener Ordinarius für Sozialpolitik, engagierter Vertreter der katholischen Soziallehre und des politischen Katholizismus, Pazifist und für einen föderativen Staatsaufbau in Deutschland eintretend, ist jener kleinen Gruppe von deutschen Hochschullehrern zuzurechnen, die aufgrund ihrer öffentlich geäußerten Distanzierung vom Nationalsozialismus mit dem sich etablierenden totalitären Regime in Konflikt gerieten. Bereits am 30.4.1933 beurlaubt, wurde er am 11. September desselben Jahres gemäß § 4 des 'Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeam tent ums' wegen politischer Unzuverlässigkeit in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Anfang April 1934 mußte sich Schmittmann dann

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zunächst einem wenig später allerdings eingestellten Verfahren wegen Hochverrats sowie, aufgrund lange zurückliegender politischer Aussagen, einem Dienststrafverfahren stellen, woraus ein umfassendes Berufsverbot und eine erhebliche Kürzung seiner Bezüge resultierte. Dennoch zog Schmittmann die innere Emigration dem Verlassen seiner Heimat vor: ,Jch kann kein Emigrantenleben führen; ich würde draußen an Heimweh zugrundegehen. Dann will ich lieber hier bleiben und, wenn es denn sein muß, an der Politik sterben." Obwohl er schriftlich zugesichert hatte, sich jeder politischen Betätigung zu enthalten, blieb er unter Überwachung der Gestapo, die ihn, wie andere noch im Land verbliebene Oppositionelle, am 1.9.1939, dem Tag des deutschen Überfalls auf Polen, verhaftete und im Konzentrationslager Sachsenhausen internierte, wo er nur wenige Tage später von der SS ermordet wurde. Im Anschluß an die 1893 am Königlichen Gymnasium in Düsseldorf abgelegte Reifeprüfung begann der aus einer wohlhabenden, bürgerlich-konservativen Unternehmerfamilie stammende Schmittmann zunächst - wohl unsicher über die zu treffende Berufswahl - ein Studium der Kulturwissenschaften in Rom, das er jedoch alsbald abbrach, um an den Universitäten Freiburg, Leipzig, München und Bonn Rechts- und Staatswissenschaften zu studieren. An der Universität Erlangen Schloß er 1897 seine Studienzeit mit einer Promotion zum Dr. iur. über das Thema Bildet bei der GmbH die Vereinigung aller Geschäftsanteile in einer Hand einen Auflösungsgrund? Eine handelsrechtliche Studie ab. Geprägt vom christlich motivierten, karitativen Engagement seines Vaters, trat Schmittmann nach absolvierter Großer Juristischer Staatsprüfung 1902 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in die Rheinische Provinzialverwaltung ein, wurde dort 1906 zum Landesassessor befördert und avancierte 1909 zum Landesrat und Leiter des Wohlfahrtswesens, wobei ihm insbesondere die Belange der Landesversicherungsanstalt der Rheinprovinz am Herzen lagen. In dieser Stellung entfaltete er alsbald rege organisatorische und publizistische Aktivitäten. So bemühte er sich überaus erfolgreich um den Auf- und Ausbau einer gezielten Tuberkuloseprävention und -bekämpfung, die Verbesserung der bislang vernachlässigten Gesundheitsfürsorge im ländlichen Raum sowie um die notwendige Koordination der Hilfeleistungen der zahlreichen Träger privater, kommunaler und

Schmittmann, Benedikt staatlicher Sozialpolitik. Zwei sozialpolitische Vorhaben, die er mit großem Nachdruck voranzutreiben versuchte, scheiterten jedoch: zum einen die staatliche Festlegung und Genehmigung einer Berufslaufbahn für Sozialbeamte, zum anderen die Umsetzung seiner Ideen zur Einführung einer dem Vorbild der Sozialversicherungen entsprechenden Reichswohnversicherung, die er in mehreren Veröffentlichungen propagierte (vgl. z.B. 1917). Neben seinen praktischen Tätigkeiten widmete sich Schmittmann mit zunehmendem Interesse der wissenschaftlichen Fundierung der aus der Praxis erwachsenen, sozialpolitischen Fragestellungen sowie ab 1912 auch der Lehre - zunächst als nebenberuflicher Dozent an der Kölner Hochschule für kommunale und soziale Verwaltung, an der er 1915, nach Verlassen der Provinzialregierung, eine Professur erhielt. Im selben Jahr übernahm er überdies einen Lehrauftrag für Sozialpolitik an der Handelshochschule in Köln. Zugleich befaßte sich Schmittmann mit einer von StierSomlo betreuten Habilitationsschrift mit dem Arbeitstitel Probleme der deutschen Sozialversicherung. Das Habilitationsverfahren wurde jedoch nicht abgeschlossen, da er 1917 im Auftrag der deutschen Zivilverwaltung für das besetzte Belgien die Leitung der wallonischen Untemchtsverwaltung zu übernehmen hatte und nach dem Krieg anderen Aufgaben eine höhere Priorität zukam. Am 18.7.1919 berief ihn dann die preußische Regierung zum ordentlichen Professor für Sozialpolitik an die neu gegründete Kölner Universität; am 21.3.1923 erfolgte seine Ernennung zum Direktor des Seminars fur Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege. Jede Form der wissenschaftlichen Werturteilslosigkeit ablehnend - eine Trennung von öffentlichem Leben, Wissenschaft, Politik und Religion war für ihn keinesfalls akzeptabel entwarf er in den folgenden Jahren, basierend auf seiner christlichen Weltanschauung, eine organische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die in einer berufsständisch gegliederten Wirtschaftsordnung (1932, S. 98f.) die Fehlentwicklungen der beiden bestehenden Koordinationssysteme, Kapitalismus und Kommunismus, überwinden sollte. Anderen Vertretern des Katholizismus folgend, wie z.B. Theodor Brauer, lehnte er sowohl die individualistische Übersteigerung des Liberalismus im Kapitalismus als auch die kollektivistische Reaktion des Kommunismus kompromiBlos ab. Ebenso

heftig kritisierte er die die Würde des Menschen zerstörende Wirkung einer zentralistischen Sozialpolitik (1932, S. 102). Allein im Subsidiaritätsprinzip, wie es in der päpstlichen Sozialenzyklika „Quadragesimo Anno" aus dem Jahre 1931 als sozialphilosophischer Grundsatz der katholischen Soziallehre festgeschrieben werden sollte, sah Schmittmann ein geeignetes Leitbild für die Zuteilung der Handlungskompetenzen innerhalb einer Gesellschaft (vgl. 1932). Wie später z.B. Götz Briefs postulierte er die überragende Bedeutung überschaubarer gesellschaftlicher Gruppen Familie, Berufsverbände, Kirchen u.s.w. - für die Einübung und Entwicklung wichtiger Tugenden oder Nonnen und damit für die Aufirechterhaltung demokratischer Gesellschaftsformen, da es nur in kleinen Gemeinschaften möglich sei, die Bürger durch die Übertragung von Pflichten an der gemeinschaftlichen Verantwortung zu beteiligen. Schmittmanns strikte Ablehnung jeder Form von Zentralismus offenbarte sich auch in seinem politischen Wirken als Abgeordneter des preußischen Landtages. Am 1.2.1919 für das Zentrum in die ' Verfassungsgebende Preußische Landesversammlung' gewählt, gehörte er später dem ersten preußischen Landtag an. In Übereinstimmung mit Hugo Preuß, einem der Väter der Weimarer Verfassung, forderte er eine nach Artikel 18 der Reichsverfassung durchaus mögliche Neugliederung des Reiches in einem föderativen Staatsaufbau, um so nach einer Zerschlagung des übermächtigen Preußen die Reichseinheit zwischen den nun gleichberechtigten Ländern zu stärken (vgl. 1920a). Doch die Nationalversammlung beschieß mit Einwilligung des Zentrums, Artikel 18 zunächst für zwei Jahre außer Kraft zu setzten. Enttäuscht von den parlamentarischen Vertretern des Katholizismus stellte er 1922, nachdem die Abgeordneten des Rheinlandes 1921 für eine weitere Aussetzung des Artikel 18 plädiert hatten, sein Mandat zur Verfugung und verließ die parteigebundene, den Erfordernissen des Tages unterworfene Politik. Mit dem von ihm maßgeblich initiierten Reichs- und Heimatbund deutscher Katholiken, der sich am 24.11.1924 konstituierte und dessen erster Vorsitzender er wurde, schuf sich Schmittmann nun eine Plattform, um seinen Kampf für ein föderalistisches Deutschland noch intensiver fortsetzen zu können, wozu ihm nach 192S auch die von ihm herausgegebene Bundeszeitschrift Reich und Heimat sowie die Wochenzeitschrift Heimat und Volk als Publikationsor-

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Schneider, Erich gane dienten. Aber obwohl der Gedanke des Föderalismus mit einer entsprechenden Neugliederung des Reiches gegen Ende der 1920er Jahre auch von der Reichsregierung aufgegriffen wurde, blieb der als Interessenvertretung rheinischer Separatisten denunzierte Reichsbund ohne jeglichen politischen EinfluB. Schriften in Auswahl: (1897) Bildet bei der GmbH die Vereinigung aller Geschäftsanteile in einer Hand einen Auflösungsgrund? Eine handelsrechtliche Studie, Düsseldorf (Diss.). (1917) Reichswohnversicherung. Kinderrenten durch Ausbau der Sozialversicherung (Schriften der Deutschen Gesellschaft fur soziales Recht, Heft 1), Stuttgart. (1920a) Preußen - Deutschland oder Deutsches Deutschland?, Bonn. (1920b) Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege, Stuttgart. (1925) Sozialversicherung und Wohlfahrtspflege, Aachen. (1931) Die Verwirklichung der sozialen Demokratie, Köln. (1932) Wirtschafts- und Sozialordnung als Aufgabe, Stuttgart. Bibliographie: Golczewski, F. (1988): Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus. Personengeschichtliche Ansätze, Köln, S. 184-198. Kuhlmann, A. (1968): Das Lebenswerk Benedikt Schmittmanns, Diss. Köln. Lötz, A. (1949): Benedikt Schmittmann. Sein Leben und sein Werk, Frankfurt a.M. Stehkemper, H. (1984): Benedikt Schmittmann (1872-1939), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 6, Mainz, S. 29-49. Quellen: Kürschner (1931). Gerhard J. Mauch

Schneider, Erich, geb.

14.12.1900 in Siegen/ Westfalen, gest. 5.12.1970 in Kiel

Als Sohn eines Rektors studierte Erich Schneider in Gießen, Frankfurt a.M., Göttingen und Münster. Zunächst begann er in Gießen mit den Fächern Mathematik und Physik und wechselte im

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Wintersemester 1919/20 nach Frankfurt. Dort bezog er die Wirtschaftswissenschaften in das Studium ein, nachdem er in einer mathematischen Enzyklopädie einen Aufsatz von V. Pareto über die Anwendung der Mathematik auf die Nationalökonomie gelesen hatte. In der Folgezeit traten die naturwissenschaftlichen Studien in den Hintergrund, und Schneider widmete sich ganz der Nationalökonomie. In Frankfurt wurde er bei Andreas Voigt im Jahre 1922 mit einer Dissertation über das Thema Der Kalkül der Schuldverhältnisse angewandt auf solche mit mehreren Geldsorten, insbesondere die Geldarbitrage zum Dr. rer. pol. promoviert. Sein naturwissenschaftliches Examen legte er in den Jahren 1924/25 in Münster ab. In den Jahren 1925-1936 war Schneider im Höheren Schuldienst tätig. In diese Zeit fiel seine Ernennung zum Studienrat (1930) und seine Begegnung mit - • J.A. Schumpeter (1929). 1932 habilitierte er sich bei ihm in Bonn mit einer Arbeit über die Reine Theorie monopolistischer Wirtschaftsformen.\iet Jahre später (1936) erreichte den Privatdozenten an der Universität Bonn und Studienrat am Realgymnasium in Dortmund ein Ruf an die Universität Aarhus in Dänemark. Dort übernahm Schneider eine Professur für Betriebswirtschaftslehre. Schneider blieb fast zehn Jahre in Aarhus. Er folgte Anfang 1946 einem Ruf an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel auf die Ordentliche Professur fur Wirtschaftliche Staatswissenschaften und als Direktor des Staatswissenschaftlichen Seminars. Im akademischen Jahr 1959/60 war er Rektor der Universität Kiel. 1961 wurde er zum Direktor des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel berufen. Dieses Amt bekleidete er bis zu seiner Emeritierung im März 1969. Am 5.12.1970, wenige Tage vor seinem 70. Geburtstag, verstarb Erich Schneider während einer Vortragsveranstaltung in der Deutsch-Nordischen Burse in Kiel. Schneider war der Wirtschaftstheoretiker, der die Wirtschaftswissenschaften in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg rasch wieder an den internationalen Standard heranführte. Man kann sagen, daß seine wissenschaftliche Schaffensperiode in drei große Abschnitte unterteilbar ist. Der erste Abschnitt begann nach seiner Begegnung mit Schumpeter im Jahre 1929. Von letzterem beeinflußt, befaßte sich Schneider zunächst mit der Monopoltheorie im Rahmen der allgemeinen Theorie der Marktformen, aus der auch sein Habi-

Schneider, Erich litationsthema stammte und die er später als das Theoriegebäude der damaligen Wirtschaftswissenschaften am stärksten beeinflussend klassifizierte. Mit seinen Arbeiten zur Monopol- und Oligopoltheorie wurde Schneider ohne Zweifel zu einem der fuhrenden Marktformentheoretiker der dreißiger Jahre. Er wandte sich sodann vor allem der Produktions- und Kostentheorie zu, aus der sein eigentliches erstes Hauptwerk entstand und 1934 erschien: die Theorie der Produktion, eine Synthese aus angelsächsischer und skandinavischer Produktions- und Kostentheorie. Sie wurde 1942 ins Italienische übersetzt, als Schneider es bereits zu internationalem Ansehen gebracht hatte. Der zweite große Abschnitt in Schneiders Schaffensperiode war die Zeit von 1936 bis 1946, die er an der Universität Aarhus in Dänemark verbrachte. Hier war es ihm möglich, außerhalb Deutschlands wissenschaftlich zu arbeiten und zu lehren und die internationalen Kontakte - vor allem zur skandinavischen und angelsächsischen Wissenschaft - zu pflegen, die in Deutschland immer mehr verlorengingen. In dieser Zeit wurde die Basis gelegt für die von Schneider in seinem späteren Werk angestrebte Synthese zwischen Keynesscher Theorie und Stockholmer Schule vor allem Wicksellscher Prägung. Schneider las auch an der Technischen Hochschule Kopenhagen und wurde Mitglied der Dänischen Akademie der Technischen Wissenschaften. Die dänische Schaffensperiode war sicherlich eine der fruchtbarsten in Schneiders wissenschaftlichem Leben. Zusammen mit J0rgen Pedersen, der den volkswirtschaftlichen Lehrstuhl innehatte, baute er eine moderne ökonomische Fakultät in Aarhus auf. Die Beschäftigung mit der Betriebswirtschaftslehre - bereits in seinen Bonner Jahren gepflegt - ließ Schneider mehrere wichtige Arbeiten schreiben, die zwischen 1938 und 1944 in verschiedenen Zeitschriften publiziert wurden. Hervorzuheben sind der 1938 im von Schneider mitherausgegebenen Archiv flir mathematische Wirtschafts- und Sozialforschung erschienene Aufsatz über Absatz, Produktion und Lagerhaltung bei einfacher Produktion sowie das 1939 in Kopenhagen publizierte Buch Einfuhrung in die Grundfragen des industriellen Rechnungswesens, das 1954 in Deutschland als Industrielles Rechnungswesen erschien. Herausragend sind ebenfalls seine Arbeiten zur Wirtschaftlichkeitsrechnung und Investitionstheorie, dokumentiert in der 1944 veröf-

fentlichten Schrift Investering og Rente, deren deutsches Pendant 1951 als Wirtschaftlichkeitsrechnung publiziert wurde. In die dänische Zeit fiel auch die Entdeckung des Werkes von Carl Föhl (Geldschöpfung und Wirtschaftskreislauf 1937) durch Schneider. Föhl hatte unabhängig von Keynes ähnliche Theoriegedanken wie dieser entwickelt. Zwischen Föhl und Schneider entwickelte sich eine dauerhafte Freundschaft. In den späteren Aaihuser Jahren beschäftigte sich Schneider dann zunehmend mit der MakroÖkonomik. Er legte die Grundlagen für den Teil I seines später publizierten Lehrbuchs, der sich dem Wirtschaftskreislauf widmete. 1943 veröffentlichte er einen fiskaltheoretischen Aufsatz Zur Frage der Wirkung finanzpolitischer Maßnahmen auf die wirtschaftliche Aktivität, der die später als Haavelmo-Theorem in die Literatur eingegangene Multiplikatoranalyse eines ausgeglichenen Staatsbudgets bereits in allgemeiner Form vorwegnahm. Schneider selbst schlug diese Benennung vor, obwohl er schon zwei Jahre vor Haavelmo die relevanten Zusammenhänge entdeckt hatte. Seine Zeit in Aarhus wurde für Schneider zum Modell für die Neukonzeption des wirtschaftswissenschaftlichen Studiums in Deutschland. Als er Anfang 1946 dem Ruf an die Universität Kiel folgte, begann seine dritte Epoche wissenschaftlichen Forschens und Lehrens. Ohne Zweifel stellen die Kieler Jahre den Höhepunkt in seinem Wissenschaftlerleben dar. In den Jahren von 1946 bis 1952 entstand sein eigentliches Lebenswerk, die dreibändige Einführung in die Wirtschaftstheorie. Mit ihr wurde Schneider zum führenden Vertreter der modernen Wirtschaftstheorie in Deutschland. Die Fruchtbarkeit der dänischen Jahre als Basis, verbunden mit intensiven späteren Forschungsarbeiten, die Exaktheit der Gedankenführung, die Anwendung formaler Methoden und nicht zuletzt die exzellente Didaktik machten die Einführung zum Standardwerk an deutschen Universitäten. Sie stellte den Anschluß der deutschen Nationalökonomie, die von Historischer Schule und Hitlerzeit geprägt war, an das internationale Niveau wieder her. Schneiders Einführung ist eine Synthese der damaligen Interpretation der Keynesschen und der skandinavischen Wirtschaftstheorie, gepaart mit walrasianischen Gedanken des totalen Gleichgewichts und den Ansätzen italienischer Ökonomen. Das Werk ist verschiedent-

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Schneider, Erich lieh mit Marshalls Principles und Samuelsons Economics auf eine Stufe gehoben worden. Der erste Teil der Einführung, der 1947 erschien, widmet sich der Theorie des Wirtschaftskreislaufs. Er ist der wohl originellste und erfolgreichste der drei Bände, u.a. basierend auf berühmten historischen Vorläufern der modernen Kreislaufanalyse wie Quesnay, Marx und Keynes. Im zweiten Teil, der 1949 herauskam, spiegeln sich ganz überwiegend die eigenen Forschungen Schneiders wider. Er befafit sich mit der Theorie der Wirtschaftspläne und des wirtschaftlichen Gleichgewichts. Haushaltstheorie, Produktionstheorie, Theorie der Firma und Marktformenlehre stehen im Mittelpunkt. Der dritte Teil, 19S2 publiziert, widmet sich Geld, Kredit, Volkseinkommen und Beschäftigung. Er ist im wesentlichen eine Darstellung der Keynesschen Theorie, durch eigene Forschungen und Interpretationen modifiziert und erweitert. Mit diesem Werk setzte Schneider die allgemeine Keynes-Rezeption in Deutschland durch. Der Autor war überzeugter Keynesianer und hat - noch bis zuletzt - den Keynesianismus heftig gegen seine Kritiker, vor allem auch aus der monetaristischen Schule, verteidigt. Schneider verstand seine Einführung als Lehrbuch, das die Einheit der ökonomischen Theorie dokumentieren sollte. Das Werk erhielt hervorragende Rezensionen im In- und Ausland. Es wurde in sieben Sprachen übersetzt (Englisch, Italienisch, Japanisch, Persisch, Portugiesisch, Singalesisch, Spanisch). Im vierten Teil, dessen erster Band 1962 erschien und dessen geplanter zweiter Band nicht mehr geschrieben werden konnte, befaßt sich Schneider mit ausgewählten Kapiteln der Geschichte der Wirtschaftstheorie. Er hat immer betont, „daß wir alle auf den Schultern unserer Vorgänger stehen" und dafi ein rechtes Verständnis der modernen ökonomischen Theorie das Studium der Geschichte der Wirtschaftstheorie eigentlich voraussetze. Schneiders wissenschaftliche Tätigkeit während seiner Zeit als Direktor des Instituts fur Weltwirtschaft an der Universität Kiel (1961-1969) und als Herausgeber der Zeitschrift Weltwirtschaftliches Archiv war trotz vieler administrativer Aufgaben - von 1963 bis 1966 war er zudem Präsident der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Verein für Socialpolitik) - ungebrochen. Seine Aufsatz-Sammlung Volkswirtschaft und Betriebswirtschaft aus dem Jahre 1964 schlägt den Bogen zurück zu den Arbeiten aus seiner Aarhu-

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ser Zeit und den Bonner Jahren und dokumentiert noch einmal Schneiders dezidierte Auffassung von der Einheit beider in Deutschland so getrennt existierender Teilbereiche der ökonomischen Wissenschaft. Seine stärkere Hinwendung zu außenwirtschaftlichen Fragen offenbart Schneider mit dem 1968 erschienenen (und später ins Italienische übersetzten) Lehrbuch über Zahlungsbilanz und Wechselkurs, einem in prägnanter Klarheit geschriebenen Buch Uber Grundprinzipien des internationalen Währungssystems. Schneiders letzte Monographie über Joseph A. Schumpeter - Leben und Werk eines großen Sozialökonomen, in seinem Todesjahr 1970 erschienen, widerspiegelt die hohe Referenz, die er zeitlebens seinem Lehrer entgegenbrachte. Aus dem Kreis der Theoretiker des deutschen Sprachraums hatte er im übrigen außer zu Schumpeter die wohl engste geistige Beziehung zu Thünen, Gossen und Launhardt, bei den Franzosen waren es Cournot und Walras. In seiner Abschiedsvorlesung - im Weltwirtschaftlichen Archiv 1969 nachzulesen und auf Schallplatte nachzuhören - über einen Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der Wirtschaftswissenschaft zeigte Schneider noch einmal seine fesselnde Brillanz in der Fähigkeit, theoriegeschichtliche Dimensionen der modernen Ökonomie, wie er sie interpretierte, der Öffentlichkeit zu vermitteln. Unerwartet plötzlich verstarb Schneider mitten in reichem Schaffen. Erich Schneider wurde in vielfaltiger Weise geehrt. Einen Ruf an die Universität des Saarlandes Mitte der fünfziger Jahre lehnte er ab. Er erhielt die Ehrendoktorwürden diverser wissenschaftlicher Hochschulen: Freie Universität Berlin (1957), Handelshochschule Helsinki (1961), Universität Louvain (1963), Universität Rennes (1966), Universität Madrid (posthum 1970). 1965 wurde er mit der List-Medaille in Gold des Bundesverbandes Deutscher Volks- und Betriebswirte ausgezeichnet, 1968 erhielt er das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Schneider war Mitglied zahlreicher in- und ausländischer Akademien, Gesellschaften und Institutionen. Schriften in Auswahl: (1922) Der Kalkül der Schuldverhältnisse angewandt auf solche mit mehreren Geldsorten, insbesondere die Geldarbitrage, Frankfurt a.M. (Diss.).

Schneider, Oswald Oscar Richard (1932)

Reine Theorie monopolistischer Wirtschaftsformen, Tübingen (Habil.)· (1934) Theorie der Produktion, Wien. (1939) Einfuhrung in die Grundfragen des industriellen Rechnungswesens, Kopenhagen (in Dtl. erschienen als: Industrielles Rechnungswesen, Tübingen 1954). (1943) Zur Frage der Wirkung finanzpolitischer Maßnahmen auf die wirtschaftliche Aktivität, in: Finanzarchiv, N.F., Bd. 10, S. 277-287. (1944) Investering og Rente, Kopenhagen (dt. Übers.: Wirtschaftlichkeitsrechnung. Theorie der Investition, Bern/ Tübingen, 1951). (1947-1962)Einfuhrung in die Wirtschaftstheorie, Tübingen. I. Teil. Theorie des Wirtschaftskreislaufs (1947; 14. Aufl. 1969); II. Teil. Wirtschaftspläne und wirtschaftliches Gleichgewicht in der Verkehrswirtschaft (1949; 12. Aufl. 1969); m . Teil. Geld, Kredit, Volkseinkommen und Beschäftigung (1952; 11. Aufl. 1969); IV. Teil, 1. Bd. Ausgewählte Kapitel der Geschichte der Wirtschaftstheorie (1962; 3. Aufl. 1970). (1964) Volkswirtschaft und Betriebswirtschaft. Ausgewählte Aufsätze, Tübingen. (1968) Zahlungsbilanz und Wechselkurs, Tübingen. (1969) Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der Wirtschaftswissenschaft (19181968), in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 102, S. 157-167. (1970a) Automatism or Discretion in Monetary Policy?, in: Banca Nationale del Lavoro Quarterly Review, Bd. 23, S. 111-127. (1970b) Joseph A. Schumpeter - Leben und Werk eines großen Sozialökonomen, Tübingen. Bibliographie: Bombach, G. (1971): Erich Schneider - Mensch und Werk, in: Gesellschaft zur Förderung des Instituts für Weltwirtschaft (Hrsg.): Erich Schneider in memoriam, Kiel, S. 12-32.

Föhl, C. (1937): Geldschöpfung und Wirtschaftskreislauf, München/Leipzig. Giersch, H. (1993): Die Volkswirtschaftslehre in Glanz und Dämmerschein. Erich-Schneider-Gedächtnisvorlesung 1993, Kiel. Vogt, W. (1972): Erich Schneider und die Wirtschaftstheorie, Kiel. Quellen: Β Hb II; NP; Wenig; HldWiWi 1966. Wolf Schäfer

Schneider, Oswald Oscar Richard, geb. 2.2.1885 in Liegnitz, gest. 10.2.1965 in Bad Honnef Oswald Schneider, Sohn eines Gärtnereibesitzers, ist aus Gustav Schmollers Berliner Seminar hervorgegangen. Seine Arbeitsgebiete waren die öffentlichen Finanzen und die Wirtschaftspolitik (Handel und Nachrichtenwesen), später mit besonderer Betonung der Länder Osteuropas. Seine Veröffentlichungen zeichnen sich ganz im Sinne der Schmollerschen Schule vor allem durch die sorgfältige und umfassende Description der behandelten Tatbestände in ihrer komplexen Zusammensetzung aus. Sein Oeuvre ist nicht sehr umfangreich, und wohl bemerkenswerter als sein wissenschaftliches Werk ist sein Werdegang mit ungewöhnlichem Wechsel zwischen seinem Wirken als Hochschullehrer und der Tätigkeit als leitender Ministerialbeamter im Auswärtigen Amt. Schneider war zunächst zweieinhalb Jahre als Telegraphenarbeiter tätig, holte 1906 das Abitur am Realgymnasium zu Görlitz nach und studierte Geschichte, Philosophie und Staatswissenschaften an der Universität Berlin. 1910 promovierte er bei Schmoller mit einer Arbeit über Bismarck und die preußisch-deutsche Freihandelspolitik. Nach einigen Jahren als Voluntärassistent an der Universität Berlin trat er 1913 in das Reichsschatzamt ein und wechselte 1916 in das Wirtschaftsreferat in der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes. Nach dem Ersten Weltkrieg avancierte Schneider, der das besondere Vertrauen von Reichsaußenminister Gustav Stresemann genoß, in schneller Folge (1921 Regierungsrat, 1923 Oberregierungsrat, 1924 Vortragender Legationsrat und Dirigent) bis zum Ministerialdirektor (1.12.1926) und Leiter der wichtigen Abteilung I (Personalwesen und Budget).

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Schneider, Oswald Oscar Richard Aus Schneiders beruflicher Tätigkeit gingen frühe Aufsätze über Kriegssteuern und Die Kriegsfinanzen der europäischen Großmächte in Schmollers Jahrbuch (1915) sowie in den Jahren 1921-1923 eine Reihe von Berichterstattungen im Weltwirtschaftlichen Archiv über die Finanzlage der Großmächte hervor. Zum Wintersemester 1921/22 erhielt er einen Lehrauftrag der Universität Kiel, und bereits im April 1922 wurde er dort zum ordentlichen Honorar-Professor mit Lehrauftrag für Finanzwissenschaft, Handelspolitik und Geschichte des Welthandels ernannt. Zum 1.4.1928 wurde Schneider - der seit seiner erweiterten Dissertation von 1912 keine Monographie und seit 1923 auch keine weiteren Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert hatte - auf Vorschlag der dortigen Rechts- und Staatswirtschaftlichen Fakultät zum ordentlichen Professor für Staatswissenschaften an der Universität Königsberg i.Pr. ernannt und schied aus dem Auswärtigen Amt aus. Bereits kurz danach leitete Stresemann Bemühungen ein, eine Rückkehr Schneiders auf seinen Posten als Leiter der Abteilung I zu erreichen. Wohl auf Stresemanns Veranlassung schrieb Reichspräsident v. Hindenburg im Juni 1928 an den Preußischen Wissenschaftsminister, die Ersetzung Schneiders im Auswärtigen Amt bereite „unüberwindliche Schwierigkeiten", es müsse daher „von Reichswegen" ein Weg gefunden werden, den für die Aufgabe des Personalchefs im Auswärtigen Amt besonders geeigneten Schneider dem Auswärtigen Amt zu erhalten. Da Schneider „auf eine akademische Betätigung zu verzichten nicht in der Lage" sei, sollte geprüft werden, ob Schneider „nicht in Berlin zugleich eine akademische Tätigkeit eröffnet werden könnte." Der Wissenschaftsminister gab den „dringenden Wunsch" des Reichspräsidenten unverzüglich (14.6.1928) an die Berliner Philosophische Fakultät weiter und bat um „beschleunigte Stellungnahme" zu einer Ernennung Schneiders zum Honorarprofessor. Nur drei Tage später unterzeichneten die Mitglieder der Fakultät (v. Bortkiewicz, Gottl-Ottilienfeld, Herkner, Jastrow, Meinecke, Sombart u.a.) die lakonische Erklärung, daß „der Ernennung des Ministerialdirektors Dr. Schneider zum Honorarprofessor von wissenschaftlicher Seite aus Bedenken nicht entgegen stehen", und am 28.8.1928 erhielt Schneider, der inzwischen zum 1.8.1928 aus seiner Stellung als ordentlicher Professor an der Königsberger Universität wieder ausgeschieden und ins Auswärtige

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Amt zurückgekehrt war, die Urkunde über die Ernennung zum Honorarprofessor in der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin. Wenige Monate nach dem Tod Stresemanns (Oktober 1929) schied Schneider wieder aus dem Auswärtigen Amt aus und wurde mit Schreiben vom 10.6.1930 erneut (mit Wirkung ab 1.8.1930) zum ordentlichen Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Königsberg (Nachfolge Teschemacher) und zugleich zum geschäftsfuhrenden Direktor des Instituts für Ostdeutsche Wirtschaft an der Universität ernannt. Sein Ausscheiden aus dem Auswärtigen Amt stand möglicherweise nicht nur im Zusammenhang mit dem Wechsel in der Leitung des Ministeriums, sondern auch mit einer Reihe von Rügen des Reichsrechnungshofes an der Haushaltsführung des Auswärtigen Amtes. Am 2.6.1933 wurde Schneider von den Nationalsozialisten zwangsweise beurlaubt und wenig später, am 23.6.1933, auf Anordnung Görings in Königsberg verhaftet, nach Berlin überführt und dort im Preußischen Ministerium des Innem über in seiner Wohnung beschlagnahmte geheime Dokumente und Aufzeichnungen aus den Jahren seiner Tätigkeit im Auswärtigen Amt verhört. Nach Abschluß der Vernehmungen wurde ihm Ende Juli mitgeteilt, daß weitere gegen ihn in Königsberg erhobene Anschuldigungen bestehen. Ein ordentliches Gerichtsverfahren führte am 2.9.1933 schließlich zu dem Beschluß des Oberlandesgerichts Königsberg, daß die Anschuldigungen nicht zutreffen und Schneider daher sofort aus der Haft zu entlassen sei. Nur zwei Stunden nach der gerichtlich angeordneten Freilassung wurde Schneider auf Veranlassung des Gauleiters Koch emeut verhaftet; erst am 23.9.1933, nachdem inzwischen auch das Reichsaußenministerium bei Göring interveniert hatte, erfolgte die emeute Freilassung. Schneider wurde zwangsweise pensioniert und lebte bis Kriegsende zurückgezogen in Berlin, sein Paß wurde eingezogen. Im Juli 1945 wurde Schneider ordentlicher Professor und vorläufiger Prorektor der Wirtschaftshochschule im Ostsektor von Berlin, am 8.6.1946 Ordinarius der Volkswirtschaftslehre an der Universität Berlin und Direktor des Instituts für Finanzwesen. Im Herbst 1949 unternahm er Schritte zur Vorbereitung eines Wechsels in den Westen, Ende März 1950, kurz nach Vollendung seines 65. Lebensjahres, verließ er ohne offizielle Abmeldung und damit auch ohne Emeritierung die

Schueck, Walter Humboldt-Universität und begab sich nach Westdeutschland. Mit Schreiben des nordrhein-westfälischen Kultusministers vom 20.4.1950 erhielt er auf Antrag der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät an der Bonner Universität einen zeitlich nicht befristeten Lehrauftrag Uber die Finanzwirtschaft fremder Staaten sowie die Wirtschaft Ostdeutschlands und Osteuropas. Bis 1962 war Schneider fortan als 'Gastprofessor' an der Bonner Fakultät tätig. Eine geplante größere Monographie über Die Sowjetwirtschaft und ihre Stellung in der Weltwirtschaft konnte er nicht mehr vollenden. Schriften in Auswahl: (1910) Bismarck und die preußisch-deutsche Freihandelspolitik (1862-1876), in: Jahrbücher für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Bd. 34, S. 1074-1108 (Diss.). (1912) Bismarcks Finanz- und Wirtschaftspolitik. Eine Darstellung seiner volkswirtschaftlichen Anschauungen (Staats- u. sozialwissenschaftliche Forschungen, Heft 166), München u.a. (1913) Das Petroleummonopol. Seine Notwendigkeit, Möglichkeit und Organisation, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 37, S. 333-372. (1915) Die Kriegsfinanzen der europäischen Großmächte, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 39, S. 1327-1378. (1916) Zur Methodik der theoretischen Handelspolitik, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 40, S. 409-420. (1933) Die Frage der wirtschaftlichen Unabhängigkeit Polens. Eine wirtschaftspolitische Studie (Schriften des Instituts für Ostdeutsche Wirtschaft an der Universität Königsberg i.Pr., N.F. Bd. 6), Königsberg i.Pr. (1947) Das Gesetz vom wachsenden Finanzbedarf, in: Deutsche Finanzwirtschaft, Bd. 1 (1), S. 19-23. (1951/52) Die Etappen der sowjetischen Finanzwirtschaft, in: Finanzarchiv, N.F. Bd. 13, S. 245-295. (1953) Osteuropa und der deutsche Osten. Fragen der Osteuropaforschung in der Gegenwart (Osteuropa und der Deutsche Osten. Beiträge aus For-

schungsarbeiten und Vorträgen der Hochschulen des Landes NordrheinWestfalen, 1), Köln-Braunsfeld. Quellen: Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: Personalakten, SCH 311 Bd. 1; Π, Bl. 14, 14R, 15; UA Phil.Fak Nr. 1473 (II) Bl. 539 ff.; UA UK Sch 182 Bl. 1-3; Universität Bonn, Rechts- u. Staatswissenschaftlichen Fakultät, Handakte Oswald Schneider; Wer ist Wer? ( "1951), ( 12 1955); Kürschner 1926, 1931, 1935, 1950; Vereinigung der Sozial- u. Wirtschaftswissenschaft!. Hochschullehrer (1929); F. Volbehr/R. Weyl (1956): Professoren und Dozenten der Christian-Albrechts-Universitäl zu Kiel 1665-1954, 4. Aufl., Kiel; Akten zur deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945, Serie B: 1925-1933, Bd. 4-16, Serie C: 1933-1937, Bd. 1,2 (1971) Göttingen 1970-1981; K.D. Erdmann/H. Booms (Hrsg.): Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Die Kabinette Brüning I und Π, Bd. 1, Boppard am Rhein. Christian Scheer

Schueck, Walter, geb. 4.4.1897 in Krotoschin (Posen) Schueck schlofi sein Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften im Jahr 1922 mit einer Dissertation zum Thema Internationales Arbeitsrecht im Friedensvertrag von Versailles (1922) an der Universität Würzburg erfolgreich ab. Anschließend ging er für einige Jahre nach Südamerika. Dort arbeitete er als Korrespondent für die Frankfurter Zeitung und den Hamburger Wirtschaftsdienst. 1929 kehlte er nach Deutschland zurück, wo er bis ins Jahr 1933 an der Handelshochschule Berlin als Dozent tätig war. 1934 emigrierte Schueck in die Niederlande. Dort verliert sich seine Spur. In seinen Beiträgen zur Ökonomie beschäftigte sich Schueck hauptsächlich mit der Praxis und der Organisation des Im- und Exporthandels. Während seines langjährigen Aufenthalts in Südamerika fiel ihm auf, daB eine Darstellung des Im- und Exportgeschäfts zu seiner Zeit in der deutschsprachigen Literatur völlig fehlte. Die Überwindung dieses Informationsmangels war nach Schueck eine zentrale Voraussetzung, um den internationalen Handel, der für ihn eine der wichtigsten Quellen des Wohlstands der Nationen darstellte, nach

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Schüller, Richard dem Ende des Ersten Weltkriegs wieder zu stärken und voranzutreiben. In der Arbeit Organisation und Betrieb des brasilianischen Importhandels (1926), die während Schuecks Zeit als Korrespondent in Südamerika entstand, hat er daher ausfuhrlich die Praxis des brasilianischen Importhandels beschrieben. Hierbei beantwortete er beispielsweise die Frage, wer als Importeur in Brasilien überhaupt in Betracht kommt und wie der Absatz des Importeurs in Brasilien organisiert ist. Neben einer Darstellung des Anteils der deutschen Güter an den gesamten brasilianischen Einfuhren sowie den Wegen, die die importierten Waren dort im Lande einschlagen, erörterte er auch das brasilianische Zollwesen sowie verschiedene Methoden der Einfuhrfinanzierung und der Absicherung der Handelsgeschäfte. In einer weiteren Arbeit, die Schueck sowohl als Lehrbuch als auch als Handbuch verstanden wissen wollte, widmete er sich der Betriebslehre des Exports (1931). Auch hier beschrieb er, nun allerdings aus Sicht des Ausfuhrlandes, die Organisation und Praxis des Güterhandels, wobei er Deutschland als Beispiel für ein vorzugsweise industrielle Fertigwaren exportierendes Land heranzog. Seine Ausführungen beschränkten sich dabei aber nicht nur auf eine bloBe Beschreibung der bestehenden Exportpraxis und der Institutionen, die diese maßgeblich bestimmen. Er wies vielmehr auch auf bestehende Probleme im Ausfuhrhandel hin und entwickelte zugleich neue Methoden und Verfahren, nach denen die Exporteure bei der Bearbeitung fremder Märkte grundsätzlich vorgehen sollten, um sich dauerhaft leistungsfähig für den Export zu machen und sich vor etwaigen Gefahren zu schützen. Insgesamt hat Schueck mit seinen auch heute noch lesenswerten detaillierten Untersuchungen und Analysen des Im- und Exporthandels einzelner Länder dazu beigetragen, den allgemeinen Kenntnisstand über die seinerzeit zumeist noch als 'Geheimwissenschaft' gepflegte Praxis dieser Handelsgeschäfte wesentlich zu verbessern. Schriften in Auswahl: (1922) Internationales Arbeitsrecht im Friedensvertrag von Versailles. Eine völkerrechtliche Studie, Würzburg (Diss.). (1926) Organisation und Betrieb des brasilianischen Importhandels, in: Weltwirtschaftliche Abhandlungen, Bd. 9.

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(1931)

Handbuch der Exportpraxis. Betriebslehre des Exports unter besonderer Berücksichtigung der Ausfuhr deutscher Fertigwaren, Stuttgart.

Quellen: SPSL 238/6. Markus Schreyer

Schüller, Richard, geb. 28.5.1870 in

Brno/

Brünn (Mähren), gest. 14.5.1972 in Georgetown/Washington, D.C Aus einer jüdischen Textilindustriellenfamilie stammend, studierte Schüller an der Universität Wien, wo er 1892 bei Carl Menger, dem Begründer der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, zum Dr. iuris promovierte. Bereits in seinen Studentenjahren betätigte er sich als Journalist, u.a. bei der Wiener Allgemeinen Zeitung. Ermutigt von Menger, unternahm er 1896 als Stipendiat Auslandsstudien in Paris und London. Als junger Mann scheint Schüller sehr bescheiden und nicht sehr ehrgeizig gewesen zu sein und wollte sich eigentlich der Wissenschaft widmen oder Redakteur einer Zeitung werden. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen schreibt er lakonisch: „Mein Ideal war außerordentlicher Professor zu werden (nicht ordentlicher, weil er zu viel vortragen und prüfen muß). Die Schwierigkeit war, daß ich ein Jude bin. Bis dahin und eventuell dauernd als Erwerb hoffte ich Redakteur des Handels-Museums (200 Kronen) oder ähnliches zu werden, was für meine Bedürfnisse genug schien. Mein Beruf sollte die wissenschaftliche Arbeit bleiben" (Nautz 1990, S. 97). Gegen den Widerstand namhafter Professoren, aber mit der tatkräftigen Intervention seines Doktorvaters Menger, habilitierte er sich 1899 an seiner alma mater mit der Arbeit Die Wirtschaftspolitik der Historischen Schule (die er in London geschrieben hatte) und wurde Privatdozent an der Universität Wien. Auf Empfehlung seines Förderers Carl Menger erhielt Schüller im Winter 1897 im Niederösterreichischen Gewerbeverein eine gutbezahlte Position als Vizesekretär. Doch bereits im Juli 1898 begann er seine lange und äußerst erfolgreiche Tätigkeit im Handelsministerium in Wien. Er wurde zum Experten in Fragen der Zoll- und Handelspolitik und veröffentlichte 1905 sein von Menger sehr gepriesenes Hauptwerk (siehe Neue Freie Presse v. 1.6.1905) Schutzzoll und Freihandel:

Schüller, Richard Die Voraussetzungen und Grenzen ihrer Berechtigung. Diesem verdankte er seine Ernennung zum a.o. Professor der Universität Wien im Jahre 1906; erst 1930, nach einer langen Karriere als Diplomat wurde er im Alter von 60 Jahren zum Honorarprofessor der Universität Wien ernannt. Schüllers steile Beamtenkarriere im Handelsministerium (1913 Ministerialrat und 1917 Sektionschef) und später als internationaler Diplomat ließen ihm nur wenig Zeit für die Wissenschaft. Bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk (1918) war er Mitglied der österreichisch-ungarischen Delegation. Otto Bauer verpflichtete ihn danach als Leiter der wirtschaftspolitischen Sektion im Staatsamt des Äußeren und schlug bei seiner Demissioniening als Außenminister im Juli 1919 Schüller sogar als Nachfolger vor, was Schüller ablehnte, weil er „immer ein Beamter und kein Politiker gewesen sei". Österreichs Erste Republik vertrat Schüller bei allen wesentlichen internationalen Abkommen und Konferenzen, so bei den Friedens Verhandlungen in St. Germain. Ab 1926 war er Mitglied und zeitweise Präsident des ökonomischen Komitees des Völkerbundes in Lausanne. Schüller erreichte 1932 das Pensionsalter, doch wurde er in diesem Jahr zum Sondervertreter der österreichischen Regierung beim Völkerbund ernannt. Anfang 1938 kehrte er nach Wien zurück. Nach der nazideutschen Einvernahme Österreichs im März 1938 wollte er schließlich in Pension gehen, doch wurde ihm nur eine Beurlaubung gestattet. Während seine Familie bald in die Schweiz bzw. nach Italien emigrierte, blieb er selbst vorläufig in Wien. Obwohl amtlicherseits - selbst von der Gestapo, die seine Wohnung durchsucht hatte, - seinem Ansuchen vom Juni 1938 um Ausreise nach Italien nichts im Wege stand, mußte Schüller im Juli überstürzt aus Österreich flüchten. Eine Hetzkampagne gegen ihn ließ ihn seine Verhaftung befürchten. Zu Fuß ging er über die Ötztaler Alpen nach Bozen, wo Mussolini, den er aus seiner Diplomatenzeit gut kannte, seinen Aufenthalt persönlich per Telegramm bewilligte und ihn als Freund in Italien willkommen hieß. Schon 1939 reiste Schüller weiter über Paris nach London, wo bereits ein Teil seiner Familie lebte. Hier leitete er die 'Europe Study Group', eine private und inoffizielle , aber von Chatham House anerkannte Forschergnippe, die sich mit der politischen und wirtschaftlichen Zukunft des Donauraumes befaßte. Exilorganisationen, die sich um

die Selbständigkeit Österreichs bemühten, suchten seinen Rat. Aus der Zeit des Londoner Exils sind keine Manuskripte oder Publikationen erhalten. Schüller emigrierte 1941 weiter in die USA, wo er als Visiting Professor an die New School for Social Research in New York berufen wurde, an der er bis 1952 lehrte und forschte. Seine politischen Bemühungen um die Befreiung Österreichs setzte er in USA fort. So wirkte er im 'Free Austrian Movement', im 'Austrian National Committee' und ab November 1942 im 'Military Committee for the Liberation of Austria', dessen Vorsitzender Otto von Habsburg war und den erfolglosen Versuch unternahm, ein österreichisches Bataillon innerhalb der US-Armee aufzustellen. An der New School for Social Research befaßte er sich in Memoranden und kurzen Aufsätzen vorerst mit der politischen und wirtschaftlichen Neuordnung des Donauraumes und der Problematik der Sicherheitspolitik der europäischen Kleinstaaten nach dem Kriege. So kam er zu dem Schluß, daß Neutralität nicht geeignet sein würde, die Sicherheit der Kleinstaaten zu gewährleisten, sondern letztere nur durch die westlichen Großmächte garantiert werden könnte. Er bestand auf einer Entmonopolisierung insbesondere der deutschen Wirtschaflsstruktur. Schüller stand einer Integration Europas per Zollunion sehr skeptisch gegenüber, da diese seiner Meinung nach einen Grad an politischer Einheit erfordern würde, der unrealisierbar und daher destabilisierend wäre. Deshalb empfahl er die Schaffung einer europäischen Freihandelszone. Schriften in Auswahl: (1895) Die klassische Nationalökonomie und ihre Gegner. Zur Geschichte der Nationalökonomie und Sozialpolitik, Berlin. (1899) Die Wirtschaftspolitik der Historischen Schule, Berlin (Habil.). (1905) Schutzzoll und Freihandel: Die Voraussetzungen und Grenzen ihrer Berechtigung, Wien/Leipzig. (1911a) Die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkte, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 33, S. 715-743. (1911b)

Die Nachfrage nach Arbeitskräften, in: ebd., S. 37-76.

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Schumacher, E(rnst) F(ritz) (1915)

(1925)

(1928)

(1930)

Die Ansprüche der Arbeiter, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Bd. 39, S. 33-61 und S. 385-409. Die äußere Wirtschaftspolitik Österreich-Ungarns (zus. mit G. Gratz), Wien. The Economic Policy of AustriaHungary During the War in its External Relations (Mitverfasser). Der wirtschaftliche Zusammenbrach Österreich-Ungarns: Die Tragödie der Erschöpfung (zus. mit G. Gratz), Wien.

Quellen: Ackerl, IiWeissensteiner, F. (Hrsg.) (1992): Österreichisches Personenlexikon, Wien; Muchitsch, W ./Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (1992): Österreicher im Exil: Großbritannien 1938-1945. Wien; Nautz, J. (1990): Unterhändler des Vertrauens. Aus den nachgelassenen Schriften von Sektionschef Dr. Richard Müller, Wien/München; Weibel, PVStadler, F. (Hrsg.) (1993): Vertreibung der Vernunft: The Cultural Exodus from Austria. Wien; SPSL 552/3; Β Hb I. Albert Heinz Zlabinger

Schumacher, E ( r n s t ) F(ritz), geb.

16.8.1911 in Bonn, gest. 4.9.1977 in der Schweiz

Schumacher entstammte einer angesehenen Bremer Familie. Sein Vater Hermann Schumacher war Professor der Nationalökonomie, der nacheinander an den Universitäten Kiel, Köln, Bonn und Berlin lehrte. Der Sohn studierte an der Universität Bonn, u.a. bei -» Joseph A. Schumpeter, absolvierte 1929 und 1930 ein Auslandsstudium in Cambridge u.a. bei Keynes, Pigou und Robertson und war 1930 bis 1932 als Rhodes-Stipendiat am New College in Oxford. Von dort wechselte er an die Columbia University, New York, wo ihm 1933 eine Stelle als Teaching Assistant angeboten wurde. Er entschied sich jedoch, nach Deutschland zurückzukehren und sich ein eigenes Urteil über das Naziregime zu bilden. Sein Studium blieb dadurch ohne formellen Abschluß. Auch später erwarb er keinen akademischen Grad. Die Universität Clausthal verlieh ihm 1963 den Ehrendoktor und die Honorarprofessur.

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Von den Zustanden in Nazideutschland zunehmend abgestoßen, emigrierte Schumacher 1937 nach England als persönlicher Referent des damaligen Generaldirektors von Unilever. 1940 wurde er für einige Monate als feindlicher Ausländer interniert. Im Lager lernte er -> Frank A. Burchardt vom Oxford University Institute of Statistics kennen. Nach seiner Entlassung schlug er sich zunächst als Landarbeiter durch, konnte aber 1941 auf Einladung Burchardts nach Oxford gehen. Dort arbeitete er bis 1945 am Institute of Statistics. In dieser Zeit war er stark von Keynes beeinflußt und wandte dessen Theorie auf Probleme des internationalen Handels und Kapitalverkehrs an. Er war zusammen mit Nicholas Kaldor, Joan Robinson u.a. Verfasser des Beveridge Report und trug wesentlich dazu bei, Beveridge von Keynes' Ideen zu überzeugen. 1943 veröffentlichte er ein Memorandum über eine multilaterale Institution für das Clearing der internationalen Zahlungsströme nach dem Kriege (1943b), das in den Grundgedanken mit dem Keynes-Plan übereinstimmte. Als Keynes in den Verhandlungen von Bretton Woods unter amerikanischem Druck von seinem Plan abrückte, attackierte Schumacher ihn 1944 in drei Artikeln in der Times. Zusammen mit Michal Kalecki schlug er 1943 einen International Investment Board zur Finanzierung von Nachkriegsinvestitionen vor (1943a). Sein ökonomisches Denken war, den Nöten der Zeit entsprechend, auf die Wiederherstellung und Sicherung von Vollbeschäftigung und Wachstum konzentriert. Er schrieb Leitartikel für den Economist und den Observer und nahm an Redaktionskonferenzen der sozialistischen Wochenzeitschrift Tribune teil, wo er gelegentlich George Orwell in Sachfragen beriet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Schumacher britischer Staatsbürger, schlug jedoch abermals die akademische Karriere aus, um nach Deutschland zurückzukehren, wo er fur die Alliierte Kontrollkommission arbeitete. Er war vor allem mit dem Wiederaufbau des deutschen Kohlebergbaus beschäftigt. 1950 wurde er zum wirtschaftlichen Berater, 1963 zum Chefstatistiker des englischen National Coal Board ernannt, der obersten Behörde der nach dem Kriege verstaatlichten Kohleindustrie. In dieser Behörde war er bis zu seiner Pensionierung 1970 tätig. Seine Stellung dort war nicht einfach; er war ein viel zu unabhängiger Denker, um in einer Beamtenhierarchie nicht an-

Schumacher, E(rnst) F(ritz) zuecken. Doch hat sie in mehrfacher Hinsicht den Rahmen für die Entwicklung seines ökonomischen Denkens gesetzt. Denn die Beschäftigung mit der Energieversorgung der Industrieländer führte ihn zur Problematik der unterentwickelten Länder, die Beschäftigung mit dieser aber zeigte ihm die industriellen Wirtschaftsprobleme in neuem Licht. Auslösend wirkten zwei längere Aufenthalte in Burma 19SS und Indien 1961, wohin er vom Coal Board als Berater der dortigen Regierungen entsandt worden war. Schumacher war beeindruckt von den arbeitsintensiven und kapitalarmen Wirtschaftsstnikturen, die er dort vorfand, und wandte sich gegen die herrschende Vorstellung, man müsse die arbeitsparenden und kapitalintensiven Technologien der reichen Länder möglichst schnell auf die armen übertragen. Denn in diesen, so argumentierte er, war Kapital knapp und Arbeit im Überfluß verfügbar. Zudem war die soziale Struktur durch ein funktionierendes Miteinander von Dörfern, kleinen und mittleren Städten und wenigen Großstädten gekennzeichnet, das durch die schnelle Übertragung der industriellen Technologien in kurzer Zeit zerstört werden würde. Die Industrie würde sich vorzugsweise in den Großstädten ansiedeln, sie würde die arbeitsintensiveren Produktionsmethoden in den Dörfern und Kleinstädten unrentabel machen, die daraufhin einsetzende Landflucht würde den ländlichen Raum ausbluten lassen, die großen Städte zu unregierbaren Agglomerationen aufblähen und in ihnen ein überwiegend beschäftigungsloses Proletariat schaffen. Was Schumacher stattdessen vorschlug, war ein Mittlerer Weg, der sich mit zwei Schlagwörtern beschreiben läßt: Mittlere Größe (intermediate size) und Mittlere Technologie (intermediate technology). „Intermediate" bedeutete: Nicht von 1 auf 100, sondern auf 10. Denn die Größe 100 ist das Ergebnis einer Fehlentwicklung in den Industrieländern, die von den Entwicklungsländern nicht nachvollzogen werden sollte. Schumacher verbreitete diese Aussage in Aufsätzen und Vorträgen, die er 1973 zu dem Buch Small is Beautiful (deutsche Ausgabe: Rückkehr zum menschlichen Maß) zusammenfaßte. Das Buch wurde ein Bestseller, die Lehre aber von der ökonomischen Profession kaum beachtet. Im Kem ging es Schumacher um die Erhaltung funktionsfähiger sozialer Strukturen. In den armen Ländern ist das zentrale Problem die offene oder

versteckte Unterbeschäftigung; aber solange die Wohngemeinden klein und intakt sind, wird die Proletarisierung durch Eigenproduktion und Nachbarschaftshilfe verhindert. Um die Landflucht zu verhindern, sollte die Schaffung neuer Arbeitsplätze auf die Dörfer und Kleinstädte konzentriert werden. Die Regionen sollten sich selbst verwalten, etwa wie die Kantone in der Schweiz, die Staaten sollten nach dem Prinzip der Subsidiarität föderativ gegliedert sein, alles unter dem Vorzeichen, daß dadurch dem Sog der industriellen Konzentration entgegengewirkt würde. Hinter dieser Vorstellung stand ein Bild vom Menschen und seinen Bedürfnissen, das Schumacher in einer Reihe von Vorträgen entwickelte; diese wurden 1979 zu dem nachgelassenen Buch Good Work zusammengefaßt. Der zentrale Gedanke findet sich bereits in dem 196S erschienenen Aufsatz Buddhist Economics. Schumacher wandte sich dagegen, daß die Arbeit von westlichen Ökonomen als notwendiges Übel betrachtet wird, als Erwerbsmittel, Kostenfaktor und Quelle von Arbeitsleid, als Input in einen Produktionsprozeß, dessen Ergebnis ausschließlich unter dem Aspekt der Hervorbringung materieller Güter gesehen wird. In Buddhist Economics stellte er dem eine dreifache Funktion der Arbeit entgegen: Sie gibt dem Menschen die Chance, seine Fähigkeiten auszuüben und zu entfalten; sie vereinigt ihn mit anderen Menschen zu einer gemeinsamen Aufgabe; und sie verschafft ihm die Mittel fiir ein menschenwürdiges Dasein. Unter diesem Aspekt ist es, wie er schrieb, ein Verbrechen, die Arbeit so zu organisieren, daß sie dem Arbeitenden sinnlos und langweilig erscheint, daß sie seine Gesundheit ruiniert und seine Fähigkeiten verkümmern läßt. Freizeit und Muße als Alternative zur Arbeit aufzufassen, ist bereits ein Zeichen fur ein völliges Mißverstehen dieser Funktionen: Muße ist, von ihnen her gesehen, Entsprechung und Ergänzung der Arbeit, nicht deren Ziel oder Ersatz. Es ging ihm in der Entwicklungspolitik also nicht nur um die Anpassung an die in den Entwicklungsländern vorhandenen Strukturen. Es ging ihm vor allem darum, diese in ihren positiven, menschengemäßen Seiten zu sehen und zu erhalten. Menschengemäß waren für ihn überschaubare Strukturen, an deren Gestaltung die einzelnen mitwirken, die sie bejahen und in denen zu leben sie als sinnvoll empfinden können. Ausufernde Größe ist unter diesem Aspekt nicht menschengemäß, weder in einem Zentralstaat noch in einer Stadt

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Schumacher, E(rnst) F(ritz) noch in einem Unternehmen. Ebenso ist die Technologie nur menschengemäB, wenn sie die Kraft und das Geschick des Arbeitenden erhöht, nicht aber wenn sie ihn zum bloßen Bediener einer Maschine, also zum „Sklaven eines Sklaven" macht. So war auch die Idee der Mittleren Technologie, die von allen Vorstellungen Schumachers am bekanntesten geworden ist, nicht aus der Not der unterentwickelten Länder geboren, sondern aus einer ganzheitlichen Anschauung. Mittlere Technologie bedeutet nicht Arbeitsintensität um ihrer selbst willen. Gemeint ist angemessene Technologie. Den Maßstab für die Angemessenheit leitete Schumacher zum einen aus dem skizzierten Menschenbild ab, zum anderen aus der jeweiligen Situation. Die Entwicklungsländer müßten ihre Entwicklung finanzieren können, also müßten die Investitionen gering, dafür aber die Kreativität hoch sein. Wichtiger als Finanzhilfen waren in seinen Augen daher Information und Erziehung, eine Erziehung allerdings, die von den Gegebenheiten des Landes ausging, nicht von den Erfordernissen einer in einem anderen Land entwickelten Technologie. Kapitalintensive Anlagen in unterentwickelten Ländern werden meist weit unter ihrer Nennproduktivität genutzt, weil sie den Gegebenheiten nicht entsprechen. Sie setzen unternehmerische Fähigkeiten voraus, die noch gar nicht vorhanden sind; die angemessene Technologie dagegen bringe diese Fähigkeiten hervor. Mit seinen Vorstellungen setzte Schumacher sich in scharfen Gegensatz zur herrschenden Lehre, die seine Bücher denn auch mit Schweigen überging. Er bestritt, daß Entwicklung vom Einsatz kapitalintensiver Technologien am wirksamsten gefordert wird. Er kämpfte gegen das Vorurteil, die Anwendung Mittlerer Technologie sei ein Rückfall in vorindustrielle Produktionsverfahren. Er wandte sich gegen den Vorrang der Großtechnologie. Er widersprach auch dem Argument, die Technologie der Entwicklungsländer müsse auf dem Stand der Industrieländer sein, um im Export mithalten zu können; die Fixierung auf den Export hielt er für neokolonialistisch. Entwicklung sollte zunächst einmal darauf gerichtet sein, die heimischen Märkte zu versorgen. Vor allem aber hielt er Entwicklung überhaupt nicht für ein primär ökonomisches Problem, sondern für das Ergebnis einer ganzheitlichen Politik, die an den Defiziten und Möglichkeiten des einzelnen Entwicklungslandes ansetzt und diejenigen neuen Aktivitäten bevorzugt, die in die vorhandenen Strukturen so

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integriert werden können, daß diese nicht zerstört, sondern dazu angeregt werden, sich organisch und behutsam weiterzuentwickeln. Konnten die meisten Ökonomen schon mit Schumachers entwicklungspolitischen Vorstellungen nichts anfangen, so verfehlte er ihr Verständnis erst recht mit dem Anspruch, diese Vorstellungen seien auch auf die Wirtschaft der Industrieländer übertragbar. Denn gerade für diese gilt, daß die Strukturen zu groß werden, als daß Menschen sich in ihnen noch verwirklichen könnten; daß die hochentwickelten Technologien von immer weniger Menschen verstanden und beherrscht werden; daß die Arbeit bedeutungslos wird, die Menschen isoliert und ihre Fähigkeiten verkümmern läßt. Die Idee der Mittleren Technologie ist daher auch auf die industrielle Wirtschaft gemünzt. Sie trifft sich hier mit der Grundauffassung, die Schumachers Arbeit für den National Coal Board am stärksten geprägt hat: der Forderung nach sorgsamem Umgang mit den naturgegebenen Ressourcen. Schließlich gehören auch die Menschen und ihre sozialen Strukturen dazu. Die Frage des vernünftigen Umgangs mit den Energiequellen hat Schumacher schon in den 1950er Jahren beschäftigt. Er trat so lange es ging dafür ein, die Kohle nicht zu subventionieren, sondern zu kostendeckenden (also Verschwendung verhindernden) Preisen zu verkaufen. Er übersah anfangs die ruinöse Konkurrenz, die der Kohle in dem billigen Nahostöl entstand, und ließ sich sogar zu Prognosen über eine baldige Erdölverknappung hinreißen, die ihm in den Augen seiner Kritiker sehr geschadet haben. Er verurteilte die Begeisterung für die Atomenergie und warnte früh vor den Entsorgungsproblemen. Aber erst in den 1970er Jahren rang er sich dazu durch, für die Erschließung der erneuerbaren Energiequellen einzutreten, namentlich der Sonnenenergie, von der er früher geglaubt hatte, sie sei zu vertretbaren Kosten nicht nutzbar zu machen. In Small is beautiful benutzte er den diffusen Eintritt des Sonnenlichts als Argument gegen hochzentralisierte Produktions- und Lebensweisen, indem er darauf hinwies, daß die Selbstversorgung mit Sonnenenergie aus Solarzellen zwar für kleinere Verbrauchseinheiten ausreichen würde, nicht aber fur Hochhäuser und großtechnologische Produktionsanlagen. Einen Überblick über seine Arbeiten zur Energieproblematik gibt der 1982 erschienene Sammelband Schumacher on Energy.

Schumpeter, Joseph Alois Eine abschließende Würdigung von Schumachers ökonomischem Werk ist deshalb nicht möglich, weil er seine Erkenntnisse niemals im Zusammenhang formuliert hat. Sie sind in Vorträgen und Aufsätzen niedergelegt, die als Gelegenheitsarbeiten meist neben seiner eigentlichen Berufstätigkeit entstanden. DaB die wichtigsten davon in drei Büchern zusammengestellt und so einem gröBeren Publikum immerhin zugänglich sind, ändert nichts an dem Mangel an Geschlossenheit, der auf der Unterschiedlichkeit ihrer Anlässe beruht. Hinderlich ist auch, daB Schumacher keinen Sinn dafür hatte, Gemeinsamkeiten mit den wenigen anderen Ökonomen in Vergangenheit und Gegenwart herauszuarbeiten, die ähnliche Gedanken wie er verfolgt hatten oder verfolgten. Mit zunehmender Zeit befand er sich mehr in prinzipiellem statt graduellem oder punktuellem Gegensatz zu der Profession und suchte vielleicht auch deshalb unter ihren Mitgliedern keine Verbündeten. So wird ein endgültiges Urteil erst möglich sein, wenn es jemand unternimmt, Schumachers Arbeit in eine Gesamtschau der Ansätze zu einer ökologischen Ökonomik einzuordnen. Schumacher selbst hatte, als sein Ruhestand ihm die Zeit dazu gegeben hätte, wohl kein Interesse mehr daran. Ihm war es wichtiger, seine philosophischen Vorstellungen im Zusammenhang zu formulieren. Sie sind in dem Buch Α Guide for the Perplexed niedergelegt, das 1977 bald nach seinem Tode erschien. Es ist von seinen Büchem dasjenige, das am ehesten den Eindruck eines abgerundeten Gedankengangs erweckt. Seine Bedeutung fur den ökonomisch interessierten Leser liegt darin, daB Schumacher hier umfassender als in seinem 1973 veröffentlichten Aufsatz Does Economics help? An Exploration of Meta-Economics die Grenzen erkennen läBt, die der Ökonomie gezogen sind, und den Blick weitet fur die Ganzheit, deren der Ökonom sich bewußt sein muß, wenn er seine Instrumente an einem ihrer Teile ansetzt.

Schriften in Auswahl: (1943a)

(1943b)

International Clearing and Long-term Lending (zus. mit M. Kalecki), in: Oxford University Institute of Statistics Bulletin, Bd. 5, Supplement 6, S. 29-33. Multilateral Clearing, in: Economica, Bd. 10, S. 150-165.

(1965)

(1971)

(1972)

(1973a)

(1973b)

(1974)

(1977) (1979) (1979) (1982)

Buddhist Economics, in: Wint, G. (Hrsg.): Asia. A Handbook, London, S. 695-701. Industrialization through 'Intermediate Technology', in: Robinson, R.E. (Hrsg.): Developing the Third World: The Experience of the Nineteen-Sixties. London. The Work of the Intermediate Technology Development Group in Africa, in: International Labour Review, Bd. 106, S. 65-92. Does Economics Help? An Exploration of Meta-Economics, in: Robinson, J. (Hrsg.). After Keynes, Oxford, S. 26-36. Small is beautiful. A Study of Economics as if People Mattered, London (dt Übers.: Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für Wirtschaft und Technik, Reinbek 1977). Es geht auch anders. Jenseits des Wachstums; Technik und Wirtschaft nach Menschenmaß (Aufsätze), München. Α Guide for the Perplexed, London. Rat für die Ratlosen, Reinbek. Good Work, London. Schumacher on Energy. Speeches and Writings of E.F. Schumacher, hrsg. von G. Kirk, London.

Bibliographie: Wood, Β (1984): Alias Papa. A Life of Fritz Schumacher, London. King, J.E. (1988): E.F. Schumacher, in: King, J. E. (Hrsg.): Economic Exiles. New York, S. 212233. Quellen: BHb II; NP; WA. Gerhard Scherhorn

Schumpeter, Joseph Alois, geb. 8.2.1883 in Triesch (Mähren), gest. 8.1.1950 in Taconic, Connticut Schumpeter ist nicht der typische deutsche Ökonom im Exil, obwohl er im Exil lebte und dies auch nach 1933. Zunächst einmal ging er von Bonn nach Harvard, nicht aber, um den Nationalsozialisten auszuweichen, sondern weil der er-

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Schumpeter, Joseph Alois hoffte Ruf an die Berliner Universität mit Sicherheit ausbleiben würde. Er war dort aber gleichwohl recht bald im Exil, in dem Sinne, daß er vielen Exilwissenschaftlem tatkräftig half, u.a. durch das Ausstellen von Bürgschaften, um ihre Niederlassung in den Vereinigten Staaten überhaupt zu ermöglichen. Seine Tätigkeit wurde selbst den amerikanischen Behörden bald so suspekt, daß er während des Krieges, der sich aus seiner Sicht gegen die beiden Kulturen richtete, die er am meisten liebte, nämlich das Deutsche und Österreichische kulturelle Erbe einerseits, das Japanische andererseits, trotz seiner exponierten Stellung an der Harvard University sich in einer Art innerem Exil wissenschaftlicher aber auch gesellschaftlicher Art wiederfand, einerseits in der Kress Library, andererseits in seinem Kellerbüro an der Harvard University, drittens dann auch in seinem Landhaus, wo er 1950 verstarb. Diesem inneren wissenschaftlichen Exil verdanken wir die History of Economic Analysis, den großartigen Versuch, die Ökonomie als Wissenschaft historisch zu erklären und auch abzugrenzen, sowie ihre Methoden, Denkweisen, analytischen Möglichkeiten und Grenzen und ihren inneren Duktus zu zeigen. Das Werk wurde 1954 posthum von seiner ihn überlebenden Witwe, seiner dritten Ehefrau herausgegeben. Diese ungewöhnliche Exilexistenz begann zunächst großbürgerlich in Mähren. Das einstmals schöne Geburtshaus in der Stadt Triesch mit ansprechender Architektur und schönem Wandgemälde im Treppenhaus steht noch heute, allerdings in stark verwahrlostem Zustand. Zum Doktor Juris promovierte Schumpeter an der Wiener Universität im Jahr 1906 und erhielt die Venia Legendi im Jahr 1909. In den Jahren 1907 und 1908 war er als Anwalt und Anlagenberater in Kairo tätig und erwarb ein beträchtliches Privatvermögen. Im Jahr 1909 erhielt er den Ruf auf ein Extraordinariat in Czemovitz und ein Jahr später auf ein Ordinariat in Graz. 1913 war er als Austauschprofessor an der Columbia University in New York und erhielt dort, wie bei Austauschprofessoren üblich, zum Abschluß das Ehrendoktorat jener Universität. In diese Zeit fallen bereits drei seiner wichtigen Publikationen: Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie (1908), Die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (1912), und die Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte (1914).

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Während des Ersten Weltkriegs, vor allem gegen dessen Ende, entfaltete er hinter den Kulissen von seinem Grazer Lehrstuhl aus eine umtriebige Tätigkeit der wirtschaftlich gestützten Politikberatung mit dem Ziel, einen Separatfrieden Österreichs zu ermöglichen und die finanzielle Last des Krieges in geeigneter Form abzuwälzen. Nach der Niederlage und der Ausrufung der Deutsch-Österreichischen Republik wurde er deren erster Finanzminister und widmete sich mit diesem Portefeuille zwei einander widerstrebenden Aufgaben, die sich aber aus dem Duktus seiner vorherigen Tätigkeit eindeutig ergeben. Einerseits versuchte Schumpeter als Finanzminister der jungen Republik Deutsch-Österreich, die Kriegsschuldenlast, die nun allein auf der kleinen und wirtschaftlich kaum lebensfähigen Republik lag, auf möglichst viele Schultern zu verteilen; da noch keine neuen Währungen in den Einzelstaaten der ehemaligen Donaumonarchie bestanden, entfachte er eine heftige Inflation, um so die Kriegsschuld abzulösen. Die Folgen dieser Inflation wirkten sich natürlich besonders drückend auf den Mittelstand aus, und Schumpeter, der kühl verkünden ließ: „Krone ist Krone" wurde ein verhaßter Politiker. Der zweite Pfeiler seiner Politik bestand in dem Versuch, einen Anschluß Deutsch-Österreichs an das Deutsche Reich zu verhindern und in diesem Sinne auch die Friedensverhandlungen in St. Germain zu beeinflussen. Es ging ihm vor allem um die Erhaltung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums der ehemaligen Donaumonarchie, eine Donauwirtschaftsunion, wenn schon die politische Einheit verlorengegangen war. Es ist fraglich, ob seine Aktivitäten im Hinblick auf die Friedensverhandlungen dort den Ausschlag gaben, denn Frankreich bestand von vornherein auf einer Trennung Österreichs von Deutschland. Jedenfalls setzte sich Schumpeter mit dieser Politik ausdrücklich in einen Gegensatz zur Verfassung des Staates, auf den er vereidigt worden war, und sein erzwungener Rücktritt nach kurzer Amtszeit ist eindeutig hierauf zurückzuführen; seinen ersten Haushalt, den Finanzplan konnte er nur erläutern, nicht aber durch das Parlament begleiten. Als wissenschaftliches Ergebnis dieser Tätigkeit liegt uns die wichtige Studie über Die Krise des Steuerstaates vor, die aus Vorträgen im Jahr 1917 hervorgegangen und 1918 in Buchform veröffentlicht wurde. Nach seinem Rückzug aus der Politik, eine Rückkehr an die Grazer Universität war politisch nicht mehr möglich, wandte sich Schumpeter dem Privat-

Schumpeter, Joseph Alois bankgeschäft zu und wurde Vorstandsmitglied einer privaten Bank, die den pikanten Namen Biedermann Bank trug. Diese Bank ging später in Konkurs, und Schumpeter übernahm persönlich Bankschulden, die eigentlich Gesellschaftsschulden waren. Er sollte daran noch lange tragen. Das wissenschaftliche Ergebnis dieser Episode ist einerseits der wichtige Aufsatz Das Sozialprodukt und die Rechenpfennige (1917/18), andererseits das posthum veröffentlichte Buch Das Wesen des Geldes (1970). Aus einer sehr schwierigen persönlichen Lage als arbeitsloser Privatmann, Wissenschaftler ohne Lehrstuhl, Politiker ohne Amt und Basis und Geschäftsmann mit Konkurs befreite ihn ein Ruf an die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, den er annahm und dort fortan die Finanzwissenschaft vertrat. Gegen diesen Ruf war aus Wien noch interveniert worden, aber Spiethoff konnte das Innuendo abwenden(Quelle: Akteneinsicht). Als die Weltwirtschaftskrise gerade im Abklingen war, die Nationalsozialisten aber noch im Vormarsch begriffen waren, traf Schumpeter die Entscheidung, ein Angebot der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, anzunehmen, um dort als Professor Wirtschaftstheorie zu lehren. Er ließ sein Haus mit Haushälterin und Bibliothek in Bonn zurück, auch eine kleine Schar treuer Studenten, denen er eine bewegende Abschiedsrede gab. Der Tenor dieser Rede bestand darin, er betrachte es als seine Aufgabe, Brücken zu bauen; man muß hier an Brücken zwischen Kulturen, Generationen, Disziplinen, aber auch Weltanschauungen denken, denn Schumpeter, ebenso wie Sombart, war Marx genauso vertraut wie die klassische Theorie und jene Gedanken, die man heute als heterodox bezeichnet. Zu den Höhepunkten seiner amerikanischen Tätigkeit gehören Schumpeters Publikationen zunächst nicht. Er veröffentlichte das geldtheoretische Buch trotz entgegengesetzter Ankündigung nicht, das zweibändige Werte über die Konjunkturzyklen (1939) wurde nicht günstig aufgenommen, und seinen Bestseller Capitalism, Socialism and Democracy (1942) betrachtete er selbst eher als Ergebnis der Entspannung. Sein monumentales theoriegeschichtliches Werk und das geldtheoretische Buch wurden posthum veröffentlicht, wobei in beiden Fällen zunächst ein wichtiges Kapitel fehlte, das dann im Nachlaß gefunden und Jahrzehnte später nachgereicht wurde. Ungeheuer

einflußreich war Schumpeter dagegen in Amerika bei der Ausbildung einer ganzen Generation von Ökonomen, denn Harvard wurde, gewiß nachdem die deutschen Universitäten ausgefallen waren, zu der Produktionsstätte von zukünftigen Hochschullehrern. Niemand hat es nachgezählt, aber vermutlich hat Schumpeter die meisten Doktoranden auf Lehrstühle gebracht, die jemals ein Volkswirt ausgebildet hat. Die professionellen Ehrungen blieben ebenfalls nicht aus, Schumpeter war 1940-41 Präsident der Econometric Society, die er mitbegründete, und 1949-50 Präsident der American Economic Association. Die Entscheidung, Europa zu verlassen und nach Amerika zu gehen, hatte eine wichtige Auswirkung für die Wirkung des Schumpeterscben Gesamtwerkes. Nun wurde alles in dem Sinne rezipiert und eingeordnet, wie er es selbst in seiner History of Economic Analysis (1954) vorschlug; die grenzüberschreitenden, z.B. finanzsoziologischen Arbeiten wurden als nicht eigentlich zur Theorie gehörend beiseite geschoben. Sein Pochen auf die Bedeutung der Geschichte fiel unter den Tisch. Es ist bemerkenswert, daß in dem kleinen Band biographischer Skizzen, Ten Great Economists (1951a), ausgerechnet Schmoller und Sombart fehlen, denen er sorgfältige Würdigungen zuteil werden ließ. Auch in der History of Economic Analysis fehlt das wichtige Kapitel über die Historische Schule. Man muß diese Aspekte aus dem Deutschen in das schlußendlich in bemerkenswerter englischer Diktion abgerundete Gesamtwerk einfügen, um dem Sozialwissenschaftler Schumpeter gerecht zu werden. Schriften in Auswahl: (1908) Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, München/Berlin. (1912) Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, München/Berlin. (1914) Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte, in: Grundriss der Sozialoekonomik, Abt. I: Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft, Tübingen, S. 19-124. (1917/18) Das Sozialprodukt und die Rechenpfennige: Glossen und Beiträge zur Geldtheorie von heute, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 44, S. 627-715.

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Schwarz, Solomon Μ. (1918)

Die Krise des Steuerstaales. Graz/ Leipzig.

(1928)

The Instability of Capitalism, in: Economic Journal. Bd. 38, S. 361385.

(1939)

Business Cycles: A Theoretical, Historical and Statistical Analysis of the Capitalist Process, 2 Bde., New York; dt. Übers.: Konjunkturzyklen, 2 Bde., Göttingen 1961.

(1942)

Capitalism, Socialism and Democracy, NewYork; dt. Übers.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Basel 1946.

(1951a)

Ten Great Economists. From Marx to Keynes, New York.

(1951b)

Essays of J.A. Schumpeter, hrsg. von R.V. Clemence, Nachdruck mit einer neuen Einführung von R. Swedberg, New Brunswick 1991.

(1952)

Aufsätze zur Ökonomischen Theorie, hrsg. von E. Schneider und A. Spiethoff, Tübingen.

(1954)

History of Economic Analysis, London/New York; dt. Übers.: Geschichte der ökonomischen Analyse, 2 Bde., Göttingen 1965.

(1970)

Das Wesen des Geldes, hrsg. v. F.K. Mann, Göttingen.

(1985)

Aufsätze zur Wirtschaftspolitik, hrsg. v.W.F. Stolper und C. Seidl, Tübingen.

(1991)

The Economics and Sociology of Capitalism, hrsg. von R. Swedberg, Princeton.

Bibliographie: Augello, M. (1990): Joseph Alois Schumpeter: A Reference Guide, Berlin. McCraw, T.K. (1991): Schumpeter Ascending, in: The American Scholar, S. 371-392. Stolper, W.F. (1991): Joseph A. Schumpeter, 1883-1950: The Public Life of a Private Man, Princeton. Swedberg, R. (1991): Schumpeter. A Biography, Princeton. Jürgen Backhaus

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S c h w a r z , S o l o m o n M.. geb. 6.1.1883 in Wilna, Litauen/Rußland als Salomon Monossohn Schwarz, gest. 15.7.1973 in Jerusalem Von 1901 bis 1904 studierte Schwarz Medizin in Berlin, anschließend dort, in Göttingen, St. Petersburg und Heidelberg Rechtswissenschaften, wo er 1911 mit einer rechtshistorischen Arbeit zum römischen Noxalrecht, d.h. der Schadensregulierung gegenüber Dritten durch Delikte eines Sklaven promovierte. Zwischen 1913 und 1918 gab der Sozialist menschewistischer Richtung - unterbrochen von dreimaliger Verhaftung und Deportation durch die zaristische Polizei - in St. Petersburg eine russischsprachige Zeitschrift zur Arbeitsversicherung heraus; in dieser Zeit verfaßte er auch eine umfassende, nicht veröffentlichte Studie Uber die Anforderungen an eine moderne Arbeitsschutzversicherung. Nach der Februar-Revolution 1917 wurde er Chef der Sozialversicherungs-Abteilung im Arbeitsministerium der Regierung Kerensky. Während der bolschewistischen Revolution im Oktober des gleichen Jahres wechselte Schwarz in die Gesundheitsabteilung des Moskauer Stadtsowjets, ehe er 1919 als Militärarzt in die neue Rote Armee abkommandiert wurde. Im Herbst 1920 folgte seine Berufung in den Revolutionären Militärrat, das sowjetische Kriegsministerium; daneben arbeitete er in der 1918 errichteten Sozialistischen Akademie für Gesellschaftswissenschaften, die die führenden marxistischen Denker Rußlands und Westeuropas unter einem Dach vereinen wollte, an Konzepten zum Aufbau der neuen sowjetischen Sozialpolitik mit. Zu Beginn des bolschewistischen Aufbaus der Einparteiherrschaft wurde er im Februar 1921 verhaftet. Bei seiner Entlassung im Januar 1922 flüchtete er mit seiner Frau Vera, einer Schriftstellerin, nach Berlin, wo er in der Auslandszentrale der Menschewiki und der von ihr herausgegebenen Exil-Zeitschrift Socialislicheskij Vestnik (Der sozialistische Bote) mitarbeitete; 1933 verlegte die Zeitschrift ihren Sitz nach Paris und 1940 nach New York. Daneben vertiefte Schwarz seine Kontakte zu den deutschen Partnerorganisationen, den Sozialdemokraten und Gewerkschaften. Vorbereitet durch seine sozialökonomischen Arbeiten in Rußland und mit seinen biographischen Erfahrungen in der Frühphase der sowjetischen Administration wurde Schwarz in den zwanziger

Schwarz, Solomon Μ. Jahren zu einem bekannten Gewerkschaftstheoretiker wie auch zum kritischen Beobachter und Kommentator der Arbeitsverhältnisse in der Sowjetunion. Dazu publizierte er in der Weimarer Republik zahlreiche Bücher, zum Teil mit Handbuch-Charakter, und Aufsätze in deutschen wie europäischen Zeitschriften der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften, genannt seien etwa die von Rudolf Hilferding herausgegebene Gesellschaft oder die International Labour Review des Internationalen Arbeitsamtes in Genf. Auf diesem Feld arbeitete und publizierte Schwarz auch nach seiner zweiten Emigration, zunächst in Prankreich von 1933 bis 1940 und anschließend in den USA, in die er mithilfe eines Besucher-Visums am 12. September jenes Jahres eingereist war; 1943 konnte er seinen vorläufigen Aufenthalt in eine reguläre Einwanderung umwandeln. Seine über die Jahrzehnte thematisch weitgehend homogenen Veröffentlichungen zeichnen sich vor allem durch klare empirische Befunde aus; weitergehende theoretische Schlußfolgerungen und die Analyse etwa der makroökonomischen Wirkungen gewerkschaftlicher Lohnpolitik oder die Motive sowjetischer Planungspräferenzen, in denen der Arbeitsmarkt nur ein Segment darstellte, interessierten ihn hingegen weniger. In den ersten Jahren nach seiner Flucht in die USA wirkte Schwarz als Research Assistant im Kreise der deutschen Emigranten an der New School for Social Research an einem von -» Arthur Feiler und Jacob Marschak geleiteten Projekt Uber soziale und wirtschaftliche Kontrollen in Deutschland und der Sowjetunion mit (1944), woran sich noch einige Jahre als Gastprofessor anschlossen. Daneben arbeitete er als Consultant der Hoover Library of War, Revolution and Peace, Stanford University, in deren Auftrag er bereits in Frankreich einige Studien verfaBt hatte (1938). Weiterhin gab er die in Berlin gegründete und nun in New York weitergeführte Zeitung heraus, die seit den fünfziger Jahren in immer unregelmäßigeren Abständen erschien, ehe sie mit dem Aussterben dieser Generation der alten Menschewiki endgültig eingestellt wurde. Es mögen materielle oder politische Gründe gewesen sein, vielleicht auch die Einsamkeit des Alters nach dem Tode seiner früheren politischen Mitstreiter - darüber hinaus war seine Frau 1963 verstorben - , die Schwarz veranlaBten, im Alter von 88 Jahren ein weiteres Mal, nach Israel, zu emigrieren. Dort starb er zwei Jahre später; seinen

gewaltigen dokumentarischen Nachlaß hatte er testamentarisch dem israelischen Staat vermacht. Schriften in Auswahl: (1911)

Actio de pauperiei im System des römischen Noxalrechtes. Eine rechtsgeschichtliche Studie, Berlin (Diss, iur.).

(1923)

Rückblick und Ausblick über die russische Gewerkschaftsbewegung, Amsterdam. Der Arbeitslohn und die Lohnpolitik in Russland, Jena.

(1924) (1927)

Bevölkerungsbewegung und Arbeitslosigkeit in Russland, in: Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik, 4. Jg., S. 145163.

(1928)

Fünfjahresplan und Sozialismus, Berlin.

(1930)

Handbuch der deutschen Gewerkschaftskongresse, Berlin. Art. „Rote Gewerkschaftsi ntemationale", „Siebenstundentag in der Sowjetunion", „Lew Trotzki", „Ununterbrochene Arbeitswoche in der Sowjetunion" u.a., in: Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens, Hrsg. L. Heyde, Bd. 2, Berlin, S. 1348-1359, 1463-1466, 1701 und 1817-1821.

(1932)

(1935) (1938) (1943)

(1944)

Linine et le Mouvement Syndical, Paris. Les Occupations d'Usines en France, Amsterdam. First News from Occupied Russia, in: The New Republic, Bd. 108 (8), S. 242-246. Management in Russian Industry and Agriculture (zus. mit Gregory Bienstock, Aaron Yugow), hrsg. von A. Feiler und J. Marschak, New York u.a.

(1951)

The Jews in the Sovjet Union, Syracuse.

(1952)

Labor in the Soviet Union, New York; dt. Übers.: Arbeiterklasse und Arbeitspolitik in der Sowjet-Union, Hamburg 1953.

643

Schweitzer, Arthur (1967)

The Russian Revolution of 1905. The Workers' Movement and the Formation of Bolshevism and Menshevism, Chicago.

Quellen: Williams, R.C. (1972): Culture in Exile. Russian Emigris in Germany, 1881-1941, IthacaLondon, S. 226 ff.; Nachrufe New York Times, July 23, 1973; The Times, London, July 24, 1973. Claus-Dieter Krohn

Schweitzer, Arthur, geb. 27.11.1905 in Pirmasens Schweitzer studierte nach dem Abitur von 1926 bis 1928 Wirtschaftswissenschaften an der Universität Frankfurt am Main und von 1928 bis 1929 am Fircroft College in Birmingham. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland unterbrach er sein Studium und gab von 1930 bis 1932 die Volksstimme in Hagen heraus. Im Sommersemester 1932 nahm er sein Studium an der Universität Berlin wieder auf, mußte es jedoch nach Ablauf von drei Semestern abbrechen. Schweitzer, der als Mitglied des Sozialdemokratischen Studentenbundes politisch engagiert war und seine Aktivitäten auch nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Untergrund fortsetzte, konnte im Oktober 1933 im letzten Augenblick mit einem Studentenvisum in die Schweiz fliehen. Die meisten seiner Freunde wurden kurz darauf verhaftet und vom Volksgerichtshof zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt. Er selbst wurde im Dezember 1933 in Berlin ebenfalls unter Anklage gestellt, jedoch wurde der Prozeß aufgrund seiner Flucht ausgesetzt. In der Schweiz konnte Schweitzer mit finanzieller Unterstützung der Arbeiterwohlfahrt seine Studien an der Universität Basel fortsetzen. Wie viele andere emigrierte Ökonomie-Studenten, die zunächst im deutschen Sprachraum blieben, promovierte er dort 1936 bei Edgar Salin mit einer Arbeit über Spiethoffs Konjunkturlehre (1938). Anschließend war er Herausgeber des Archivs für Wirtschaft und Politik und unterrichtete für zwei Jahre an der Abend-Volkshochschule der Universität über Konjunkturtheorie und Konjunkturpolitik. Ein Teil seiner Doktorarbeit war von der Zeitschrift Weltwirtschaftliches Archiv bereits zur Veröffentlichung angenommen, wurde dann jedoch aus politischen Gründen abgelehnt. 1937 heiratete Schweitzer die Diätspezialistin Elfriede

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Zimmermann, die 1936 in die Schweiz geflüchtet war, nachdem sie zuvor 1933 von ihrem Lübecker Krankenhaus entlassen und für 30 Monate in Schlesien inhaftiert worden war. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor. Mit einem Stipendium der Rockefeiler Foundation ging Schweitzer 1938 in die USA, wo er für ein Jahr an der Harvard University vor allem bei - Gottfried Haberler (1961) und Jacob Viner (1952) - drei prinzipielle Kritikpunkte angeführt: (1) Die statistischen Messungen über die britischen Net Barter Terms of Trade (NBTT) seien für die Industrieländer in ihrer Gesamtheit nicht repräsentativ - daher sei auch der Umkehrschluß, diese Daten als statistische Näherungswerte für die Entwicklung der ToT für Primärgüter zu verwenden, nicht zulässig. (2) Exporte würden zu f.o.b.-Preisen (free on board) bewertet, Importe hingegen zu c.i.f.-Preisen (cost, insurance, freight), so daß die Verbesserung der britischen NBTT teilweise oder ganz von einer Senkung der Transportkosten hervorgerufen worden sein könnte und damit nicht zu einem relativen Fallen der von den Rohstoffexporteuren erzielten (Netto-) Preise geführt hätte. (3) Im internationalen Handel treten immer wieder neue sowie qualitativ hochwertigere Industrieprodukte auf, jedoch würden diese Weiterentwicklungen im Preisindex für Fertigerzeugnisse nicht hinreichend berücksichtigt. Daher sei dieser Index tendenziell nach oben verzerrt und spiegele damit fälschlicherweise eine Verschlechterung der NBTT für Rohstoffe vor (für eine ausführlichere Zusammenfassung der Diskussion vgl. z.B. Spraos 1980, S. 108 f.).

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Die angeführten Kritikpunkte besitzen zwar a priori Plausibilität. jedoch war noch nicht die Frage nach ihrer empirischen Bedeutung beantwortet, d.h. ob daraus eine Widerlegung der statistischen Ergebnisse der ToT-Verschlechterung abgeleitet werden konnte. Damit war die zweite Stufe der Debatte erreicht, in der die statistische Grundlage der fallenden ToT überprüft wurde und die Frage nach der Gültigkeit des Trends über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus gestellt wurde. Spraos (1980) bestätigte die statistische Signifikanz des negativen Zusammenhangs zunächst nur für die ersten 70 Jahre, also bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. In neueren Untersuchungen, u.a. von Ardeni und Wright (1992), ließen sich die fallenden NBTT für Primärgüter - ohne Rohöl - dann auch fur die Nachkriegszeit statistisch nachweisen. Singer hat sich seit den 1980er Jahren selbst wieder intensiver an der Debatte um die PST beteiligt. Anlaß dafür war nicht zuletzt die Tatsache, daß die aus der PST zunächst abgeleitete Politikempfehlung der Importsubstitutionsstrategie für Entwicklungsländer, kombiniert mit staatlichen Interventionen und der Planung des Sozialstaats hier kommen wieder der Keynessche Einfluß sowie die Erfahrungen Singers mit der Kriegsplanung und dem Beveridge-Report zur Geltung unter dem Eindruck der Ausdehnung der Industriegüterexporte aus Entwicklungsländern zunehmend kritisiert wurde. Da jedoch die ursprüngliche PST die Betonung mehr auf Industrialisierung als auf Importsubstitution gelegt hatte, war mit ihr, wie Singer betonte, auch eine Industrialisierungsstrategie durch Exportsubstitution kompatibel (vgl. 1997, S. 142). Er konnte nachweisen, daß sich die ToT für Industrieprodukte zwar erhöht hatten, diese Erhöhung jedoch für die in den Entwicklungsländern hergestellten Produkte geringer ausgefallen war als für die Exportgüter der Industrieländer. Durch diese Argumentation erfuhr die PST für die Nachkriegsjahre eine über die reine statistische Signifikanz hinausgehende ökonomische Bestätigung und zugleich eine Erweiterung, da sie nun auf Länder- und nicht nur auf Gütergruppen angewandt werden konnte. Die relative Verschlechterung der ToT für die Länder der Dritten Welt wurde drei Ursachen zugeschrieben: (1) dem höheren Anteil an Primärgütern in den Exporten der Entwicklungsländer - dieses Argument entstammt der ursprünglichen PST - , (2) den relativ stärke-

Singer, Hans Wolfgang ren Preissenkungen im Bereich der Primärgüterexporte der Entwicklungsländer und (3) den relativ stärkeren Preissenkungen bei Industriegüterexporten aus der Dritten Welt - jeweils im Verhältnis zur Entwicklung in den Industrieländern (vgl. 1984, S. 292 f., 1987, S. 628 und 1991). Allerdings argumentiert Athukorala (1993) einschränkend, daß die fallenden NBTT im Bereich der Industriegüterexporte der Entwicklungsländer durch die relative Steigerung ihrer um das Exportmengenwachstum korrigierten Income Terms of Trade in den letzten zwei Jahrzehnten überkompensiert worden, und damit die Fähigkeit der Entwicklungsländer, ihre industrielle Basis durch Kapitalgüterimporte auszudehnen, gestiegen sei (vgl. Athukorala 1993, S. 1611). Singers Werk als Pionier der ökonomischen Theorie und Politik der Entwicklungsländer, für das er Ehrenpromotionen der Universität von Santa F6 (1988), der University of Sussex (1990), der Technischen Universität Lissabon sowie der Universität Glasgow (beide 1994) erhielt, ist einerseits durch originelle und vom Mainstream 'abweichende' Beiträge gekennzeichnet. Andererseits liefert er als Ökonom, der immer wieder historische Bezüge in seiner Arbeit herstellt, auch wichtige dogmengeschichtliche (z.B. 1981, 1993) und (auto-) biographische (z.B. 1976; 1984; 1997) Reflexionen über seine relativ junge Disziplin. Diese Arbeiten weisen ihn als hervorragenden Kenner der verschiedenen Stufen der entwicklungsökonomischen Theoriebildung, die er von Anfang an selbst mitgestaltet hat, aus. Er verdeutlicht darin, wie sich die als Reaktion auf Defizite in vorangegangenen Strategien entstandenen neuen Theorien in sog. 'Entwicklungsdekaden' materialisierten und zu den unterschiedlichsten Politikempfehlungen zur Beseitigung der Unterentwicklung führten. Diese Anpassung an geänderte Rahmenbedingungen ist auch für Singers eigene entwicklungsökonomische Arbeit kennzeichnend, indem er immer bereit ist, die „Lehren" aus den Schwächen und Versäumnissen der vergangenen Politiken zu ziehen (vgl. 1993). Mit der aus dem GATT hervorgegangenen, jedoch immer noch stark an den Interessen der Industrieländer orientierten Welthandelskonferenz (WTO) wurde die Chance nicht genutzt, das Zugpferd Entwicklungspolitik wenigstens wieder auf drei der ursprünglich von Keynes in Bretton Woods geplanten vier Beine zu stellen. Zwar sieht Singer durchaus die Erfolge, die in der Entwicklungspolitik er-

zielt worden sind - etwa mit Blick auf die südostasiatischen Schwellenländer - weist jedoch darauf hin, daß die Schuldenkrise keinesfalls gelöst ist und die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in den lateinamerikanischen Ländern z.T. weitreichende negative Folgen im sozialen Bereich gezeitigt haben. Um diese tiefgreifenden Spuren einer „verlorenen Entwicklungsdekade" zu beseitigen, plädiert Singer für die Wiederbelebung der Wachstumsorientierung und das Zurückstellen der Inflationsbekämpfung - „more of Keynes and less of Milton Friedman!" (1993, S. 170). Schriften in Auswahl: (1936) Materials for the Study of Urban Ground Rent, Diss., Cambridge. (1937) Men Without Work. A Report to the Pilgrim Trust (als Koautor), Cambridge. (1938/39) The Process of Unemployment in the Depressed Areas (1935-1938), in: The Review of Economic Studies, Bd. 6, S. 177-188. (1940) Unemployment and the Unemployed, London. (1940-44) The German War Economy [Teil IΧΠ], in: The Economic Journal, Bd. 50-54. (1942/43) The Sources of War Finance in the German War Economy, in: The Review of Economic Studies, Bd. 10, S. 106-114. (1950) The Distribution of Gains between Investing and Borrowing Countries, in: American Economic Review, Bd. 40, S. 473-485; Wiederabdruck in: (1964), S. 161-172. (1952/53) The Mechanics of Economic Development. A Quantitative Model Approach, in: The Indian Economic Review, Bd. 1, S. 1-18; Wiederabdruck in: (1964), S. 117-132. (1964) International Development. Growth and Change, New York u.a. (1973) Unemployment in an African Setting. Lessons of the Employment Strategy Mission to Kenya (zus. mit R. Jolly), in: International Labour Review, Bd. 107 (2), S. 103-115; Wiederabdruck in: The Strategy of International Development. Essays in the Economics

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Singer, Kurt of Backwardness, hrsg. von Sir Α. Cairncross und Μ. Puri, London/Basingstoke 1975, S. 158-172; als Zfsg. von: Employment, Incomes and Equality. A Strategy for Increasing Productive Employment in Kenya (zus. mit R. Jolly), Genf 1972. (1976)

(1981)

(1984)

(1987)

(1991)

(1993)

(1997)

Early Years (1910-1938), in: A. Cairncross, M. Puri (Hrsg.): Employment, Income Distribution and Development Strategy. Problems of the Developing Countries. Essays in Honour of H.W. Singer, London/Basingstoke, S. 1-14. Thirty Years of Changing Thought on Development Problems, in: R.P. Misra, M. Honjo (Hrsg.): Changing Perceptions of Development Problems, Nagoya, S. 69-76. The Terms of Trade Controversy and the Evolution of Soft Financing. Early Years at the UN, in: G.M. Meier, D. Seers (Hrsg.): Pioneers in Development, New York u.a., S. 275-303. Terms of Trade and Economic Development, in: J. Eatwell u.a. (Hrsg.): The New Palgrave. A Dictionary of Economics. Bd. 4, London/Basingstoke, S. 323-328. Manufactured Exports of Developing Countries and Their Terms of Trade since 1965 (zus. mit P. Sarkar), in: World Development, Bd. 19, S. 333340. Economic Progress and Prospects in the Third World. Lessons of Development Experience Since 1945 (zus. mit S. Roy), Aldershot. The Influence of Schumpeter and Keynes on the Development of a Development Economist, in: Hagemann, Η. (Hrsg.): Zur deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, Marburg, S. 127150.

Bibliographie: Ardeni, G., Wright, Β. (1992): The Prebisch-Singer Hypothesis. A Reappraisal Independent of Stationary Hypotheses, in: The Economic Journal, Bd. 102, S. 803-812.

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Athukorala, P. (1993): Manufactured Exports from Developing Countries and Their Terms of Trade. A Reexamination of the Sakar-Singer Results, in: World Development, Bd. 21, S. 16071613. Booth, A. (1985): Economists and Points Rationing in the Second World War, in: Journal of European Economic History, Bd. 14, S. 297-316. Cairncross, Α., Puri, M. (Hrsg.) (1976): Employment, Income Distribution and Development Strategy. Problems of the Developing Countries. Essays in Honour of H.W. Singer, London/Basingstoke (enth. Bibliographie). Chenery, H.B. u.a. (Hrsg.) (1974): Redistribution with Growth, London. Clark, C. (1937): National Income and Outlay, London. Clay, E„ Shaw, J. (Hrsg.) (1987): Poverty, Development and Food. Essays in Honour of H.W. Singer on his 75th Birtday, London/Basingstoke. Haberler, G. (1961): Terms of Trade and Economic Development, in: H.S. Ellis (Hrsg.): Economic Development of Latin America, New York, S. 275-297. International Labour Office (1976): Employment, Growth and Basic Needs. A One-World Problem, Genf. Prebisch, R. (1950): The Economic Development of Latin America and its Principal Problems, New York. Spraos, J. (1980): The Statistical Debate on the Net Barter Terms of Trade between Primary Commodities and Manufactures, in: The Economic Journal, Bd. 90 (1), S. 107-128. Viner, J. (1952): International Trade and Economic Development, Glencoe, III. Quellen: Β Hb I; SPSL 238/8; EC 95; WA; Blaug; Arestis/Sawyer; persönliche Korrespondenz. Hans Ulrich Eßlinger

Singer, Kurt, geb. 18.5.1886 in Magdeburg, gest. 14.2.1962 in Athen Singer begann sein berufliches Leben als Ökonom: Schüler von Georg Friedrich Knapp, Herausgeber der Hamburger Zeitschrift Wirtschaftsdienst, Briefpartner von Keynes und Dozent an der Universität Hamburg. Als junger Mann galt sein Hauptinteresse jedoch dem klassischen Griechenland und dem Kreis der Symbolisten um Ste-

Singer, Kurt fan George; und obgleich er sein ganzes Leben lang über ökonomische Themen schrieb, erlangte er posthumen Ruhm als der Autor eines der besten Bücher von einem Ausländer über Japan. Nach Abitur in Magdeburg und Studium an den Universitäten Berlin, Genf und Freiburg promovierte Singer 1910 an der Universität Straßburg bei Georg Friedrich Knapp mit einer Arbeit über Geldtheorie. Nach ein paar Monaten am US Konsulat in Chemnitz zog er nach Hamburg. Dort verband er von 1912 bis 1929 eine akademische Karriere, in der er nach der Habilitation 1920 bis zum Extraordinarius aufstieg, mit einfluBreichem Finanzjournalismus - ab 1917 als Herausgeber des Hamburger Wirtschaftsdienst. Singer Schloß Bekanntschaft mit Keynes, als er sich von ihm das Recht sicherte, deutsche Übersetzungen seiner Artikel veröffentlichen zu dürfen. Er traf Keynes 1926 in Berlin, als dieser dort einen Vortrag hielt. Keynes, schrieb danach über Einstein, der unter den Zuhörern gewesen war: „he was the nicest, and the only talented person I saw in all Berlin, except perhaps old Fürstenberg, the banker,... and Kurt Singer, two foot by five, the mystical economist". Singer korrespondierte mit Keynes bis zu dessen Tod 1946. In den 1920er Jahren veröffentlichte er viel über wirtschaftswissenschaftliche Themen, schrieb aber auch zwei Bücher Uber Plato und, als Mitglied des Stefan George-Kreises und als Freund Martin Bubers, gelegentlich über Nietzsche und Wagner. 1930 erhielt er eine Einladung als Foreign Professor of Economics an die Kaiserliche Universität Tokio. Als er im April 1931 dort ankam, steckte Japan mitten in der Depression und wurde in zunehmendem Maße vom nationalistischen Militär dominiert. In den ersten Jahren wurde Singer gut aufgenommen und konnte sich in das Studium der japanischen Philosophie und Kunst vertiefen, wo er Analogien zu seinem geliebten Griechenland fand. Seine Berufung wurde jedoch 1935 gekündigt. Da er infolge der anti-jüdischen Gesetze der Nationalsozialisten mittlerweile von seiner Stelle an der Universität Hamburg entlassen worden war, nahm er eine Stelle am Gymnasium in Sendai im Nordosten Japans an, wo er Deutsch und Altphilologie unterrichtete. Als 1939 das Leben für Ausländer in Japan unmöglich wurde, ging er nach Australien. 1940 wurde Singer, wie alle anderen 'enemy aliens', von den australischen Behörden interniert. Er vertrieb sich die Zeit mit Selbststudium von

Chinesisch und Mathematik für Ökonomen. Nach seiner Freilassung 1944 ermöglichte ihm das Forschungsstipendium einer Stiftung in Melbourne, ein Buch über The Idea of Conflict (1949a) zu schreiben. Daneben machte er fur den australischen Rundfunk Sendungen auf japanisch und hörte japanische Sender ab. Als das Stipendium auslief, fand er eine bescheidene Dozentenstelle in der nationalökonomischen Abteilung der Universität Sydney, wo er Dogmengeschichte lehrte. Er schrieb weiterhin Aufsätze über ein weites Spektrum ökonomischer Themen und veröffentlichte sogar einen Band deutscher Gedichte. Die Sorge um seine finanzielle Zukunft wurde gemildert, als er 1957 eine Wiedergutmachung der Bundesrepublik Deutschland zugesprochen bekam. Diese beruhte auf der Annahme, daß er zum Ordinarius an der Universität Hamburg befördert worden wäre, hätte man ihn nicht entlassen. Das ermöglichte ihm, in Athen in den Ruhestand zu gehen, wo er bis zu seinem Tod 1962 lebte. 1971 erhielt Richard Storry, Direktor des Far Eastern Centre an der Universität Oxford von einem Kollegen in London das Manuskript eines Buches über Japan, das Werk eines Freundes, der einige Jahre zuvor in Griechenland gestorben war. Als Storry das 300-seitige Manuskript las, erkannte er: „here was a work of audacious insight by an unusual man." Singers Buch Mirror, Sword and Jewel (1973), das wahrscheinlich in Japan geschrieben und von Stony 1973 herausgegeben und veröffentlicht wurde, ist von einem Rezensenten in der Japan Times beschrieben worden als ein „superlative work (the best book on Japan I have ever read)." Schriften in Auswahl: (1910) Die Motive der indischen Geldreform, Straßburg (Diss.). (1918a) Die staatliche Theorie des Geldes, in: Wirtschaftsdienst, Hamburg, 29. März. (1918b) Problem Nietzsche, in: Neue Rundschau, Berlin. (1920a) Das Geld als Zeichen, Jena (Habil.). (1920b) Piaton und das Griechentum, Heidelberg. (1936) The Currency of Japan, in: Economic Journal, Bd. 46, S. 264-278. (1938) Das Bild der kreisenden Drei: Über das japanische Tomoe-Symbol und seine westlichen Gegenbilder, in:

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Sohn-Rethel, Alfred

(1939) (1949a)

(1949b) (1949c) (1957)

(1959)

(1973)

Transactions of the Asiatic Society of Japan, New Series, Bd. 17, London, S. 1-152. The Life of Ancient Japan, Tokio. (Hrsg.). The Idea of Conflict, Melbourne. (2nd ed. with Introduction by P. Pawlowsky, Basel 1973). Recollections of Keynes, in: Australian Quarterly, (June), S. 49-59. Robot Economics, in: Economic Record, (Dec.), Melbourne. Bericht über die japanischen Jahre, 1931-39, in: R. Böhringen Eine Freundesausgabe, Tübingen. Antithule: Deutsche Geschichte aus Australien, (mit Hans Brasch), Düsseldorf. Mirror, Sword and Jewel: A Study of Japanese Characteristics. Edited with an Introduction by R. Stony, London.

Bibliographie: Ota, H. (1984): The Life and Work of Kurt Singer, Tokio, (auf japanisch). Arndt, H.W. (1993): Kurt Singer: Wandering Jewish Scholar, in: Australian Quarterly. Quellen: IFZ; SPSL 238/9; ACEP 6/78. Heinz W. Arndt

Sohn-Rethel, Alfred, geb. 4.1.1899 in Paris, gest. 6.4.1990 in Bremen Dr.phil. 1928 (Heidelberg), 1972-1976 Gastprofessor, 1979-1990 Dozent, 1988 Ehrenpromotion (Bremen). Fachgebiete: materialistische Erkenntnistheorie; ökonomische Analyse des Faschismus. An den dürren Eckdaten zur Lebensgeschichte Sohn-Rethels fällt auf, daB in dem Zeitabschnitt, der in anderen Biographien die „Karriere" enthält, ein großes Loch gähnt. Sohn-Rethels lebenslange wissenschaftliche Tätigkeit fand erst in einem Alter öffentliche Anerkennung, in dem andere längst pensioniert oder emeritiert sind. Die späte Anerkennung hat ihre Gründe in der Beharrlichkeit, mit der Sohn-Rethel zeitlebens seine id6e fixe vom Zusammenhang des 'reinen Denkens' mit der Realabstraktion des Warentauschs verfolgte. Im Unterschied zu anderen Emigranten war SohnRethel vor seiner Flucht vor den Nationalsozialisten ein Wanderer zwischen den Welten, ein Au-

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ßenseiter an Brennpunkten geistiger und politischer Auseinandersetzungen. Nach seiner Flucht war er jahrzehntelang dazu verdammt, in der Abgeschiedenheit eines mühsam überlebenden Privatgelehrten aufzuarbeiten, was ihn bis dahin wissenschaftlich und politisch bewegt hatte. Dennoch hat Sohn-Rethel nicht die erzwungene Emigration als entscheidendes Hindernis einer akademischen Karriere betrachtet, sondern den Ausgangspunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit im Eigenstudium der Marxschen Wertformanalyse auf den ersten sechzig Seiten des Kapitals: ,,[M]it einem irrsinnigen Konzentrationsaufwand ging es mir auf. daß im Innersten der Formstruktur der Ware - das Transzendentalsubjekt zu finden sei ... Aber die geheime Identität von Warenform und Denkform, deren ich ansichtig geworden war, war so unenthüllbar, so konstitutiv in der ganzen bürgerlichen Weltstruktur versteckt, daß meine ersten naiven Versuche, sie auch anderen zu Gesicht zu bringen, eher dazu führten, daß man mich als einen hoffnungslosen Fall aufgab. 'Sohn-Rethel spinnt!', war das bedauernde, aber abschließende Verdikt z.B. Alfred Webers, der große Stücke auf mich gehalten hatte. Unter solchen Umständen war es natürlich auch mit der akademischen Karriere nichts, und die Folge war, daß ich mit meiner idee fixe zeitlebens Außenseiter geblieben bin" (1973, S. 12). Sohn-Rethel stammte aus einer alten Künstlerfamilie, wuchs zunächst in Frankreich, später als Pflegekind im Hause des Düsseldorfer Stahlindustriellen Ernst Poensgen auf. Mitten im Ersten Weltkrieg begann er „August Bebel und Marx zu lesen, wurde zu Hause rausgeworfen und war dabei, als die ersten Anti-Kriegsbewegungen unter Studenten 1917 mit Emst Toller von Heidelberg ausgingen" (1973, S. 11). Sohn-Rethel studierte Nationalökonomie, Soziologie, Philosophie und Französisch in Heidelberg, Berlin und München unterbrochen von einem Italienaufenthalt zwischen 1924 und 1927. Zu seinen Lehrern zählte er Ernst Cassirer, -» Alfred Weber und -» Emil Lederer. Darüber hinaus haben Kontakte mit Theodor Adorno, Walter Benjamin, Emst Bloch, Siegfried Kracauer, Georg Lukäcs, Herbert Marcuse und Alfred Seidel seine Gedankenentwicklung maßgeblich beeinflußt (1973, S. 10 ff.). Im Jahr 1928 promovierte Sohn-Rethel bei Lederer mit einer Dissertation über die Methodologie Schumpeters (1936).

Sohn-Rethel, Alfred In den Jahren 1929/30 folgte ein Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz, um eine Tuberkulose auszukurieren. 1931 wurde Sohn-Rethel auf Vermittlung von Ernst Poensgen wissenschaftlicher Referent beim 'Mitteleuropäischen Wirtschaftstag' (MWT) in Berlin, einem höchst einflußreichen Interessenverband „aller nennenswerten Konzerne und Gruppen des deutschen Finanzkapitals" (1975, S. 35). Als „unerkannter Marxist" in dieser Schaltzentrale lobbyistischer Wirtschaftspolitik, die an Weichenstellungen fur den Faschismus beteiligt war, nutzte Sohn-Rethel seine Informationen für die Mitarbeit in verschiedenen politischen Gruppierungen, die nach der nationalsozialistischen Machtergreifung illegal tätig waren. Ende 1933 wurde er bei einer Razzia festgenommen, kam wieder frei, muBte aber seine Stellung als MWT-Referent mit der des Geschäftsführers der Ägyptischen Handelskammer (einem verlängerten Arm des MWT) vertauschen. Als im Februar 1936 eine neuerliche Verhaftung drohte, reiste Sohn-Rethel über die Schweiz und Frankreich nach England aus. Bis Anfang der siebziger Jahre lebte er als freier wissenschaftlicher Schriftsteller und Französischlehrer in Birmingham. Die entscheidenden Arbeiten, die Sohn-Rethels später „Rückwärtspublikation" (von Greiff 1986, S. 310) zugrundeliegen, entstanden in den Jahren nach der Ausreise. Diese Vorarbeiten drehten sich ausschließlich um zwei Themenkreise: die ökonomische Analyse des deutschen Faschismus und die Konstruktion einer materialistischen Erkenntnistheorie. So weit die beiden Themenkreise voneinander entfernt scheinen, Sohn-Rethel (1975, S. 30) sah zwischen ihnen einen tiefen Zusammenhang in der gesellschaftlichen Synthesis von Marktsystemen, in denen Konflikte zwischen Produktionslogik und Aneignungslogik unausweichlich sind. Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus (1975) ist eine nachträglich redigierte Sammlung von Insider-Analysen, die Sohn-Rethel zu verschiedenen Zwecken beim MWT (1932) und in der Emigration (1937-1941) erstellt hat. Ausgangspunkt ist die Beobachtung -» Eugen Schmalenbachs, daß die enormen Rationalisierungen, die die deutsche Schwerindustrie in den zwanziger Jahren vorgenommen hatte, mit einem steigenden Fixkostenanteil verbunden waren. Schmalenbach Schloß daraus auf die Notwendigkeit einer systematischen Überproduktion und einer gebundenen Wirtschaft, in der durch zentrale

Koordination für den Absatz gesorgt wird. SohnRethel erweitert dieses Argument zur Analyse grundlegender Interessengegensätze zwischen weltmarktorientierter Verarbeitender Industrie und überkapazitätsbelasteter Schwerindustrie, in der die Produktionslogik der Kostenminimierung mit der Aneignungslogik der Profitmaximierung in Konflikt geraten war. Die Weltwirtschaftskrise, die Brüningsche Deflationspolitik und die Massenarbeitslosigkeit zu Beginn der dreißiger Jahre führte zu der eigentümlichen Konstellation, daß „die ökonomisch intakten Teile der deutschen Wirtschaft politisch paralysiert waren und nur die ökonomisch paralysierten Teile politische Bewegungsfreiheit besaßen" (1975, S. 69). So gewannen mit der Harzburger Front diejenigen Kräfte die Oberhand, denen an Kapazitätsauslastung durch Erzeugung nichtreproduktiver Werte (v.a. Rüstungsgüter) gelegen war - und letztlich an dem Versuch, die Konkurrenz um Ressourcen und Absatzmärkte mit militärischen Mitteln fortzufuhren. Sohn-Rethel verdeutlicht vor diesem Hintergrund die Motive, aus denen heraus große Teile der deutschen Industrie die Faschisten unterstützten: Für die Expansionspolitik der Harzburger Front bedurfte es eines starken Staates, der das zur Um- und Aufrüstung notwendige Arbeitspotential zu niedrigen Löhnen mobilisierte und abweichende Interessen durch Diktat einordnete oder durch Terror ausschaltete. Im Grobraster der Kurzfassung mag Sohn-Rethels Faschismusanalyse recht schlicht erscheinen. In ihrer Ganzheit ist sie weitaus vielschichtiger. Die Faschisten werden weder dämonisiert noch zu Marionetten des Monopolkapitals verharmlost. Sohn-Rethel zeigt vielmehr eine Dynamik der Interessenkonflikte und -koalitionen, deren Eigenbewegung in der Aufrüstung und Importsubstitution durch künstlichen Rohstoffersatz zwar frühzeitig die Zeichen auf Krieg setzte, deren weiterer Verlauf aber zu vielen Zeitpunkten ungewisser war als es im Nachhinein scheinen mag. Die Verbindung von Zwangsläufigem und Zufalligem in der politischen und ökonomischen Machtergreifung der Nationalsozialisten schildert Sohn-Rethel besonders eindrücklich in den 'Entwicklungslinien der Außenpolitik' (Kap. 9) und in der 'Geschichte des 30. Juni 1934', dem abschließenden Kapitel über den „NS-Brudermord" an der SAFührung, mit dem Hitler einem Putsch der Reichswehr vorbeugte und zugleich einen entscheiden-

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Sohn-Rethel, Alfred den Schritt auf dem Weg in die bedingungslose Aufrüstung machte. Sohn-Rethels Beiträge zur Analyse des 'deutschen Faschismus' sind gewissermaßen historische Variationen über sein Generalthema: die Gegensätze zwischen der Produktionslogik und der Aneignungslogik, die er in marktvermittelten Gesellschaften vereinzelter Warenbesitzer angelegt sah. Sein 'eigentliches Projekt' bildete die Ausarbeitung einer materialistischen Erkenntnistheorie unter dem Grundgedanken, daß die Realabstraktion des Warentauschs die Denkform der Abstraktion erzeugt und verallgemeinert. Durch die Erklärung des naturwissenschaftlichen Glaubens an zeitlose Wahrheiten als notwendig falsches Bewußtsein wollte Sohn-Rethel das 'reine Denken', das logische apriori Kants auf Marxsche Füße stellen und zugleich die Marxsche Theorie vom hegelianischen Idealismus der Naturerkenntnis befreien. Sohn-Rethels Arbeiten beinhalten insofern ein Kontrastprogramm zu Georg Simmels Philosophie des Geldes, deren Grundabsicht darin lag, „dem historischen Materialismus ein Stockwerk unterzubauen, derart, daß ... jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis ... metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden" (1922, S. VIH). Simmels Philosophie hat u.a. die Werke von Lukäcs, Bloch, Kracauer und Benjamin beeinflußt. Da diese ihrerseits Sohn-Rethel inspiriert haben, ist es erstaunlich, daß sich in dessen zentralen Arbeiten keinerlei Auseinandersetzung mit Simmel findet. Sohn-Rethel entwickelte seine Erkenntnistheorie an Gegenüberstellungen der Begriffspaare 'Gebrauchswert - Tauschwert', 'Naturaustausch Warenaustausch', 'Produktionsgesellschaft - Aneignungsgesellschaft' und 'körperliche Arbeit geistige Arbeit'. Der Tauschakt bildet die grundlegende Realabstraktion in einer gesellschaftlichen Handlung, die jeglichen Gebrauch der Ware (bzw. Naturaustausch) prinzipiell ausschließt. Zugleich bedingt die reziproke Aneignung von Waren nach Auffassung Sohn-Rethels eine Trennung von Produktion und Konsumtion, die auf Ausbeutung beruht. Ausbeutung sei die Grundlage aller Aneignungsgesellschaften, in denen ein Teil der Bevölkerung konsumiert ohne zu produzieren. Während in allen Aneignungsgesellschaften Arbeitszwang und Muße getrennt seien, bilde die Scheidung der geistigen von der körperlichen Arbeit ein Spezifikum warenproduzierender Gesellschaften. Die Naturwissenschaften werden dabei

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zu einem Herrschaftsinstrument, das nur scheinbar eine übergesellschaftliche Rationalität besitzt. Sohn-Rethels Kritik am ahistorischen Geltungsdrang naturwissenschaftlicher Denkformen, deren Entstehung und Funktionsweise er mit der Realabstraktion im Warenaustausch erklärt, hat wohl dazu beigetragen, seine Isolation in der Emigration zu beenden. Sie hat aber auch die Frage nach den historischen Begrenzungen ihrer eigenen Reichweite aufgeworfen. Sohn-Rethels späte Popularität in Deutschland, die ihm schließlich zur Anstellung und Ehrenpromotion an der Universität Bremen verhalf, verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, daß die Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre vom Kampf gegen Entfremdung beseelt waren, also von der Ablehnung aller Abstraktionen, die sich in konkreten Lebenszusammenhängen zerstörerisch geltend machen (vgl. Negt 1988, S. 142 f.). Sohn-Rethels Erkenntnistheorie, die bis dahin nur „subkutan über die Person Adornos" wirken konnte (von Greiff 1986, S. 310), entsprach dem Bedürfnis, „bürgerliche Wissenschaft" und „technokratische Ideologie" als falsches Bewußtsein zu entlarven. Zwar bleibt letztlich unklar, was sich an der Erkenntnis von Naturgesetzen substantiell ändern soll, wenn die Erkenntnistätigkeit gesellschaftlich bestimmt ist. Aber Sohn-Rethel hat sich bemüht zu zeigen, daß abstraktes Denken durch die Erklärung seiner Entstehungsbedingungen keineswegs obsolet würde. Seine Hoffnung lag vielmehr im Übergang zu einer (nicht-faschistischen) gesellschaftlichen Produktionsplanung, in der mit der Realabstraktion des Warenaustausches auch die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit aufgehoben würde, und mit der sich eine „neue Logik" entfalten könne (1973, S. 207 ff. und 1981). Selbstredend weiß heute niemand, ob ein solcher Übergang stattfindet und worin sich die „neue Logik" von heutigen Denkformen unterscheidet. Schriften in Auswahl: (1936) Von der Analytik des Wirtschaftens zur Theorie der Volkswirtschaft. Methodologische Untersuchung mit besonderem Bezug auf die Theorie Schumpeters, Emsdetten (Diss.); Wiederabdruck in (1978). (1973) Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis (2. Aufl.), Frankfurt (revidierte

Soudek, Josef

(1975)

(1976)

(1978) (1981)

Neuaufl. mit dem Untertitel: Zur Epistemologie der abendländischen Geschichte, Weinheim 1989). Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus. Aufzeichnungen und Analysen (2. Aufl.), Frankfurt; revidierte Neufassung unter dem Titel: Industrie und Nationalsozialismus. Aufzeichnungen aus dem 'Mitteleuropäischen Wirtschaftstag', Berlin 1992. Das Geld, die bare Münze des Apriori, in: P. Mattick u.a.: Beiträge zur Kritik des Geldes, Frankfurt, S. 35117; revidierte Neuauflage, Berlin 1990. Warenform und Denkform, Frankfurt. Produktionslogik gegen Aneignungslogik, in: P. Löw-Beer u.a.: Industrie und Glück. Der Alternativplan von Lucas Aerospace, Berlin, S. 195-210.

Bibliographie: Dombrowski, H.D. u.a. (1978): Symposium Warenform - Denkform. Zur Erkenntnistheorie Sohn-Rethels, Frankfurt/New York. Greiff, B.v. (1986): Über materialistische Erkenntnistheorie und Emigration, in: Leviathan, Bd. 14, S. 308-312. Negt, O. (1988): Laudatio für Allred Sohn-Rethel. Rede anläfilich der Verleihung des Ehrendoktors an Alfred Sohn-Rethel in der Universität Bremen am 5. Februar 1988, in: Leviathan, Bd. 16, S. 140155. Wassmann, Β ./Müller, J. (1979): L'invitation au voyage (Festschrift für Alfred Sohn-Rethel zum 80. Geburtstag), Bremen. Quellen: Berkholz, S., in: Die Zeit, Nr. 48 (1989); Greffrath, M. (Hrsg.) (1989): Die Zerstörung einer Zukunft, Frankfurt a.M., S. 213-262; ISL 1984. Hans-Michael Trautwein

Soudek, Josef, geb. 31.5.1905 im böhmischen Bodenbach an der Elbe, gest. ca. 1995 in New York Er promovierte 1928 in Frankfurt und arbeitete von 1928-1931 als Assistent bei -> L.A. Hahn und als Managementassistent bei der Deutschen Effecten- und Wechselbank. Von 1931-1935 war

er als Journalist und Mitherausgeber des Handelsteils der Frankfurter Zeitung und von 1932-1935 als verantwortlicher Redakteur der von der Frankfurter Zeitung herausgegebenen Wirtschaftskurve (WK) tätig. Nach seiner Entlassung emigrierte er mit seiner Frau 1936 nach New York (seine Schwester starb 1944 in Auschwitz) und wurde 1942 amerikanischer Staatsbürger. Nach seiner Tätigkeit als Research Associate von 1936-1942 für das emigrierte Institut für Sozialforschung an der Columbia University war er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1971 am Queens College als Instructor of General Economics (1942-1947), als Assistant Professor of Economic Systems and Monetary Theory (1947-1953), als Associate Professor (1953-1962) und als Professor (1962-1971) im Bereich der wirtschaftswissenschaftlichen Dogmengeschichte tätig. Von 1945-1958 übernahm er eine Lektortätigkeit an der Columbia University (School of General Studies) und von 1951-1956 Chairman seiner Fakultät Soudek war Mitglied der American Economic Association und der Renaissance Society of America sowie der Medieval Academy of America. Soudek studierte von 1924-1927 Ökonomie und Soziologie an den Universitäten Frankfurt am Main, Berlin und Heidelberg, als seine Lehrer gibt er u.a. W. Gerloff, -» E. Lederer, K. Mannheim, -» E. Altschul und -» F. Oppenheimer an, bei dem er auch 1928 seine Dissertation über Die sozialen Auswirkungen der Konjunkturschwankungen schrieb, die - neben monetären Fragen und Theoriegeschichte - seinen frühen Forschungsschwerpunkt zwischen Methodik und Konjunkturtheorie bezeichnet und von E. Altschul, dem Leiter der Frankfurter Gesellschaft für Konjunkturforschung, angeregt wurde. Der überwiegende Teil der Arbeit kreist um das Verhältnis von deskriptiver Konjunkturtheorie mit qualitativen Deutungsschemata und einer empirisch-statistischen Betrachtung, die zwar GröBenbeziehungen festlegt, aber auch in Form der Korrelationsanalyse nicht kausal notwendige Zusammenhänge ergibt, weshalb eine Synthese beider Ansätze erforderlich sei. Soudeks Skepsis gegenüber rein quantitativen Verfahren, sein Insistieren auf das Problem der Ursache- und Wirkungszuschreibung in unterschiedlichen Konjunkturtheorien usw. bewegt sich ganz im Gedankenfeld des Altschulschen Ansatzes eines Syntheseversuchs von deduktiver und statistischer Methode; die Arbeit hat keine sozialpolitische Ausrichtung (die Meinung,

661

Soudek, Josef ökonomische Variablen seien allein ausschlaggebend für das soziale Leben wird ausdrücklich abgelehnt) und fällt in das Gebiet der Methode der Konjunkturtheorie mit schlichten Ergebnissen wie dem, daß die Selbstmordrate im Aufschwung sinkt, in der Depression aber zunimmt. Neben einer Kritik der Goldscheidschen Finanzsoziologie (1929b), deren Berücksichtigung von ethischen Auswirkungen bei der Beurteilung der richtigen Mitteldeckung als Verwischung der Grenzziehung zwischen Politik und Wirtschaft und Finanzwissenschaft und Soziologie abgelehnt wird, und einem gediegenen Literaturiiberbiick über den Stand der Konjunkturforschung, in dem er die Vereinigung ökonomisch-theoretischer und mathematisch-statistischer Forschung als Synthese von Konjunkturtheorie und -beobachtung fordert (1930/31) und den monetären gegenüber den Disproportionalitätstheorien den Vorteil eindeutigerer konjunkturpolitischer Grenzen zugesteht (Ausgleich der Schwankungen des Kreditvolumens durch die Diskontpolitik), sind vor der Emigration seine Beiträge in der Wirtschaftskurve (WK) anzuführen, in denen er versucht, die geforderten Synthesen einzulösen. Soudek zeichnete unter der Herausgeberschaft des Bankiers -» E. Kahn seit April 1932 bis Heft 4, 1934, als für die Redaktion Verantwortlicher. Auf den Punkt gebracht lassen sich Soudeks Beiträge wirtschaftspolitisch als liberal-konservativ bezeichnen. Die nach 1930 geführte Debatte um eine aktive staatlich geführte Konjunkturpolitik beeinflußte ihn nicht. Stattdessen forderte er, daß die deflatorische Preisentwicklung durch internationale Kreditkooperation zur Behebung der falschen Goldverteilung und durch die Auflockerung und Senkung der gebundenen (Kartell-)Preise behoben werden solle (WK 1931, S. 382-393). Den eigentlichen Hauptmangel des internationalen Währungsgebäudes sah er in der Aufgabe der reinen Goldkernwährung zugunsten des Golddevisenstandards, dem es an regulativer Kraft zur Ausgleichung von Preis- und Zinsparitäten aufgrund der Bardeckung durch Devisen neben Metallmünzen und -barren fehle (WK 1932, S. 61-70 und 228-242); die Devisenbewirtschaftung wird als nicht marktkonforme Maßnahme (WK 1932, S. 121-129), „künstliche" Preisankurbelungen u.a. mit einer mechanischen Anwendung der Quantitätsformel abgelehnt. Soudeks Ausführungen enthalten viele wichtige, zur damaligen Zeit außer Acht gelassene geldtheoretische Einsichten, auch

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seine Kenntnisse des tatsächlichen Wirtschaftsgeschehens und die Rückbindung an (konjunktur-) theoretische Fragestellungen (z.B. bei der Frage der Beeinflussung der Lagerbewegung primär durch die Zinshöhe nach Hawtrey oder die Lagerkosten nach Keynes und ihre generelle Bewegung und Bedeutung im Konjunkturverlauf (siehe WK 1934, S. 25-37) und die Darlegung der veränderten Spielregeln und Funktionsweise des Kapitalmarktes (WK 1934, S. 266-278 und 383-390) verdienen hervorgehoben zu werden. Andererseits vertraute Soudek bis zum bitteren politischen Ende auf die autonomen Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft, in der ökonomischen Talfahrt zwischen dem November 1932 und April 1933 sah er nur einen Rückschlag „auf dem Weg zum echten Aufschwung", der nur einer politischen Konsolidierung bedürfe (WK 1933, S. 71-74). Er lehnte den Vorschlag eines kreditfinanzierten staatlichen Investitionsprogramms als Initialzündung grundsätzlich ab. Er verstand zwar das Motiv des sozialen Drucks als Ursache des „Mißtrauens gegen den Automatismus der Wirtschaft", die Ungeduld und die vorgeschlagenen Interventionsmaßnahmen aber ließen sich für ihn nicht hinreichend begründen. Die Ankurbelung sei ein „unerreichbares Ziel" aufgrund des Crowding-out-Effekts, die öffentliche Tätigkeit bei solchen Maßnahmen müßte sich auf Straßenbau und ähnliches beschränken, der aber arbeitsintensiv sei und wenig Investitionen erfordere, also nicht als Investitionszündung wirke und nach der Depressionsüberwindung zu einer Konjunkturüberhitzung führen werde (1932). Soudek kam nach seiner Emigration nicht mehr auf die noch in der heutigen Fachliteratur kontrovers beurteilte Frage damaliger Handlungsspielräume zurück. Trotz reger Lehrtätigkeit beschränkten sich seine Publikationen neben gelegentlichen Rezensionen und drei unveröffentlichten Beiträgen aus seiner Tätigkeit am emigrierten Institut für Sozialforschung zu Löwenthals Literaturkritik aus dem Jahr 1941, einer mit Pollock geplanten Gliederung zu den sozialen und wirtschaftlichen Aspekten der Wehrwirtschaft aus dem Jahr 1939 und einem Kommentar zu Stolpers Englandbuch aus dem Jahr 1941 (Max-Horkheimer-Archiv Frankfurt, IX 214 a; IX 167.5 und VI 32, 242-245) auf Beiträge zur aristotelischen Tauschtheorie (1952) und zu Leonardo Brunis Übersetzung und Kommentaren zur (pseudo-)ari-

Spiegel, Henry William stotelischen 1976).

Ökonomik

(1968, s.a.

1958 und

Vor Brunis Übersetzung und Kommentierung der pseudo-aristotelischen Hauswirtschaftslehre mit staatswissenschaftlichen Elementen im Jahr 1420/ 21 wurde der Text im Mittelalter mindestens zweimal ins Lateinische übersetzt. Soudeks zeitüberdauemde Leistung bestand darin, neben einer Katalogisierung der Nachschriften anhand der ungefähr 250 handschriftlichen Kopien die erste an der Renaissance orientierte Rezeption dieser antiken Arbeit über Moralphilosophie zu verfolgen (siehe 1968 und die Ergänzung 1976) und H. Barons These der zweiphasigen Übertragung und Veröffentlichung zu bestätigen (1958). Soudek vergleicht die nur zum Teil vollständigen Abschriften, er verfolgt die Ausbreitung von Italien nach Spanien und in andere europäische Länder, und bestimmt die sozialen Gruppen, die die Manuskripte besaßen oder rezipierten. Bruni „thus stimulated the nonacademic and to a lesser degree academic study of this branch of Aristotelian moral philosophy during the century after the publication of his annotated version of the Economics" (Soudek 1968, S. 100). Schriften in Auswahl: (1929a) Die sozialen Auswirkungen der Konjunkturschwankungen, Bonn (Diss.). (1929b) Finanzsoziologie. Eine Kritik der Goldscheidschen Theorie, in: Archiv für Sozial Wissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 62, S. 172-183. (1930/31) Zur Bibliographie der Konjunkturforschung, in: Bibliographie der Rechtsund Staatswissenschaften, Bd. 39, S. 1-12 und S. 47-52. (1932) Die Ankurbelungsparole, in: Die Wirtschaftskurve, Heft 4, S. 309-316. (1952) Aristotele's Theory of Exchange. An Inquiry into the Origin of Economic Analysis, in: Proceedings in the American Philosophical Society, Bd. 96, S. 45-75. (1958) The Genesis and Tradition of Leonardo Bruni's Annotated Latin Version of the (Pseudo-)Aristotelian Economics, in: Scriptorium, Bd. 12, S. 260268. (1968) Leonardo Bruni and His Public: A Statistical and Interpretative Study of His Annotated Latin Version of the

(1976)

(Pseudo-)Aristotelian Economics, in: Studies in Medieval and Renaissance History, Bd. 5, S. 51-105. A Fifteenth-century Humanistic Bestseller, in: E.P. Mahoney, (Hrsg.): Philosophy and Humanism, Leiden, S. 128-143.

Bibliographie: Goldbrunner, H. (1975): Leonardo Brunis Kommentar zu seiner Übersetzung der pseudo-aristotelischen Ökonomik - Ein humanistischer Kommentar, in: A. Buch und O. Herding (Hrsg.): Der Kommentar in der Renaissance, Bonn Bad-Godesberg, S. 99-118. Helge Peukert

Spiegel, Henry William, geb. 13.10.1911 in Berlin, gest. 24.7.1995 in Washington, D.C. Schon früh verlor Spiegel seine Eltern. Er war erst 9 Jahre alt, als sein Vater, und 16 Jahre alt, als seine Mutter starb. Nach einem humanistischen Abitur am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Berlin im Jahre 1930 studierte Spiegel Rechtswissenschaft an den Universitäten Heidelberg, Köln und Berlin, wo er im Jahr 1933 noch den Doktorgrad erwarb. In Berlin war Spiegel Schüler von Arthur Nussbaum, dem Begründer der Rechtstatsachenforschung - einer Schule juristischen Denkens, die den aktiven und passiven EinfhiB des geschriebenen Rechts in der Rechtspraxis erforscht. Nussbaum, der zugleich ein Spezialist der rechtswissenschaftlichen Aspekte des Geldes war, lehrte später für viele Jahre an der Law School der Columbia University in New York. Spiegels Ausbildung in Berlin entsprach der Standardausbildung für Juristen. Sein ursprüngliches Ziel bestand in einer richterlichen Karriere. Obwohl er die erste juristische Staatsprüfung bestand, erhielt er wegen der Nazis nicht die übliche Ernennung zum Referendar. Ausgestattet mit einem Stipendium ging er schließlich 1936 an die Cornell University in Ithaca im Staate New York, um bei George F. Warren zu studieren. Nach einem Semester entschied Spiegel, daß Agrarökonomie mit dem Schwerpunkt Farmbewirtschaftung nicht seinem Interesse entsprach und wechselte an die University of Wisconsin, die damals Zentrum der Institutionenökonomie (institutional economics) war. Unter den Schülern des erst kurz zuvor emeritierten John R. Commons waren viele

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Spiegel, Henry William als Arbeitsökonomen bekannt geworden. Obwohl Commons nicht mehr regelmäßig lehrte, lernte Spiegel ihn sehr gut kennen. In Wisconsin entwikkelte Spiegel auch lebenslange Freundschaften mit dem Ökonomen Walter Morton und dem späteren Politikwissenschaftler William Ebenstein, einem Studienkollegen. Weitere Studienfreunde waren Walter Heller und Joseph Pechman, die wie ihr akademischer Lehrer Harold Groves herausragende Professoren der Finanzwissenschaft werden sollten, sowie der Entwicklungsökonom Everett Hagen. Unter der Betreuung von George S. Wehrwein erwarb Spiegel 1939 den Doktorgrad in Wirtschaftswissenschaft. In seiner Jugend verbesserte Spiegel sein Einkommen durch journalistische Nebentätigkeiten. So publizierte er unter anderem zwei lange Leitartikel in der Neuen Zürcher Zeitung über Kriegswirtschaft am 8. Juli 1936 und zur Debatte über die Nationalisierung der Rüstungsindustrie am 21. und 22. August 1936. Während seiner Studienzeit in Wisconsin besuchte Spiegel regelmäßig die Professoren Jacob Viner und Frank Knight an der Universität Chicago. Dies wurde die Grundlage für lebenslängliche freundschaftliche Beziehungen. Später führte Viner Spiegel in das Werk von Piene Nicole ein, jenem jansenitischen Priester, der argumentiert hatte, daB Wohltätigkeit und Eigenliebe gleichermaßen zu gesellschaftlicher Wohlfahrt führen können. Spiegel (1971) war der Erste, der Nicole in die englischsprachige wirtschaftswissenschaftliche Literatur einführte. In seiner Berliner Universitätszeit hatte Spiegel bereits die Monographie Der Pachtvertrag der Kleingartenvereine (1933) publiziert, die als Seminararbeit unter Nussbaum entstanden war und später als Dissertation benutzt wurde. In den Jahren von 1937 bis 1939 veröffentlichte er acht Artikel, hauptsächlich in juristischen Fachzeitschriften. Neben vielen auf Deutsch verfaBten Arbeiten war darunter ein Artikel im American Journal of International Law, der 1969 in eine Zusammenstellung führender Artikel aus dieser Zeitschrift aufgenommen werden sollte. Seine an der University of Wisconsin entstandene wirtschaftswissenschaftliche Dissertation wurde 1941 unter dem Titel Land Tenure Policies at Home and Abroad publiziert. Spiegel erhielt seine erste akademische Ernennung als Assistenzprofessor der Ökonomie an der Duquesne University im Jahre 1939. Ein Angebot,

664

Dekan der Law School zu werden, lehnte er dabei ab. Spiegel verließ diese Universität 1942, um Dienst in der Armee der Vereinigten Staaten zu leisten, zunächst im Quartermaster Corps, anschließend beim Geheimdienst und schließlich im Office of Strategie Services, dem berühmten OSS, zusammen mit zahlreichen anderen Ökonomen, die bereits damals bekannt waren oder es später werden sollten, wie Edward Mason, Moses Abramovitz, Charles Kindleberger, Charles Hitch, Walt W. Rostow, Ε. M. Hoover, Lloyd Metzler, -» Albert Hirschman, Paul Baran u.a. Während dieser Zeit entwickelte Spiegel Freundschaften mit -> Fritz Machlup und P. T. Ellsworth sowie mit dem großen Juristen Hans Kelsen. Nach einer kurzen Dienstzeit am Department of State machte sich Spiegel 194S mit einem Guggenheim-Stipendium an das Studium der brasilianischen Wirtschaft. Er kehrte 1946 in die akademische Lehre zurück, als Associate Professor an der Catholic University, einer Universität, an der er bereits seit 1943 als Teilzeitlehrkraft tätig gewesen war. 1950 wurde Spiegel zum Full Professor ernannt. Bis zu seiner Emeritiening im Jahre 1977 betreute er über 20 Dissertationen. Spiegel war Gastprofessor an zahlreichen Universitäten, darunter Wisconsin, Johns Hopkins, Michigan State, Virginia, Washington, Maryland, California in Berkeley und Santa Barbara, sowie dem Industrial College of the Armed Forces. Im Jahre 1943 wurde Spiegel als US-Staatsbürger naturalisiert. 1947 heiratete er Cecilie Wassermann und zog ihre beiden Söhne mit auf, deren Vater durch die Nazis während des Zweiten Weltkriegs ermordet worden war. Während seiner Jahre an der Katholischen Universität war Spiegel zwischenzeitlich im Public Service tätig. So diente er beispielsweise im Mitarbeiterstab der Materials Policy Commission des Präsidenten, deren Bericht 1952 publiziert wurde. Im selben Jahr war er Konsulent des Public Advisory Board for Mutual Security, und 1962 diente er als Berater des Vorsitzenden des Komitees für öffentliche Arbeiten des amerikanischen Repräsentantenhauses. 1958 war er in einem Forschungsprojekt tätig, das sich mit dem Wert von Forststraßen in Idaho befaßte, finanziert durch das U.S. Bureau of Public Roads. Spiegel hat auf vielen Gebieten Pionierarbeiten verfaßt. The Economics of Total War erschien 1942. 1949 wurde The Brazilian Economy, mit dem aussagekräftigen Untertitel Chronic Inflation

Spiegel, Henry William and Sporadic Industrialization veröffentlicht. Im selben Jahr erschien Current Economic Problems, ein Buch, von dem 1955 eine zweite und 1961 eine dritte Auflage erschien. 1951 publizierte er die Introduction to Economics. Spiegels Studie über die brasilianische Wirtschaft diagnostiziert eine starke Tendenz zur „permanenten Inflation" als einen begleitenden Faktor der Entwicklung und Industrialisierung in weniger entwickelten Ländern. Sie betont zugleich den sporadischen Charakter der Industrialisierung unter den Bedingungen der internationalen wie heimischen Ungleichheit, die die Entwicklung eines kräftigen inländischen Konsumgütersektors ausschließt. Zu den interdependenten Variablen, die von ihm betont wurden, gehören undemokratische und autokratische Regimes, der Mangel beim gesundheitlichen wie bildungsmäßigen Fortschritt der Massen als einer Vorbedingung des Produktivitätsfortschritts sowie die Einkommens- und Vermögensverteilung. Der Band ist aufgrund seiner Betonung der politischen Ökonomie der Entwicklung statt der engen, technischen Bedingungen des Wachstums ebenso bemerkenswert wie aufgrund seiner Konzentration auf das Problem von Sparen und Investieren in einem Land, in dem die meisten Menschen in Armut leben und die Reichen an einer Industrialisierung kein Interesse zeigen, sowie aufgrund seines Versuches, die nur begrenzt verfügbaren nationalen Einkommensstatistiken sowie andere statistische Daten zu nutzen. Spiegels Reputation als ein herausragender Wirtschaftswissenschaftler beruht jedoch hauptsächlich auf seinem Werk zur Dogmengeschichte. The Development of Economic Thought (1952) präsentierte eine einzigartige Zusammenstellung von Aufsätzen großer Ökonomen über das Werk anderer großer Ökonomen. Spiegel offenbarte, daß dieses 1955 auch in japanischer Übersetzung erschienene Werk durch Edmund Wilsons Shock of Recognition inspiriert wurde. Viele Beiträge bestanden aus Wiederabdrucken früherer Schriften, jedoch waren andere extra fur diesen Zweck verfaßte Orginalbeiträge. Die Zusammenstellung ist für hermeneutische Zwecke von besonderem Interesse: Die einzelnen Beiträge repräsentieren Einschätzungen verschiedener Autoren aus der Perspektive anderer bedeutender Ökonomen. 1960 publizierte er The Rise of American Economic Thought. Dieses Werk machte Spiegel, zusammen mit seinen anderen Schriften, neben Joseph Dorfman von der Columbia University, zu

einem der beiden führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Entwicklung des ökonomischen Denkens in den Vereinigten Staaten. 1971 veröffentlichte er The Growth of Economic Thought, ein Werk, das schnell zu einem der führenden Lehrbücher für Undergraduates wurde und fur vergleichbare Werke das Referenzmaß setzte. 1984 gab er zusammen mit dem Verfasser dieses Beitrages die beiden Bände Contemporary Economists in Perspective heraus, die an The Development of Economic Thought anschlossen und die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg systematisierten. Annähernd die Hälfte der Beiträge bestand aus den offiziellen Würdigungen der Nobelpreisträger, während die anderen Aufsätze speziell für diese beiden Bände verfaßt wurden. Spiegels großes Werk The Growth of Economic Thought verbindet die beiden fuhrenden Ansätze in der Disziplingeschichte der Wirtschaftswissenschaft. Auf der einen Seite betont er die Verbindung zwischen der Ökonomik und den Geisteswissenschaften, indem er die Evolution des Faches auf die gesamte Kultur sowie auf philosophische und andere intellektuelle Entwicklungen bezieht. Dies erfordert eine relativ breite Konzeption der Reichweite und der Ursprünge der Wirtschaftswissenschaft Andererseits widmet er seine Aufmerksamkeit den Details der internen Entwicklung der Wirtschaftstheorie und ihrer Techniken. In beiderlei Hinsicht vermeidet Spiegel Karikaturen, indem er die Substanz und Entwicklung ökonomischer Ideen in ihrer Komplexität sorgfältiger miteinander verbindet, als es üblicherweise bei solchen Studien der Fall ist Die entscheidenden Vorzüge des Buches liegen in der genauen Ausarbeitung der Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft zwischen dem Merkantilismus und der klassischen Wirtschaftstheorie, in der sorgfältigen Herausarbeitung der Ursprünge liberalen Denkens, in der genauen Unterscheidung zwischen der Hegeischen und der Baconschen Variante des Historismus, in der Aufmerksamkeit die der Cambridge-Schule insgesamt, statt nur den Beiträgen Alfred Marshalls, gewidmet ist, in der Behandlung des U.S. amerikanischen ökonomischen Denkens und nicht zuletzt in der großartigen bibliographischen Übersicht. Die dritte Auflage von 1991 nimmt nicht nur eine Aktualisierung dieser Bibliographie vor, sondern untersucht zugleich die Vielfalt und die neuen Richtungen des zeitgenössischen ökonomischen Denkens. Alle Rezensenten waren gleichermaßen durch die

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Spiegel, Henry William Gelehrsamkeit, Urteilsfähigkeit und durch die Universalität des Standpunktes beeindruckt. Das Buch bestätigte, daß Spiegel zu den führenden Historikern ökonomischen Denkens zählt. Spiegel verfaBte auch zahlreiche Beiträge über unterschiedlichste Themen in wirtschaftswissenschaftlichen Zeitschriften und in Handbüchern sowie viele Buchbesprechungen. Seine Artikel beinhalten Arbeiten über die Theorie und Geschichte des Konzepts des Unternehmers, wirtschaftliches Wachstum und Entwicklung, Adam Smith sowie über den Kurs Staat und Unternehmen im wirtschaftswissenschaftlichen Curriculum. Einige der in wirtschaftswissenschaftlichen Periodika erschienenen Arbeiten Spiegels verdienen eine nähere Würdigung. Ahnlich wie The Development of Economic Thought wurden diese Aufsätze durch Ideen außerhalb des wirtschaftswissenschaftlichen Bereiches stimuliert, genauer gesagt durch die Wissenschaftsphilosophie oder historische Studien. Sie demonstrieren eine intellektuelle Spannweite, die gleichermaßen über den ökonomischen Fachhorizont hinausgreift wie sie unser Verständnis ökonomischer Ideen erweitert. Spiegels Aufsatz über die Geschichte des Gleichgewichtskonzepts greift Anregungen aus Alexander Koyrts Metaphysics and Measurement (1968) auf und arbeitet diese aus. Sein Artikel Adam Smith 's Heavenly City wurde inspiriert durch Carl Beckers Heavenly City of the Eighteenth-Century Philosophers (1932). Der erste Aufsatz reflektiert die gesamte Geschichte ökonomischen Denkens und unterteilt ihre führenden Vertreter in Platoniker und Aristoteliker. Der Hauptzweig der platonischen Tradition betrachtet das ökonomische Universum als mathematisch geordnet, während die Aristoteliker geneigt sind, einen eher empirischen Ansatz zu praktizieren. Seite an Seite mit dem Hauptzweig der platonischen Tradition und zeitweise mit ihm vermischt, stellt Spiegel eine zweite Richtung des Piatonismus vor, die hermeneutisch, mystisch oder magisch ist. Diese Unterscheidungen warfen neues Licht auf die Beiträge zahlreicher Autoren wie z.B. Petty und Boisguilbert. Adam Smith wird allgemein als ein glänzender Vertreter der Aufklärung oder des Zeitalters der Vernunft angesehen. Im zweiten hier besprochenen Artikel untersucht Spiegel einige gedankliche Strukturen des Wohlstands der Nationen, die geistige und intellektuelle Einflüsse reflektieren, die der Aufklärung vorausgehen oder sogar ihrer zen-

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tralen Tendenz zuwiderlaufen, die Herrschaft der Vernunft zu errichten, die die Welt ohne Rekurs auf das Übernatürliche interpretiert. Die vier zur Diskussion ausgewählten Themen beinhalten Smiths Ansicht zur menschlichen Natur, die Rolle säkularer Eschatologien in seinem Denken, die Magie der Zahlen und die schicksalhafte Funktion des Marktes. Spiegel zieht das Fazit, daß Smith zwar nicht deT Faszination der Magie der Zahlen erlag, die Diskussion der anderen drei Themen jedoch Smiths Gebrauch voraufklärerischer Gedankengebäude erkennen läßt. In der Flut von Artikeln über Smith, die anläßlich des zweihundertjährigen Jubiläums seines großen Werkes publiziert wurden, ragt Spiegels Artikel durch seine bahnbrechende Neuinterpretation des Wohlstands der Nationen hervor, die große Ähnlichkeit mit Isaiah Berlins Arbeiten über vor- und gegenaufklärerische Kräfte aufweist. Spiegels Werk hilft bei der Einordnung und auch bei der Erklärung wie die Smithschen Analysen in verschiedenen Denkmethoden verankert sind, nämlich des Supernaturalismus, des Naturalismus, Rationalismus, Empirismus, Historizismus, usw. In einem seiner letzten Artikel Ethnicity and Economics zweigt Spiegel ab in die Soziologie des Wissens und entwickelt ein Gesetz wonach, soweit es die Wirtschaftswissenschaft betrifft, Multiethnizität positiv mit einem höheren Abstraktionsniveau im ökonomischen Diskurs korreliert ist. Diese allgemeine Behauptung - eine der wenigen, die auf die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft anwendbar ist - wird mithilfe verschiedener Testfälle illustriert, die in ansteigender Abstraktion geordnet sind: der nationale Appell der Historischen Schule, merkantilistische Militanz, der kosmopolitische Anklang der Physiokraten, Carl Mengers reine Wirtschaftstheorie und die Mathematisierung der Ökonomie inmitten der multikulturellen Welt des zwanzigsten Jahrhunderts. Während oft argumentiert wird, daß Multiethnizität zu multikultureller Verschiedenheit, Rivalität oder kultureller Dominanz führt, behauptet Spiegel, daß im Hinblick auf die Wirtschaftswissenschaft die Erfahrung eine andere sei. In seinem letzten, posthum veröffentlichten Aufsatz Refugee Economists and the Mathematization of Economics untersucht Spiegel den Beitrag, den emigrierte Ökonomen aus dem deutschen Sprachraum zur Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet haben. Sieht man von den gebürtigen Russen wie

Spiegel, Henry William Wassily Leontief und -» Jakob Marschak ab, so Fiel seiner Ansicht nach der Beitrag der noch in Deutschland ausgebildeten Ökonomen bescheiden aus, da die Historische Schule mit ihrer Verachtung reiner Theorie und höherer Grade abstrakter Argumentation einen weiten Schatten geworfen habe. Demgegenüber hätten die aus Österreich stammenden Wirtschaftswissenschaftler, wie Karl Menger, -» Oskar Morgenstern und Abraham Wald oder der gebürtige Ungar -» John von Neumann wesentlich Bedeutsameres geleistet, da ihre Ausbildung traditionell auf der Entwicklung eines fortgeschrittenen Typs reiner Wirtschaftstheorie basierte. Im Gegensatz zu den aus RuBland (Leontief 1973), Österreich ( - • Friedrich August Hayek 1974) und Italien (Franco Modigliani 1985) stammenden Ökonomen, sei keiner der deutschen Emigranten mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Bezeichnenderweise waren von den fünf Wirtschaftswissenschaftlern aus deutschsprachigen Universitäten, die zu Präsidenten der American Economic Association gewählt worden seien, drei Österreicher — • Joseph Schumpeter (1948), -π· Gottfried Haberler (1963) und -» Fritz Machlup (1966) - , einer gebürtiger Ungar (-» William Fellner 1969) und einer (Marschak 1977/8) in der Ukraine geboren. Im Jahre 1955 veröffentlichte Spiegel ein Büchlein, das erstmals Duponts Diagramm von 1774 reproduzierte, das mit Ausnahme von Daniel Bernoullis berühmter 1738 veröffentlichter Nutzenanalyse wahrscheinlich die früheste Anwendung der Geometrie in der Wirtschaftswissenschaft darstellte. Mit seinen zahlreichen Beiträgen zum New Palgrave (1987) zählt Spiegel zu den am häufigsten vertretenen Verfassern in diesem Werk. Er arbeitete im Herausgeberkreis vieler wirtschaftswissenschaftlicher Zeitschriften mit und war Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Vereinigungen. Schriften in Auswahl·. (1933) Der Pachtvertrag der Kleingartenvereine, Tübingen (Diss. iur.). (1941) Land Tenure Politics at Home and Abroad, Chapel Hill (Ph.D. econs.). (1942) The Economics of Total War, New York. (1949a) Current Economic Problems, Philadelphia/Toronto (2. Aufl. 1955; 3. Aufl. 1961).

(1949b)

(1951) (1952)

(1960) (1971)

(1975)

The Brazilian Economy. Chronic Inflation and Sporadic Industrialization, Philadelphia. Introduction to Economics, New York. The Development of Economic Thought, New York (japan. Ubers. 1955). The Rise of American Economic Thought, Philadelphia. The Growth of Economic Thought, Englewood Cliffs (3. Aufl., Durham, NC, 1991; span. Übers. 1973). A Note on the Equilibrium Concept in the History of Economics, in: Economic Appliqu6e, Bd. 28, S. 609618.

(1976)

(1984)

(1987)

(1994)

(1997)

Adam Smith* s Heavenly City, in: History of Political Economy, Bd. 8, S. 478-493. Contemporary Economists in Perspective, 2 Bde. [zus. mit W. Samuels], Greenwich, CT. [Div. Beiträge zu] The New Palgrave. A Dictionary of Economics, hrsg. von J. Eatwell u.a., London/Basingstoke. Ethnicity and Economics, in: International Social Science Review, Bd. 69, S. 3-12. Refugee Economists and the Mathematization of Economics, in: H. Hagemann (Hrsg.), Zur deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, Marburg, S. 343-352.

Bibliographie: Becker, C.L. (1932): The Heavenly City of the Eighteenth-Century Philosophers, New Haven/Ct. Koyri, A. (1968): Metaphysics and Measurement. Essays in Scientific Revolution, Cambridge, Mass. Wilson, E. (Hrsg.) (1943): Shock of Recognition. The Development of Literature in the United States, New York. Quellen·. IFZ; AEA; NP; Social Science. Bd. 34 (1959). Warren J. Samuels

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Spielmann, Heinz Spielmann, Heinz, geb. 3.11.1919 in Wien Der 'Anschluß' Österreichs verhinderte, daß Spielmann als Jude 1938 seine Matura an der Handelsakademie in Wien machen konnte. Um weiteren antisemitischen Verfolgungen zu entgehen, floh er nach Frankreich und von dort 1939 in die Vereinigten Staaten von Amerika. Seit 1941 diente er während des ganzen Zweiten Weltkrieges in der Armee, vor allem in den Inseldschungeln des Stillen Ozeans. Spielmann etTang 1949 seinen B.A.-Grad in Ökonomie und 19S2 seinen M.A. in Business Administration der Universität von Washington. Der Titel seiner M.A.-These ist Production and Marketing Problems of the Frozen Food Industry. Nach mehreren Jahren einer Kaufhausleitung in Spokane, Washington, nahm er 19S4 eine Stelle als Marktspezialist in der Landwirtschaftsabteilung des Staates Washington in Yakima an, wo er an Marktprojekten von Genossenschaften arbeitete. Ein Jahr später begann er ein Studium an der agrarökonomischen Abteilung der Washington State Universität bei den Professoren Swanson und Brough, das er 1963 mit einer Doktorarbeit Adjustments of a Farmers' Cooperative Association to Technological and Marketing Changes in the Agricultural Economy - A Case Study abschloB. In dieser Arbeit verglich er theoretische Genossenschaftsmodelle mit dem tatsächlichen Verhalten einer großen landwirtschaftlichen Genossenschaft. Im Jahre 1960 wurde Spielmann als Assistant und später Associate Professor an der Montana State Universität in Bozeman angestellt. Zu der Zeit war ein Volksentscheid Uber den sog. Cochrane Gesetzentwurf eine wichtige Streitfrage für die Getreideproduzenten von Montana. Die Überschüsse waren so groß, daß die Regierung buchstäblich keine Aufbewahrungskapazitäten für Getreide mehr hatte. Spielmann wurde gebeten, die Landwirte zu überreden für den Volksentscheid zu stimmen, um den Getreideüberschuß zu reduzieren. Obwohl der Volksentscheid negativ verlief, motivierte diese Erziehungstätigkeit Spielmanns Interesse an landwirtschaftlicher Politik. 1964 wurde Spielmann Associate Professor und 1971 Full Professor für Agrarökonomie an der Universität von Hawaii in Honolulu, wo er vor allem über landwirtschaftliche Märkte und Agrarpolitik lehrte. Da er viele Studenten aus ostasiatischen Ländern hatte, verglich er die Politik dieser

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Länder mit der der Vereinigten Staaten. Im allgemeinen fand er, daß die landwirtschaftliche Politik der ostasiatischen Länder große Abhängigkeit von Einmischung seitens der Regierung zeigte. Die Politik der Vereinigten Staaten proklamierte zwar die freie Marktwirtschaft im Agrarsektor, dennoch existierten auch hier beträchtlichte Interventionen. 1984 wirkte Spielmann als Repräsentant der Vereinigten Staaten fur die FAO über die Politik von südostasiatischen Ländern nach Bangkok, Thailand. Spielmanns Arbeit zu den Genossenschaften basierte auf seiner Überzeugung, daß Landwirte Ersparnisse durch Zusammenarbeit in der Produktion und Vermarktung erwirtschaften könnten. Auf Grund dieser Arbeit wurde er zum Mitglied des landwirtschaftlichen Koordinierungskomitees des Gouverneurs von Hawaii ernannt, das Zuschüsse des Staates für Genossenschaftsprojekte vergibt. Außerdem wirkte Spielmann an der Gesetzgebung des Staates Hawaii für Genossenschaften mit, wie er auch ein gesuchter Berater fur viele landwirtschaftliche Genossenschaften wurde. Spielmanns Forschungsarbeit war vor allem den Vermarktungs- und Einkaufsfunktionen von landwirtschaftlichen Unternehmen und der Analyse der landwirtschaftlichen Preisbildung gewidmet. 1974 verbrachte er ein Sabbatjahr im Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten in Washington, D.C. Man war dort etwas beunruhigt, daß die Produktionskapazität der Vereinigten Staaten, vor allem in den Getreide produzierenden Gegenden, im Niedergang begriffen sei. Spielmann untersuchte diesen Sachverhalt und zeigte in seinen Schriften, daß diese Sorge unbegründet war. Unter seinen vielen Veröffentlichungen sind die, welche Nachfrageanalyse und Vermarktungsentwicklung von gamma-bestrahlten Früchten behandeln, besonders wichtig. Denn das amerikanische Publikum der 1960er Jahre fürchtet sich, solche bestrahlten Früchte zu essen, aber heutzutage sind Spielmanns Analyse und Schlußfolgerungen wieder von weitgehendem Interesse. Für mehrere Jahre war Spielmann Leiter der agrarwirtschaftlichen Abteilung der Universität von Hawaii. Er trat 1982 in den Ruhestand als Professor Emeritus und lebt jetzt in Oregon. Schriften in Auswahl: (1968) Financing Farmer Cooperatives in Hawaii (zus. mit E.R. Barmettier), Honolulu.

Staehle, Hans (1968)

(1969)

(1973a)

(1973b)

(1977a)

(1977b)

(1979) (1981)

Demand Analysis and Market Development for Fresh and Potentially Gamma-Irradiated Papaya on U.S. Mainland Markets, Honolulu. Demand Characteristics for Fresh and Gamma Irradiated Papaya on Selected Mainland Markets, in: Disometry, Tolerance and Shelflife Extension Related to Disinfestation of Fruits and Vegetables by Gamma Irradiation (E. Ross, Principle Investigator), U.S. Atomic Energy Commission, Washington, D.C. Papaya Marketing on Oahu. Retail Markup Analysis and Consumer Behavior Study (zus. mit R. Souza), Honolulu. Potential Impact of Air Freight Rates on Ranch Incomes (zus. mit J. Davidson und G. Jenkins), Honolulu. An Inter-Industry Analysis of Maui Country (zus. mit Carlos Widmann), Honolulu. Capacity Measurement in the U.S. Agricultural and Nonagricultural Sectors. A Literature Review, Washington, D.C. A Primer on Federal and State Marketing Orders, Honolulu. Structure, Conduct and Performance of Cooperative Associations in Hawaii (zus. mit J. Ishida), Honolulu.

Quellen: A; Β Hb Π. Perry F. Philipp

Staehle, Hans, geb. 31.8.1902 in Rom, gest. 3.1.1961 in Genf Staehle, Sohn eines deutschen Vaters und einer italienischen Mutter, studierte in München, Hamburg und Tübingen, heiratete die Französin Reine-Anne Durocher und nahm später die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Den größten Teil seines Berufslebens, in dem er sich immer als Ökonom originär wissenschaftlich betätigte, verbrachte er bei internationalen Organisationen. Er hat mit zahlreichen in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache verfaßten Beiträgen zur Entwicklung insbesondere der quantitativen Wirtschaftsforschung beigetragen. Darüber hinaus hat er sich aber auch als akademischer

Lehrer verdient gemacht. Von Anfang an war er aktives Mitglied in der Econometric Society, deren Gründung er als international denkender und quantitativ orientierter Wirtschaftswissenschaftler außerordentlich begrüßte. Staehle promovierte 1925 mit einer Dissertation zum Thema Die deutschen Embargoschiffe in Italien am Völkerrechtlichen Seminar der Universität Tübingen. Anschließend ging er nach Bonn, wo er als Assistent am Staatswissenschaftlichen Seminar der Universität erste Lehrerfahrungen sammeln konnte. Zwei von der Rockefeiler Foundation und vom Akademischen Auslandsdienst Berlin finanzierte Fellowships ermöglichten es ihm, seine nationalökonomischen Kenntnisse von 1927 bis 1929 an der University of Chicago und von 1929 bis 1930 an der London School of Economics zu vertiefen. Ober Paris kam er 1930 nach Genf und arbeitete dort in statistischen und ökonomischen Abteilungen des International Labour Office (ILO). 1939 übersiedelte er in die USA, um bis 1945 als Visiting Lecturer an der Harvard University und von 1946 bis 1947 in der Forschungsabteilung des International Monetary Fund (IMF) in Washington/D.C. tätig zu sein. 1947 kehrte er nach Europa zurück, wurde bei den UN Letter der Statistic Section of the Research Division of the Economic Commission for Europe in Genf und wechselte 1953 zum Sekretariat des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), wo er als Leiter der Trade Intelligence Division für den ersten Teil der Annual Reports persönlich verantwortlich war. Das wissenschaftliche Lebenswerk Staehles deckt eine bemerkenswerte Vielfalt mikro- und makroökonomischer sowie statistisch-ökonometrischer Fragestellungen ab. Auffallend ist dabei insbesondere sein stetes Bemühen um die Verbindung und Kompatibilität von Theorie und Empirie: Dies umfaßt sowohl die Überprüfung aktueller theoretischer Ansätze auf ihre Vereinbarkeit mit wirtschaftsstatistischen Fakten als auch, ausgehend von empirischen Erkenntnissen und der Verfügbarkeit von Daten, die Weiterentwicklung wirtschaftstheoretischer Überlegungen. Trotz der Breite des Arbeitsspektrums von Staehle läßt sich ein inhaltlicher Schwerpunkt ausmachen: Er beschäftigte sich eingehend mit Ansätzen, die für die Analyse und den Vergleich von Lebensstandards und damit eng verknüpft dem Konsumverhalten in verschiedenen Ländern bzw. zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen

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Staehle, Hans wesentlich sind. Insbesondere in seiner Funktion als ILO-Mitarbeiter galt sein Hauptinteresse dem Vergleich von Lebenshaltungskosten bzw. der Ermittlung gleichwertiger Einkommen in dem Sinne, daB sie aus nutzentheoretischer Sicht denselben Grad an Bedürfnisbefriedigung ermöglichen. In diesem Zusammenhang entwickelte er, motiviert durch die Unzulänglichkeiten der bis dahin gebräuchlichen Methoden, einen neuen Koeffizienten „D" zur Erfassung örtlicher, zeitlicher und gruppenspezifischer Lebenshaltungsunterschiede. Darauf aufbauend definierte er für verschiedene Bevölkerungsgruppen gleichwertige Einkommen bzw. die Kosten einer äquivalenten Lebenshaltung geometrisch als Einkommensbzw. Lebenshaltungskostenpaare mit minimalen D-Weiten und wendete dieses methodisch sehr interessante Instrumentarium in mehreren empirischen Studien auch an. Zu dem genannten Schwerpunktbereich seiner Forschungsbemühungen gehören des weiteren Beiträge zur Preisindextheorie, zum Nachfrage- und Konsumverhalten, zur Analyse und Erklärung von Einkommensverteilungen sowie zu Volkseinkommensvergleichen. Darüber hinaus setzte er sich aber auch mit der Ermittlung statistischer Kostenfunktionen, mit den Folgewirkungen des technischen Fortschritts sowie mit konjunkturellen und wirtschaftshistorischen Fragestellungen auseinander. Dies ergab sich teilweise auch aus seinen leitenden Tätigkeiten bei der Wirtschaftskommission der UN für Europa und im GATT-Sekretariat. Während er bei den UN vor allem die wirtschaftliche Entwicklung in Europa vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und im weltweiten Kontext zu untersuchen hatte, war er im GATT-Sekretariat hauptsächlich für die Analyse der wirtschaftlichen Lage und Entwicklung in den Entwicklungsländern und deren Beziehungen zu den Industrieländern zuständig. Schriften in Auswahl: (1925) Die deutschen Embargoschiffe in Italien. Ein Beitrag zur Geschichte des italienischen Seekriegsrechts im Weltkriege, Stuttgart (Diss.). (1932a) An International Enquiry into Living Costs, in: International Labour Review, Bd. 26, S. 313-363. (1932b) Ein Verfahren zur Ermittlung gleichwertiger Einkommen in verschiedenen Ländern, in: Archiv für Sozial-

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wissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 67, S. 436-446. (1934a)

The International Comparison of Food Costs. A Study of Certain Problems Connected with the Making of Index Numbers, International Labour Office Studies and Reports, Serie Ν, Nr. 20.

(1934b)

The Reaction of Consumers to Changes in Prices and Incomes. Α Quantitativ Study of Immigrants' Behavior, in: Econometrica, Bd. 2, S. 59-72.

(1934/1935) Annual Survey of Statistical Information: Family Budgets, in: Econometrica, Bd. 2, S. 349-362 und Bd. 3, S. 106-118. (1937)

A General Method of the Comparison of the Price of Living, in: Review of Economic Studies, Bd. 4, S. 205-214.

(1940)

Employment in Relation to Technical Progress, in: Review of Economic Statistics, Bd. 22, S. 94-100.

(1944/45)

Relative Prices and Postwar Markets of Food Products, in: Quarterly Journal of Economics, Bd. 59, S. 237279.

(1949)

International Comparison of Real National Incomes. A Note on Methods, in: National Bureau of Economic Research (Hrsg.): Studies in Income and Wealth. (By the) Conference on Research in (National) Income and Wealth, New York, Bd. 11, S. 221272.

(1950)

Remarques sur la politique dconomique et sociale de la Prusse, in: Revue d'Economie Politique, Bd. 60, S. 141-156.

Bibliographie: Carrd, P. (1961): Brief Note on the Life and Work of Hans Staehle, in: Econometrica, Bd. 29, S. 801-810. Quellen: NP; Eberl, I., Marcon, H. (1984): 150 Jahre Promotion an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen, Stuttgart, S. 294f. Ulrich Scheurle

Stark, Werner Stark, Werner, geb. 2.12.1909 in Marienbad (Böhmen), gest. Oktober 1985 in Salzburg Nach seinem Studium der Sozialwissenschaften in Hamburg (ab 1928), an der London School of Economics and Political Science (1930-31) und der Universität Genf (1933), das Stark 1934 mit der Promotion zum Dr. rer.pol. bei Heinrich Sieveking in Hamburg abschloß, ging er nach Prag, wo er an der dortigen Universität 1936 zum Dr. iur. promoviert wurde. Nachdem er in Prag zunächst als Bankangestellter und Zeitungsjournalist in der Wirtschaftsredaktion des Prager Tagblatt tätig gewesen war, wurde er 1937 Dozent an der Prager Freien Hochschule für Politische Wissenschaften. Die deutsche Invasion und die Auflösung der Tschechoslowakei 1939 zwangen ihn, im August 1939 nach England zu emigrieren. Von 1939 bis 1944 lebte er in Cambridge und war hier mit Unterstützung der Society for the Protection of Science and Learning 1941/42 Visiting Lecturer. Zwischen 1945 und 1951 lehrte er an der University of Edinburgh, danach bis 1963 als außerordentlicher Professor fiir die Geschichte der Nationalökonomie und Soziologie in Manchester und von 1963 bis zu seiner Emeritierung 1975 als Professor für Soziologie an der Fordham University, New York. Nach seiner Emeritierung nahm er weitere Lehraufträge in Bern und Hamburg wahr, erhielt 1984 die Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg und war von 1975 bis zu seinem Tod 1985 Honorarprofessor an der Universität Salzburg. Seit 1950 war Stark zudem Herausgeber von Rare Masterpieces of Science and Philosophy. Starks Interesse als Volkswirt und Sozialwissenschaftler galt in erster Linie der Soziologie und der Wirtschaftsgeschichte, wobei er sich hauptsächlich der Theoriegeschichte zuwandte. Seine Dissertation zum Ursprung und Aufstieg des landwirtschaftlichen Großbetriebs in den böhmischen Ländern (1934) spiegelt das generelle Interesse seiner Zeit an Fragen nach Ursprung und Wesen des Kapitalismus wider. Stark beschäftigte sich hier besonders mit dem Feudalkapitalismus in der Landwirtschaft. Dieser von Sieveking geprägte Begriff bezeichnet das Zeitalter des landwirtschaftlichen Großbetriebs mit einem feudalen sozialen Aufbau innerhalb der Gutsbetriebe und einer kapitalistischen Beziehung nach außen zum Markt. Stark schrieb in der Fortsetzung seiner Dissertation ein umfassendes Werk zur Agrarge-

schichte der böhmischen Länder vom Ende des Mittelalters bis zur Bauernbefreiung. Teile des Manuskripts gingen allerdings im Krieg verloren, so daß das erst 1939 beendete Werk nur unvollständig erhalten ist (vgl. 1952). Während seiner Zeit in Cambridge konzentrierte er sich auf die ökonomische Ideengeschichte, veröffentlichte dazu einige Bücher und mehrere Aufsätze, legte aber auch schon den Grundstein zu seinen Untersuchungen zur Soziologie des Wissens. The Ideal Foundations of Economic Thought untersucht den Einfluß philosophischer Denkrichtungen auf die ökonomische Theoriebildung und den Trend zum Individualismus und zu sozialer Atomisierung. Diese Themen griff Stark später wiederholt auf, insbesondere in The Social Bond, seinem letzten Werk, das den Konflikt zwischen Individualismus und Gemeinschaft thematisiert. Mehrfach finden sich in Starks Werken Anklänge und Verweise auf Ferdinand Tönnies Gemeinschaft und Gesellschaft (1887). Das zweite in Cambridge entstandene Buch The History of Economics in its Relation to Social Development (1944) ist eine Kurzfassung des 1994 erschienenen Buches History and Historians of Political Economy, das Stark ursprünglich bereits in den Jahren 1939-41 konzipiert hatte. Er gibt darin einen ausfuhrlichen Überblick über die ökonomische Theoriegeschichte und beschäftigt sich mit den Fragen, wie ökonomische Theorien verstanden und erklärt werden sollen, ob ökonomische Theorien universelle Wahrheiten abbilden, und welche Beziehungen zwischen Ideen und historischen Ereignissen bestehen, also Problemen, die ihre Aktualität und Relevanz bis heute nicht eingebüßt haben. Stark vertrat dabei u.a. die Ansicht, daß ökonomische Theorien keine zeitlosen, universellen Wahrheiten sind, sondern im Gegenteil versuchen, mit den ökonomischen, sozialen und politischen Zwängen einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes umzugehen (vgl. 1994). Diese Ansicht untermauerte er auch später, zum Beispiel in seiner Auseinandersetzung mit -» Joseph A. Schumpeters History of Economic Analysis (1954), wo jener den Zusammenhang zwischen der Formulierung 'klassischer' Ideen in der Ökonomie und der jeweiligen geschichtlichen Situation belegte (vgl. 1959). Seit 1941 arbeitete Stark - auf Anregung von J.M. Keynes und beauftragt von der Royal Economic Society - an einer umfassenden und kritischen Edition des ökonomischen Werkes Jeremy Bent-

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Stark, Werner hams, die über ein Jahrzehnt später erschien (1952-54) und viel Beachtung fand. Keynes spielte für Stark und seine wissenschaftliche Karriere in Großbritannien eine weit größere Rolle, als dieser ahnen konnte. Nicht nur als Kollege und persönlicher Freund war Keynes wichtig fur die wissenschaftliche Arbeit Starks, sondern er verschaffte ihm auch Lehraufträge, Buchprojekte und Stipendien. Stark wandte sich wiederholt gegen die Anwendung von naturwissenschaftlichen und mathematischen Methoden in der Ökonomie und den Sozialwissenschaften im allgemeinen. Man müsse sich generell fragen, welche Methoden geeignet seien, das soziale Zusammenleben zu analysieren und soziologische Wahrheiten zu finden. Die von Menschen entwickelte soziale Welt sei aber grundsätzlich verschieden von der physikalischen Welt, auf deren Entstehen Menschen keinen Einfluß genommen hätten, so dafi es prinzipiell fragwürdig sei, die Methoden der Physik zu übernehmen (vgl. 1950; 1963, S. 103). Ebenso kritisierte er das Konstrukt des 'stabilen Gleichgewichts', das auf mathematischen Überlegungen beruhe, die die Existenz von Zeit und damit verbundenen zwangsläufigen Veränderungen vernachlässigten (vgl. 1950). Startes Einfluß auf die ökonomische Theoriegeschichte blieb - zu Unrecht - bisher eher gering. Er machte sich vor allem einen Namen in der Soziologie, beschäftigte sich intensiv mit theoretischer Soziologie und Religionssoziologie. Aber auch hier bleibt sein volkswirtschaftlicher Hintergrund bei der Verwendung von Begriffen und Methoden erkennbar. Darüber hinaus ist in dem vielfältigen Werk Werner Starks sein bedeutender Beitrag zur Wissenssoziologie hervorzuheben. Er setzte sich kritisch mit der Ansicht auseinander, die moderne Soziologie des Wissens sei aus den Ansichten revolutionärer Denker wie Voltaire und Marx hervorgegangen, die jedes Denken als interessenbestimmt ansahen (vgl. 1960a). Er kritisierte die Reduktion des Menschen auf ein rein physisches Wesen. Vielmehr seien Menschen psycho-physische Organismen, weshalb man bei dem Versuch, sie in ihrem Denken und Handeln zu verstehen, sowohl von der materiellen als auch von einer ideellen Sichweise ausgehen müsse. Ökonomisches Leben hänge auch von geistigen Prämissen ab, die sich in jeder Kulturtheorie niederschlagen müßten (vgl. 1960b). Starks Verdienst ist es, auf diese

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zweite, eher konservative Wurzel der Wissenssoziologie hinzuweisen, die er auf den deutschen 'Sturm und Drang' und insbesondere Herder zurückführte, von dem Marx seinerseits auch beeinflußt worden sei (vgl. 1960a). Obwohl Stark den Großteil seines wissenschaftlichen Lebens in Großbritannien und den USA verbrachte, blieb er stets seinen deutschen Wurzeln verhaftet und setzte sich immer wieder mit der deutschen und europäischen Kultur- und Geistesgeschichte auseinander, die einen wesentlichen Einfluß auf sein Werk genommen hat. Zudem war er über aktuelle deutschsprachige Publikationen stets unterrichtet und bezog sie in sein Schaffen ein. Schriften in Auswahl: (1934) Ursprung und Aufstieg des landwirtschaftlichen Großbetriebs in den böhmischen Ländern, Diss., Hamburg. (1943) The Ideal Foundations of Economic Thought, London. (1944) The History of Economics in its Relation to Social Development, London (dt. Übersetzung: Die Geschichte der Volkswirtschaftslehre in ihrer Beziehung zur sozialen Entwicklung, Dordrecht 1969). (1950) (1952)

(1952-54)

(1958)

(1959)

Stable Equilibrium Re-examined, in: Kyklos, Bd. 4, S. 218-232. Die Abhängigkeitsverhältnisse der gutsherrlichen Bauern Böhmens im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 164, S. 270-292; 348-374 und 440-453. Jeremy Bentham's Economic Writings. Critical Edition Based on his Printed Works and Unprinted Manuscripts, 3 Bde., London. The Sociology of Knowledge. An Essay in Aid of a Deeper Understanding of the History of Ideas, New Brunswick, N.J. (Dt. Übersetzung 1960: Die Wissenssoziologie. Ein Beitrag zum tieferen Verständnis des Geisteslebens, Stuttgart). The „Classical Situation" in Political Economy, in: Kyklos, Bd. 12, S. 5765.

Staudinger, Hans (1960a)

(1960b)

(1976-87) (1994)

The Conservative Tradition in the Sociology of Knowledge, in: Kyklos, Bd. 13, S. 90-101. Die idealistische Geschichtsauffassung und die Wissenssoziologie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 46, S. 355-374. The Social Bond, 6 Bde., New York. History and Historians of Political Economy. Edited by Charles M.A.Clark, New Brunswick/London.

Bibliographie: Tönnies, F. (1887): Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig. Schumpeter, J.A. (1954): History of Economic Analysis, New York. Quellen: Kürschner; Eisennann, G.: Vorwort zu W. Stark, Wissenssoziologie (1960); Priddat, B. (Brief vom 6.1.94); Clark, C.M.A.: Einleitung zu W. Stark, History and Historians of Political Economy (1994). Bettina Bonde

Staudinger, Hans, geb. 16.8.1889 in Worms, gest. 25.2.1980 in New York Staudinger stammte aus einem bildungsbürgerlichen Elternhaus, sein Vater, ein Gymnasialprofessor, gehörte als 'ethischer Sozialist' und profilierter Genossenschaftstheoretiker zu den Vertrauten des Vorsitzenden der Vorkriegs-SPD, August Bebel, und den engen Freunden des Revisionisten Eduard Bernstein. Der Vater bestand darauf, daß Staudinger und sein älterer Bruder Hermann, der als Chemiker 1953 den Nobelpreis für Chemie erhalten sollte, früh das Arbeitsleben kennenlernten. So arbeitete Staudinger vor und während des Studiums als Heizer in einer Fabrik und später als kaufmännischer Angestellter. BeeinfluBt wurde er femer durch den Wandervogel, der romantischen Antwort von Jugendlichen aus bürgerlichen Familien auf die Entfremdung in der modernen Industriegesellschaft. Diese frühe ethisch-idealistische Prägung durch das Elternhaus sowie das Gemeinschaftserlebnis der Jugendbewegung sollten seine künftige sozialistische Überzeugung - im Unterschied zur Marx-Orthodoxie der Sozialdemokratischen Partei, der er 1912 beitrat - und seinen Berufsweg entscheidend bestimmen. In Heidelberg studierte er bei Alfred und Max Weber Soziologie

und Wirtschaftswissenschaften, und nicht von ungefähr schloß er das Studium 1913 bei Alfred Weber mit einer Dissertation zum Thema Individuum und Gemeinschaft in der Kulturorganisation des Vereins ab, die in einem historischen Abriß der Vereinskultur in Deutschland nachzuweisen suchte, daß das 'Persönlichkeitsdogma' des Liberalismus nur ein Übergangsphänomen der an ihrer Entfremdung zugrunde gehenden bürgerlichen Kultur sei und die 'Welt der Arbeiter' die natürliche Gemeinschaft, wie sie einmal im Mittelalter existiert habe, neu errichten werde. Staudingers anschließende Tätigkeit als Sekretär im Revisionsverband der südwestdeutschen Konsumvereine wurde durch die militärische Einberufung zu Beginn des Ersten Weltkrieges beendet. Im Frühjahr 1918 wurde er nach schwerer Verwundung, bei der er die Sehkraft eines Auges einbüßte, in das Kriegsernährangsamt berufen, von wo er nach Kriegsende in das 1919 neugegründete Reichswirtschaftsministerium wechselte. Bis 1927 wirkte Staudinger dort in der Grundsatzabteilung und als persönlicher Referent der verschiedenen Minister. Nach der fruchtlosen Sozialisierungsdebatte suchte er dort die von Rudolf Wissel] und seinem Staatssekretär Moellendorff 1919 angestoßene Diskussion um das handlungspraktischere Konzept der Gemeinwirtschaft fortzuführen, die er mit der staatlich kontrollierten Kartellisierung der Rohstoff- und Energiewirtschaft beginnen lassen wollte. Aber auch davon blieb nur die große Kartelluntersuchung übrig, die im Rahmen des von ihm 1925 initiierten Enquete-Ausschusses zur Untersuchung der deutschen Wirtschaft und ihrer Strukturprobleme nach dem Ersten Weltkrieg vorgelegt wurde. Realistischere Möglichkeiten zur Verwirklichung seiner gemeinwirtschafitlichen Ideen boten sich, als er zur Zeit der rechtsbürgerlichen Koalition auf Reichsebene von der sozialdemokratischen Regierung Preußens 1927 zum Ministerialdirektor der Abteilung für Hafen-, Verkehrs- und Elektrizitätswirtschaft im dortigen Handelsministerium berufen wurde. Nach der von ihm durchgeführten erfolgreichen Gründung der Preußischen Elektrizitäts-Aktiengesellschaft (Preußen-Elektra) wurde er 1929 zum Staatssekretär ernannt und komplettierte noch im gleichen Jahr diesen ersten Schritt mit der Bildung der Vereinigten Elektrizitäts- und Bergwerks-Aktiengesellschaft (VEBA). Damit war ein einheitliches Verbundsystem aller preußischen Energie- und Bergwerksuntemehmen ent-

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Staudinger, Hans standen, das über viele Jahre als öffentlicher Musterbetrieb über Deutschlands Grenzen hinaus Anerkennung fand. Die VEBA-Untemehmen lieferten nicht nur bis zu dreißig Prozent der jeweiligen Branchen-Produktion, bei der weitgehend kartellisierten Grundstoffindustrie konnten sie zudem gegen den Protest des Reichsverbandes der Deutschen Industrie auch erheblichen EinfluB auf die Politik der Kartelle ausüben, der sich nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise durch Aufkauf verschiedener Unternehmen noch verstärken sollte. Zu dieser Zeit suchte Staudinger die öffentlichen Unternehmen zugleich als Instrumente antizyklischer Konjunkturpolitik einzusetzen. Dieser Schritt wurde jedoch durch die Deflationspolitik Brünings konterkariert und auch die eigene Partei wollte ihm aus Inflationsangst bei der beabsichtigten Kreditschöpfung nicht folgen. Seit Ende der zwanziger Jahre galt Staudinger als der wohl bedeutendste Experte der Gemeinwirtschaft in Deutschland. Seine Kenntnisse vermittelte er auch als Dozent an der Hochschule für Politik, eine Tätigkeit, die ihm neben seinen wirtschaftspolitischen Schriften nach 1933 das amerikanische Non-Quota-Visum für Wissenschaftler sichern sollte. Mit dem Staatsstreich Reichskanzler von Papens gegen die preußische Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun wurde Staudinger im Juli 1932 in den Ruhestand versetzt. Bei den Reichstagswahlen im November 1932 kandidierte er im Wahlkreis Hamburg für die SPD. Seine Wahl in das letzte freie Parlament der Weimarer Republik sollte allerdings nur von kurzer Dauer sein. Nach dem Verbot der SPD im Juni 1933 nahmen ihn die Nationalsozialisten in 'Schutzhaft'; das übliche Hochverratsverfahren wurde jedoch nicht eröffnet, weil sich der neue preußische Ministerpräsident Hermann Göring um diesen erfahrenen Fachmann der Gemeinwirtschaft bemüht haben soll. Nach seiner Entlassung Ende Juli emigrierte der engagierte Gegner der Nazis, auch mit Rücksicht auf seine jüdische Ehefrau, nach Brüssel. Dort arbeitete er als Berater für den belgischen Energiekonzern Sofina, ehe er im Frühjahr 1934 der Einladung auf eine Professur für Wirtschaftspolitik an der University in Exile der New School for Social Research in New York folgte. Ein zur gleichen Zeit erhaltenes Angebot der türkischen Regierung hatte er deshalb abgelehnt.

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Staudingers Aufsätze zur Gemeinwirtschaft fanden im New Deal-Amerika lebhaftes Interesse. Das Krisenprogramm des neuen Präsidenten F.D. Roosevelt führte mit der TVA (Tennessee Valley Authority) zu jener Zeit gerade zur Gründung eines riesigen öffentlichen Unternehmens, das nicht nur die Regulierung des Tennessee River einleitete, um die bisher von Sandstürmen im Sommer und Überschwemmungen im Winter ständig gefährdete Landwirtschaft zu schützen, sondern das mit seinen zahlreichen Staudämmen und Wasserkraftwerken auch zu einem gigantischen Elektrizitätserzeuger wurde. Hierzu konnten Staudingers Beiträge wichtige Anregungen bieten. Er zeigte, welche ordnungspolitischen Chancen solche Unternehmen gegen die vielen regionalen monopolartigen Stromerzeuger boten, welche sozialpolitischen Ziele sich mit der Elektrifizierung des flachen Landes erfüllen ließen, die von den alten Stromerzeugern aus Kostengründen verhindert worden war, welche Beschäftigungseffekte das vor dem Hintergrund der Depression brächte und welche marktgestaltenden Einflüsse dieser fur Amerika neue Unternehmenstyp durch langfristige Investitionsentscheidungen und eine differenzierte Preispolitik haben könnte. Die Gemeinwirtschaft, so der Tenor seiner Aufsätze, diene nicht nur dem sozialen Ziel der öffentlichen Wohlfahrt, sondern sie stelle angesichts der monopolisierten Märkte auch den Marktpreis-Mechanismus wieder her (vgl. Staudinger 1937, S. 417 ff.). Langfristig trat Staudinger an der New School jedoch nicht so sehr durch seine wissenschaftlichen Arbeiten hervor, er wirkte vielmehr als akademischer Lehrer und vor allem als Organisator. Nach dem Tode - Eduard Heimann und - erstaunlicherweise erst am Ende ihrer Analyse in einem viel zu lang geratenen Abschnitt - mit Marx und den Marxisten auseinander. In dem interessantesten Abschnitt über die 'Skeptiker' nimmt die frühe Kontroverse zwischen Mises und Jacob Marschak (1924) mit ihrer Fokussierung auf die Problematik der Wirtschaftsrechnung für Güter höherer Ordnung und angesichts dynamischer

Tisch, Cläre Prozesse zurecht den größten Raum ein. Dabei betont Tisch, daß Marschaks Verweis auf die Einschränkung der freien Konkurrenz durch Kartelle und Konzerne keine grundlegende Widerlegung der Position von Mises sei, dem sie ihrerseits entgegenhält, „dass die beiden Mises'schen Voraussetzungen für die Möglichkeit der Wertrechnung, nämlich das Vorhandensein von Geld und die Bildung von Austauschverhältnissen in der Produktionssphäre gegeben sind, und dass der Beweis, den Mises für die Unmöglichkeit rationaler Wirtschaft im Sozialismus führen wollte, nicht geglückt ist" (S. 67). Bei einer kritischen Betrachtung von Tischs Studie aus heutiger Sicht ist zunächst festzustellen, daß sie ebenso wie Marschaks Beitrag vielfach vertretene Pauschalurteile relativiert, wonach die kontinentaleuropäischen Kontrahenten von Mises vom Marxismus verblendet und bar jeglicher ökonomischer Kenntnisse gewesen seien, was sich erst geändert habe, als sich die Wirtschaftsrechnungsdebatte nach 1933 in den angelsächsischen Sprachraum verlagert habe. Es handelt sich bei Tischs Doktorarbeit um eine bemerkenswerte Leistung, in der eine ernsthafte und gute theoretische Analyse ohne politische Verzerrungen durchgeführt wird, die aber auch einige Schwächen aufweist. Ihre Kritik an einem naturalwirtschaftlichen Sozialismus ist ebenso wohlbegründet wie ihr Ergebnis, daß auch in einer zentralistisch organisierten sozialistischen Wirtschaft die Möglichkeit zu einer rationellen Wirtschaftsführung besteht. Die Verwendung eines walrasianischen Gleichgewichtssystems in ihrem Lösungsansatz weist Tisch als Vorläuferin der sog. 'neoklassischen Sozialisten' wie H.D. Dickinson, Oskar Lange und Abba Lemer aus, die nach 1933 die Debatte im angelsächsischen Raum dominierten (vgl. Vaughn 1980, S. 540ff.). Insofern ist es auch kein Zufall, daß -» Friedrich August Hayek in seiner späteren Auseinandersetzung mit diesen Autoren in der sozialistischen Kalkulationsdebatte auch Tischs Arbeit erwähnt (Hayek 1940, S. 128). Die spätere Debatte und die Entwicklung der modernen InputOutput- und Aktivitätsanalyse haben aufgezeigt, daß eine effiziente Produktion im Rahmen einer Mengenplanung möglich ist und das Ergebnis unter den Bedingungen des Dualitätstheorems (wie z.B. konstante Skalenerträge) mit der Lösung im Preissystem übereinstimmt. Insofern hat Tisch mit ihrer Kritik an Mises' These, daß eine Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen

unmöglich sei. Recht. Allerdings ist ihre Prozedur ebenso wie die späteren elaborierteren Lösungsansätze bei Lange und Lerner in entscheidendem Maße statisch, und auch sie verkennt die volle Implikation dynamischer Phänomene für die langfristige Lebensfähigkeit und Effizienz sozialistischer Ökonomien. So hat sie auch eine eingeschränkte Vorstellung vom Wesen einer Geldwirtschaft, in der das Geld auf seine Tausch- und Rechenmittelfunktion reduziert ist, obwohl doch z.B. die Wertaufbewahrungsmittelfunktion für die Kritik des Sayschen Gesetzes bei Marx bereits ebenso wichtig wie später bei Keynes war. In diesem Zusammenhang erkennt sie auch nicht die Bedeutung effizienter Kapitalmärkte und des Property RightsArguments fur die Übernahme von Risikobereitschaft, Verantwortung und Entscheidungsfreude und die langfristige Generierung von technischem Fortschritt. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß Mises die wesentliche Argumentation, daß die Wirtschaft einem ständigen Wandel unterworfen sei und die notwendigen Daten für eine effiziente Wirtschaftsplanung daher nicht verfügbar seien, erst in der zweiten Auflage seiner Gemeinwirtschaft voll entwickelte (vgl. z.B. 1932, S. 182ff.), die Tisch beim Abschluß ihrer Arbeit noch nicht kennen konnte. Erst recht gilt dies für die von Hayek nach 193S vorgelegten Arbeiten zur Dispersion des Wissens und der Problematik der Entscheidungsfindung unter Unsicherheit und unvollkommenen Informationen (vgl. Streissler 1994). Gemäß dem Hayekschen Informationsargument verfügt eine zentrale Planbehörde nicht über die notwendigen Informationen, um die wirtschaftlichen Aktivitäten effizient zu lenken. Gegen diese spätere Argumentation Hayeks hat Tisch wenig anzubieten. Gleichwohl ist ihre Arbeit auf dem Höhepunkt der zeitgenössischen Diskussion und als wesentlicher Vorläufer der nachfolgenden Arbeiten neoklassischer Sozialisten anzusehen, deren für ein statisches System berechtigte Kritik an Mises den Boden fur die Verschiebung und analytische Schärfe der Kritik am sozialistischen Wirtschaftssystem bei Hayek bereitete. Leider wird der Beitrag von Tisch im Gegensatz zu Hayek (1935, S. 13) von heutigen Autoren selbst im deutschen Sprachraum kaum noch rezipiert. In den beiden Jahren nach Abschluß ihrer Promotion verfaßte Tisch zwei Bände über die Kartellfrage, die als Hefte 1 und 3 in der von - Neisser und Stackelberg findet) und lieferte den ersten Existenzbeweis der neoklassischen Theorie des allgemeinen ökonomischen Gleichgewichts. In seiner 1918 veröffentlichten Theoretischen Sozialökonomie hatte der schwedische Ökonom Gustav Cassel ein vereinfachtes System des allgemeinen wirtschaftlichen Gleichgewichts vorgestellt (ohne allerdings auf den walrasianischen Ursprung des Systems hinzuweisen). Wie vor ihm Walras, hatte Cassel die vollständige Nutzung und damit Knappheit der verfugbaren produktiven Ressourcen vorausgesetzt und sich hinsichtlich der Frage nach der Existenz (und Eindeutigkeit) eines Gleichgewichts damit begnügt, zu überprüfen, ob die Zahl der Gleichungen ebenso groß ist wie die Zahl der zu bestimmenden Unbekannten. Im Ansatz von Wald (und in demjenigen von Schlesinger) ergibt sich die Knappheit einer Ressource hingegen endogen aus dem Zusammenspiel (a) der Präferenzen der Akteure, (b) der verfügbaren technischen Verfahren zur Transformation von produktiven Leistungen in Güter und (c) der Anfangsausstattung der Wirtschaft mit Ressourcen. Für im Uberschuß vorhandene Ressourcen kommt es zur Anwendung der 'Regel der freien Güter': Die Leistungen dieser Ressourcen erzielen einen Preis von Null. Abgesehen von einer an Marshall orientierten und von Cassel abweichenden Fassung der Nachfragefunktionen der Konsumenten bewegte sich Wald ansonsten ganz in den Bahnen des ersten, einfachen Totalmodells, das in Cassels Werk zur Sprache kommt. So abstrahierte er von der Existenz produzierter Produktionsmittel (Kapitalgüter), d.h. begriff die Produktion von Gütern als das Ergebnis der unmittelbaren Transformation der Leistungen ausschließlich originärer Faktoren (wie Arbeit und Boden). Darüber hinaus unterstellte er, daß zur Erzeugung eines jeden in Einzelproduktion hergestellten Gutes lediglich eine Produktionsmethode mit fixen Inputkoeffizienten bekannt ist, d.h. er sah von Kuppelproduktion und technischen Wahlmöglichkeiten und damit auch der Substitution zwischen Faktoren in der Produktion ab. Diese einschränkenden Annahmen schmälern die Waldsche Leistung indes nur unwesentlich. Um den Verbreitungsgrad der von ihm erzielten und in Fachkrei-

Wald, Abraham sen allgemein für grundlegend gehaltenen Ergebnisse zu erhöhen, wurde Wald eingeladen, letztere in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Nationalökonomie des Jahres 1936 zu präsentieren (1936b); eine englische Fassung erschien 1951 in Econometrica. Mit Walds Formulierung nahm die moderne allgemeine neoklassische Gleichgewichtstheorie ihren Anfang (vgl. Arrow und Debreu 1971, Kap. 1, und Weintraub 1985). Von mehreren Interpreten wurde das 1936 im Mengerschen Kolloquium zum Vortrag gekommene berühmte Wachstumsmodell von -» John von Neumann (vgl. von Neumann 1937) gleichfalls als Beitrag zur WalrasCassel-Tradition der allgemeinen Gleichgewichtstheorie begriffen. Wie indes Kurz und Salvadori (1995 Kap. 14) gezeigt haben, besteht das Fundament des von Neumannschen Ansatzes auf klassischen, reproduktionstheoretischen und nicht auf neoklassischen, knappheitstheoretischen Prämissen. Ersterem entspricht ein Konzept des langfristigen Gleichgewichts; unter Bedingungen freier Konkurrenz ist dieses durch eine uniforme Profitrate (Zinssatz) auf das eingesetzte Kapital charakterisiert. Letzterem entspricht das Konzept eines kurzfristigen Gleichgewichts; die Besitzer der in gegebener Anfangsausstattung verfügbaren Kapitalgüter erzielen Knappheitsrenten vergleichbar der Bodenrente, die Profitraten sind nicht ausgeglichen. 1933 vermittelte Menger Wald eine Anstellung am Österreichischen Institut für Konjunkturforschung, das zur damaligen Zeit von -* Oskar Morgenstern geleitet wurde. Zunächst teilzeitbeschäftigt, wurde Wald schließlich durch Mittel der Rockefeller Foundation eine volle Stelle ermöglicht. Auf Morgensterns Wunsch hin arbeitete er Uber Zeitreihenanalyse. 1936 erschien sein Buch Berechnung und Ausschaltung von Saisonschwankungen (1936c). Wald diskutiert darin die auf Oskar Anderson zurückgehende 'Variate-Difference-Methode' und stellt dieser seine eigene Methode gegenüber. Letztere basiert auf der Hypothese, da£ die Saisonschwankung eine sich langsam ändernde Funktion ist, multipliziert mit einer periodischen Funktion von zwölf Monaten mit einem Mittelwert von Null. Neben seiner leichten Anwendbarkeit besitzt diese Methode den Vorteil, daß sie die Schwierigkeiten vermeidet, die bei allen fixen Indexfunktionen auftreten. Darüber hinaus arbeitete Wald über Preis- und Produktionsindices. Noch während seiner Zeit in

Wien erschien sein Aufsatz 'Zur Theorie der Preisindexziffern', kurz danach zwei weitere umfängliche Arbeiten in der Zeitschrift Econometrica (1937, 1939 und 1940). Walds Arbeiten fanden internationale Beachtung. 1937 wurde er von Alfred Cowles eingeladen, Mitglied der Cowles Commission zu werden. Wald verließ Wien nur ungern. Die Richtigkeit seiner Entscheidung, nach Colorado Springs zu gehen, sollte sich indes schon bald bestätigen. Noch vor seiner festgesetzten Abreise in die USA übernahmen die Nazis die Macht in Österreich und Wald wurde vom Nachfolger Morgensterns im Österreichischen Institut für Konjunkturforschung sofort entlassen. Über Rumänien gelangte Wald in die Vereinigten Staaten. Ihm blieb das Schicksal seiner in Europa zurückbleibenden Eltern und weiterer Familienmitglieder erspart, die im Holocaust umkamen. Nur sein Bruder Hermann überlebte; er wurde nach Niederwerfung der Nazi-Diktatur von Wald in die Vereinigten Staaten geholt und in dessen Haushalt aufgenommen. Bereits kurze Zeit nach Beginn seiner Arbeit in der Cowles Commission wurde er von Harold Hotelling eingeladen, auf der Grundlage eines Stipendiums der Carnegie Stiftung als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Columbia University zu kommen. Wald folgte der Einladung im Herbst 1938. 1943 wurde er an der gleichen Universität zum Associate Professor, 1944 zum Professor für Mathematische Statistik ernannt. 1939 erfolgte seine Wahl zum Fellow der Econometric Society, 1948 zum Vizepräsidenten der American Statistical Association. Walds wissenschaftliches Schaffen während seiner Zeit in den Vereinigten Staaten ist beeindrukkend und dokumentiert sich in zahlreichen Büchern und Aufsätzen. Schwerpunkt seiner Arbeiten waren die mathematische Statistik und die Entwicklung statistischer Entscheidungsmodelle. Nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg arbeitete Wald an einem Projekt des Applied Mathematics Panel an der Columbia Universität mit, das sich mit dem Problem der Qualitätskontrolle unter besonderer Berücksichtigung der Kriegsproduktion befaßte. Im Jahr 1943 entwikkelte er eine schnell Berühmtheit erlangende und vielfaltige Anwendung findende Technik, Sequenzanalyse genannt, welche Verfahren zur Hypothesenüberprüfung und Parameterschätzung bereithält. Anders als in den bis dahin üblichen Ver-

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Wald, Abraham fahren wird die Größe der Stichprobe nicht von außen vorgegeben, sondern als abhängige Variable des Verlaufs der Qualitätsprüfung behandelt. Der Name der von Wald vorgeschlagenen Methode leitet sich aus dem zugnindeliegenden sequentiellen Vorgehen ab, bei dem auf jeder Stufe der Kontrolle die Frage gestellt wird, ob weitere Beobachtungswerte einzuholen sind. Wald lieferte den Nachweis, daß die Sequenz endlich ist und daß die zur Überprüfung einer gegebenen Hypothese notwendige Stichprobe häufig kleiner ist als jene in Standardverfahren zugrundegelegte. Die Umsetzung dieses Fundes führte zu einer beträchtlichen Senkung der Kosten der Qualitätskontrolle in der Kriegsproduktion. Seine verschiedenen Arbeiten zur fraglichen Thematik erschienen 1947 in Buchform unter dem Titel Sequential Analysis, ein Überblicksartikel hierzu im gleichen Jahr in Econometrica (1947a, 1947b). Die Theorie der statistischen Entscheidungsfunktionen ist durch die Arbeiten von Wald bedeutend vorangetrieben worden; überdies trug er zur praktischen Anwendbarkeit der entwickelten Verfahren bei. Seine Forschungen wurden zum Teil vom Office of Naval Research finanziert. Im Zentrum stand die Frage nach der Güte bei Abläufen von Ereignissen und den Möglichkeiten der Verbesserung dieser Güte. Mit -» John von Neumann, der 1928 mit seinem Aufsatz Zur Theorie der Gesellschaftsspiele die Entwicklung der modernen Spieltheorie eingeläutet hatte, war Wald freundschaftlich verbunden. Er führte das von diesem in der Theorie des Zwei-Personen-NullsummenSpiels verwendete Minimax-Prinzip in die Statistik ein. Diesem grundlegenden Prinzip zufolge empfiehlt es sich unter Bedingungen unvollständiger Information für jeden Spieler, die Minimierung seines maximalen Verlustes anzustreben. Die Auseinandersetzung mit der Spieltheorie nach Veröffentlichung des Standardwerks von v. Neumann und -» Morgenstern im Jahr 1944, Theory of Games and Economic Behavior, führte Wald zur Verallgemeinerung einiger der erzielten Resultate. Im Sommer 1950 erschien sein Buch Statistical Decision Functions - eine höchst anspruchsvolle Zusammenschau seiner jüngeren Arbeiten, versehen mit zahlreichen Anregungen zu weiteren Forschungen. Gegen Ende des Jahres 1950 folgte er einer Einladung der indischen Regierung zu Gastvorträgen an indischen Universitäten. Auf dem Weg dorthin machte er mit seiner Frau Station in Europa, wo

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er in Paris und Rom Vorträge zur Spieltheorie hielt. In den nebelverhangenen Bergen Südindiens wurde der bewegten, aber äußerst erfolgreichen Karriere eines der größten Talente der mathematischen Wirtschaftstheorie und Statistik ein jähes Ende gesetzt. Schriften in Auswahl: (1935) Über die eindeutige positive Lösbarkeit der neuen Produktionsgleichungen, in: Ergebnisse eines mathematischen Kolloquiums, hrsg. von K. Menger, Bd. 6, S. 12-18. (1936a) Über die Produktionsgleichungen der ökonomischen Wertlehre (Π. Mitteilung), in: Ergebnisse eines mathematischen Kolloquiums, hrsg. von K. Menger, Bd. 7, S. 1-6. (1936b) Über einige Gleichungssysteme der mathematischen Ökonomie, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. 7, S. 637-670. (1936c)

(1937)

(1939)

(1940)

(1947a) (1947b)

(1950) (1955)

Berechnung und Ausschaltung von Saisonschwankungen, Wien (= Beiträge zur Konjunkturforschung, hrsg. vom Österreichischen Institut für Konjunkturforschung, Bd. 9). Zur Theorie der Preisindexziffem, in: Zeitschrift für Nationalökonomie. Bd. 8, S. 179-219. A New Formula for the Cost of Living, in: Econometrica, Bd. 7, S. 319-331. The Approximate Determination of Indifference Surfaces by Means of Engel Curves, in: Econometrica, Bd. 8, S. 144-175. Sequential Analysis, New York. Foundations of a General Theory of Sequential Decision Functions, in: Econometrica, Bd. 15, S. 279-313. Statistical Decision Functions, New York. Selected Papers in Statistics and Probability, New York.

Bibliographie: Arrow, K.J., und Hahn, F.H. (1971): General Competitive Analysis, San Francisco/Amsterdam. Dorfman, R., Samuelson, P.A., und Solow, R. (1958): Linear Programming and Economic Analysis, New York u.a.

Wallich, Henry Christopher Kurz, H.D., und Salvadori, N. (1995): Theory of Production. A Long-period Analysis, Cambridge/ New York. Morgenstern, Ο. (1951): Abraham Wald, 19021950, in: Econometrica, Bd. 19, S. 361-367. Neumann, J.v. (1937): Über ein ökonomisches Gleichungssystem und eine Verallgemeinerung des Brouwerschen Fixpunktsatzes, in: Ergebnisse eines mathematischen Kolloquiums, hrsg. von K. Menger, Bd. 8, S. 73-83. The Annals of Mathematical Statistics (1952), Bd. 23, enthalten im ersten Teil eine Würdigung von Abraham Wald mit Beiträgen von Jacob Wolfowitz, Karl Menger und Gerhard Tintner sowie eine vollständige Bibliographie der Waldschen Schriften. Weintraub, E.R. (1985): General Equilibrium Analysis. Studies in Appraisal, Cambridge. Quellen: Β Hb Π; NP; Who was Who in America. Heinz D. Kurz

Wallich, Henry Christopher, geb.

10.6.1914 in Berlin, gest. 15.9.1988 in McLean/ Washington

Wallich wurde in eine Familie von Bankiers hineingeboren: Sein Vater war in der Berliner Handels-Gesellschaft rasch aufgestiegen, ehe er zur Privatbank J. Dreyfus & Co. wechselte; ein Großvater hatte als Vorstandsmitglied wesentlich die ersten Jahrzehnte der Deutschen Bank mitgeprägt. Wallich besuchte das humanistische BismarckGymnasium in Berlin. Wie so mancher, der in den Jahren der Weimarer Republik zur Schule ging, hat auch er rückblickend bekannt, jede Schulstunde gehaßt zu haben. Doch sah er sich seinen Lehrern dafür verpflichtet, ihm einen allgemeinen Sinn für die Werte von Kultur und Zivilisation vermittelt zu haben (1988, S. 109). Nach dem Abitur schien die Banklaufbahn für Wallich festzustehen: Er würde in die Bank eintreten, in der sein Vater Teilhaber war. Er begann 1931 mit dem juristischen Studium in München und wechselte nach einem Semester für ein Jahr nach Oxford. Die deutschen Devisenbeschränkungen, die 1933 verschärft wurden, beendeten diesen Aufenthalt. Alte Verbindungen seines Vaters, der 1909/10 Lateinamerika bereist hatte, halfen Wallich, in Argentinien Beschäftigung zu finden. Er arbeitete in der Niederlassung der Exportfirma Staudt & Cia. in Buenos Aires und in der Filiale

Valparaiso des Banco Alemän Transatläntico, ehe er Ende 1935 in die Vereinigten Staaten übersiedelte. Er begann in einer New Yorker Bank eine Tätigkeit als Wertpapieranalytiker, die er nach einiger Zeit durch ein einschlägiges Universitätsstudium zu ergänzen gedachte. Er verbrachte noch einmal ein halbes Jahr in Deutschland und in den Niederlanden, kehrte aber desillusioniert in die Vereinigten Staaten zurück. Sein Vater, der die Kraft zur Emigration nicht aufbrachte, nahm sich nach dem Pogrom im November 1938 das Leben. Wallich hat dennoch zu Deutschland immer eine starke Anhänglichkeit bewahrt. 1937 begann Wallich sein Interesse an allgemeinen wirtschaftlichen Fragestellungen stärker zu entwickeln. Nach Kursen an der New Yorker Universität schrieb er sich, dem Rat von Otto Nathan folgend, 1940 in Harvard ein, behielt aber noch immer seine Arbeit in Wall Street. Er wechselte 1941 als Experte für Lateinamerika zur Federal Reserve Bank of New York. Aus diesem Aufgabengebiet entwickelte sich das Thema seiner Dissertation, in der er 1944 am Beispiel Kubas die keynesianische Theorie auf eine kleine offene Volkswirtschaft anwandte. Wirtschaftliche Fragen Lateinamerikas haben Wallich fünf Jahrzehnte seines Lebens begleitet, ebenso manche der dort entstandenen Freundschaften. Noch eine seiner letzten Veröffentlichungen war ein Rückblick auf die argentinische Währungsgeschichte. Seine berufliche Arbeit brachte ihn in Zusammenhang mit den Bestrebungen, durch die Gründung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank die Weltwährungsordnung der Nachkriegszeit zu bestimmen. 1946 wurde Wallich zum Leiter der Foreign Research Division der Federal Reserve Bank of New York ernannt. Er schied dort aus, als die Yale University ihn 1951 zum Professor of Economics ernannte. Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung galt in den ersten Jahren seiner akademischen Laufbahn Wallichs besondere Aufmerksamkeit. Er sah sie aber als nicht attraktiv genug an, um sich darauf zu spezialisieren und wandte sich Mitte der fünfziger Jahren der Wirtschaftspolitik, speziell der Geld- und Währungspolitik, zu. In mehreren Funktionen wirkte er als Berater für die amerikanische Regierung. An besonders prominenter Stelle tat er dies während der zwei letzten Jahre der Amtszeit von Präsident Eisenhower als Mitglied des Council of Economic Advisers.

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Weber, Alfred 1955 veröffentlichte Wallich sein Buch Mainsprings of the German Revival, zu dessen Vorbereitung er einige Zeit in Deutschland zugebracht hatte. Mit seiner entwicklungstheoretischen Fundierung gehört es bis heute zu den maßgeblichen Untersuchungen des deutschen 'Wirtschaftswunders' der Nachkriegszeit. Eine deutsche Übersetzung kam noch im selben Jahr heraus. Eine zweite Monographie beschrieb 1960 die „Kosten der Freiheit"; auch sie erschien in deutscher Sprache. Die Kernthese lautete, dafi der Kapitalismus sicherlich nicht dann das effizienteste Wirtschaftssystem sei, wenn Freiheit nicht zu den ZielgröBen gehöre.

(1951)

Publizistisch entfaltete Wallich beträchtliche Wirksamkeit: Von 1961 bis 1964 schrieb er Kommentare für die Washington Post, von 1965 bis 1974 war er - im Wechsel mit Paul Samuelson und Milton Friedman - Kolumnist für Newsweek. Für Leser in Deutschland trat er bis in die siebziger Jahre häufig mit Beiträgen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hervor. Seine Berufung in den Gouverneursrat des amerikanischen Zentralbanksystems verlagerte 1974 seinen öffentlichen Einfluß auf eine andere Ebene. Krankheit zwang ihn, dieses Amt im Dezember 1986 vorzeitig aufzugeben.

(1973)

Wallich, einem pragmatischen Monetarismus zugetan, galt als profilierter Anwalt einer möglichst stetigen, vorrangig am Ziel eines stabilen Geldwerts orientierten Geldpolitik. Er widmete sich ausgiebig Fragen der internationalen Währungspolitik und vertrat oft die amerikanische Seite in den Sitzungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel. Für seine geld- und währungspolitischen Auffassungen ist der 1982 erschienene Sammelband Monetary Policy and Practice aufschluBreich. Er gleicht zum Teil das Manko aus, daß Wallichs selbständige Veröffentlichungen nur einen sehr unvollständigen Eindruck von der Menge und Bandbreite seiner Arbeiten vermitteln. Schriften in Auswahl: (1949) Proyecciones Econömicas de las Finanzas Püblicas, un Estudio Experimental en El Salvador (zus. mit J.H. Adler), Mixico. (1950) Monetary Problems of an Export Economy. The Cuban Experience 1914-1947, Cambridge, Mass.

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(1953)

(1955)

(1960)

(1982)

(1984)

(1988)

The Financial System of Portugal, Lisbon. Monetary and Banking Legislation of the Dominican Republic (zus. mit R. Triffin), New York. Mainsprings of the German Revival, New Haven/London, (dt. Übers.: Triebkräfte des deutschen Wiederaufstiegs, Frankfurt/M. 1955). The Cost of Freedom. A New Look at Capitalism, New York, (dt. Übers.: Was uns die Freiheit kostet. Die freie Wirtschaft in modemer Perspektive, Frankfiirt/M. 1962). The Modern Corporation and Social Responsibility (zus. mit H.G. Manne), Washington. Monetary Policy and Practice. A View from the Federal Reserve Board, Lexington, Mass. International Capital Movements, Debt and Monetary System. Internationale Kapitalbewegungen, Verschuldung und Währungssystem (hrsg. zus. mit W. Engels und A. Gutowski), Mainz. Some Uses of Economics, in: Recollections of Eminent Economists, Bd. 1, hrsg. von J.A. Kregel, Basingstoke/London, S. 109-135.

Quellen: Wallich, P. (1986): Banco Alemän Transatläntico. Eine Reise durch Südamerika. Mit einer Einleitung von H.C. Wallich, Mainz; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.9.1988; Β Hb I; Blaug; NP; Der Spiegel v. 19.9.1988. Bernd Kulla

Weber, Alfred, geb. 30.7.1868 in Erfurt, gest. 2.5.1958 in Heidelberg Sohn des nationalliberalen Politikers Max Weber sen., der jüngere Bruder Max Webers. Weber begann 1888 in Tübingen das Studium der Kunstgeschichte und der Archäologie, ab 1889/91 studierte er Jura und Nationalökonomie an der Universität Berlin. Er promovierte 1897 bei Gustav Schmoller über Hausindustrielle Gesetzgebung und Sweating-System in der Konfektionsindustrie und habilitierte sich 1899 an der Universität Berlin, ebenfalls bei Schmoller, mit seinen Aufsätzen

Weber, Alfred zur Hausindustrie für das Fach Volkswirtschaftslehre. Von 1904 bis 1907 war Weber als Nachfolger des Grenznutzentheoretikers Friedrich von Wieser ordentlicher Professor an der Deutschen Universität in Prag, von 1907 bis 1933 (vorzeitige Emeritierung), faktisch aber bis an sein Lebensende ordentlicher Professor der Wirtschaftlichen Staatswissenschaften an der Universität Heidelberg. Nach seinen Protesten gegen die Machtergreifung der Nationalsozialisten an der Universität wurde Weber auf eigenen Antrag hin zum 1.8.1933 vorzeitig emeritiert und betrat bis 1945 die Universität nicht mehr. 1945 wurde er reaktiviert und nahm die Lehrtätigkeit als ordentlicher Professor für Soziologie und bis Februar 1946 als Dekan der Staats- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät wieder auf. Bis kurz vor seinem Lebensende hielt er Lehrveranstaltungen, vor allem über „Sinn und Gestalt der Universalgeschichte" sowie über „Demokratie und Sozialismus". Weber erhielt 1917 den Titel 'Geheimer Hofrat', 1953 die Ehrendoktorwürde der Universität Basel und 1957 den Hanseatischen Goethepreis der Universität Hamburg; 1951 wurde er zum Ehrenpräsidenten der neugegründeten 'Deutschen Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik' gewählt. Weber lehrte und publizierte über verschiedene nationalökonomische Fragen, zunächst insbesondere der Hausindustrie, sodann der industriellen Standortlehre und in seiner späten Lebensphase über Probleme des freiheitlichen Sozialismus. Er wandte sich seit etwa 1910 immer weiter von seiner Herkunftswissenschaft ab und den Fragestellungen, ja sogar dem Entwurf einer umfassenden Kultursoziologie zu, die er als eine universelle, auch die Geschichte und die Existenzphilosophie einschließende Sozialwissenschaft verstand. In seinen frühesten Schriften zur Hausindustrie steht Weber noch deutlich unter dem EinfluB der Jüngeren Historischen Schule, von der er sich aber nach 1900 abzugrenzen beginnt. Seine Orientierung hin zu Standort- und transportökonomischen Fragen wird in seiner Berliner Antrittsvorlesung vom 24. November 1900 über Die volkswirtschaftliche Aufgabe der Hausindustrie (1901) erkennbar; bereits dort plädiert er für ein allmähliches Verschwinden dieser Erwerbsart, vor allem dadurch, daß die industriellen Fertigungsstätten sich stärker zu den oftmals immobilen, schlecht bezahlten und meist weiblichen Arbeitskräften hin verlagern sollten.

Webers Berufung zum ordentlichen Professor für Nationalökonomie als Nachfolger von Karl Rathgen in Heidelberg 1907 erfolgte denn auch im Hinblick auf das von ihm erwartete standorttheoretische Werk, dessen erster Teil, die Reine Theorie des Standorts, 1909 erschien. Dieses Werk stellt in mehrfacher Hinsicht eine Besonderheit im Schaffen Webers dar: Es ist seine einzige monographische Darstellung, die sich im engeren Sinne mit einer wirtschaftstheoretischen Fragestellung beschäftigt, nämlich mit der Analyse der Regeln, die in jeder Wirtschaftsform das „Irgendwo" der ökonomischen Prozesse bestimmen (1909, S. 1). Es geht ihm dabei zunächst um wirtschaftssystemübergreifende Gesetzmäßigkeiten der räumlichen Allokation, insbesondere der Zentralisation ökonomischer Aktivitäten. Mit dieser bewußt theoretisch gehaltenen Arbeit setzt sich Weber deutlich von der Methodik der Jüngeren Historischen Schule ab (ebd., S. ΠΓ), und es ist auch seine einzige Arbeit, in der mathematische Überlegungen eine wesentliche Rolle spielen (ebd., S. IV). Eine Zusammenfassung der wesentlichen Gedanken seines Hauptwerkes hat Weber 1911 gegeben und darin zugleich einige wirtschaftspolitische Anwendungen skizziert Ausgangspunkt seiner strikt modelltheoretischen Analyse ist dabei die Heraussonderung von drei zentralen Standortfaktoren, nämlich dem 'Transportkostenfaktor', der „die optimalen transportmäßigen Produktionssätze der Industrien, ihr Orientierungsgrundnetz" (1922, S. 35) schafft, dem 'Arbeitskostenfaktor', der „diesem Grundnetz gegenüber nach der einen Seite eine 'Deviation' herbei[führt] durch Heranziehen von Teilen der Produktion an die optimalen Arbeitskostenplätze" und schließlich dem 'Agglomerationsfaktor', der „eine zweite 'Deviation' durch Kontraktion von Teilen der Produktion an Agglomerationsplätzen" bewirkt (ebd., S. 35). Weitere 'generelle' Faktoren, welche die Orientierung der Industrie beeinflussen, gibt es seiner Analyse zufolge nicht. Aufgrund dieser Faktoren untersucht er die Standortentscheidungen verschiedener - konsumorientierter, materialorientierter und arbeitsorientierter - Industrien und entwickelt geometrische Figuren zur Bestimmung optimaler Industriestandorte, die allerdings - wie Bortkiewicz (1910) zeigte - nur eine begrenzte Reichweite haben. Auch die Ausrichtung auf physische Größen (Distanzen, Gewichte u.a.) und die Ausblendung von Kostenund Ertragsgrößen schränken die praktische An-

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Weber, Alfred wendbarkeit erheblich ein. Da Weber aber bereits zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg zu einer umfassenden universalhistorischen Kuhursoziologie ist, geht er auf diese Kritik nicht ein und liefert auch die versprochene empirische Anwendung seiner Theorie nicht mehr selbst, sondern überläßt dies seinen Schülern (1922-1931). Immerhin findet Webers Werk internationale Anerkennung, u.a. durch Übersetzungen ins Englische und ins Russische. In seiner universalgeschichtlich konzipierter Kultursoziologie (seit etwa 1910) mischen sich die verschiedenartigsten Elemente, wie etwa die 'Lebensphilosophie' und der '61an vital' von Henry Bergson, die existenzphilosophischen Überlegungen von Friedrich Nietzsche und Hermann Graf Keyserling u.v.a.m. (1935; 1943; 1946a; 1951; 1953). Ein unmittelbarer Bezug zu den früheren nationalökonomischen Arbeiten läßt sich nur noch bei seinen politikwissenschaftlichen Überlegungen (1925; 1927) herstellen. Mit dem Konzept der 'immanenten Transzendenz', einer den Dingen innewohnenden, tendenziell dämonischen Wertqualität wendet sich Weber (1955, S. 165) auch gegen das Wertfireiheitspostulat seines Bruders Max, das er aber andererseits gegen die „Wertprimitivität" der Historischen Schule verteidigt. Webers 'innere Emigration' 1933-1945 ist auch im Kontext seiner Entwicklung hin zu einer universalhistorischen Kultur- und Lebensphilosophie zu sehen, da diese Problematik weit genug außerhalb von in jener Zeit gefahrlichen tagespolitischen Fragen lag. Die unmittelbaren Erfordernisse des Wiederaufbaus nach 1945 führen bei Weber zu politischem Engagement (u.a. im Herausgeberkreis der Zeitschrift Die Wandlung und in der Heidelberger Aktionsgruppe zur Demokratie und zum freien Sozialismus) sowie zu einer partiellen Reorientierung hin auf wirtschaftspolitische Fragestellungen, die allerdings immer in ein umfassendes gesellschaftliches Entwicklungs- und Erziehungskonzept, wie etwa den gemeinsam mit Alexander Mitscherlich (1946b) vertretenen Freien Sozialismus, eingebettet sind. Die politikwissenschaftlichen Überlegungen der Weimarer Zeit (1925), etwa zu einer mit - • Joseph A. Schumpeter vergleichbaren 'funktionalen Demokratietheorie', werden unter tagespolitischen Gesichtspunkten ebenfalls erneut aufgegriffen (1979).

726

Eine Würdigung des sechs Jahrzehnte umspannenden und die unterschiedlichsten Wissensgebiete einschließenden, in sich selbst sehr heterogenen Lebenswerks von Weber ist außerordentlich schwierig; Weber selbst hat erkannt, daß vieles von ihm nur als Entwurf und Skizze, nicht aber im Detail herausgearbeitet ist. Seine wohl bleibenden wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Beiträge sind sicher im Bereich der Standortökonomik sowie in der Begründung einer umfassenden Kultursoziologie zu sehen. Darüber hinaus verdient sein mutiges Eintreten für die Freiheit der Wissenschaft, vor allem 1933, und seine damit verbundene 'innere Emigration' auch noch heute Respekt. Schriften in Auswahl: (1897a) Die Entwicklung der deutschen Arbeiterschutzgesetzgebung seit 1890, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Bd. 21, S. 11451194. (1897b)

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(1912)

(1914)

Das Sweating-System in der Konfektion und die Vorschläge der Kommission für Arbeiterstatistik, in: Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik, Bd. 10, S. 494-517. Die Hausindustrie und ihre gesetzliche Regelung, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 88, Leipzig, S. 12-35, S. 92f. Die volkswirtschaftliche Aufgabe der Hausindustrie, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, Bd. 25, S. 383-405. Über den Standort der Industrien. Teil 1: Reine Theorie des Standorts, Tübingen; 2. Aufl. 1922. Die Standortlehre und die Handelspolitik, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 32, S. 667-688. Das Berufsschicksal der Industriearbeiter, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 34, S. 377-405. Industrielle Standortlehre, in: Grundriß der Sozialökonomik, VI. Abt., Tübingen, S. 54-82.

Weil, Rolf Alfred (l922-1931)Über den Standort der Industrien. II. Teil (als Hrsg.), Tübingen [Standortökonomische Schriften seiner Schüler], (1925) Die Krise des modernen Staatsgedankens, Berlin-Leipzig. (1927) Ideen zur Staats- und Kultursoziologie, Karlsruhe. (1935) Kulturgeschichte als Kultursoziologie, Leiden; erw. Neuaufl. München 1950. (1943) Das Tragische und die Geschichte, Hamburg. (1946a) Abschied von der bisherigen Geschichte. Überwindung des Nihilismus?, Hamburg. (1946b) Freier Sozialismus (zus. mit A. Mitscherlich), Heidelberg. (1950) Sozialistische Marktwirtschaft, in: Das sozialistische Jahrhundert, Bd. 4, S. 3-15. (1951) Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie, München. (1953) Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins, München. (1955) Einführung in die Soziologie. In Verbindung mit H.v. Borch, N. Sombart, H. Kesting, Gräfin L. Lichnowsky, H. Markmann, G. Roth, E. Faul, H.-J. Arndt und H. Hund, München. (1956) Alfred Weber. Schriften und Aufsätze 1897-1955, hrsg. vom AlfredWeber-Institut für Sozial- und Staatswissenschaften an der Universität Heidelberg, zusammengestellt von J. Kepeszczuk, München. (1979) Haben wir Deutschen nach 1945 versagt? Politische Schriften. Ein Lesebuch, ausgewählt und eingeleitet von C. Dericum, München. Bibliographie: Bortkiewicz, L.v. (1910): Eine geometrische Fundierung der Lehre vom Standort der Industrien, in: Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 30, S. 759-785. Demm, E. (Hrsg.) (1986 ): Alfred Weber als Politiker und Gelehrter. Die Referate des Ersten Alfred Weber-Kongresses in Heidelberg (28.-29. Oktober 1984), Stuttgart [hierin auch eine Ergänzungsbibliographie zu Alfred Weber].

Demm, E. (1990): Ein Liberaler in Kaiserreich und Republik. Der politische Weg Alfred Webers bis 1920, Boppard/Rhein. Nutzinger, H.G. (Hrsg.) (1995): Zwischen Nationalökonomie und Universalgeschichte. Alfred Webers Entwurf einer umfassenden Sozial wissenschaft in heutiger Sicht, Marburg. Quellen: HdSW; Blaug; ISL 1959. Hans G. Nutzinger

Weil, Rolf Alfred, geb. 29.10.1921 in Pforzheim Während Weils frühester Kindheit übersiedelte die Familie nach Stuttgart. Dort besuchte er das Eberhard-Ludwig-Gymnasium. Wegen der Verfolgung durch die Nationalsozialisten emigrierte die Familie 1936 in die USA. 1944 wurde Weil amerikanischer Staatsbürger. Im Jahre 1945 heiratete er Leni Metzger, Rolf und Leni Weil hatten sich schon als Kinder in Stuttgart gekannt und trafen sich in Chicago wieder. Seine Schulausbildung Schloß Weil 1939 an der Hyde Park High School in Chicago ab. Anschließend studierte er Ökonomie an der University of Chicago, wo er 1942 den B.A. und 1945 den M.A. erhielt. Zu seinen akademischen Lehrern zählten so namhafte Ökonomen wie Frank H. Knight, Henry C. Simons, Oskar Lange, Paul H. Douglas, George Stigler, der frühere Heidelberger Privatdozent -» Jacob Marschak u.a. Während seines Ph.D.-Studiums in Chicago befaßte sich Weil vor allem mit Finanzwissenschaft und Fiskalpolitik, Geldtheorie und -politik sowie mit allgemeiner Wirtschaftstheorie. Jedoch galt sein Hauptinteresse dem Gebiet der Finanzwissenschaft mit dem Schwerpunkt fiskalische Probleme im Föderalismus, worüber er auch seine Doktorarbeit unter dem Titel Federal Aid to Achieve StateLocal Cooperation in a Countercyclical Fiscal Policy (1950) schrieb. In der Dissertation untersuchte Weil das Finanzierungsverhalten auf kommunaler und bundesstaatlicher Ebene im Verlauf des Konjunkturzyklus. Dieses Finanzierungsverhalten war den Anstrengungen der Bundesregierung zur Belebung der Wirtschaft in Depressionsphasen genau entgegengerichtet und wirkte damit neutralisierend. In den Vereinigten Staaten bildeten sich im konjunkturellen Abschwung auf Bundesebene größere Budgetdefizite. Die Regierungen der Bundesstaaten und die Kommunen waren

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Weil, Rolf Alfred jedoch aus konstitutionellen und aus legislativen Gründen regelmäßig gezwungen, ihre Haushalte im Zuge dieser Abschwungphasen durch Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen abzugleichen und damit eine unerwünschte prozyklische Wirkung zu erzielen. Von 1942 bis 1944 war Weil als Forschungsassistent bei der Cowles Commission for Research in Economics beschäftigt. Er arbeitete dort im Committee on Price Control and Rationing unter dem Projektleiter -» George Katona, einem Pionier auf dem Gebiet der Erforschung psychologischer Einflüsse auf das ökonomische Verhalten. Ziel des Price Control-Prqjekts war die Untersuchung der Wirksamkeit von ökonomischen Regulierungsmaßnahmen während des Zweiten Weltkriegs. Seine Forschungsarbeiten legte Weil in einem Seminarbeitrag Methods of Price Control (1944) vor, die auch Bestandteil von Katonas Price Control and Business (1945) wurden, einer auf Feldstudien basierenden Analyse des Preissetzungsverhaltens von Herstellern, Groß- und Einzelhändlern unter einem System der Preiskontrolle . Im Anschluß an die Tätigkeit bei der Cowles Commission war Weil von 1944 bis 1946 als Research Analyst am Illinois Department of Revenue beschäftigt. Dort arbeitete er an statistischen Grundlagen für die Implementierung einer Grundsteuerreform in Illinois mit. Durch diese Steuerreform sollte eine Angleichung der Steuerbemessungsgrundlage (Einheitswerte) für die Grundsteuer in den einzelnen Verwaltungsbezirken erreicht und die Einheitswerte gleichzeitig über einen „Multiplikator" an die tatsächlichen Verkehrswerte angeglichen werden. In seinem Beitrag Property Tax Equalization in Illinois (1953) nahm er sieben Jahre nach Einführung der Reform, die in den USA Modellcharakter gehabt hatte, eine kritische Analyse vor, die zeigte, daß eine gleichmäßigere Besteuerung des Grundbesitzes tatsächlich erreicht worden war. Die nahezu vollständige prozentuale Angleichung der Einheits- an die Verkehrswerte jedoch stieß auf politische Widerstände und wurde durch verwaltungstechnische Maßnahmen der Gebietskörperschaften verhindert (1953, S. 166 f.; vgl. auch 1969, S. 83). In den Jahren 1945 und 1946 lehrte Weil zunächst parallel zu seiner Tätigkeit im Department of Revenue Wirtschaftswissenschaften an der Indiana University, schied dann jedoch aus dem Staatsdienst aus, um eine Assistenzprofessur für Ökono-

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mie an der neuen Roosevelt University in Chicago anzunehmen. Diese Universität, benannt nach Franklin D. Roosevelt, war auf den Prinzipien der Chancengleichheit, ohne Ansehen von 'rassischer' oder Glaubenszugehörigkeit gegründet worden - ein äußerst fortschrittliches Konzept zu jener Zeit. Daher wurde die Roosevelt University die neue akademische Heimat für zahlreiche geflohene deutsche und österreichische Gelehrte. Sie übte damit im Mittelwesten eine Funktion ähnlich jener der New School for Social Research in New York aus. Der Chairman des Economics Department war damals der aus Wien stammende -» Walter A. Weisskopf. Zu unterschiedlichen Zeiten gehörten die deutschsprachigen Ökonomen -* Bela Halasi, -» Adolf Sturmthal und der aus Rußland stammende Abba P. Lerner dem Lehrkörper an. Weil wurde schließlich zum Full Professor befördert und war als Professor of Economics and Finance Chairman des Department of Finance. 1957 wechselte er von der Forschung und Lehre zur akademischen Verwaltung und wurde Dekan des Walter H. Heller College of Business Administration an der Roosevelt University. Im Dezember 1964 wurde er zum Acting President der Roosevelt University ernannt und von 1966 bis 1988 war er als Präsident im Dienst dieser Institution tätig. Eine mit seinen Lebenserinnerungen verknüpfte Geschichte der jungen Universität veröffentlichte die Roosevelt University 1992 unter dem Titel Through the Portals. From Immigrant to University President. Weil wurde mit vier Ehrendoktoraten ausgezeichnet. 1967 verlieh ihm das Spertus College of Judaica den Grad des Doctor of Hebrew Letters, den Doctor of Humane Letters erhielt er 1970 von der Loyola University, 1986 von der Bowling Green University und 1988 von der Roosevelt University. Weil war Direktor der Carus Corporation sowie zahlreicher gemeinnütziger Organisationen. Auch im Ruhestand ist er noch als Dozent und in beratenden Funktionen tätig.

Schriften in Auswahl: (1944) Methods of Price Control, Cowles Commission Seminar Paper (mimeo.). (1950)

Federal Grants in Aid to Achieve State-Local Cooperation in Countercyclical Fiscal Policy, Diss., University of Chicago.

Weinberger, Otto (1953)

(1969)

(1992)

Property Tax Equalization in Illinois, in: National Tax Journal, Bd. 6, S. 157-167. Sales Ratios, Equalization, and the Transportation Industry, in: Proceedings of the National Tax Association 1968, ed. by S.J. Bowers, S. 83-88. Through these Portals. From Immigrant to University President, Roosevelt University, Chicago.

Bibliographie: Katona, G. (1945): Price Control and Business, Bloomington (= Cowles Commisson for Research in Economics. Monograph No. 9). Quellen: Β Hb Π; AEA. Hans Ulrich Eßlinger

Weinberger, Otto, geb. am 20.2.1882 in Brünn, gest. am 8.7.1958 in Wien Obgleich Weinberger, ein renommierter Gelehrter auf dem Gebiet des Handels- und Seerechts, seinen Beruf als Jurist aber einen Zeitraum von 52 Jahren ausübte - er wurde 1953 im Range eines Senatsvorsitzenden pensioniert - , verfaßte er an die 200 wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten, in denen er sich zunächst mit der methodologischmathematischen, aber auch dogmenhistorischen Aufarbeitung der Grenznutzenschule beschäftigte, nach 1945 jedoch vermehrt wirtschaftssoziologische und -philosophische Fragestellungen aufgriff, die allerdings nicht mehr das intellektuelle Niveau und die Bedeutung seiner frühen theoretischen Schriften erlangten. Der in der Tradition des altösterreichischen Bildungsbürgertums umfassend gebildete Weinberger studierte an der Universität Wien zunächst Jura und schloB diese akademische Ausbildung 1905 mit einer Promotion zum Dr. jur. ab. Aufgrund seines Interesses für wirtschaftsrechtliche Fragestellungen wandte er sich alsdann dem Studium der Nationalökonomie zu, in dessen Verlauf er zuerst durch die Vorlesungen Carl Mengers und Eugen von Böhm-Bawerks, später durch Othmar Spann und Hans Mayer entscheidend geprägt wurde. Mit einer Arbeit über William Stanley Jevons Theory of Political Economy - Weinbergers Übersetzung dieses Werkes erschien 1924 in der Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister - erwarb er 1923 ebenfalls an der juristischen Fakultät

der Universität Wien das Doktorat der Staatswissenschaften. Im März 1938 wurde Weinberger als Kammerpräsident des Wiener Handelsgerichts aufgrund seiner 'nicht-arischen' Herkunft pensionsberechtigt entlassen, verließ aber Österreich trotz einer Verurteilung zu zwei Jahren Zwangsarbeit nicht. Gezwungen ein neues Betätigungsfeld zu finden, verfaßte er noch einige kürzere dogmengeschichtliche Abhandlungen und begann dann in Wien ein Theologiestudium, das er 1946 mit einer Promotion über das Thema Die Wirtschaftsphilosophie des Alten Testaments (1948) an der katholischtheologischen Fakultät abschloß. Bereits ein Jahr zuvor hatte sich Weinberger an der Universität Wien habilitiert und die Venia legendi für Allgemeine Volkswirtschaftslehre erhalten, die 1946 auf das Fach Soziologie ausgedehnt wurde. Im Jahr 1951 wurde Weinberger der Titel eines außerordentlichen Professors verliehen - zwei Jahre danach erlosch seine Lehrbefugnis aus Altersgründen. Ausdruck seines wissenschaftlichen Ansehens waren die Mitgliedschaften in der Akademie der Wissenschaften (Societä Reale) Neapel, der Accademia Virgiliana Mantua sowie der Katholischen Akademie Wien. Die wissenschaftsgeschichtlich bedeutendsten Beiträge in Weinbergers nationalökonomischem Werk liegen zweifelsohne auf dem Gebiet der Interpretation und methodologischen Weiterentwicklung des Lehrgebäudes der Grenznutzenschule. In Anlehnung an das Gedankengut Maffeo Pantaleonis, der in seinem Hauptwerk Principii di economia pura u.a. versucht hatte, die klassische Politische Ökonomie mit den nutzentheoretischen Überlegungen der Grenznutzenschule zu verbinden und der als einer der ersten die Bedeutung Heinrich H. Gossens für die Weiterentwicklung der ökonomischen Theorie erkannt hatte, sowie unter expliziter Bezugnahme auf Henry Ludwell Moores Synthetic Economics, (1929) strebte Weinberger - unter Verwendung der mathematischen Methode - nach einer Synthese der Grundgedanken der drei Richtungen der Grenznutzenschule, aber auch nach einer Verbindung von ökonomischer Theorie und statistischer Analyse. So umreißt seine Studie Die Grenznutzenschule (1926) die dogmengeschichtliche Entwicklung der Grenznutzentheorie und verdeutlicht anhand der Werke L£on Walras, Heinrich H. Gossens und William St. Jevons das gemeinsame Forschungsinteresse der Begründer der Grenznutzenschule.

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Weinberger, Otto Diesen Ansatz aufnehmend, widmete er sein theoretisches Hauptwerk Mathematische Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung (1930a) der Geschichte, den Möglichkeiten aber auch den Problemen einer mathematischen Analyse und Darstellung volkswirtschaftlicher Grundfragen, denn hierin erkannte er eine geeignete Methode zur Herausarbeitung des gemeinsamen instrumentalen und theoretischen Kerns aller drei Strömungen der Grenznutzenschule. Eine Variation dieses Themas bietet sein Aufsatz Die mathematische Methode und die österreichische Schule der Volkswirtschaftslehre (1932a), der den psychologischen Charakter der österreichischen Grenznutzenschule und die nach Weinbergers Einschätzung auf Unkenntnis beruhende Ablehnung der mathematischen Methode durch ihre Hauptvertreter in den Vordergrund stellt. Darüber hinaus versuchte er hier zu zeigen, daß die österreichische Schule mit ihrer Zurechnungslehre ein der Gleichgewichtsanalyse der Lausanner oder der angloamerikanischen Grenznutzenschule vergleichbares System entwickelt habe und damit „die österreichische und die mathematische Schule keine Gegensätze darstellen." (1932a, S. 197). In seiner 1930 erschienenen Abhandlung Eine synthetische politische Oekonomie (1930b), einer ausführlich kommentierenden Rezension des o. g. Werkes von Moore, dessen Kernpunkt eine „mathemathischstatistische Synthese des Wirtschaftsablaufes" (ebd. S. 184) sein sollte, überprüfte Weinberger nun die von Moore vorgedachten Möglichkeiten, die von der ökonomischen Theorie entwickelten Gleichungssysteme mittels statistischer Verfahren auf eine empirische Grundlage zu stellen. Aus seiner Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Grenznutzenschule resultierten zahlreiche dogmengeschichtliche Studien, die Weinberger als ausgezeichneten Kenner insbesondere der italienischen Fachliteratur ausweisen, dem es weniger um orginelle Interpretationen denn um die werkgetreue Wiedergabe zentraler Gedanken der untersuchten Arbeiten ging. Sein Hauptinteresse galt dem ökonomischen Werk Vilfredo Paretos, wobei er in seinen späten, mehr von theologischphilosophischen und soziologischen Überlegungen geprägten Schriften, vor allem Paretos auf der subjektiven Wertlehre aufbauende Marx-Kritik und dessen Ablehnung der materialistischen Geschichtsauffassung thematisierte (vgl. u.a. 1950).

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In seinem letzten umfangreichen Werk Grundriß der Allgemeinen Wirtschaftsphilosophie (1958), dessen weltanschauliche Ausrichtung durch häufige Zitate Oskar von Neil-Breunings deutlich hervortritt, vermittelt Weinberger einen Überblick zur Geschichte wirtschaftsphilophischen Denkens und stellt dann in eigenwilliger Folge die Denkgrundlagen der großen wirtschafts- und sozialpolitischen Richtungen vor. Diese Abhandlung endet mit einer schwülstigen Ablehnung der „Verwirtschaftlichung des öffentlichen Lebens", gegen die, so Weinberger, ein berufsständisch gegliedertes Staatswesen am besten geeignet sei und verortet abschließend „die letzten Ziele unseres Lebens im Transzendenten" (1958, S. 171f.). Schriften in Auswahl: (1925) Eugen von Böhm-Bawerk, in: Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 53, S. 491-508. (1926) Die Grenznutzenschule, Halberstadt. (1927) Hermann Heinrich Gossen, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, Bd. 51, S. 11-28. (1930a) Mathematische Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung, Leipzig. (1930b) Eine synthetische politische Oekonomie, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 132, S. 177199. (1932a) Die mathematische Methode und die österreichische Schule der Volkswirtschaftslehre, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 137, S. 189-197. (1932b) Über Verfahrensweisen zur Bestimmung des geldlichen Grenznutzens, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 93, S. 385-411. (1948) Die Wirtschaftsphilosophie des Alten Testaments, Wien (Diss. Wien 1945). (1950) Pareto und die materialistische Geschichtsauffassung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 106, S. 460-472. (1953) Karl Renner als Soziologe, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 109, S. 726-736. (1958) Grundriß der Allgemeinen Wirtschaftsphilosophie, Berlin.

Weingartner, Hans Martin Bibliographie·.

Jevons, W.St. (1871): Theory of Political Economy, London. Moore, H.L. (1929): Synthetic Economics, New York. Pantaleoni, M. (1889): Principii di economia pura, Florenz. Quellen: SPSL 240/1; Weber, W. (1961): Weinberger, Otto, in: Handwörterbuch der Sozial Wissenschaften, Bd. 11, hrsg. von Erwin Beckerath u.a., Stuttgart u.a., S. 600-601. Gerhard J. Mauch

Weingartner, Hans Martin, geb. 4.4.1929 in Heidelberg Seines jüdischen Glaubens wegen der Verfolgung durch das NS-Regime ausgesetzt - der Vater war nach der Reichspogromnacht im KZ Dachau inhaftiert worden - emigrierte Weingartner 1939 noch während seiner Schulzeit mit den Eltern in die USA, wo er 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. An der University of Chicago erwarb er 1950 den Bachelor of Arts sowie den Bachelor of Science in Mathematik, 1951 den Master of Arts in Economics. Nach seiner Tätigkeit als Ökonom im US Department of Commerce (1951-1953) absolvierte Weingartner ein weiteres Studium an der Carnegie Mellon University, Pittsburgh (Master of Science in Industrial Economics, 1956), an der er 1962 auch promovierte. Im Anschluß an dieses Studium lehrte er zunächst als Instructor an der Graduate School of Industrial Administration der Carnegie Mellon University (1956-1957), danach als Instructor, später auch als Assistant Professor an der Graduate School of Business der University of Chicago (1957-1963). Seiner Stellung als Associate Professor für Finanzierung an der Sloan School of Management des Massachusetts Institute of Technology (19631966) folgte 1966 eine weitere als Professor an der Graduate School of Management der University of Rochester (bis 1977). Seit 1977 bekleidet Weingartner eine Professur für Finanzierung an der Owen Graduate School of Management der Vanderbilt University, nachdem er sich zwischenzeitlich auch als Lecturer an Universitäten in Tel Aviv (1971), London (1973) und Aarhus (1974) aufgehalten hatte. Neben seiner akademischen Tätigkeit wirkt Weingartner in beachtlichem Um-

fang als Untemehmensberater im Finanzdienstleistungssektor. Weingartner ist Mitglied des Institute of Management Sciences, dessen Präsidentschaft er 19851986 innehatte, des Council of Scientific Society Presidents, der American Economic Association und der American Finance Association. Für die vom Institute of Management Sciences herausgegebene Zeitschrift Management Science übernahm er in der Zeit von 1967 bis 1973 die Funktion eines Departmental Editor für den Bereich Finanzierung. Weingartners wissenschaftliches Renommee gründet sich in erster Linie auf eine Reihe richtungsweisender Beiträge zur simultanen Investitions- und Finanzplanung: In deren Mittelpunkt steht die Bestimmung einer - im Sinne einer bestmöglichen Zielerreichung des Investors - optimalen Kombination von Investitions- und Finanzierungsprojekten aus einer Menge sich grundsätzlich nicht ausschließender Vorhaben. Daß sich Weingartner bereits in seiner Dissertation Mathematical Programming and the Analysis of Capital Budgeting Problems (1963a) intensiv der Problematik von Investitionsprogrammentscheidungen gewidmet hat, erscheint mit Blick auf das akademische Umfeld an der Graduate School of Industrial Administration leicht nachvollziehbar: Bereits während seines Studiums wurde er mit den Methoden der mathematischen Programmierung konfrontiert, die zur damaligen Zeit einen Forschungsschwerpunkt im Bereich des Operations Research darstellten und die Grundlage für seine späteren Ausführungen zur Investitionsprogrammplanung bilden sollten. In besonderem Maße inspirierend und motivierend wirkte zudem der persönliche Kontakt zu einer Reihe herausragender Ökonomen: Simon und Modigliani, dem er zeitweise auch als Research Assistant diente (Weingartners erste Veröffentlichung Forecasting Uses of Anticipatory Data on Investment and Sales (1958) datiert aus dieser Zeit), sowie Cooper und Miller, deren beider Forschungstätigkeit zum Ende der 1950er Jahre u.a. auf die Anwendung linearer Optimierungsmodelle ausgerichtet war. Angeregt durch die Kritik am Dean'sehen Kapitalbudgetierungsansatz, vor allem durch die Einwände von Lorie und Savage, entwickelt Weingartner in seiner in den Jahren 1959 bis 1962 verfaßten Doktorarbeit zunächst ein Einperioden-Kapitalwertmodell zur Bestimmung des optimalen Investitionsprogramms bei gegebenen finanziellen

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Weingartner, Hans Martin Mitteln und gegebenem Produktionsprogramm (1963a, S. 16 ff.)· Hierzu formuliert er das in leicht abgewandelter Form von Lorie und Savage bearbeitete Problem der optimalen Allokation beschränkter Finanzmittel in einem ersten Schritt als (kontinuierliches) lineares, danach als ganzzahliges Programm. Das von Weingartner angewandte Verfahren der linearen Optimierung löst das Problem exakter und weitaus eleganter als das von Lorie und Savage vorgeschlagene approximative Rechenverfahren. Einen Fortschritt im Vergleich zum Ansatz von Lorie und Savage bedeutet seine Fassung auch deshalb, weil sie Projektabhängigkeiten nicht nur in Form sich gegenseitig ausschließender, sondern auch verbundener Investitionsvorhaben berücksichtigt (S. 32 ff.). Weingartner selbst macht in der Folge auf zwei gravierende Unzulänglichkeiten aufmerksam, die das Lorie-Savage-Problem - in der ursprünglichen wie auch in der von ihm vorgestellten Formulierung - aufweist: Zum einen die Problematik der (willkürlichen) Festlegung der Kapitalbudgets, zum anderen die ebenso problembehaftete Wahl des Kalkulationszinsfußes zur Berechnung des Kapitalwerts (S. 140). Aus diesem Grunde entwirft Weingartner - ebenfalls noch im Rahmen seiner Doktorarbeit - auf der Grundlage eines von Charnes, Cooper und Miller 1959 entwickelten produktionstheoretischen Modells das 'Basic Horizon Model' (S. 141 ff.), ein (Vermögens-)Endwertmodell, bei dem die Prämisse der Reinvestition freiwerdender finanzieller Mittel zum Kalkulationszinssatz grundsätzlich aufgegeben werden konnte. Durch die explizite Einbeziehung aller zukünftigen Investitions- und Finanzierungsmöglichkeiten bis zum Planungshorizont erhält dieses zwangsläufig den Charakter eines zeitlich dispersen (Mehrperioden-)Modells, in dem das Investitions- und Finanzierungsprogramm unter der Zielsetzung der Vermögensmaximierung für sämtliche Teilperioden des Planungszeitraums simultan bestimmt wird. Ausgehend von der einen vollkommenen Kapitalmarkt widerspiegelnden Annahme einer beliebig hohen Kreditaufnahme zu einem gegebenem Zinssatz, differenziert Weingartner die Kapitalbeschaffungsmöglichkeiten schrittweise, um dadurch den Unvollkommenheiten des Kapitalmarktes Rechnung zu tragen: In einer ersten Variante legt er zunächst absolute Finanzierungshöchstgrenzen fest (S. 160 ff.); in einer zweiten geht er von Finanzierungsgrenzen aus, deren Überschreitung bei dann allerdings hö-

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heren Zinssätzen möglich ist (S. 168 ff.), um schließlich in einer dritten Abwandlung neben der kurzfristigen, einperiodigen Finanzierung die Möglichkeit einer langfristigen Kreditaufnahme bis zum Planungshorizont zu erörtern (S. 172 ff.). Sieht man von den in den letzten Jahren publizierten Abhandlungen über den Zusammenhang von Leasing und Unsicherheit bezüglich der ökonomischen Nutzungsdauer von Leasinggegenständen (1987) sowie die Berechnung der Verteilung von Nachlässen (1993) ab, beziehen sich die seiner Dissertation nachfolgenden Veröffentlichungen größtenteils auf Teilaspekte, die in dieser entweder marginal angesprochen wurden oder (noch) ausgespart blieben: So setzt er sich in The Excess Present Value Index - A Theoretical Basis and Critique (1963b) intensiv mit den theoretischen Unzulänglichkeiten der Kapitalwertrate als Rangordnungskriterium fur Investitionsprogrammentscheidungen auseinander. In Capital Budgeting of Interrelated Projects: Survey and Synthesis (1966b) nimmt er zur Thematik der Unsicherheit bei Investitionsentscheidungen Stellung und erörtert spezielle Projektabhängigkeitsbeziehungen bei Forschungs- und Entwicklungsprogrammen. Eingehend widmet sich Weingartner zudem der dynamischen Programmierung, einem weiteren Modell des Operations Research; dieses Lösungsverfahren wendet er über die simultane Investitions- und Finanzplanung (1966b, 1967) hinaus auch auf mit der Emission von Anleihen zusammenhängende Fragestellungen an (1972). Den Kem seiner internationalen Reputation bilden jedoch ohne Zweifel seine Ausführungen zur simultanen Investitions- und Finanzplanung. Hatte diese in den fünfziger Jahren ihre Impulse vor allem durch US-amerikanische (neben Weingartner auch Dean, Lorie, Savage, Charnes, Cooper, Miller) und französische (Mass6, Gibrat) Ökonomen erhalten, so nahmen sich zu Beginn der sechziger Jahre mit Albach und Hax auch deutsche Wirtschaftswissenschaftler intensiv dieser Problemstellung an. Auf Basis des von Albach in seiner Habilitationsschrift Investition und Liquidität 1962 veröffentlichten Einperioden-Kapitalwertmodells entwickelte Hax zeitlich parallel zu aber unabhängig von - Weingartner ebenfalls ein Mehrperioden-Endwertmodell. Während jedoch in der Folgezeit Ansätze zur simultanen Investitions- und Finanzplanung in der deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre, angeregt durch die Arbeiten von Albach, Hax und Weingartner - eine

Weingartner, H a n s M a r t i n seiner Veröffentlichungen (1966b) wurde ins Deutsche übersetzt - , sehr starke Beachtung gefunden haben und in vielfacher Weise zu umfassenden Investitions-, Finanz- und Produktionsplanungsmodellen ausgebaut worden sind, blieb das Interesse gegenüber diesen Budgetierungsansätzen in den USA vergleichsweise gering: Hier stand die Beschäftigung mit Finanzmarktgleichgewichtsmodellen eindeutig im Vordergrund der Entwicklung einer Theory of Finance. Weingartner selbst zeigt sich später enttäuscht über die in der Folgezeit - zumeist auf Basis seines Ansatzes - weiterentwickelten Kapitalbudgetierungsmodelle. Er, der selbst den zentralen Impuls zur Entwicklung simultaner Investitions- und Finanzplanungen im angelsächsischen Sprachraum gegeben hatte, hat daher auch maßgeblich zu deren Relativierung beigetragen. Im Mittelpunkt seiner Kritik stehen dabei weniger die modellimmanenten Probleme der Datenbeschaffung und der rechentechnischen Bewältigung einer als lineares Programm formulierten Investitions- und Finanzplanung, auf die besonders in der deutschsprachigen Fachliteratur abgestellt worden ist, als vielmehr die unzureichende Marktorientiening dieser Modelle: „The numerous published attempts to identify and treat the capital expenditure decisions problem ... have considered capital rationing as taking place under naively and erroneously described capital markets. These efforts can only be regarded as massively counterproductive" (1977, S. 1429). Daneben bemängelt der durch seine beratende Tätigkeit stets Pragmatiker gebliebene Weingartner zu Recht die Realitätsferne der entwickelten Ansätze, allen voran die Ignoranz organisatorischer Rahmenbedingungen: „The mathematical programming formulation of capital budgeting ... has been incorrectly and improperly applied in the literature to a problem that does not exist in anything resembling the form indicated by most writers" (S. 1429 f.). Schon frühzeitig hat Weingartner damit die Existenz eines über die rein sachliche Abstimmung von Investitionsentscheidungen (mit Hilfe simultaner Verfahren) hinausgehenden Koordinationsbedarfs in Institutionen erkannt. Auch wenn er auf diese Problematik bisher nur in eher deskriptiver Form aufmerksam gemacht hat (1963a, S. 194; 1977, S. 1430) und Lösungsvorschläge dazu von ihm gegenwärtig (noch) nicht vorliegen, so kann er gleichwohl als einer der Wegbereiter eingestuft werden, die einer stärker neoinstitutionalistisch geprägten Investitionstheo-

rie, wie sie neueren Vorstellungen entspricht, zum Durchbruch verholfen haben. Schriften in Auswahl: (1958) Forecasting Uses of Anticipatory Data on Investment and Sales (zus. mit F. Modigliani), in: Quarterly Journal of Economics, Bd. 72, S. 2354. (1963a) Mathematical Programming and the Analysis of Capital Budgeting Problems, Englewood Cliffs, NJ. (Diss.). (1963b) The Excess Present Value Index - A Theoretical Basis and Critique, in: Journal of Accounting Research, Bd. 1, S. 213-224. (1966a) Criteria for Programming Investment Project Selection, in: Journal of Industrial Economics, Bd. 15, S. 65-76. (1966b) Capital Budgeting of Interrelated Projects: Survey and Synthesis, in: Management Science, Bd. 12, S. 485516 (dt. Übers.: Investitionsrechnung für voneinander abhängige Projekte, in: H. Albach (Hrsg.): Investitionstheorie, Köln 1975, S. 326-357). (1967) Methods for the Solution of the Multidimensional 0/1 Knapsack Problem (zus. mit D. Ness), in: Operations Research, Bd. 15, S. 83-103. (1972) Municipal Bond Coupon Schedules with Limitations on the Number of Coupons, in: Management Science, Bd. 19, S. 369-378. (1977) Capital Rationing: η Authors in Search of a Plot, in: Journal of Finance, Bd. 32, S. 1403-1431. (1987) Leasing, Asset Lives and Uncertainty: Guides to Decision Making, in: Financial Management, Bd. 16, S. 512.

(1993)

How to Settle an Estate (zus. mit Β. Gavish), in: Management Science, Bd. 39, S. 588-601.

Quellen: BHbll; AEA; Who's Who in America (1994). Wolfgang Eisele

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Weinwurm, Ernest Herman Weinwurm, Ernest Herman, geb. 1895 in Wien Weinwurm studierte an der Universität Wien Wirtschaftswissenschaften. Im Jahr 1920 Schloß er sein Studium mit der Promotion ab. Ende der 1930er Jahre emigrierte Weinwurm in die Vereinigten Staaten. Dort besuchte er an der New York University Vorlesungen im Fach Betriebswirtschaftslehre und erlangte 1945 den Master of Business Administration. Anschließend arbeitete Weinwurm hauptsächlich als Universitätsprofessor, so zunächst zwischen 1950 und 1954 als außerordentlicher Professor am Stevens Institute of Technology und ab 1954 als ordentlicher Professor an der De Paul University in Chicago. In den 1950er Jahren war er zugleich Präsident der Chicagoer Ortsgruppe des Institute of Management Sciences sowie des Budget Executives Institute. Im Jahr 1969 wurde Wein wurm emeritiert. Auch als Professor Emeritus widmete sich Weinwurm der wissenschaftlichen Forschung und Lehre. Neben einer Reihe von Veröffentlichungen, die in diesen letzten Lebensabschnitt fallen, ist bespielsweise auch seine zeitweilige Arbeit als Dozent für Wirtschaftswissenschaften an der California State University sowie seine aktive Mitgliedschaft im Planning Executives Institute zu nennen. Weinwurm war zudem bis zuletzt als Berater für eine Reihe von Einrichtungen der Industrie tätig sowie Mitglied der Redaktionsbüros der Zeitschriften Management International und The Engineering Economist. Im Rahmen seiner Veröffentlichungen befaßte sich Weinwurm mit verschiedenen Aspekten aus dem Bereich der Betriebswirtschaftslehre. Einen Schwerpunkt in seinen Arbeiten bilden dabei Überlegungen hinsichtlich der Frage, wie unter Unsicherheit und bei Risiken, die ein stetiger Wegbegleiter von Untemehmensentscheidungen sind, bestmöglich umgegangen werden kann. Im Mittelpunkt stand dabei sein Bestreben, einzelne zunächst quantitativ nicht meßbare Unsicherheitszustände in Situationen mit quantifizierbarem Risiko zu transformieren. Für das Management eines Unternehmens bestehe dann nämlich die Möglichkeit, sich gegen dieses Risiko zu versichern. Im Rahmen der unternehmerischen Entscheidungsfindung müßten diese dann auch nicht länger als relevante Faktoren berücksichtigt werden. Weinwurm setzte sich daher ausführlich mit verschiedenen Methoden, Techniken und Instrumen-

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ten aus dem Bereich der mathematischen Wahrscheinlichkeits- und Entscheidungstheorie auseinander, mit deren Hilfe eine Reduzierung von Unsicherheitssituationen bzw. eine Ausdehnung des Bereichs von - versicherbaren - Risiken erzielt werden kann. Hierbei ging er auch der Frage nach, ob die Anwendung von Operations Research-Modellen auf betriebswirtschaftliche Probleme wirklich immer zu optimalen Lösungen führt (1961). Er kritisierte hierbei insbesondere die den traditionellen Modellen häufig zugrundeliegende Annahme einer kurzfristigen Gewinnmaximierung als alleiniges Ziel der Unternehmensführung. So hob er immer wieder hervor, daß sich das Management bei Untemehmensentscheidungen an einer ganzen Reihe weiterer Ziele ausrichten würde, die das Gewinnmaximierungsziel häufig sogar an Bedeutung übertreffen würden. Trotz seiner Forderung nach differenzierteren und umfassenderen Operations Research Modellen, die auch soziale Motive und ethische Werte in ihrer Zielfunktion mitberücksichtigen sollten, stellte Weinwurm dennoch grundsätzlich fest, daß wissenschaftlich-statistische Methoden gerade für das Management von immer größer und komplexer werdenden Unternehmen nützlich seien, da mit ihrer Hilfe Entscheidungen und Handlungen auf eine objektivere, transparentere und damit auch sicherere Grundlage gestellt werden könnten (1969). In einer Reihe weiterer Veröffentlichungen beschäftigte sich Weinwurm mit der Informationsfunktion des betrieblichen Rechnungswesens. In dem gemeinsam mit W.D. Wright verfaßten Buch Managerial Budgeting (1964) analysierte er beispielsweise ausführlich verschiedene Werkzeuge und Techniken der Gewinn- und Verlustrechnung sowie der Bilanzierung, mit deren Hilfe das Management eines Unternehmens in die Lage versetzt wird, untemehmensrelevante Informationen und Daten richtig zu erfassen und diese im Hinblick auf die jeweils verfolgten Untemehmensziele korrekt zu bewerten und in einer sinnvollen und aussagekräftigen Art und Weise in das betriebliche Rechnungswesen zu übertragen. Hierbei erkannte er bereits früh den besonderen Nutzen elektronischer Datenverarbeitungs- und Kommunikationssysteme, die seiner Meinung nach die bestehenden, traditionellen Informationssysteme in Unternehmen in kurzer Zeit grundlegend revolutionieren würden. Weinwurm betonte hierbei aber auch die Tatsache, daß diese neuen Technologien

Weiss, Franz Josef nicht nur zu einem steigenden Angebot, sondern zugleich auch zu einer steigenden Nachfrage nach Informationen führen würden. Das betriebliche Datenverarbeitungs- und Rechnungslegungssystem eines Unternehmens sollte daher derart konzipiert und ausgestaltet werden, daB dem Management sowohl die für die tägliche Arbeit erforderlichen Daten als auch die für die längerfristige Planung notwendigen Informationen stets in angemessener Art und Weise zur Verfügung stehen (1967). Letzteres hat Weinwurm am Beispiel der langfristigen Gewinnplanung eines Unternehmens in seiner Arbeit Long-Term Profit Planning (1971) ausfuhrlich dargestellt. Nach Weinwurm hat eine moderne Rechnungslegung aber nicht nur Informations-, sondern zugleich auch Koordinations-, Kommunikationsund Motivationsfunktionen zu erfüllen. Die Implementierung des betrieblichen Rechnungswesens habe sich daher zusätzlich an der spezifischen Organisationsstmktur des Unternehmens und dem Ziel möglichst reibungsloser Aibeitsabläufe auszurichten (1964). Neben diesen primär betriebswirtschaftlich relevanten Funktionen hat Weinwurm dem betrieblichen Rechnungswesen aber zugleich auch eine wichtige gesellschaftspolitische Fähigkeit zugewiesen, nämlich die freiheitliche und demokratische Gmndordnung in der Gesellschaft bei adäquater Ausgestaltung stärken zu können. Den Ausgangspunkt stellte dabei seine Kritik an den seinerzeitigen industriellen Beziehungen zwischen den einzelnen Gruppen der Gesellschaft dar, die nach Weinwurm häufig durch Zwang gekennzeichnet waren. Gerade die Informationsfunktion des betrieblichen Rechnungswesens bietet hier nach Weinwurm die Möglichkeit, die Beziehungen zwischen den Kapitalgebern, den abhängig Beschäftigten und den Unternehmensführern positiv zu beeinflussen (1978). Insgesamt setzte sich Weinwurm daher vehement für die Überwindung der traditionellen Praxis der betrieblichen Rechnungslegung ein, die seiner Meinung nach nur auf rein technischen und formalen Aspekten basiere und zudem zu einseitig auf die Bedürfnisse der Kapitalgeber zugeschnitten sei. Konsequenterweise forderte er die Entwicklung vollkommen neuer Methoden und Techniken der Rechnungslegung, die sich insbesondere an den Bedürfnissen der Adressaten und Nutzer der betriebswirtschaftlichen Daten auszurichten hätten und zu einer möglichst gleichberechtigten Stellung der Sozialpartner führen sollten.

Schriften in Auswahl·. (1961) Economic Models and Operations Research Models, in: Management International Review, Bd. 1, S. 5-24. (1964) Managerial Budgeting (zus. mit W.D. Knight). Sponsored by and Published under the Auspices of Budget Executives Institute, New York/London. (1967) Business Information and Accounting Systems (zus. mit W.M. Carrithers), Columbus, Ohio. (1969) Tools for Dealing with Uncertainty, in: FJ. Lyden/G.A. Shipman/M. Kroll (Hrsg.): Policies, Decisions, and Organization, New York, S. 331342. (1971) Long-Term Profit Planning (zus. mit G.F. Weinwurm). An American Management Association Research Book, New York. (1978) Accounting Information Systems and Industrial Relations, in: Management International Review, Bd. 18, S. 913. Quellen: AEA; Dok.Archiv. Markus Schreyer

Weiss, Franz Josef (Francis Joseph), geb. 6.7.1898 in Wien, gest. 21.1.1975 in Washington, D.C. F.J. Weiss, Sohn eines aus Mähren stammenden praktischen Arztes, besuchte in Wien Volksschule und Gymnasium. Wegen seiner Einberufung zum Kriegsdienst legte er 1916 vorzeitig die Reifeprüfung ab. 1947 bezeichnete sich F.J. Weiss selbst als „Standing at the watershed of natural and social sciences" (SPSL 240/3). Seinem akademischen und beruflichen Werdegang nach war er sowohl Natur- als auch Sozialwissenschaftler. Er hatte 1918 an der Universität Wien ein Studium der Philosophie und der Naturwissenschaften (Hauptfach Chemie) begonnen, das er 1922 mit Vorlegung einer Dissertation Über katalytische Dehydrierungen mit der Promotion zum Dr. phil. beendete. Er beschäftigte sich danach vor allem mit Pflanzenphysiologie und Biochemie. Anschließend studierte er - neben einer Tätigkeit als Redakteur von Fachzeitschriften - von 1925 bis 1928 Staats-

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Weiss, Franz Josef Wissenschaften an der Wiener Universität, an der er 1928 auch den Titel eines Dr. rer. pol. erwarb. Seit 1928 war Weiss am Statistischen Institut der Universität Wien tätig, wo er vor allem über Landwirtschafts- und Versicherungsstatistik arbeitete. Durch seine Veröffentlichungen über die Hagelversicherung bekanntgeworden, wurde er zum General Secretary of The International Hail Insurance Committee (1930) und zum Honorary Secretary of The Sub-Commission on Hail Research of The International Meteorological Organization berufen. Der „Anschluß" Österreichs an Deutschland unterbrach diese vielversprechende berufliche Entwicklung. Als Jude wurde F J . Weiss im Juli 1938 „dismissed from all professional and academic positions. He was seized and tortured by the Nazis, thrown through a window and left for dead. But a friendly landlord in Vienna rescued him, and after he was nursed back to some measure of health, he was aided by the Society of Friends and made it to England" (Washington Post). In England arbeitete Weiss in der Royal Geographical Society über „'empty places' in the world and undeveloped resources that were intended to become the basis for several settlement and colonization schemes for refugees" (SPSL 240/3). 1939 siedelte er in die USA über. Hier arbeitete er zunächst in Washington als Research Associate bei der National Planning Association über die Entwicklungsmöglichkeiten von Alaska. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde er als Scientific Consultant beim Board of Economic Warfare tätig, bevor er der Enemy Intelligence Division zugewiesen wurde. Nach Kriegsende arbeitete er zunächst als Agrarökonom beim U.S. Department of Agriculture. Wegen eines Unfalls an der Entsendung zur amerikanischen Militärregierung in Deutschland gehindert, nahm Weiss 1946 das Angebot der Sugar Research Foundation an, über Chemie, Produktion und Verbrauch von Zucker zu forschen. Von 1951 bis 1953 war er Consultant im Stab von Senator Hubert H. Humphrey, danach bei der International Cooperation Administration und beim Department of Commerce. Von 1959 bis 1969 arbeitete er in der Division of Science and Technology der Library of Congress. Er interessierte sich hier vor allem für die friedliche Nutzung der Atomenergie und die Verbesserung der 'food resources'. Als Member oder Fellow gehörte Weiss mehreren bedeutenden wissenschaftlichen Vereinigungen in

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den USA an (u. a. American Association for the Advancement of Science, American Statistical Association, American Institute of Chemists, American Geographical Society, American Nuclear Society und Washington Academy of Science). Rund 50 Publikationen von F.J. Weiss sind bibliographisch nachgewiesen. Sie spiegeln in ihrer Gesamtheit das breite Spektrum seiner natur- und sozialwissenschaftlichen Interessen wider. Sein ökonomisches Hauptwerk ist die 1929 in Wien erschienene Monographie Grundlagen der Volkswirtschaftspolitik, die wegen ihrer deuüich von O. Spann geprägten organisch-universalistischen Betrachtungsweise starker Kritik ausgesetzt war (W. Gerloff, -