Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933 [Reprint 2014 ed.] 9783110977967, 9783598112843

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Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933 [Reprint 2014 ed.]
 9783110977967, 9783598112843

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis Band 1
Autorenverzeichnis
Emigration der Wirtschaftswissenschaften - Einleitung
Literatur
Quellen- und Abkürzungsverzeichnis
Biographische Artikel Adler - Lehmann
Adler, John Hans – Fellner, William John
Ferber, Marianne Abeles – Kahn, C(harles) Harry
Kahn, Ernst – Mises, Ludwig von
Mitnitzky, Mark – Salz, Arthur
Scheck, Herbert – Zweig, Konrad
Register der verzeichneten Personen

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Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933 Herausgegeben von Harald Hagemann und Claus-Dieter Krohn unter Mitarbeit von Hans Ulrich Eßlinger

Band 1

Adler - Lehmann

K G · Saur München 1999

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933 / hrsg. von Harald Hagemann und Claus-Dieter Krohn. Unter Mitarb. von Hans Ulrich Eßlinger. - München : Säur ISBN 3-598-11284-X Bd. 1. Adler - Lehmann. - 1999

Θ Gedruckt auf säurefreiem Papier © 1999 by Κ. G. Saur Verlag GmbH & Co. KG, München Part of Reed Elsevier Printed in the Federal Republic of Germany Alle Rechte vorbehalten / All Rights Strictly Reserved Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig Druck und Binden: Strauss Offsetdruck GmbH, Mörlenbach ISBN 3 - 598 -11284- X (2 Bände)

Inhaltsverzeichnis Band 1 Autorenverzeichnis vii Emigration der Wirtschaftswissenschaften - Einleitung ix I. Entlassung und Vertreibung ix II. Emigrierte deutschsprachige Wirtschaftswissenschaftler xii III. Institutionen und Zentren der Emigration xv IV. Auswirkungen der Emigration auf deutschsprachige Universitäten xviii V. Zufluchtsländer der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler xxiv VI. Beiträge der Emigranten zur internationalen Entwicklung ihrer Fachgebiete . . xxvi VII. Karriereverläufe der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler xxxv VIII. Zur Entstehungsgeschichte dieses Handbuchs xxxviii Literatur xli Quellen- und Abkürzungsverzeichnis xliii

Biographische Artikel Adler - Lehmann

1

Band 2 Biographische Artikel Leichter - Zweig

367

Register der verzeichneten Personen

769

Autorenverzeichnis Professor Dr. Peter S. Albin Professor Dr. Gerhard Michael Ambrosi Professor Dr. Heinz W. Arndt Dr. Helmut Arnold

Professor Dr. Gerhard Illing Dr. Hans Jaeger Dr. Christian Jansen

Professor Dr. Jürgen Backhaus Professor Dr. Haim Barkai Professor Dr. Franz Xaver Bea Dr. Dirk Becker Dr. Ulf Beckmann Dr. Ulrike Berger Professor Dr. Gudrun Biffl Dr. Wolfgang Blaas Dr. Reinhard Blomert Bettina Bonde Dr. Christian Braun Dr. Klaus-Rainer Brintzinger Dr. Matthes Buhbe Privatdozent Dr. Felix Butschek

Professor Dr. Peter Kalmbach Professor Dr. Hans Kammler Dr. Thomas Keil Professor Dr. Wolfgang Kießling Dr. Karin Knottenbauer Gabriele Köhler Dr. Ernest König Dr. Hagen Krämer Margit Kraus Professor Dr. Claus-Dieter Krohn Professor Dr. Jürgen Kromphardt Professor Dr. Michael Kniger Axel Kümmel Dr. Bernd Kulla Dr. Johann Heinrich Kumpf Professor Dr. Heinz D. Kurz

Professor Dr. Volker Caspari Dr. Günther Chaloupek Dr. Bruce Chapman

Dr. Antje Lechner Barbara Link Christian Löbke

Professor Dr. Rolf Daxhammer Dr. Robert A. Dickler Dr. Claudia Dziobek

Dr. Gerhard Mauch Beitram Melzig-Thiel Professor Dr. Gary Mongiovi Professor Dr. Julius-Otto Müller Professor Dr. Drs. h.c. Richard A. Musgrave

Professor Dr. Wolfgang Eisele Professor Dr. Drs. h.c. Gottfried Eisermann Dr. Hans Ulrich EBlinger Professor Dr. Hildegard Feidel-Merz Dr. Ulrich Fellmeth Dr. Christian Gehrke Professor Dr. Fanny Ginor Professor Dr. Jörg Glombowski Professor Dr. Harald Hagemann Professor Dr. Dr. Franz Haslinger Professor Dr. Michael von Hauff Professor Dr. Emst Helmstädter Guntram Hepperle Professor Dr. Klaus Herdzina Claudia Hirsch Professor Dr. Karl Holl Dr. Ernst Hollander Bernhard Holwegler Dr. Michael Hüther Professor Dr. Detlev Hummel

Universitätsdozent Dr. Jürgen Nautz Professor Dr. Kurt Nemitz Professor Dr. Wolfgang Nitsch Professor Dr. Hans Nutzinger Professor John Conway O'Brien Professor Dr. Sven Papcke Privatdozent Dr. Helge Peukert Professor Dr. Perry F. Philipp Professor Dr. Walter Piesch Dr. Wolfgang Pollan Professor Dr. Rudolf Richter Dr. Claudius H. Riegler Professor Dr. Heinz Rieter Professor Dr. Peter Rosner Professor Dr. Drs. h.c. Kurt Rothschild Christof Rühl Professor Dr. Warren Samuels Professor Dr. Wolf Schäfer Jürgen M. Schechler vii

Autorenverzeichnis Professor Dr. Christian Scheer Professor Dr. Gerhard Scherhorn Dr. Ulrich Scheurle Regina Schlüter-Ahrens Professor Dr. Karl-Heinz Schmidt Professor Dr. Günther Schmitt Professor Dr. Drs. h.c. Dieter Schneider Eberhard Schott Markus Schreyer Sabine Schrödl Professor Dr. Marcel Schweitzer Professor Dr. Frank Jr. Scott Dr. Eberhard K. Seifert Dr. Stephan Seiter Professor Dr. Udo Ernst Simonis Professor Dr. Peter Spahn Professor Dr. Hans Joachim Stadermann Professor Dr. Albert Steenge Professor Dr. Johann Heinrich von Stein

viii

Dr. Monika Streissler Britta Symma Professor Anthony M. Tang Ana Paola Teixeira Professor Dr. Richard Tilly Rolf Traeger Professor Dr. Paul Trappe Privatdozent Dr. Hans-Michael Trautwein Professor Dr. Gerhard Wagenhals Professor Dr. Helmut Walter Karl Weinhard Klaus Weißenberg Professor Dr. Wolfgang Wiegard Dr. Rolf Wiegert Steffen Wirth Privatdozentin Dr. Theresa Wobbe Christine Wyatt Dr. Albert Zlabinger

Emigration der Wirtschaftswissenschaften Einleitung Harald Hagemann und Claus-Dieter

Krohn

I. Entlassung und Vertreibung In den modernen Wirtschaftswissenschaften zählen die denk- und dogmengeschichtlichen Entwicklungen der eigenen Disziplin zwar zu den gelegentlichen Untersuchungsgegenständen, doch richtet sich das Interesse dabei in der Regel auf den linearen Wissens- und Erkenntnisfortschritt. Unbeachtet bleibt allzu häufig, daß die Wissenschaften - wie alle gesellschaftlichen Erscheinungen - komplexe soziale Entwicklungs- und Wandlungsprozesse durchlaufen, bestimmt von unterschiedlichen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Einflußfaktoren. Das wird etwa deutlich bei den extern induzierten säkularen Brüchen der Wissenschaftsentwicklung im deutschsprachigen Raum der dreißiger Jahre, der Vertreibung einer ganzen Wissenschaftskultur aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsbereich, von der auch die Wirtschaftswissenschaften in signifikant hohem Ausmaß betroffen waren (Krohn/von zur Mühlen u.a. 1998, S 681 ff.; Hagemann 1997). Die damit verbundenen individuellen Karrierebrüche, lebensgeschichtlichen Zäsuren und problematischen Akkulturationsprozesse nach der vielfach lebensrettenden Flucht können als Extremsituation begriffen werden, an der sich beispielhaft die externen Bedingungen wissenschaftlichen Wandels veranschaulichen lassen. Die herkömmlichen dogmenhistorischen Methoden dürften für deren Analyse kaum hinreichen. Dieses Handbuch versucht, eine Gesamtübersicht der Wirtschaftswissenschaftler zu geben, die von jenen Ereignissen betroffen wurden. Es zeigt anhand ihrer individuellen Biographien, welche außerwissenschaftlichen, politischen Gründe zu den Abbrächen von Arbeitsund Forschungszusammenhängen führten, wie die internationale Wissenschaftsgemeinschaft darauf reagierte, welche Chancen oder Negativwirkungen sich daraus ergaben und welche Folgen der mit der Wissenschaftsvertreibung verbundene intellektuelle Transfer auf die Kulturen der Zufluchtsländer hatte. Die heute angesichts der Massenwanderungen übliche Unterscheidung zwischen freiwilliger Migration, erzwungener Emigration und Vertreibung bzw. Exilierung wird in der nachfolgenden Übersicht für die Vorgänge nach der politischen Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 nicht übernommen, da einerseits die freiwillige Migration nur in wenigen Einzelfallen geschehen ist und andererseits viele Betroffene anfangs kaum wußten, ob ihre lebensrettende Flucht vorübergehend oder endgültig sein würde. Erst aus der Rückschau ist festzustellen, daß der erzwungene Weggang aus Deutschland für die übergroße Mehrheit endgültig gewesen ist, so daß hier einheitlich nur von Emigration gesprochen wird. Die Anlage des Handbuchs geht von der Annahme aus, daß Wissenschaft gleichermaßen von persönlichen, institutionellen, disziplinaren und politisch-kulturellen Rahmenbedingungen geprägt wird. Die persönliche Ebene macht den Personenkreis identifizierbar, der gezwungen wurde, Deutschland nach 1933, Österreich nach dem 'Anschluß' 1938 und die Tschechoslowakei, insbesondere die Universität Prag, nach dem Münchener Abkommen im Herbst des gleichen Jahres zu verlassen. In der Regel waren das Juden und/oder Sozialisten, zum Teil auch einige Liberale. Letztere stellten in der intellektuellen Kultur Deutschlands aber eher eine Minderheit dar; in größerem Umfang findet man sie unter den Flüchtlingen ix

Einleitung aus Österreich. Zu prüfen ist, ob eine Beziehung zwischen der politischen oder 'rassischen' Diskriminierung und bestimmten disziplinaren oder theoretischen Milieus bestand, woraus Rückschlüsse auf die Wissenschaftskultur in der Weimarer Republik und der Republik Österreich abgeleitet werden können. Die institutionelle Ebene kann darüber Auskunft geben, welche Wissenschaftsmilieus an welchen Universitäten und anderen forschungsnahen Einrichtungen dominierten, wie sich das auf die dortigen Rekrutierungen in den Jahren der Weimarer Republik sowie auf die Entlassungen nach dem sogenannten Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 auswirkte. Hier werden Korrelationen von Zugehörigkeit zu Forschungseinrichtungen, Entlassungen und anschließender Emigration deutlich. Dazu zählen auch die Umstände der Flucht. Angesichts der nahezu 3.000 entlassenen Gelehrten, von denen rund zwei Drittel Schutz jenseits der Grenzen suchten, war der Exodus eine Massenerscheinung, die international kanalisiert und finanziert werden mußte. Daß der Transfer letztlich so geräuschlos und erfolgreich geschehen konnte, ist dem Engagement der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft zu verdanken, das einzigartig in der Geschichte der erzwungenen Wanderungen ist. Erleichtert wurde diese Solidarität in den USA durch den Umstand, daß dort die nach dem Ersten Weltkrieg eingeführten, nach Herkunftsländern gestaffelten rigiden Einwanderungsquoten für Wissenschaftler nicht galten und zudem die traditionell hohe Wertschätzung für das deutsche Bildungssystem an den amerikanischen Universitäten die Aufnahme eines vertriebenen Wissenschaftlers begünstigte. Nicht von ungefähr sollten die USA zum Hauptzufluchtsland von Gelehrten aller Disziplinen werden. Seit dem Frühjahr 1933 hatten sich diverse Hilfskomitees für die vertriebenen Wissenschaftler gebildet, von denen der von William Beveridge, Präsident der London School of Economics, und dem Physiker Ernest Rutherford initiierte Academic Assistance Council (AAC) in London, seit 1936 unter dem Namen Society for the Protection of Science and Learning (SPSL), und das Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars (EC) in New York die bedeutendsten waren. In den USA existierten darüber hinaus diverse Stiftungen und Wissenschaftsfonds, die erhebliche finanzielle Mittel für die Rettungsaktionen bereitstellten. Während der AAC die Mittel im Wege einer Selbstbesteuerung der britischen Wissenschaftsgemeinschaft aufbrachte, um den vertriebenen deutschen Kollegen durch Stipendien die Fortsetzung ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu ermöglichen, konnte das EC auf die Finanzhilfen jener Stiftungen zurückgreifen, die im Vergleich zu Großbritannien Unterstützungen in ganz anderem Stil und Ausmaß erlaubten. Insbesondere ist die Rockefeiler Foundation zu nennen, die 1913 gegründet worden war. Ursprünglich auf die Förderung der weltweiten medizinischen Forschung orientiert, hatte sie angesichts der ungelösten sozialen und ökonomischen Probleme nach dem Ersten Weltkrieg die Sozialwissenschaften in ihr Programm einbezogen. Knapp 1 Million Dollar waren aus diesem Programm schon während der zwanziger Jahre auch an deutsche Sozialwissenschaftler geflossen. Wie keine andere der zumeist nur im nationalen Maßstab operierenden amerikanischen Stiftungen war die Rockefeiler Foundation mit ihrem Koordinierungsbüro in Paris so nicht nur bestens mit der Wissenschaftsdiskussion in Deutschland vertraut, zu ihrer geförderten Klientel im Bereich der Wirtschaftswissenschaften gehörten vor allem solche Gelehrten, die als erste aus ihren akademischen Positionen vertrieben wurden. Noch ehe jene neuen Hilfskomitees aktiv wurden, entwickelte die Rockefeller Foundation ein eigenes gewaltiges finanzielles Hilfsprogramm, mit dem zahlreiche 'Refugee Scholars' an Universitäten in den USA und Großbritannien piaziert werden konnten. Nach Gründung des EC spielte sich dann eine finanzielle Lastenteilung ein, deren Prinzip einfach und genial war: Die Rockefeiler Foundation wie auch das EC übernahmen jeweils die Hälfte des Gehalts eines von einer X

Einleitung Universität oder einem College gewünschten Wissenschaftlers, sofern Aussicht bestand, daß er nach einer Reihe von Jahren in den eigenen Etat übernommen werden würde (Beveridge 1959; Duggan/Drury 1948; Krohn 1987, S. 37 ff.). Die disziplinsoziologische Ebene zeigt, welche Forschungsfelder im Vergleich zu anderen besonders von der Entlassung und Vertreibung betroffen waren. Auffallend ist, daß sie in starkem Maße von Gelehrten jüdischer Herkunft repräsentiert wurden. Die Ursachen dafür sind in der brüchigen Emanzipation des 19. Jahrhunderts zu suchen. Trotz rechtlicher Gleichstellung waren ihnen verschiedene Berufsfelder, unter anderem auch universitäre Karrieren, nahezu verschlossen geblieben. Solche Diskriminierungen und die vielfaltigen weiteren sozialkognitiven Kontrollen bewirkten, daß sie quasi den gesellschaftskritischen Blick par excellence entwickelten. So ist nicht erstaunlich, daß Juden daher die modernen Sozialwissenschaften prägten. Dieses kritische Potential entfaltete sich erst nach 1918, als ihnen die Administrationen und Bildungseinrichtungen der Republik zugänglich wurden. Auch in der Ökonomie sind bestimmte Teildisziplinen auszumachen, in denen sie besonders wirksam waren. Auf der politisch-kulturellen Ebene lassen sich die spezifische Ausprägung und Bedeutung der nationalen Wissenschaftsmilieus im internationalen Vergleich ermitteln. Bis zum 18. Jahrhundert war die Kultur und waren damit auch die Wissenschaften transnational gewesen. Die Bindungen des Bürgertums an den Nationalstaat im 19. Jahrhundert zeitigte dann ebenfalls nationale Ausformungen der Wissenschaften. Die Historische Schule der Nationalökonomie in Deutschland ist das wohl beste Beispiel solcher intellektuellen Reduktionen.1 Nach 1918 hatte es zwar einen verstärkten wissenschaftlichen Austausch durch Konferenzen, Gastprofessuren, Vortragsreisen etc. gegeben, eine neue Internationalisierung der Forschung war damit allerdings erst ansatzweise eingeleitet worden. Weiter befördert wurde dieser Prozeß durch den Exodus der rund 2.000 emigrierten Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum und deren Verteilung Uber nahezu alle Regionen des Globus, zu denen nach 1940 noch weitere aus den von den deutschen Truppen besetzten Ländern kamen. Die Aufnahme dieser Wissenschaftler in den Zufluchtsländern zeigte nicht selten das Zusammentreffen unterschiedlicher nationaler Wissenschaftsstile, deren erfolgreiche Angleichung davon abhing, welche neuen intellektuellen Botschaften die Emigranten mitbrachten und damit Forschungsperspektiven und -desiderata in ihrer neuen Lebenswelt stimulieren oder ausfüllen konnten und mit welcher Problemsensitivität sie ihre eigenen theoretischen Anschauungen zu reformulieren vermochten. Damit verbunden ist die Frage nach der Wirkung der vertriebenen Wissenschaftler in den Zufluchtsländern. Die Aufnahmebereitschaft dort beruhte weniger auf moralischer und philanthropischer Opposition gegen die totalitären Regimes in Europa, sondern hatte pragmatische Gründe; man interessierte sich für die kognitiven Disziplin-Transfers, die als Bereicherung der eigenen Wissenschaftskultur wahrgenommen wurden. Exemplarisch dafür steht der schnell verbreitete Slogan des Institutsdirektors einer amerikanischen Universität: „Hitler is my best friend. He shakes the tree and I collect the apples" (Fermi 1968, S. 78). Anders ist die zügige Integration einer so großen Zahl von Flüchtlingen kaum zu erklären. Und diese Die Methoden der Historischen Schule, wie die Berücksichtigung historischer und sozialwissenschaftlicher Überlegungen und der Einbau umfangreichen empirisch-statistischen Materials, indessen beeinflußten insbesondere im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch viele amerikanische Ökonomen, die häufig zum zeitweiligen Studium nach Deutschland gingen. Dies kann illustriert werden am Beispiel von Richard T. Ely (1854-1943), der Ende der 1870er Jahre nach Deutschland ging, wo er bei Karl Knies an der Universität Heidelberg promovierte und anschließend in Berlin stärker von Adolph Wagner beeinfluBt wurde. Einige Jahre nach seiner Rückkehr in die USA gründete Ely 188S die heute weltweit dominierende American Economic Association. Zum Einfluß der 'Historischen Schule' auf amerikanisches Wirtschaftsdenken vgl. Dorfman (1955). xi

Einleitung Erwartungen schienen erfüllt worden zu sein, wie die recht bemerkenswerten Karrieren bei zahlreichen Emigranten und die von ihnen erreichten Kommunikationsanteile in der wissenschaftlichen Diskussion der einzelnen Länder - und zunehmend auch international - dokumentieren. Ohne solche Wirkungen wäre schließlich die Bereitschaft zu einer Rückkehr in die alte Heimat nach deren Befreiung 1945 größer gewesen; von allen Berufsgruppen lag die Rückkehrquote bei Wissenschaftlern - das belegen ebenfalls die Daten für die emigrierten Wirtschaftswissenschaftler - am niedrigsten.

II. Emigrierte deutschsprachige Wirtschaftswissenschaftler Die Referenzgruppe der nach 1933 entlassenen und vertriebenen Wirtschaftswissenschaftler umfaßt 253 Personen. Dazu kommen noch 75 Vertreter der sogenannten zweiten Generation, die als Schüler mit ihren Eltern oder als junge Studenten geflohen sind und später in ihren Zufluchtsländern bemerkenswerte Karrieren machten. Zum direkten intellektuellen Transfer wissenschaftlicher Botschaften nach 1933 trugen sie somit nicht bei, wenngleich auch sie für den weiteren 'brain drain* der Emigration aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsgebiet von Bedeutung sind und deshalb in die nachfolgenden Biographien aufgenommen wurden. Während die vor 1910 Geborenen in den Zufluchtsländern in der Regel an ihre im deutschen Sprachraum durchgeführten bzw. begonnenen Arbeiten anknüpften, sie vielfach infolge der Weltwirtschaftskrise und der politischen Entwicklung in Deutschland, aber auch als Ergebnis des Akkulturationsprozesses modifizierten, wurden die nach 1918 geborenen Emigranten, insbesondere im angelsächsischen Raum, nahezu ausschließlich durch die Wirtschaftswissenschaften in den Aufnahmeländern geprägt. Von besonderem Interesse ist die dazwischenliegende Altersgruppe im Grenzbereich von erster und zweiter Generation. Neben einem gerade beendeten bzw. zwangsweise abgebrochenen Studium in Deutschland oder Österreich nahmen sie meist ein zweites Studium im Zufluchtsland auf, so daß sie am Beginn ihrer akademischen Karriere mit unterschiedlichen Forschungstraditionen und Theorieansätzen vertraut wurden. Dies führte vielfach zu einer doppelten Befruchtung und einer Synthese und Weiterentwicklung konkurrierender Theorien, auch wenn nicht jeder wie Hans Singer das Glück hatte, dabei von so herausragenden Fachvertretem wie Schumpeter (Bonn) und Keynes (Cambridge) beeinflußt zu werden. 2 Im Bereich der Ökonomen aus der zweiten Generation haben wir im Zuge unseres Forschungsprozesses immer wieder Überraschungen erlebt. Die Identifikation zahlreicher Wissenschaftler, vor allem in den USA bzw. Großbritannien und Israel mit anglisierten oder hebräisierten Namen, die in jungen Jahren in ihre Zufluchtsländer gingen, kam verschiedentlich eher zufallig zustande. Zwar war dank einiger prominenter Ökonomen wie Paul Streeten ein Problembewußtsein vorhanden, aber selbst bei so bekannten Fachvertretern wie Amitai Etzioni oder Francis Seton dürfte nur wenigen Kollegen die deutsche bzw. österreichische Herkunft, geschweige denn der Geburtsname vertraut sein. Unter den emigrierten deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaftlern nehmen die österreichischen bzw. aus Österreich geflohenen Ökonomen ein quantitativ wie noch stärker qualitativ hohes Gewicht ein. Insbesondere bei den relativ zahlreichen Wissenschaftlern aus Gebieten der ehemaligen Donaumonarchie, die heute zu Ungarn, Polen, Rumänien, der Tschechischen Republik, Rußland und der Ukraine gehören, die jedoch ihre akademische Ausbildung und Karriere zu größeren Teilen in Wien absolvierten, haben sich z.T. erhebliche methodische Probleme gestellt, ob die entsprechenden Ökonomen zu der von uns untersuchten 2

xii

Zu einer Sludie dieses spezifischen Emigrationsgewinns am Beispiel von Singer vgl. Eßlinger (1999), S. 227ff.

Einleitung Grundgesamtheit gehören. Diese Probleme waren in vielen Fällen nur durch zeitaufwendige Recherchen zu lösen. Dabei haben wir unsere Daten mit der Dokumentations- und Forschungsstelle „Österreichische Wissenschaftsemigration" in Wien abgeglichen. In einer Vielzahl von Fällen konnten noch offene Fragen bei Gesprächen und Nachrecherchen in Wien, insbesondere auch an der Universität Wien und dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung geklärt werden. Die Repräsentanten der österreichischen Neoklassik bildeten zusammen mit den Vertretern der deutschen Neuklassik die intellektuell bedeutendsten Segmente unter den Mitgliedern der ersten Generation, die vor ihrer Flucht promoviert und ihre wissenschaftliche Karriere bereits begonnen hatten. Hinzu kamen Vertreter anderer Denkrichtungen und spezieller Teildisziplinen. Zu nennen sind beispielsweise marxistische Wirtschaftstheoretiker; signifikant ist hier die Gruppe der Austromarxisten, ferner Sozialpolitiker, Arbeitsmarktforscher und Agrarökonomen sowie schließlich ökonomisch arbeitende Mathematiker und Statistiker, also Repräsentanten neuer empirisch ausgerichteter und quantitativ orientierter Teildisziplinen, die sich in den zwanziger Jahren vor allem nach amerikanischem Vorbild stärker entwickelten. Sie kamen hauptsächlich aus den in der Weimarer Republik entstandenen intermediären Forschungseinrichtungen der privaten Wirtschaftsverbände und der Arbeiterbewegung wie etwa Fritz Baade, Allred Braunthal, Fritz Naphtali und andere. In diesen Zusammenhang gehört auch der privatwirtschaftlich angestellte Mitarbeiterkreis am Institut für Sozialforschung in Frankfurt mit Henryk Grossmann, Kurt Mandelbaum oder Friedrich Pollock. Zu berücksichtigen sind weiterhin wissenschaftlich arbeitende Gutachter, Journalisten etc. wie Melchior Palyi, Carl Landauer oder Gustav Stolper sowie Privatgelehrte mit anderen beruflichen Einbindungen, eine typische Erscheinung etwa für die Situation in Österreich. Schließlich fällt eine nennenswerte Gruppe aus der höheren Bürokratie auf, die nach 1918 rekrutiert worden war und die junge Funktionselite in der Weimarer Republik geprägt hatte. Ihre daraus hervorgegangenen wissenschaftlichen Arbeiten ermöglichten ihnen in den Zufluchtsländern den Einstieg in universitäre Karrieren. Die wirtschaftswissenschaftliche Emigration setzte sich also nicht nur aus Gelehrten von den Universitäten zusammen: Tabelle 1: Emigrationsprofil der nach 1933 im deutschsprachigen Raum entlassenen Wirtschaftswissenschaftler Zahl der Entlassenen - im Deutschen Reich - in Österreich - in der Tschechoslowakei - vor Emigration in anderen Ländern tätig

alle 196 50 4 3 253

- von Universitäten /Hochschulen - Studium gerade beendet - aus privaten Forschungseinrichtungen - aus der Bürokratie u.a.

148 20 57 28 253

Vertreter der zweiten Generation Biographische Einträge des Handbuchs

emigriert 169 45 4 3 221 122 20 55 24 221 = 87 Prozent

nicht emigriert 27 5 0 0 32 25 2 4 32

75 328 xiii

Einleitung Auffallend ist schließlich, daß zu den emigrierten professionellen Ökonomen ein aus elf Personen bestehender Kreis gebürtiger Russen gehörte, die überwiegend als junge Menschewisten nach der Oktober-Revolution nach Deutschland oder Österreich geflohen waren und dort sowohl in der Agrarforschung als auch in der gewerkschaftsnahen Wirtschaftsforschung arbeiteten. Sie einten nicht allein das politische Profil und teilweise abenteuerliche Biographien, durchweg waren das hochqualifizierte jüngere Leute, die der deutschen und nach 1933 auch der internationalen Forschung vor allem im Bereich der mathematischen Analyse und der Statistik wichtige Impulse gaben. Zu nennen wären etwa neben Paul A. Baran, Alexander Gerschenkron, Naum Jasny, Nathan Leites oder Mark Mitnitzky insbesondere der Lederer-Assistent Jacob Marschak, der schon in Deutschland, aber mehr noch später in den USA auf die Entwicklung der modernen Ökonometrie Einfluß nahm. Herausragend ist weiterhin Wladimir Woytinsky, der in Berlin während der zwanziger Jahre mit seinem siebenbändigen und zum Teil in andere Sprachen übersetzten Werk Die Welt in Zahlen internationale Bekanntheit gewonnen hatte. Zusammen mit Fritz Baade und Fritz Tarnow legte er Anfang der dreißiger Jahre den berühmten, nach ihren Anfangsbuchstaben benannten WTBPlan für die Gewerkschaften zur aktiven staatlichen Krisenbekämpfung vor, der beschäftigungspolitische Ideen beinhaltete, die im Einklang mit jenen von Keynes standen, um dessen Unterstützung sich Woytinsky auch bemühte. In den USA wirkte Woytinsky nach 1933 viele Jahre im Social Security Board in Washington am Aufbau der amerikanischen Sozialversicherung mit, ehe er bis zum Erreichen der Altersgrenze Leiter eines Forschungsprojekts an der Johns Hopkins University in Baltimore wurde. Erwähnt sei auch Wassily Leontief (1905-1999), der für seine in Kiel vorbereitete, später in den USA dann vollendete InputOutput-Analyse 1973 den Nobelpreis erhalten sollte. Leontief, der 1928 mit seiner Arbeit Die Wirtschaft als Kreislauf (1928) bei Werner Sombart und Ladislaus von Bortkiewicz an der Berliner Universität promovierte, arbeitete 1927-28 und - nach einer zwischenzeitlichen Tätigkeit für das Eisenbahnministerium in China - emeut 1930-31 in der Konjunkturforschungsabteilung des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Da er bereits Ende 1931 an die Harvard University ging, zählt er nicht zu den Emigranten aus Nazi-Deutschland. An dieselbe Universität wechselte nur wenige Monate später auch Joseph A. Schumpeter, über dessen Aufnahme in dieses Handbuch sich trefflich streiten ließe. Im vorliegenden Beitrag wird das bekannte Werk von Schumpeter eher knapp behandelt, dafür aber die Frage seiner Exilexistenz in das Zentrum gerückt. Auch das Beispiel des Schumpeter-Schülers Erich Schneider zeigt auf, daß es eine Reihe von Grenzfällen gibt, bei denen die (Nicht-) Aufnahme nur schwer zu entscheiden ist. Die Annahme eines Rufes an eine ausländische Universität, die einem jungen Privatdozenten die erste Professur ermöglicht, mag heutzutage nicht ungewöhnlich sein, stellte in den dreißiger Jahren aber eher eine Ausnahme dar. Inwieweit bei dieser, für die weitere Karriere eines später prominenten Ökonomen wichtigen Entscheidung auch politische Motive eine Rolle spielten, ist heute schwer einzuschätzen. 3 Klar ist jedoch, daß Jens Jessen, einer von Schneiders Vorgängern in der Leitung des Kieler Weltwirtschaftsinstituts, zwar im Gefolge der Ereignisse vom 20. Juli 1944 als Mitglied der Widerstandsbewegung verhaftet und am 30. November im Zuchthaus Plötzensee hingerichtet wurde, seine 1933 einsetzende steile Karriere jedoch dem Tatbestand zu verdanken hatte, anfangs ein führender Vertreter der nationalsozialistischen Wirtschaftslehre gewesen zu sein. Da er zudem bis in sein Todesjahr seine Berliner Professur beibehielt, ist er in dieses Röder/Strauss (1983) führen sowohl Schumpeter als Emigranten in die USA als auch Schneider als einen Wissenschaftler, der 1936 nach Dänemark emigrierte. Vgl. Band II, Teil 2. S. 1042 und 1055f. xiv

Einleitung Handbuch ebensowenig aufgenommen worden wie der ihm eng verbundene Heinrich von Stackelberg, dessen frühe Hinwendung zum Nationalsozialismus die internationale Rezeption seiner preistheoretischen Arbeiten bis heute behindert. Stackelberg, der sich zu einem Regimekritiker wandelte, nahm 1943 eine Gastprofessur in Spanien an, wo er trotz seines frühen Todes 1946 einen prägenden Einfluß auf die wirtschaftliche Theoriebildung hatte.4 In ihrer Klassifikation von Ökonomen gemäß dem Reaktionsmuster auf die nationalsozialistische Diktatur unterscheiden Rieter und Schmolz (1993, S. 95) fünf Kategorien. Auf die drei Gruppen der Vertreter einer völkischen Wirtschaftslehre, der Trittbrettfahrer und der nationalen bzw. konservativen Opportunisten ist an dieser Stelle nicht einzugehen. Während Jessen und Stackelberg den 'Renegaten' zuzurechnen sind, die jedoch weder von den Universitäten entlassen noch vertrieben worden sind, bereitete die fünfte Gruppe der 'Opponenten', die entweder aktiv gegen die Diktatur eintraten oder sich passiv vom nationalsozialistischen Herrschaftssystem distanzierten, im Einzelfall einige methodische Probleme. Dies gilt insbesondere auch mit Blick auf die nicht unproblematische Kategorie der 'inneren Emigration'. Als einer ihrer unumstrittenen Vertreter gilt Alfred Weber, der im März 1933 nicht nur selbst gegen das Hissen der Hakenkreuzfahne vorging (vgl. Nutzinger 1997), sondern dessen entschlossenem Einsatz es auch zu verdanken ist, daß nach 1945 in Heidelberg die Entnazifizierung wesentlich konsequenter betrieben wurde als an vielen anderen deutschen Universitäten. Weber ist in diesem Handbuch ebenso vertreten wie z.B. der bekannte Betriebswirt Eugen Schmalenbach, der im April 1933 von der Kölner Universität zwangsbeurlaubt wurde. Aufnahmekriterium bei den in Deutschland oder Österreich verbliebenen Wirtschaftswissenschaftlern war ihre Entlassung bzw. Vertreibung aus ihrer akademischen Position. Aus diesem Grunde sind andererseits hochgeschätzte Ökonomen, die in oppositioneller Haltung zum NS-Regime standen, nicht in dieses Handbuch aufgenommen worden. Dies gilt z.B. für die Vertreter der 'Freiburger Schule' ebenso wie für August Lösch, der in dieser Zeit die allgemeine Gleichgewichtstheorie auf den Raum anwandte und eine neue Standortlehre entwickelte. Lösch, der 1934/35 und 1936/37 mit einem Rockefeller-Stipendium zu Forschungsaufenthalten in die USA ging, blieb Privatdozent an der Universität Bonn und war als wissenschaftlicher Referent im Kieler Weltwirtschaftsinstitut tätig, verzichtete jedoch auf eine professorale Karriere. III. Institutionen und Zentren der Emigration Ökonomen zählen mit zu den Fachvertretern, die in besonderem Maße von der Vertreibung aus dem NS-Staat betroffen wurden. Dabei fallt sogleich auf, daß der Zwang zur Emigration eng mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Denkrichtungen beziehungsweise theoretischen Schulen zusammenhing. Noch in den zwanziger Jahren firmierte die Ökonomie an den meisten deutschen Universitäten als sogenannte „Staatswissenschaft". Ihre Integration in den juristischen Fakultäten weist auf eine Tradition, die nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung als Ausdruck staatlichen Handelns begriff, sondern auch die Legitimation der gesellschaftlichen Diskurse von dieser Staatlichkeit der gesellschaftlichen Organisation abhängig machte. So war im 19. Jahrhundert die sogenannte Historische Schule der Nationalökonomie entstanden, die in Opposition zur angelsächsischen klassischen Politischen Ökonomie nachzuweisen suchte, daß keine universalen ökonomischen Gesetze existierten, sondern nationale Besonderheiten den Wirtschaftsablauf bestimmten. Die Historische Schule war das intellektuelle Komplement 4

Zu einer detaillierten Studie über Leben und Werk von Heinrich von Stackelberg vgl. Möller (1992).

xv

Einleitung der merkantilistischen Staatswirtschaft im preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat, dem von ihr, zumal nach Beginn der Industriellen Revolution, die Aufgabe zugewiesen wurde, die Entwicklungsdynamik der modernen Wirtschaftsgesellschaft 'von oben' zu regulieren. Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung, konzipiert von beamteten Universitätslehrern, den sogenannten 'Kathedersozialisten', mag dafür als Beispiel genommen werden. In dieses konservative Milieu hatten zum Beispiel Juden nur selten Eingang gefunden; von den Repräsentanten der Historischen Schule in der Weimarer Republik wurden daher nur wenige entlassen - im Gegenteil, unter dem Nationalsozialismus mit seiner völkischen Autarkiewirtschaft erlebte diese Richtung noch einmal eine kurze Renaissance. Die beiden Knapp-Schüler Franz Gutmann und Kurt Singer sowie Georg Brodnitz und Rudolf Kauila waren die einzigen Entlassenen aus diesem Kreis. Von ihnen blieb der Hallenser Wirtschaftshistoriker Brodnitz im Lande - er kam später im Holocaust um -, während die anderen als isolierte Einzelgänger emigrierten; so Gutmann mit 60 Jahren erst kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 in die USA und Singer, der seit 1931 eine Gastprofessur in Japan hatte, nach dem 'Antikomintern-Pakt' zwischen Berlin und Tokio nach Australien. Als Wirtschaftswissenschaftler sind sie nicht mehr in Erscheinung getreten. Gleiches gilt für Kaulla, der schon nach Ende des Ersten Weltkrieges sein Extraordinariat aufgegeben hatte und Teilhaber einer Frankfurter Privatbank geworden war; er emigrierte in die Schweiz und lebte dort als Privatier. Durch den überragenden Einfluß der Historischen Schule hatte sich eine zweite Richtung des ökonomischen Denkens in Deutschland nie nennenswert entfalten können. Die neoklassische Markttheorie hatte sich deshalb seit Ende des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum lediglich an der Peripherie, vor allem in Österreich, ausbreiten können. Die Gründe für die Konzentration der Neoklassiker in Österreich sind darüber hinaus womöglich in der gesellschaftspolitischen Rückständigkeit Österreichs zu suchen. Noch Ende des 19. Jahrhunderts hatte die k.u.k. Monarchie industriell zu den Entwicklungsländern gehört. Das liberale neoklassische Modell hatte so auch die Funktion eines sozialen Appells an das Bürgertum, die eigenen Kräfte zu aktivieren und sich ökonomisch als Klasse gegen den mächtigen Militär- und Beamtenstaat durchzusetzen. Im Unterschied ebenfalls zur angelsächsischen Klassik, die mit ihren produktions- oder angebotsorientierten Analyseansätzen, etwa in der Preistheorie (Arbeitswertlehre), noch einen frühen Entwicklungsstand der industriellen Marktgesellschaft mit beschränktem Warenangebot und stabiler Nachfragestruktur widerspiegelte, hatte die neoklassische Revolution eine neue Sicht auf die wirtschaftlichen Zusammenhänge eröffnet. Sie argumentierte von der Nachfrageseite her; die von ihr mit dem Schlüsselwort des „Grenznutzens" formulierte subjektive Wertlehre definierte die Preisbildung nicht mehr nach den objektiven Arbeitsquanten der Güterproduktion, sondern nach den individuellen Präferenzen der Käufer. Diese methodologische Innovation zur Analyse der modernen Industriegesellschaft mit ihren immer unübersichtlicheren Märkten war seit den 1870er Jahren in Westeuropa und den USA zum beherrschenden wirtschaftstheoretischen Paradigma geworden, wohingegen ihre österreichischen Vertreter im deutschsprachigen Raum Außenseiter blieben. Die Marginalisierung in der eigenen Wissenschaftsgemeinschaft und die Behauptung gegen den Obrigkeitsstaat erklärt nicht allein die spezifische Dogmatik der deutschsprachigen Neoklassiker, die sich in den zwanziger Jahren weiter verfestigte, als auch noch die Sozialdemokratie bzw. die sozialistische Theorie öffentlich wirksam wurde, sondern auch die auffallende Tatsache, daß viele ihrer führenden Repräsentanten - etwa Ludwig von Mises, Herbert Fürth, Gottfried Haberler, Friedrich A. Hayek, Fritz Machlup, Ilse Mintz - teilweise xvi

Einleitung schon vor dem 'Anschluß' Österreichs 1938 emigrierten, einige nach Großbritannien, die Mehrheit aber in die USA. Nach dem Ersten Weltkrieg mit seinen sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen in einem bis dahin unbekannten Ausmaß begann sich das überkommene relativ statische Denken zu differenzieren. Die zwanziger Jahre wurden weltweit zur Professionalisierungs- und Differenzierungsphase in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Wohl dominierten in Deutschland unter den älteren Wissenschaftlern auch weiterhin die alten ordnungstheoretischen Lagermentalitäten jener beiden Richtungen, die sich im 'Methodenstreit' seit den 1880er Jahren nur scheinbar verständigt hatten. Als Reaktion auf die administrativen Regulierungen des sogenannten 'Kriegssozialismus' während des Ersten Weltkrieges bekannten sich jetzt auch einige jüngere Ökonomen an deutschen Universitäten zu neoklassischen Analyseansätzen, so u.a. Wilhelm Röpke in Marburg oder Walter Eucken mit seinem schulebildenden Einfluß in Freiburg. Doch angesichts der anstehenden Aufgaben bei der Lösung der wirtschaftlichen Dauerprobleme, die nach 1929 in der Weltwirtschaftskrise ihre das politische System in Deutschland und Österreich sprengenden Zuspitzungen fanden, wurden jene Ordnungstheorien zunehmend obsolet. Der Erste Weltkrieg stellte so auch für die Wirtschaftswissenschaften eine Zäsur dar. Die Kriegswirtschaft, die anschließende große Inflation und die mit den Reparationszahlungen verbundene Transferproblematik bildeten neue Herausforderungen, die theoretisch gut fundierte Problemlösungen erforderten. Jüngere Wissenschaftler wandten sich nunmehr den realwirtschaftlichen Abläufen zu, erschlossen dabei neue Forschungsfelder, neue theoretische Einsichten und methodische Instrumentarien und suchten gleichzeitig nach pragmatischen wirtschaftspolitischen Handlungsstrategien. Dabei profilierte sich eine dritte Richtung junger Hochschulabsolventen, denen die Reichsverwaltung mit ihren Demobilmachungsbehörden nach dem Ersten Weltkrieg die ersten Berufschancen geboten hatte. Dort erlebten sie hautnah die makroökonomischen Probleme beim Aufbau der Friedenswirtschaft, die fortan die wissenschaftliche Arbeit auch derjenigen prägten, die in den zwanziger Jahren universitäre Positionen übernahmen. Die bahnbrechenden Leistungen dieser Gruppe sollten sowohl in der Erforschung des industriellen Wachstums und seiner Instabilitäten wie auch in der Formulierung wirtschaftspolitischer Konzepte zur Steuerung dieser Instabilitäten bestehen. Ihre gesamtwirtschaftlichen Planungsanalysen suchten die lenkenden staatswirtschaftlichen Traditionen in Deutschland und die dezentralen markttheoretischen Ansätze der Neoklassiker mit den normativen Grundlagen der klassischen Politischen Ökonomie zu verbinden, die in aufklärerischer Absicht auch eine allgemeine Gesellschaftstheorie entworfen hatte. Insbesondere knüpften sie an die Analysen des Maschinerieproblems von David Ricardo und über die Akkumulationsprobleme und das technisch induzierte disproportionale Wachstum des modernen Industriekapitalismus von Karl Marx an, also Themen, die angesichts der hektischen Rationalisierungswellen der zwanziger Jahre und der folgenden Dauerarbeitslosigkeit brennende Aktualität gewannen. Sie lieferten damit aus heutiger Rückschau nicht allein die originellsten Beiträge zu dem in den zwanziger Jahren weltweit diskutierten neuen Forschungsfeld der Konjunkturtheorie. Ihre Analysen zum 'technischen Fortschritt' hoben die strukturellen Probleme der industriellen Entwicklung erneut in das Bewußtsein, die in der neoklassischen Euphorie über die Selbstregulierungskraft der Märkte aus dem Blickfeld geraten waren. Daher werden diese Gelehrten heute auch als Neu-Klassiker bezeichnet (vgl. Kalmbach/Kurz 1983). Sie kamen insbesondere aus dem kleinen intellektuellen Milieu, häufig jüdischer Herkunft, dem die neue Republik zum ersten Mal den Zugang zu öffentlichen Ämtern ermöglicht hatte. Auf originelle Weise verstanden es diese Ökonomen, innovative Forschungsansätze und politisches Engagement für die erste deutsche Demokratie zu verbinden. Das zeigte sich xvii

Einleitung ebenso nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, als sie - singular in der deutschen Wissenschaft und unabhängig von dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes - verschiedene Modelle 'aktiver Konjunkturpolitik' zum Abbau der Arbeitslosigkeit entwickelten. Als demokratische Sozialisten und wegen ihrer mehrheitlich jüdischen Herkunft gehörten die NeuKlassiker zu den ersten, die von den Nationalsozialisten vertrieben wurden. Waren die Jahre der Weimarer Republik noch durch die Auseinandersetzungen zwischen Neu-Klassikem und Neoklassikem geprägt (vgl. Kurz 1989), in denen die Vertreter der Historischen Schule eher an den Rand gedrängt wurden, so weisen Studien über die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im Nationalsozialismus aus, daß das Jahr 1933 eine bedeutsame Wasserscheide darstellt. Von der Vertreibung von Wirtschaftswissenschaftlern aus Deutschland und Österreich durch die Nationalsozialisten wurde die Neu-Klassik, aber auch die Neoklassik, wie z.B. die österreichische Grenznutzenschule, sehr viel stärker betroffen als der Historismus und die Romantik, von denen einige fuhrende Vertreter anfangs mit dem Nationalsozialismus sympathisierten, bevor auch bei ihnen vielfach eine Desillusionierung einsetzte. „So markierte das Jahr 1933 vor allem den Bruch mit der klassischen Tradition der deutschen Nationalökonomie, während der Historismus vergleichsweise Rückenwind erhielt. Der inszenierte Versuch aber, die nationalsozialistische Wirtschaftslehre als den legitimen Erben von Historismus und Romantik, den angeblich typisch deutschen Traditionen in der Volkswirtschaftslehre, auszugeben, blieb eine fadenscheinige Geschichtsklitterung und mußte in der Praxis scheitern. Die Entwicklung nach 1933 war keine logische Fortsetzung eines deutschen Sonderweges in der Volkswirtschaftslehre." (Janssen 1998, S. 507)

IV. Auswirkungen der Emigration auf deutschsprachige Universitäten Vergleicht man die Vertreibungen der Ökonomen von den Hochschulen, so springen sogleich auffallende Unterschiede ins Auge. Am höchsten war die Entlassungsquote an den drei Universitäten Frankfurt, Heidelberg und Kiel, den Zentren der jungen neuklassischen Forschung in den zwanziger Jahren. Während bis zum Wintersemester 1934/35 im Durchschnitt etwa 14 Prozent des Lehrkörpers an den deutschen Hochschulen aus politischen oder 'rassischen' Gründen entlassen worden waren, betrug die Quote bei den Ökonomen 24 Prozent, an jenen Universitäten aber fast 50 Prozent oder mehr: Tabelle 2: Von deutschen Universitäten entlassene und emigrierte Wirtschaftswissenschaftler Universität Frankfurt/M. Heidelberg Kiel

Lehrkörper WS 1932/33 33 11 10

Entlassungen nach 1933 13 7 5

in Prozent 40 63 50

davon Emigration 9 5 2

Diese Zahlen kontrastieren auffallend mit denen anderer Universitäten, zum Beispiel: Berlin Freiburg Hamburg München Tübingen

21 11 12 13 10

5 1 4

24 9 33

4 3

Einleitung In dieser Übersicht fällt auf, daß die Universität Frankfurt mit Abstand den größten Lehrkörper im Bereich der Wirtschaftswissenschaften hatte. Als Gründung jüdischer Kaufleute kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges sollte sie nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Antisemitismus vor allem der Erforschung der modernen Gesellschaftswissenschaften dienen. Allerdings begann sie mit dem Lehrbetrieb erst 1919, als die strukturellen Folgeprobleme des Ersten Weltkrieges den modernen Sozialwissenschaften ein grenzenloses Betätigungsfeld eröffneten. In Kiel wiederum hatte der Leiter des Instituts für Weltwirtschaft, Bernhard Harms, in den zwanziger Jahren mit Adolf Löwe, Gerhard Colm, Hans Neisser, später noch Fritz Burchardt und Alfred Kahler, gerade diejenigen jüngeren Wissenschaftler gewonnen, die ihre praktischen Erfahrungen in der Reichsverwaltung nach 1918 gesammelt hatten. Heidelberg war zweifellos in den Jahren der Weimarer Republik auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ein Zentrum intellektuellen Diskurses. Dabei spielte das im Mai 1924 gegründete und bis 1933 von Alfred Weber geleitete Institut für Sozial- und Staatswissenschaften (InSoSta), das in seinen Ursprüngen bis weit in das 19. Jahrhundert zurückreicht (vgl. Blomert/Eßlinger/Giovannini 1997) eine entscheidende Rolle. Charakteristisch für Heidelberg war die Multidisziplinarität, die enge Verbindung der Nationalökonomie mit den philosophischen Fächern und insbesondere mit der Soziologie. Dies kam auch in zahlreichen Habilitationen, wie z.B. denen von Edgar Salin oder Karl Mannheim, zum Ausdruck. Andererseits konnten im bemerkenswert wissenschaftlich wie politisch liberalen Klima in Heidelberg auch andere Positionen gedeihen. So stehen z.B. Walter Waffenschmidt und Jacob Marschak als herausragende Vertreter der modernen mathematisch orientierten Wirtschaftstheorie. Bei Marschak, der 1930 bei Emil Lederer mit einer Arbeit über die Elastizität der Nachfrage habilitierte und 1977 als President Elect der American Economic Association in Los Angeles verstarb, studierte beispielsweise der junge Richard A. Musgrave 1932/33. Die dominierende Figur in Heidelberg war in der Weimarer Zeit neben Alfred Weber jedoch Emil Lederer, der in seiner Person die Synthese zwischen der Soziologie (er verfaßte bedeutende Arbeiten Uber die moderne Angestelltenfrage) und der modernen Wirtschaftstheorie verkörperte. Lederer selbst war in der theoretischen Tradition der Österreichischen Schule der Nationalökonomie großgeworden und seit den Studententagen mit dem nur ein halbes Jahr jüngeren Schumpeter befreundet gewesen, neben dem er im Seminar von BöhmBawerk an der Wiener Universität gesessen hatte. In welchem Ausmaß die nationalsozialistische Gleichschaltung auf die republikanischen Wissenschaftszentren zielte, mag die Tatsache illustrieren, daß Kiel von dem neuen Reichserziehungsministerium als sogenannte 'Stoßtrupp-Universität' an der Grenze des Reiches ausersehen war und der Universität Frankfurt mit Ernst Krieck ein universitätsfremder, stramm nationalsozialistischer Parteigänger als Rektor verordnet wurde, der sich sogleich mit den Worten einführte: „Nicht objektive Wissenschaft, sondern heroische, kämpferische, soldatische und militante Wissenschaft zu lehren, ist das Ziel unserer Universitäten" (Das neue Tagebuch, Nr. 3/29.7.33, S. 121). Im Falle Heidelbergs taktierte das Ministerium allerdings mit Rücksicht auf das internationale Ansehen dieser Traditionsuniversität zunächst scheinbar noch zurückhaltender. Lederer war bereits zum Wintersemester 1931/32 als Nachfolger von Heinrich Herkner an die Berliner Universität gewechselt. Alfred Webers Emeritierung stand kurz bevor. Damit wurde eine Neubesetzung der beiden zentralen Heidelberger Ordinariate erforderlich. Der Einschnitt, der dann tatsächlich 1933 stattfand, fiel in Heidelberg jedoch weit gravierender aus als etwa an den anderen südwestdeutschen Universitäten Freiburg oder Tübingen. Die hohe Entlassungsquote in Heidelberg führte zu einem Umbruch in der nationalökonomixix

Einleitung sehen Forschungs- und Lehrtradition sowie einem nahezu völligen Verfall akademischer Sitten. Die unter Einschluß von Mitgliedern der aufgelösten Handelshochschule Mannheim neu gebildete staats- und wirtschaftswissenschaftliche Fakultät war den Einflüssen nationalsozialistischer Politik wesentlich stärker ausgesetzt als die konservativen, aber nunmehr stabileren Fakultäten in Freiburg und im württembergischen Tübingen. Insbesondere die Freiburger Fakultät, die innerhalb des Landes Baden derselben ministeriellen Aufsicht und Überwachung unterlag, konnte in den kritischen Jahren in formaler wie inhaltlicher Hinsicht weitgehend ihre Unabhängigkeit wahren. Auf der anderen Seite personifizierte der Betriebswirt Thoms (zugleich Leiter des neugegründeten 'Instituts für Großraumforschung'), der von 1933 bis 1945 als Dekan in Heidelberg amtierte, das Führerprinzip. Unter zahlreichen Beispielen politischer Willfährigkeit ragt das 1936 stattgefundene Habilitationsverfahren von Franz Adolf Six, der bereits seit 1935 dem SD und dem Reichssicherheitshauptamt angehörte und 1939 zum Dekan der in Berlin neugegründeten Auslandswissenschaftlichen Hochschule ernannt wurde, besonders negativ heraus (vgl. Brintzinger 1996, S. 210-213). Brintzingers differenzierte Studie verdeutlicht auch, daß die Verteidigung wissenschaftlicher Standards und hochschulpolitischer Autonomie gegenüber nationalsozialistischer Politik keine reine Frage von Partei(nicht)mitgliedschaft war. Auffällig ist die hohe Zahl Heidelberger Habilitanden in der Nazizeit, deren 'wissenschaftliche' Karriere bis auf eine Ausnahme 1945 endete. Im Gegensatz zu den Vertreibungszentren Frankfurt, Kiel und Heidelberg zeigt das Bild der anderen zum Vergleich angeführten Universitäten mit ihren weitaus geringeren Entlassungen, wie sehr das aus dem Kaiserreich überkommene Milieu der akademischen Mandarine in den Jahren der Weimarer Republik intakt geblieben war. Die Universitäten München und Tübingen beispielsweise hatten Berufungen von Juden auch nach 1918 zu verhindern gewußt, und politisch mißliebige Gelehrte - der zweite Entlasssungsgrund nach dem 'Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' - waren dort ohnehin undenkbar. Neben München und Tübingen hat es zwei weitere Universitäten gegeben, an denen niemand entlassen wurde (Bonn und Rostock); an 6 Universitäten ist wie in Freiburg jeweils einer entlassen worden (Breslau, Göttingen, Jena, Königsberg, Marburg, Würzburg); an der Universität Leipzig wurden 2 entlassen und in Halle sowie Münster jeweils 3. Von der einen Entlassung in Freiburg beispielsweise war Robert Liefmann betroffen, ein Außenseiter der Wissenschaft wie der Universität, der nur Honorarprofessor gewesen ist. Als deutschnationaler Protestant jüdischer Herkunft emigrierte er nicht; 1940 wurde er bei der brutalen Blitzaktion zur Vertreibung der badischen Juden in das französische Lager Gurs transportiert, wo er wenige Wochen später elend umkam. Allerdings zeigen sich am Beispiel der südwestdeutschen Fakultäten auch das unterschiedliche Ausmaß von Anpassung oder Widerstand während des NS-Staates sowie personelle (Dis-)Kontinuitäten 1933 bzw. 1945. So kam es zwar in Tübingen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung zu keinen Entlassungen, allerdings in den Jahren des NS-Regimes auch zu keinen Habilitationen. Während der bei Walter Eucken 1925 in Tübingen promovierte und 1932 in Freiburg habilitierte Friedrich A. Lutz seit 1938 eine Hochschulkarriere in den USA machte (wo die Universität Princeton ihn 1947 zum Professor of Economics ernannte), verzögerte sich die Karriere des in Deutschland gebliebenen Hans Peter, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ordinarius an der Universität Tübingen ernannt wurde. Peter spielte zusammen mit dem 1930 zunächst in Privatwirtschaftslehre habilitierten Erich Preiser eine besonders aktive Rolle bei der Ablösung der in Tübingen (personifiziert z.B. durch Carl Fuchs) bis Ende der zwanziger Jahre dominierenden Historischen Schule durch die moderne Wirtschaftstheorie. XX

Einleitung In Freiburg, wo lange Zeit die Vertreter der Historischen Schule vorgeherrscht hatten, ja sogar mehr ökonomische Außenseiter als in Tübingen oder Heidelberg lehrten, die sich der Verkündigung „autochthoner Botschaften" (Schumpeter) verschrieben hatten, setzte 1926 eine bedeutende Trendwende ein. Die Berufungen von Walter Eucken und Adolf Lampe führten nicht nur zu einer wesentlich stärkeren Akzentuierung der Wirtschaftstheorie, sondern auch zu einer Rekonstruktion des liberalen Paradigmas, zum langfristigen Beginn einer 'Freiburger Schule', die sich bemerkenswerterweise, entgegengesetzt zur politischen Entwicklung, gerade in jenen Jahren herausbildete, in denen der Liberalismus in Deutschland eine vernichtende politische Niederlage erlitt. Die stärkere Orientierung hin zur liberalen Wirtschaftstheorie drückte sich auch in den Habilitationen, etwa jenen von Friedrich Lutz, Bernhard Pfister oder der Habilitationsschrift von Leonhard Miksch Wettbewerb als Aufgabe (1937) aus. Bezüglich der Privatwirtschaftslehre ist bemerkenswert, daß Freiburg als erste deutsche Universität ein betriebswirtschaftliches Ordinariat errichtete (und 1920 mit Emst Walb besetzte) und darüber hinaus mit Moritz Weyermann und Hans Schönitz bereits vor dem Ersten Weltkrieg über zwei Pioniere in dieser neu aufkommenden Fachdisziplin verfügte. Andererseits spielte die Betriebswirtschaftslehre in Heidelberg bis zur teilweisen Eingliederung der Handelshochschule Mannheim in die neu gegründete Staats- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät (in das auch das InSoSta überführt wurde) im Jahre 1934 überhaupt keine Rolle. Die betriebswirtschaftlichen Lehrstühle wurden nach 194S (auch wegen des politischen Fehlverhaltens einiger Dozenten) unter dem Einfluß Alfred Webers als „Fremdkörper" empfunden und nach Mannheim zurückverlagert. Dabei spielte auch die unterschiedliche institutionelle Organisation eine entscheidende Rolle. In Heidelberg gehörte die Nationalökonomie bis 1933 und nach 1945 zur Philosophischen Fakultät. Anders als in Freiburg und Tübingen war eine Vereinigung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in einer Fakultät nie emsthaft angestrebt worden. Eine pragmatische Ausrichtung der Lehre im Hinblick auf spätere Berufstätigkeiten galt eher als unwissenschaftlich, die Kenntnis klassischer Sprachen dagegen noch Anfang der fünfziger Jahre als zwingend geboten fur einen angehenden Ökonomen. Bemerkenswert ist schließlich die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, nach eigenem Selbstverständnis die Spitze der reichsdeutschen Wissenschaften. Nimmt man die Entlassungsquote als Indikator kreativer neuer Forschungsansätze während der zwanziger Jahre, so kann die Spitzenstellung in den Wirtschaftswissenschaften nicht überwältigend gewesen sein. Schaut man genauer hin, wird jene Selbstetikettierung für diese Disziplin noch haltloser: von den 5 Entlassenen waren 2 Ordinarien (Emil Lederer und Ignaz Jastrow) und 3 Honorar- bzw. nichtbeamtete außerordentliche Professoren (Julius Hirsch, Charlotte Leubuscher, Alfred Manes). Die beiden Ordinarien kann man eigentlich kaum zum Bestand dieser Statusgruppe von insgesamt 7 Personen rechnen, denn Lederer war erst zum Wintersemester 1931/32 gegen den Widerstand der Fakultät vom Preußischen Kultusministerium nach Berlin berufen worden und Jastrow zum Zeitpunkt der Entlassung mit 79 Jahren längst Emeritus. Bis auf ihn sollten alle Entlassenen emigrieren. Schaut man sich den Altersaufbau der Ordinariengruppe an, so war Lederer mit 51 Jahren krasser Außenseiter. Abgesehen von einem weiteren Endfünfziger (Ludwig Bernhard) waren alle anderen älter als 65 Jahre. Wie an kaum einer anderen Hochschule repräsentierten die wirtschaftswissenschaftlichen Ordinarien der Berliner Universität nach dem Tode von Ladislaus von Bortkiewicz (1868-1931) wenig mehr als eine Welt von gestern, in der abgeschüttet vor neuen Einflüssen die Traditionen der Historischen Schule gepflegt wurden. Im 'völkischen Aufbruch' des Nationalsozialismus erhofften sie sich noch einmal einen intellektuellen Ansehensgewinn, wie etwa die xxi

Einleitung servilen Anbiederungspublikationen Deutscher Sozialismus von Werner Sombart und Friedrich von Gottl-Ottlilienfelds Zeitfragen der Wirtschaft. Über Bolschewismus, Autarkie und deutschen Sozialismus aus den Jahren 1933 bzw. 1934 dokumentieren. Die Bedeutung der Universitäten Frankfurt, Heidelberg und Kiel als emigrationssignifikante Hochschulzentren in den Gesellschaftswissenschaften wird unterstrichen von der weiteren Zahl emigrierter Wirtschaftswissenschaftler, also nicht allein der aus dem Hochschulbereich Vertriebenen. Mit Abstand haben in den zwanziger Jahren in Frankfurt und in Heidelberg mehr Ökonomen, die später Deutschland verlassen mußten, promoviert als an anderen Universitäten. Diese Promotionsfrequenzen bestätigen einmal mehr das reservierte Verhältnis zahlreicher Universitäten zum studierenden jüdischen und republikanischen Nachwuchs nach 1918. Darüber hinaus war Frankfurt vor 1933 durch die von dem Bankier Eugen Altschul gegründete private Gesellschaft fur Konjunkturforschung sowie den Redaktionsstab der von der Frankfurter Zeitung herausgegebenen Wirtschaftskurve ein zentraler Standort der modernen empirischen Wirtschaftsforschung gewesen, der zahlreichen jüngeren Ökonomen Beschäftigung geboten hatte (vgl. Kulla 1996). In auffallendem Kontrast dazu zeigen sich die Verhältnisse in Österreich. Augenscheinlich monopolisierte dort die Universität Wien die akademische Ausbildung. Den insgesamt 50 Emigranten, die in Wien promoviert hatten, stand lediglich einer gegenüber, der an einer anderen österreichischen Universität (Innsbruck) das Doktor-Examen abgelegt hatte. Bemerkenswert ist weiterhin, daß von der Gesamtzahl der Promotionen in Wien allein 37 in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fielen. Tabelle 3: Promotionsorte der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler Universität vor 1918 Berlin, Universität 7 Berlin, HH, LH Bonn 1 Breslau 2 Erlangen 1 Frankfurt 1 Freiburg 6 Glessen Göttingen 3 Hamburg 3 Heidelberg Jena Kiel 2 Köln Leipzig 3 Marburg 1 7 München Tübingen Würzburg 2 Wien 13 Innsbruck Prag 3 andere 7 in der Emigration promoviert nicht oder nach 1945 promoviert 62 xxii

1918-1933/38 13 6 3 4 1 15 6 1 2 2 15 3 7 4 -

1 4 3 2 37 1 3 3 16 7 159 = 221

Einleitung Die Zahl der entlassenen Wissenschaftler ist von der der Emigranten zu unterscheiden. Im Durchschnitt sind etwa 60 Prozent der entlassenen deutschen Universitätslehrer emigriert. Die hohe Emigrationsrate der Ökonomen von 87 Prozent (vgl. Tab. 1) ist mit auf die Herkunft jüngerer Wissenschaftler aus den intermediären Forschungseinrichtungen, insbesondere im Umfeld der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, zurückzuführen. Die Entscheidung zur Emigration hing auch in anderen Tätigkeitsfeldern wesentlich vom Alter der Betroffenen ab. Nicht erstaunlich ist, daß die größte Gruppe der Emigranten zwischen 24 und 33 Jahre alt war, sich also in einem Alter befand, in welchem die größte intellektuelle Mobilität und Flexibilität vermutet werden kann. Aus dieser Alterskohorte emigrierten fast alle, während sich bei den mehr als Fünfzigjährigen weniger als 60 Prozent zu diesem Schritt entschlossen haben. Tabelle 4: Altersstruktur der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler Geburtsjahr vor 1880 1880-1889 1890-1899 1900-1909 1910-1912/14

Gesamtzahl 29 58 49 91 26 253

nicht emigriert 13 10 6 3 0 32

emigriert 16 48 43 88 26 221

in Prozent 55 83 88 97 100 87

Bei solcher Altersstruktur der während der Weltwirtschaftskrise auf den Arbeitsmarkt der Zufluchtsländer drängenden emigrierten Ökonomen, die in anderen Disziplinen ähnlich aussah, wird verständlich, daß die spontan gebildeten, schnell wirksam arbeitenden Hilfskomitees für Wissenschaftler, wie auch die finanzstarke Rockefeller Foundation und andere amerikanische Stiftungen ein Engagement für die jüngere Generation ablehnten, um einheimischen Kollegen nicht die Berufsperspektiven zu nehmen. Gefördert wurden in der Regel nur hervorragende Wissenschaftler aus der mittleren Altersgruppe zwischen 30 und 50 Jahren (Duggan/Drury 1948, S. 186 ff.). Die Bedeutung der Altersvariable wird besonders von der kleinen Gruppe der Wirtschaftswissenschaftlerinnen illustriert. Von den 253 Entlassenen waren 17 weiblich, zu denen noch 2 kommen, die ihr Studium gerade abgeschlossen hatten; 5 weitere Vertreterinnen von den 75 Personen der zweiten Generation seien außerdem erwähnt. Bereits hier ist zu erkennen, daß ihr Anteil im unteren Segment der Alterspyramide anstieg. Noch deutlicher wird das innerhalb der Referenzgruppe der ersten Generation. Während von den 253 Entlassenen 87 (34 Prozent) zur Altersgruppe der mehr als Vierzigjährigen, vor 1890 Geborenen zählten, gehörten dazu nur 2 der 17 Frauen (12 Prozent). Mit zwei Ausnahmen hatten sie alle nach 1918 promoviert, was auf die Öffnung akademischer Karrieren für Frauen erst nach dem Zusammenbruch der Monarchien in Deutschland und Österreich hinweist. Von den 17 weiblichen Entlassenen, darunter 7 Hochschulangehörige (u.a. die Professorinnen Käthe BauerMengelberg, Cora Berliner, Charlotte Leubuscher, Frieda Wunderlich), 5 aus der Bürokratie oder öffentlichen Verbänden (u.a. Hertha Kraus, Käthe Leichter, Gertrud Lovasy, Ilse Mintz) und 4 aus privaten Organisationen (u.a. Martha Steffy Browne, Marie Dessauer), sind 12 emigriert. Die emigrierten Professorinnen haben ihre universitäre Karriere fortsetzen und weitere 5 überhaupt erst mit der Hochschullaufbahn beginnen können, vor allem in den USA, wo sich an den zahlreichen Mädchen-Colleges vergleichsweise günstige Berufschanxxiii

Einleitung cen für weibliches Lehrpersonal eröffneten. Nur für zwei Frauen bedeutete die Emigration den Abbruch ihrer Karriere. Andererseits hatte die Altersvariable für die hohe Sterblichkeit der 32 Nicht-Emigranten nur geringe Bedeutung; von ihnen hat nicht einmal die Hälfte die NS-Herrschaft überlebt. Allein 9 der 16 Verstorbenen sind im Holocaust umgekommen, so Georg Brodnitz, Paul Eppstein, Franz Eulenburg, Carl Grünberg, Robert Liefmann, Benedikt Schmittmann sowie mit Cora Berliner, Käthe Leichter und Cläre Tisch alle nicht emigrierten Frauen. Ferner haben Emst Griinfeld und der Österreicher Karl Schlesinger den Freitod gewählt, letzterer am Tage des 'Anschlusses' seiner Heimat an das nunmehr so genannte Großdeutsche Reich. Und auch der natürliche Tod der ehemaligen Professoren Paul Mombert kurz nach der Reichspogromnacht 1938 und Siegfried Budge 1941, dessen Frau wenig später nach Theresienstadt deportiert wurde, dürfte ursächlich mit auf die antisemitischen Exzesse des nationalsozialistischen Staates zurückzuführen sein. Der in die Niederlande emigrierte Robert Remak ist nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht ebenfalls nach Auschwitz deportiert worden.

V. Zufluchtsländer der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler Wie in den anderen Wissenschaftsdisziplinen ist die Mehrheit der Ökonomen in die Vereinigten Staaten von Amerika emigriert, entweder direkt oder nach Zwischenaufenthalten in anderen Ländern, insbesondere in Großbritannien und in lateinamerikanischen Ländern. Tabelle 5: Zufluchtsländer der Wirtschaftswissenschaftler Vereinigte Staaten von Amerika Großbritannien Schweiz, Frankreich, Niederlande Palästina Türkei Lateinamerika Australien und Neuseeland Sonstige

131 35 12

8

6 7 3 19

221 Auffallend ist, daß Frankreich sowohl bei der Emigration von Ökonomen wie auch von anderen Wissenschaftsvertretern kaum ins Gewicht fiel, während das Land andererseits Hauptziel der vertriebenen Schriftsteller und Künstler wurde. Die Sowjetunion war ebenfalls kein nennenswertes Asylland, nicht einmal für Kommunisten oder deren Sympathisanten. Lediglich Fred Oelßner, der erst nach seiner Rückkehr 1945 in die Sowjetische Besatzungszone als Ökonom in Erscheinung treten sollte, floh längerfristig dorthin, während der in Rußland geborene Paul Baran und Alfons Goldschmidt nach kurzem Aufenthalt über andere europäische Länder in die USA bzw. Mexiko weiterwanderten. Jürgen Kuczynski und Alfred Meusel hatten es gleich vorgezogen, nach Großbritannien und Dänemark zu gehen. Die überragende Bedeutung der USA als Aufnahmeland der 'Refugee Scholars' läßt sich auch an der allgemeinen Wanderungsbewegung der Emigranten ablesen. Das annähernde Gleichgewicht zwischen denen, die die USA als erstes Zufluchtsland wählten und denen, die erst auf Umwegen dorthin kamen, mag mit einen Hinweis darauf geben, wie sehr die Flucht von Ökonomen in ein europäisches Land als Sackgasse für die Karriere angesehen werden XXIV

Einleitung kann. Das Arbeitsrecht oder die Geschlossenheit des akademischen Systems dort verhinderten häufig die dauerhafte Integration von Wissenschaftlern. Tabelle 6: Mobilitätsverlauf Emigranten mit 1 Zufluchtsland mit 2 Zufluchtsländern mit 3 mit 4 und mehr"

118 72 21

10 221

Für Großbritannien allerdings ist das Bild zu modifizieren. Zwar bestand auch dort ein generelles Arbeitsverbot für Emigranten, die solidarische Selbstbesteuerung der britischen 'community of science' zur Finanzierung zusätzlicher Jobs fur die deutschen Kollegen, aus der wie angedeutet - der Academic Assistance Council hervorging, zeigt aber, wie Ausnahmen durch das Engagement von Einheimischen durchgesetzt werden konnten. So konnte der größte Teil der Wissenschaftler seine Arbeiten fortsetzen, zuweilen geschah das aber auch in Nachbardisziplinen. Fraglich ist, ob man darin einen Karriereknick sehen muß oder ob die Emigranten in solchen Fällen zu neuen Lernprozessen, zur Veränderung eingefahrener Denkschemata gezwungen wurden. Von einigen erfolgreichen Betroffenen ist dieser „ubiquitäre Zwang" schon bald als großer intellektueller Zugewinn verklärt worden (Speier 1937, S. 316 ff.). Vor solchem Hintergrund und angesichts der weltweiten Arbeitsmarktprobleme ist nicht ganz unbedeutend für die akademischen Chancen der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler gewesen, wie die ursprüngliche Ausbildung in Deutschland ausgesehen hatte. Da den jüngeren Wissenschaftlern nur in Ausnahmefällen von den Komitees geholfen wurde, war die Breite der Kompetenz ausschlaggebend für den späteren Erfolg in der Emigration. Herausragend ist auch hier wieder die Universität Heidelberg, an der augenscheinlich eine solche Ausbildung angeboten wurde. Exemplarisch genannt seien nur die beiden Schüler Lederers, Nathan Leites und Svend Riemer. Sie hatten bei ihm über monetäre Probleme sowie über die Dynamik des Konjunkturverlaufs promoviert, damals zentrale Fragen der wissenschaftlichen Diskussion. Nach Zwischenaufenthalten in einem bzw. in zwei europäischen Ländern sollten beide in den USA bedeutende Gelehrte werden: der eine als Politikwissenschaftler, der andere als Soziologe. Für ähnliche Karrierewechsel stehen auch die späteren Politikwissenschaftler Ferdinand A. Hermens und Henry Pachter, während andererseits der Jurist Peter Drucker in der Emigration zum Management-Wissenschaftler wurde. Die disziplinüberschreitende fachliche Qualifikation einiger deutscher Ökonomen wird auch von der Gruppe aus der höheren Bürokratie des Reiches und Preußens unterstrichen, die ihre akademische Karriere nach der Flucht begonnen haben. Dazu zählt zum Beispiel der Staatssekretär aus dem Reichswirtschaftsministerium Julius Hirsch, der 1933 eine Professur für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Kopenhagen erhielt und nach 1941 an der New School for Social Research in New York lehrte. Dort war auch Hans Staudinger, der ehemalige Staatssekretär im preußischen Handelsministerium, untergekommen, während Otto Nathan aus dem Reichsfinanzministerium in Princeton lehrte und Hertha Kraus aus der Wohlfahrtsverwaltung der Stadt Köln eine Professur am Bryn Mawr College bei Philadelphia übernahm. XXV

Einleitung Als ehemalige Verwaltungsbeamte allein hätten sie kaum universitäre Rufe und damit die etwa für die USA so begehrten Non-Quotavisen erhalten. Durchweg alle hatten jedoch nebenbei als Dozenten an Handelshochschulen, sozialpädogogischen Fachschulen oder an der 1919 gegründeten Hochschule für Politik in Berlin, der für die Kultur der Weimarer Republik so wichtigen Einrichtung zur politischen Erziehung für die Demokratie, gearbeitet. Diese Kombination von Theorie und beruflicher Praxis war es dann auch, welche die kleine Funktionselite aus der Weimarer Republik gerade im New Deal-Amerika, einige aber auch in der Türkei, attraktiv machte.

VI. Beiträge der Emigranten zur internationalen Entwicklung ihrer Fachgebiete Nach der quantitativen Übersicht mögen einige qualitative Aspekte den Emigrationstransfer und die Integrationsbedingungen der Ökonomen in den Zufluchtsländern illustrieren. Trotz des Schicksalsschlags, den die Vertreibung mit all ihren Ungewißheiten im Einzelfall bedeutete, ist rückblickend festzustellen, daß die große Mehrheit der geflohenen Wirtschaftswissenschaftler ihre Karriere in der Emigration, vor allem in den USA, nicht nur relativ geräuschlos fortsetzen konnte, für viele brachte die Vertreibung sogar einen bemerkenswerten Karrieresprung. Sie haben sich daher recht bald nicht mehr als Exilanten, sondern als Emigranten begriffen. Die Startbedingungen dafür waren außerordentlich günstig. Erstens hatten die weltweit ungelösten ökonomischen und sozialen Folgen des Ersten Weltkrieges die Intemationalisierung der Sozialwissenschaften eingeleitet; schon in den zwanziger Jahren begann ein intensiver grenzüberschreitender kollegialer Austausch in den einzelnen Disziplinen. Zweitens führte die Weltwirtschaftskrise nach 1929 in den westlichen Industrieländern zu einem Linksruck unter den Intellektuellen, da das Ausmaß der Krise und deren soziale Folgen kaum noch mit den Selbstheilungskräften des Marktes bekämpft werden konnten. Die planungsanalytischen Arbeiten der deutschen Neu-Klassiker stießen deshalb auf verbreitetes Interesse in den Zufluchtsländem. Insbesondere in den USA ließ der New Deal, das Wirtschaftsprogramm des neuen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der im Januar 1933 sein Amt angetreten hatte, die Nachfrage nach Fachleuten steigen, welche diesem, bis dahin in Amerika unvorstellbaren Experiment interventionsoptimistischer staatlicher Wirtschaftspolitik Konturen geben konnten. Drittens kam dort hinzu, daß vor dem Hintergrund des amerikanischen Isolationismus nach dem Ersten Weltkrieg ein großer Bedarf an Experten für die international ausgerichtete Forschung bestand, der mit Beginn des Zweiten Weltkriegs und dem Kriegseintritt der USA 1941 noch zunahm. Gerade die deutschen Demobilmachungsexperten aus der Zeit nach 1918 wurden in jenen Jahren zu vielfach konsultierten Ansprechpartnern für die Washingtoner Administration; einige von ihnen sollten als neue amerikanische Bürger auch in den USBesatzungsbehörden in Deutschland nach 1945 tätig werden. Genannt seien nur der ehemalige Kieler Finanzwissenschaftler Gerhard Colm und der frühere Berliner Bankier Raymond Goldsmith (Goldschmidt), die mit dem amerikanischen Bankier Joseph Dodge im April 1946 den berühmten Colm-Dodge-Goldsmith-Plan für die deutsche Währungsreform vorlegten (Hoppenstedt 1997, S. 157 ff.). Viertens leiteten die neuen wirtschaftspolitischen Anforderungen einer realistischen Krisenbekämpfung in den dreißiger Jahren einen grundlegenden Paradigmenwechsel der theoretischen Diskussion ein, der als 'keynesianische Revolution' international zu einem neuen Verständnis des Staates im Wirtschaftsprozeß führte. Durch aktive Konjunkturpolitik mit Hilfe staatlichen 'Deficit Spendings' und effektiver Nachfragesteigerung durch die öffentlixxvi

Einleitung che Hand sollte die Wirtschaft angekurbelt werden. Gerade deutschsprachige Ökonomen konnten zu dieser Diskussion bemerkenswerte analytische Beiträge wie auch wirtschaftspraktische Empfehlungen liefern. Jene günstigen Aufnahmevoraussetzungen machen deutlich, daß die Aktivitäten der Stiftungen und Hilfskomitees zur Rettung der Flüchtlinge vor allem nationalen Interessen entsprachen. Sie zeigen zudem, daß die Emigration keine Bewegung Einzelner war, sondern von Verbindungen und Empfehlungen abhing, die schon in Deutschland vorbereitet worden waren. Das gmppenbiographische Profil an den Universitäten wie auch die Zugehörigkeit zu bestimmten theoretischen Schulen, Richtungen oder institutionellen Einbindungen hatte sowohl in Deutschland als auch in Österreich bestimmte Netzwerke entstehen lassen, die zum einen den Weg in die Emigration ebneten und zum anderen mit darüber entschieden, wo der einzelne in den Zufluchtsländem piaziert wurde. Mit den österreichischen Neoklassikern und den deutschen Neu-Klassikern aus Frankfurt, Heidelberg und Kiel sind zwei der originellsten Netzwerke identifizierbar, die nicht nur fur unterschiedliche theoretische Hauptströmungen und kulturelle Milieus standen, sondern auch für jeweils spezifische Emigrationswege. Mit jeweils 15 bis 20 Personen waren die Kerngruppen etwa gleich groß, und ihre Repräsentanten gehörten auch der gleichen Altersgruppe an. Die Neoklassiker stellten darüber hinaus die stärkste geschlossene Gruppe unter den 42 österreichischen Emigranten neben der anderen relativ scharf konturierten Fraktion der sogenannten Austromarxisten (10 Personen), die etwa mit Eduard März, Hans (John) Mars und Adolf Sturmthal in der Emigration die neue Teildisziplin 'Labor Economics' vertraten. Zu anderen Netzwerken könnte man weiterhin die Mitarbeiter relativ homogener Institutionen zusammenfassen. Zu nennen wäre dafür beispielsweise das Berliner Institut für landwirtschaftliche Marktforschung. Für den Weg in die Emigration sind diese allerdings bedeutungslos. Die abnehmende Bedeutung der Agrarwissenschaften in der modernen Industriegesellschaft verhinderte eine schärfere Profiliening, die Anstöße für die aktuelle wirtschaftswissenschaftliche Diskussion geben konnte. Im Unterschied zu jenen beiden Netzwerken sind die Mitglieder des Berliner Instituts daher auch nicht als Gruppe, sondern als Einzelpersonen emigriert, hauptsächlich in die Türkei (Fritz Baade, Hans Wilbrandt) und in die USA (Karl Brandt, Naum Jasny, Hans Richter u.a.), wobei in den meisten Fällen der Wechsel in neue Forschungs- oder Tätigkeitsfelder als Voraussetzung für die erfolgreiche Akkulturation zu erkennen ist. Die deutschen Neu-Klassiker gehörten als Juden und/oder Sozialdemokraten zu den ersten, die von den Universitäten vertrieben wurden. Die Österreicher dagegen gingen in den Krisenjahren zwischen 1933 und 1938, also vor dem sogenannten 'Anschluß', mehr oder weniger freiwillig, nachdem sie zuvor solide Kontakte zumeist in die USA aufgebaut hatten. Und das hatte vielfach berufliche Gründe: In Wien hatten sie als Privatgelehrte gelebt, die bei den spärlichen Planstellen an den österreichischen Universitäten kaum jemals Aussicht auf eine akademische Karriere haben sollten. Den Lebensunterhalt verdienten sie sich als junge Unternehmer, als Rechtsanwälte oder als Referenten im Österreichischen Institut für Konjunkturforschung, einer privaten Gründung der Wiener Handelskammer. Wissenschaftlich arbeitete der Kreis in dem berühmten Privatseminar von Ludwig von Mises zusammen, dem intellektuellen Kopf der liberalen Ökonomen in den zwanziger Jahren, der ebenfalls nur nichtangestellter Honorarprofessor an der Universität Wien war und seinen Hauptberuf als Sekretär der dortigen Handelskammer hatte. An reichsdeutsche Universitäten berufen zu werden, hatten die Österreicher ebenfalls nur geringe Chancen. Zum Beispiel war Mises 1927 von einigen Wirtschaftswissenschaftlern der Universität Göttingen für einen vakanten xxvii

Einleitung Lehrstuhl vorgeschlagen worden, weil er nicht nur als Theoretiker qualifiziert war, sondern auch über große praktische Erfahrungen verfügte. Von der Fakultätsmehrheit wurde er jedoch gerade deswegen abgelehnt. Berufen wurde stattdessen ein Vertreter der Wirtschaftsstufenlehre, dem typischen Arbeitsfeld der Historischen Schule, dessen Stem erst während der NS-Zeit aufging (Becker u.a. 1987, S. 145). Das berufliche Profil der Österreicher sollte für ihre spätere Emigration zentrale Bedeutung haben. Ihrem wissenschaftlichen Ehrgeiz bot sich ab Mitte der zwanziger Jahre die Gelegenheit, für zwei Jahre mit einem Stipendium der Rockefeiler Foundation in die USA zu gehen. Deren sozialwissenschaftliches Förderungsprogramm gliederte sich nämlich in großzügige Zweijahres-Stipendien und finanzielle Zuwendungen an Institutionen. Die Stipendien wurden überwiegend von den Österreichern nachgefragt, die Institutionenförderung erhielten mehrheitlich die deutschen Neu-Klassiker. Das Weltwirtschaftsinstitut in Kiel etwa galt bei der Rockefeiler Foundation als 'Mekka' der Konjunkturforschung und wurde deshalb nicht nur mit mehreren 10.000 Dollar unterstützt, sondern jüngere Amerikaner wurden dorthin auch zu Studienaufenthalten geschickt. Zu den weiteren bedeutenden Zentren ihrer Förderung in Deutschland vor 1933 gehörten das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften in Heidelberg, wo unter anderem einige Lederer-Assistenten von ihr finanziert wurden, sowie die Hochschule für Politik in Berlin (Krohn 1987, S. 37 ff.). Mit den Stipendien konnten die Österreicher, genannt seien nur Gottfried Haberler, Fritz Machlup, Karl Menger, Oskar Morgenstern oder Gerhard Tintner, in den USA ein enges Netz von Kontakten knüpfen, das ihnen in den dreißiger Jahren, teilweise noch vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich, die Möglichkeit bot, ordentliche Rufe an eine amerikanische Universität zu bekommen. Ähnlich günstig waren 1933 aber auch die Startbedingungen für die Deutschen in eine neue Zukunft, als wenige Wochen nach der NSMachtübertragung der Direktor der New School for Social Research in New York, Alvin Johnson, die Chance sah, die aus Deutschland veijagten intellektuellen Potentiale nach Amerika zu holen und mit ihnen gleich eine ganze Universität zu gründen. Als engagierter New Dealer suchte Johnson diejenigen Gelehrten zu gewinnen, von denen er sich wichtige Anregungen in der Aufbruchstimmung des neuen Wirtschaftsprogramms erwartete. So entwickelte sich die schon im Herbst 1933 gebildete 'University in Exile', die spätere Graduate Faculty der New School, in kurzer Zeit nicht nur zum wichtigen Außenposten des New Deal 'brain trust', sondern zum einzigartigen Zentrum der aus Deutschland und seit 1940 auch aus anderen europäischen Ländern vertriebenen kritischen Sozial Wissenschaft. Bis 1945 sollten dort mehr als 170 Emigranten vorübergehend oder auf Dauer lehren. Finanziert wurde das Unternehmen vor allem von der Rockefeller Foundation, quasi als Anschlußfinanzierung ihrer im nationalsozialistischen Deutschland eingestellten Forschungsförderung. Kamen die Neu-Klassiker als engagierte New Dealer, so die österreichischen Neoklassiker als ebenso vehemente Anti-New Dealer, die vor allem an die konservativen Universitäten der Ostküste berufen wurden. Die Österreicher qualifizierte nicht nur ihre markttheoretische Orthodoxie, sondern auch ihre mehrheitlich nichtjüdische Herkunft. Denn Juden hatten in den dreißiger Jahren auch an den Universitäten der Ivy League keine Chancen. Während etwa Gottfried Haberler 1936 in Harvard oder Oskar Morgenstern 1938 in Princeton unterkamen, mußte Fritz Machlup, der Jude war, zunächst noch mit der Provinz in Buffalo vorlieb nehmen; erst 1947 sollte er an die Johns Hopkins University, 1960 dann nach Princeton gehen. Während die Deutschen im Krisenbekämpfungsprogramm des New Deal einen hoffnungsvollen Beginn neuer wirtschaftspolitischer Strategien sahen, für die sie zuvor in Deutschland vergeblich gekämpft hatten, und deshalb Roosevelt als eine ihrer Leitfiguren verehrten, reaxxviii

Einleitung gierten die liberalen Markttheoretiker genau entgegengesetzt. Sie hielten den amerikanischen Präsidenten und seinen jungen Beraterstab für Scharlatane, die zuweilen gar mit den Nationalsozialisten auf eine Stufe gestellt wurden. Der Österreicher Joseph A. Schumpeter, der schon 1932 von der Universität Bonn aus einen Ruf nach Harvard angenommen hatte und später als engagierter Vermittler seiner Landsleute auftrat, machte nach dem Wahlsieg Roosevelts keinen Hehl daraus, daß er dann auch in Deutschland hätte bleiben können (Krohn 1988, S. 402 ff.). 5 Sowohl der New Deal als auch das keynesianische Modell in Großbritannien sowie die verwandte 'Neue Wirtschaftslehre' der Vertreter der Stockholmer Schule, die in Schweden die praktische Wirtschaftspolitik beeinflußten (vgl. Steiger 1971), stellten eine Herausforderung für die neoklassische Mainstream-Ökonomie dar. Mit ihrer normativen Marktfixierung, ihrer deduktiven Wirklichkeitskonstruktion und ihrer disziplinaren Spezialisierung war sie gegenüber diesen neuen gesellschaftspolitisch synthetisierenden, interventionistischen und wirtschaftspraktisch orientierten Ansätzen argumentativ in die Defensive geraten. Das erklärt auch, warum gerade die orthodoxen Vertreter der Österreicher dort mit ihren polemischen Kampfschriften auf offene Ohren stießen. Genannt seien etwa Ludwig von Mises' Omnipotent Government. The Rise of the Total State and Total War von 1944 oder Friedrich August Hayeks vielzitiertes Werk The Road to Serfdom aus demselben Jahr. In späteren Jahren sollte Hayek, der bis 1950 an der London School of Economics lehrte, bevor er an die Universität Chicago wechselte, zu den geistigen Stichwortgebern des Thatcherismus werden. Demgegenüber bestätigten jene neuen wirtschaftspolitischen Aufbrüche für die deutschen Neu-Klassiker nur das, worüber sie seit den zwanziger Jahren nachgedacht hatten. Zu ihren bedeutenden Botschaften in der Emigration gehörten vor allem die Analyse der modernen Wachstums- und Konjunkturbewegung, die öffentliche Finanzwirtschaft, die Planungstheorie und die Sozialpolitik; die beiden letztgenannten Forschungsfelder waren in den USA und anderen Zufluchtsländern bis dahin kaum entwickelt. Damit trugen sie nicht nur zur theoretischen Fundierung des Roosevelt-Programms, sondern ebenso zur Modifikation und Ausdifferenzierung des keynesianischen Modells bei. Vor allem konnten die deutschen Ökonomen, genannt seien insbesondere Emil Lederer, Adolf Löwe (seit 1939 Adolph Lowe), Hans Neisser und Alfred Kähler an der New School for Social Research, mit ihrer Analyse des modernen Technologieproblems den vorrangig konjunkturell argumentierenden keynesianischen Ansatz um Wachstums- und strukturtheoretische Variablen erweitern. Im Bereich der modernen Finanzplanungstheorie sollten deutsche Ökonomen darüber hinaus wichtige Akzente setzen. Dafür stehen beispielsweise Gelehrte wie Gerhard Colm von der New School und der junge Richard A. Musgrave, der nach dem Diplom in Heidelberg schon in Harvard promovierte. Mit ihrer multiplen Theorie des öffentlichen Haushalts konnten sie die Finanzwissenschaft, die in der angelsächsischen Welt nur als Randbereich der Ökonomie wahrgenommen wurde, zu einer eigenen Teildisziplin ausbauen. Ihre Forschungen umfaßten zugleich das in den dreißiger Jahren neu erschlossene Forschungsgebiet der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, das die gesamtwirtschaftliche Struktur und ihre strategischen Daten zu bestimmen sucht, um daraus die geeigneten Zielkorridore für gleichmäßiges Wachstum, Vollbeschäftigung und Währungsstabilität zu ermitteln. Zu Schumpeters Ignoranz und politischer Naivität gegenüber der zeitgenössischen Politik, insbesondere am Ende seiner Bonner Zeit 1931/32, vgl. auch Allen (1991), Kap. 15. xxix

Einleitung Exemplarisch sei schließlich noch die Entwicklungsökonomie genannt, die als neue wirtschaftswissenschaftliche Teildisziplin unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden ist. Sie hat sich als eines jener Fachgebiete herauskristallisiert, für das deutschsprachige Emigranten bedeutende Impulse gegeben und dadurch die neue Forschungsrichtung entscheidend geformt haben. Das läßt sich bereits anhand der Nennungen in einschlägigen Werken über herausragende Wirtschaftswissenschaftler abschätzen. Lediglich zehn der hundert Ökonomen 6 , die beispielsweise in M. Blaugs Great Economists since Keynes aufgeführt sind, waren vor 1933 an deutschsprachigen Universitäten oder Forschungsinstituten tätig; sie alle verließen Deutschland oder Österreich. Dagegen liegt der Anteil der emigrierten deutschsprachigen Pioniere der Entwicklungsökonomie in fachgebietsspezifischen Publikationen bei etwa 30 Prozent (Martin 1991; Meier und Seers 1984). Als Vertreter dieser Gruppe sind insbesondere Alexander Gerschenkron, Albert O. Hirschman 7 - die auch bei Blaug aufgeführt sind -, Kurt Mandelbaum, Paul N. Rosenstein-Rodan und H.W. Singer zu nennen. Nähere Untersuchungen weisen insbesondere die Universitäten London und Oxford als institutionelle Brennpunkte aus. Rosenstein-Rodan und Mandelbaum hatten dort nach ihrer Emigration Zuflucht gefunden, wo sie die Begründer der modernen Entwicklungsökonomie wurden. Beide Universitäten waren zugleich Zentren, in denen zahlreiche Emigranten ihr im deutschsprachigen Raum begonnenes - Studium fortsetzten oder ein zweites Studium aufnahmen. Zu nennen sind hier vor allem Emigranten der zweiten Generation wie Heinz Wolfgang Arndt, Wamer Max Corden, Gerard O. Gutmann, Alexandre Kafka und Paul P. Streeten, die jene Forschungstradition aufnahmen und daher unter dem Aspekt der Fernwirkung des 'brain-drains' nicht aus einer umfassenden Betrachtung ausgeschlossen werden dürfen. Ferner sind für die Entstehung der entwicklungsökonomischen Teildisziplin die Verbindungen der deutschsprachigen Ökonomen zur konjunktur- und beschäftigungstheoretischen Debatte in der Weimarer Republik unübersehbar, die sie dann in die britische Beschäftigungsdiskussion der Kriegsjahre einbrachten. Diese Diskussion weist nicht nur eine hohe personelle, sondern auch eine inhaltliche Verzahnung mit der frühen Entwicklungstheorie auf und bildet so eine interessante Schnittstelle entwicklungstheoretischer Wurzeln mit der konjunktur- und beschäftigungstheoretischen Debatte infolge des weitreichenden Paradigmenwechsels, der durch die keynesianische Revolution ausgelöst worden ist (vgl. Eßlinger 1999). Ein weiterer Ansatzpunkt sind schließlich Elemente der russischen und deutschen Planungsdebatten Mitte bzw. Ende der 1920er Jahre. Hier finden sich bereits in den frühen entwicklungstheoretischen Arbeiten von Rosenstein-Rodan und vor allem von Mandelbaum er modellierte später einen Fünf-Jahres Plan für Südosteuropa - deutliche Hinweise auf die entwicklungsökonomische Relevanz der theoretischen Auseinandersetzung mit den Problemen des langfristigen Wachstums und der Planung in der Gründungsphase der Sowjetunion. Das reflektieren auch die Arbeiten von Hirschman, der vor seinen entwicklungsökonomischen Forschungen über Lateinamerika seit Anfang der fünfziger Jahre bereits an der Vorbereitung und Durchführung des Marshall-Plans im Federal Reserve Board mitgearbeitet hatte. 6

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Die Liste umfaSt Alexander Gerschenkron, Gottfried Haberler, Frank Hahn. Friedrich August Hayek, Albert O. Hirschman, Fritz Machlup, Jacob Marschak, Ludwig von Mises, Oskar Morgenstern und Richard A. Musgrave. Hirschman hatte 1940/41 nach der Niederlage Frankreichs als Flüchtling in Marseille unter dem Pseudonym „Beamish" dem heute legendären Varian Fry und seinem Emergency Rescue Committee bei der Rettung von hunderten der politisch gefährdeten Schicksalsgenossen assistiert (Fry 1945. S. 24 passim und Hirschman 1995).

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Einleitung Beachtenswert ist auch, daß bei den Entwicklungsökonomen die Rückwanderungsquote nach Deutschland oder Österreich mit acht Prozent erheblich unter dem Durchschnitt von 21 Prozent aller emigrierten deutschsprachigen Ökonomen lag. Einige von ihnen remigrierten zudem erst nach ihrer Emeritienmg. Auf der Basis einer noch zu leistenden detaillierten Untersuchung der Anfänge der Entwicklungstheorie als eigenständigem Fachgebiet in Nachkriegsdeutschland können Gründe für einen Rückstand der deutschen Entwicklungsökonomie zumindest unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und für die ausbleibende Remigration gerade bei den Entwicklungsökonomen neben der Altersstruktur auch in der Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Entwicklungsökonomen im angelsächsischen Raum gesehen werden. Vor allem in Großbritannien wurden bereits ab Ende der 1940er Jahre mehrere entwicklungsökonomische Lehrstühle eingerichtet und auch mit deutschsprachigen Emigranten besetzt. In den USA boten die im Aufbau befindliche UN und ihre Nebenorganisationen gerade für Emigranten - beispielhaft genannt seien hier Bert F. Hoselitz, Kafka und H. W. Singer - neben Arbeitsmöglichkeiten auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt ebenfalls ein breites wissenschaftliches Betätigungsfeld. Die jüngeren Österreicher sollten schnell Anschluß an die neuen Diskussionen in den USA finden. In den Jahren 1939-43 kam am Institute for Advanced Study in Princeton die enge Zusammenarbeit von Oskar Morgenstern, der als Nachfolger Hayeks von 1931-38 das Österreichische Institut für Konjunkturforschung8 geleitet hatte, mit dem aus Budapest stammenden Mathematiker John von Neumann zustande, das in dem gemeinsamen Werk Theory of Games and Economic Behavior (1944) kulminierte, mit dem die Spieltheorie begründet wurde. Die Spieltheorie, eine die Fachgrenzen überschreitende Disziplin, analysiert das strategische Verhalten von Individuen und Gruppen unter Unsicherheitsannahmen auf den Märkten oder überhaupt in sozialen und politischen Entscheidungssituationen und sucht nach optimalen Lösungen von Interessenkonflikten. Diese spiel- und entscheidungstheoretischen Analysen machten Morgenstern in den fünfziger Jahren auch zu einem prominenten Politikberater der amerikanischen Regierung. Das gleiche gilt für Fritz Machlup, der mit seinen Arbeiten über den internationalen Geldverkehr sowie über die Auswirkungen qualifizierten Wissens auf die technologische Entwicklung nicht nur einen großen Schülerkreis um sich sammelte, sondern in den 1960er Jahren ebenfalls ein gesuchter Experte wurde, als das globale Währungssystem der Nachkriegszeit (Bretton Woods) in die Krise geraten war. Eine Sonderstellung unter den älteren Österreichern nahm Gottfried Haberler ein, der mit seinen bereits vor der Emigration verfaßten, in viele Sprachen übersetzten Arbeiten über den internationalen Handel und - im Auftrag der Finanzsektion des Völkerbundes - über Konjunkturen und Krisen einen solchen Ruf erworben hatte, daß sich seine Tätigkeit in Harvard weniger durch neue Forschungen, sondern durch umfassende Politikberatung sowie Präsidentschaften in diversen amerikanischen und internationalen wirtschaftswissenschaftlichen Gesellschaften auszeichnete. Die 'Cowles Commission for Research in Economics' an der Universität Chicago, später in Yale, wurde seit 1943 unter der Leitung Jacob Marschaks zum Zentrum der ökonometrischen Forschung und der Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaft, die nach Kriegsende ihren Siegeszug begannen. Die bahnbrechenden Arbeiten der Cowles Commission führten zur Institutionalisierung dieser neuen Forschungsgebiete. Neben Abraham Wald oder Gerhard Tintner sammelten sich dort mit dem Niederländer Tjalling Koopmans, dem Norweger Trygve Haavelmo und weiteren hochqualifizierten jüngeren Gelehrten auch EmigranDas Wiener Institut verlor nach dem 'AnschluB' seine Eigenständigkeit und blieb bis 1945 eine Zweigstelle des Berliner Instituts, das sich im wesentlichen auf die Südosteuropa-Forschung beschränken mußte.

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Einleitung ten aus anderen, von der deutschen Wehrmacht Überfallenen Ländern. Koopmans. Marschaks Stellvertreter und Nachfolger in der Leitung (1948-54), und Haavelmo, dessen frühe Arbeiten aus den Jahren 1943/44 zur Modellierung eines simultanen Gleichgewichtssystems und zum wahrscheinlichkeitstheoretischen Ansatz in der Ökonometrie die Fundamente für die beiden Säulen legten, die zum Markenzeichen der Cowles Commission werden sollten, erhielten später ebenso den Nobelpreis wie viele jüngere Ökonomen, die eine Zeitlang bei der Cowles Commission tätig waren: die Amerikaner Kenneth Arrow, Lawrence Klein, Harry Markowitz und Herbert Simon, dessen Familie aus Deutschland stammte, ebenso wie der aus Frankreich herübergekommene Gerard Debreu und Franco Modigliani, der aus dem faschistischen Italien fliehend im selben Jahr wie sein Doktorvater Marschak in die USA gekommen war. Schon vor seiner Weiterwanderung in die USA war Marschak erster Direktor des im Oktober 1935 gegründeten Oxford Institute of Statistics (OIS) geworden, dessen Errichtung ohne die finanzielle Förderung der Rockefeller Foundation kaum möglich gewesen wäre, von der er selbst schon in Heidelberg und auch in Oxford bezahlt wurde. Das Institut erlangte unter Marschaks Leitung schnell eine hohe Reputation im Bereich theoriegeleiteter empirischer Forschung in der Wirtschaftswissenschaft. Das OIS war auch Gastgeber der sechsten Europäischen Tagung der Econometric Society, die am 26. September 1936 mit dem Symposium zu Keynes' General Theory eröffnet wurde, auf dem Harrod, Meade und Hicks ihre Interpretationen des Keynesschen Hauptwerks vorstellten. Marschak selbst setzte in seinen Oxforder Jahren seine Studien zu theoretischen und statistischen Aspekten der Nachfrageanalyse fort und publizierte 1938 einen Aufsatz über die Geldnachfrage als ein Element der Vermögenshaltung von Individuen, den ersten einer Reihe herausragender theoretischer Beiträge zur Geldhaltung als Reaktion auf Unsicherheit, dem nach Kriegsende in den USA weitere folgen sollten. Darüber hinaus publizierte er zusammen mit Helen Makower und Herbert Robinson eine Reihe von Artikeln über die Ursachen der regionalen Mobilität der Arbeit, die in ihrem empirischen Teil für Großbritannien Unterschiede in den Arbeitslosenraten als entscheidende Determinante regionaler Mobilität auswiesen. Diese Studien waren Bestandteil eines umfassenderen Forschungsprogramms, das als eine „multi-faceted attack on the problem of the business cycle" (Young/ Lee 1993, S. 125) anzusehen ist. Sie wurden in den ersten Jahrgängen der Oxford Economic Papers publiziert, einer Zeitschrift, die nicht zuletzt als Forum für die Forschungsarbeiten des Instituts neu gegründet wurde. Ab Ende November 1939 gab das OIS auch ein Diary mit aktuellen wirtschaftsstatistischen Informationen heraus, das nach Übernahme der Herausgeberschaft durch Burchardt schnell um reguläre Artikel zu einem weiteren wirtschaftswissenschaftlichen Journal erweitert wurde, ab Oktober 1940 als Bulletin erschien und heute noch als Oxford Bulletin of Economics and Statistics existiert. Während an anderen britischen Universitäten bzw. Forschungsstätten emigrierte Ökonomen nur als Einzelpersonen, aber nicht als Gruppe auftraten, dominierten Emigranten aus Mitteleuropa in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren im Forschungsstab des OIS. Dies zeigt exemplarisch die im Oktober 1944 erschienene Studie The Economics of Full Employment, die die Zielsetzung verfolgte, einen Überblick über die strategischen Faktoren einer Politik permanenter Vollbeschäftigung in Industrienationen zu geben. Mit diesem Anliegen ging die Studie über das kurz zuvor erschienene White Paper on Employment Policy der britischen Regierung, das Massenarbeitslosigkeit durch die Ergreifung antizyklischer Maßnahmen bei einsetzender Depression zu vermeiden trachtete, eindeutig hinaus. Insgesamt stammten mit den aus Deutschland emigrierten Wirtschaftswissenschaftlern Burchardt, Kurt Mandelbaum (ab 1947 Kurt Martin) und Ernst F. Schumacher, dem gebürtigen Ungarn Thomas Balogh sowie dem polnischen Ökonomen Michal Kalecki (am OIS von xxxii

Einleitung 1940-44) nicht weniger als fünf der sechs Autoren vom europäischen Festland. Schumacher, der Burchardt im Internierungslager kennengelemt hatte und auf dessen Einladung Anfang 1941 nach Oxford gekommen war, wurde vom OIS auch abgestellt, um Sir William Beveridge bei der Abfassung des weiteren Reports Full Employment in a Free Society (1944) zu unterstützen. Er ging auf dessen für die britische Regierung erstellten Bericht Social Insurance and Allied Services (1942) zurück, der mit seinen Forderungen nach Vollbeschäftigung, Mindesteinkommen und Mindeststandards für eine allgemeine Sozialversicherung die Basis für die Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit legte. In enger Zusammenarbeit mit Nicholas Kaldor, Joan Robinson u.a. entwarf Schumacher große Teile des Berichts. Darüber hinaus entwickelte Schumacher in diesen Jahren - ähnlich wie Leopold Kohr in den USA - die Grundideen seiner erst 1973 erschienenen Studie Small is Beautiful, die von der Annahme ausging, daß in der künftigen europäischen Nachkriegsordnung die nationalstaatlichen Grenzen zunehmend verschwinden und regionale sowie dezentrale Wirtschaftseinheiten an Bedeutung gewinnen würden. Auch Josef Steindl, der nach dem 'Anschluß' Österreichs 1938 emigrieren mußte und nach Oxford gekommen war, wechselte 1941 von seiner Dozentur am Balliol College an das OIS, wo er acht Jahre lang tätig war und vor allem von Kalecki beeinflußt wurde, bevor er wieder nach Wien zurückkehrte. Während des Krieges gehörte es zu Steindls regelmäßigen Aufgaben, die kriegswirtschaftlichen Anstrengungen der USA sowie anderer britischer Verbündeter wie Australien, Indien und Kanada zu analysieren. Insgesamt wird man die zügige Integration der meisten vertriebenen Wirtschaftswissenschaftler in den USA, in Großbritannien, aber auch in anderen Zufluchtsländern als Erfolgsgeschichte bezeichnen können. Nicht nur konnte der größte Teil der ehemaligen deutschen Hochschullehrer die Karriere fortsetzen, für eine auffallend große Zahl der vor 1933 in anderen beruflichen Zusammenhängen Beschäftigten eröffnete die Emigration den Wechsel in die Hochschullaufbahn. Andererseits wurden zahlreiche vertriebene Wissenschaftler im Zuge des Ausbaus staatlicher Wirtschaftsaktivitäten seit den dreißiger Jahren in die Administrationen ihrer Zufluchtsländer berufen. In Washington rückten Emigranten zuweilen bis in die höchsten Etagen der Administration, wie beispielsweise in den während der New DealJahre eingerichteten Stab der Präsidentenberater. Von symbolischer Bedeutung mag sein, daß der deutsche Neu-Klassiker Gerhard Colm von der New School ein solches Amt unter Roosevelt nach der Zwischenstation im Budgetbüro übernahm, während der aus Wien gebürtige Neoklassiker Roger Freeman und Henry C. Wallich aus Berlin von dem Republikaner Eisenhower 1953 in ein solches Amt berufen wurden. Im Zweiten Weltkrieg wurden die deutschsprachigen Ökonomen in Amerika und Großbritannien häufig zu gesuchten Experten für den 'war effort' und die europäischen Nachkriegsplanungen. In diesen Ländern haben mehr als 30 Emigranten in unterschiedlichen Kriegsbehörden mitgearbeitet. Einige von ihnen wechselten nach 1945 in die neuen internationalen Organisationen der UNO, so etwa Emst Döblin 1947, später gefolgt von zahlreichen Vertretern der zweiten Generation. Ganze Emigrantengruppen wurden zuweilen von den Forschungsinstitutionen für spezielle Untersuchungen angeworben, so etwa vom National Bureau of Economic Research für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung oder von der Brookings Institution für konjunkturtheoretische Probleme, die Entwicklung ökonometrischer Modelle und Fragen einer modernen Sozialversicherung. Diese befristeten Tätigkeiten erscheinen aus der Rückschau quasi als Vorbereitungsphase für künftige administrative Aufgaben, denn die meisten der dort Tätigen übernahmen später Aufgaben in den Washingtoner Ministerien. So leitete beispielsweise Herbert Block im State Department ab 1945 die UdSSR-Abteilung, ein Amt, das er bis 1973 innehatte. Dorthin gingen auch Kurt Braun xxxiii

Einleitung 1951 nach fast zehn Jahren in der Brookings Institution und Raymond Goldsmith, während der ältere Karl Pribram, der dort schon 1934 bis 1936 tätig gewesen war, in den folgenden sechs Jahren im neu geschaffenen Social Security Board und dann - bereits jenseits der Altersgrenze - bis 1951 für weitere neun Jahre in der U.S. Tariff Commission arbeitete. Walther Lederer hingegen reüssierte im Department of Commerce, und für Hans Adler, Hans J. Dernburg, George Garvy oder Paul Hermberg wurden Forschungstätigkeiten in der Federal Reserve Bank zum weiteren Berufsfeld. Aber auch in anderen Ländern und abgelegeneren Regionen fanden Emigranten eine vergleichsweise günstige Aufnahme, wobei sich dort ihre wissenschaftliche Tätigkeit direkt mit staatlich-administrativen und politischen Erwartungen verband. Vermittelt durch die 1933 von Flüchtlingen in Zürich gegründete Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland war noch im gleichen Jahr von der Regierung der Türkei eine sechsköpfige Emigrantengruppe von Ökonomen angeworben worden, von der man sich einen Beitrag zur Verwestlichung des Landes während der Modemisierungsdiktatur des türkischen Staatsgründers Kemal Atatürk erhoffte. Hans Wilbrandt avancierte in Ankara zum Regierungsberater, während Fritz Baade an der dortigen landwirtschaftlichen Hochschule und Gerhard Kessler, Fritz Neumark, Wilhelm Röpke sowie Alexander Rüstow an der neu gegründeten Universität Istanbul Lehrstühle übernahmen (vgl. Buhbe 1997). Insbesondere Neumark sollte dort mit der Planung des türkischen Finanz- und Steuersystems und der Ausbildung der entsprechenden Fachleute eine nachhaltige Wirkung haben. Nach seiner Rückkehr Ende der vierziger Jahre wurde er in Frankfurt zum Nestor der bundesdeutschen Finanzwissenschaft (Neumark 1980, S. 249 ff.). In lateinamerikanischen Ländern konnte eine etwa gleich große Emigrantengruppe ähnliche Positionen und Aufgaben übernehmen. Die Lehrtätigkeiten dort waren häufig sogar direkt an eine Tätigkeit als Regierungsberater oder in der Administration gekoppelt. So übernahm Friedrich Kürbs mit seiner Professur für Statistik an der Universität von San Marcos in Lima auch die Leitung des peruanischen Statistischen Büros, während sein ebenfalls dorthin berufener Kollege Bruno Moll zugleich als Regierungsberater wirkte. Das Gleiche gilt für Hermann Halberstädter an der Universidad de los Andes in Kolumbien, für Ernst Peltzer in Venezuela und Alfons Goldschmidt in Mexico. Der studierte Mediziner Richard Lewinsohn (Morus), der vor 1933 das Wirtschaftsressort der Vossischen Zeitung geleitet hatte, gründete nach seiner Weiterflucht aus Frankreich 1940 in Rio de Janeiro die Wirtschaftszeitung Conjuntura Economica, ehe er dort 1946 ebenfalls eine Professur übernahm. Ursprünglich waren auch Paul Hermberg, Alfred Manes und der junge Henry C. Wallich in lateinamerikanische Länder geflohen, aber schon nach kurzer Zeit, noch in den dreißiger Jahren, in die USA weitergewandert (von zur Mühlen 1988, S. 89, 97, 273). Anders waren dagegen die Verhältnisse in Palästina. Für die kleine dorthin emigrierende achtköpfige Gruppe, mehrheitlich dem Zionismus nahestehend, existierten angesichts der fehlenden öffentlichen Infrastruktur berufliche Perspektiven allein in der Privatwirtschaft. Lediglich Boris Brutzkus erhielt einen Ruf auf den gerade geschaffenen agrarwissenschaftlichen Lehrstuhl der 1925 gegründeten Hebräischen Universität in Jerusalem. Für viele Jahre repräsentierte dieser Lehrstuhl die nur als Nebenfach institutionalisierte Wirtschaftswissenschaft in Jerusalem, die erst nach der Gründung des Staates Israel 1948 zu einer eigenständigen Fakultät ausgebaut wurde. Brutzkus hat das allerdings nicht mehr erlebt; er war 1938 gestorben, ohne in Palästina größere Wirksamkeit entfaltet zu haben. Die Nachfolge war Adolph Lowe angetragen worden, der Anfang 1939 auch einige Monate in Jerusalem gelehrt hatte. Lowe lehnte den Ruf jedoch ab. Auf Vermittlung Jacob Marschaks wurde schließlich 1949 dessen Chicagoer Doktorand Don Patinkin langjähriger Dekan der Wirtschaftswissenxxxiv

Einleitung schaftlichen Fakultät. Nach der Staatsgründung wechselten einige der ehemaligen Emigranten in die neue Administration oder gingen in die Politik. Fritz Naphtali etwa wirkte nach vorangegangener Tätigkeit als Abgeordneter des Tel Aviver Stadtrats und der Knesset in den fünfziger Jahren als Minister unterschiedlicher Ressorts, während Ludwig Oppenheimer die Leitung der Forschungsabteilung im Landwirtschaftsministerium übernahm und Arie Gaathon als Chef des Ministerpräsidentenbüros tätig war. Gaathon, wie auch Fanny Ginor und später Michael Bruno, arbeiteten in der Forschungsabteilung der 1954 gegründeten israelischen Zentralbank.

VII. Karriereverläufe der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler Eine Übersicht über die zeigt, daß die Emigration bruch führte und sich ihre nach 1933 ihre jeweiligen

Berufsentwicklung der vertriebenen Wirtschaftswissenschaftler nur in Ausnahmefallen, bei 4 Personen, zum negativen KarriereSpur verliert; die 22 Personen, die bis 1945 verstorben sind, hatten Tätigkeiten fortsetzen können:

Tabelle 7: Karriereverläufe der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler (Stichjahr 1945) a.

b.

c.

d.

Hochschullehrer vor 1933 (122) - Karriere fortgesetzt 74 - Wechsel in andere Berufsfelder, insbesondere in die Administrationen der Zufluchtsländer 26 - vor 1945 verstorben 16 - Karriere abgebrochen 3 Vor 1933 in der Privatwirtschaft, in der Verwaltung, als Wiitschaftsjournalisten etc. Tätige (79) - Karriere fortgesetzt 21 - Wechsel in die universitäre Laufbahn 46 - vor 1945 verstorben 6 - Karriere abgebrochen 1 Vor der Emigration das Studium gerade abgeschlossen (20) - Hochschullehrer 11 - administrative und andere Tätigkeiten 9 unklare Fälle

= 119

= 74

= 20

8 221

Die erfolgreiche Akkulturation in den Zufluchtsländern mag auch daran abzulesen sein, daß von den bei Kriegsende noch lebenden 199 ehemaligen Emigranten nur wenige remigriert sind. Sieht man von 9 Personen ab, die erst in den 1960er Jahren zurückkehrten, um nach Ende des Berufslebens ihren Lebensabend in der früheren Heimat zu verbringen, so kamen zwischen 1945 und 1955 insgesamt 36 Personen, etwa zu gleichen Teilen aus der Türkei und dem Nahen Osten (9), aus den USA (11), Großbritannien (11) sowie jeweils einzelne aus weiteren Ländern (5). Relativ kehrten aus dem Hauptzufluchtsland USA also die wenigsten, aus der Türkei hingegen alle zurück. Davon übernahmen 9 in Österreich, 16 in der Bundesrepublik Deutschland und 9 in der DDR universitäre Positionen. Zwei hatten Rufe in die Schweiz erhalten. Die Remigranten in die DDR begannen dort mit Ausnahme Alfred Meusels, der schon vor 1933 eine Professur an der Technischen Hochschule Aachen hatte, überhaupt erst ihre Hochschultätigkeit. XXXV

Einleitung Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die Diskriminierungen, der sich selbst Emigranten der ersten Stunde in Großbritannien ausgesetzt sahen, sorgten dafür, daß das britische Exil auch für viele Wirtschaftswissenschaftler nur temporären Charakter besaß. Die langfristige Kräfteverschiebung zugunsten der USA wurde durch den Wegzug führender Wissenschaftler aus Großbritannien in den Jahren 1939-40 zweifelsohne gestärkt. Ein Großteil derjenigen, die blieben, wurde nach den deutschen Militärerfolgen zu Kriegsbeginn seit Mai 1940 von der britischen Regierung als 'enemy aliens' in Internierungshaft genommen: auf der Isle of Man, von wo sie z.T. in die Dominions wie Kanada weitergeleitet wurden. Hierzu gehörten selbst prominente Ökonomen wie der mit Keynes befreundete Italiener Piero Sraffa, der bereits seit 1926 in Cambridge ansässig gewesen war. Aber auch viele jüngere Deutsche oder Österreicher wie Burchardt, Heinz Wolfgang Arndt, H.W. Singer und Paul Straeten zählten zu den Internierten. 9 Zum Kreis der Betroffenen gehörten auch der herausragende Nachwuchsökonom Erwin Rothbart, der nach seinem Studium an der London School of Economics 1938 von Keynes als Forschungsassistent in Statistik an der Universität Cambridge eingestellt wurde und später als Freiwilliger in der britischen Armee in Holland fallen sollte, sowie Eduard Rosenbaum, der ehemalige Direktor der Commerzbibliothek der Hamburger Handelskammer und Bibliothekar der London School of Economics von 1935-52. Keynes, der sich nachhaltig für die Freilassung vieler internierter Ökonomen, insbesondere Sraffa, Rothbart, Singer und Rosenbaum, einsetzte und dazu bis hin zum Home Secretary intervenierte, erachtete die ganze Angelegenheit als „the most disgraceful and humiliating thing which has happened for a long time" und Schloß mit der Feststellung: „If there are any Nazi sympathisers at large in this country, look for them in the War Office and our secret service, not in the internment camps." 10 Die von Keynes ausgesprochene Hoffnung, daß der Protest in der britischen Öffentlichkeit zu einer Korrektur der Politik gegenüber den ca. 65.000 betroffenen 'enemy aliens' führen würde, erfüllte sich Ende 1940/Anfang 1941, als auch die jungen Ökonomen aus der Internierungshaft entlassen wurden. Zu den herausragenden Ökonomen, die unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme aus Deutschland nach England emigrierten, gehörten Adolf Löwe und Jacob Marschak. Beide wurden vom Academic Assistance Council bzw. der Society for the Protection of Science and Learning ebenso wie von der Rockefeller Foundation regelmäßig konsultiert, um die wissenschaftliche Qualifikation emigrierter bzw. hilfesuchender deutscher Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler zu beurteilen. Ebenso wie der mit ihm befreundete Marschak galt Löwe bei der Rockefeiler Foundation als Ά - 1 , both scientifically and from the point of view of character' 11 . Am Tag nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde Löwe in England naturalisiert: aus Adolf Löwe wurde Adolph Lowe. Zwar wurde Lowe in der nach dem Zusammenbruch Frankreichs einsetzenden Panik aufgrund der Naturalisierung nicht wie viele andere Emigranten auf der Isle of Man interniert, jedoch teilte ihm die Universität Manchester mit, daß sein Vertrag nicht verlängert werden könnte. Dies veranlaßte Lowe, ein neuerliches Angebot der 'Universität im Exil' der New School for Social Research in New York anzunehmen und mit seiner Familie auf dem Höhepunkt des U-BootKrieges in die USA überzusiedeln. Marschak seinerseits, der sich seit Dezember 1938 mit einem einjährigen Reisestipendium der Rockefeller Foundation bereits in den USA befand, kehrte nicht mehr nach England zurück. Unmittelbar nach Kriegsausbruch akzeptierte er das 9 10

"

Vgl. die autobiographischen Beiträge von Arndt. Singer und Streeten in Hagemann (1997). Brief an F.C. Scott vom 23. Juli 1940, in: The Collected Writings of John Maynard Keynes. Bd. XXII: Activities Internal War Finance, London: 1978, S. 191.

1939-45:

John Van Sickle (Paris) an die Zentrale in New York. 10. Mai 1933. Rockefeller Archive Center. Record Group 1.1. 200/109/ 539.

xxxvi

Einleitung Angebot der New School, Lehrstuhl-Nachfolger von Colm zu werden, der sich endgültig entschieden hatte, seine berufliche Karriere in der Washingtoner Administration fortzusetzen. Strittig ist, ob der international führende Wissenschaftsstandard der USA nach dem Zweiten Weltkrieg - nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften - mit auf den Einfluß der Emigranten aus den dreißiger Jahren oder, wie amerikanische Nativisten behaupten, allein auf die ökonomischen Ressourcen des Landes zurückzuführen sei. Ein Indiz mag sein, daß von den ersten 20 amerikanischen Preisträgem des seit 1969 vergebenen wirtschaftswissenschaftlichen Nobelpreises 14 nicht in den USA geboren waren. In den ersten Jahrzehnten nach 1945 wurden neben Joseph A. Schumpeter mit Gottfried Haberler, Fritz Machlup, William Fellner und Jacob Marschak ehemalige Emigranten zu Präsidenten der American Economic Association gewählt, eine Ehre, die nur den renommierten Vertretern des Faches zuteil wird (Craver/Leijonhufvud 1987, S. 173 ff.). Auffallend ist, daß mit Ausnahme Marschaks alle aus der österreichischen Tradition kamen. Das mag andeuten, daß nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der Ära Roosevelt das Pendel der wirtschaftstheoretischen Reformdebatte während der fünfziger Jahre wieder zurückschlug, Keynesianer und ehemalige deutsche Neu-Klassiker in den Hintergrund traten. Die struktur- und wachstumstheoretischen Analysen der ehemaligen deutschen Emigranten sollten erst seit den 1970er Jahren angesichts der mit den Ölpreisschocks und der mikroelektronischen Revolution erneut hervortretenden Strukturprobleme und der wachsenden Arbeitslosigkeit in den Industrieländern auf neue Aufmerksamkeit stoßen. Der triumphale Aufstieg der amerikanischen Wirtschaftswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ist nicht nur die Folge der politischen und ökonomischen Führungsrolle der USA, der pragmatischen und technologischen Orientierung der Amerikaner, sondern auch des nationalen Stils der ökonomischen Forschung, der durch ein hohes Maß an theoretischer Spezialisierung und angewandter Wirtschaftsforschung gekennzeichnet ist (Johnson 1973). Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Graduiertenausbildung an den führenden Universitäten, die den Studierenden das notwendige mathematische und ökonometrische Rüstzeug vermittelte. Die enormen Gewichtsverlagerungen, nicht zuletzt aufgrund der Emigration aus den faschistisch und stalinistisch regierten Ländern Europas in die USA, lassen sich auch quantitativ, z.B. auf der Basis des Social Science Citation Index erfassen. Während die Sowjetunion 24 ihrer 36 und Österreich-Ungarn 36 seiner 50 herausragenden Ökonomen verloren, belief sich der Wanderungsgewinn der USA insgesamt auf 161. Dies macht immerhin einen Anteil von 30 Prozent der in den USA geborenen führenden Ökonomen der Welt aus. Im Gegensatz dazu ist der Anteil des deutschsprachigen Raumes von 15 Prozent bei den Toten auf 3 Prozent unter den Lebenden zurückgegangen (Frey/Pommerehne 1988). Wenn man die Frage nach der Bedeutung emigrierter Wirtschaftswissenschaftler für die Aufnahmeländer bzw. für die internationale Entwicklung ihrer Fachgebiete stellt, muß man, abgesehen von Mises und den Ökonomen der New School, die vor allem zur Zeit des Rooseveltschen New Deals sowie in den ersten Nachkriegsjahren größere Wirkungen erzielten, insgesamt jedoch zu folgendem Schluß gelangen: „It was not, however, the transplantation of the European 'schools' that injected the Continental influence on economics in America. ... On the whole, however, those immigrants who tried to maintain their distinctly European scholarly identity appear to have been less influential on the development of the profession in America" (Craver/Leijonhufvud, 1987, S. 175). Andererseits waren viele amerikanische Universitäten nicht nur zum Ausbau umfangreicher Graduiertenprogramme auf die europäischen Immigranten zwingend angewiesen, sondern letztere trugen auch entscheidend zu vielen Innovationsschüben bei, die als zeitlich verxxxvii

Einleitung zögerter (Rück-/Transfer von Wissenschaftsinhalten nach Deutschland (und Österreich sowie anderen europäischen Ländern) in der Zeit nach 1945 als „amerikanischer" Einfluß erschienen. Exemplarisch erwähnt sei hier das finanzwissenschaftliche Werk von Richard A. Musgrave, das durch die Verbindung der stärker theoretisch ausgerichteten, untrennbar mit der allgemeinen Volkswirtschaftslehre verbundenen angelsächsischen Public Finance mit der kontinentaleuropäisch-deutschen Tradition der Finanzwissenschaft und ihrer stärkeren Betonung juristischer, soziologischer und historischer Aspekte bereichert wurde.12 Dabei kam ihm seine gründliche Kenntnis der deutschsprachigen Literatur zugute, angefangen von Knut Wickseils Finanztheoretischen Untersuchungen (1896) mit ihrem Beitrag für die moderne Theorie öffentlicher Güter (die später auch James Buchanan und den Public ChoiceAnsatz beeinflußten) bis zu der stärker theoretisch orientierten finanzwissenschaftlichen Analyse am Ende der Weimarer Republik, etwa in Colins (1927) erster systematischer Studie über die Wirkungen von Änderungen der Staatsausgaben auf den Wirtschaftskreislauf, die sich zunehmend der angelsächsischen Tradition annäherte. Musgraves The Theory of Public Finance (1959) wurde für mehr als zwanzig Jahre das finanzwissenschaftliche Standardwerk, das auch in seiner deutschen Übersetzung (1966) sehr erfolgreich war und nahezu an allen Universitäten verwendet wurde. Musgraves Unterscheidung zwischen einer Allokations-, Distributions- und Stabilisierungsabteilung des öffentlichen Haushalts hat das finanzwissenschaftliche Denken ganzer Studentengenerationen ebenso geprägt wie Auseinandersetzungen über seine multiple Theorie des öffentlichen Haushalts aufgrund bestehender Interdependenzen die Forschungsprozesse bis in die Gegenwart. Abschließend läßt sich feststellen, daß die langfristige wissenschaftliche Kräfteverschiebung zugunsten der USA aufgrund der Entlassung und Vertreibung von Wirtschaftswissenschaftlern durch die Nationalsozialisten nach 1933 zumindest enorm beschleunigt worden ist (vgl. auch Samuelson 1988, S. 319). Zugleich haben im Bereich der Ökonomie die emigrierten Wissenschaftler wesentlich zum Prozeß der stark zunehmenden Intemationalisierung der Wissenschaften nach 1945 beigetragen.

VIII. Zur Entstehungsgeschichte dieses Handbuchs Die Entstehung dieses Handbuchs geht auf das im Rahmen des Schwerpunktprogramms Wissenschafisemigration der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgeführte Projekt Die Emigration deutschsprachiger Wirtschaftswissenschaftler nach 1933 zurück. Absicht des Projektes war es, ein Gesamtbild der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler in quantitativer wie vor allem in qualitativer Hinsicht zu entwerfen. Unsere Forschungen haben schnell die Notwendigkeit einer Gesamterhebung aller von den Nationalsozialisten entlassenen und vertriebenen Wirtschaftswissenschaftler gezeigt: als notwendigen Schritt für eine fundierte Beurteilung der Wissenschaftsemigration in Abgrenzung zur Wissenschaftsentwicklung in Deutschland sowie der Beiträge der Emigranten zur Entwicklung ihrer Fachgebiete im Ausland. Ursprünglich ausgegangen wurde von einem Kreis von ca. 180 betroffenen Wirtschaftswissenschaftlern. Dabei konnte aufgebaut werden auf dem bahnbrechenden gemeinsamen Forschungsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte in München und der Research Foundation for Jewish Immigration in New York, dessen Ergebnisse im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 (Röder/Strauss 1980-83) dokumentiert sind. Die 12

Zu diesem spezifischen, aus einer fruchtbaren Synthese unterschiedlicher nationaler Traditionen resultierenden Beitrag zur Ökonomik der öffentlichen Finanzen, vgl. Musgrave (1996. 1997).

xxxviii

Einleitung Sichtung des Urmaterials dieses Projekts, frühere Forschungsarbeiten der Herausgeber sowie die systematische Auswertung der Nachlässe der emigrierten Ökonomen und detaillierte Archivrecherchen im Rahmen des DFG-Schwerpunkts brachten das überraschende - und die Notwendigkeit des Projekts zusätzlich unterstreichende Ergebnis daß rund ein Drittel unseres Personenkreises von den damaligen Handbuch-Bearbeitern nicht erfaßt worden ist. Zur Konturierung der Herkunftsmilieus und der Zufluchtsorte wurden weiterhin Recherchen über Universitäten und akademische Institutionen durchgeführt, aus denen die Flüchtlinge kamen und in denen sie nach 1933 arbeiteten (in Deutschland, Österreich sowie in den USA, in Großbritannien und Israel). Anläßlich der Tagung 'Zur deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933', die Ende September 1991 an der Universität Hohenheim in Stuttgart stattfand, wurde von uns erstmals eine biographische Gesamtubersicht emigrierter deutschsprachiger Wirtschaftswissenschaftler vorgelegt. Diese Zwischenbilanz umfaßte 292 Namen. Durch die überaus erfreuliche und positive Resonanz von Seiten der emigrierten Ökonomen selbst, aber auch durch Anmerkungen und Ergänzungen von Tagungsteilnehmern und interessierten Fachkollegen sowie durch weitere Recherchen und intensive Korrespondenzen konnte ein deutlicher Zugewinn an biographischen sowie wissenschaftlichen Daten über unsere Zielgruppe realisiert werden. Da zudem die biographische Gesamtübersicht aufgrund einer regen Nachfrage schnell vergriffen war, wurde bereits im August des nachfolgenden Jahres eine zweite erweiterte und verbesserte Auflage erstellt, die 314 emigrierte Ökonomen beinhaltete (Hagemann/Krohn 1992). Aufgrund ergänzender Informationen und zusätzlicher Nachforschungen kamen weitere achtzehn Wirtschaftswissenschaftler hinzu, während nur vier aus dieser Liste gestrichen werden mußten. Das vorliegende Handbuch umfaßt dementsprechend Beiträge über 328 Wirtschaftswissenschaftler. Sie geben Auskunft über die intellektuelle Biographie wie den akademischen und beruflichen Werdegang einschließlich der an deutschen und österreichischen Institutionen eingenommenen Positionen, Verfolgungen durch die Nationalsozialisten, die Entwicklung der Karrieren in den Zufluchtsländern, womögliche Integrationsprobleme und Akkulturationsschwierigkeiten sowie wissenschaftliche Auszeichnungen. Das Schwergewicht liegt jedoch auf der Würdigung der wissenschaftlichen Leistung, so daß im allgemeinen die Beiträge der emigrierten Ökonomen für die Entwicklung der jeweiligen Teildisziplinen der Wirtschaftswissenschaft, in denen sie vorrangig tätig waren, im Zentrum stehen. An einem Beispiel, dem der noch in der zweiten Auflage des biographischen Gesamtverzeichnisses aufgeführten Natalie Moszkowska (vgl. Hagemann/Krohn 1992, S. 196), sei der Aufwand illustriert, der zur Gewinnung biographischer Daten erforderlich werden konnte, auch wenn in diesem Fall als Ergebnis der Recherchen feststeht, daß Moszkowska weder als Emigrantin aus dem deutschsprachigen Raum gelten kann, noch im von uns zu untersuchenden Zeitraum emigriert war, wie wir aufgrund ihrer deutschsprachigen Veröffentlichungen im Referenzzeitraum ursprünglich angenommen hatten. Aufgrund der desolaten Datenlage wurden - bis dieses Ergebnis feststand - Korrespondenzen geführt mit dem Staatsarchiv des Kantons Zürich, dem Schweizerischen Wirtschaftsarchiv an der Universität Basel, dem Stadtarchiv Zürich, dem Archiv für Zeitgeschichte bei der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, dem Schweizerischen Sozialarchiv Zürich, der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich, dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund, den Gewerkschaftlichen Monatsheften in Düsseldorf und dem Verlag Musolini Editore in Turin, der 1974 eine italienische Übersetzung von Natalie Moszkowskas ökonomischem Hauptwerk veröffentlicht hatte. Das Ergebnis in diesem Fall bedeutet dennoch einen nicht unerxxxix

Einleitung heblichen Erkenntnisfortschritt, da zwar Moszkowskas ökonomische Schriften gut rezipiert worden sind, jedoch über ihren Lebensweg nichts bekannt gewesen war. Wir möchten uns bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken, ohne deren tatkräftige Mitwirkung dieses zeitaufwendige Projekt nicht realisierbar gewesen wäre. Dies gilt für die insgesamt 127 Autoren, die Beiträge zum Handbuch verfaßt haben, aber auch für alle, die im Zuge unseres Forschungsprozesses wichtige Informationen gegeben und wertvolle Hilfestellung geleistet haben. Hierzu gehören vor allem zahlreiche Mitglieder aus dem Kreis der Betroffenen selbst, die uns mit großem Engagement in zahlreichen Gesprächen und aufschlußreichen Korrespondenzen detaillierte Auskünfte gegeben haben, insbesondere die inzwischen verstorbenen Adolph Lowe, Henry W. Spiegel und Josef Steindl, ebenso wie Heinz Wolfgang Arndt, Haim Barkai, Fanny Ginor, Richard Musgrave, Kurt Rothschild, Sir Hans Singer, Wolfgang F. Stolper und Paul Streeten. Gerade durch die persönlichen Kontakte zu den Emigranten wurden weitere forschungsrelevante Anstöße gegeben, die sich außerordentlich günstig auf den Informationsaustausch zwischen den emigrierten Wirtschaftswissenschaftlern und den Projektleitern niedergeschlagen haben. Da viele emigrierte Ökonomen zueinander in einem engen fachlichen und z.T. auch persönlichen Kontakt stehen, konnte eine nicht unerhebliche positive Multiplikatorwirkung erzielt werden, aus der wir weitere für den Forschungszusammenhang verwertbare Informationen bekamen. Ferner haben die persönlichen Reaktionen, aber auch die Aufsätze der Emigranten 13 gezeigt, daß sie sich, durch unser Forschungsprojekt angeregt, selbst mit dieser Thematik verstärkt auseinandersetzten. Insgesamt haben wir dadurch wichtige Einsichten gewonnen, die aus der vorhandenen Literatur nicht zu erhalten waren. So sieht sich beispielsweise Richard A. Musgrave - durch die aus der doppelten wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung resultierende wechselseitige Bereicherung unterschiedlicher Forschungstraditionen - explizit als 'Emigrationsgewinner'. Die Kontakte mit den vertriebenen Ökonomen waren auch eine unverzichtbare Hilfe bei der Klärung der Fragen nach den Verlusten für die deutsche Wirtschaftswissenschaft durch die Emigration, des Ausmaßes der Befruchtung der Wirtschaftswissenschaft in den Aufnahmeländem, den Erfahrungen der Emigranten und den Bedingungen der Integration in den ausländischen Wissenschaftsbetrieb, emigrationsbedingten Änderungen von Forschungsschwerpunkten und Methoden sowie der Beiträge der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler zur internationalen Entwicklung ihrer Fachgebiete. Unser besonderer Dank gilt unserem langjährigen Forschungsassistenten Dr. Hans Ulrich Eßlinger für seinen unermüdlichen Einsatz. Durch seine Akribie und seine detektivische Phantasie bei den z.T. komplizierten biographischen Recherchen hat er ebenso zum erfolgreichen Abschluß des Projektes beigetragen wie durch seine intensive inhaltliche Mitarbeit, vor allem im Bereich der Entwicklungsökonomie und über den Kreis der Heidelberger Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler um Emil Lederer. Nach seinem beruflich bedingten Weggang zur Friedrich-Ebert-Stiftung hat uns in der Abschlußphase Bertram Melzig-Thiel unterstützt, dessen Engagement ebenfalls durch eine hohe Motivation geprägt war. Bedanken möchten wir uns femer bei Meike Johannsen, Barbara Link, Katrin Jaenke, Dr. Steffen Mayer, Leslie Preis, Babette Mummert und Maite Schachtebeck, die in den verschiedenen Phasen wertvolle Hilfestellung bei der Zusammenstellung und Aufbereitung des biographischen Materials sowie der redaktionellen Bearbeitung der eingehenden Beiträge geleistet haben. Schließlich bildete Frau Christine Eisenbraun in der hektischen Schlußphase den ruhenden Pol im Sekretariat.

13

xl

Vgl. z.B. die Beiträge von Arndt. Ginor. Kuczynski. Musgrave. Singer. Spiegei. Stolper und Streeten in Hagemann (1997).

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Biographische Artikel Adler - Lehmann

Adler, J o h n H a n s . geb. 16.11.1912 in Tachau (Böhmen), gesl. April 1980 in Chevy Chase, Maryland Sohn des in der Deutschen Demokratischen Freiheitspartei aktiven Fabrikanten August Adler und dessen Frau Lilly Felix. Ab 1931 studierte Adler an der Deutschen Universität Prag, wobei sein Jurastudium in den Jahren 1934 bis 1936 durch den Militärdienst in der tschechoslowakischen Armee unterbrochen wurde. 1937 schloB Adler das wiederaufgenommene Studium mit der Promotion zum Dr. iur. ab. Wohl geprägt durch sein Elternhaus war er während dieser Zeit neben seiner Tätigkeit als Redakteur für die Zeitschrift Die Wirtschaft als Mitarbeiter in der liberalen Studentengruppe 'Lese- und Redehalle deutscher Studenten' aktiv. Im darauffolgenden Jahr emigrierte Adler mittels Studentenvisum in die Vereinigten Staaten, um an der Columbia University zwischen 1938 und 1941 Ökonomie zu studieren. Neben einem Stipendium der Yale University verdiente er seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten wie z.B. als Schneeschaufler und Oblatenbäcker. 1940 erwarb Adler den Master of Arts in Yale, wo er anschließend zwei Jahre als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Internationale Studien tätig war. Weitere Stationen seines beruflichen Werdegangs waren eine Tätigkeit als Instructor am Oberlin College, Ohio und als volkswirtschaftlicher Mitarbeiter beim Federal Reserve Board, Washington, D.C. Vor seiner Promotion in Yale im Jahr 1946 zum Thema Determinants of the Volume of Foreign Trade arbeitete Adler im USKriegsministerium bei der Ausweitung der strategischen Bombardierung Deutschlands mit. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er zuerst für die USRegierung in der Alliierten Kontrollkommission in Wien tätig und trat nach einer dreijährigen Anstellung bei der Federal Reserve Bank in New York 1950 als Mitarbeiter in die International Bank for Reconstruction and Development ein. Bis zu seinem Ruhestand im Jahre 1978 bekleidete Adler hier u.a. das Amt des Direktors des Economic Development Institute (1963 - 1968) sowie des Direktors der Planungs- und Budgetabteilung. Zusätzlich war er Mitglied des Beirats der Weltbank. Nach seiner Pensionierung war Adler 1978/ 79 noch als Visiting Fellow in Oxford tätig. Adlers Beiträge zur Ökonomie sind eng verbunden mit seinen beruflichen Aufgaben bei der Federal Reserve Bank und der Weltbank. So ist ins-

besondere die 1952 erschienene Studie The Pattern of United States Import Trade since 1923 zu nennen, die er zusammen mit Eugene R. Schlesinger und Evelyn van Westerborg verfaßt hat. Im Rahmen dieser Arbeit werden die Bestimmungsgründe der amerikanischen Importe für die Zeit zwischen 1923 und 1950 unter Verwendung eigens für diesen Zweck berechneter Indexzahlen analysiert. Die Studie liefert sowohl über die mengenmäßige als auch über die regionale Zusammensetzung und Entwicklung der Importe der USA einen noch heute informativen Überblick. Der weitaus größte Teil der Veröffentlichungen Adlers beschäftigt sich jedoch mit den wirtschaftlichen Problemen von Entwicklungsländern sowie den Wegen und Strategien, die zur Überwindung der Phase der Unterentwicklung beitragen können. Zentrale Themen sind dabei die Bedeutung und die Stellung der Einkommensverteilung im Entwicklungsprozeß, die Konzeption einer adäquaten Investitionspolitik sowie die Struktur des staatlichen Budgets in unterentwickelten Volkswirtschaften. In den Ansätzen der Entwicklungstheorie stellen Investitionen einen der Faktoren dar, die für hohe Wachstumsraten und somit für einen schnellen Aufholprozeß notwendig sind. Adler weist in mehreren Beiträgen zu dieser Frage, so z.B. in Development Planning - Tool or Toy? (1975), immer wieder auf die Tatsache hin, daß ein hohes Investitionsniveau zwar eine notwendige, aber noch lange keine hinreichende Bedingung für eine erfolgreiche Entwicklung ist. Vielmehr spiele auch die Struktur der durchgeführten Investitionen eine herausragende Rolle. Eine adäquate Mischung aus öffentlichen und privaten Investitionen sei einer fast ausschließlichen Konzentration auf staatliche Kapitalbildung vorzuziehen. Interessant ist hierbei insbesondere der weite Begriff der Investition, den Adler zugrundelegt. So versteht er unter Investitionen nicht nur die Vergrößerung des Kapitalstocks und der Lagerbestände, sondern vielmehr alle Ausgaben, die dem Entwicklungsprozeß zuträglich sind, also auch Ausgaben für Gesundheit und Bildung. Im Zusammenhang mit diesem weiten Investitionsbegriff ist darüber hinaus die starke Betonung von externen Effekten bei Adler festzustellen (vgl. z.B. 1951). Für einen erfolgreichen Catching-up Prozeß muß ausreichend Social Overhead Capital gebildet werden, damit positive externe Effekte entstehen können, welche die Produktivität des privaten Kapitals erhöhen. Liegen diese nicht vor.

1

Adler, John Hans so ist nach Adler auch die These der höheren Grenzproduktivität des Kapitals, die in den kapitalarmen Ländern im Gegensatz zu den kapitalreichen Ländern vorliegen soll, nicht haltbar. Diese Argumentation findet sich dreiBig Jahre später in ähnlicher Form in den Modellen der sogenannten 'Endogenen Wachstumstheorie' wieder. Konsequenterweise folgt aus dieser Überlegung, daB zwei eng mit der Kapitalakkumulation verbundene Problembereiche zu berücksichtigen sind: die Einkommensverteilung und das staatliche Budget. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren vertrat Adler die These, daB schnelles Wachstum und die Notwendigkeit von redistributiven Maßnahmen invers miteinander verbunden sind (vgl. z.B. 1965). Konsequenterweise leitete er daraus eine fiskalpolitische Vorgehensweise ab, die mehr der Kapitalbildung als der Umverteilung verpflichtet ist. Diese Hypothese relativierte er jedoch aufgrund der Erfahrungen, die sich aus dem realiter stattfindenden Entwicklungsprozeß in der sogenannten 'Dritten Welt' ergaben (z.B. Development and Income Distribution, 1972a). Die Ausgabenseite des Budgets muB sich seiner Meinung nach stärker auf Bereiche wie Bildung, Gesundheit sowie Infrastruktur und weniger auf Militärausgaben konzentrieren. Entsprechend seiner Tätigkeit in den Jahren vor seinem Ruhestand als Direktor der Planungs- und Budgetabteilung der Weltbank bildet in den letzten Veröffentlichungen von Adler die Vorgehensweise dieser Institution in Fragen der Planung und Vergabe von Kreditmitteln den Schwerpunkt des Interesses. Adler gewährt in mehreren Beiträgen (1972c, 1977) aus erster Hand einen Einblick in die Ziele und die Kritierien der Weltbank bei der Unterstützung unterentwickelter Länder. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daB die ökonomischen Beiträge von John H. Adler in gewissem Sinne einen Spiegel der entwicklungstheoretischen und insbesondere der entwicklungspolitischen Debatte der fünfziger bis siebziger Jahre darstellen. Sie sind durch die praktische Arbeit Adlers in der Weltbank geprägt, was sich vor allem in der Tatsache zeigt, daB sie weder theorielose Politikempfehlungen noch theoretische Gedankenspiele ohne praktischen Bezug beinhalten, sondern vielmehr versuchen, einen Zusammenhang zwischen beiden Bereichen herzustellen.

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Altmann, Salomon Paul (Sally) Altmann, Salomon Paul (Sally), geb. 27.6.1878 in Berlin, gest. 7.10.1933 in Ilmenau Altmann studierte in Berlin und Freiburg zunächst Philosophie und Naturwissenschaften, widmete sich nach seiner Rückkehr nach Berlin im Herbst des Jahres 1900 jedoch ganz dem Studium der Staatswissenschaften und der Geschichte. 1906 promovierte er bei Adolph Wagner und Gustav Schmoller mit einer Arbeit Studien zur Lehre vom Geldwert zum Dr.phil. Seine Absicht, unmittelbar danach die akademische Laufbahn einzuschlagen, stellte er zunächst zugunsten der Übernahme einer Position als volkswirtschaftlicher Beamter der Handelskammer Frankfurt a.M. zurück. Aus dieser Tätigkeit heraus entstanden unter anderem die Abschnitte Handelspolitik und Geschichte der industriellen Entwicklung als Beiträge zur Geschichte der Handelskammer zu Frankfurt (1908a). Der Versuch, sich von Frankfurt aus an der Universität Heidelberg zu habilitieren, scheiterte an Altmanns außerhalb Badens gelegenem Wohnsitz. Er wurde jedoch 1907 als nebenberuflicher Dozent an die Handelshochschule Mannheim berufen und erhielt 1909 dort eine hauptamtliche Dozentur für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft übertragen. Bereits im darauffolgenden Jahr wurde Altmann an der Handelshochschule zum ordentlichen Professor ernannt Der Lehrauftrag am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften an der Universität Heidelberg, den er ebenfalls 1910 erhielt, wurde 1922 in eine Honorarprofessur umgewandelt. Sein schlechter Gesundheitszustand erlaubte es Altmann ab 1929 nicht mehr, Vorlesungen zu halten. Er wurde 1930 an der Handelshochschule Mannheim emeritiert, in Heidelberg schied er 1929/30 aus dem aktiven Lehrbetrieb aus. Dennoch war er im April 1933 seiner jüdischen Konfession wegen vom sog. 'Gesetz zur Wiederherstellung des Benifsbeamtentums' betroffen. Weitere Zwangsmaßnahmen gegen Altmann, der während des Ersten Weltkriegs organisatorisch und wissenschaftlich in der sog. 'Kriegsfiirsorge' und in der Wirtschaftspolitik tätig gewesen war, unterblieben jedoch in den letzten sechs Monaten seines Lebens. Altmanns wissenschaftliches Interesse galt zunächst der Geldtheorie, deren frühe Entwicklungsstufen - vom Altertum bis ins 16. Jahrhundert - in seiner Dissertation (1906) dargelegt wurden. In einem Beitrag Zur deutschen Geldlehre des 19.

Jahrhunderts (1908b) in der Festschrift für seinen Lehrer Schmoller gab er einen umfassenden Überblick über die kritische Haltung der Historischen Schule gegenüber der Quantitätstheorie, teilte diese Kritik selbst jedoch nicht, da die Quantitätstheorie „theoretisch einen zweifellos richtigen Kern" habe (S. 47). Das Hauptarbeitsgebiet Altmanns war jedoch ab 1910 die Finanz Wissenschaft. Mit der eng an die Arbeiten seines akademischen Lehrers Wagner angelehnten Finanzwissenschaft (1910) versuchte er, dieses Teilgebiet der Volkswirtschaftslehre einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In der Tradition der Historischen Schule stehend, konzentrierte sich das Werk sehr stark auf die Darstellung der steuererhebenden Institutionen sowie auf die spezielle Steuerlehre. Seine detaillierten Kenntnisse auch fiskalisch unbedeutenderer Steuern und Abgaben dokumentierte Altmann einige Jahre darauf durch insgesamt 27 Beiträge zum Handwörterbuch der Kommunalwissenschaft (1918-24). Das in der Finanzwissenschaft nur am Rande gestreifte Problem der Gerechtigkeit der Besteuerung wurde von Altmann 1911 in einem Aufsatz im Archiv für SozialWissenschaft und Sozialpolitik ausführlicher diskutiert. Die Untersuchung konzentrierte sich auf den Zusammenhang zwischen weltanschaulichen Positionen und den Besteuemngsprinzipen sowie verschiedenen steuerlichen Institutionen. Altmann gelangte zu dem Ergebnis, daß so viele „gerechte Besteuerungen" existierten, wie es in sich geschlossene Weltanschauungen gebe. Normative Ansätze der (Steuer-) Gerechtigkeit zu formulieren sei nicht Aufgabe der Finanzwissenschaft - diese solle sich vielmehr auf die Analyse der Ressourcenallokation und der Steuerinzidenz beschränken. Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wandte sich Altmann verstärkt gegen die historische Betrachtungsweise in der Finanzwissenschaft, denn diese müsse den neuen gesellschaftlichen Strukturen in der Weimarer Republik Rechnung tragen. „Damit hört die Finanzwissenschaft mehr und mehr auf, eine Darstellung bestehender Gesetze, eine Behandlung einzelner Reformen zu sein, und wird die Lehre von einem entscheidenden Faktor der politischen Gemeinschaft und ihrer Ideologien" (1918/19, S. 226). Die daraus abgeleitete Forderung, in der finanzwissenschaftlichen Literatur müßten nun „'wissenschaftliche Gesetze' von internationaler Gültigkeit" (ebd., S. 228) formuliert werden, konnte

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Altschul, Eugen Altmann selbst jedoch nicht mehr einlösen. Gleiches gilt für den Bereich der Wirtschaftstheorie, in dem Altmann die Notwendigkeit des Übergangs von der statischen zur dynamischen Analyse erkannte (1927, S. 16) - ein Übergang, der in der Konjunktur- und Beschäftigungstheorie u.a. in den Arbeiten seines Heidelberger Kollegen -» Emil Lederer vollzogen wurde. Altmanns Lehrtätigkeit in Mannheim und Heidelberg sowie sein sich zunehmend verschlechternder Gesundheitszustand machten es ihm jedoch unmöglich, mit eigenen Publikationen zu diesem Theoriewechsel beizutragen. Schriften in Auswahl: (1906) Studien zur Lehre vom Geldwert. Beiträge zur Geschichte und Kritik der Geld- und Werttheorie, Berlin (Diss.). [div. Abschnitte in:] Geschichte der (1908a) Handelskammer zu Frankfurt a.M., 1707-1908. Beiträge zur Frankfurter Handelsgeschichte, hrsg. von der Handelskammer zu Frankfurt a.M. Zur deutschen Geldlehre des 19. Jahr(1908b) hunderts, in: S.P. Altmann u.a. (Hrsg.): Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im neunzehnten Jahrhundert. Gustav Schmoller zur 70. Wiederkehr seines Geburtstags, Leipzig, Teil I.VI, S. 1-67. Finanzwissenschaft, Leipzig. (1910) Das Problem der Gerechtigkeit der (1911) Besteuerung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 33, S. 77-96. (1918) Die finanzpolitischen Zukunftsaufgaben Deutschlands, in: Deutscher Staat und deutsche Kultur, StraBburg, S. 372-394. (1918/19) Finanzwissenschaftliche Literatur I, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 46, S. 225-234. (1918-24) [Div. Beiträge zum] Handwörterbuch der Kommunalwissenschaft, 4 Bde., hrsg. von J. Brix u.a., Jena. Gegenwartsaufgaben des wirtschafts(1927) wissenschaftlichen Hochschul-Unterrichts. Akademische Rede, gehalten bei der Jahresfeier der Handels-Hochschule Mannheim am 9. Juli 1926, Mannheim u.a.

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Quellen: RHb.d.dt.Ges.; UAH B-3099; HldWiWi 1929. Hans Ulrich Eßlinger

Altschul, Eugen, geb. 2.4.1887 in Libau/ Lettland, gest. 26.4.1959 in Kansas City Altschul lebte seit seiner Immatrikulation an der Universität Freiburg i. Br. im Jahre 1905 in Deutschland. Er studierte in Freiburg, Leipzig und Straßburg, und zwar ursprünglich Physik, dann Philosophie, Geschichte und Nationalökonomie. 1912 promovierte er in Freiburg bei Gerhart v. Schulze-Gaevernitz mit einer Dissertation über Die logische Struktur des historischen Materialismus. Von 1913 bis 1920 war Altschul in der Vermögensverwaltung des deutsch-russischen Zukker-Großindustriellen König mit Sitz in Freiburg tätig. Anschließend war er zwei Jahre leitender Redakteur bei Buchwalds Börsen-Berichten, 1922 bis 1923 wirtschaftlicher Syndikus und Berliner Vertreter der Bankfirma Gebr. Lismann in Frankfurt a.M. sowie 1923 bis 1926 stellvertretender Direktor der Bankkommanditgesellschaft Oechelhäuser & Landi in Berlin. Auf Initiative von L. Albert Hahn, den er aus seiner Freiburger Studienzeit kannte, zog Altschul nach Frankfurt und übernahm dort die Leitung der im Juni 1926 gegründeten Frankfurter Gesellschaft für Konjunkturforschung. 1927 erhielt er an der Frankfurter Universität einen Lehrauftrag für Konjunkturforschung. 1930 wurde Altschul die venia legendi für Volkswirtschaftslehre erteilt. Die Fakultät verzichtete auf die Einreichung einer besonderen Habilitationsschrift. Die öffentliche Antrittsvorlesung hatte Die mathematische Behandlung wirtschaftsdynamischer Probleme zum Thema. Im April 1933 wurde Altschul beurlaubt und ihm durch Verfügung vom 1.9.1933 die Lehrbefugnis entzogen. William Beveridge vermittelte ihm für ein halbes Jahr einen Forschungsauftrag an der London School of Economics, ehe er im Dezember 1933 in die USA ausreisen konnte. Wesley C. Mitchell, dessen Standardwerk Business Cycles Altschul 1931 auf deutsch herausgegeben hatte, verhalf ihm zu einer Stelle beim National Bureau of Economic Research, dem Altschul bis 1939 angehörte. Daneben hatte er bis 1942 eine Gastprofessur an der University of Minnesota inne. Während des Zweiten Weltkrieges war er für verschie-

Altschul, Eugen dene Regierungsstellen tätig. 1946 erhielt er den Harzfdd-Lehrstuhl für Wirtschaftswissenschaften an der University of Kansas City. 1952/53 war Altsclul Gastprofessor der McGill University in Montreal. Seit seinen ersten wissenschaftlichen Studien befaßte sich Altschul mit Fragen der theoretischen Statistik. Neben seiner Dissertation veröffentlichte er 1913 eine programmatische Untersuchung über Die Methode der Stichprobenerhebung, mit der er nachweisen wollte, daB einige in den Naturwissenschaften erprobte mathematischstatistbche Verfahren auch in der sozialwissenschaftlichen Statistik angewandt werden müBten. Eine wissenschaftliche Laufbahn verhinderte unterdessen der Erste Weltkrieg. Altschul hatte 1914 W. Gdessnoffs Lehrbuch Grundziige der Volkswirtschaftslehre aus dem Russischen übersetzt; es konnte jedoch erst 1918 erscheinen. Seinen alten Wunsch wissenschaftlicher Betätigung konnte er sich eist 1926 erfüllen. In den sieben Jahren bis 1933 gehörte er zu den prominenten deutschen Konjunkturforschem, obwohl er mit keiner eigenen Monographie hervorgetreten ist. Das Forum für Altschul war seine Tätigkeit als wissenschaftlicher Leiter der Frankfurter Gesellschaft für Konjunkturforschung. Die Initiative für deren Gründung war von L. Albert Hahn ausgegangen; der Frankfurter Magistrat, die Universität und die Industrie- und Handelskammer waren maßgeblich beteiligt. Für umfassende statistische Untersuchungen reichten die Mittel der Gesellschaft nicht aus; ihre Hauptaufgabe bestand in der Förderung der theoretischen Konjunkturforschung. Altschul sollte selbst wissenschaftlich tätig sein, aufgrund eines Lehrauftrages an der Universität junge Konjunkturforscher ausbilden und schließlich - darin wurde vor allem der Vorteil der Gründung für die beteiligten Wirtschaftsunternehmen gesehen - in regelmäßigen Abständen vor einem Kreise von Praktikern über die jeweilige Konjunkturlage referieren. Ein enges Zusammenwirken mit der Universität war schon bei Gründung der Gesellschaft vorgesehen. Als Altschul 1930 jedoch vorschlug, die Gesellschaft an die Universität anzugliedern, drang er damit nicht durch. Dennoch war allein schon durch die personelle Besetzung der Gremien die Gesellschaft de facto ein Universitätsinstitut für Konjunkturforschung.

Zunächst war Altschul bemüht, durch Aufsätze und Vorträge der Konjunkturforschung zu größerer Popularität zu verhelfen. Wissenschaftliche Arbeiten von ihm sind eher selten, denn er bezog in den Auseinandersetzungen der Praktiker Position. Seine Beiträge erschienen vor allem im Magazin der Wirtschaft, in der Wirtschaftskurve und der Frankfurter Zeitung. In der Zeitschrift für das gesamte Mühlenwesen veröffentlichte er von 1926 bis 1930 monatlich aktuelle Analysen der Wirtschaftslage, 1929 steuerte er solche Beiträge auch für die Mitteilungen der Frankfurter Industrieund Handelskammer bei. Ein 1930 von ihm angekündigtes Werk über Die wirtschaftstheoretischen Grundlagen der Konjunkturpolitik ist nie erschienen. So nützlich solche Beiträge und Vortragsveranstaltungen für die Gesellschaft auch gewesen sein mochten - Reputation erreichten sie erst durch Publikationen, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügten und zum Teil der Konjunkturforschung neue Wege wiesen: die von Altschul herausgegebenen Veröffentlichungen der Frankfurter Gesellschaft für Konjunkturforschung, die zwischen 1929 und 1934 erschienen. In der Reihe sollten insbesondere die wirtschaftstheoretischen Grundlagen der Konjunkturforschung erörtert werden, was die Frankfurter Gesellschaft in einen gewissen Gegensatz zu dem einem extremen Empirismus verpflichteten Institut für Konjunkturforschung in Berlin brachte. Damit begann sich das Profil der Gesellschaft zu wandeln. Zwar bestand an Kritikern der in Deutschland betriebenen Konjunkturforschung kein Mangel. Doch verschaffte die Sorgfalt, mit der die Autoren der Reihe die methodischen Grundlagen der Konjunkturforschung untersuchten, ihr Anerkennung in der konjunkturtheoretischen Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre. Altschul wurde nicht müde, immer wieder die Notwendigkeit der theoretischen Fundiemng der Konjunkturforschung zu betonen. Zwar erkannte er die Notwendigkeit an, sich auf eine breite empirische Basis zu stützen. Indessen wurde es für ihn gerade durch die laufende Wirtschaftsbeobachtung deutlich, daß auf empirischem Wege die Lösung der Aufgabe nicht gefunden werden konnte. Ohne wirtschaftstheoretische Analyse hielt er eine sinnvolle Tatsachenforschung für unmöglich; ebenso betrachtete er die mathematische Statistik als ein unentbehrliches Werkzeug der Konjunkturforschung. Ein kurzer Beitrag in der

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Altschul, Eugen Festschrift für Arthur Spiethoff gehörte 1933 zu Altschuls letzten Veröffentlichungen in Deutschland. Seine Bilanz war ernüchternd, denn er mußte feststellen, daß viele Erwartungen, die an die empirisch-statistische Konjunkturforschung gestellt worden waren, sich nicht erfüllt hatten: „Die Unternehmer haben von der Konjunkturforschung Schutz gegen die Schäden des Rückschlages erwartet, in der Annahme, eine zuverlässige Prognose könnte rechtzeitige Anpassung an die Veränderung der Marktverhältnisse ermöglichen. Statt dessen konnte die Konjunkturforschung nicht einmal immer und vor allem rechtzeitig eine eindeutige Diagnose bieten" (1933a, S. 11). Kurt Riezler, der Kurator der Frankfurter Universität, zählte 1932 Altschul zu den besten Lehrkräften der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Auf dem Gebiet der Konjunkturtheorie sei er ein Mann von internationalem Ruf und Ansehen, reiner Theoretiker und politisch in jeder Beziehung von absoluter Harmlosigkeit. Diese am SchluB merkwürdig anmutende Beurteilung wird vor ihrem Hintergrund verständlicher: Altschul war aufgrund der Bildung des lettischen Staates 1920 staatenlos geworden und bemühte sich um seine Einbürgerung in Deutschland. Mit dem Weg ins Exil erübrigte sich dieses Bemühen. 1939 erhielt er die amerikanische Staatsangehörigkeit. Seine Tätigkeit in den USA deutet auf erhebliche Akkulturationsprobleme hin. Die Veröffentlichungen aus seiner Exilzeit sind spärlich. Mit einer Reihe Studies in Economic Dynamics wollte er an der University of Minnesota die Schriften der Frankfurter Gesellschaft für Konjunkturforschung fortführen. Während der sechs Jahre, die er mit dem National Bureau of Economic Research verbunden war, brachte er in einer Gemeinschaftsarbeit mit Frederick Strauss einen Beitrag im Jahre 1937 heraus. Eine zwei Jahre darauf angekündigte Untersuchung der amerikanischen Landwirtschaft ist offenbar nicht bis zur Publikationsreife gediehen. Altschuls persönliches Schicksal wird ebenfalls eine Rolle gespielt haben: 1939 verlor er seinen Sohn im Alter von dreißig Jahren, 1943 starb seine Frau. In seinen letzten Lebensjahren wandte er sich emeut den methodologischen Problemen zu, die ihn bereits in seiner Jugend beschäftigt hatten; dabei arbeitete er mit seinem Schwiegersohn, dem Mathematiker Erwin Biser, zusammen.

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Schriften in Auswahl: (1913) Die logische Struktur des historischen Materialismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 37, S. 46-87. (1913) Die Methode der Stichprobenerhebung, in: Archiv fur Rassen- und Gesellschaftsbiologie, Bd. 10. S. 110158. (1926) Konjunkturtheorie und Konjunkturstatistik, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 55, S. 60-90. (1928) Moderne Konjunkturforschung in ihrer Beziehung zur theoretischen Nationalökonomie, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 173, Nr. 2, S. 165-184. (1930) Die Mathematik in der Wirtschaftsdynamik, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 63, S. 523-538. (1933a) Aufgabe, Voraussetzungen und Grenzen der empirisch-statistischen Konjunkturforschung, in: G. Clausing (Hrsg.): Der Stand und die nächste Zukunft der Konjunkturforschung. Festschrift für Arthur Spiethoff, München, S. 11-15. (1933b) Beiträge: „Konjunkturbeobachtung", „Konjunkturpolitik" und „Konjunkturtheorie", in: Handwörterbuch des Bankwesens, hrsg. von M. Palyi und P. Quittner, Berlin, S. 307-316. (1937) Technical Progress and Agricultural Depression (zus. mit F. Strauss), New York. (1948) The Validity of Unique Mathematical Models in Science (zus. mit Ε. Biser), in: Philosophy of Science, Bd. 15, S. 11-24. (1954) Probability Models in Modem Physics and Their Methodological Significance for Social Sciences (zus. mit Ε. Biser), in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 166, S. 20-27. Bibliographie: Coenen, E. (1964): La „Konjunkturforschung" en Allemagne 1925 - 1933, Paris/Louvain.

Apel, Hans Quellen: Archiv Universität Frankfurt; Stadtarchiv Frankfun; AER; Cattell, J. (Hrsg.) (1942): Directory of American Scholars, Lancaster, P.A. Bernd Kulla

Apel, Hans, geb. 23.8.1895 in Könitz (Westpreußen), gest. 1989 in Wien Sohn der jüdischen Familie Appelbaum. Nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg studierte Apel von 1919 bis 1921 an der Universität Berlin und übernahm 1925 die Geschäftsführung eines großen Berliner Unternehmens. Apel mußte 1935 über die Niederlande nach Großbritannien emigrieren. 1937 erfolgte die Emigration in die USA. Im Jahre 1942 nahm Apel ein Graduierten-Studium an der Boston University auf, an der er 1945 bei C.P. Huse mit der Arbeit Outline of α Dynamic Theory of Income promovierte. Von 1945 an arbeitete er an der Bostoner Universität zunächst als Lecturer und als Instructor, bis er dort 1947 zum Assistant Professor ernannt wurde. Seine akademische Karriere setzte sich fort als Associate Professor am Middlebury College (1948 bis 1949) und von 1950 bis 1961 als ordentlicher Professor und Chairman der Volkswirtschaftlichen Fakultät der Universität Bridgeport (Connecticut), von der er 1961 emeritiert wurde. Apel lebte und arbeitete später u.a. wieder in Berlin. Er starb 1989 in Wien. Während die Schriften vieler Wissenschaftler vor ihrer Emigration in deutsch und danach - manchmal ausschließlich - in der Sprache ihres Zufluchtlandes abgefaßt wurden, findet sich bei Hans Apel eine umgekehrte Entwicklung. Da er seine wissenschaftliche Karriere erst in den USA begann, waren neben seiner Dissertation die ersten seiner Veröffentlichungen in englischer Sprache abgefaßt. Doch gegen Ende seiner Karriere, insbesondere nach seiner Emeritiemng, veröffentlichte Apel fast ausschließlich auf deutsch. Neben den vier Monographien, die er nach der Emeritierung noch in seiner Muttersprache verfaßte, schrieb er ab Mitte der sechziger Jahre regelmäßig in den Frankfurter Heften. Auch bei der Wahl des Forschungsgegenstandes läßt sich für die späteren Lebensjahre bei Hans Apel ein deutlicher Bruch feststellen. Zunächst veröffentlichte Apel Forschungsarbeiten zu wirtschaftstheoretischen Aspekten auf verschiedenen Gebieten. Seine wichtigste Publikati-

on hierzu erschien 1948 im American Economic Review zur 'cost-curve controversy'. Er analysierte darin die verschiedenen empirischen Studien, wie z.B. die von Hall und Hitch, die den Grenzkostenverlauf der Firma zum Gegenstand haben. Apel lehnte aufgrund der empirischen Schwächen der meisten Arbeiten das dort beschriebene Ergebnis ab, daß die Grenzkostenkurve horizontal verläuft und forderte, bei der konventionellen Auffassung der veränderlichen Grenzkosten zu bleiben. Deshalb kritisierte er auch ausführlich die Implikationen, die Befürworter dieser Studien (wie z.B. Alvin Hansen) hiervon ableiteten. Eine andere relevante wirtschaftstheoretische Arbeit beschäftigte sich mit den Auswirkungen von freiwilligen und staatlichen Beschränkungen der Lohnpolitik bei gleichzeitigem Auftreten von Rezession und Inflation, ein Thema, das erst einige Zeit später unter dem Begriff 'Stagflation' Karriere machen sollte (1960). Behandelt wurde dabei auch eine Modifikation der produktivitätsorientierten Lohnpolitik, die nach Apels Auffassung Unterschiede der sektoralen Produktivitätsniveaus berücksichtigen sollte. Wie so viele Ökonomen, die in dieser Zeit tätig waren, sind auch Apels wissenschaftliche Fragestellungen von Diskussionen im Gefolge der keynesianischen Revolution geprägt. Dies zeigt sich in Apel (1956), worin die wachstumseuphorischen Überlegungen zur Produktivitätsentwicklung mit den Warnungen vor einer möglichen mangelnden effektiven Nachfrage, die die Wachstumspotentiale unausgeschöpft ließe, verknüpft sind. Apels Forschungen wandten sich ab Mitte der sechziger Jahre einem anderen Feld zu. Fragen zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation der sozialistischen Länder und der Vergleich der konkurrierenden politischen Systeme dominierten von da an seine Schriften. Nach seiner Emeritierung 1961 reiste Apel mehrfach in diese Länder, um selber vor Ort Befragungen der Bevölkerung vorzunehmen. Die erste in der Reihe solcher Forschungen ergab sich, als er von 1962 bis 1967 die einem westlichen Beobachter nie zuvor gewährte Gelegenheit erhielt, in unüberwachten und vertraulichen Gesprächen mit fast 1000 Bewohnern der DDR Interviews über deren Lebensverhältnisse zu führen (1965 und 1967). Er kam zu dem Ergebnis, daß man in beiden politischen Lagern jeweils Opfer einer Selbsttäuschung über die Beurteilung der Lebensverhältnisse in

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A pel, Hans den Planwirtschaften war. Im Osten suche man den falschen Vergleich mit westlichen Ländern, die durch ungleiche Startbedingungen auf einem viel höheren Entwicklungsstadium waren, während man sich im Westen einrede, „die 'sozialistische' Gesellschaftsordnung sei unfähig, einen dem westlichen Standard entsprechenden allgemeinen Wohlstand zu schaffen und zu sichern" (1976, S. 20). Apel hielt es seinerzeit für nicht unmöglich, daß der Unterschied im Wohlstand der breiten Massen schon in einem weiteren Jahrzehnt verschwinden könnte. Er betonte in diesem und anderen Aufsätzen, dafi vor allem die Ungleichheit der Einkommensverteilung in den osteuropäischen Ländern wesentlich geringer sei und dafi sich z.B. in der DDR ein relativ hohes Wirtschaftswachstum unter geringeren Schwankungen und ohne Inflation vollzogen habe. Sein Fazit lautete deshalb, daß der Westen dies zur Kenntnis zu nehmen und den „alten schönen Mythos vom völligen Versagen 'sozialistischer' Wirtschaftsplanung endgültig zu begraben" hätte (1976, S. 23). Hinsichtlich der politischen Situation stellte Apel unmittelbar vor der 1967 von der DDR-Führung proklamierten 'Staatsbürgerschaft der DDR' fest, dafi im Gegensatz zu der in der Bundesrepublik verbreiteten Auffassung die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der DDR (nämlich 68-73%) sich mit ihrem Staat und Regime identifizierten (vgl. 1967). Den Erhebungen in der DDR folgten Reisen und Untersuchungen in der CSSR, Rumänien und Bulgarien sowie - für einen direkten Vergleich mit letztgenanntem Land - in Griechenland (1974). Im Alter von immerhin 80 Jahren unternahm Apel noch eine illegale Reise von mehr als sechstausend Kilometern durch die Sowjetunion, auf der er im Geheimen 200 durch eine Zufallsauswahl auf öffentlichen Plätzen, Parks oder in Gaststätten ermittelte Bürger persönlich nach ihren Lebensumständen befragte (1976). Er stellte dabei fest, daß die Behauptung, das US-amerikanische Durchschnittseinkommen sei etwa zehn bis zwanzigmal so hoch wie das sowjetische Einkommen, stark übertrieben sei. Vielmehr betrage das Einkommen eines sowjetischen Durchschnittsbürgers ca. zwei Drittel dessen, was ein Amerikaner durchschnittlich verdient. Der Einschnitt im wissenschaftlichen Wirken Hans Apels, der sich nach der Beendigung seiner akademischen Anstellung in den USA vollzog, ist von nicht geringem Ausmaß. Bewegte sich Apel

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zunächst auf traditionellen wirtschaftswissenschaftlichen Bahnen, so exponierte er sich mit dem Wechsel seines Forschungsgegenstandes politisch in einer Weise, die deutlich gegen die vorherrschende Auffassung insbesondere in der damaligen Bundesrepublik Deutschland gerichtet war. Dennoch liegt es fem, ihm eine generelle Befürwortung der sozialistischen Staaten oder gar eine Anhängerschaft von kommunistischen Ideen zu unterstellen. Vielmehr konnte Apel die politischen Systeme, die Europa in der Mine spalteten, mit einem ideologischen Abstand betrachten, den er aus seiner Emigrationszeit mitbrachte und der ihn 'open-minded' in bester amerikanischer Tradition hatte werden lassen. (Die Zeitschrift Challenge bezeichnete ihn einmal als „frequent contributor of 'troubling' articles" (Juni 1965)). Man gewinnt beim Studium von Apels Schriften vor allem den Eindruck, daß es ihm um Beiträge zum vorurteilsfreien Verständnis der politischen und sozialen Situation der dem anderen System angehörenden Länder ging; auch um damit die potentiellen Gefahren, die aus der Blockkonfrontation enstehen konnten, zu entschärfen. Als politisch unabhängiger Gelehrter scheute sich Apel auch nicht, unorthodoxe Vorschläge zu unterbreiten, wie das z.B. in der Berlin-Frage der Fall war (vgl. 1966). Mit zunehmenden Jahren stand Apel den sozialistischen Ländern jedoch auch politisch immer weniger ablehnend gegenüber, wie seine Ausführungen über die Menschenrechtsfrage zeigen (vgl. 1979). Schriften in Auswahl: (1945) Outline of a Dynamic Theory of Income, Boston University (Diss.). (1948) Marginal Cost Constancy and its Implications, in: American Economic Review, Bd. 38, No. 5, S. 870-885. (1956) Growth Trends in Productivity, Consumption, and Investment, in: Social Research, Bd. 23, S. 127-150. (1960) Prices and Wages in Recession. Legal versus Voluntary Restraints, in: Social Research, Bd. 27, H. 2, S. 157-182. (1965) Ohne Begleiter - 287 Gespräche jenseits der Zonengrenze, Köln. (1966a) Spaltung. Deutschland zwischen Vernunft und Vernichtung, Berlin. (1966b) Wehen und Wunder der Zonenwirtschaft, Köln.

Arndt, Heinz Wolfgang (1967) (1974)

(1976)

(1979)

Die DDR: 1962 - 1964 - 1966, Ber-

Diese Arbeit - lange vor W.A. Lewis' Economic

lin.

Survey 1919 - 1939 (1949) erschienen - war eine

Neue Perspektiven im Wettstreit der

der bedeutendsten systematischen ökonomischen

Systeme, in: Frankfurter Hefte, 29.

Studien über die Zwischenkriegszeit. Für die wirt-

Jg., H. 6, S. 401-413 und H. 7, S.

schaftliche Situation in Europa machte Arndt

499-511.

hauptsächlich den durch die Wirtschaftskrise in

Sowjetischer Lebensstandard. Ergeb-

den USA ausgelösten externen Schock verant-

nisse einer geheimen Umfrage, in:

wortlich, der zu sinkenden Kapitalimporten und

Frankfurter Hefte, 31. Jg.. H. 10, S.

plötzlich abbrechenden Exporten führte. Die ein-

11-23.

setzende deflationäre Spirale wurde in den mei-

Über Menschenrechte, in: Blätter für

sten Ländern durch eine restriktive Finanzpolitik

Deutsche und Internationale Politik,

verschärft. Die nationalen Regierungen reagierten

24. Jg.,S. 1219-1235.

auf die angewachsene Arbeitslosigkeit mit einer

Quellen: BHb I; Biographische Notizen in div. Ausgaben der Frankfurter Hefte. Hagen Krämer

'beggar my neighbour policy', indem sie ihre Außenhandelsbilanz auf Kosten ihrer Handelspartner zu verbessern suchten. Einige Länder versuchten, die Wirtschaft mit 'cheap money' und niedrigen Zinsen wieder anzukurbeln. Beide Maßnahmen

Arndt, Heinz Wolfgang, geb. 26.2.1915 in Breslau Der Vater, Fritz Arndt, Professor für Chemie in Breslau, wurde im April 1933 seiner teilweise jüdischen Herkunft wegen entlassen. Noch im gleichen Jahr wurde er nach England eingeladen, und die Familie emigrierte nach England. In Oxford nahm Heinz W . Arndt bald darauf am Lincoln College das Studium der Philosophie und der Wirtschaftswissenschaften auf, spezialisierte sich jedoch auf die Politischen Wissenschaften und erwarb 1936 den Bachelor of Arts mit first class honours, 1938 den Grad des Bachelor of Literature. Ein Levertiulme Forschungsstipendium ermöglichte ihm die Fortsetzung seiner Studien an der London School of Economics. 1941 erhielt er den Master of Aits und wurde anschließend Research Assistant an dem unter 'Chatham House' bekannt gewordenen Royal Institute of International Affairs (vgl. Eßlinger 1999). Im Auftrag eines Komitees für den Wiederaufbau nach dem Krieg unter dem Vorsitz von Paul N. Rosenstein-Rodan sollte Arndt eine Bestandsaufnahme der ökonomischen Lehren in den dreißiger Jahren anfertigen. Die Kommission, die aus namhaften Ökonomen wie u.a. J.M. Fleming, R.F. Harrod, H.D. Henderson und zeitweilig auch J.E. Meade und Joan Robinson zusammengesetzt war, fand allerdings über das Ergebnis der Studie keinen Konsens und beschloß deswegen, Arndt als Alleinautor von The Economic Lessons of the Nineteen-Thirties (1944) anzugeben. Damit machte Arndt sein Debüt als bald weltbekannter Ökonom.

mußten nach Arndt scheitern, weil die Ursache der Krise in mangelnder effektiver Binnennachfrage begründet lag. Aus der Krisensituation in den 1930er Jahren folgerte Arndt, daß für den geordneten internationalen Ablauf der Weltwirtschaft sowohl nationale Stabilität unter Vollbeschäftigung als auch international abgestimmte Investitions- und Handelsprogramme notwendig seien. Dem ökonomischen Vorteil der internationalen optimalen Arbeitsteilung stehe der soziale und ökonomische Nachteil der Instabilität gegenüber. Es müsse ein politischer Kompromiß gefunden werden zwischen der Unumgänglichkeit von Wandel und Anpassung über Märkte einerseits und dem Wunsch nach einer Reduktion der inhärenten Instabilität des Marktmechanismus andererseits. Arndts Lessons wurden 1963 und 1993 wiederaufgelegt sowie 1949 ins Italienische und 1978 ins Japanische übersetzt. Von 1943 bis 1946 hielt Arndt als Assistant Lecturer von John Hicks an der Universität Manchester die Vorlesungen zu dessen Buch The Social Framework und gab Kurse in makroökonomischer Theorie. Das Angebot einer Stelle als Senior Lecturer an der Universität Sydney führte ihn dann 1946 nach Australien. 1951 wurde er Ordinarius für Ökonomie am Canberra University College, wo er bis 1963 u.a. die Grundlagen der MakroÖkonomik lehrte. Von 1963 bis zu seiner Emeritierung 1980 wirkte er als Professor und Head of Department of Economics der Research School of Pacific Studies an der Australian National University in Canberra.

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Arndt, Heinz Wolfgang Sein politisches Engagement führte Arndt unmittelbar nach seiner Einwanderung zur australischen Arbeiterpartei. Als Mitglied der Fabian Society erachtete er die Umverteilung des Volkseinkommens über ein entsprechend ausgestaltetes Steuersystem fur notwendig. Ein keynesianisches Nachfragemanagement in Verbindung mit Preiskontrollen müBte die immer wiederkehrende Massenarbeitslosigkeit in kapitalistischen Systemen bekämpfen. Im Laufe der Zeit sollte Arndt von dieser Haltung jedoch zunehmend Abstand gewinnen, weil sie sich in seinen Augen für eine Volkswirtschaft wachstumshemmend auswirkt. Bis 1963 war er zusammen mit anderen 'Senior Professional Economists' informeller Berater der australischen Zentralbank. 1953 bekleidete Arndt an der University of South Carolina eine Gastprofessur. Auf dem Flug dorthin lernte er Gunnar Myrdal kennen, der Arndts Interesse auf Fragen des wirtschaftlichen Wachstums und der Entwicklung lenkte. 1960 leitete er auf Empfehlung Myrdals eine Studie der ökonomischen Kommission der Vereinten Nationen UN-ECE in Genf über Wachstum in Europa. Zeitweilig beriet er im Bereich Entwicklungspolitik tätige Unterorganisationen der Vereinten Nationen (UNCTAD, UNIDO). 1972 leitete er als Deputy Director den Bereich Länderstudien bei der OECD in Paris und verfaBte selbst die erste Studie über Australien. Von 1969 bis 1975 war er Mitglied des Governing Council des United Nations Asian Institute for Economic Development and Planning und 1980 Chairman der Expert Group on Structural Change and Economic Growth des Commonwealth-Sekretariats. 1965 gründete Arndt das Bulletin of Indonesian Economic Studies, dessen Herausgeber er bis 1983 blieb. Bis 1975 hat er zwanzig Jahre lang den Economic Record redaktionell begleitet. Seit 1987 betreut er die Zeitschrift Asian-Pacific Economic Literature, ein Forum für Ökonomen im asiatisch-pazifischen Raum. Im September 1994 ehrte ihn die Economic Society of Australia als einfluBreichsten Entwicklungsökonomen Australiens. Arndts Lebenswerk kann unter drei jeweils erweiterten Blickwinkeln gesehen werden. Die erste Sicht stellt Arndt als australischen Ökonomen dar. Im Laufe der Zeit nickte er immer mehr entwicklungsökonomische Aspekte in den Vordergrund, die ihn schließlich zu einem bekannten Entwicklungsökonomen werden ließen (vgl. 1993; vgl. auch Groenewegen/McFarlane 1990, S. 180-184).

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In seinem Spätwerk hingegen beschäftigt er sich mit der Dogmengeschichte des langfristigen Wachstums. Darüber hinaus galt Arndts Interesse seit Anfang der 1940er Jahre dem Gebiet der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Einen umfassenden Überblick über diese Arbeiten bietet seine Aufsatzsammlung Essays in International Economics, 1944 - 1994 (1996). In seiner Antrittsrede am Canberra University College 1951 mit dem Titel The Unimportance of Money und dreier darauf aufbauender Vorlesungen an der Universität von Istanbul reduzierte Arndt in seiner damaligen orthodox keynesianischen Sichtweise die Rolle der Geldpolitik auf Gewährleistung einer ausreichenden Kreditversorgung. Sein Lehrbuch The Australian Trading Banks (1960) blieb in der überarbeiteten zweiten Auflage, der noch weitere Neuauflagen folgten, bis zur Bankenreform 1980 ein Standardnachschlagewerk über das Finanzsystem. Darin finden sich kritische Gedanken und Vorstellungen zu den wechselseitigen Beziehungen zwischen Bankensystem, Kapitalmarkt und der australischen Geldpolitik. Seine frühere, interventionistische Haltung in der Wirtschaftspolitik betrachtet Arndt heute in einem dogmenhistorischen Kontext. Anläßlich eines bei der Australischen Nationalbank gehaltenen Vortrage revidierte er seine früheren Annahmen und betonte die zentrale Bedeutung der Geldpolitik für die kurzfristige Stabilisierung der Ökonomie, die Inflationsbekämpfung und die Erzielung eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts (vgl. 1992, S. 34f.). Hierin wird nicht nur seine Abkehr von linkskeynesianischen Positionen in der Geldpolitik deutlich, sondern auch die Zeitgebundenheit des ökonomischen Denkens. Zahlreiche Beiträge Arndts in den fünfziger und frühen sechziger Jahren beschäftigten sich insbesondere mit Stabilität, Wachstum und Entwicklung der jungen Industrienation Australien. Das Land sah sich typischen Entwicklungsproblemen ausgesetzt. Im wesentlichen litt es an einem inflationären Druck aufgrund der Überbeschäftigungssituation im industriellen Sektor und an massiven Zahlungsbilanzungleichgewichten. Das entscheidende Merkmal der australischen Wirtschaftspolitik war Protektionismus: Einfuhrzölle auf industrielle Fertigprodukte zur Kompensation der in zentralisierten Verhandlungen festgesetzten hohen Löhne.

Arndt, Heinz Wolfgang Noch bevor die Labour Party 1972 die lange konservative Ära in Australien für drei Jahre unterbrach, beendete Arndt seine Mitgliedschaft in der Partei. Er wandelte sich vom jungen Marxisten und langjährigen Keynesianer insbesondere im Hinblick auf weniger entwickelte Länder zum Vertreter der marktliberalen monetaristischen Theorie. Ein Sammelband seiner Werke über Australien, A Small Rich Industrial Country (1968) betont die besondere geographische Lage Australiens. Diese führe jedoch zu einer ebensolchen Verantwortung für eine Zusammenarbeit im südpazifischen Raum. Hier wird der allmähliche Wandel von einem spezifisch australischen zu einem eher südostasiatischen und pazifischen Denken deutlich. Mit zunehmender Mathematisierung der Theorie und komplizierter werdenden ökonometrischen Testverfahren wählte Arndt verstärkt das Gebiet der angewandten Feldstudie für seine Arbeit. Seine eher praxisorientierte Vorgehensweise und sein Interesse an Indonesien ließen ihn zu einer Autorität in der Entwicklungsökonomik werden. Zahlreiche Artikel im Bulletin of Indonesian Studies geben davon Zeugnis. Das Bulletin beginnt stets mit einem „Survey of Recent Developments". Mit der Machtübernahme durch Präsident Suharto war es der indonesischen Regierung gelungen, das Land ökonomisch zu stabilisieren und wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Von 1966 bis 1981 verfaßte Arndt 17 Surveys, die diese Entwicklung dokumentierten und zu deren Fertigstellung er zu Beginn jeweils vier und später zwei Wochen Indonesien bereiste. Arndt erweiterte die Theorie der internationalen Kapitalbewegungen um die Wicksellsche Unterscheidung in Markt- und natürlichen Zins. Überaus hohe Geldmarktzinsen, bedingt durch enorme Risikoprämien aus Mangel an kredittechnischen Institutionen in Entwicklungsländern, behinderten die Investitionstätigkeit. Kapitalakkumulation werde durch zu kleine Märkte wegen der geringen pro-Kopf-Einkommen und durch mangelnden Unternehmergeist erschwert. Eine Möglichkeit zur Durchbrechung dieses Teufelskreises der Armut sah Arndt in staatlich unterstützten Investitionen multinationaler Unternehmungen. Für Entwicklungsländer mit ihrer typischerweise unelastischen Angebotsstruktur und kreditrationierten Finanzmärkten sei eine rein keynesianische Politik des Demand Management verfehlt.

Ende der 1960er Jahre wandte sich die Entwicklungsökonomik von der Importsubstitution als Wachstumsstrategie der Entwicklungsländer allmählich ab. Befürwortet wurden verstärkt exportorientierte Strategien. Die von Raul Prebisch und -» Hans W. Singer aufgestellte These von der säkularen Verschlechterung der Terms of Trade und Myrdals Ansicht, internationaler Handel verstärke Ungleichgewichte zwischen unterschiedlich entwickelten Regionen, weil sich im Zentrum positive und in der Peripherie negative Effekte kumulieren, verlangten nach einer schnellen Industrialisierung der Entwicklungsländer, die durch Abschirmung junger Industrien nach außen erreicht werden sollte. Doch die für das Wachstum der jungen Volkswirtschaften unersetzbaren Importe konnten nicht ausreichend durch Exporte finanziert werden. Mit der Idee des 'General Scheme of Tariff Preferences' stellte Arndt dar, welche Güter die Industrieländer neben Rohstoffen von den Entwicklungsländern einführen sollten, damit massive Zahlungsbilanzprobleme vermieden werden konnten. Andererseits bestand die Gefahr, daB durch die Abschirmung vor internationaler Konkurrenz die Produkte der Entwicklungsländer international nicht wettbewerbsfähig waren. Arndt wies daher auf die zu kleinen, zollgeschUtzten nationalen Märkte der Dritten Welt hin, denn ihnen fehle der Zwang zum effizienten Wirtschaften und die effektive Nachfrage zur Nutzung von Skalenerträgen in der Produktion. Die Strategie der Importsubstitution raube der inländischen Wirtschaft jene Dynamik, die die kleinen Tiger im asiatischen Raum in der Tradition Japans demonstrierten. In den achtziger Jahnen publizierte Arndt einige Arbeiten, die sich im historischen Überblick mit Wachstum und Entwicklung auseinandersetzten. In The Origins of Structuralism (1985) verortete er den Ursprung des insbesondere in Lateinamerika vertretenen strukturalistischen Ansatzes bei den linken Exponenten dieser Ideen in der britischen Planung- vs. Marktdebatte der 1930er und 1940er Jahre. Der Erste Weltkrieg hatte der Weltwirtschaft einen radikalen Bruch im stetigen strukturellen Wandel gebracht. Außerordentliche außenwirtschaftliche Ungleichgewichte hatten sich aufgebaut. In dieser Situation versagte der Marktmechanismus in drei Bereichen: (1) monopolistisch verzerrte Preise setzten falsche 'Signale', (2) die Produktionsfaktoren reagierten auf Preissignale ungenügend oder gar pervers und (3)

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Arndt, Heinz Wolfgang die Produktionsfaktoren erwiesen sich als immobil (vgl. 1985, S. 151f.). Dieses Marktversagen hatte Arndt bereits in den Lessons (1944, S. 9 und 293) analysiert und damals Maßnahmen der staatlichen Wirtschaftsplanung vorgeschlagen, um diese Störungen zu beseitigen (vgl. ebd., S. 297). Somit hatte er, wie er rückblickend eher verlegen formulierte, die erste vollständige Darlegung jener Theorie geliefert, die später als Strukturalismus bekannt wurde (vgl. 1985b, S. 152), denn das Versagen der Marktkräfte, insbesondere des Preismechanismus, führte auch in den Strukturalismushypothesen der 1950er Jahre zur Forderung nach administrativen Maßnahmen mit Eingriffen in die Produktionsstmktur der Entwicklungsländer. Das Werk The Rise and Fall of Economic Growth (1978) dokumentiert die geschichtliche Entwicklung der gesellschaftlichen Beurteilung von wirtschaftlichem Wachstum in den Industrieländern. Es führt von Adam Smith über das 19. Jahrhundert bis in die frühen 1970er Jahre, in denen die Grenzen des Wachstums in den Vordergrund nickten. Am Ende plädierte Arndt für fortgesetztes Wachstum, wenn auch mehr in qualitativer als in quantitativer Hinsicht. 1987 griff er dieses Thema mit Blick auf die Entwicklungsländer in Economic Development - The History of an Idea erneut auf. Es bliebe der Dritten Welt als der großen Verliererin der 1980er Jahre allein anhaltendes Wachstum zur Steigerung des oft menschenunwürdigen Lebensstandards übrig. Stete Modernisierung durch laufende Verwendung neu entwikkelter Gerätschaften und Techniken solle auf der Mikroebene ein breites sozial ausgerichtetes Wachstum ermöglichen. Bildung, Infrastruktur und ökonomische Institutionen zur Förderung moderner Technologien würden ein 'Sustainable Growth' gewährleisten. Die Emigration erlaubte Arndt zuerst eine Ausbildung in Oxford, dann die für ihn äußerst fruchtbare Zusammenarbeit mit großen Ökonomen seiner Zeit und schließlich von Australien aus ein großes Engagement im asiatisch-pazifischen Raum auf entwicklungsökonomischem Gebiet. Die Aussparung mathematischer und quantitativer Techniken verhalfen seinen anregenden Ideen zu einer über die akademische Fachwelt hinausgehenden Verbreitung.

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Schriften in Auswahl: (1944) The Economic Lessons of the Nineteen-Thirties. Α Report Drafted by H.W. Arndt. Issued under the Auspices of the Royal Institute of International Affairs, London. (1951) The Unimportance of Money. Inaugural Lecture. Canberra University College, Canberra. (1954) A Suggestion for Simplifying the Theory of International Capital Movements, in: Economia Intemazionale, Bd. 7, S. 469-481. (1960) The Australian Trading Banks, 2.

(1968)

(1978)

(1985a) (1985b)

(1987) (1992)

(1993) (1996) (1997)

Aufl., Melbourne; 4. Aufl. 1973, 5. Aufl. 1975. A Small Rich Country. Studies in Australian Development, Trade and Aid, Melbourne. The Rise and Fall of Economic Growth. A Study in Contemporary Thought, Melbourne. A Course Through Life: Memoirs of an Australian Economist, Canberra. The Origins of Structuralism, in: World Development, Bd. 13, S. 151159. Economic Development - The History of an Idea, Chicago. Comments on Mr. Fraser, in: Economic Papers. Economic Society of Australia, Bd. 11, Nr. 4, S. 33-35. 50 Years of Development Studies, Canberra. Essays in International Economics, 1944 - 1994, Aldershot. Economist Down Under, in: H. Hagemann (Hrsg.), Zur deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, Marburg, S. 151176.

Bibliographie: Drake, P./Gamaut, R. (1995): H.W. Arndt - Distinguished Fellow, in: The Economic Record, Bd. 71, S. 1-7. Eßlinger, H.U. (1999): Entwicklungsökonomisches Denken in Großbritannien. Zum Beitrag der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, Marburg.

Aubrey, Henry G. Groenewegen. P./McFarlane, B. (1990): A History of Australian Economic Thought, London/New York. Lewis, W.A. (1949): Economic Survey 19191939, London. Quellen: BHb II; AEA; NP. Christian Braun

Aubrey, Henry G., geb. 6.4.1906 in Wien, gest. 1.3.1970 in Bronxville, New York Aubrey promovierte 1928 an der Universität Wien zum Dr.rer.pol. Nach der Emigration nach Großbritannien, wo er als Regional Manager einer Londoner Gummifirma beschäftigt war, kam er 1939 in die USA. Bis 1950 war er in der Leitung zweier Privatuntemehmen in New York tätig, unterbrochen durch den Militärdienst in der U.S. Navy von 1943 bis 1945. Er nahm 1946 parallel zu seiner privatwirtschafUichen Tätigkeit ein Postgraduiertenstudium an der New School for Social Research auf, das er 1949 abschloB. Aubrey, der bis auf seine letzten Lebensjahre keine feste universitäre Anstellung hatte, war in den 1950er Jahren hauptsächlich als Berater und Ökonom bei nationalen und internationalen Organisationen und Institutionen tätig. In den Jahren 1950 und 1952/53 arbeitete er als Consultant des Department of Economics bei den Vereinten Nationen, wechselte danach als Economist ins Research Department der Federal Reserve Bank of New York und leitete von 1956 bis 1959 ein Forschungsprojekt im Bereich der Economics of Competitive Coexistence der National Planning Association. 1959 bis 1966 war er Visiting Research Fellow des Council of Foreign Relations und danach Senior Fellow des European Institute der Columbia University. Neben seiner Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung war Aubrey als Gastprofessor in der akademischen Lehre und Forschung tätig. Von 1950 bis 1952 hatte er eine Stelle als Research Associate am Institute of World Affairs der New School inne. An deren Graduate Faculty lehrte er ab 1950 auch regelmäßig als Visiting Lecturer und später als Visiting Professor. 1961/62 erhielt er an der Columbia University zunächst ein Visiting Professorship, dann jedoch die Stelle eines Adjunct Professor. Er wechselte 1965 ans Sarah Lawrence College in Bronxville, NY, wo er bis zu

seinem Tode eine Position als Professor of Economics innehatte. Aubreys wissenschaftliche Publikationen konzentrieren sich auf den Bereich der Entwicklungsökonomie und die damit eng verbundenen Gebiete der internationalen Handelsbeziehungen sowie der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Obwohl er in die rein akademischen Forschungsinstitutionen nur locker eingebunden war, sind seine Arbeiten durch originelle und innovative Einsichten gekennzeichnet. Im Rahmen des Forschungsprojekts Financing World Economic Development am Institute of World Affairs entstanden einige Aufsätze (1949,1951a und b), von denen insbesondere Small Industry in Economic Development (1951a) die in der frühen entwicklungsökonomischen Diskussion weitgehend vernachlässigten Entwicklungsmöglichkeiten durch den Auf- und Ausbau der Kleinindustrie thematisierte - eine Entwicklungsstrategie, die erst durch -» E. F. Schumachers Small is Beautiful (1973, insbes. S. 186 ff.) zwei Jahrzehnte später „populär" wurde. Unter Berücksichtigung der spezifischen ökonomischen Voraussetzungen in den Entwicklungsländern - wenig entwickelte Kapitalmärkte, Kapitalknappheit, die zu geringe Zahl ausreichend qualifizierter Arbeitskräfte - empfahl Aubrey den „größtmöglichen Einsatz dezentralisierter kleinindustrieller Einheiten" (1951a, S. 297). Im Gegensatz zu den kapitalintensiven Industrialisierungsstrategien des sowjetischen Typs, die staatliche Zwangsmaßnahmen und einen außerordentlich hohen Planungsaufwand erforderten, sah er die Möglichkeit, auf lokaler Ebene kleinere, ansonsten ungenutzte Kapitalmengen für die (Klein-)Industrialisierung zu mobilisieren, dadurch den Gesamtkapitalbestand zu erhöhen und gleichzeitig die Gemeinkosten für den Planungs- und Verwaltungsapparat zu senken. Ferner sei durch die arbeitsintensiveren Produktionsmethoden bei einem begrenzten Kapitalangebot ein höherer Gesamtoutput (S. 297) sowie die Steigerung der effektiven Nachfrage möglich (S. 304). In seinen beiden Beiträgen Investment Decisions in Underdeveloped Countries (1955b) und Industrial Investment Decisions (1955a) untersuchte Aubrey die ökonomischen, organisatorischen und institutionellen Determinanten von Investitionsentscheidungen in Entwicklungsländern. Er sah den ursprünglichen Schumpeterschen Typ des 'innovativen' Unternehmers in den Entwicklungsländern durch den Typus des 'adaptiven' Untemeh-

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Aumann, Robert John mers ersetzt, dessen Leistung im Herausfinden und Anwenden der am besten geeigneten unter den bereits bekannten Technologien bestehe (1955b, S. 400 ff.). Aubrey argumentierte dann auf der Grundlage erhöhter Unsicherheit und eines höheren Investitionsrisikos des individuellen Unternehmers in Entwicklungsländern, der sich neben kleinen Absatzmärkten auch Restriktionen auf der Inputseite des Unternehmens gegenübersehe (1955b, S. 423 ff.). So sei es also, wie auch -» Hirschman (1958, S. 3) betonte, nicht ein genereller Mangel an (Schumperterschen) unternehmerischem Potential, der eine rasche Industrialisierung behindere. Vielmehr wandere das unternehmerische Potential aus Gründen der Unsicherheit und verkürzter Planungshorizonte zu vertrauteren kleingewerblichen Tätigkeiten, v.a. im Bereich des Handels, ab (1955a). In seinen späteren Arbeiten widmete sich Aubrey verstärkt den außenwirtschaftlichen Aspekten von Industrialisierungs- und Wachstumsprozessen, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis der USA zu Entwicklungsländern (bereits 1955c), Westeuropa und Asien (1957, 1964). Er ergänzte damit seine frühen entwicklungsökonomischen Arbeiten um die Komponente des Außenhandels, die er unter dem zu Beginn der 1950er Jahre dominierenden Industrialisierungsansatz weniger ausführlich thematisiert hatte.

(1955c)

(1957) (1959)

(1964)

(1969)

The Long-term Future of United States Imports and its Implications for Primary-producing Countries, in: American Economic Review. Papers and Proceedings, Bd. 45, S. 270-287. United States Imports and World Trade, Oxford. Soviet Trade, Price Stability and Economic Growth, in: Kyklos, Bd. 12, S. 290-299. The Dollar in World Affairs. An Essay in International Financial Policy, New York/Evanston. Behind the Veil of International Money, Princeton.

Bibliographie: Schumacher, E. F. (1973): Small is Beautiful. Economics as if People Mattered, Reprint, New York u.a. 1989. Hirschman, A. O. (1958): The Strategy of Economic Development, New Haven. Quellen: American Men of Science, Bd. 3; Who's Who in the East, 1959; Nachruf in der NY Times, 6.3.1970; CV Aubrey (bis 1960). Hans Ulrich Eßlinger

Aumann, Robert John, geb. 8.6.1930 in Frankfurt a.M.

Schriften in Auswahl: (1949) Deliberate Industrialization, in: Social Research, Bd. 16, S. 158-182. (1951 a) Small Industry in Economic Development, in: Social Research, Bd. 18, S. 269-312. (1951b) The Role of the State in Economic Development, in: American Economic Review. Papers and Proceedings, Bd. 41, S. 266-279. (1955a) Industrial Investment Decisions. A Comparative Analysis, in: Journal of Economic History, Bd. 15, S. 333351. (1955b) Investment Decisions in Underdeveloped Countries, in: Capital Formation and Economic Growth, hrsg. vom National Bureau for Economic Research, New York (= Special Conference Series, No. 6), Princeton, S. 397-440.

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1938 emigrierte Aumann in die Vereinigten Staaten. Am ΜΓΓ, Cambridge, Mass. studierte er Mathematik. Seinen Ph.D. in Mathematik Schloß er 1955 zum Thema Knot Theory bei G.W. Whitehead ab. 1956 ging er als Dozent an die mathematische Fakultät der Hebrew University in Jerusalem, wo er 1964 Associate Professor wurde. Seit 1968 hat er dort einen Lehrstuhl inne. Seine Tätigkeit an der Hebrew University in Israel verbindet Aumann mit ständigen Forschungsaufenthalten in den USA. 1960/61 war er Forschungsassistent an der Princeton University; später hatte er eine Vielzahl von Gastprofessuren inne (etwa an der Yale University 1964/65; am Mathematical Sciences Research Institute in Berkeley, in Stanford etc.). Seit 1969 ist er regelmäßiger Gast am CORE (Center for Operations Research and Economics), Louvain, Belgien. In den Jahren 1963 und 1968 arbeitete Aumann bei der RAND Corporation in Santa Monica. Für die US Arms Control and Disarmament Agency wendete

Aumann, Robert John er spietheoretische Modelle auf Abriistungsfragen an Seit 1965 ist er Fellow der Econometric Societj. 1988 verlieh die Universität Bonn ihm die Ehrendoktorwürde; 1989 erhielt er von der Univeriti Catholique de Louvain den Ehrendoktor. Nicht ziletzt sein Interesse an politischen und sozialen fragen hat den Mathematiker Aumann zur Beschätigung mit der Spieltheorie inspiriert. Aumann k einer der fuhrenden Vertreter dieser Disziplin ρ worden. Er hat zum einen eine ganze Reihe gruidlegender Beiträge zur Entwicklung der Spielthiorie geliefert. Zum anderen hat er es aber auch inmer verstanden, in bemerkenswerter Klarheit de wesentlichen spieltheoretischen Ideen auch dsn mathematisch weniger versierten Ökonomennahe zu bringen (vgl. etwa den inspirierenden Alfsatz: What is game theory trying to accomplih? (1986)). Zusammen mit Sergiu Hart ist er Heraisgeber des zweibändigen Werkes Handbook qj Game Theory (1993). Sein intellektuelles Intereste an Fragen des Judentums führte zu dem gemeiisam mit Michael Maschler verfaßten Aufsatz Gone theoretic analysis of a bancruptcy problem fnm the talmud (1985a). In seintm Aufsatz Markets with a continuum of traders (1964) weist Aumann nach, daB der 'Kem' siner Ökonomie mit der Menge aller Wettbewertsgleichgewichte zusammenfällt, wenn man ein 'lOnbnuum von Wirtschaftssubjekten' betrachtet Schon Edgeworth zeigte, da£ unter bestimmtm Bedingungen der Kern (von ihm unter dem Begriff Kontraktkurve analysiert) zur Menge aller Gfeichgewichtsallokationen bei vollkommener Kcnkurrenz schrumpft, wenn die Zahl der Teilnehmer gegen unendlich strebt. Scarf und Debreu virallgemeinerten das Konvergenzresultat. Aumaiu verband die Idee von Scarf und Debreu mit eitern Konzept atomloser Wirtschaftssubjekte, dis von Shapley zur Analyse von Wahlverhalten altwickelt wurde. Dadurct, daB die Zahl der Wirtschaftssubjekte von Aimann von vornherein als stetig modelliert wurde, läBt sich mit Hilfe der Maßtheorie die Beziehung der Konzepte Wettbewerbsgleichgewicht und Kern unter ganz allgemeinen Bedingungen sehr eiifach ableiten. Wenn auch auf den ersten Blick de Modellierung der Wirtschaftssubjekte als atonlose Masse etwas seltsam erscheint, so verdeuticht sie doch mathematisch exakt, unter weichet Bedingungen kompetitives Verhalten überhaipt sinnvoll modelliert werden kann: näm-

lich genau dann, wenn ein einzelner keinerlei Einfluß auf die gesamtwirtschaftliche Allokation besitzt. Sein Gewicht und damit die Möglichkeit, durch strategische Manipulation Macht auszuüben, ist dann gleich null. Die Konvergenzanalyse mit diskreter Zahl von Wirtschaftssubjekten unterstellte dagegen immer, daß eine gegebene Anzahl von Typen von Wirtschaftssubjekten unendlich oft repliziert wird - eine ökonomisch sehr restriktive Annahme. Schließlich würde dies bedeuten, daß es immer sehr viele identische Individuen geben muß, damit das Konvergenzresultat zutrifft. Erst Hildenbrand (1974) gelang es, auf diese Annahme zu verzichten - allerdings erfordert das erheblich komplexere mathematische Methoden. Das zweite grundlegende Lösungskonzept für kooperative Spiele neben dem Kern ist der sogenannte 'Shapley-Wert'. Der Shapley-Wert ordnet jedem Spieler in Verhandlungssituationen einen Machtindex zu. Aumann (1975) zeigt, daß bei atomlosen Wirtschaftssubjekten im allgemeinen die Menge der Allokaüonen des Shapley-Wertes mit der Menge der Wettbewerbsallokationen zusammenfällt. Dies bedeutet, daß der Nutzen jedes Wirtschaftssubjektes gerade dem marginalen Beitrag entspricht, den er zur Wohlfahrt der Koalition aus allen Wirtschaftssubjekten leistet. Dieses Resultat, das zunächst (1974) für den Fall transferieibarer Nutzen abgeleitet wurde, hat Aumann (1975) auch auf Spiele mit nicht transferierbarem Nutzen erweitert. Das Konzept des Shapley-Wertes bei einem Kontinuum von Wirtschaftssubjekten wurde von ihm angewendet auf die Frage, welchen Wert eine Wahlstimme bei der Abstimmung über öffentliche Güter besitzt (1987b). Die meisten seiner Beiträge bestehen freilich nicht in Anwendungen der vorhandenen Instrumente, sondern gerade in der Weiterentwicklung des spieltheoretischen Instrumentariums. Aumann versteht die Spieltheorie als ein Analyseinstrument. Nicht nur bei kooperativen Spielen, sondern auch bei nichtkooperativen Spielen hat Aumann maßgeblich zu dessen methodischer Weiterentwicklung beigetragen. Aufbauend auf Arbeiten von Harsanyi zu Spielen mit unvollständiger Information entwickelte Aumann (1987a) das Konzept des 'korrelierten Gleichgewichts'. Ausgangspunkt war die Frage, welche Lösung eines nichtkooperativen Spiels zu erwarten ist, wenn die Spieler die Strategiewahl ihrer Mitspieler nicht kennen. Lange Zeit wurden Nashgleichgewichte als einzig mögliche Lösung angesehen. Wie Au-

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Baade, Fritz mann zeigt, ist jedoch die Menge möglicher Gleichgewichte größer als die der Nashgleichgewichte. Wenn alle Spieler sich als rationale Bayes-Spieler verhalten und gemeinsame Ausgangswahrscheinlichkeiten über die mögliche Strategiewahl der Mitspieler besitzen, ergeben sich als Lösung die Gleichgewichte in korrelierten Strategien. Grundlage der Analyse ist die exakte Spezifikation des gemeinsamen Wissens aller Spieler. Die Idee 'gemeinsamen Wissens' hat Aumann (1976) als erster formalisiert, angeregt durch die Arbeiten des Philosophen Lewis: Offensichtlich hänge mein Verhalten als Spieler stark von meinem Wissen darüber ab, was der Gegenspieler weiß und was dieser wiederum weiß, daß ich weiß, usw. Die Modellierung gemeinsamen Wissens hat sich als äußerst fruchtbar erwiesen. Sie ermöglicht es zu untersuchen, welche Lösungen denkbar sind, wenn jeder Spieler nur weiß, daß die anderen Spieler sich rational verhalten (rationalisierbare Strategien). Sie ermöglicht es aber auch zu analysieren, welche Lösungen denkbar sind, wenn rationales Verhalten nicht Teil des gemeinsamen Wissens ist. Dies ebnet den Weg zu neuen Ansätzen bei der Modellierung beschränkter Rationalität (1989). Schriften in Auswahl: (1964) Markets With a Continuum of Traders, in: Econometrica, Bd. 32, S. 3950. (1974) Values of Non Atomic Games, (zus. mit L.S. Shapley), Princeton. (1975) Values of Markets With a Continuum of Traders, in: Econometrica, Bd. 43, S. 611-646. (1976) Agreeing to Disagree, in: Annals of Statistics, Bd. 4, S. 1236-1239. (1985a) Game Theoretic Analysis of a Bancruptcy Problem from the Talmud, (zus. mit Μ. Maschler), in: Journal of Economic Theory, Bd. 36, S. 195213. (1985b) What is Game Theory Trying to Accomplish?, in: Frontiers of Economics, hrsg. von K. Arrow und S. Honkapohja, Oxford, S. 28-76. (1987a) Correlated Equilibrium as an Expression of Bayesian Rationality, in: Econometrica, Bd. 55, S. 1-18.

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(1987b)

(1989)

(1993)

Power and Public Goods, (zus. mit Μ. Kurz und A. Neyman). in: Journal of Economic Theory, Bd. 42. S. 108127. Cooperation and Bounded Recall. (zus. mit S. Sorin), in: Games and Economic Behaviour, Bd. 1, S. 5-39. Handbook of Game Theory, (zus. mit S. Hart), Amsterdam.

Bibliographie: Hildenbrand, W. (1974): Core and Equilibria of a Large Economy, Princeton. Quelle: Korrespondenz mit R.J. Aumann. Gerhard Illing

Baade, Fritz, geb. 23.1.1893

in Neuruppin bei Potsdam, gest. 15.5.1974 in Kiel

Als Absolvent des berühmten Schulpforta-Gymnasiums nahm Baade 1912 in Göttingen das Studium der klassischen Philologie auf. In Berlin und Heidelberg wechselte er zur Kunstgeschichte, Literatur und Theologie. Christlich erzogen - sein früh verstorbener Vater war Seminardirektor in Neuruppin - Schloß sich Baade der jungsozialistischen Bewegung an. Zum Ende des Ersten Weltkriegs, an dem er als Kriegsfreiwilliger teilnahm, immatrikulierte sich Baade in Münster als Student der Medizin. Im November 1918 wurde der Unteroffizier Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates in Essen. Der damalige Oberbürgermeister von Essen und spätere Reichskanzler Luther drängte ihn zum Studium der Volkswirtschaftslehre, das er 1919 in Göttingen aufnahm. Im Dezember 1923 wurde Baade mit einer Arbeit über das Thema Die Wirtschaftsform des Großbetriebes in vorkapitalistischer Zeit (1923b) bei J.B. Eßlen in Göttingen promoviert. Seit November 1923 war Baade als Berichterstatter über Landwirtschaft regelmäßiger Mitarbeiter der Zeitschrift Sozialistische Monatshefte, in der er seinen ersten Artikel über Die deutsche Landwirtschaft nach dem Kriege (1923a) veröffentlichte. Reichsminister Hilferding veranlaßte, daß Baade von 1925 bis 1929 (zusammen mit -» Fritz Naphtali) die Leitung der Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik der SPD sowie des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes übernahm. In diese Zeit fallen wichtige Arbeiten Baades, so z.B. das 1926 auf dem SPD-Parteitag im Kieler

Baade, Fritz Gewerkschaftshaus verabschiedete Sozialdemokratische Agrarprogramm, an dem er maßgeblich mitgewirkt hatte. In zwei Unterausschüssen des Enquete-Ausschusses wurde er Mitglied (Allgemeines und Agrarwirtschaft). In der Zeitschrift Berichte über Landwirtschaft veröffentliche Baade einen heftig diskutierten Artikel über die Neugestaltung der deutschen Branntweinwirtschaft (1927), der eine fundamentale Reform der seinerzeitigen Gesetzgebung vorschlug. Für die Weltwirtschaftskonferenz, die 1927 in Genf tagte, verfaßte Baade eine grundlegende Arbeit über Die Produktions- und Kaufkraftreserven in der europäischen Landwirtschaft und ihre Bedeutung für die Gesamtwirtschaft der europäischen Industrieländer, die Beachtung fand. Aus seiner Arbeit im Enquete-AusschuB heraus wurde Baade zum Leiter der neugeschaffenen Reichsforschungsstelle für landwirtschaftliches Marktwesen berufen. Während dieser Zeit entstanden in der Forschungsstelle grundlegende Untersuchungen über die Neugestaltung der deutschen Agrar- und Ernährangspolitik. Ende 1929 wurde Baade Kommissar der Reichsregierung bei der Deutschen Getreidehandelsgesellschaft, 1930 übernahm er einen Lehrauftrag an der Universität Berlin und wurde Vorsitzender der deutsch-polnischen Roggenkommission. Im selben Jahr kam er als SPD-Abgeordneter für den Wahlkreis Halle-Merseburg in den Reichstag, in dem er bis 1933 verblieb. In einer Artikelserie in der von -» Gustav Stolper herausgegebenen Zeitschrift Deutscher Volkswirt (1931) legte Baade als Leiter der damals umstrittenen Roggenpolitik die Grundsätze dieser Politik dar, nachdem er bereits 1928 an gleicher Stelle eine vielbeachtete Arbeit über die Entwicklungsmöglichkeiten der europäischen Landwirtschaft veröffentlicht hatte, die aus heutiger Sicht als Vorarbeit zu der Idee einer europäischen Agrarunion anzusehen ist. Die Funktion als Reichskommissar kann wohl als Höhepunkt der Tätigkeiten Baades vor dem Zweiten Weltkrieg angesehen werden. Während dieser Tätigkeit entstand 1930 Baades Schweinefibel, eine für die bäuerliche Praxis konzipierte Anleitung zum Verständnis des Hanauschen Schweinezyklus. Zwei Jahre später, 1932, erschienen Arbeiten über Das System der agrarpolitischen Mittel (1932a) sowie Verbrauchereinkommen und Landwirtschaft (1932c).

Aber Baade beschäftigte sich in den Jahren vor 1933 nicht nur mit agrarpolitischen Fragen. 1932 veröffentlichte er - zusammen mit Fritz Tamow und Wladimir Woytinsky - eine Schrift, in der er die Brüningsche Deflationspolitik kritisierte: Der Arbeitsbeschaffungsplan (1932b). Dieser als WTB-Plan bekannt gewordene Vorschlag enthielt vor allem die Idee staatlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Er stieß sowohl bei der Regierung als auch in der Führung der SPD auf Widerstand. Im März 1933 wurde Baade aus politischen Gründen aller offizieller Ämter enthoben. Er zog sich mit seiner Familie auf seinen Grundbesitz - eine Insel in der Havel bei Brandenburg - zurück und beschäftigte sich, wie schon einmal als Student während der großen Inflation in dem Göttinger Vorort Nikolausberg, als praktischer Landwirt. Im Frühjahr 1935 emigrierte er in die Türkei. Bis Ende 1939 war er als Berater der türkischen Regierung (Wirtschafte- und Landwirtschaftsministerium) für landwirtschaftliches Marktwesen tätig und in dieser Funktion für die Standardisierung landwirtschaftlicher Exportgüter zuständig. 1938 und 1939 hatte er einen Lehrauftrag für landwirtschaftliche Marktfragen an der Hochschule in Ankara. Während dieser Zeit publizierte er auch in türkischer Sprache Bücher und Aufsätze über Themen, mit denen er sich auch schon in Deutschland beschäftigt hatte. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mußte Baade die offiziellen Funktionen bei der türkischen Regierung aufgeben. Seine Existenz sicherte er sich als Standardisierungs- und Verpakkungssachverständiger vor allem für türkische Agrarexporte. In den Jahren 1944 und 1945 war er interniert. Nach Beendigung des Krieges reiste Baade 1946 in die USA, wo er im folgenden Jahr die Denkschrift The Critical Quantities of Food and Fuel in the Struggle for Europe verfaßte, die dem Committee on Foreign Affairs des amerikanischen Senats vorgelegt wurde. Darin wies Baade auf das Sinnlose einer Reparationspolitik hin, die Deutschland zum Export von Steinkohle zwang. Baade zufolge wäre es sinnvoller gewesen, die heimische Kohle primär zur Produktion von Stickstoffdünger zu verwenden, was die landwirtschaftliche Produktion erheblich hätte steigern können. Anfang 1948 veröffentlichte Baade (zusammen mit Christopher Emmet) eine Arbeit mit dem Titel Destruction at our Expense (1948a), zu

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Baade, Fritz der der frühere US-Präsident Hoover das Vorwort verfaßte. Sie war ebenfalls eine Schrift gegen die Demontagepolitik der Alliierten. Fritz Baade wurde im Frühjahr 1948 als Ordentlicher Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und als Direktor des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel berufen. Er verhalf dem Institut nach dem Krieg wieder zu neuem Leben und versuchte, im Geiste des Institutsgründers Bernhard Harms zu wirken. 1949 gründete er die Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e.V. Er revitalisierte das Erscheinen der Institutszeitschrift Weltwirtschaftliches Archiv, darüber hinaus erschienen seit 1949 die Kieler Studien als Publikationsreihe der Forschungsarbeiten des Instituts. Die Reihe Kieler Vortrüge entstand in Neuer Folge. Schließlich wurde ab 1950 Die Weltwirtschaft als Halbjahresschrift geschaffen. Als besonderes Verdienst Baades und vor allem seiner Frau Edith BaadeWolff muß die Beschaffung der Mittel für den Bau des Hauses 'Weltclub' herausgestellt werden, eines mit dem Institut für Weltwirtschaft verbundenen internationalen Gästehauses der Universität Kiel. Frau Baade hat dieses Haus organisatorisch und künstlerisch geleitet. Im Herbst 1948 wurde Baade als Vertreter des Landes Schleswig-Holstein in den Verfassungsausschuß der Ministerpräsidentenkonferenz der westlichen Besatzungszonen berufen, in dem er als Berichterstatter für Steuern und Finanzen fungierte. Von 1949 bis 1965 war er Mitglied des Deutschen Bundestages als SPD-Abgeordneter. In dieser Funktion befaßte er sich überwiegend mit agrarpolitischen Fragen. Ende 1952 erschien sein Buch Brot für ganz Europa, 1956 seine Welternährungswirtschaft. In allen seinen Arbeiten scheint Baades Grundeinstellung hindurch: die des christlich geprägten Sozialisten. Im Jahre 1960 publizierte er die vielzitierte Schrift Der Wettlauf zum Jahre 2000, in der er sich als Optimist in bezug auf die Möglichkeiten der Ernährung einer rapide wachsenden Weltbevölkerung darstellt. Später hat sich Baade auch mit Fragen der Abrüstung beschäftigt. Baade wurde 1961 emeritiert und war bis zu seinem Tode Direktor des Forschungsinstituts für Wirtschaftsfragen der Entwicklungsländer in Bonn. Er erhielt die Ehrendoktorwürde der Universitäten Kiel und Sevilla. Nach dem Kriege wurde er zum Ehrenbürger der türkischen Stadt

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Kirsehir ernannt, und eine Straße dort trägt seinen Namen. Er wurde Honorargeneralkonsul der Türkei. 1961 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz, 1970 den Kulturpreis der Stadt Kiel. Schriften in Auswahl: (1923a) Die deutsche Landwirtschaft nach dem Kriege, in: Sozialistische Monatshefte, Jg. 29, S. 657-666. (1923b) Die Wirtschaftsform des Großbetriebes in vorkapitalistischer Zeit. (1927) Neugestaltung der deutschen Branntweinwirtschaft, in: Berichte über Landwirtschaft, Bd. 5, S. 161-232. (1928)

(1931)

(1932a)

(1932b)

(1932c)

(1947)

(1948a)

(1948b)

Entwicklungsmöglichkeiten der europäischen Landwirtschaft (= Schriftenreihe des Deutschen Volkswirt, Bd. 3), Berlin. Deutsche Roggenpolitik (= Schriftenreihe des Deutschen Volkswirt, Bd. 10), Berlin. Das System der agrarpolitischen Mittel, in: Deutsche Agrarpolitik im Rahmen der inneren und äußeren Wirtschaftspolitik (= Veröffentlichungen der Friedrich List-Gesellschaft, Bd. 6.), Berlin, S. 218-296. Der Arbeitsbeschaffungsplan (zus. mit F. Tamow und W. Woytinsky). Berlin. Verbrauchereinkommen und Landwirtschaft (=Vierteljahreshefte zur Konjunkturforschung, Sonderh. 28), Berlin. The Critical Quantities of Food and Fuel in the Struggle for Europe. Committee on Foreign Affairs. 2nd Preliminary Report of Subcommittee. Nr. 2. Appendix. Destruction at Our Expense. How Dismantling Factories in Germany Helps Inflation in the United States and Sabotages the Marshall Plan (zus. mit Ch. Emmet) With a Forew. by Herbert Hoover, New York. Deutschlands Beitrag zum MarshallPlan. Ausgewählte Kapitel aus den Harriman- und Herter Reports. (= Kieler Veröffentlichungen, H. 3), Hamburg.

Bach,Yaacov (1952)

(1956) (1957)

(1958)

(1960)

(1963)

Brot für ganz Europa. Grundlagen und Entwicklungsmöglichkeiten der europäischen Landwirtschaft, Hamburg/Berlin. Welternähningswirtschaft, Hamburg. Die Lage der Weltwirtschaft und ihre Bedeutung fur die Landwirtschaft, Kiel. Weltenergiewirtschaft. AtomenergieSofortprogramm oder Zukunftsplanung?, Hamburg. Der Wettlauf zum Jahre 2000. Unsere Zukunft: ein Paradies oder die Selbstvemichtung der Menschheit, Oldenburg. Die deutsche Landwirtschaft im Gemeinsamen Markt, Baden-Baden/ Frankfurt a.M.

Bibliographie: Paetzmann, H. (1958): Fritz Baade, in: Gegenwartsprobleme der Agrarökonomie. Festschrift für Fritz Baade zum 65. Geburtstag, Hamburg, S. 115. Wilbrandt, H. (1973): Laudatio, in: Gesellschaft zur Förderung des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel (Hrsg.): Ansprachen zur Feier des 80. Geburtstages von Prof. Dr. Drs. h.c. Fritz Baade am 23. Januar 1973 im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, Kiel. Quelle: BHb I. Wolf Schäfer

Bach,Yaacov (früher: Karl Adolf), geb. 18.11.1911 inTarnowitz, Oberschlesien Nach der Volksabstimmung 1922 wurde die Stadt dem der polnischen Republik zugesprochenen Teil der Provinz einverleibt. Bachs Vater, der Kaufmann Elias Bach, betätigte sich in führenden kommunalen Aufgaben als Vertreter der deutschen Minderheit in Ost-Oberschlesien bis zum Jahre 1933. Seine Mutter Jenny stammte aus der Familie Panofsky, zu der Erwin Panofsky zählte, der als Kunsthistoriker und Dürer-Forscher 19211933 an der Universität Hamburg und nach seiner Emigration in die USA am Institute for Advanced Study in Princeton wirkte. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen 1939 wurden die Eltem, gemeinsam mit allen anderen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, nach Wartenau (Zawiercie) in

Galizien vertrieben und 1942 während des Holocaust ermordet. Der Name der Familie Bach geht auf die hebräischen Anfangsbuchstaben eines religiösen Kommentars a4YTTH-C7/ADASH („Eine neue Strophe") zurück, den ein Vorfahre, der Gelehrte Joel Serkes (1561-1640, Krakau und Lublin) verfaßte, und der bis zum heutigen Tage von den rabbinischen Autoritäten beachtet wird. Zu Bachs Vorfahren gehören noch andere bekannte Persönlichkeiten des jüdischen Geisteslebens, so der Oberrabbiner von Prag, Ezekiel Landau (1713-1783), ein scharfer Gegner der von Moses Mendelssohn vertretenen Aufklärungsphilosophie. Bach studierte in den Jahren 1929-1933 Rechtsund Staatswissenschaften an den Universitäten Berlin, Freiburg und Breslau. Zu seinen Lehrern der Nationalökonomie gehörten Karl Diehl und Werner Sombart. Ferner -» Julius Hirsch, einer der Begründer der Betriebswirtschaftslehre, sowie in der Finanzwissenschaft Emst Wagemann und Johannes Popitz, deren orthodoxe Kritik an der zu jener Zeit etwa von J.M. Keynes (Treatise on Money, 1931) eingeleiteten Abkehr von eingewurzelten Vorstellungen in der Geld- und Konjunkturlehre die akademischen Einsichten und Ratschläge vermissen ließ, durch welche die verhängnisvolle Politik der von Hans Luther gesteuerten Reichsbank hatte beeinfluBt und die verheerende und demoralisierende Massenarbeitslosigkeit hätte verringert werden können. Nach Hitlers Machtergreifung hatte Bach zwar im März 1933 in Breslau die sogenannte 'Große Hausarbeit' im Rahmen der ersten juristischen Staatsprüfung noch abliefern können; doch war er gezwungen, die Prüfung abzubrechen, da den Kandidaten jüdischer Abstammung der Zugang zu dem Gebäude des Oberlandesgerichts verweigert wurde, in dem die Klausuren und die mündliche Prüfung stattfanden. Aufgrund dieses Tatbestandes beschloß 25 Jahre später die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg Bach so zu behandeln, als ob er die erste Staatsprüfung mit Erfolg abgelegt hätte und eröffnete ihm die Möglichkeit, sich der Doktorprüfung zu unterziehen, welche er 1958 mit einer Arbeit über Die Gemüsevermarktung in Israel - Neukolonisation und Marktentwicklung (Referenten: Constantin von Dietze und Heinz Müller) 'magna cum laude' bestand.

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Bach,Yaacov Bach wanderte im Herbst 1933 nach Palästina als Student der Universität Jerusalem aus - ohne jedoch dort Studien aufzunehmen. Dem Geiste jener Pionieijahre entsprechend schloB er sich einer Gruppe aus Deutschland stammender Neueinwanderer an, die eine landwirtschaftliche Siedlung in Form einer kooperativen Dorf-Gemeinschaft in der Ebene der Haifabucht begründeten ('Kfar Bialik'). Zur Aneignung der Grundkenntnisse für die Führung einer Familienfarm verbrachte er eine Vorbereitungszeit in dem Moshav Nahalal, u.a. in der Wirtschaft von Shmuel Dayan, dessen Sohn Moshe - damals 18-jährig - später bedeutende militärische und politische Aufgaben im Staate Israel übernehmen sollte. Trotz der alltäglichen Arbeitslast ließ Bach nicht nach, sein in den Universitätsjahren erworbenes akademisches Wissen zu erweitern und zu vertiefen, wobei er sich auf nationalökonomische und betriebswirtschaftliche Themen konzentrierte. Hierbei kamen ihm die praktischen Erfahrungen sowohl in dem eigenen Betrieb als auch in der Mitarbeit an zentralen Institutionen des landwirtschaftlichen Sektors zugute. Im Jahre 1947 nahm er an einer Delegation teil, die vom englischen und schottischen Milk Marketing Board eingeladen wurde, um moderne Formen der Milchvermarktung kennenzulernen. Nach der Gründung des Staates Israel (1948) wurde Bach vom Minister für Versorgung und Rationierung, Dov Joseph, mit zentralen Aufgaben in der Regierungs-Kontrolle über die landwirtschaftliche Produktion betraut. Die Notwendigkeit dieser Kontrollen ergab sich aus dem Mißverhältnis zwischen der sprunghaften Vergrößerung der Bevölkerung durch die Masseneinwanderung und dem entsprechenden Anstieg der Konsumentennachfrage gegenüber dem beschränkten Angebot an Lebensmitteln aus der sich erst langsam steigernden lokalen Produktion und aus der wegen Devisenmangels äußerst beschränkten Einfuhr. Kurz darauf wurde Bach von Minister Levi Eshkol zum Referenten im Landwirtschaftsministerium und Finanzministerium ernannt und verwaltete 1952-1953 die Abteilung für die amerikanische Wirtschaftshilfe, zu jener Zeit die bedeutendste Quelle der zur Entwicklung der Wirtschaft des Landes unentbehrlichen Devisen. Von 1953 bis 1976 wirkte er in leitenden Funktionen der Bank Leumi Le-Israel, einer bedeutenden Handelsbank, und zwar 1953-1961 für den landwirtschaftlichen und genossenschaftlichen Kredit, 1961-1963 für

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die allgemeine Geschäftsentwicklung und als Generaldirektor der Hypothekenbank 1963-1976 für den Hypothekarkredit. Akademisch und in der Wissenschaftsverwaltung hatte Bach folgende Tätigkeiten inne: Von 1953 bis 1960 war er Dozent für Agrarpolitik. Zahlungsbilanz und Außenhandel an der Hochschule für Rechts- und Wirtschaftswissenschaft in Tel Aviv, der Vorgängerin der Universität Tel Aviv. Seit 1970 ist er Mitglied des Board of Governors des Technion in Haifa und seit 1975 Mitglied der Exekutive und des Board of Governors der Universität Haifa. Außerdem war er Mitbegründer des David Horowitz Institute for the Research of Developing Countries an der Universität Tel Aviv. In den Jahren 1958 bis 1970 arbeitete Bach eng zusammen mit Edgar Salin und H.W. Zimmermann in Basel sowie mit Nadav Halevi von der Hebräischen Universität Jerusalem bei der Veröffentlichung namhafter ökonomischer und soziologischer wissenschaftlicher Arbeiten, die im Auftrag des Israel Advisory Council for Economic and Sociological Research vom Kyklos- und Siebeck Verlag, der Bank Israel und dem Verlag Frederick A. Praeger herausgegeben wurden. Seit 1980 ist Bach in der Leitung des German-Israel Fund for International Research and Development (Gifrid) tätig. Diese Institution fördert in Kooperation mit der Deutschen Welthungerhilfe und dank deren Finanzierung wissenschaftliche Projekte, die unter Nutzung der israelischen Erfahrung der Verbesserung der Ernährungslage in der Dritten Welt gewidmet sind. Zwischen 1950 und 1980 publizierte Bach zahlreiche Aufsätze (in hebräisch, englisch und deutsch) über Themen aus den Bereichen der landwirtschaftlichen Vermarktung, des israelischen Geld- und Bankwesens und der Europäischen Integration. Nach der Pensionierung widmete Bach sich ehrenamtlich öffentlichen Aufgaben, insbesondere als Honorary Treasurer der Israel Cancer Association, der Mobilisierung von Mitteln für die Erforschung, Früherkennung und Bekämpfung der Krebskrankheit. Seit 1990 ist er wieder im kommerziellen Bereich tätig als aktives Board-Mitglied und (seit Mai 1993) Board-Chairman der Gesellschaft Dagon Batey-Mamguroth Le-Israel, Haifa, welche mit modernen Silo-Methoden die Entladung und Verteilung des von Übersee importierten Getreides besorgt.

Baer, Werner Schriften in Auswahl: (1958) Die Gemüsevermarktung in Israel Neukolonisation und Marktentwicklung, Freiburg i.Br. (Diss.). (1972) Zum 80. Geburtstag von Edgar Salin, in: Mitteilungen der List-Gesellschaft, Bd. 7, Nr. 14, S. 354-360. (1978) Wandlungen in der Wirtschaftspolitik Israels, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 4, S. 31-36. 11979) Sparen trotz Inflation. Ein israelisches Paradox, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, Bd. 32, S. 1033-1036. ι I9H5) Israel im Kampf gegen die Hyperinflation, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, Bd. 38, S. 196-198. ι I986i Vor Reformen im israelischen Bankwesen, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, Bd. 39, S. 618-621. (Jurlle: BHb I. hmn\ Ginor

Baer, Werner, geb. 14.12.1931 in Offenbach. Die Familie emigrierte 1937, und 1944 erreichte Baer die USA, wo er sich, nach eigenen Angaben, ohne Schwierigkeiten einlebte. Über die dazwischenliegenden Jahre ist nichts bekannt. Baer studierte Ökonomie, das Vordiplom machte er am Queens College, New York, Diplom und Promotion in Harvard. Als Studienschwerpunkt im Hauptstudium wählte er internationale Wirtschaftswissenschaft. Die Doktorarbeit schrieb Baer zum Thema The Postwar Foreign Trade Recovery of Germany (1958). Nach eigenem Bekunden wurde er stark von -» Gottfried von Haberler, Alexander Gerschenkron, John Kenneth Galbraith und Arthur Smithies beeinflußt. Baer widmete sich voll der wissenschaftlichen Arbeit, und er lehrte kontinuierlich an amerikanischen Universitäten, nämlich Harvard (1955-61), Yale (1961-65), Vanderbilt (1965-74) und Illinois/Urbana-Champaign (seit 1974). Viermal nahm er Gastprofessuren in Brasilien ein: in Rio de Janeiro an der Funda9§o Getülio Vargas (1965-68); an der Universität von Säo Paulo (1966-68), am IPEA, dem Institut für angewandte Wirtschaftsforschung des brasilianischen Planungsministeriums (1973), und an der Katholischen Universität von Rio de Janeiro.

Der Schwerpunkt von Baers wissenschaftlicher Arbeit liegt auf den Entwicklungsproblemen Lateinamerikas, worüber er über achtzig Schriften verfaßt hat. Dabei galt sein besonderes Interesse Brasilien; seine Beiträge gelten als die wichtigsten außerbrasilianischen Arbeiten zum Thema. Sein erstes einflußreicheres Buch Inflation and Growth in Latin America (1964) brachte er mit Isaac Kerstenetzky heraus. Auf der vorangegangenen Tagung in Rio de Janeiro hatten rund dreißig lateinamerikanische, amerikanische und europäische Wissenschaftler die gegensätzlichen Standpunkte der monetaristischen und stnikturalistischen Schulen zur Frage von Inflation und Wachstum in Lateinamerika diskutiert. Anknüpfend an seine früheren Arbeiten zur brasilianischen Inflation - Inflation and Economic Growth. An Interpretation of the Brasilian Case (1962) und Brazil. Inflation and Economic Effiency (1963) - vertrat Baer einen strukturalistischen Standpunkt, wonach die hohen Inflationsraten im Nachkriegsbrasilien unter anderem in Zwangssparen resultierten, so daß die Regierung produktive Investitionen finanzieren und damit den Wachstumsprozeß einleiten konnte. Laut Baer war ein inflationärer, Zwangssparen erzeugender Prozeß so lange notwendig, bis Strukturschwächen in der Fiskal- und Geldpolitik überwunden seien. Man sollte Baers Position jedoch nicht als simple Legitimation inflationärer Prozesse begreifen. Vielmehr betonte er im gleichen Tagungsband, daß die hohen Inflationsraten in Brasilien zu einem erheblichen Teil überhöhten Staatsausgaben zuzuschreiben seien; in seiner späteren Veröffentlichung Transportation and Inflation. Α Study of Irrational Policy Making in Brazil (1965) kritisierte er die Preispolitik der Regierung im Bereich öffentlicher Güter, insbesondere im Transportwesen, da die ständig steigenden Subventionen an öffentliche Einrichtungen das Budgetdefizit vergrößerten und den Inflationsdruck erhöhten. Ein strukturalistischer Ansatz zeigt sich auch in Baers Industrialisation and Economic Development in Brazil (1965), einer der ersten breitangelegten Analysen zum schnellen, importsubstituierenden Industrialisierungsprozeß im Brasilien der Jahre 1947 bis 1961. Er arbeitet in dem Buch den exogenen Druck der 1940er Jahre heraus, der die brasilianischen Behörden zwang, bewußt eine Importsubstitutionspolitik zu verfolgen. Zu den entscheidenden Faktoren zählte Baer die sinkende internationale Nachfrage nach traditionellen brasi-

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Baer, Werner lianischen Produkten, die zu einer kontinuierlichen Verschlechterung der Zahlungsbilanz geführt hatte. In der Folge waren deswegen handelspolitische Instrumente in der Form von tarifaren und nicht-tarifären Handelshemmnissen und Wechselkurskontrollen notwendig geworden. Der Industrialisierungsschub wurde, so Baer, aus drei Quellen finanziert: der öffentlichen Hand, dem Privatsektor (inländisch wie international), und eben - und dies war eine kontroverse Position aus dem Zwangssparen. Die Industriestruktur, die sich daraus ergab, sei durch einen hohen, und vor allem vertikalen, Verflechtungsgrad charakterisiert sowie durch eine niedrige Grenzproduktivität des Kapitals. Baer betonte, daß die eindrucksvolle Wachstums- und Industrialisierungsrate ohne umfassende staatliche Planung und ohne Intervention seitens der Industrieverbände, die beispielsweise die zu substituierenden Industriezweige identifiziert hätten, erreicht wurde. Im Schlußkapitel analysiert er die Ungleichgewichte und Engpässe, die aus diesem speziellen Entwicklungsweg resultierten, wie z.B. regionale Disparitäten und die Vernachlässigung von Landwirtschaft und Bildungswesen, Engpässe, die zukünftige Wachstumschancen beeinträchtigen würden. Baers umfassende Brasilienforschung wurde in seinem Werk The Brazilian Economy: Growth and Development (1979) zusammengefaßt. Das Werk zeichnet Brasiliens Wirtschaftsgeschichte von der Kolonialzeit bis in die späten 1980er Jahre nach; der zweite Teil widmet sich ausgewählten Themenkreisen: der Außenwirtschaft, der Kosten-Nutzen-Analyse von Auslandsinvestitionen, der Rolle der öffentlichen Hand, Inflation und Preisbindung, regionalen Disparitäten, Landwirtschaft und industriellem Wandel. Die historischen Kapitel präsentieren in logischer Folge den Strukturwandel der Volkswirtschaft von der Rohstofffabhängigkeit zur Industrialisierung. Sie zeigen, wie dieser Wandel von einer sich verändernden Rolle des Staates, nämlich von der eines passiven Zuschauers zu der eines aktiven Spielers in der Entwicklung des Landes, begleitet wurde. Die ökonomischen Krisen der jüngsten Vergangenheit werden darauf zurückgeführt, daß das Industrialisierungsprogramm ohne Anpassung an die Ölpreissteigerungen von 1973 fortgesetzt wurde, was erhebliche Außenverschuldung zur Folge hatte.

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Das zentrale Kapitel im zweiten Teil des Bandes ist einer detaillierten Schilderung der Größe und Durchschlagskraft des öffentlichen Sektors in Brasilien gewidmet. Baer beschreibt die staatskapitalistische Ökonomie Brasiliens und gibt interessante Hinweise auf das Zusammenspiel von öffentlichen Unternehmen und der Bürokratie der Zentralregierung. Weitere Kapitel enthalten wichtige Einführungen in verschiedene andere Bereiche der Ökonomie Brasiliens. Baers Laufbahn reicht über Lehre und Forschung hinaus. Er amtierte zehn Jahre lang als wirtschaftspolitischer Berater für die Programmplanung der Ford Foundation (1967-76) und fungiert als Mitherausgeber zahlreicher entwicklungspolitischer Fachzeitschriften. In Anerkennung seiner Forschungsarbeit verlieh ihm die brasilianische Regierung 1982 den nationalen Verdienstorden des Südkreuzes. Von der Universität von Pemambucco und der Bundesuniversität von Cearä wurde er 1988 und 1993 mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Schriften in Auswahl: (1958)

The Postwar Foreign Trade Recovery of Germany, Harvard University (unveröffentlichte Diss.).

(1962)

Inflation and Interpretation in: Economic tural Change,

(1963)

Brazil. Inflation and Economic Effiency, in: Economic Development and Cultural Change, Bd. 11, S. 395406.

(1964)

Inflation and Growth in Latin America, (hrsg. zus. mit I. Kerstenetzky), Homewood/Ill. (2. Aufl., New Haven 1970).

(1965)

Transportation and Inflation. A Study of Irrational Policy Making in Brazil (zus. mit I. Kerstenetzky und Μ. Η. Simonsen), in: Economic Development and Cultural Change, Bd. 13, S. 188-202.

(1965)

Industrialization and Economic Development in Brazil, Homewood/Ill (weitere Aufl.: 1974, 1979, 1983, 1988. Portugiesische Fassung Rio de Janeiro 1967).

Economic Growth. An of the Brazilian Case, Development and CulBd. U . S . 85-97.

Baerwald, Friedrich (1978)

(1979)

(1980)

(1989)

(1991)

Dimensöes do Desenvolvimento Brasileiro (zus. mit P. Geiger und P. Haddad), Rio de Janeiro. The Brazilian Economy. Growth and Development, Columbus, Ohio (weitere Aufl.: New York 1983. 1989, 1995). Ο Setor Privado Nacional. Problemas e Politicas para seu Fortalecimento (hrsg. zus. mit A. Villela), Rio de Janeiro. Paying the Costs of Austerity in Latin America (zus. mit Η. Handelman), Boulder. Latin America. The Crisis of the Eighties and the Opportunities of the Nineties (hrsg. zus. mit J. Petry und Μ. Simpson) University of Dlinois, Bureau of Economic and Business Research, Urbana-Champaign.

Quellen: Β Hb Π; Blaug. Ana Paola Teixeira

Baerwald, Friedrich, geb. 14.10.1900 in Frankfurt a.M., gest. im Oktober 1989 in Münster/Westfalen Baerwald, Sohn jüdischer Eltern, konvertierte als 26-jähriger zum katholischen Glauben, der auch für sein wissenschaftliches Leben eine wichtige Rolle spielte. Er studierte von 1919-23 Jura und Volkswirtschaft an den Universitäten Freiburg, München und Frankfurt a.M., dort unter anderem bei Franz Oppenheimer. 1923 promovierte er zum Dr. jur. und wurde nach seinem zweiten juristischen Staatsexamen 1926 als Assessor der Arbeitsverwaltung und des Arbeitsministeriums tätig. 1928 übernahm er die Stelle eines Regierungsrates und Justitiars im westfälischen Arbeitsamt. Baerwald war Mitglied der Zentrumspartei und zeitweilig Assistent von Friedrich Dessauer im Reichstag. Im Jahre 1934 mußte er in die USA emigrieren. An der Fordham University, New York, wurde er 1935 zunächst Instructor an der volkswirtschaftlichen Fakultät, dort 1937 dann Assistant Professor, im Jahre 1948 Associate Professor und 1955 schließlich ordentlicher Professor. 1970 wurde Baerwald emeritiert und kehrte anschließend nach Deutschland zurück, wo er sich in Münster niederließ. Sein wissenschaftliches Interesse lag an der Schnittstelle zwischen volks-

wirtschaftlichen und soziologischen Themen, eine Ausrichtung, die wohl auch durch das Studium bei Oppenheimer mitgeprägt wurde. Er beschäftigte sich vorwiegend mit Fragen des Arbeitsmarktes und -prozesses, der wirtschaftlichen Entwicklung und später verstärkt mit soziologisch-religiösen Grundlagenproblemen. Baerwald machte sich die Möglichkeit, die sich aus der Kenntnis sowohl seines Heimat- wie auch seines Zufluchtlandes ergab, für Publikationen im jeweils anderen Land nutzbar. In den USA veröffentlichte er etliche Artikel über wirtschaftliche und politische Fragen Deutschlands wähnend des und nach dem Nationalsozialismus, darunter einige Aufsätze im American Economic Review (z.B. 1934). Später verfaBte er mehrere Beiträge über die USA in deutschen Zeitschriften, überwiegend in den Frankfurter Heften. Mit dem erstmaligen Erscheinen des Jahrbuch des Instituts fiir Christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster im Jahre 1960 wurde Baerwald bis zu seinem letzten Beitrag im Jahr 1979 zu dessen fast regelmäßigem Mitarbeiter. Die darin behandelten Themen hatten vorwiegend soziale, religiöse und ethische Probleme zum Gegenstand (vgl. z.B. 1966/67). Baerwald war auch Mitherausgeber der Zeitschrift Thought der Fordham University. Die erste und eine weitere, später erschienene Monographie Baerwalds (1947 und 1967) beschäftigten sich mit ökonomischen Grundlagen der Lohnfindung und des Arbeitsmarktes. Die dabei behandelten Gegenstände umfassen all die Themen, die im Angelsächsischen unter dem Terminus 'labor economics' firmieren. Seine Herangehensweise war dabei weder besonders abstrakt noch theoretisch, sondern berücksichtigte ausführlich die historischen Einflußfaktoren und die strukturellen Veränderungen rechtlicher und ökonomischer Natur, die auf den amerikanischen Arbeitsmarkt wirkten, denn wie er selbst feststellte: „Collective bargaining cannot take place in a vacuum" (1960, S. viii). Die detaillierten Kenntnisse über die Faktoren, die dieses Vakuum füllen, entstammten nicht zuletzt den persönlichen Erfahrungen, die Baerwald als langjähriges Mitglied von Schlichtungsausschüssen in den USA sammeln konnte. In Economic Progress (1967) erörtert der Autor die für ihn überwiegend positiven volkswirtschaftlichen Folgen, die sich aus dem Einbau von Preisgleit- und Produktivitätsklauseln in Tarifverträge ergeben; er ist aber dennoch kein

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Baerwald, Friedrich Verfechter einer strikten produktivitätsorientierten Lohnpolitik. In einem weiteren Teil des Buches betont Baerwald die Bedeutung des sozialen Sicherungssystems für die Beeinflussung der Lohnbildung und diskutiert, warum das System in den USA im Vergleich zu europäischen Ländern erst spät entstand sowie welche Veränderungen sich dadurch ergaben. Der Zusammenhang von Produktivitäts- und Lohnwachstum ist ein häufig wiederkehrendes Thema in Baerwalds wirtschaftstheoretischen Veröffentlichungen. Seine These ist dabei, daB das Wachstum der Reallöhne mindestens im Gleichschritt mit der Produktivität - für Amerika sogar darüber hinaus - notwendig sei, um die vom überwiegend privaten Verbrauch gestützte Nachfrage und damit das Wirtschaftswachstum einer Vollbeschäftigungsökonomie aufrechtzuerhalten (vgl. 1963). Baerwald, der als Wissenschaftler etliche empirische Untersuchungen in den verschiedensten Feldern durchführte, zeigte beispielhaft für die bundesdeutsche und amerikanische Hüttenindustrie, daB in der untersuchten Periode die Reallöhne stärker als die Arbeitsproduktivität gewachsen waren, ohne daß dies zu einer 'LohnPreis-Spirale' in der betreffenden Industrie geführt habe (vgl. auch 1960b). Anläßlich der Untersuchungen hielt sich Baerwald zweimal zu Forschungsaufenthalten in der Bundesrepublik Deutschland auf (1953-54 und 1961-62), die er jeweils mit einer Gastprofessur an der Universität Münster verband. Der zweite volkswirtschaftliche Bereich, der in Baerwalds Schaffen einen wichtigen Stellenwert einnahm, waren Fragen der ökonomischen Dynamik, die in der Veröffentlichung von Economic System Analysis (1960a) kumulierten. Dieses Buch stellt rückblickend einen nicht uninteressanten Beitrag zur modernen Wachstumstheorie dar, die sich zu der damaligen Zeit gerade zu entwikkeln begann. Baerwalds Ansatz unterscheidet sich jedoch deutlich von den später dominierenden neoklassischen oder post-keynesianischen Modellen. Ihm ging es in dem Buch vor allem darum, zu zeigen, daB die tatsächliche und die erforderliche Wachstumsrate ('required rate of growth') einer Ökonomie voneinander abweichen können - und zwar nicht nur kurzfristig. Die erforderliche Rate, die sich aus den Wachstumsraten von Arbeitsbevölkerung und Produktivität ergibt, ist notwendig, um ein (Vollbeschäfitigungs-) Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, stellt sich aber nicht von selber

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ein. Baerwalds Konzept hat allerdings nichts mit Harrods 'warranted rate of growth' zu tun, denn Baerwald hielt es für möglich, daß - geeignete wirtschaftspolitische Maßnahmen vorausgesetzt die in diesem Sinne optimale Rate tatsächlich erreicht wird. In dem Zusammenhang wurde die (neoklassische) Herangehensweise von ihm als analytisch einschränkend empfunden, da die den Wachstumsprozeß letztlich bestimmenden Größen als exogen betrachtet und somit aus der Analyse ausgeschlossen werden. Was Baerwalds Analyse darüber hinaus immer noch relevant macht, ist die in den damaligen Wachstumsmodellen vernachlässigte, aber hier explizit berücksichtigte strukturelle Komponente von Wachstumsprozessen ('balanced growth') fur die verschiedenen Sektoren einer Ökonomie, deren Auswirkung und Bedeutung er mit modellhaften Erörterungen und empirischen Beispielen aus den USA untermauerte. In seinem letzten in Amerika geschrieben Buch (1969) befaßte sich Baerwald mit den Entwicklungsbedingungen von Nationen. Der Tenor, der dieses Werk durchzieht, fordert die Beurteilung der Entwicklungsperspektiven von Volkswirtschaften vornehmlich auf Grundlage der Kenntnis von institutionellen Rahmenbedingungen und historischen Hintergründen. Damit wurde eine Übertragung der Methodik auf die ökonomische Entwicklungstheorie angestrebt, die Baerwald als 'labor economist' zu verwenden gewohnt war. Gleichzeitig verbinden sich in diesem Buch Baerwalds ökonomische und ethische Forschungsinteressen, da es an vielen Stellen Überlegungen bezüglich geeigneter Hilfen für Entwicklungsländer enthält. Baerwald, der Mitglied und 1953-54 auch Vorsitzender der American Catholic Economic Association war, war insgesamt drei Semester Gastdozent am Institut für Christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster. Seine Verbundenheit mit der katholischen Religion dokumentierte sich auch in den vielen wissenschaftlichen Beiträgen, die er zu Fragen der christlichen Sozialethik leistete. Häufig trug er damit zum Dialog von christlich motivierten Gelehrten und linken Theoretikern bei (vgl. 1966/67) oder wurde dadurch zu Forschungen angeregt, wie das Vorwort von Baerwald (1973) verdeutlicht. Für einige Forschungen in diesem Zusammenhang führte er soziologische Erhebungen per Fragebogen durch; so z.B. bei einer Untersuchung über die persönlichen Einstellungen junger katho-

Baran, Paul Alexander lischer Priester in den USA oder junger Arbeitnehmer in Deutschland (1973).

Baran, Paul Alexander, geb. 8.12.1910 in

Schriften in Auswahl: (1923) Die Staatsanklage in der Weimarer Reichsverfassung. Unter vergleichender Berücksichtigung des Staatsrechts der deutschen Länder und der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Frankfurt a.M. (Diss.). (1934) How Germany Reduced Unemployment, in: American Economic Review, Bd. 24, S. 617-630. (1947) Fundamentals of Labor Economics, New York (2. Aufl. 1952). (1958) Zur Systematik einer allgemeinen Theorie der Wirtschaftsentwicklung, in: Zeitschrift fur die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 114, S. 47-65. (1960a) Economic System Analysis. Concepts and Perspectives, New York. (1960b) Produktivität und Lohn, in: O. Neuloh (Hrsg.): Der Neue Betriebsstil. Untersuchungen über Wirklichkeit und Wirkungen der Mitbestimmung, Tübingen, S. 332-346. (1963) Produktivitätslohn und Wachstumsrate, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 119, S. 58-71 (Replik W. Krelle: ebd., S. 672-673 und Gegenreplik: ebd., S. 674-675). (1966/67) Soziologische Perspektiven zum Dialog mit dem atheistischen Humanismus, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Bd. 7 und 8, S. 401-412.

„Psychically one thing is clear: one is either made to oppose, to fight, to criticize, or to be part of the Establishment. I am definitely no good for any Establishment. Schumpeter's disturbing, restless intellectual-a nuisance everywhere. Maybe this is the eternal function of the intellectual after all-in all times and in all places." Mit diesen Zeilen, die Paul Baran am 1. Mai 1962 anläBlich einer Reise durch Osteuropa aus Moskau in einem Brief an seinen Bruder im Geiste Paul M. Sweezy schrieb, hat er sich selbst unnachahmlich charakterisiert. Die Sache des Establishments war in der Tat zu keinem Zeitpunkt seine Sache. Egal, wohin es ihn in seinem Leben verschlagen hatte, stets war er in der Opposition, stets opponierte er durch das geschliffene Wort, die spitze Feder, durch seine Auffassungen, seine Manieren und seine Kleidung gegen die Etablierten. Paul Baran stammte aus einer nissisch-jüdischen Intellektuellen-Familie, einer Familie, die ihre Wurzeln vor allem in Polen hatte. Sein Vater Abrain Baran war Arzt und arbeitete als Spezialist für Lungen-Heilkunde in Polen, Deutschland und in der Sowjetunion, zuletzt in Moskau. Sein Onkel Abraham Morewski war ein weithin bekannter polnisch-jüdischer Schauspieler am berühmten jüdischen Theater in Wilna. Paul war das einzige Kind der Arzt-Familie. Was diese ihm bieten konnte, hielt sich materiell in engen Grenzen, intellektuell wurde ihm um so mehr geboten. Er wurde von seinem Vater früh mit Kunst und Wissenschaft bekannt gemacht und er las jedes Buch, dessen er habhaft werden konnte. Gleichzeitig war er ungemein sprachbegabt. Er sprach und schrieb in perfektem Russisch, Polnisch, Deutsch und später Englisch. Zusätzlich zur Sprachgewandtheit kam die Gabe des didaktisch vollendeten Vortrags. Nach einer Gastvorlesung in Stanford im Frühjahr 1948 schrieb ihm Tibor Scitovsky, der damalige Dekan: „You left a lasting impression on students, and a very deep one at that. There is quite a Baran legend around Stanford ... Each time this legend comes up the faculty members present feel very uncomfortable, as though they were being told that they know nothing about teaching-nothing, that is, as compared to that incomparable teacher Paul Baran."

(1967) (1969) (1973)

Economic Progress and Problems of Labor, Scranton, Pa. (2. Aufl. 1970). History and Structure of Economic Development, Scranton, Pa. Lebenserwartungen von Lehrlingen und Jungarbeitnehmern im Großbetrieb. Bericht über eine Gesprächsaktion, München u.a.

Quellen: BHb II; Biographische Notiz im Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaft (1962), S. 357; Kürschner. Hagen Krämer

Nikolajew, Ukraine, gest. 26.3.1964 in San Francisco

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Baran, Paul Alexander Der junge Paul ging erst in Polen zur Schule, danach besuchte er ein Gymnasium in Dresden, machte dort Abitur, studierte zwei Jahre am Plechanow-Institut für Wirtschaftswissenschaften der Universität in Moskau und vervollständigte seine Studien an der Universität in Berlin. Hier promovierte er bei -» Emil Lederer über ökonomische Planung. Sodann war er als Assistent am Institut für Sozialforschung in Frankfurt tätig und arbeitete unter den Auspizien von -» Friedrich Pollock über die Sowjet-Wirtschaft. Mit der Machtübernahme durch die Nazis war klar, daß Paul Baran nicht länger in Deutschland bleiben konnte. Als ein jüdischer Marxist, obendrein Mitglied der SPD, war er eine dreifache persona non grata. Er kehrte bis 193S nach Moskau zurück. Die stalinistischen Säuberungen ließen es indes alsbald ratsam erscheinen, auch die Sowjetunion wieder zu verlassen. Zahlreiche Freunde waren zwischenzeitlich verhaftet worden, sein akademischer Lehrer Prof. S. M. Dubrowski war plötzlich verschwunden, im übrigen wurde seine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert. Paul Baran kehrte zu seinen Verwandten nach Wilna zurück und verdiente für einige Jahre sein Geld im „hündischen Kommerz". Ein Onkel war im Holzhandels-Geschäft tätig. Wegen der hervorragenden Qualität erfreute sich Holz aus Wilna in den dreißiger Jahren einer großen internationalen Beliebtheit und damit wachsender Nachfrage; der junge Doktor Baran engagierte sich im Verkaufsgeschäft und wurde auch fur die Handelskammer von Wilna tätig. Wegen seiner Sprachkenntnisse wurde er namentlich im Exportgeschäft eingesetzt und mit den Verkaufsverhandlungen mit ausländischen Geschäftspartnern betraut. England war der mit Abstand größte Markt für Holz aus Wilna. 1938 wurde Baran nach London versetzt - als ständiger Vertreter der Interessen des Holzhandels von Wilna. Zuvor war er mehrmals geschäftlich in Deutschland. Er nahm dabei das große persönliche Risiko in Kauf, als Kurier für Exilgruppen Nachrichten aus Deutschland und nach Deutschland zu schmuggeln. Obwohl er in diesen Jahren gut verdiente, wollte Baran zurück in die Forschung. Nachdem seine Bemühungen um eine entsprechende Position in England gescheitert waren, wanderte er im Sommer 1939 nach Amerika aus. Harvard akzeptierte ihn als Graduate Student und bis 1941 studierte er Economics, d. h. New Economics: Wirtschaftswissenschaften im Geiste der Keynesschen Revo-

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lution. Er Schloß die Studien mit dem M.A. ab. Mittels einer Harvard-Verbindung konnte Baran 1942 beim Office of Strategie Services (OSS) mit Forschungen über die deutsche, die polnische und die sowjetische Wirtschaft beginnen. OSS-Mitarbeiter mußten damals zugleich Soldaten der amerikanischen Armee sein. Also wurde Paul Baran Soldat und damit zum Tragen von Uniform verpflichtet. Es läßt sich vielleicht denken, daß Baran die Uniform auf seine Weise getragen hat. John K. Galbraith erinnert sich später, bei der Zusammenarbeit mit Baran nach Kriegsende in Deutschland niemals einen Soldaten der US-Armee getroffen zu haben, der dermaßen schlampig in Uniform herumlief (Galbraith 1981, Kap. 14). Unter Galbraith arbeitete Baran ab Sommer 1944 beim United States Strategie Bombing Survey. Hier wurde u. a. die Frage untersucht, ob die Bombenangriffe auf Deutschland und auch auf Japan zur Beeinträchtigung der Wehrkraft beigetragen hatten. Die von Baran und anderen erarbeiteten Studien lieferten das allgemeine Ergebnis, daß die Flächenbombardements zwar grausame Verluste bei der Zivilbevölkerung bewirkten, die Kriegsproduktion und die Kampfkraft der deutschen und der japanischen Armee indes bis Sommer 1944 nur unwesentlich beeinträchtigt wurden. Nach einigen für die Zeiten und für Baran typischen Zwischenstationen arbeitete er dann von 1946 - 1949 bei der Federal Reserve Bank in New York. Die Gast-Vorlesung in Stanford im Sommer 1948 sollte zum entscheidenden Brükkenschlag für seine letzte berufliche Position werden. Das Department of Economics von Stanford bot ihm 1949 eine Stelle als Associate Professor an, zwei Jahre später wurde er Full Professor. Fortan galt er in den USA als der einzige Marxist, der es je zu einer Ökonomie-Professur gebracht hatte. Es versteht sich von selbst, daß es Baran auch in den USA nicht leicht hatte. Das ruhige Leben eines sozialkritischen Wissenschaftlers konnte er namentlich in den McCarthy-Jahren nicht führen. Obwohl er seit 1939 in den USA lebte, erhielt er den amerikanischen Paß erst Ende 1955. Immer wieder war er zwischenzeitlich als russischer Spion bzw. als Stalinist verdächtigt worden, der amerikanische durch sowjetische Verhältnisse ersetzen wollte. Immer wieder mußte er sich sorgen, ob er wohl auf Dauer in den USA würde bleiben können. Gegen Ende seines Lebens war er politisch und sozial recht isoliert - nicht zuletzt

Baran, Paul Alexander wegen seines Engagements für die kubanische Revolution. Paul M. Sweezy hatte Baran 1939 gleich nach der Ankunft in Harvard kennen gelernt. Das war der Beginn einer Freundschaft, die ein Vierteljahrhundert währen sollte. Die beiden Pauls wurden enge persönliche Freunde und entfalteten bis zu Barans Tod eine ungemein fruchtbare wissenschaftliche Kooperation. Als Herausgeber der Monthly Review konnte Sweezy überdies von Beginn an (1950) auf die unermüdliche Unterstützung von Baran bauen, sei es durch Beiträge, sei es durch Beurteilung anderer Artikel. Als marxistischer Ökonom bearbeitete er mit Baran fast alle Thematiken gemeinsam, einerlei, ob die Arbeiten gemeinsam veröffentlicht wurden oder nicht. Dank der Professur in Stanford konnte sich Baran erstmals mehr als nur am Abend nach getaner Arbeit fur den Broterwerb auf die Forschung und die Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten konzentrieren. Er befaßte sich in den Jahren von 1951 - 1964 mit Themen zum ökonomischen Wachstum, zur Sowjet-Wirtschaft, zum Verhältnis von Marxismus und Psychoanalyse, zur marxistischen Theorie, zum Faschismus in Amerika, zur kubanischen Revolution, zu den wirtschaftlichen Perspektiven unterentwickelter Länder und zum Monopolkapitalismus. Sein Hauptwerk erschien 1957 unter dem Titel The Political Economy of Growth. Posthum wurde das gemeinsam mit Paul Sweezy verfaßte Buch Monopoly Capital publiziert, ein glänzend geschriebener Bestseller, der ähnlich wie das Hauptwerk in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde und in den späten sechziger Jahren einen beträchtlichen Einfluß auf die intellektuelle Linke auszuüben vermochte, allerdings in stärkerem MaBe in Lateinamerika als in Europa. Dies hing offenbar mit der in der politischen Ökonomie des wirtschaftlichen Wachstums vorgenommenen Analyse der Unterentwicklung und ihrer Beseitigung zusammen, die für Latein- und Südamerika seinerzeit unmittelbare politische Relevanz zu haben schien. Die wissenschaftliche Analyse von Baran über die Determinanten des wirtschaftlichen Wachstums hat sich mehr bei Sozialwissenschaftlern und Politologen als bei Ökonomen als fruchtbar erwiesen. Vermutlich hängt das damit zusammen, daß seine Hauptkategorie der Analyse, der potentielle volkswirtschaftliche Überschuß, quantitativ im Prinzip nicht bestimmbar ist. Der Begriff soll in-

des der Konzeption nach auch durchaus den Horizont der bestehenden Wirtschaftsordnung überschreiten und Elemente einer rational geordneten Gesellschaft - was immer Baran darunter verstanden haben mag - erkennbar werden lassen. Baran hat diesen Begriff dem tatsächlichen volkswirtschaftlichen ÜberschuB gegenübergestellt und deren Verhältnis zueinander analysiert. Aus der Divergenz beider GröBen Schloß Baran auf das mangelnde Entwicklungspotential des (amerikanischen) Kapitalismus. Konnte die wissenschaftliche Ökonomie mit dem potentiellen ÜberschuB nichts anfangen, dann aber um so mehr mit dem tatsächlichen ÜberschuB. Der war seit Keynes bekannt und enthielt insoweit nichts Neues. Es handelt sich um die Differenz von Volkseinkommen und Konsum, die als Ersparnis definiert wird: Y - C = S. Interessant wäre dann natürlich, die unterschiedlichen Bestimmungsgründe für die Ersparnis etwa im Keynesschen und im Baianschen Werk herauszuarbeiten. Baran selbst hat sich offenbar dafür nicht weiter interessiert. Als breit angelegte Untersuchung über die keineswegs nur rein ökonomischen Determinanten des Wachstums ist die Studie freilich auch heute noch lesenswert.

Schriften in Auswahl: (1944)

(1952)

(1952)

(1957) (1957) (1961) (1966)

New Trends in Russian Economic Thinking?, in: American Economic Review, Bd. 34, S. 862-871. On the Political Economy of Backwardness, in: Manchester School, Bd. 20, S. 66-84. Economic Progress and Economic Surplus, in: Science and Society, Bd. 17, S. 289-317. The Political Economy of Growth, New York. Marxism and Psychoanalysis, in: Monthly Review, Bd. 11, S. 186-200. The Commitment of the Intellectual, in: Monthly Review, Bd. 13, S. 8-18. Monopoly Capital (zus. mit P.M. Sweezy), New York, dt. Übersetzung: Monopolkapital, Frankfurt am Main 1967.

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Barkai, Haim Bibliographie: Galbraith, J.K. (1981): A Life in our Times, Boston. Quelle: Monthly Review, Bd. 16, S. 132-135. Michael Krüger

Barkai, Haim, geb. 31.8.1925 in Dresden Bereits in den frühen dreißiger Jahren emigrierte Barkai zusammen mit seinen Eltern nach Palästina. Nach dem AbschluB seiner Schulbildung nahm er 1949 das Studium der Volkswirtschaftslehre am soeben errichteten Department of Economics der Hebrew University in Jerusalem auf. Die Volkswirtschaftslehre war bis zu diesem Zeitpunkt an der seit 1918 bestehenden Universität ganz im Geiste der deutschen Historischen Schule und nur als Nebenfach innerhalb der Philosophischen Fakultät gelehrt worden. Die mit dem Ende des Unabhängigkeitskrieges steigende Zahl Studierender und der mit der israelischen Staatsgründung stark anwachsende Bedarf an ausgebildeten Ökonomen, führten nicht nur zur Errichtung eines eigenständigen wirtschaftswissenschaftlichen Studiengangs, sondern auch zu einer Orientierung der nationalökonomischen Forschung an der angelsächsischen Theorietradition. Als geradezu paradigmatisch erwies sich die auf Empfehlung von -» Jacob Marschak zustandegekommene Berufung Don Patinkins an die Hebrew University. Dem knapp dreißigjährigen Patinkin, dessen Wechsel von Chicago nach Jerusalem manchem seiner amerikanischen Kollegen wie ein Gang in die Wildnis erscheinen mußte (Barkai 1993a, S. 14), kam nicht weniger als die Aufgabe zu, zugleich die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Hebrew University aufzubauen und die ökonomische Forschung in Israel überhaupt zu etablieren. Barkai gehörte zu den ersten Jerusalemer Studenten des nur drei Jahre älteren Patinkin, der als akademischer Lehrer auch in späteren Jahren einen überragenden Einfluß auf Barkai ausübte. Patinkin erkannte sehr rasch, daß die Wissenschaft in einem so kleinen Land wie Israel nur in einem stetigen Austausch mit dem Ausland bestehen könne; er legte daher den besten seiner Absolventen nahe, für einige Jahre Erfahrungen an einer englischen oder amerikanischen Universität zu sammeln. So ging Barkai, der 1952 den B.A. und 1955 den M.A. erworben hatte, anschließend für

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drei Jahre an die London School of Economics and Political Science und studierte dort u.a. bei Lionel Robbins. Dieser war auch der Betreuer von Barkais Dissertation Classical Political Economy and Economic Evolution, mit der er 1958 promoviert wurde. Hieraus entstanden eine Reihe von Aufsätzen über Aspekte der Wirtschaftstheorie von Smith (1968) und Ricardo (1959: 1965; 1967). Seit seiner Rückkehr nach Israel gehörte Barkai als Lecturer, Associate Professor und seit 1974 als Pinchas-Sapir-Professor of Economics dem Lehrkörper der Hebrew University an. Barkai hatte Gastprofessuren an zahlreichen amerikanischen Universitäten inne; als Gastwissenschaftler war er beim IMF, der Inter American Development Bank und bei der Brookings Institution tätig. Daneben war er in mehreren israelischen Forschungs- und Beratungsinstitutionen als Mitglied aktiv. Er gehörte dem 1964 auf Anregung von Simon Kuznets in Jersusalem gegründeten und von Don Patinkin geleiteten Falk Institute of Economic Research in Israel als Fellow an; als Mitglied und später als Vorsitzender des Advisory Committee of the Bank of Israel sowie als Vorsitzender des Committee on Public Sector Salaries übernahm er konsultative und praktische Verantwortung für die israelische Wirtschaftspolitik. So bildete die spezielle Problematik der israelischen Wirtschaft einen besonderen Schwerpunkt von Barkais Forschungsaktivitäten. Intensiv setzte er sich mit den ökonomischen Determinanten der Kibbuzwirtschaft auseinander und ging dabei der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen die dem zionistischen Idealismus folgenden Kibbuzim in eine grundsätzlich marktwirtschaftlich organisierte Wirtschaft integriert werden können. Seine Analyse ergab, daß die Produktionsseite der Kibbuzwirtschaft mit dem neoklassischen Modell voll kompatibel sei: Bei der Bestimmung der optimalen Faktorallokation müßten lediglich an die Stelle des nicht existierenden Lohnsatzes Schattenpreise entsprechend den Opportunitätskosten der Arbeit treten (vgl. 1977; 1982, S. 28). Das begrenzte Wachstum der Kibbuz-Bevölkerung lasse ein langfristiges Ansteigen der Schattenpreise erwarten; steige der Schattenpreis der Arbeit über den Marktlohnsatz, so werde der Einsatz fremder Arbeitskräfte für den Kibbuz attraktiv. Genau diese von Barkai theoretisch formulierte Entwicklung ließ sich in Israel seit den frühen sechziger Jahren beobachten.

Barkai, Halm Dagegen schließe das in den Kibbuzim herrschende Gleichheitsprinzip die Anwendung der gängigen Konsumtheorie aus. An die Stelle des Ausgleichs von Grenznutzen und Preis gelte hier der Grundsatz .Jedem nach seinen Bedürfnissen im Rahmen der Möglichkeit der Gemeinschaft" (1982, S. 32). Eine mechanische Gleichgewichtslösung stelle sich daher nicht ein, vielmehr müsse der jeweilige individuelle und kollektive Konsum in einem Prozeß der demokratischen Willensbildung festgelegt werden. Barkai verdeutlichte, daß dieser Prozeß durchaus zu stabilen Lösungen fuhren könne und auch trotz des Wegfalls pekuniärer Anreize das Motivationsproblem gelöst werden kann, sofem Produktion wie Konsum nicht nur unter einer gemeinsamen Idee stehen, sondern auch eine gewisse optimale Größe nicht überschritten wird. Im Finden dieser optimalen Größe liegt nach Barkai gerade die Herausforderung der Kibbuzim der zweiten und dritten Generation. Während sich zumindest in arbeitsteiligen Produktionsgängen mit wachsender Kibbuzgröße steigende Skalenerträge feststellen lassen, werden diese Vorteile durch Probleme bei der dem Gleichheitsprinzip folgenden Konsumtion ganz oder teilweise kompensiert (1977, passim). Barkais Publikationstätigkeit beschränkte sich jedoch keineswegs auf aktuelle Probleme der israelischen Wirtschaft. Neben grundlegenden makroökonomischen Analysen widmete er sich der Dogmengeschichte, wobei er sich als ein exzellenter Kenner der deutschen Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts erweist. Sein besonderes Interesse gilt den geldtheoretischen Auffassungen der Historischen Schule. Ausgangspunkt für Barkai ist die Frage, welche Verantwortung den Lehren der Historischen Schule bei der galoppierenden Inflation des Jahres 1923 zukam. Die Vertreter der Älteren wie der Jüngeren Historischen Schule hätten dadurch, daß sie vehement jegliche kausale Auswirkung des Geldmengenwachstums und der Höhe des Zinssatzes auf das Preisniveau bestritten und teilweise - wie Roscher - in umgekehrter Weise in der Geldmenge eine vom Preisniveau abhängige Größe erblickten, Anteil an einer wirklichkeitsfernen Wirtschaftswissenschaft gehabt - eine der Ursachen der verheerenden Geldentwertung der zwanziger Jahre. Dabei konstatiert Barkai, daß besonders Schmoller als Hauptvertreter der Jüngeren Historischen Schule in seinem Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre eine Geldtheorie entwickelt habe, die

nicht nur die Grundelemente einer modernen Theorie enthalte, sondern sich in interpretativer Weise in ein formales Modell des Geldmarktes einfügen lasse (vgl. 1991, passim). Dagegen fehle jedoch jegliche Erklärung des Transmissionsmechanismus zwischen Geld- und Gütermarkt: Die Herausforderung von Wicksells bereits 1898 erschienenem Werte Geldzins und Güterpreise werde von der Historischen Schule nicht nur nicht angenommen, sondern von Schmoller schlicht ignoriert. Doch nicht nur die Historische Schule hatte - wie Barkai überzeugend nachweist (vgl. 1993b) - mit der Ablehnung der Mathematik als Hilfsmittel der Ökonomie den Anschluß der deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaften an die angelsächsisch bzw. französisch-italienisch geprägte Wissenschaft verhindert, selbst der als Antipode Schmollers und Vater der Österreichischen Schule geltende Carl Menger hielt mathematisches Handwerkszeug für eher entbehrlich. Der eigentliche Methodenstreit habe so nicht zwischen der induktiven Richtung Schmollers und dem deduktiven Ansatz Mengers stattgefunden, sondern zwischen den Gegnern und Befürwortern einer mathematischen Richtung. Baikai weist schließlich darauf hin, daß es Außenseiter der deutschsprachigen Nationalökonomie wie Gossen, Auspitz, Lieben und Launhardt seien, die noch heute vor dem Hintergrund moderner Ökonomie mit ihren theoretischen Erkenntnissen bestehen könnten. Baikais Publikationen spannen somit einen bemerkenswerten Bogen zwischen wirtschaftspolitischen Studien über Israel, von Patinkins Geldtheorie geprägten makroökonomischen Analysen und einer Auseinandersetzung mit den Klassikern Smith und Ricardo bis zur Dogmengeschichte der deutschen Nationalökonomie des 19. und 20. Jahrhunderts. Zugleich spiegeln sie die Biographie des in Deutschland geborenen, in Israel aufgewachsenen und in moderner angelsächsischer ökonomischer Theorie ausgebildeten Barkai wider. Schriften in Auswahl: (1958) Classical Political Economy and Economic Evolution, Diss., London School of Economics. (1959) Ricardo on Factor Prices and Income Distribution in a Growing Economy, in: Economica, Bd. 26, S. 240-250.

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Bauer, Otto (1965) (1967)

(1969)

(1977)

(1982)

(1986)

(1989)

(1991)

(1993a)

(1993b)

Ricardo's Static Equilibrium, in: Economica, Bd. 32, S. 15-31. The Empirical Assumptions of Ricardo's 93 Per Cent. Labour Theory of Value, in: Economica, Bd. 34, S. 418-423. Α Formal Outline of a Smithian Growth Model, in: Quarterly Journal of Economics. Bd. 83, S. 396-414. Growth Patterns of the Kibbutz Economy (Contributions to Economic Analysis; No. 108), Amsterdam u.a. Der Kibbutz - ein mikrosozialistisches Experiment, in: Das KibbutzModell, hrsg. von G. Heinsohn, Frankfurt a.M., S. 19-59. Ricardo's Volte-Face on Machinery, in: Journal of Political Economy, Bd. 94, S. 595-613. The Old Historical School: Roscher on Money and Monetary Issues, in: History of Political Economy, Bd. 21, S. 179-200. Schmoller on Money and the Monetary Dimension of Economics, in: History of Political Economy, Bd. 23, S. 13-39. Don Patinkin's Contribution to the Economics in Israel, in: Monetary Theory and Thought. Essays in Honour of Don Patinkin, hrsg. von H. Barkai u.a., S. 3-14. Der Methodenstreit und das Aufkommen der mathematischen Ökonomie in: Niehans, J. u.a. (Hrsg.): Rudolf Auspitz und Richard Lieben und ihre Untersuchungen über die Theorie des Preises, Düsseldorf, S. 61-83.

Quelle: AEA. Klaus-Rainer Brintzinger

Bauer, Otto, geb. 5.9.1881

in Wien, gest.

4.7.1938 in Paris Bauer war der wichtigste sozialdemokratische Politiker Österreichs in der Zwischenkriegszeit. Wie viele andere führende Sozialdemokraten Österreichs stammte auch er aus einer bürgerlichen Familie. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien, an der er 1906 mit einer Arbeit über Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemo-

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kratie promovierte. In der sozialistischen Bewegung aktiv war Bauer von Anfang an als Intellektueller. Ab 1904 publizierte er regelmäßig in den theoretischen Schriften der Sozialdemokratie, zuerst in der in Deutschland erscheinenden Neuen Zeit, ab 1907 vor allem im österreichischen Pendant, Der Kampf, deren wichtigster Autor er bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges war, Artikel zu Fragen sozialistischer Theorie und Politik. Die behandelten Themen betrafen vor allem Fragen marxistischer Ökonomie (Krisentheorie und Probleme im Zusammenhang mit der Teuerung) und die für Österreich so wichtige Nationalitätenfrage. Nach Rückkehr aus Krieg und Gefangenschaft 1917 wurde die publizistische Tätigkeit durch seine unmittelbare politische Aktivität an die Seite gedrängt. Bauer war erster Außenminister der Republik Österreich in der Koalitionsregierung unter Karl Renner. Wegen des im Vertrag von Saint-Germain enthaltenen Verbotes des Anschlusses Österreichs an Deutschland trat er nach kurzer Zeit aus der Regierung aus. Den sozialdemokratischen Vorstellungen einer neuen Wirtschaft versuchte er als Vorsitzender der Sozialisierungskommission zum Durchbruch zu verhelfen, trat aber auch von dieser Funktion 1921 zurück, als das Scheitern einer revolutionären Umgestaltung der Produktionsverhältnisse offensichtlich war. Bauer war nach dem Austritt der Sozialdemokratie aus der Koalitionsregierung mit den Christlich-Sozialen der wichtigste Sprecher der Sozialdemokratie in der Opposition, die bis 1934 die größte Partei in Österreich war. Nach der Niederlage der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) in den Kämpfen im Februar 1934 verließ Bauer Österreich. Er leitete das Auslandsbüro der Partei erst von Brünn, dann von Paris aus, wo er im Juli 1938 starb. Bauer war Politiker, der sein Handeln theoretisch, nämlich mit Hilfe des Marxismus, plante und legitimierte. Der Marxismus war für Bauer, wie für die meisten Austromarxisten, eine spezifische Theorie gesellschaftlichen Wandels durch ökonomische Veränderungen. Neben den ökonomischen Schriften von Marx prägte Rudolf Hilferdings Finanzkapital das ökonomische Weltbild Otto Bauers. Die darin entwickelte Theorie von der Vergesellschaftung der Produktion im Kapitalismus durch Zentralisation und Konzentration des Kapitals und die daraus abgeleitete Möglichkeit, die Eigentumsverhältnisse radikal zu ändern, wa-

Bauer, Otto ren die für die Politik und die wirtschaftspublizistische Tätigkeit Bauers bestimmenden Ideen. Während der österreichischen Revolution entwikkelte Bauer seine Vorstellung von Sozialisierung, die eher an gildensozialistischen denn an bolschewistischen Ideen anknüpfte. Die Etablierung einer zentralen Planwirtschaft, wie sie etwa in Österreich -» Otto Neurath vertrat, wurde von ihm abgelehnt. Eine Sozialisierung sollte vielmehr durch die Bildung von Verbänden in den industriellen Sektoren erfolgen. Es war also keineswegs die Auflösung der Existenz von Güter- und Finanzmärkten vorgesehen. Der Konkurrenz zwischen Produzenten in einem Sektor wurde aber wenig Bedeutung beigemessen. Dabei sah Bauer seine Anschauungen im Einklang mit der historischen Entwicklung, nämlich der Herausbildung von Industriekartellen. Diese Industrieverbände sollten durch Kommissionen, in denen Vertreter der Arbeiter der betreffenden Industrie, Vertreter der Konsumenten und Vertreter des Staates saßen, verwaltet werden. Diese Form der wirtschaftlichen Organisation war für Bauer die Institutionalisierung wirtschaftlicher Interessengegensätze zur Erzielung von Kompromissen, nicht wie in den Ideen der Bolschewiken Durchsetzung eines vernünftigen Ganzen. Während die Arbeiter als Produzenten partikulare Interessen verträten hohe Löhne, gute Arbeitsbedingungen - , die Vertreter der Konsumenten hingegen entgegengesetzte Interessen hätten, sollten die Vertreter des Staates in diesem Konflikt vermitteln. Ebenso wie die zentrale Wirtschaftsplanung wurde von Bauer der Selbstverwaltungssozialismus abgelehnt. Er fürchtete nämlich, daß durch ihn vor allem die partikulären Interessen der unmittelbaren Produzenten geschützt würden. Seine Schriften zur Wirtschaftspolitik nach dem Ende der Koalitionsregierung 1921 sind von einer für politisch aktive Marxisten nicht untypischen Ambivalenz gekennzeichnet. Einerseits wurde vom Sozialisten Bauer der Kapitalismus wegen der ihm immanenten Ausbeutung der Arbeiter angeklagt und daraus die Notwendigkeit einer radikalen Umgestaltung der Produktionsverhältnisse gefordert, wobei die historische Möglichkeit dazu der Theorie von Marx bzw. Hilferding entnommen wird. Diese Haltung implizierte die Ablehnung, durch Wirtschafte- und Sozialpolitik die konkreten Übel kapitalistischer Marktwirtschaften wirksam bekämpfen zu können. Andererseits wurde von Bauer, dem Führer der größten Oppositi-

onspartei, von der Regierung eine Wirtschaftsund Sozialpolitik gefordert, die diese konkreten Übel, wenn nicht beseitigt, so doch mildert. Bauer bestätigt den besonderen Vorwurf der Austromarxisten gegen den österreichischen Kapitalismus, den diese vom Anfang ihres Auftretens an gegen ihn erhoben hatten, nämlich daß er rückständig sei. Die Entfaltung der Produktivkräfte werde durch ihn nicht begünstigt. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Österreichs werde durch Partikularinteressen von Teilen der Oberschicht, deren kulturelle und politische Borniertheit und der mangelnden Bereitschaft dieser Schicht, sich in der Organisierung der Produktion zu engagieren, gehemmt. Der österreichische Kapitalismus sei mehr an der Niederhaltung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften als an Akkumulation von Kapital interessiert Eine wirtschaftliche Entwicklung sei in Österreich daher im überkommenen institutionellen Rahmen des Kapitalismus kaum möglich. Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik sei hingegen Politik für eine Modernisierung Österreichs. Eine Besserstellung der Arbeiter und Angestellten könne langfristig nicht im Wege einer Umverteilung von Profiten zu Löhnen, sondern primär nur durch einen wirtschaftlichen Umbau erreicht werden. Allerdings entwickelte Bauer kaum präzise Vorstellungen zur Wirtschaftspolitik, sieht man vom Agrarprogramm ab. Trotz des radikal antikapitalistischen ideologischen Fundamentes seiner Wirtschaftspublizistik entsprechen die konkreten wirtschaftspolitische Ideen eher denen einer Marktwirtschaft mit einem starken öffentlichen Sektor als einer genuin sozialistischen Umgestaltung der Produktion. Sozialpolitik wird als integraler Bestandteil der Wirtschaftspolitik gesehen. So wurde etwa von Bauer in Fragen der Mietgesetzgebung betont, daß durch niedrige Mieten die Löhne niedrig gehalten werden können. Daher helfe der Mieterschutz der Industrie. Rationalisierung, Taylorismus und das Fließband müsse verstärkt in die Produktion eingeführt werden. Die industrielle Konzentration wurde in diesem Zusammenhang positiv bewertet, Konkurrenz sollte eher durch einen Abbau der Zollschranken erreicht werden. Da im Kapitalismus Modernisierung der Wirtschaft im allgemeinen Arbeitslosigkeit zur Folge hat, ist auch die Frage der technischen Modernisierung mit der Frage nach dem Wirtschaftssystem verbunden.

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Bauer-Mengelberg, Käthe Die Weltwirtschaftskrise wurde, wie von den meisten Sozialisten, primär als Beweis für die Überholtheit des Kapitalismus gesehen. Wirtschaftspolitik im Rahmen der herrschenden Wirtschaftsordnung zur Bekämpfung der Krise wurde von Bauer nur zögernd überlegt. Freilich war das theoretische Fundament seiner Ökonomie, nämlich die Marxsche Geldtheorie und die Krisentheorie Hilferdings, nicht dazu angetan, sich mit Vorstellungen wie denen des deutschen WTB-Planes der deutschen Gewerkschaften oder denen der schwedischen Sozialdemokraten ausfuhrlich auseinanderzusetzen. Er unterstützte 1922 die Sanierung der österreichischen Währung, die die Hyperinflation und den Nachkriegsboom beendete sowie 1931 die Sanierung des Budgets, die die Krise noch prozyklisch verschärfte. Erst 1933 entwikkelte Bauer ein Konzept zur Reflationierung der Wirtschaft. Darin wird nicht nur eine Ausweitung der Unterstützung der Arbeitslosen - ein traditionelles Thema der Sozialdemokratie - sondern auch eine vorsichtige Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben gefordert. Dieses Programm blieb zwar weit hinter Vorstellungen, die bereits in anderen Ländern entwickelt worden waren, zurück, war aber im Vergleich zu der damals in Österreich von der Regierung Dollfuß verfolgten Politik radikal reflationistisch. Diese Politik orientierte sich nämlich an einem harten Schilling und war, was die geldpolitischen Vorstellungen betrifft, weitgehend in Übereinstimmung mit den Ideen von Ludwig Mises und -» Friedrich A. Hayek. Die erst nach dem Zweiten Weltkrieg posthum herausgegebene Einführung in die Volkswirtschaftslehre (1956) beruht auf Mitschriften seiner in der Akademie der Sozialdemokratie abgehaltenen Kurse zur Ökonomie. Darin werden die Grundzüge der Manschen Ökonomie dargestellt in Verbindung mit Theorieelementen nicht-marxistischer Schulen, etwa der österreichischen Grenznutzenschule. Es werden darin auch Themen behandelt, die zwar für die marxistische politische Ökonomie von nur peripherer Bedeutung sind, aber von großem Gewicht für Wirtschaftspolitik: Marktpreis, Marktformenlehre, Währung und Steuern.

Schriften in Auswahl: (1910) Die Teuerung. Eine Einführung in die Wirtschaftspolitik der Sozialdemokratie, Wien.

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(1919) (1922) (1925)

(1931) (1933) (1956)

(1976)

Die Sozialisierungsaktion im ersten Jahr der Republik, Wien. Der Genfer Knechtungsvertrag und die Sozialdemokratie. Wien. Der Kampf um Wald und Weide. Studien zur österreichischen Agrargeschichte und Agrarpolitik, Wien. Rationalisierung - Fehlrationalisierung, Wien. Arbeit fur 200 000. Ein Wegweiser aus der Not, Wien. Einführung in die Volkswirtschaftslehre, hrsg. von E. Winkler und B. Kautsky, Wien. Werkausgabe, hrsg. von M. Ackermann u.a., Wien.

Bibliographie: Fischer, GVRosner, P. (Hrsg.) (1987): Politische Ökonomie und Wirtschaftspolitik im Austromarxismus, Wien. Leichter, O. (1970): Otto Bauer - Tragödie oder Triumph, Wien (enth. Bibliographie). Leser, N. (1968): Zwischen Reform und Bolschewismus, Wien. Weissei, E. (1976): Die Ohnmacht des Sieges, Wien. Quellen: Β Hb I; NP; Blaug. Peter Rosner

Bauer-Mengelberg, Käthe, geb. 23.5.1894 in Krefeld, gest. 22.4.1968 in New York Bauer-Mengelberg gehörte zu den Vertretern der Heidelberger Schule. Nach ersten Semestern in München bei Lujo Brentano wechselte sie an die Universität Heidelberg, wo sie das Studium der Nationalökonomie und Soziologie 1918 mit einer Dissertation bei -» S.P. Altmann über die Finanzpolitik der sozialdemokratischen Partei abschloß. Anschließend arbeitete sie zunächst als Assistentin und nach ihrer Habilitation 1923 mit einer Studie Zur Theorie der Arbeitsbewertung als Privatdozentin am Volkswirtschaftlichen Seminar der Handelshochschule Mannheim. 1930 erhielt sie den Ruf auf eine Professur am Staatlichen Berufspädagogischen Institut in Frankfurt/Main, an dem Berufsschullehrer ausgebildet wurden. Nach § 6 des nationalsozialistischen Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 wurde sie aus Gründen der Verwaltungsver-

Bauer-Mengelberg, Käthe einfachung zum 1.3.1934 in den Ruhestand versetzt, wobei ihr Fall zugleich das nationalsozialistische Ziel, die Frauenarbeit einzuschränken, widerspiegelt. Zur gleichen Zeit verlor sie durch Auflösung der Handelshochschule Mannheim ihre venia legendi. Wegen ihrer kurzen Beamtentätigkeit wurden ihr Ruhestandsbezüge nur für eine zweijährige Übergangsphase gewährt. Die Entscheidung Bauer-Mengelbergs zur Flucht ab Herbst 1934 und ihre tatsächliche Emigration erst im Januar 1939 deuten auf die prekäre lebensgeschichtliche Situation dieser Wissenschaftlerin. Vergeblich versuchte sie von Deutschland aus, eine akademische Position im Ausland zu erhalten. Die internationalen Hilfskomitees jedoch konnten nur für bereits geflohene Wissenschaftler tätig werden. Als Alleinerziehende mit zwei gerade schulpflichtigen Kindern - die Ehe mit einem jüdischen Rechtsanwalt, der inzwischen mittellos als Emigrant in Paris lebte, war 1930 geschieden worden - wollte sie Deutschland nicht ins Ungewisse verlassen. Durch Empfehlungen so prominenter Fürsprecher in der Emigration wie Emil Lederer oder Karl Mannheim hatten zwar verschiedene Colleges in Großbritannien und Australien Interesse an ihr bekundet, von Offerten jedoch abgesehen, weil sie annahmen, daB BauerMengelberg wegen der Sorgepflicht für ihre Kinder nur wenig mobil sein würde. Mit einer Hilfstätigkeit bei der Handelskammer Wuppertal bestritt sie zwischen 1936 und 1938 ihren Lebensunterhalt, ehe ihr durch Vermittlung der von deutschen Emigranten gegründeten American Guild for German Cultural Freedom zum Januar 1939 in den USA eine befristete Stelle am Iowa State College of Agriculture and Mechanic Arts angeboten wurde, die aus Mitteln des Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars und des Oberlaender Trust finanziert wurde. Daran schlossen sich weitere kurze Verträge an - im Sommer 1943 an der New York University, von Herbst 1943 bis 1946 am New Jersey College for Women der Rutgers University - , bevor sie eine feste Anstellung als Professorin für Soziologie am Upsala College in East Orange/N.J. bekam, wo sie bis zu ihrer Emeritierung 1964 tätig war. Bauer-Mengelbergs wissenschaftliches Werk in Deutschland zeigt das interdisziplinäre Wissenschaftsverständnis der Heidelberger Schule, die nach Ende des Ersten Weltkrieges gezielt künftige Funktionsträger für die junge Weimarer Republik ausbildete. Im Mittelpunkt von Bauer-Mengel-

bergs Arbeit stand nicht so sehr die originelle ökonomische Analyse, sondern - bestimmt durch ihre Ausbildung von Praktikern an der Handelshochschule bzw. am Berufspädagogischen Institut die Klärung grundlegender sozialökonomischer Zusammenhänge. Ihren politischen Überzeugungen entsprechend begann sie in der Dissertation und der Habilitationsschrift mit Analysen der sozialdemokratischen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie, daran schlossen sich verschiedene Aufsätze zur soziologischen Begriffsbildung (Soziologie und Sozialpolitik, Soziale Praxis 1925, Stand und Klasse, Der Bürger, Kölner Vierteljahreshefte ftir Soziologie 1924 u. 1929) an, bevor sie sich, bedingt durch ihre Lehrverpflichtung in Mannheim, der Agrarpolitik zuwandte. Darüber schrieb sie 1931 ein Lehrbuch, gefolgt von Aufsätzen über die Stadtrandsiedlung, die deutsche Fettwirtschaft oder den Weltweizenmarkt, die zwischen 1932 und 1934 in der von der Frankfurter Zeitung herausgegebenen Wirtschaftskurve erschienen und die Chancen der nationalsozialistischen Autarkiepolitik diskutierten. Mit ihrer Entlassung wurde diese publizistische Tätigkeit unterbrochen und konnte auch nach der Emigration nicht wieder aufgenommen werden. Eine kleine Arbeit über die Agrarbewirtschaftung in den USA während des Zweiten Weltkrieges (Economic Analysis of the Food Stamp Plan, Journal of Farm Economics 1941) suchte zwar an jene früheren agrarpolitischen Arbeiten anzuknüpfen, jedoch blieb das vereinzelt. Im Unterschied zu ihren Kollegen und Schicksalsgenossen in Iowa, -» Gerhard Tintner und Adolf Kozlik, litt sie unter der Entwurzelung. Von Deutschland abgestoßen glaubte sie, auch in den USA nicht „anwachsen" zu können, wie sie dem Vorsitzenden der American Guild, Prinz zu Löwenstein, noch zwei Jahre nach ihrer Ankunft schrieb. In ihrer verunsicherten Lage unterstellte sie den Amerikanern, in jedem Emigranten einen „fifth columnist" zu vermuten. Solche Gestimmtheit war für die wissenschaftliche Produktivität nicht förderlich. Hinzu kamen die hohen Lehrverpflichtungen an amerikanischen Colleges, die eigene Forschungen schwierig machten. Publizistisch trat sie nur noch einmal hervor, als sie Jahre später Lorenz von Steins Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich übersetzte und mit einem einführenden Kommentar herausgab.

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Beckerath, Herbert von Schriften in Auswahl: (1919) Die Finanzpolitik der sozialdemokratischen Partei in ihren Zusammenhängen mit dem sozialistischen Staatsgedanken, Mannheim-BerlinLeipzig (Diss.). (1926) Zur Theorie der Aibeitsbewertung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 55/56, S. 680-719, 129-159 (Habil). (1926) Die liberalen Tendenzen in der ökonomischen Theorie des Sozialismus, in : Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. 12, S. 199-212. (1931) Agrarpolitik in Theorie, Geschichte und aktueller Problematik, LeipzigBerlin. (1964) [Übersetzung, Einführung u. Herausgabe von] Lorenz von Stein, The History of the Social Movement in France, 1789-1850, Totowa, N.J. Quellen: SPSL 2228/3; EC 24; N1 Löwenstein 8, BÄK. Claus-Dieler Krohn

Beckerath, Herbert von, geb. 4.4.1886

in Krefeld, gest. 10.3.1966 in Washington, D.C.

War durch seine Herkunft aus dem großbürgerlichen Milieu geprägt: Man war sowohl den schönen Künsten wie den Wissenschaften zugewandt, gleichzeitig aber auch den unberechenbaren Wechselfällen ausgesetzt, denen sich eine in der Seidenindustrie tätige Unternehmerfamilie gegenübersah. Beckeraths wissenschaftliche Position war, wie bei der Mehrzahl der deutschen Nationalökonomen seiner Zeit, stark von der Historischen Schule beeinflußt. Dennoch war er zu sehr Individualist, als daß er sich streng einer bestimmten Schule hätte zuordnen lassen. Sein Denken war weder auf die bloße Ansammlung einzelner Fakten, noch auf den Versuch der Systematisierung historischer Entwicklungslinien zu Wirtschaftsstufen oder -systemen gerichtet, noch weniger allerdings auf die Konstruktion abstrakter Modelle. Charakteristisch für ihn war eher eine heute würde man sagen: systemare - Blickweise, die versucht, die konkreten Gegebenheiten einer Volkswirtschaft in ihrer wechselseitigen Bezogenheit ökonomischer, sozialer und politischer Ein-

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flüsse aufeinander und vor allem ihres daraus resultierenden stetigen Wandels zu erfassen und zu erklären. Dabei maß er der produktiven Phantasie und der Intuition des Forschers einen höheren Stellenwert als der streng logischen Deduktion zu. deshalb war für ihn die Nationalökonomie mehr eine Kunst als eine exakte Wissenschaft im Stile der Naturwissenschaften" (Wessels 1968, S. 12). Dies gilt im übrigen nicht nur für sein Idealbild vom forschenden Nationalökonomen, sondern auch für das des Unternehmers, der sich Ungewißheiten und ständig wandelnden Situationen gegenübersieht und diesen weniger mit vorgefertigten theoretischen Rezepten als vielmehr mit Einfallsreichtum und Bereitschaft zum Wagnis begegnen muß. In dieser Hinsicht fühlte er sich durchaus der Untemehmervision seines (späteren) Bonner Kollegen -» Joseph A. Schumpeter verwandt. Nachdem er zunächst Rechtswissenschaft studiert und das Referendarexamen abgelegt hatte, wandte sich Beckerath in Freiburg der Volkswirtschaftslehre zu und wurde besonders durch von SchulzeGävernitz beeindruckt, dessen wissenschaftliche Arbeitsweise ihm bis an sein Lebensende vorbildlich erschien. Er promovierte bei ihm mit einer Dissertation über Die Kartelle der deutschen Seidenweberei-Industrie (1911). Nach der Promotion übte H. v. Beckerath für kurze Zeit eine Tätigkeit im Bund der Industriellen unter Gustav Stresemann und beim Zentral verband deutscher Industrieller aus. 1914 habilitierte er sich an der Universität Freiburg mit einer Arbeit Kapitalmarkt und Geldmarkt (1916), in der er sich neben den Unterscheidungsmerkmalen beider Märkte und den ihnen zuzuordnenden Kreditbegriffen auch mit der in der Folgezeit sehr umstrittenen Frage der Möglichkeiten und Grenzen der Giralgeldschöpfung beschäftigte, ohne sich allerdings mit der wenige Jahre vorher erschienenen Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung von Schumpeter ausführlicher auseinanderzusetzen. Nach seiner Privatdozentenzeit an der Universität Freiburg wurde Beckerath 1920 als ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an die Technische Hochschule in Karlsruhe und 1922 an die Universität Tübingen berufen. 1925 schließlich erfolgte sein Ruf an die Universität Bonn, an der er sehr wahrscheinlich bis zu seiner Emeritierung geblieben wäre, hätten nicht die politischen Verhältnisse nach 1933 ihn im Sommer 1934 zur Emigration veranlaßt. Auf Empfehlung Schumpe-

Beckerath, Herbert von ters hatte er eine Gastprofessur am Bowdoin College in Brunswick, Maine, angenommen und sich zu diesem Zweck in Bonn beurlauben lassen. Die Beurlaubung wurde mehrmals verlängert, und seine Rückkehr auf den Bonner Lehrstuhl wäre damals noch jederzeit möglich gewesen, auch nachdem er 1935 eine ordentliche Professur an der University of North Carolina in Chapel Hill angenommen hatte. Seine mehrfachen Besuche in Europa, bei denen er einen unmittelbaren persönlichen Eindruck von der sich zuspitzenden politischen Lage bekam, haben ihn dann aber 1936 veranlaßt, ein Gesuch zum Ausscheiden aus dem deutschen Staatsdienst zu stellen. Amerikanischer Staatsbürger wurde er Ende 1939, nachdem er zwischenzeitlich (1938) von Chapel Hill an die Duke University in Durham, N.C. gewechselt war, wo er auch 1955 emeritiert wurde. Erst Mitte der 1950er Jahre konnte sich Beckerath entschließen, Deutschland zur Wahrnehmung von Gastprofessuren und zur Übernahme einer Honorarprofessur 1956 an seiner alten Alma Mater in Bonn wieder zu besuchen. 1961 hat ihm die Universität Tübingen die Würde eines Ehrendoktors verliehen. Als er 1966 endgültig, von Krankheit und dem Tode seiner Frau gezeichnet, nach Deutschland zurückkehren wollte, erreichte ihn der Tod kurz vor der Abreise. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträgen hat sich H.v. Beckerath, seinem wissenschaftlichen Credo entsprechend, mit jenen faktisch zu beobachtenden Problemen auseinandergesetzt, denen sich die deutsche Volkswirtschaft um die Jahrhundertwende und im AnschluB an den Ersten Weltkrieg gegenübersah. Das waren einmal die verschiedenen Aspekte der industriellen Organisation, insbesondere im Zusammenhang mit der zunehmenden Konzentration und Kartellierung. Zum anderen standen die großen Fragen des Wiederaufbaus der deutschen Volkswirtschaft, einschließlich der sie begleitenden damaligen geld- und währungspolitischen Schwierigkeiten im Mittelpunkt seines wissenschaftlichen Interesses. Dabei hat er immer versucht, die an den jeweiligen konkreten Anlässen festzumachenden Probleme in den seiner Auffassung nach notwendigen und geeigneten gesamtgesellschaftlichen Rahmen zu stellen. Sowohl in seinen Darstellungen des Valuta- wie des Transferproblems reihte sich H.v. Beckerath in die Reihe jener Ökonomen ein, die der Lehre von der vorrangigen Rolle monetärer Ursachen

von Wechselkurs- und Zahlungsbilanzungleichgewichten entgegentraten und die Gründe der Schwierigkeiten in erster Linie in güterwirtschaftlichen Fehlentwicklungen suchten. Entsprechend waren seine wirtschaftspolitischen Therapievorschläge ausgerichtet. In seinem Werk Der moderne Industrialismus (1930) ging Beckerath von der damals noch vorherrschenden eher wirtschaftskundlich und gewerbepolitisch ausgerichteten Darstellungsweise über zu einer sehr viel differenzierteren und tiefergehenden Analyse der modernen Industriewirtschaft. Er hob deren ganz unterschiedliche Strukturen in technischer sowie in angebots- und nachfragespezifischer Hinsicht hervor und wies damit auf die in letzter Konsequenz unberechenbaren und zufälligen ökonomischen Abläufe hin, die sich einer streng rationalen Betriebs- und Unternehmensführung entzögen. Die Unwägbarkeiten und Unberechenbarkeiten des Wirtschaftslebens sein durchgängiges Thema - haben ihn auch vor einer zu einseitigen Sichtweise gegenüber den verschiedenen Formen von Unternehmenskooperationen und -Zusammenschlüssen bewahrt. Durch sie sah er jedenfalls die ökonomische Funktionsfahigkeit der Wettbewerbswirtschaft noch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Seine Besorgnisse waren auch in dieser Hisicht über die rein ökonomischen Probleme hinausgehend weiter auf die möglichen gesellschaftspolitischen Gefährdungen gerichtet. Im Zwang zur Rationalisierung, zur organisatorischen Perfektioniening und zum (manchmal dysfunktionalen) Zusammenschluß von Betrieben und Unternehmungen sah er zugleich auch Tendenzen zur Massensuggestion und zur Manipulierung wirtschaftlicher Abläufe, insbesondere zur Beeinflussung der Nachfrage angelegt. In den zwanziger Jahren verstärkte sich sein Pessimismus hinsichtlich der Zukunftsaussichten des kapitalistischen Wirtschaftssystems und „immer mehr begann er an dem kulturellen Wert des industriellen Systems, dessen Entwicklung darzustellen er als sein eigentliches Lebenswerk betrachtet hatte, zu zweifeln" (Wessels 1968, S. 26). Kein Wunder, daß ihm die Entwicklung nach 1933 als die politische Fortsetzung und Übersteigerung der Versuche zur Manipulation des Menschen deutlich werden mußte und sein Individualismus und tief verwurzeltes Gefühl fur Menschenwürde und den kulturellen Wert persönlicher Freiheit darauf mit geradezu physisch empfundenen Leiden reagierte (H. J. Krümmel 1968).

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Behrend, Hilde Es zeugt aber auch für v. Beckeraths Fähigkeit zur vorurteilsfreien Beobachtung faktischer Vorgänge, wenn in seinen amerikanischen Jahren trotz der dankbar empfundenen Freiheit und der dort erfahrenen Offenheit im persönlichen und fachlichen Austausch der Menschen und Kollegen, seine Skepsis hinsichtlich der Fähigkeit des Industriesystems, die kulturellen Ideale der westlichen Zivilisation zu bewahren, eher noch zugenommen hat. In dem stärker ausgeprägten Wirtschaftlichkeitsdenken der US-Wirtschaft sah er alle jene Gefahren angelegt, die er bereits für die Entwicklung der europäischen, speziell der deutschen Industrie in den zwanziger und dreißiger Jahren glaubte konstatieren zu können. Dies kommt in seinem Werk Großindustrie und Gesellschaftsordnung (1954) recht klar zum Ausdruck. Hinter solchen Bedenken stand vermutlich sein sorgenvoller Wunsch, daß Amerika die Kraft bewahren möge, der seiner politischen und wirtschaftlichen Führungsposition entsprechenden moralischen Dimension nicht verlustig zu gehen.

(1956)

(1963)

Industriepolitik II: Epochen und Bereiche. in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 5. Stuttgart u.a., S. 276-281. Wirtschaftspolitik, Machtpolitik und der Kampf um die Weltordnung, in: Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart. H. 268/269. Tübingen.

Bibliographie: Krümmel, H.J./Wessels, Th. (1968): In Memoriam H.v. Beckerath. Alma Mater, Beiträge zur Geschichte der Universität Bonn, H. 24, Bonn. Herbert von Beckerath (1866-1966), in: 150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818-1968, Bonner Gelehrte, Staatswissenschaften, Bonn 1969. Quellen: Β Hb II; HldWiWi 1966; Wenig, O. 1968; 150 Jahre Promotion a. d. WiWi. Fak. d. Univ. Tübingen, bearb. von I. Eberl/H. Marcon, Stuttgart 1984. Helmut Walter

Schriften in Auswahl: (1911)

Die Kartelle der deutschen Seidenweberei-Industrie, Karlsruhe (Diss.).

(1916) (1920) (1922)

(1928)

(1930)

(1936)

(1942) (1954)

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Behrend, Hilde, geb. 13.8.1917 in Berlin

Kapitalmarkt und Geldmarkt. Eine ökonomische Studie, Jena (Habil.). Die Markvaluta, Jena. Kräfte, Ziele und Gestaltungen in der deutschen Industriewirtschaft, Jena, 2. erw. u. verb. Aufl., 1924. Reparationsagent und deutsche Wirtschaftspolitik. Eine programmatische Kritik der deutschen Wirtschaft der Gegenwart, Bonn. Der moderne Industrialismus (Gewerbepolitik I). Grundrisse zum Studium der Nationalökonomie, hrsg. v. K. Diehl/P. Mombert, Bd. 11, Nr. 1, Jena. Die Vereinigten Staaten und der 'New Deal', in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 60, Η. 1, S. 275-301 u. H. 2, S. 401-426. In Defense of the West. A Political and Economic Study, Durham, N.C. Großindustrie und Gesellschaftsordung. Industrielle und politische Dynamik, Tübingen/Zürich.

Behrend emigrierte als 19-jährige nach Großbritannien. Sie verdiente sich zunächst als Sekretärin den Lebensunterhalt, begann aber 1941 ihr Studium an der London School of Economics. Nach dem Studium nahm sie eine Arbeit als Lehrerin für Deutsch und Französisch in einer Grammar School an. Die Kenntnisse aus der Arbeitswelt der Lehrer nutzte sie in ihren späteren wissenschaftlichen Analysen der unterschiedlichen Motivationssysteme der Arbeitskräfte in verschiedenen Arbeitsmärkten. 1949 gab Behrend ihre Tätigkeit im Sekundarschulbereich auf, nahm an der Universität Birmingham bei Sargant Florence eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft und Forschungsassistentin an und setzte ihr Studium fort. 1951 promovierte sie an der Universität Birmingham. Drei Jahre danach nahm Behrend an der Universität von Edinburgh eine Stelle als Assistentin an und blieb dieser Universität fortan treu. Als 56jährige wurde sie ordentliche Professorin für Industrial Relations. Hilde Behrend lebt heute in einem Pflegeheim, wobei die Alzheimersche Krankheit sie ihre Leistungen als Forscherin vergessen macht.

Behrend, Hilde Behrends wissenschaftliche Arbeit kreist um die Analyse menschlicher Verhaltensmuster und Entscheidungsprozesse. In Normative Factors in the Supply of Labour (1955) untersuchte sie das unterschiedliche Fluktuationsverhalten von Arbeitskräften im verarbeitenden Gewerbe und im Mittelschulwesen. An Hand von empirischen Erhebungen wies sie nach, daß normative Elemente Entscheidungen Uber den Arbeitsplatzwechsel beeinflussen (soziale Verhaltensmuster) und infolgedessen der Reaktion der Menschen auf Marktkräfte (finanzielle Anreize) Grenzen gesetzt seien. Ein weiterer Forschungsaspekt, den Behrend 1959 aufgegriffen hat und nicht wieder aus den Augen verloren hat, betrifft die Analyse der freiwilligen Absenz von der Arbeit. Sie machte darauf aufmerksam, daß Arbeitsbedingungen und persönliche Charakteristika für unterschiedliche Absenzraten verantwortlich seien. Um dem Problem auf den Grund zu gehen, ist eine Unterscheidung der Absenz in Häufigkeit (Eintagesabsenz) und Dauer der Absenz in Tagen vorzunehmen. Die empirischen Ergebnisse sind für sich genommen interessant, Behrend trug aber zusätzlich zur Methodenverbesserung der Analyse bei, indem sie darauf aufmerksam machte, daß Durchschnittswerte für die Beurteilung von Absenzraten nicht ausreichen würden und sie den Weg der Differenzierung aufzeigt. Darüber hinaus versuchte sie in ihrer Arbeit, die komplexen Probleme der industriellen Beziehungen (industrial relations), d.h. die Kommunikation und Kooperation zwischen Interessensvertretungen und dem Staat zu identifizieren. Sie weist darauf hin, daß die Analyse industrieller Beziehungen problemorientiert ist, kaum in abstrakte Theorien, sondern vielmehr in konkrete Hilfestellung für wirtschaftspolitische Weichenstellungen mündet. Behrend selbst konzentrierte sich auf die Analyse des Konsumentenverhaltens in Fragen der Perzeption von Preisen und Preisanpassungsprozessen - ein Bereich des Konsumverhaltens, der bis dato kaum analysiert wurde. Des weiteren stellt sie das Verständnis des einfachen Bürgers und der Verhandlungspartner in Kollektivverhandlungen für Lohn-Preisanpassungen dar und weist auf die Implikation des geringen Wissens über ökonomische Zusammenhänge für die Akzeptanz einer nationalen Einkommenspolitik hin. Wenn Einkommenspolitik effizient sein soll, müßten einerseits realistische Preisvorstellungen vermittelt werden (Informationsaufgabe politisch

unabhängiger Institutionen wie dem Konsumentenschutz), andererseits sei es wichtig, daß Preise und Preisentwicklungen an einem relevanten Referenzsystem ausgerichtet werden, nämlich dem Einkommen und der Einkommensentwicklung und nicht an Preisen der Vergangenheit oder der sozialen Gruppenzugehörigkeit, die den Erhebungen zufolge in Großbritannien die üblichen Bezugsysteme darstellen. Der Erfolg der Inflationsforschung Behrends lag nicht zuletzt im Hinterfragen der Annahmen ökonomischer Theorien. Sie überschritt mit ihren Inflationserhebungen die traditionellen Forschungsgrenzen der ökonomischen Theorie und bearbeitete ein Niemandsland, das auch Psychologen in Analysen der Lohngerechtigkeit ignorierten. Schriften in Auswahl: (1955) Normative Factors in the Supply of Labour, in: The Manchester School of Economic and Social Studies, Bd. 23, S. 62-76. (1959) Voluntary Absence from Work, in: International Labour Review, Bd. 79, S. 109-140. (1961)

(1966)

(1969)

(1971)

(1974)

(1974/75)

A Fair Day's Work, in: Scottish Journal of Political Economy, Bd. 8, S. 102-118. Price Images, Inflation and National Incomes Policy, in: Scottish Journal of Political Economy, Bd. 13, S. 2732%. Have you Heard the Phrase ' Productivity Agreements'? (zus. mit Α. Knowles und J. Davies), in: Scottish Journal of Political Economy, Bd. 16, S. 256-270. Public Acceptability and a Workable Incomes Policy, in: An Incomes Policy for Britain, National Institute of Economic and Social Research and the Social Science Research Council, London. The Impact of Inflation on Pay Increase Expectations and Ideas of Fair Pay, in: Industrial Relations Journal, Bd. 5, S. 5-10. A New Approach to the Analysis of Absences from Work, in: Industrial Relations Journal, Bd. 5,4-21.

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Behrendt, Richard Fritz Walter (1975)

(1976)

(1984) (1988)

Pay Negotiations and Incomes Policy. A Comparison of Views of Managers and Trade Union Lay Negotiators, (zus. mit A.I. Glendon und D.P. Tweedie), in: Industrial Relations Journal, Bd. 6, S. 4-19. Absence and the Individual: a Sixyear Study in One Organisation, (zus. mit S. Pocock), in: International Labour Review, Bd. 114, S. 311-327. Problems of Labour and Inflation, Croom Helm/Beckenham. Reaching Policy-Makers: An Autobiographical Account, in: Information and Government, hrsg. von R. Davidson, P. White, Edinburgh.

Quelle: Β Hb Π; Behrend, Η. (Brief vom 20.5.91). Gudrun Biffl

Behrendt, Richard Fritz Walter, geb. 6.2.1908 in Gleiwitz, gest. 17.10.1972 in Basel Behrendt stammte aus einer Industriellenfamilie. Die engere Verwandtschaft war in Schlesien beheimatet; zu ihr gehört unter anderem der bedeutende Afrikaforscher Emin Pascha (Eduard Schnitzer, Okt. 1892 von Sklavenjägern im östlichen Kongo ermordet). Behrendt besuchte das Humanistische Gymnasium in Fürstenwalde/ Spree, wo der Vater einen Betrieb erworben hatte. Dieser konnte unter dem Druck der politischen Verhältnisse Anfang der dreißiger Jahre rechtzeitig veräußert werden. Die Eltern konnten von 1933 an in Haifa einen neuen Betrieb erwerben und ausbauen; sie kehrten nicht mehr nach Deutschland zurück. Das Studium absolvierte Behrendt vom Wintersemester 1926 an in Nürnberg, vom Sommersemester 1929 an in Köln, vom Sommersemester 1930 bis zur Promotion zum Doktor der Staatswissenschaften 1931 in Basel. Zu seinen Lehrern in der Soziologie und Philosophie gehörten vor allem L. von Wiese, P. Honigsheim, H. Plessner, M. Scheler, W. Vleugels; in der Nationalökonomie E. von Beckerath, H. Ritsehl, E. Salin, J. Wackemagel. Insbesondere durch von Wiese („dem mutigen Bekenner einer humanen Ethik in zwei Weltkriegen", 1967a) und Salin erhielt er, worauf er immer wieder hinwies, ganz wesentliche Anstöße.

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1932 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er alsbald der Verfolgung ausgesetzt war. Seine nichtjüdische Frau Elfriede ermöglichte ihm das 'Untertauchen' in Bad Oeynhausen und Umgebung. Sie war es auch, die die erfolgreiche Flucht über die Schweiz nach England organisierte. Hier lebten sie in Monaten der Ungewißheit, in denen Behrendt Lehrveranstaltungen der London School of Economics besuchte, ehe er Kontakte zu emigrierten Kollegen in Panama knüpfte. Wesentlich prägend für seinen Lebensabschnitt in der Emigration wurden seine Erfahrungen in Nord- und Südamerika seit 1935. In Panama war er an der Gründung der dortigen Universität beteiligt, wohin weitere Emigranten, darunter Hans Kohn, gelangt waren. Behrendt wurde dort Direktor der Forschungsstelle für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Hier entstanden zahlreiche Schriften, die zu den ersten fundierten soziologischen Beiträgen im mittelamerikanischen Raum gehören. Von hier konnte er auch auf zahlreichen Reisen die Entwicklungsproblematik vor allem der mittelamerikanischen, aber auch einzelner südamerikanischer Staaten aus eigener Anschauung kennenlemen, so beispielsweise in Peru und in Paraguay. 1945 wurde er Full Professor an der Colgate University in Hamilton/USA, kurz darauf Regieningsberater in Peru (ab 1949) und Sachverständiger der International Bank for Reconstruction and Development, der Weltbank, in Washington (ab 1950). Er wirkte 1951 als Berater der Regierung von Puerto Rico und, ab 1952, der Vereinten Nationen. Auf der Grundlage seines in dieser Phase erworbenen hohen Renommees und seiner zahlreichen Publikationen zur Entwicklungsproblematik, aber auch wegen seines brillanten Rufes als Universitätslehrer, den er sich an verschiedenen Universitäten erworben hatte, wurde er auf Anregung von Fritz Marbach, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Bem, 1953 an diese Universität berufen, wo es ihm als dem ersten Lehrstuhlinhaber für Soziologie nach beharrlicher Aufbauarbeit gelang, im Jahre 1960 das Institut für Soziologie und sozioökonomische Entwicklungsfragen der Universität Bem zu gründen. Als dessen renommierter Direktor wurde er unterstützt von mehreren namhaften Wirtschaftsunternehmungen aus den Kantonen Bern, Neuenburg, Solothum. Im Jahre 1965 folgte er einem Ruf an die Freie Universität Berlin. In Bern war er nicht heimisch geworden; es zog ihn förmlich nach Deutschland zurück; er schien sich bewußt, daß er

Behrendt, Richard Fritz Walter dort gebraucht würde. Der Entschluß wurde für ihn während der Wirmisse der endsechziger Jahre zu einer großen menschlichen Enttäuschung. Er hatte im übrigen vorher einen Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Münster (von wo auch die Sozialforschungsstelle in Dortmund hätte geleitet werden müssen) vorwiegend aus politischen Gründen abgelehnt; die Berufung erging dann an Helmut Schelsky. Das umfängliche Oeuvre zusammenzufassen, ist wegen seiner bemerkenswerten Materialfülle und der differenzierten Darstellungsweise nicht leicht möglich; es mögen hier einige Grundprinzipien genügen. In Lateinamerika hatte er die Erfahrung gemacht, daß sozialer Wandel in den ja schon seit weit über 100 Jahren selbständigen Ländern in einem Immobilismus erstarrt war und daß ein sozialer Wandel nur über soziale und institutionelle Strukturen initiiert werden könnte. Von daher suchte er nach tragfähigen Ansätzen, von denen ausgehend und mit denen gemeinsam eine Erneuerung herbeigeführt werden könnte. Er sah sehr wohl, daß das bei den Verwaltungseliten der Länder und bei den gesellschaftspolitisch wirksamen Resten des verbreiteten Feudalismus auf Schwierigkeiten stoßen würde. Die allein wirtschaftspolitische Orientierung verwarf er gründlich und setzte sich stattdessen für „soziales Wachstum" ein, für eine Verbindung von sozialer und ökonomischer Entwicklung. Seine vielfältigen Erkenntnisse faßte er in umfänglichen und zahlreichen Publikationen in spanischer Sprache zusammen. Hinzu kamen zahllose Berichte, die er als Experte in verschiedenen Staaten für den internen Gebrauch ausgearbeitet hatte. Das eigentliche Fazit aus diesen Erfahrungen legte er in zahlreichen Schriften vor, die nach seiner Rückkehr nach Europa veröffentlicht wurden. Dazu gehört zunächst die vielbeachtete Arbeit Eine freiheitliche Entwicklungspolitik für materiell zurückgebliebene Länder (1956b). Dazu gehört des weiteren ein Sammelband, der aus einer Ringvorlesung im Wintersemester 1960/61 an der Universität Bern und aus einem Wochenendseminar im Februar 1961 unter enormer Beteiligung fachkundiger Entwicklungsspezialisten entstand: Die wirtschaftlich und gesellschaftlich unterentwickelten Länder und wir, Stellungnahmen aus Wissenschaft und Praxis (1961). Auf dieser Linie ist dann auch sein Opus Magnum zu sehen, Soziale Strategie fiir Entwicklungsländer (1965b), das in der von Pierre Bertaux herausgegebenen Reihe

Welt im Werden erschien. Dieses Werk blieb über Jahrzehnte das Standardwerk für die Entwicklungssoziologie und kann selbst heute nicht als überholt eingeschätzt werden. Was dort über Entwicklung als gelenkten Kulturwandel, psycho-soziale Elemente des Entwicklungsprozesses, Zellen und Träger des Entwicklungsprozesses, Emanzipation der Frau, gesellschaftliche Sachlichkeit, disharmonische Entwicklungen, die Rolle des Nationalstaates und über Grundsatzfragen der Entwicklungssoziologie gesagt wird, ist von manchen nie zur Kenntnis genommen, von anderen allzu früh vergessen worden. Gerade bei der Entwicklungsstrategie forderte er u.a. realistische Planung, Fundamentaldemokratisierung, plurale Mobilisierung von Entwicklungsträgem, Nivellierung der Machtstrukturen, globale Orientierung. In diesem großen theoretischen Entwurf auf empirischer Grundlage, dabei nicht nur seine Erfahrungen aus Lateinamerika nutzend, stützte er sich auf und ließ sich anregen von Ralph Linton, Daniel Lerner, -» Franz und Ludwig Oppenheimer und andere mehr. Im ganzen gesehen ging es ihm um den Menschen, was, gerade bei der genossenschaftlich fundierten Entwicklung, so große Vorteile mit sich bringen konnte (auf der Grundlage weiter Erfahrungen in der kontinentaleuropäischen Genossenschaftsgeschichte): „Das Hauptmotiv dieser Tendenz ist die Suche nach Hegung für Menschen, die im Zustande der Vereinzelung in einer für sie unübersichtlichen Großgesellschaft das Gefühl haben, anonymen und übermächtigen Kräften anheimgegeben zu sein. Die staatssozialistischen und kommunistischen Gestaltungsideen sind Antworten auf diese Suche. Ihnen gegenüber ist die Genossenschaft zweifellos die freiheitlichste und gleichzeitig die einzig konstruktive Form des Kollektivismus" (1956b). „Individuelle Autonomie kann sich nur in einem kooperativen Rahmen entfalten und erhalten, also in einer Gesellschaft, die gekennzeichnet ist durch die freiwillige Mitverantwortung und Mitwirkung der einzelnen für das Gemeinwesen" (1967a). In der allgemeinen soziologischen Theorie erwarb sich Behrendt einen internationalen Ruf durch die Werke Der Mensch im Licht der Soziologie (1962) und Dynamische Gesellschaft (1963). Es erschienen zahlreiche wegweisende Aufsätze, darunter The Emergence of New Elites and New Political Integration Forms and Their Influence on Economic Development, ein Vortragstext, den er anläßlich des 5. Weltkongresses für Soziologie in

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Behrendt, Richard Fritz Walter Washington (1962) vorgetragen hatte. Er sprach auf dem Großereignis der internationalen Soziologie, der Max Weber Gedächtnisveranstaltung 1964, in Heidelberg und auf Tagungen und Vortragsveranstaltungen in vielen Ländern. Nach seiner Übersiedlung nach Berlin mit der sich anbahnenden, aus den verschiedensten Motiven und politischen Quellen zehrenden sogenannten Achtundsechzigerbewegung sah er sich in seiner konstruktiven, der Aufklärung verbundenen und fundamentaldemokratischen, also antiautoritären Perspektive im eigentlichen Sinne, förmlich überrollt, enttäuscht, entsetzt. Davon zeugen seine letzten Schriften Uber die Rolle Europas, Menschenrechte und neue soziale Einstellungen und Ordnungen, geschrieben aus der Sicht des kritischen Realisten und demokratischen Umgangsformen verpflichteten „progressiven Konservativen". Von Berlin aus führte er noch Feldforschungen in Ecuador durch (Sozialstruktur und Entwicklung in einem Neusiedlungsgebiet). Als er erkannte, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden, zog er sich nach Basel zurück, wo er seinem allzu frühen Tod bewußt und ohne Inanspruchnahme lebensverlängemder medizinischer Hilfen entgegensah.

(1956a)

Problem und Verantwortung des Abendlandes in einer revolutionären Welt (Recht und Staat. H. 191/192). Tübingen.

(1956b)

Eine freiheitliche Entwicklungspolitik für materiell zurückgebliebene Länder, in: ORDO, Bd. 8, S. 67-122.

(1957)

Kulturzusammenstöße und soziale Spannungen in Lateinamerika, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 9, Nr. 2, S. 232-257.

(1958)

Zur Soziologie des Sowjet-Regimes, in: Gewerkschaftliche Monatshefte. Bd. 9, Nr. 2, S. 65-74.

(1961)

Die wirtschaftlich und gesellschaftlich unterentwickelten Länder und wir (als Hrsg.) (= Bemer Beiträge zur Soziologie, Bd. 7), Bern/Stuttgart.

(1962)

Der Mensch im Licht der Soziologie, Versuch einer Besinnung auf Dauerndes und Wandelbares im gesellschaftlichen Verhalten, Stuttgart (5. Aufl. 1973).

Schriften in Auswahl: (1932a) Die Schweiz und der Imperialismus. Die Volkswirtschaft des hochkapitalistischen Kleinstaates im Zeitalter des politischen und ökonomischen Nationalismus, Zürich (phil.Diss.). (1932b) Politischer Aktivismus, Leipzig. (1933) Wirtschaft und Politik im „reinen Kapitalismus", in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 57, S. 223-245. (1941) Economic Nationalism in Latin America, Albuquerque/New Mexico. (1945) Problemas y orientaciones socio-econömicos para la postguerra, Panama. (1948) Inter-American Economic Relations: Problems and Prospects, New York.

(1963)

Dynamische Gesellschaft. Über die Gestaltbarkeit der Zukunft, Bern u.a.

(1964)

Über die Notwendigkeit einer Neuorientierung der Entwicklungspolitik (Institut für Weltwirtschaft, Kieler Vorträge, Bd. 33), Kiel.

(1965a)

Globale Entwicklung als Aufgabe unserer Zeit, in: Universitas, Bd. 20, Nr. 10, S.1041-1048.

(1965b)

Soziale Strategie für Entwicklungsländer: Entwurf einer Entwicklungssoziologie, Frankfurt a.M. (2. Aufl. 1969).

(1966)

Lateinamerika: Labilität und Rivalität der Integrationsgebilde, Berlin.

(1954)

(1967a)

Menschenwürde als Problem der sozialen Wirklichkeit, in: W. Maihofer und R.F. Behrendt: Die Würde des Menschen, Teil II, Hannover.

(1967b)

Zwischen Anarchie und neuen Ordnungen. Soziologische Versuche über Probleme unserer Welt im Wandel, Freiburg i.Br.

(1955)

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Die wirtschaftliche und soziale Revolution in den unentwickelten Ländern, Bern (2.Aufl. 1959). Der Beitrag der Soziologie zum Verständnis internationaler Probleme, in: Schweizer Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Bd. 91, S. 145170.

Berger-Voesendorf, Alfred Victor Richard Behrendt begründete und war Herausgeber der Reihe Bemer Beiträge zur Soziologie (11 Bde., 1959-1965). Eine vollständige Bibliographie des wissenschaftlichen Schrifttums Behrendts existiert nicht. Quellen: Β Hb II; HldWiWi, 2. Aufl., 1966 (enth. Auswahlbibliograhie); ISL 1984; Lühr, V7 Grohs, G. (1973) (Nachruf), in: Köln.Zs.f.Soz., Bd. 25, S. 226-228; Trappe, P. (1973) (Nachruf), in: SSIPBulletin, Nr. 34, S. 2-3. Paul Trappe

Berger-Voesendorf, Alfred Victor, geb. 9.1.1901 in Wien Nach der Matura studierte der Sohn eines Industriellen Rechts- und Staatswissenschaften in Wien, Graz, Berlin und Breslau, die er an der letzten Universität 1922 mit dem Dr.iur.utr. und 1924 in Wien mit dem Dr.rer.pol. abschloß. Es folgten Volontariate bei verschiedenen Wirtschaftsunternehmen, ehe er sich seit 1928 als Rechtsanwalt und Wirtschaftsberater in Wien niederließ. Daneben setzte er seine bereits zuvor begonnene Tätigkeit als Wirtschaftsjournalist fort. Während der autoritären Stände-Diktatur unter der Kanzlerschaft von Engelbert Dollfuß wurde der katholisch-konservative Legitimist Berger-Voesendorf als Fachmann für den ständischen Aufbau Assistent an der Hochschule für Welthandel iD Wien. Daneben war er als Organisator, Propagandist und Berater bei verschiedenen austrofaschistischen Verbänden tätig (Vaterländische Front, Katholische Aktion, Ostmärkische Sturmscharen etc.). Beim 'Anschluß' Österreichs floh Berger-Voesendorf über die Tschechoslowakei in die Niederlande, wo er kurzfristig einen Lehrauftrag an der Universität Utrecht erhielt, ehe er bei Kriegsausbruch 1939 nach London ging. Die Unterlagen des britischen Hilfskomitees für vertriebene deutschsprachige Wissenschaftler, der Society for the Protection of Science and Learning (SPSL), zeigen, daß es für den offensichtlich monomanen Berger-Voesendorf, der es zudem mit der Wahrheit in seinen je nach Opportunität frisierten biographischen Angaben nicht so genau nahm, schwer war, in der Emigration Fuß zu fassen. Das Angebot einer kleineren amerikanischen Universität des Westens lehnte er ebenso ab wie seine erklärte Feindschaft gegen den Nationalsozialismus in dem für Emigranten zugänglichen britischen

Pioneer Corps unter Beweis zustellen, es sei denn, man hätte ihn sogleich in eine höhere Position befördert. Mit einigem Befremden ist diese Haltung zur Kenntnis genommen worden: „He will undertake no work that is not 'worthy' of Berger-Voesendorf' (SPSL 228/5). Vom Sommer 1940 bis zum Frühjahr 1944 war er daher als 'enemy alien' auf der Isle of Man und in Canada interniert worden. Anschließend arbeitete er als Berater für die polnische Exilregierung in London. Nach einigen Monaten als Lecturer for International Trade an der Universität Oxford bekam er 1946 ein neuerliches amerikanisches Angebot des Sterling College in Kansas, welches er jetzt anzunehmen bereit war. Doch die amerikanischen Behörden lehnten die Erteilung eines Non Quota-Einreisevisums ab, da er bei der Antragstellung falsche Angaben über seine frühere akademische Tätigkeit gemacht und auch seine Interniening verschwiegen hatte. Durch Vermittlung der SPSL erhielt er aber immerhin eine befristete Anstellung an der Faruk University in Ägypten; später stilisierte er diese zum Direktorat des dortigen Departments of Economics. Erst 1948 gelang ihm die Einreise in die USA mit einem Vertrag als Visiting Professor an der Gonzaga University in Spokane/Washington. Unterbrochen von einem Aufenthalt an der Universidad de los Andes in Bogota 1953 lehrte Berger-Voesendorf, der 1954 US-Bürger wurde, bis zu seiner Emeritierung 1968 jeweils in befristeter Stellung an verschiedenen amerikanischen Colleges und kleineren Universitäten. Wissenschaftlich signifikant hervorgetreten ist er nicht. Neben seinen zumeist politisch induzierten Arbeiten hat er auf ökonomischem Gebiet in den frühen dreißiger Jahren eine historisch orientierte Untersuchung zur Handelspolitik vorgelegt, die die Grundlage späterer Veröffentlichungen in der Emigration bildete. Für zeitgenössische Beobachter ist er jedoch ein geschickter akademischer Lehrer gewesen, und diese Tätigkeit umfaßte in den USA nicht nur die Ökonomie, sondern auch die Soziologie, die Politikwissenschaft und die katholische Religionslehre.

Schriften in Auswahl: (1922) Das geltende Steuerrecht in seinen Wirkungen auf die Produktion im Deutschen Reich der Nachkriegszeit, Breslau (Diss. iur.).

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Bergmann, Theodor (1926)

(1932)

(1938)

(1945) (1947a)

(1947b) (1952)

Der leitende Wirtschaftsbeamte. Die Funktionäre der Unternehmung in volkswirtschaftlicher, privatwirtschaftlicher, rechtlicher und soziologischer Betrachtung, Wien/Leipzig (Diss. rer. pol.). Die Entwicklungstendenz der modernen Handelspolitik. Der Weg zum Schutzhandel, Berlin. Das Staatsprogramm des sozialen Konservativismus in Österreich für Verfassung, Verwaltung, Recht, Wirtschaft, soziale Frage, Staatsform, Kultur, Familie, Außenpolitik, Nation und Minoritäten, Wien. The Real Face of the Political Emigration from Germany, London. The Pathology of Foreign Trade. A Systematic Survey on Modem Foreign Trade Policy, Alexandria. The Theory of Economic Policy in the Interventionist State, Alexandria. An Analysis of the Mixed Economy, using the Sub-Model Technique, Washington.

Quellen: Β Hb II; SPSL 228/5. Claus-Dieter Krohn

Bergmann, Theodor, geb. 7.3.1916 in

Berlin

Er versteht sich als international orientierter, kritisch-marxistischer Agrarwissenschaftler, der sich vor allem mit den sozialen, ökonomischen und politischen Problemen der Landwirtschaft befaßt. Ein intellektuelles wie liberales Elternhaus - der Vater war Rabbiner - , ein besonderes naturwissenschaftliches Interesse sowie ein frühes Engagement in der sozialistischen, später kommunistischen Bewegung prägten und kennzeichneten Bergmanns Jugend. Seine antistalinistisch-kommunistischen Lehrer August Thalheimer und Heinrich Brandler hinterließen einen tiefen, lebenslangen Einfluß. M.N. Roy weckte sein Interesse für Indien und China. Unmittelbare Lebensbedrohung durch die nationalsozialistische Verfolgung zwang Bergmann an seinem 17. Geburtstag, wenige Tage nach dem Abitur, zu fliehen. Er begann seine „akademische Laufbahn" als Landarbeiter; zuerst in einem Kibbutz und in Privatbetrieben in Palästina (19331936), dann in der Tschechoslowakei (bis 1938) -

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hier studierte er als Externer Landwirtschaft an der Deutschen Technischen Hochschule Prag und schließlich in Schweden (bis 1946). Im April 1946 kehrte Bergmann nach Deutschland zurück, diplomierte 1947 in Bonn und arbeitete anschließend als Gutsverwalter bis 1948. Es folgte eine Phase starken politisch-journalistischen Engagements, in der er u.a. bis 1952 die Zeitschrift Arbeiterpolitik herausgab. Dann entschied sich Bergmann jedoch für wissenschaftliches Arbeiten und promovierte 1955 in StuttgartHohenheim bei Otto Schiller über Wandlungen der landwirtschaftlichen Betriebsstruktur in Schweden - Tendenzen und agrarpolitische Maßnahmen. 1956 bis 1964 bildete Bergmann an der Landwirtschaftskammer Hannover Landarbeiter beruflich weiter und publizierte insbesondere in der Agrarwirtschaft zu Landarbeiterfragen und im International Yearbook of Agricultural Cooperation zu internationalen Agrarfragen. Seinen internationalen wissenschaftlichen - auch politischen - Interessen folgend arbeitete, forschte und lehrte Bergmann ab 1964 hauptsächlich über agrarpolitische und agrarökonomische Themen, vor allem der asiatischen und sozialistischen Länder. Dabei standen die Reformen des Agrarsektors im Entwicklungsprozeß, die Möglichkeiten und Grenzen von Genossenschaften - sein Habilitationsthema 1967 - zumeist im Mittelpunkt. Mit zahlreichen Forschungs- und Vortragsaufenthalten u.a. in Indien, Pakistan, Sri Lanka, Türkei, China, Kamerun, Sudan, Thailand und Japan sowie einer Gastprofessur in Armidale/Australien (1971-1972), erarbeitete sich Bergmann eine umfassende Basis für seine vielfaltige Publikationsund Lehrtätigkeit. Von 1968 bis 1974 wirkte er als Herausgeber von Sociologia Ruralis - Zeitschrift der Europäischen Gesellschaft für ländliche Soziologie. 1973 wurde Bergmann zum Professor fur international vergleichende Agrarpolitik an der Universität Stuttgart-Hohenheim ernannt. Auch die westdeutsche Agrarpolitik analysierte Bergmann mehrfach kritisch und trug u.a. Grundgedanken einer reformorientierten Agrarpolitik vor. Er betreute zahlreiche, auch systemkritische, Diplom- und Doktorarbeiten über Themen der Agrarpolitik und -reformen in entwickelten und sich entwickelnden sozialistischen wie kapitalistischen Ländern. Beim Abschied von der Universität 1981 trug er seine wesentlichen Arbeitserkenntnisse thesenhaft vor: Agrarpolitik sei eine normative Wissenschaft,

Berliner, Cora die er als kritischer Marxist betreibe; die Landwirtschaft bedürfe grundsätzlich einer - auch technischen - Entwicklung, wobei in hochindustrialisierten, kapitalistischen Gesellschaften nicht mehr die Produktionssteigerung, sondern eine sozial-ökologische Strukturpolitik vordringlich sei; in sozialistischen Ländern sollten moderne Produktionsmittel in demokratischen Genossenschaften und Planwirtschaften eingesetzt werden - eine inzwischen nicht mehr realisierbare, systemimmanente Reformidee - , und in Entwicklungsländern müBten vor allem überholte Agrarstrukturen radikal, insbesondere durch eine Landreform, beseitigt werden, die jedoch nur als Teil einer alle Bereiche erfassenden, modernisierenden Entwicklungspolitik erfolgreich sein könne. Nach seinem Ausscheiden aus der Universität befaßte sich Bergmann neben agrarpolitischen Themen insbesondere mit den Ketzern im Kommunismus und Sozialismus wie Luxemburg, Thalheimer, Trotzki, Bucharin und reflektierte die Ursachen des Verfalls der sozialistischen Staaten in Europa bzw. deren Reformunfähigkeit. Er analysierte die ökonomischen, sozialen und politischen Probleme dieser Staaten und alternative Entwicklungsstrategien. Als Mitherausgeber der Zeitschrift Sozialismus kommentierte er aktuelle politische Trends, vor allem in Deutschland, China. Indien und anderen Entwicklungsländern sowie die kleinen Schritte zum Frieden im Nahen Osten. Zahlreiche Arbeiten von ihm und seinen Mitarbeitern erschienen im europäischen und außereuropäischen Ausland. Auch in seinem Ruhestand war er mehrfach Berater deutscher und internationaler Entwicklungsorganisationen, wie der FAO, ILO und des DED. Schriften in Auswahl: (1956) Wandlungen der landwirtschaftlichen Betriebsstruktur in Schweden - Tendenzen und agrarpolitische Maßnahmen, Berlin/Bonn. (1967) Funktionen und Wirkungsgrenzen von Produktionsgenossenschaften in Entwicklungsländern, Frankfurt. (1968) Die Agrarfrage bei Marx und Engels - und heute, in: W. Euchner und A. Schmidt (Hrsg.): Kritik der politischen Ökonomie heute - 100 Jahre 'Kapital', Frankfurt, S. 175-194.

(1973/1979) Agrarpolitik und Agrarwirtschaft sozialistischer Länder, Saarbrücken (engl. Übers. 1973; japan. Übers. 1977). (1975) Betrieb oder Scholle?, in: M. Greiffenhagen und H. Scheer (Hrsg.): Die Gegenreform, Reinbek, S. 112-131. (1977) The Development Models of India, the Soviet Union and China, Assen. (1980) Integrated Cooperatives in the Industrial Society: The Example of the Kibbutz (hrsg. zus mit Κ. Baitölke und L. Liegle), Assen. (1981a) Liu Shaoqui - ausgewählte Schriften und Materialien, I u. II (hrsg. zus. mit U. Menzel und U. Menzel-Fischer), Stuttgart. (1981b) Comparative Agricultural Policy Problems and Experience in Teaching and Research, in: Sociologia Ruralis, Bd. 3/4, S. 209-227. (1984) Agrarian Reform in India, New Delhi. (1985) Cooperation in World Agriculture (hrsg. zus. mit Τ. Ogura), Tokyo. (1987) 'Gegen den Strom' - Die Geschichte der Kommunistischen Partei-Opposition, Hamburg. (1993) Ketzer im Kommunismus - Alternativen zum Stalinismus (hrsg. zus. mit M. Keßler), Mainz. Bibliographie: Keßler, M. (1991): Personalia - Theodor Bergmann - 75 Jahre, in: Asien, Afrika, Lateinamerika, (Berlin), Bd. 19, S. 189-199. Quellen: BHb I; Südfunk I, 7.3.1987: Heute im Gespräch - mit Prof. Dr. Theodor Bergmann; Müssener 498. Helmut Arnold

Berliner, Cora, geb. 23.1.1890 in Hannover, 19.6.1942 nach Theresienstadt deportiert und im Holocaust umgekommen Nach dem Abitur 1909 am Leibniz-Gymnasium in Hannover studierte die Schwester -» Siegfried Berliners zunächst zwei Semester Mathematik in Freiburg und an der Technischen Hochschule Hannover. Anschließend wechselte sie in Berlin zur Nationalökonomie. Nach sechssemestrigem

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Berliner, Cora Aufenthalt in der Reichshauptstadt ging sie nach Heidelberg und Schloß dort das Studium 1916 bei -» Emil Lederer mit einer Dissertation über Die Organisation der jüdischen Jugend in Deutschland. Ein Beitrag zur Systematik der Jugendpflege und Jugendbewegung ab. Erkennbar war diese Thematik aus ihren sozial- und gesellschaftspolitischen Engagements hervorgegangen. Schon als Schülerin hatte Berliner in der Jüdischen Bahnhofshilfe mitgearbeitet, die vor allem die jüdischen Flüchtlinge aus Rußland nach den Pogromen zu Beginn des Jahrhunderts - im Anschluß an den verlorenen Krieg gegen Japan und die folgende Revolution gegen den Zarismus 1904/5 während ihrer Weiterwanderung in die USA oder nach Palästina (2. Alija) versorgte. Während ihrer Studienzeit wirkte sie in der Mädchenarbeit der nicht-zionistischen jüdischen Jugendbewegung, dem 1909 gegründeten Verband der jüdischen Jugendvereine Deutschlands. In dieser Zeit schrieb sie zahlreiche, zumeist auf Vorträge zurückgehende Artikel zum jüdischen Selbstverständnis in der hektischen innerverbandlichen Diskussion um den künftigen politischen Kurs, der von der zionistischen Bewegung immer mehr herausgefordert wurde. Der jüdischen Verbandsarbeit blieb Berliner ehrenamtlich verbunden, als sie nach dem Studium in die Stadtverwaltung von Berlin-Schöneberg eintrat und dort in der Schlußphase des Ersten Weltkriegs mit Fragen der Lebensmittelversorgung beschäftigt war. Ende 1919 wechselte sie von dort als Hilfsarbeiterin in das neue Reichswirtschaftsministerium der jungen Weimarer Republik, wo sie für Verbraucherschutz und Genossenschaftswesen zuständig wurde. Ein Jahr nach der Ernennung zur Regierungsrätin 1923 berief sie Präsident Ernst Wagemann in das Statistische Reichsamt; dort blieb sie in der handelsstatistischen Abteilung bis 1933. In diese Jahre fallen die wenigen wirtschaftswissenschaftlichen Publikationen Berliners, die sich nach Überwindung der verheerenden Hyperinflation von 1923 insbesondere mit dem Wiederaufbau einer geordneten Außenhandelsstatistik unter stabilen Währungsverhältnissen beschäftigten. Sie spiegeln die Probleme wider, die sich Berliner in ihrer praktischen Tätigkeit stellten. Ihre Untersuchungen über die deutsch-englischen Handelsbeziehungen führten sie 1927 auch für einige Monate an die deutsche Botschaft in London, ehe sie 1930 eine nebenamtliche Professur für Wirt-

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schaftswissenschaften am Staatlichen Berufspädagogischen Institut erhielt. Einzelheiten zu dieser Tätigkeit, der Ausbildung von Gewerbelehrerinnen. sind nicht bekannt, da sie dazu keine Veröffentlichungen vorlegte. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme und ihrer Entlassung aus dem öffentlichen Diensi nach dem sog. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 übernahm Berliner die Verwaltung der wirtschafts- und sozialpolitischen Abteilung der im September 1933 errichteten Reichsvertretung der Deutschen Juden. Zugleich als stellvertretende Vorsitzende des Jüdischen Fauenbundes organisierte sie in Zusammenarbeit mit -» Paul Eppstein die Emigration jüdischer Frauen und Kinder. Darüber hinaus entfaltete sie im Rahmen der von den Nationalsozialisten immer enger gezogenen Grenzen für die jüdischen Organisationen zahlreiche andere Aktivitäten. Unter anderem setzte sie ihre Lehrtätigkeit für Sozialarbeiterinnen unter dem Dach der jüdischen Zentralwohlfahrtsstelle fort, ferner gehörte sie zu den Mitarbeitern des 1935 in neuer Auflage erschienenen Philo-Lexikons. Nach der Reichspogromnacht 1938 hatten ihre emigrierten Geschwister, zwei Schwestern und zwei Brüder, sowie einige Freunde sie gedrängt, Deutschland zu verlassen. Berliner lehnte diesen Schritt jedoch ab, solange die von ihr Betreuten noch Hilfe brauchten. Immerhin hatte sie dazu auf Sondierungsreisen für die jüdische Auswanderung nach Palästina 1936 und nach Schweden 1939 die Chance gehabt. 1942 wurde Berliner mit anderen Repräsentanten der Reichsvertretung nach There sienstadt deportiert; die Umstände ihres Todes im nationalsozialistischen Genozid sind unbekannt.

Schriften in Auswahl: (1916)

(1925)

Die Organisation der jüdischen Jugend in Deutschland. Ein Beitrag zur Systematik der Jugendpflege und Jugendbewegung, Berlin (Diss.). Probleme der Handelsstatistik, in: Magazin der Wirtschaft, Bd. I, S. 1158-1167.

(1929)

Die Reform der deutschen Außenhandelsstatistik, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 29, S. 320*-333*.

(1930)

Die Handelsbilanz im Rahmen der Zahlungsbilanz, in: Die Bank, Bd. 23,S. 1161-1164.

Berliner, Siegfried (1932)

Englands Abkehr vom Goldstandard, in: Deutschland-Jahrbuch für das deutsche Volk, Leipzig, S. 30-37.

Bibliographie: Hildesheimer, E. (1984): Cora Berliner. Ihr Leben und Wirken, in: Leo Baeck Institute Bulletin, Bd. 67, S. 41-70. Kaplan, M.A. (1981): Die Jüdische Frauenbewegung in Deutschland, Hamburg, S. 150-151. Lowenthal, E.G. (Hrsg.) (1966): Bewährung im Untergang. Ein Gedenkbuch, Stuttgart, S. 23-27. Dick, J„ Sassenberg, M. (1993): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek, S. 62-63. Claus-Dieter Krohn

Berliner, Siegfried, geb.

15.2.1884 in Hannover, gest. 16.10.1961 in Forest Grove, Oregon

Sohn des Begründers und Direktors der Höheren Handelsschule in Hannover, Bruder von Cora Berliner. Berliner studierte Mathematik, Physik und Nationalökonomie an den Universitäten Leipzig (1902-1904) und Göttingen (1904-1906). Dort promovierte er 1905 bei Riecke Über das Verhalten des Gußeisens bei langsamen Belastungswechseln mit „rite" zum Dr. phil. Nach einem freiwilligen einjährigen Militärdienst legte Berliner 1907 die Prüfung zur Lehrbefähigung der Sekundärstufe ab. Auf Einladung seines Onkels, Emil Berliner, dem Erfinder des Mikrophons, Grammophons und der Schallplatte, studierte Berliner ein Jahr in den USA. Im Anschluß daran schrieb er sich als Habilitand an der Universität Leipzig ein, an der er auch als Privatdozent wirkte. Ob Berliner die angestrebte Habilitation erfolgreich abschloß ist zweifelhaft, da dem Archiv der Universität Leipzig aus den sehr gut überlieferten Unterlagen aus dieser Zeit keinerlei Hinweise auf eine Habilitation vorliegen. Im Jahre 1913 ging Berliner gemeinsam mit seiner ebenfalls jüdischen Frau Anna nach Japan, um an der Kaiserlichen Universität zu Tokio eine Professur im Bereich Business Administration anzunehmen. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete er sich 1914 als Kriegsfreiwilliger in der damaligen deutschen Kolonie Tsingtau. Der Krieg führte ihn als Kriegsgefangenen wieder zurück nach Japan. Das Vorwort zu seiner ersten, den Handel mit Japan thematisierenden Abhandlung (1920a) schrieb er noch im Kriegsgefangenen-La-

ger Bando bei Tokushima. Berliners wissenschaftliche und persönliche Verbundenheit zu Ostasien drückt sich auch in der Mitgliedschaft in der German Society for East-Asian Natural History and Cultural Development aus, deren Direktor der europäischen Sektion er später wurde. Nach einer weiteren fünfjährigen Tätigkeit an der Universität Tokio kehrte er 1925 nach Leipzig zurück, um die Deutsche Lloyd Lebensversicherung A.G. mitzubegründen und dort bis 1938 auch deren Direktorium anzugehören. Gleichzeitig lehrte er von 1927 bis zu seiner Emigration in die USA an der Handelshochschule in Leipzig. AnläBlich einer Studienreise in die USA 1938 kam Berliner zu der Einsicht, aufgrund der politischen Entwicklung nicht mehr nach Leipzig zurückzukehren. Seine Eingliederung in die wissenschaftliche Hochschulgemeinde gelang rasch. Bereits 1939 nahm er den Ruf auf eine Professur in Business Administration an die Howard University, Washington D.C., an. Neben seiner universitären Laufbahn bekleidete Berliner auch in den USA verschiedene leitende Tätigkeiten der Versicherungswirtschaft (bis 1943 Direktor der American Citizens Insurance Company, Columbus; danach Präsident der von ihm gegründeten Chartered Brokers Incorporated Insurance Company, Chicago) und verstand es somit, die Praxisnähe stets zu halten. 1952 wurde er emeritiert und lebte bis zu seinem Tode in Forest Grove, Oregon, wo seine Frau von 1948 bis 1968 eine Professur für Psychologie an der Pacific University inne hatte. Seine Asche wurde auf den jüdischen Friedhof in Hannover überführt. Zu den zahlreichen ihm zuteil gewordenen Ehningen und Auszeichnungen gehört u.a. das 1958 von der Universität Göttingen verliehene Goldene Doktordiplom. Berliners wissenschaftliche Leistung ist wohl darin zu sehen, sich als einer der ersten deutschsprachigen Wissenschaftler mit den Verhältnissen europäischer Handelshäuser in Japan und China ausgiebig befaBt zu haben. Das dabei im Vordergrund stehende Interesse galt insbesondere den beteiligten Personen, der „Organisationsform, die die Firmen geschaffen haben, um die Handelsverbindung zwischen dem ausländischen Produzenten und dem inländischen Konsumenten herzustellen, und [der] kaufmännischein] Betätigung der Finnen und ihrer Angestellten im Rahmen der so geschaffenen Organisation" (1920a, Vorwort). Dabei betrachtete er Phänomene, die an Aktualität bis in die Gegenwart

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Bernardelli, Harro nichts verloren haben: „Man hört bisweilen die Behauptung, daß die japanischen Firmen den fremden deshalb den Rang ablaufen würden, weil sie mit geringeren Kosten arbeiten" (1919/1920, S. 163). Die stark deskriptiv, mit viel Akribie angestellten Betrachtungen ostasiatischer Handelsgeschäfte und -gewohnheiten (so auch 1920b, 1920c, 1920d) entstanden überwiegend während Berliners Aufenthalt an der Universität Tokio (respektive während seiner Kriegsgefangenschaft) und wurden in der Reihe Weltwirtschaftliche Abhandlungen, die Berliner selbst herausgab, veröffentlicht. Sie lesen sich wie Berichte eines aufmerksamen, verständigen Beobachters der europäischen Handelsgemeinde Ostasiens und zeugen von der praxisnahen Wissenschaftsauffassung Berliners. Weitere Veröffentlichungen (etwa 1925) betrafen die Lehre, die er - geprägt durch seine universitäre Ausbildung - stark quantitativ ausrichtete. Daher verwundert auch nicht die Publizierung verschiedener versichemngsmathematischer Werke (1911, 1912) aus seinem privatwirtschaftlichen Betätigungsfeld. Fehlende Publikationen in den Jahren nach seiner Emigration lassen eine Konzentration auf die Lehre vermuten, was bei Emigranten der ersten Generation nicht außergewöhnlich war. Schriften in Auswahl: (1911) Versicherungsrechnen für Nicht-Mathematiker (als Bearb.), Leipzig. (1912) Renten und Anleihen, Leipzig. (1919/20) Die Bedeutung des 'Direct Trade' im japanischen Einfuhrhandel, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 15, S. 161-163. (1920a) Organisation und Betrieb des japanischen Importhandels (= Weltwirtschaftliche Abhandlungen, Bd. 1), Hannover. (1920b) Organisation und Betrieb des ImportGeschäfts in China (= Weltwirtschaftliche Abhandlungen, Bd. 2), Hannover. (1920c)

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Die Entwicklung der japanischen Eisenindustrie während des Krieges (zus. mit K. Meissner) (= Weltwirtschaftliche Abhandlungen, Bd. 3), Hannover.

(1920d)

(1925)

Organisation und Betrieb des ExportGeschäfts in China (= Weltwirtschaftliche Abhandlungen, Bd. 4), Hannover. Die Berechnung des Optimums bei der Beladung eines Dampfers mit Massengut, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft 1925. Bd. 2, S. 241250.

Quellen: Β Hb II; Rhb.d.dt.Ges.; Akte der Universität Göttingen, Aktennummer: Β Vol. I Philosophische Fakultät, Promotion Special 1905-1906; Zimmermann, H.: Die Familie Berliner, in: Leben und Schicksal: Zur Einweihung der Synagoge in Hannover, Hannover 1963, S. 88-100; Schulze, P.: Die Berliner - eine jüdische Familie in Hannover (1773-1943), in: 100 Jahre Schallplatte - von Hannover in die Welt, Hamburg 1987, S. 75-81. Axel Kümmel

Bernardelli, Harro, geb. 26.1.1906 in Magdeburg, gest. 30.6.1981 in Auckland, Neuseeland Unter den Emigranten aus dem Kreis der Wirtschaftswissenschaftler hat Bernardelli einen der wohl ungewöhnlichsten Lebenswege. Der Sohn eines Kunst-Professors an den 'Kölner Werkschulen' begann als Student der Rechtswissenschaften an der Universität Göttingen unter dem Einfluß des Neu-Kantianers Leonard Nelson, sich für Fragen des Verhältnisses von Philosophie und Mathematik sowie für die exakte Analyse der sozialen Erscheinungen zu interessieren. Er wechselte daraufhin das Fachgebiet und studierte fortan Wirtschaftswissenschaften und Mathematik. 1931 promovierte er an der Universität Frankfurt mit der Arbeit Die Grundlagen der ökonomischen Theorie (1933). Sie suchte der neoklassischen Werttheorie nicht nur ein philosophisch konsistentes ethisches Prinzip zu unterlegen, sondern dieses auch mathematisch exakt herzuleiten. Dieser Zugriff, der das Marginalprinzip von den engen psychologischen Motivationen des homo oeconomicus befreien wollte, machte gleich drei Gutachter aus unterschiedlichen Disziplinen erforderlich: Neben seinem Doktorvater -» Eugen Altschul wirkten der Mathematiker Hans Dehn und der Philosoph Max Horkheimer an der Bewertung der Dissertation mit. Bernadellis Schrift ist ein Vorstoß in das Gebiet der psychologischen Grundlagen der ökono-

Bernardelli, H a r r o mischen Theorie. Seine Ausführungen zur Begründung des wirtschaftlichen Prinzips enthalten interessante, z.T. durch Kant inspirierte Reflexionen zur Bedeutung und möglichen Anwendung der Mathematik. Bemadelli versucht, die psychologischen Gesetze der Wirkungen der Interessenstärken auf die wirtschaftlichen Handlungen der Menschen durch frühe Anwendung einiger Sätze der Mengentheorie mathematisch exakt zu formulieren. Als freier Autor beschäftigte sich Bernardelli in den folgenden Jahren mit den frühen ökonometrischen Studien von Ragnar Frisch und übersetzte Arthur Bowleys Mathematical Groundwork of Economics ins Deutsche (1934). Anfang 1934 emigrierte Bernardelli nach Großbritannien, weil er sah, daB alle Wissenschaftler, die sich in Deutschland mit der Mathematisierung der Ökonomie beschäftigten, zumeist jüdischer Herkunft waren und den Hitler-Staat verlassen hatten, außerdem war er mit einer Jüdin verheiratet. Mit vorzüglichen Gutachten, unter anderem von -» Friedrich A. Hayek und Lionel Robbins, welcher ihn als „by far the most distinguished of the younger men who have come under our observation" beurteilte (L. Robbins an Universität Liverpool, 31.1.1934), erhielt er eine befiristete Anstellung an der Universität Liverpool, die durch den Academic Assistance Council (AAC) finanziert wurde. Wohl weitsichtiger wurde Bernardelli von seinem Mitemigranten -» Jacob Marschak beurteilt, der ihn für einen außerordentlich originellen Denker, jedoch mit seinen logisch-mathematischen Deduktionen für etwas weltfremd hielt. Marschak befürchtete, daß Bernardelli mit seinen ausgeprägten philosophischen Interessen in England Integrationsschwierigkeiten bekommen und auch bei der mathematisch interessierten jüngeren Generation von Ökonomen auf Unverständnis stoßen werde. Tatsächlich konnten die Kollegen in Liverpool mit seinem Wissenschaftsverständnis nur wenig anfangen, sein Vertrag wurde nach Ablauf eines Jahres nicht verlängert. Ein Ruf an die Universität Madrid zerschlug sich angesichts der instabilen Lage in Spanien im Vorfeld des Bürgerkrieges, so daß Bernardelli froh war, durch Vermittlung des AAC 1935 eine längerfristige Anstellung an der Universität Rangoon in Burma (Britisch-Indien) zu bekommen. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges meldete er sich dort als Freiwilliger zur britischen Armee und nahm an den Kämpfen gegen die Japaner teil, die 1942 Burma besetzten. In mehreren Wochen

schlug er sich nach Delhi durch, wo er für den deutschsprachigen Dienst beim Far Eastern Propaganda Service des britischen Informations-Ministeriums arbeitete. Nach Kriegsende kehrte er nach London mit der Erwartung zurück, für die britische Besatzungsmacht - er war 1939 eingebürgert worden - in Deutschland tätig werden zu können. Doch mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung in Deutschland waren die Besatzungsbehörden sehr zurückhaltend bei der Beschäftigung ehemaliger Emigranten. Nachdem sich seine Hoffnungen zerschlagen und er auch nur schlecht bezahlte Zeitverträge zunächst an der London School of Economics und dann am University College in Nottingham bekommen hatte, verfiel er, ähnlich wie sein langjähriger Studienfreund -* Georg Rusche, in eine resignative Stimmung. Enttäuscht über die europäischen Verhältnisse hielt er es für ratsamer „to begin again in some other remote part of the world" (Harro Bernardelli an AAC, 26.2.1946). 1947 nahm er eine Stelle als Senior Lecturer an der Universität Otago in Dunedin, Neuseeland an. Dort verbrachte er sein weiteres Leben, ab 1962 als Associate Professor an der Universität Auckland. Bereits in seiner Dissertationsschrift hatte sich Bemadelli unter expliziter Berufung auf Morgenstern (1931) zur Einheit der subjektiven Werttheorie der Wiener, Lau sanner und Jevonsschen Schule bekannt. Vor dem Hintergrund der durch die Arbeiten von Slutsky, Hicks und Allen initiierten Entwicklung der modernen Theorie des Konsumentenverhaltens sowie der aufkommenden Debatten über kardinale versus ordinale Nutzentheorie versuchte Bemadelli auch in seinen britischen Publikationen, die klassische Theorie des Grenznutzens zu verteidigen (1938) bzw. zu rehabilitieren (1952). Sein Versuch, eine neue Methode zur Konstruktion von Nutzenindices zu formulieren, rief die Kritik des jungen Paul Samuelson (1939) hervor, der nachwies, daß Bemadellis modifizierter Index denselben Einwänden ausgesetzt ist wie die traditionellen Meßkonzepte kardinalen Nutzens. Bemardellis Emigration aus Deutschland markierte augenscheinlich eine tiefgreifende lebensgeschichtliche Zäsur. Seine Akkulturationsprobleme, die Isolierung in Burma und schließlich die Enttäuschungen nach 1945 bewirkten, daß dieser offenbar sensible Einzelgänger, der in keine Schule paßte und keinem Netzwerk von Kollegen angehörte, den ursprünglichen Elan und Optimismus

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Berolzheimer, Josef verlor. Die spärlichen Zeugnisse noch aus seinen letzten Lebensjahren dokumentieren die traumatischen Folgen. Auf verschiedenen längeren Vortragsreisen suchte er bis ins hohe Alter, die Verbindungen nach Europa nicht ganz abreißen zu lassen, doch bei seiner Ankunft verfiel er jedesmal, besonders in London, in tiefe Depressionen, die diese Pläne schnell zunichte machten. So ist auch nicht erstaunlich, daB Bernardelli nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch wenig, und auch das nur in großen Abständen, publiziert hat. Erwähnenswert ist abschließend Bernadellis Verteidigung der Böhm-Bawerk-Wicksell'sehen Zinsund Kapitaltheorie (1959), die die Stärken des auf vielen Fachgebieten versierten Wissenschaftlers ebenso wie die Schwächen einer aus der Isolation geborenen und damit überzogenen Eigenwilligkeit noch einmal in exemplarischer Weise betont. Schriften in Auswahl: (1933) Die Grundlagen der ökonomischen Theorie. Eine Einführung, Tübingen (Diss.). (1934) [Übersetzung von] A.L. Bowley, Grundzüge der mathematischen Ökonomie, Leipzig. (1936) What has Philosophy to Contribute to the Social Sciences, and to Economics in Particular?, in: Economica, Bd. 3, S. 443-454. (1938) The End of the Marginal Utility Theory?, in: Economica, Bd. 5, S. 192-212. (1939) A Reply to Mr. Samuelson's Note, in: Economica, Bd. 6, S. 88-89. (1952) A Rehabilitation of the Classical Theory of Marginal Utility, in: Economica, Bd. 19, S. 254-268. (1959) Einige Bausteine zur Vereinfachung der Zinstheorie, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 171, S. 173-186. Bibliographie: Morgenstern, O. (1931): Die drei Grundtypen der Theorie des subjektiven Wertes, in: L.v. Mises, A. Spiethoff (Hrsg.): Probleme der Wertlehre, Bd. I (= Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 183/1), München/Leipzig, S. 1-43. Samuelson, P.A. (1939): The End of Marginal Utility: A Note on Dr. Bemadelli's Article, in: Economica, Bd. 6, S. 86-87.

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Quellen: SPSL 228/6: Nl Jul. Kraft. SUNYA. Harald Hagemann und Claus-Dieter Krohn

Berolzheimer, Josef, geb. 5.10.1900 in München Berolzheimer entstammte einer jüdischen Familie. Sein Vater, der 1901 starb, war Bankkassier in München. Josef Berolzheimer besuchte Volksschule und Gymnasium in München. Noch als Gymnasiast wurde er 1918 zum Heer eingezogen. Nach Kriegsende Schloß er sich einem Freikorps an (bis 1919). 1920 holte er seine Reifeprüfung nach. Im gleichen Jahr begann er eine Banklehre und - bis Ende 1921 parallel dazu - ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität München, das er 1925 mit der Promotion zum Dr. oec. publ. abschloß. Von 1925 bis 1927 arbeitete er als Journalist und Redakteur (Pseudonym Joseph Bayerholzer). Danach war er „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter", später Abteilungsleiter im Statistischen Landesamt von Preußen in Berlin. Von hier aus arbeitete er an verschiedenen Steuergesetzen mit. Im Dezember 1934 wurde er aus dem Staatsdienst in die Arbeitslosigkeit entlassen. Ein Antrag auf Erteilung eines Visums für die USA wurde 1936 wegen fehlender Bürgschaften abgelehnt. Von 1937 bis 1939 war Berolzheimer als Abteilungsleiter im Hilfsverein der deutschen Juden aktiv. 1938 war er 10 Wochen lang im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert. 1939 konnte er in die USA emigrieren, deren Staatsbürgerschaft er 1944 erwarb. In den USA arbeitete er zunächst von 1939 bis 1941 im Joint Distribution Committee mit. Von 1941 bis 1944 war Berolzheimer, seit 1942 M.P.A. (New York University), Research Associate an der New School for Social Research, danach bis 1947 Statistiker im amerikanischen Census Bureau. Von 1948 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1968 wirkte er als Abteilungsleiter in der Agency for International Development (AID), einer amerikanischen Regierungsbehörde. Berolzheimers wissenschaftliche Interessen lagen vor allem auf folgenden Gebieten: „government budgeting and accounting; government finance planning; performance budgeting; inserting the government sector into the national accounts system" (AMWS). Er war Mitglied verschiedener

Blitz, Rudolph C. Vereinigungen, darunter der American Economic Association und der Tax Association.

Schriften in Auswahl: (1925)

Devisen-Zwangswirtschaft und Währungs-Zerriittung, Staatswirtsch. Diss. München (mschr.).

(1929)

Die Steuereinnahmen des Freistaats Preußen und seiner Gemeinden und Gemeindeveibände in den Rechnungsjahren 1923, 1926 und 1927 (zus. mit F. Lerche), in: Zeitschrift des Preußischen Statistischen Landesamts, Bd. 68, S. 321-344.

(1932)

Die Kreis- und Provinzialumlagen 1930. Mafistabsteuern, Umlagesoll und durchschnittliche Belastung, in: Selbstverwaltung, Bd. 15, S. 402410.

(1947)

Influences Shaping Expenditure of State and Local Governments, in: Bulletin of the National Tax Association, Bd. 32, S. 170-176; S. 213-219; S. 237-244.

(1948)

Whither Tax Classification?, in: Taxes - The Tax Magazine, Bd. 26, No. 9, S. 805-813 zuziigl. S. 870.

(1950)

International Statistics on Government Finances and Activities, in: National Tax Journal, Bd. 3, No. 2, S. 134-152.

(1951)

ERP and Government Finances of the Participating Countries, in: Public Finance (Amsterdam) Bd. 6, S. 39-52.

(1953)

The Impact of U.S. Foreign Aid Since the Marshall Plan on Western Europe's Gross National Product and Government Finances, in: Finanzarchiv, NF, Bd. 14, S. 114-140.

(1965)

Probleme internationaler Finanzvergleiche, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, 2. Aufl., Bd. 4, Tübingen, S. 1-88.

(1966)

Government Finances in 18 LatinAmerican Countries (Official Publication of AID).

Quellen: BHb I; Archiv der Universität München; Handbuch über den preußischen Staat (versch. Jahrgänge); American Men [and Women] of Science, Abt. Social and Behavioral Sciences, 9. Ausg. New York 1956, S. 53; 10. Ausg. Tempe, Arizona, 1962, S. 84; 12. Ausg. New York und London 1973, S. 173. Johann Heinrich Kumpf

Blitz, Rudolph C., geb. 23.1.1919 in Wien Blitz maturierte 1937 am Schottengymnasium. Im darauffolgenden Jahr emigrierte er in die Vereinigten Staaten. Ein Stipendium ermöglichte ihm das Ökonomiestudium am Earlham College, Richmond, Indiana, wo er 1940 den B.A. erwarb. 1942 bis 1945 wurde sein Studium durch den Militärdienst unterbrochen. Die Gl Bill, ein Gesetz zur Unterstützung von Veteranen, ermöglichte Blitz, sein Studium weiterzuführen. Sein Postgraduierten-Studium nahm er an der University of California in Berkeley auf, wo er 1948 seinen M.A. und im Januar 1956 den Ph.D. erwarb. Seine Arbeiten konzentrierten sich auf die Gebiete Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte. Die Dissertation behandelte das Thema The British Tariff Reform Movement for Protection and Empire Preference, 1873-1914. Blitz begann seine akademische Karriere 1952 an der Northwestern University in Evanston, Illinois, als Instructor und Assistant Professor of Economics. Im Herbst 1958 erhielt er einen Ruf an die Vanderbilt Univerity in Nashville, Tennessee, wo er 1960 zum Associate Professor und 1966 zum Full Professor befördert wurde. Seine akademischen Lehrfächer waren hauptsächlich die europäische und amerikanische Wirtschaftsgeschichte sowie Entwicklungsökonomie. Blitz hat mehrere Forschungspreise und Stipendien erhalten und war von Vanderbilt mehrmals für Forschungsund Lehrengagements in den Vereinigten Staaten und im Ausland beurlaubt worden. Unter anderem war er an der Brookings Institution, der Johns Hopkins University (wo er mit Simon Kuznets über Bildungsökonomie arbeitete), mit einem Rockefeller-Stipendium an der Universidad de Chile und mit einem Fulbright-Stipendium an der Universität Bonn. Er hat an der Universität München, der London School of Economics, der University of Keele (England), der Universität von Sarajevo und an diversen brasilianischen Univer-

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Blitz, Rudolph C. sitäten Vorlesungen gehalten. An der Vanderbilt University, für die er als geschätzter Berater im Graduate Faculty Council, im Academic Senate und anderen Bereichen der Fakultätsverwaltung gewirkt hatte, wurde Blitz 1984 emeritiert. Die wichtigeren Veröffentlichungen von Blitz können vier recht unterschiedlichen Fachgebieten zugeordnet werden: Kapitaltheorie und wirtschaftliche Entwicklung, Bildung und Wirtschaftsentwicklung, Frauen im Berufsleben sowie Wirtschaftsgeschichte. Einige andere Publikationen entziehen sich dieser Einteilung. Jedem dieser vier Gebiete hat Blitz seinen Stempel aufgedrückt. In den fünfziger Jahren entwickelte sich eine größere Diskussion um technische Rigiditäten bei der Faktorsubstitution (daher die chronische Unterbeschäftigung in Ökonomien mit einem Arbeitsangebotsüberschuß trotz rasch fortschreitendem Wachstum). Blitz machte den Vorschlag, die Lebensdauer des physischen Kapitals, das die Technologie verkörpert, zu verkürzen, ohne jedoch das - gegebene - Technologieniveau selbst zu verändern. Auf diese Weise könnte sowohl der Kapitaleinsatz reduziert als auch mehr Arbeit absorbiert werden, da eine kürzere Kapitallebensdauer mehr arbeitsintensive Instandhaltungsarbeiten erfordere, und da gebrauchte Ausrüstungen, die er für Länder im Entwicklungsprozeß empfahl, ältere (arbeitsintensivere) Technologie-,Jahrgänge" verkörperten. Dadurch wurde das Problem des Mißverhältnisses zwischen den in der modernen Technologie inhärenten Faktorproportionen (so wie sie von den industrialisierten Ländern konstruiert wurden) und der Faktorausstattung in den Ländern der Dritten Welt von Blitz richtigerweise als fur Korrekturen durch die Marktkräfte zugänglich angesehen. Die frühe Arbeit von Blitz zur Bildungsökonomie Algunas Economistas Cldsicos y Sus Opiniones Acerca de la Educatiön (1961) wurde von Mark Blaug (1964, S. 4) als „the best account... of the economic analysis of education in Classical Political Economy" angesehen. Blitz erforschte darin auch die begrifflichen und empirischen Fragen im Zusammenhang mit der Erfassung der Bildungsausgaben in der Sozialproduktermittlung. Seine Berechnung des Einkommensverzichts von Studenten während ihres Studiums ergab wesentlich höhere Werte als die Berechnungen anderer Wissenschaftler.

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Nach seiner fruchtbaren Beschäftigung mit der Bildungsökonomie in den sechziger Jahren (das Interesse der Ökonomen an diesem Thema hatte damals einen Höhepunkt erreicht, da Bildung und Schaffung von Humankapital als Schlüssel für das Verständnis des Leontief-Paradoxons und des Widerspruchs in den beobachteten historischen Bewegungen zwischen Output und aggregiertem Input angesehen wurden), wandte sich Blitz mit seiner gesamten Energie dem Thema Frauenerwerbstätigkeit zu, das in den siebziger Jahren aktuell wurde. Sein Fokus richtete sich auf die Determinanten der Teilnahme von Frauen im Erwerbsleben. Seinem vorrangigen Interesse an Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung und seiner langfristigen historischen Betrachtungsweise entsprechend, wählte Blitz einen - sowohl intertemporal als auch zwischen Regionen und Ländern in unterschiedlichen Entwicklungsstadien - vergleichenden Ansatz. Blitz ermittelte, daß Frauen in den armen Regionen und/oder Ländern, die einen großen Agrarsektor aufweisen, weniger emanzipiert seien und hauptsächlich in geringer qualifizierten Tätigkeiten beschäftigt würden. Jedoch treten entgegenwirkende Faktoren auf: In den frühen Stadien des Entwicklungsprozesses machten Grundschullehrer - ein traditioneller Frauenberuf - einen herausragenden Teil unter den höheren Berufen aus. Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung würden allerdings das Ingenieurwesen und andere von Männern dominierte Berufe zunehmende Bedeutung gewinnen. Außerdem sei in ärmeren Ländern ein großes Angebot an Hilfskräften im Haushalt verfügbar, das weitgehend aus den Agrarsektoren stammt. (In den Vereinigten Staaten wurde diese Situation durch die Rassendiskriminierung gegen Farbige in Schule und Beruf weiter verstärkt.) Infolgedessen könnte das begrenztere Potential an höherqualifizierten Frauen in den ärmeren Regionen stärker eingesetzt werden, da die Haushaltshilfen diese berufstätigen Frauen unterstützen könnten. In ärmeren Regionen und Ländern ist es für diese Frauen somit leichter, Karriere und Familie zu verbinden. Zwei Arbeiten von Blitz könnten für den deutschsprachigen Leser von besonderem Interesse sein: ein Aufsatz A Benefit-Cost Analysis of Foreign Workers in Germany 1957 - 1973, der 1977 in Kyklos veröffentlicht wurde, und seine kommentierte Übersetzung von H.H. Gossens Entwicklung der Gesetzte des menschlichen Verkehrs, und der

Bloch, Ernest daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln (erstmals publiziert 1854). Die Übersetzung ist zusammen mit einem einführenden Beitrag von N. Georgescu-Roegen 1983 unter dem Titel The Laws of Human Relations erschienen. Schriften in Auswahl: (1958) Capital Longevity and Economic Development, in: American Economic Review, Bd. 48, S. 313-329. (1959) Maintenance Costs and Economic Development, in: Journal of Political Economy, Bd. 67, S. 560-570. (1961) Algunas Economistas Cläsicos y Sus Opiniones Acerca de la Educatiön, in: Economia (Universidad de Chile), Bd. 72/73, S. 34-60. (1962) The Nation's Educational Outlay, in: S. Mushkin (Hrsg.): Economics of Higher Education, Washington D.C., S. 147-169 und S. 390-403. (1965) The Role of High-Level Manpower in the Economic Development of Chile, in: F. Haibison und Ch. A. Myers (Hrsg.): Manpower and Education, New York, S. 73-107. (1967) Mercantilist Policies and the Pattern of World Trade, 1500-1750, in: Journal of Economic History, Bd. 27, S.39-55. (1973) A Cross Sectional Analysis of Women's Participation in the Professions [zus. mit Chin-Hock Ow], in: Journal of Political Economy, Bd. 81, S. 131144. (1974) Women in the Professions, 18701970, in: Monthly Labor Review, Bd. 97, S. 34-39. (1975) An International Comparison of Women's Participation in the Professions, in: Journal of Developing Areas, Bd. 9, S. 499-510. (1977) A Benefit-Cost Analysis of Foreign Workers in West Germany 1957-73, in: Kyklos, Bd. 30, S. 479-502. (1983) [kommentierte engl. Übers, von] H.H. Gossens 'The Laws on Human Relations' (first published in 1854) jointly with an introduction essay by Nicholas Georgescu-Roegen, Cambridge, Mass.

Bibliographie: Blaug, M. (1964): A Selected Annotated Bibliography in the Economics of Education, University of London Institute of Education, London. Quellen: Β Hb II; AEA. Anthony Μ. Tang

Bloch, Ernest, geb. 29.01.1921 in Baden-Baden Professor of Finance Emeritus, bis heute tätig an der New York University (NYU), hier seit 1965 Professur fur Finanzierung; ab 1966 Inhaber des C.W. Gerstenberg Lehrstuhls für Bankwesen und Finanzierung. Fachgebiete: Geldtheorie und -politik, internationale Währungstheorie und -politik sowie Investition und Finanzierung. Bloch emigrierte im Jahre 1936 mit seinen Eltern in die USA. Das City College in New York absolvierte er im Jahre 1947, danach folgte ein Studium an der Columbia University. Von 1949 bis 1961 war Bloch als Ökonom im Research Department der Federal Reserve Bank of New York tätig, zuletzt Special Assistant (1961-62). Die Aufgabengebiete dort führten zur Erarbeitung verschiedener Studien Uber die nationale und internationale Finanz· und Geldpolitik der USA, die eng mit der Ausrichtung und Umsetzung der Geldpolitik des Federal Reserve Systems (Fed) verbunden waren. Die Promotion (Ph.D.) im Jahre 1963 erfolgte an der New School for Social Research. Das Thema der Dissertation lautete Corporate Liquidity Preference und behandelte die Liquiditätspräferenz von GroBuntemehmungen und Wechselwirkungen mit dem Markt für US-Staatsanleihen. Mentoren der Dissertation waren die Professoren -» Adolph Lowe, Alfred Kahler und -» Hans Neisser. Von 1962 bis zur Übernahme des o.g. Lehrstuhls war Bloch Associate Professor an der New York University. Bereits im Zeitraum 1962-1965 lehrte Bloch in Graduate- und Undergraduate-Kursen auf den Gebieten Unternehmensfinanzierung, Finanzmärkte und Investment-Banking. Weitere wissenschaftliche Arbeiten befaßten sich mit den internationalen Finanzmärkten, bspw. dem Eurodollar-Markt, den Problemen von USund internationalen Investmentbanken und deren Emissionspolitik. Er veröffentliche selbst zahlreiche Bücher, Monographien sowie Zeitschriftenartikel über die US-amerikanische Kreditwirtschaft, die Wertpapiermärkte und das Investmentbanking. Sein Buch Inside Investment-Banking (1986

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Bloch, Kurt und 1988) avancierte sowohl im akademischen Bereich wie in der Praxis zum „Bestseller". Bloch war Mitglied in diversen Fachkommissionen sowie Inhaber verschiedener Ämter der Universität. Er nahm Beratungsaufgaben für die Bank of Japan, die Federal Reserve Bank of New York, die American Society of Corporate Secretaries, die Manufacturers Hanover Bank and Trust Co. und die Deutsche Bank, Frankfurt a.M., Germany Citicorp, wahr. Er fungierte als Mitherausgeber einer Reihe von Monographien des Salomon Brother Center.

Schriften in Auswahl: (1963a) (1963b)

(1966)

(1970a) (1970b)

(1974)

(1979)

(1981)

(1986)

Federal Credit Agencies (als Koautor), Englewood Cliffs. Short Cycles in Corporate Demand for Government Securities and Cash, in: American Economic Review, Bd. 53, S. 1058-1077. Eurodollars. An Emerging International Money Market, New York University, Graduate School of Business Administration, The Bulletin, No. 39. Financial Institution and Markets (als Koautor), Boston. Study of the Savings and Loan Industry (als Koautor), U.S. Government Printing Office. Multinational Corporations, Trade and the Dollar (als Mithrsg. und Koautor), New York. Impending Changes for Securities Markets (als Mithrsg. und Koautor), Greenwich, Connecticut. Regulation and Deregulation of Financial Institutions (als Koautor), in: J. Backman (Hrsg.): Regulation and Deregulation, Indianapolis, S. 149170. Inside Investment Banking, Homewood, Illinois (2. Aufl. 1988).

Quellen: Persönliche Informationen durch Korrespondenz; BHb Π; AEA. Detlev Hummel

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Bloch, Kurt. geb. 18.11.1900 in Berlin, gest. 18.1.1976 in New York Bloch stammt aus einer Arztfamilie. Er studierte von 1919 bis 1922 Geschichte und Nationalökonomie an den Universitäten Berlin und Frankfurt/ M. und promovierte mit einer Arbeit zur Geschichte der Commission du Luxembourg. Ein Beitrag zur Geschichte der französischen Februarrevolution im Jahre 1925 in Frankfurt/M. zum Doktor der Philosophie. Blochs bevorzugte Forschungsgebiete waren Geschichte, Soziologie, Finanztheorie und -politik sowie Sozialpolitik. Von 1923 bis zu seiner Emigration im Jahre 1933 war Bloch freiberuflich als Wirtschaftsjournalist tätig. Nach seiner Assistententätigkeit bei der Deutschen Länderbank AG in Berlin ging er 1924 für ein Jahr als Austauschstudent an die Johns Hopkins University, wo er sich als Graduierter mit ausgewählten Problemen der Ökonomie und der Politischen Wissenschaften beschäftigte. Zwischen 1925 und 1927 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter zuerst an der Forschungsstelle fiir Wirtschaftspolitik und von 1927 bis 1929 im Enquete-Ausschuß. Anschließend war er als Referent bei der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse in Berlin beschäftigt. Daneben war Bloch von 1925 bis 1931 ständiger Mitarbeiter und Mitherausgeber des Wochenblattes Magazin der Wirtschaft. Im März 1933 emigrierte Bloch mit Frau und Tochter zuerst nach Großbritannien, von wo er wenige Monate später nach Shanghai und schließlich 1937 nach New York weiterreiste. Nach Beendigung seines Studiums im Jahre 1922 galt Blochs wissenschaftiches Interesse vor allem historischen und soziologischen Fragestellungen. So erörterte er in einer ersten Abhandlung den soziologischen Charakter der bürgerlichen Revolution von 1789 in Frankreich und der proletarischen Revolution von 1917 in Rußland. Bloch nahm dabei zu der Frage Stellung, inwieweit neben der marxistischen geschichtsphilosophischen Epochenlehre von Wirtschaft und Gesellschaft als zweiter relevanter Aspekt des gesellschaftlichen Umsturzes die Verdrängung der alten Legalität durch eine neue hinzuzuziehen ist. Der Betrachtung der Umgestaltung des historischen Rechtsbewußtseins zum Legalbewußtsein kam dabei besondere Bedeutung zu. Bloch sah in Anlehnung an den Marxismus in der revolutionären politischen Arbeiterbewegung den entscheidenden Schritt der Revolution. Die Intellektualisierung

Bloch, Kurt der proletarischen Kampfauffassung mündete seiner Ansicht nach in einen Prinzipienkampf, dessen Inhalte sich für den einzelnen nicht mehr konkret, sondern rein abstrakt darstellen. Als Referent der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse in Berlin bezog Bloch zur deutschen Agrarpolitik im Rahmen einer organischen Förderung der deutschen Gesamtwirtschaft Stellung. Er kritisierte die protektionistische agrarpolitische Theorie, die das landwirtschaftliche Geldeinkommen als wesentlichen Faktor ansah und somit der Anpassung der landwirtschaftlichen Erzeugung an den Bedarf im Wege stand. Bloch sprach sich gegen staatliche Hilfe in Form von preispolitischen Maßnahmen aus und propagierte stattdessen einen autonomen Markt für Agrarerzeugnisse ohne Verbrauchszwang und Preisfestsetzungen, der einen permanenten Anreiz zur Anpassung der landwirtschaftlichen Produktionsmengen an veränderte ökonomische Umweltbedingungen beinhaltete. Im Jahre 1932, wenige Monate vor seiner Emigration, erschien Blochs bis dahin wohl bedeutendstes Werk Über den Standort der Sozialpolitik. Er stellte sich darin der weitveibreiteten Ansicht entgegen, die Sozialpolitik sei lediglich das Überschußprodukt der freien Wirtschaft, da sie außerhalb der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten stehe. Er betonte stattdessen die Relevanz der Sozialpolitik für eine funktionsfähige Wirtschaft und diskutierte ihre Bedeutung für eine Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktion. Blochs Intention lag weniger in dem expliziten Nachweis einer Kausalbeziehung zwischen historisch gewachsenen sozialen Zuständen und deren möglichen Ursachen. Vielmehr analysierte er das Maß der Elastizität der Wirtschaft und damit die Frage, inwieweit sich die Volkswirtschaft aus eigener Kraft auf die neuen sozialen Normen einstellen kann. Breiten Raum widmete Bloch der Betrachtung der Sozialpolitik im Produktionssektor, die mit einem weitgefaßten Schutz der Arbeitskraft die Voraussetzung für die Nachhaltigkeit der Erzeugung des jeweils höchstmöglichen Sozialprodukts schafft. Er argumentierte, daß sich durch den Einsatz neuer Technologien der wirtschaftliche Wert der Arbeit erhöhe und sich zu einem schützenswerten Gut entwickele. Aufgrund der Kurzsichtigkeit der marktwirtschaftlichen Akteure sei die Arbeitskraft jedoch dem Raubbau ausgesetzt und bedürfe somit der Sozialpolitik, fur die Bloch auf diese Weise eine im Wesen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung liegende Existenzberechtigung lieferte.

Nach seiner Emigration im März des Jahres 1933 nach London trat Bloch noch im selben Jahr im Auftrag der Vereinten Nationen eine Stelle als Wirtschaftsberater der chinesischen Regierung in Shanghai an. Im November 1937 emigrierte Bloch mit seiner Familie nach New York, wo er sich endgültig niederließ. In den Jahren 1938 bis 1942 arbeitete er am Institute of Pacific Relations und beschäftigte sich mit den Auswirkungen des chinesisch-japanischen Krieges von 1937 auf die Inflation, die Währungsturbulenzen und die Handelsvolumina beider Länder. In dieser Zeit veröffentlichte Bloch auch seine Darstellung der German Interests and Policies in the Far East, worin er sich erneut zu den Ereignissen in China und Japan gegen Ende der dreißiger Jahre äußerte und neben einer Analyse der ökonomischen Situation des fernen Ostens die Implikationen des chinesisch-japanischen Krieges für die politischen Beziehungen sowie die Handelsbeziehungen zu Deutschland erörterte. Parallel dazu arbeitete Bloch in den Jahren 1940 bis 1942 im amerikanischen Office of Price Administration. Später trat Bloch als Mitherausgeber verschiedener Zeitschriften in Erscheinung. So wirkte er von 1939 bis 1942 am Far Eastern Survey mit und war in den Jahren 1941 bis 1950 für das Magazin Fortune sowohl journalistisch als auch redaktionell tätig. Anschließend war Bloch bis zu seinem Tod im Jahre 1976 Autor und Mitherausgeber der Dow-Jones Publikation Barron's National Business and Financial Weekly, in der er sich wöchentlich zu Fragen aus dem Bankenbereich, der Währungs- sowie der allgemeinen Wirtschaftspolitik äußerte. In seiner späten Schaffensperiode arbeitete Bloch in erster Linie publizistisch und veröffentlichte Beiträge in ökonomischen Fachzeitschriften sowie Zeitungen in Deutschland, China, Großbritannien und den USA. Schriften in Auswahl·. (1924) Zur Soziologie der modernen Revolutionen, in: R. Wilbrandt, A. Löwe, G. Salomon (Hrsg.): Wirtschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Oekonomik und Soziologie der Gegenwart. Festschrift für Franz Oppenheimer zu seinem 60. Geburtstag, Frankfurt a.M., S. 385-397. (1925)

Geschichte der Commission du Luxembourg. Ein Beitrag zur Ge-

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Block, Herbert

(1925/26)

(1926)

(1932a)

(1932b)

(1940a)

(1940b)

(1941)

schichte der französischen Februarrevolution, Diss., Frankfurt a.M. Warum Einfuhrscheine? Kritische Bemerkungen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Tübingen, Bd. 54, S. 735-740. „Soziologie des Wissens", in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, 50. Jg., l.Halbbd., S. 97-114. Das Problem der Anpassung der landwirtschaftlichen Erzeugung an den Bedarf (zus. mit M J . Bonn), in: Deutsche Agrarpolitik im Rahmen der inneren und äußeren Wirtschaftspolitik, Teil 2, Berlin, S. 206-217. Über den Standort der Sozialpolitik. Studien zur Theorie der Sozialpolitik, München. Far Eastern War Inflation, in: Pacific Affairs, published by the Institute of Pacific Relations, New York, Bd. 13, S. 320-343. German Interests and Policies in the Far East, Reprint, Institute of Pacific Relations, New York, 1978. Whither Japan?, in: Social Research, Bd. 8, S. 173-188.

Quellen: Β Hb II; AEA. Bertram Melzig-Thiel

Block, Herbert, geb. 1.1.1903 in Berlin, gest. 6.5.1988 in Bethesda, Maryland Block begann das Studium der Nationalökonomie an der heimatlichen Berliner Universität, wechselte jedoch 1923 an die Universität Freiburg, wo er ein Jahr später das Diplom-Examen ablegte und im Mai 1926 zum Dr. rer. pol. promoviert wurde. In seiner bei Karl Diehl angefertigten Dissertation setzte sich Block mit der Marxschen Geldtheorie auseinander. Block stand der Marxschen Theorie distanziert gegenüber und zeigte sich bereits in seiner Dissertation als ein klarer Pragmatiker. So warf er Marx vor, bei der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" (1926, S. 119) mit Hilfe bewußt unklarer Begriffe zu falschen Deduktionen zu kommen und „Beweisführungen nur durch taschenspielerhafte Auswechslung der Begriffe" zu

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erreichen (1926, S. 39 sowie S. 121). Auf die Entwicklung einer eigenständigen Geldtheorie habe Marx verzichtet, da er der monetären Seite der Ökonomie keine Bedeutung eingeräumt habe. 1918 habe sich das Fehlen einer direkt anwendbaren Wirtschaftstheorie, insbesondere auch einer Geldtheorie, besonders schmerzlich ausgewirkt: „Seit Jahrzehnten war die sozialistische Gesellschaft die Sehnsucht von Millionen Menschen gewesen, und als die Stunde gekommen war, die ihren Traum verwirklichen sollte, da wurden Traumdeuter und Weise berufen und eine Kommission gebildet, um darüber nachzusinnen, was unter Sozialismus und unter Sozialisierung zu verstehen sei." (1926, S. 119). Nach dem Abschluß seiner Promotion trat Block als verantwortlicher Wirtschaftsredakteur in die Redaktion des Magazins der Wirtschaft ein. Neben dem von -» Gustav Stolper herausgegebenen Deutschen Volkswirt war das von Leopold Schwarzschild begründete Magazin der Wirtschaft die bedeutendste Wirtschaftszeitung der Weimarer Republik, die sich sowohl durch eine wöchentliche Konjunktur- und Branchenberichterstattung wie durch Kolumnen führender Wirtschaftstheoretiker und -praktiker, darunter -» Emil Lederer, -» Jacob Marschak, Wilhelm Lautenbach und Hans Staudinger einen Namen gemacht hatte. Im April 1931 schied Block aus der Redaktion aus und war nach einer Zwischenstation als Berater der Finanzkommission des Völkerbundes in Genf für die liberale Berliner Vossische Zeitung tätig. Nachdem diese im Frühjahr 1934 ihr Erscheinen einstellen mußte, verließ Block Deutschland und nahm im republikanischen Spanien eine Dozentur an der Universität Madrid an. Nach Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges emigrierte Block zunächst in die Schweiz und 1940 in die USA. Für ein Jahr war er an der Brookings Institution in Washington, D.C., tätig. Anschließend ging er als Research Assistant an die Graduate Faculty of Political and Social Science der New School for Social Research in New York. Nach der deutschen Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten kam ihr als ehemaliger University in Exile eine besondere Rolle bei der Analyse der deutschen wie der europäischen Wirtschafts- und Sozial struktur zu. In Zusammenarbeit mit zivilen und militärischen Einrichtungen entstanden eine ganze Reihe von Studien, welche die europäische Politik seit 1933 erklären und zugleich Perspektiven für eine künftige demokrati-

Block, Herbert sehe Wirtschafts- und Sozialordnung aufzeigen sollten. Block arbeitete ab 1941 an einem vom Office of Foreign Economic Administration in Auftrag gegebenen Forschungsprojekt über die wirtschaftliche und soziale Planung in Deutschland und RuBland. In diesem Rahmen entstanden zwei größere Studien über die deutsche Wirtschaftspolitik unter dem Nationalsozialismus. In einer ersten umfassenden Untersuchung (1942a) beschäftigte sich Block mit dem Wandel auf dem deutschen Arbeitsmarkt in den dreißiger Jahren: von einer ursprünglich hohen Arbeitslosigkeit zu einem zunächst latenten, bald aber offenen Arbeitskräftemangel. Für Block bestand kein Zweifel, daß die nationalsozialistische Politik niemals eine eigenständige Arbeitsmarktpolitik betrieb, sondern den Arbeitsmarkt vom ersten Augenblick an auf die Erfordernisse der Kriegswirtschaft ausrichtete. Die zunächst publikumswirksam in Angriff genommenen öffentlichen Arbeiten und die Produktionssteigerung in der Privatwirtschaft durch verstärkte öffentliche Nachfrage hätten in erster Linie militärischen Charakter gehabt. Block deckte dabei auf, wie die Nationalsozialisten für diese Ziele die Umkehning ihrer eigenen politischen Grundsätze in Kauf genommen hatten. Während die 'Blut-und-Boden'-Ideologie eine Stärkung des Bauerntums versprach und der Landwirtschaft mitunter fast mythische Züge verlieh, nahm der Anteil der agrarischen Arbeitsbevölkerung nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland ständig ab, so daß die landwirtschaftliche Versorgung bald nur noch durch den Einsatz von ausländischen Arbeitskräften und Kriegsgefangenen aufrechterhalten werden konnte. Ebenso konstatierte Block eine zunehmende Divergenz zwischen den nationalsozialistischen Vorstellungen der Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern und den Notwendigkeiten auf dem Arbeitsmarkt: Während Anfang der dreißiger Jahren die Verdrängung der Frauen vom Arbeitsmarkt noch ganz im Sinne der nationalsozialistischen Arbeitsmarktpolitik gewesen sei, hätte sich diese Entwicklung nach Kriegsbeginn in ihr Gegenteil verkehrt: Der Mangel an industriellen Arbeitskräften sei durch die steigende Frauenerwerbstätigkeit ausgeglichen worden. Auch in einer zweiten umfassenden Studie (1942b) konnte Block die Doppelbödigkeit der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik nachweisen. Während die offiziell verkündete Ideolo-

gie den Mittelstand und die kleinen Unternehmen schützen wolle, verfolge die tatsächliche Wirtschaftspolitik, teils aus kriegswirtschaftlichen Erwägungen, teils jedoch auch aus dem Eigeninteresse führender Parteifunktionäre, die gegenteilige Intention und verstärke die zuvor noch kritisierten Konzentrationstendenzen. 1944 verließ Block die New School, um sich im Rahmen der US-War-Administration am Kampf gegen Hitler-Deutschland zu beteiligen. Nach nur kurzer Zeit als Research Analyst des Army Industrial College in Washington, D.C., wurde er zum Sektionschef der sowjetischen Abteilung des Office of Strategie Studies ernannt, wodurch sich sein Blickwinkel von der deutschen Ökonomie verstärkt zur sowjetischen Wirtschafis- und Rüstungspolitik verlagerte, mit der er sich bereits in Deutschland publizistisch auseinander gesetzt hatte. Nach dem Kriegsende wechselte Block ins State Departement, wo er nacheinander die Stellung eines Leiters der UdSSR-Abteilung, ab 1947 die eines Sektionschefs der europäischen Forschungsabteilung und ab 1950 die des Chefökonomen der Osteuropaabteilung einnahm. Von 1959 bis 1973 war er als Sonderassistent in der europäischen und sowjetischen Forschungsabteilung beschäftigt, nebenbei nahm er noch seit 1963 einen Lehrauftrag an der School for Advanced International Studies der Johns Hopkins University in Baltimore wahr. Nach seinem Ausscheiden aus dem State Department war er als ökonomischer Berater der Georgetown University und der Brookings Institution tätig und beschäftigte sich weiterhin mit der Analyse der sowjetischen Wirtschaft sowie mit Fragen der internationalen Wirtschaft. Das politische Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland, die er nach Kriegsende mehrfach besuchte, beobachtete er mit regem Interesse ebenso wie die politische und ökonomische Entwicklung Osteuropas. Einen raschen ökonomischen Systemwechsel in der Sowjetunion und der von ihr beherrschten Staaten hielt er aufgrund der Behamingsfahigkeit der Zentralverwaltungswirtschaft für ebenso unwahrscheinlich wie den politischen Systemwandel zu einer westlich geprägten Demokratie. Daher erwartete Block lediglich kosmetische Reformen und eine andauernde Ineffizienz der Sowjetwirtschaft unter einer zunehmend autokratischen politischen Führung (1983, S. 168). Kurz vor der großen Wende in Osteuropa, deren Chancen Herbert Block über mehrere Jahr-

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Bode, Karl zehnte hinweg untersucht hatte, starb er 1988 in Bethesda, Maryland. Schriften in Auswahl: (1926) Die Marxsche Geldtheorie, Jena (Diss.). (1942a) German Methods of Allocating Labor, New York. (1942b) Industrial Concentration versus Small Business. The Trend of Nazi Policy, New York. (1983) The Economic Basis of Soviet Power, in: Luttwak, E.N. (Hrsg.): The Grand Strategy of the Soviet Union, London. Quellen: SPSL 229/1; Β Hb I; AEA; Universitätsarchiv Freiburg. Klaus-Rainer Brinizinger

Bode, Karl, geb. 24.11.1912 in Bönnien bei Hannover Bode studierte ab 1931 in Bonn, ging dann 1933 an die Universität Wien und emigrierte 1934 in die Schweiz, wo er in Genf und Bern studierte. 1935 promovierte er an der Universität Bem mit der Arbeit Der natürliche Zinsfuß. Begriffskritische Untersuchungen zur Theorie des neutralen Geldes bei Alfred Amonn. Danach setzte er sein Studium in Großbritannien an der Universität Cambridge fort. Ab 1937 arbeitete er als Associate Professor an der Universität Stanford. Die amerikanische Staatsbürgerschaft erwarb er 1943. 1945 wurde er Mitarbeiter an einer Studie über die Wirkung des Bombenkrieges in Frankreich im Auftrag des US Kriegsministeriums und beendete damit seine akademische Laufbahn. Danach arbeitete er im Office of Military Government (for Germany, United States, OMGUS) und hatte von 1949 bis 1952 verschiedene Positionen beim Office of the US High Commissioner for Germany (HICOG) inne. Daraufhin wechselte er zur Mutual Security Agency in Deutschland und zur International Cooperation Administration in Seoul. Den Rest seiner beruflichen Laufbahn verbrachte er ab 1955 in verschiedenen leitenden Positionen der Agency for International Development (A.I.D.) in Washington, wo er ab 1967 den Direktorposten der Research Evaluation and Information Retrieval Division bekleidete.

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In seinen Arbeiten befaßt sich Bode häufig mit begriffskritischen Analysen, es gibt viele Überschneidungen mit den methodologischen, soziologischen und philosophischen Wissenschaften. Das Hauptziel Bodes ist, eine klar strukturierte, begriffliche Grundlage für die Nationalökonomie zu formulieren. Alle wesentlichen Artikel sind innerhalb von fünf Jahren veröffentlicht worden: während seiner Promotion und des Aufenthalts in Cambridge. Sein Hauptwerk ist die Dissertation über den natürlichen Zinsfuß und die Theorie des neutralen Geldes. Dort schreibt er einleitend „Der Zweck dieser Arbeit besteht darin, den ... Zentralbegriff des natürlichen Zinsfußes insoweit möglichst umfassend zu klären, als es sich um die eigentliche Begriffsproblematik - zum Unterschiede von den reinen Sachproblemen - handelt." (1935, S. 6). Aufgrund seiner methodischen Vorgehensweise beschreibt und verwirft er zunächst die gängigen Definitionen des natürlichen Zinsfußes, um dann den natürlichen Zins als Ausgleichszins von volkswirtschaflichem Sparangebot und volkswirtschaftlicher Investitionssnachfrage weiter zu analysieren. Er stellt die Cambridger Kritikthese vor, daß Sparen = Investieren eine Identität und keine echte Bedingungsgleichung für ein geldtheoretisches Gleichgewicht sei. Den Kern dieser These sah Bode in der falschen Definition des Sparbegriffs: Er stellt bei seiner eigenen Begriffsfindung stark auf den gewöhnlich gebräuchlichen Wortsinn ab und vergleicht die betrachteten Definitionen mit dem alltäglichen Begriffsgebrauch. Laut Bode werden von den Mitteln, die am Anfang einer regulären Wirtschaftsperiode eingenommen sind, (1) diejenigen gespart, die am Ende dieser Periode noch verfugbar sind, die also in spätere Wirtschaftsperioden hinübergenommen werden, und (2) diejenigen, die innerhalb der Wirtschaftsperiode (planimmanentes Sparen) von einem geplanten Konsumakt zu einem nicht geplanten umdisponiert werden, wenn also der reguläre Wirtschaftsplan geändert wird. Das Verhältnis zwischen diesem 'gewöhnlichen' Sparbegriff, dem Robertsonschen Sparbegriff, der den Konsum einer Periode mit dem Einkommen der Vorperiode in Beziehung setzt und dem Surplus-Begriff läßt sich folgendermaßen beschreiben: Sie bilden „... hinsichtlich der begrifflich-logischen Schärfe eine abfallende und hinsichtlich der empirischen Erfaßbarkeit eine aufsteigende Stufenreihe ..." (1935, S. 49). Kurz nach Bodes Ausführungen er-

Bode, Karl schien Keynes' Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936), in der er die Liquiditätspräferenztheorie des Zinses vorstellt. Bodes begriffliche Abgrenzung der Formel Sparen = Investieren kann dem Vergleich der beiden Erklärungen des Zinssatzes nur geholfen haben. Abschließend spricht Bode das Problem an, daB kontinuierliche Kreditausdehnung möglich (und notwendig für das Wirtschaftswachstum) ist, wenn dabei das Preisniveau konstant gehalten wird. Dann wäre der natürliche Zins ungleich dem Marktzins, d.h. der natürliche Zinssatz ist nicht unbedingt auch der richtige. In einem Artikel von Bode und Gottfried Haberler (1935) wird in diesem Zusammenhang Harrods These kritisiert, daß ein monetäres Gleichgewicht in einer progressiven Wirtschaft konsistent mit einem konstanten Preisniveau durch Kreditvergabe ist. In einer progressiven Wirtschaft wird erwartet, daB das Realeinkommen steigt; deswegen wird die Kassenhaltung, in Antizipation neuer Kredite, ausgedehnt, um den Kassenhaltungskoeffizienten k konstant zu halten. Bode/Haberler merken an, daB die Kassenhaltung erst dann ausgedehnt wird, wenn das Einkommen tatsächlich steigt. Wieder wird der Kern des Problems in einer falschen Auffassung des Sparbegriffs gesehen. Deswegen konnte Harrod, laut den Autoren, auch nicht beweisen, daB Sparen nur gleich Investieren sein kann, wenn das Preisniveau konstant gehalten wird. In einem Aufsatz zusammen mit P. Joseph (1935) üben die Autoren Kritik an der österreichischen Kapital- und Zinstheorie. Sie befassen sich eingehend mit dem Begriff der durchschnittlichen Produktionsperiode und zeigen, daB es keine befriedigende Definition dieser Periode gibt, wenn Kapital nicht als eigenständiger Produktionsfaktor wie Arbeit und Boden - aufgefaßt wird. Weiterhin wird die Zinstheorie Böhm-Bawerks betrachtet. Zunächst stellt sich das zurechnungstheoretische Zinsproblem; wenn Kapitalgüter am Ende ausschließlich mit Hilfe von Arbeit und Boden produziert werden, kann der Zins nicht die Produktivität von Kapitalgütern widerspiegeln. Hier nehmen Joseph/Bode wieder Bezug auf ihre Kritik an der durchschnittlichen Produktionsperiode und zeigen, daß auch Kapitalgüter, wie Arbeit und Boden, als zurechnungsbeständig betrachtet werden können, wenn diese (anders als bei Böhm-Bawerk) am Anfang einer Produktionsperiode stehen. Empirisch ist die Frage der völligen Planim-

manenz des Kapitals also zu verneinen. Kapital ist als permanenter Produktionsfaktor aufzufassen. Daher wird der Sparakt als Wahl zwischen einem gegenwärtigen endlichen Einkommensbetrag und einer permanenten Verbreiterung des Einkommensstromes definiert. Angebot und Nachfrage von Kapitaldisposition (Geldmenge χ Zeit) treffen sich auf dem Kapitalmarkt, auf dem sich der Preis der Kapitaldisposition, der Zinsfuß, bildet. Dies gilt allerdings nur fur das freiwillige Sparen. Da der gröBere Teil des Angebots an neuer Kapitaldisposition aus zusätzlichen Bankkrediten (Zwangssparen) besteht, wird der aktuelle Marktzins von der Angebotsseite her vorwiegend durch die Bankpolitik bestimmt. In dem gemeinsam mit A. Stonier verfaBten Artikel über A. Schütz' Buch Der sirmhafte Aufbau der sozialen Welt (Eine Einleitung in die verstehende Soziologie) (1932) wollen die Autoren dem englischen Leser Schütz' Betrachtungen zugänglich machen. Der methodologische Aspekt des Buches bildet die systematische Grandlage für die Sozialwissenschaften. Um das menschliche Verhalten in der Nationalökonomie zu analysieren, definiert Schütz den Idealtypus des homo oeconomicus. Stonier/Bode weisen darauf hin, daB methodologische Beiträge eine lange Tradition in England haben und daB dort die Nationalökonomie immer in abstrakter und systematischer Weise verfolgt wurde. Sie betonen, daß Anwendungen der Theorien in der Nationalökonomie durchaus möglich sind. Eine weitere Buchbesprechung befaßt sich mit Haberlers Prosperity and Depression. A Theoretical Analysis of Cyclical Movements (1937), in dem die verschiedenen Konjunkturtheorien analysiert und kritisiert werden. Bei den Ausführungen zum Akzelerationsprinzip merkt Bode an, daB die tatsächliche, mehrstufige Akzeleration weit hinter der theoretisch erwarteten zurückbleiben kann, was aber dennoch nicht die Geringfügigkeit dieses Effekts aufzeigen muß. Desweiteren kritisiert Bode Mises' Buch Grundprobleme der Nationalökonomie (1933). Er bezieht sich nur auf formallogische, wissenschaftstheoretische und methodologische Fragen. Laut Mises ist es nicht möglich, Theorien aus der Wirtschaftsgeschichte abzuleiten, da diese nur Vergangenheitsgültigkeit besäßen. Bode lehnt diese Folgerung mit dem Hinweis auf Naturgesetze ab, die auch nur aus der Empirie heraus ableitbar sind. Wirklich idealgültige Gesetze sind nur ζ. B. in der

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Bohnstedt, Werner Α. Mathematik, wegen deren Zeitunabhängigkeit, möglich. Bode betont die Spiethoffschen Wirtschaftsstile als ein Zwischenglied, durch das die Theorie für die Wirtschaftpolitik nutzbar gemacht werden kann. Mises lehnt diese Wirtschaftsstile ab. Bode übersetzte außerdem Robertsons Das Geld (1935) nach der achten, englischen Auflage. Schriften in Auswahl: (1933) Die Giundprobleme der Nationalökonomie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, Jg. 57, Halbbd. 2, S. 571-588. (1935a) Bemerkungen zur Kapital- und Zinstheorie (zus. mit P. Joseph), in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. 6, S. 170-195. (1935b)

(1935c)

(1937a)

(1937b)

Der natürliche Zinsfuß. Begriffskritische Untersuchungen zur Theorie des neutralen Geldes, Peine (Diss.). Monetary Equilibrium and the Price Level in a Progressive Economy: A Comment (zus. mit G. Haberler), in: Economica, Bd. 2, S. 75-81. A New Approach to the Methodology of the Social Sciences (zus. mit Α. Stonier), in: Economica, Bd. 4, S. 406-424. Prosperität und Depression, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. 8, S. 597-614.

Bibliographie: Haberler, G. von (1937): Prosperity and Depression, A Theoretical Analysis of Cyclical Movements, Economic Intelligence Service, League of Nations, Genf. Mises, L. von (1933): Grundprobleme der Nationalökonomie. Untersuchungen über Verfahren, Aufgaben und Inhalt der Wirtschafts- und Gesellschaftslehre, Jena. Robertson, D.H. (1935): Das Geld, 2. verb. Auflage, übers, von K. Bode, Wien. Schütz, A. (1932): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien. Quellen: Β Hb I; SPSL 471/2 Antje Lechner

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Bohnstedt, Werner Α., geb. 27.12.1899 in Jatznick, Pommern, gest. 5.4.1971 in Turlock. Kalifornien Nach dem Besuch der Oberrealschule in Bochum und des Realgymnasiums in Elberfeld verließ Bohnstedt die Schule 1917 mit dem Notreifezeugnis, um in den Heeresdienst einzutreten. 1919 kehrte er aus französisch-amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück und begann sein Studium der wirtschaftlichen Staatswissenschaften, Soziologie und Geschichtswissenschaft. Er studierte in Berlin, Kiel und München und wurde 1926 in Kiel bei Bernhard Harms mit einer Dissertation über die Marktbildung in der Weltwirtschaft promoviert. Anschließend war er Redakteur der Zeitschrift Soziale Praxis in Berlin, wo er die Nachfolge von - Paul Mombert an der Freiburger Universität. Im Herbst 1921 ging Colm nach Berlin, wo er regelmäßiger Teilnehmer des Sombart-Seminars war. In Berlin lernte er u.a. -» Fritz Neumark kennen. An der Friedrich-Wilhelms-Universität begegnete er auch der aus einer Hamburger Pastorenfamilie stammenden Studentin der Psychologie und Philosophie Hanna Nicolassen, die er 1922 heiratete. Aus der Ehe gingen zwei Söhne und zwei Töchter hervor. Von Februar 1922 bis März 1927 war Colm als Referent im Statistischen Reichsamt tätig, wo er zunächst die deutsche Produktionsstatistik entwikkelte, sich näher mit der Definition und der genauen empirischen Ermittlung von Volkseinkommen und Volks vermögen (1926) auseinandersetzte sowie vor allem als Leiter der 1925 neu geschaffenen Abteilung 'Ausländische Finanz- und Steuerstatistik, internationaler Finanzbelastungsvergleich' eine für die Reparationsfrage bedeutende, international vergleichende Finanzstatistik aufbaute (1925; 1928) und auch -» Adolph Löwe begegnete, der Colm zum 1. April 1927 als wis-

Colm, Gerhard senschaftlichen Dezernenten in die von ihm geleitete Konjunkturforschungsabteilung des Instituts für Weltwirtschaft nach Kiel holte. Bereits am 18. Dezember 1926 hatte Colm an der Kieler Christian-Albrechts-Universität mit einer für die Entwicklung der modernen Finanzwissenschaft richtungsweisenden Schrift Volkswirtschaftliche Theorie der Staatsausgaben (1927) habilitiert. Nachdem er zunächst für drei Jahre stellvertretender Abteilungsvorstand gewesen war, wurde Colm nach der Berufung von Löwe auf eine ordentliche Professur zum 1. März 1930 Leiter der 'Abteilung für Statistische Weltwirtschaftskunde und internationale Konjunkturforschung' am Institut für Weltwirtschaft und am 11. April desselben Jahres auch auf eine nichtbeamtete Professur fur Wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität berufen. Drei Jahre später, am 12. April 1933, vertrieben SA-Gruppen Colm zusammen mit -* Hans Neisser und anderen Mitarbeitern gewaltsam aus dem Institut. Colm wurde am 25. April mit sofortiger Wirkung beurlaubt und am 27. September 1933 aus dem Staatsdienst entlassen (Ublig 1991, S. 35). Vier Wochen zuvor war Colm bereits über London, wo er sich im Sommer aufgehalten hatte, in die USA emigriert. Dort hatte er von 1933 bis 1939 als Mitglied der 'Mayflower-Generation' eine Professur für Wirtschaftswissenschaften an der von Alvin Johnson ins Leben gerufenen 'Universität im Exil' der New School for Social Research in New York inne. 1939 wechselte Colm, dem am 6. Dezember 1938 die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt worden war und der am 10. August 1939 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, in die New Deal-Administration des Präsidenten Roosevelt nach Washington. Nach einer kurzen Zwischenstation als Finanzexperte im Department of Commerce war er von 1940 bis 1946 in führender Position im Bureau of the Budget, von 1946 bis 1952 als Senior Economist und Konjunkturexperte im neugeschaffenen Council of Economic Advisers und von 1952 bis Ende 1968 als Chefökonom der National Planning Association tätig. Darüber hinaus lehrte er von 1940 bis 1962 als Gastprofessor an der George Washington University hauptsächlich über öffentliche Finanzen. Im Nachkriegsjahr 1946 war er in besonderer Mission für die amerikanische Militärverwaltung in Deutschland unterwegs.

In seiner Kieler Habilitationsschrift Volkswirtschaftliche Theorie der Staatsausgaben (1927) legte Colm die erste systematische Studie über die Wirkungen von Änderungen der Staatsausgaben auf den Wiitschaftskreislauf vor. Die historische Relevanz bezog Colms Untersuchung aus dem Tatbestand, daß es infolge des Ersten Weltkriegs in Deutschland zu sprunghaften Veränderungen in Höhe und Struktur der Staatsausgaben gekommen war. So lag deren Anteil von einem Viertel am Volkseinkommen Mitte der zwanziger Jahre um ca. 2/3 höher als in den letzten Vorkriegsjahren, wobei der Anteil der Sozialausgaben besonders gestiegen war. Colms Studie grenzt sich in doppelter Hinsicht von der seinerzeit existierenden Literatur ab. Einerseits weicht sie erheblich von der stark finanzrechtlich bzw. verwaltungspraktisch orientierten Tradition ab, wie sie im deutschen Sprachraum beispielsweise durch Lorenz von Stein verkörpert wurde. Andererseits sieht der Verfasser zurecht eine Überbetonung der Steuerpolitik bzw. der staatlichen Einnahmenseite in der stärker theoretisch orientierten angelsächsischen Literatur, wodurch der systematische Zusammenhang der Finanzwirtschaft vielfach veriorengehe. Zwar findet sich diese Tradition bereits bei Ricardo, was auch im Titel seines Hauptwerks Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung (1817) zum Ausdruck kommt, andererseits verdeutlichen der explizite Hinweis auf den 'entscheidenden Fortschritt', den die volkswirtschaftliche Theorie „durch die Neubelebung und Fortbildung der klassischen Theorie" (1927, S. ΠΙ) erhalten habe und die daraus zu ziehenden Konsequenzen für die Finanzwissenschaft, wie sehr auch der Beitrag von Colm zur Finanztheorie in den Kern des Forschungsprogramms der 'älteren Kieler Schule' hineingehört, das aus guten Gründen auch als 'neuklassisch' bezeichnet werden kann. Die volle Bedeutung vieler innovativer Ansätze, die sich in der Colmschen Schrift finden, ist erst lange Zeit danach, vor allem nach der Entfaltung der 'keynesianischen Revolution' erkannt worden. So finden sich z.B. bereits zentrale Gesichtspunkte des später von Abba Lerner entwikkelten Konzepts der 'functional finance', wonach die Finanzpolitik als systematisches Instrument der Konjunkturpolitik eingesetzt wird. Allerdings wird auch bei Colm der längerfristige Zeithorizont der Kieler Ökonomen deutlich. So wird weder die Finanzpolitik auf eine ausschließlich konjunkturpolitische Funktion reduziert noch einer reaktiven

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Colm, Gerhard diskretionären Politik das Wort geredet. Ferner unterschied Colm in seiner systematischen Diskussion der verschiedenen öffentlichen Leistungsarten zur Marktwirtschaft zwischen den eigentlichen Verwaltungsleistungen, deren Kosten er in Personal- und Sachausgaben aufteilte, und den Geldleistungen, zu denen er z.B. Unterstützungen, Subventionen und Tributleistungen an das Ausland rechnete (ebd., S. 34ff.). Zusammen mit Pigou (1928) war Colm damit der entscheidende Wegbereiter der für die Analyse der Auswirkungen der öffentlichen Ausgaben auf den gesamtwirtschaftlichen Produktions- und Verteilungsprozeß heutzutage üblichen Gliederung der Staatsausgaben in Ausgaben für Güter und Dienstleistungen, die der Staat direkt in Anspruch nimmt und Transferausgaben (Sozialausgaben an private Haushalte, Subventionen an Unternehmen), bei denen „nur" eine Umverteilung der Kaufkraft vom Steuerzahler auf den Empfänger der Transferzahlungen erfolgt, aber kein zusätzliches Einkommen geschaffen wird. Ferner finden sich bei Colm eine sorgfältige Diskussion der öffentlichen Kredite - deren investive ('produktive') bzw. konsumtive Verwendung - , der damit verbundenen Zinszahlungen sowie der ökonomischen Funktion der Arbeitslosenversicherung, lauter Gesichtspunkte, die in den nachfolgenden beschäftigungspolitischen Debatten relevant werden sollten. Trotz aller Konzentration auf die Theorie der Staatsausgaben, macht Colm klar, daB die vollständige Wirkung der Staatsausgaben nur unter expliziter Berücksichtigung der Einnahmenseite, d.h. der spezifischen Deckungsart des öffentlichen Finanzbedarfs, erfaßt werden kann (vgl. ebd., Kap. Vü). Ebenso wie die anderen Mitglieder der Kiel-Heidelberger Gruppe von Reformökonomen, insbesondere Lowe, Neisser, Emil Lederer und -» Jacob Marschak, schaltete sich Colm aktiv in die Debatte um die Diagnose der Krisenursachen sowie die geeignete Therapie zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise ein (vgl. Garvy 1975 und Hagemann 1984). In der kontroversen Debatte über die Beschäftigungswirkungen von (Nominal-) Lohnsenkungen war es insbesondere Colm, der auf die Bedeutung des Zinses als Kostenfaktor und den Zusammenhang zwischen Zinshöhe und Kapitalmangel hinwies: „Die Eingliederung einer wachsenden Zahl von Erwerbstätigen hat in der Vorkriegszeit nicht zu Schwierigkeiten des Ausmaßes geführt, wie

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wir sie gegenwärtig erleben. Der Unterschied liegt offenbar in dem gegenüber früher weit überhöhten Zinsfuss und in dem Kapitalmangel, der eine entsprechende Ausweitung der Produktionsanlagen hemmt. Gerade in den letzten beiden Jahren tritt diese hemmende Wirkung des Zinsfusses besonders deutlich in Erscheinung." (1930b, S. 244f.). Da die Arbeitslosigkeit über eine bessere Auslastung der vorhandenen Produktionskapazitäten wegen des vor Einsetzen der Depression bereits vorhandenen Kapitalmangels nicht vollständig abzubauen war, wäre Ende der zwanziger Jahre eine Erweiterung der Produktionskapazitäten erforderlich gewesen. Voraussetzung für eine (Wieder-) Beschäftigung der Arbeitslosen in erneuerten oder neugeschaffenen Produktionsstätten wäre nicht nur gemäß Colmscher Ansicht eine Steigerung des Kapitalangebots und eine Senkung besonders des langfristigen Zinssatzes gewesen. Dem standen verschiedene Hemmnisse entgegen. Hierzu zählte vor allem die Unergiebigkeit des inländischen Kapitalmarktes als Folge der Vernichtung der Geldvermögen durch die Inflation. Die Inflation hatte zwar einerseits zu einer weitgehenden Entschuldung der Unternehmen geführt, d.h. zu einer drastischen Verringerung ihrer Zinsbelastung für die bestehenden Produktionskapazitäten, andererseits jedoch zu weit höheren Zinsen für den Aufbau neuer Produktionsanlagen, eine Folge der verminderten inländischen Ersparnis- und Kapitalbildung, zu der die Geldvermögensbesitzer in der Vorkriegszeit entscheidend beigetragen hatten. Hinzu kam seit 1926 ein immenser Kapitalbedarf der öffentlichen Hand, deren Verschuldung sich in den Jahren 1926 bis 1930 von 11 auf über 21 Milliarden Reichsmark annähernd verdoppelte sowie eine starke Kapitalflucht, die nach der Auflösung des Reichstags im Juli 1930 und den Septemberwahlen 1930 einsetzte und den Zinssatz nun in eine Richtung trieb, die in striktem Gegensatz zu den binnenwirtschaftlichen Erfordernissen in der Krise stand. Colm, der zusammen mit Neisser auch die beiden Bände über die Tagung der Friedrich-List-Gesellschaft in Bad Eilsen vom Oktober 1929 herausgegeben hatte (1930a), die sich mit der Frage auseinandersetzte, inwieweit die Steuerpolitik zum notwendigen Prozeß der inländischen Kapitalbildung und Kapitalversorgung beitragen kann, die in der Debatte über die Reparationszahlungen als das zentrale Problem erkannt worden war, betonte den politisch bedingten drastischen Anstieg der Risikoprämie. Zwar mögen

Colm, Gerhard die Unternehmer bei wachsender Zinsbelastung den Ausweg in einer Lohnsenkung suchen, eine politisch oktroyierte Lohnsenkung wird jedoch eher zu sozialen Unruhen und damit zu einer Erhöhung dieser Risikoprämie führen. Die Forderung nach Lohnsenkungen war auf dieser Grundlage also nicht zu legitimieren. Colm vertrat in der Lohndebatte ebenso wie Neisser eine kritischere Position gegenüber dem Kaufkraftargument als z.B. Lederer und Marse hak. Er war der Ansicht, da£ es kein absolutes Maß für die Beurteilung der richtigen Lohnhöhe gibt, sondern daß die Höhe des Lohnsatzes stets im Verhältnis zum erreichten Niveau des technisch-organisatorischen Wissens, unter Berücksichtigung anderer Kostenfaktoren wie Zinsen, Steuern und Rohstoffpreisen, dem Auslastungsgrad der Produktionskapazitäten sowie der Wechselkursentwicklung gesehen werden muß. So sah er z.B. Lohnsenkungen in beschränktem Ausmaß nach der Abkehr vom Goldstandard und der damit verbundenen Freigabe des Pfundes durch die britische Regierung am 21. September 1931 als unvermeidbar an, um ein zu hohes Kosten- und Preisniveau gegenüber dem Ausland zu vermeiden (1931, S. 829f.). Aufgrund seiner langjährigen Auseinandersetzung mit der Reparationsproblematik (vgl. u.a. 1929) sowie als Kenner der Reichsstatistik war sich Colm des Zwanges zu einem aktiven deutschen Handelsbilanzsaldo ebenso bewußt wie des Tatbestandes, daß über ein Drittel der deutschen Exporte in Länder ging, die über eine Abwertung ihrer Währung eine erhebliche Senkung ihrer Löhne in Dollarparitäten vorgenommen hatten. Colm spielte auch eine wichtige Rolle auf der Geheimkonferenz der Friedrich-List-Gesellschaft über die Möglichkeiten und Folgen einer Kreditausweitung, die Mitte September 1931 im Haus der Reichsbank in Berlin stattfand (vgl. Borchardt und Schötz 1991). Dabei unterstützte er die vom Referenten im Reichswirtschaftsministerium Wilhelm Lautenbach konzipierten Vorschläge fur eine aktive Konjunkturpolitik und beeindruckte den Reichsbankpräsidenten Hans Luther mit seiner Analyse, daß die (Weltwirtschafts-)Krise ihren kapitalistischen Sinn verloren habe. Die Krise sei weit über das Maß hinausgegangen, das für eine Ausschaltung unrentabler Betriebe und eine Stärkung der Selbstheilungskräfte erforderlich gewesen wäre. Angesichts der erheblichen Unterauslastung vorhandener Produktionskapazitäten

und der daraus resultierenden Belastung der Unternehmen mit fixen Kosten müsse das Ziel in einer Produktionsausweitung liegen, die zugleich die internationale Preiswettbewerbsfähigkeit nicht gefährde. Die von ihm unter dem unmittelbaren Eindruck der Berliner Konferenz verfaßten und im November 1931 veröffentlichten Wege aus der Weltwirtschaftskrise, in denen er sich mit den innerhalb kapitalistischer Rahmenbedingungen vorhandenen Möglichkeiten und Mitteln der Krisenbekämpfung auseinandersetzte, sowie die im Juli 1933 erschienene Abhandlung Die Krisensituation der kapitalistischen Wirtschaft verdeutlichen die Colmsche Position. Dabei wird klar, daß er sich zwar von inflationsfordernden Projekten wie der 'Feder-Mark' distanziert und aus Gründen der für eine größere Ergiebigkeit erforderlichen Vertrauensbildung in den deutschen Kapitalmarkt, die bereits durch die Nachkriegsinflation erschüttert wurde, gegen eine Schuldenabwertung, sich zugleich aber auch zur Linderung der Arbeitslosigkeit für eine begrenzte Kreditausweitung und öffentliche Arbeitsbeschaffungsprogramme ausspricht. Angesichts der mit der Produktionssenkung verbundenen „Tendenz zur Steigerung der Stückkosten in der Krise" (ebd., S. 401) sieht Colm weiter anhaltende Lohnsenkungen und fortgesetzte Kürzungen öffentlicher Ausgaben inmitten der Deflationskrise als ausgesprochen gefährlich an. „Der unheilvolle Zirkel, der durch den Zwang, die Kosten zu senken, zu immer erneuter Krisenverschärfung führt, muß ... durch irgendeinen von außen kommenden Eingriff zerrissen werden." (ebd., S. 403). Hinsichtlich der Empfehlung von Lohnsenkungen als Mittel der Krisenbekämpfung wendet er nun ein: „Wir halten die These, dass Lohnsenkung zu jeder Zeit Kaufkraftminderung der Gesamtwirtschaft bedeute, nicht für richtig. Aber gerade in der Depression erweist die „Kaufkrafttheorie der Löhne" ihren richtigen Kem. Denn in der Depression führt die Lohnsenkung zur Nachfrageminderung der Arbeiter, die durch keine entsprechende Nachfragesteigerung der Unternehmer voll ausgeglichen wird. Lohnsenkung verschärft in der Depression den Deflationsprozeß, führt zu vermehrter Arbeitslosigkeit" (1931, S. 823). Gleichwohl hielt er infolge des durch Großbritannien ausgelösten Abwertungswettlaufs eine begrenzte Lohnsenkung aus Wettbewerbsgriinden fur unvermeidbar. Um jedoch zu verhindern, daß daraus gesamtwirtschaftlich ein Nachfrageausfall und ein weiterer Anstieg der Ar-

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Colin, Gerhard beitslosigkeit resultieren, müsse die Anpassung der deutschen Kosten- und Preislage an die veränderte Situation auf den internationalen Märkten unbedingt mit einer begrenzten Kreditausweitung verbunden werden. Soweit private Investoren nur mangelhaft bereit seien, Kredite in Anspruch zu nehmen, seien öffentliche Arbeitsbeschaffungsprogramme erforderlich, um zusätzliche Kaufkraft zu schaffen. Aufgrund des stückkostensenkenden Effekts der mit der Produktionsausdehnung einhergehenden steigenden Kapazitätsauslastung wirke dies Colm zufolge nicht inflationistisch. Spricht er sich einerseits eindeutig gegen eine Deflationspolitik und die damit verbundenen Gefahren der Krisenverschärfung aus, so läfit Colm andererseits keinen Zweifel daran, daß er die Ansicht fur falsch hält, man könne „die Depression in jedem Zeitpunkt durch konjunkturpolitische Maßnahmen überwinden" (1933, S. 405). Vielmehr könne die Initialzündung nur wirken, wenn der Motor an sich in Ordnung sei, d.h. nur bei einem vernünftigen Verhältnis von Kosten und Preisen und einer damit verbundenen Wiederherstellung der Rentabilität könne die anfänglich künstliche Belebung der Kaufkraft zu einem normalen Konjunkturaufschwung führen. Zweifellos war Colm nie in Gefahr, Anhänger eines 'hydraulischen Keynesianismus' zu werden. Auf der anderen Seite trat er engagiert gegen orthodoxe Positionen ein, die selbst in der tiefen Deflationskrise ausschließlich auf die Selbstheilungskräfte des Marktes vertrauten. Vor allem Colm war es, der in enger Zusammenarbeit mit Neisser sich bleibende Verdienste bei den Untersuchungen zum Strukturwandel der deutschen Volkswirtschaft erwarb, die theoretisch, methodisch wie empirisch Maßstäbe setzten. Dies gilt insbesondere für die bedeutsame Untersuchung des Instituts für Weltwirtschaft zur Entwicklung des deutschen Außenhandels unter der Einwirkung weltwirtschaftlicher Strukturwandlungen, die für lange Zeit das Standardwerk über den deutschen Außenhandel werden sollte (vgl. Institut für Weltwirtschaft 1932). Colm gehörte auch zu den Beratern der deutschen Delegation, die im Dezember 1931 bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel über die Regelung der kurzfristigen deutschen Auslandsschulden und die damit verbundene Revision des Young-Plans verhandelte.

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Am 6. März 1946 betrat Colm nach fast 13 Jahren in Berlin erstmals wieder deutschen Boden, erneut mit einer wichtigen Aufgabe der Politikberatung betraut. Ihre Lösung sollte sich für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg als von entscheidender Bedeutung erweisen. Zusammen mit -» Raymond W. Goldsmith, den er bereits seit seiner Zeit beim Statistischen Reichsamt gut kannte, kam Colm nach Deutschland, um gemeinsam mit dem Detroiter Bankier Joseph M. Dodge, dem Finanzberater von General Lucius D. Clay, im Auftrag der amerikanischen Militärregierung innerhalb von drei Monaten einen fundierten Plan zur Währungsreform zu erarbeiten (vgl. Hoppenstedt 1997, S. 155-264). Bereits am 20. Mai 1946 wurde General Clay die endgültige Fassung vom Plan für die Liquidation der Kriegsfinanzierung und die finanzielle Rehabilitierung Deutschlands vorgelegt. Obwohl das auf seiner Basis von den Amerikanern im August 1946 vorgeschlagene Währungsreformprojekt im Alliierten Kontrollrat aufgrund der Verzögerungstaktik der Sowjetunion sowie britischer und französischer Opposition in Detailfragen zunächst blockiert wurde, prägte der 'Colm-Dodge-Goldsmith-Plan' (CDG-Plan) nicht nur die amerikanische Position und die erste von drei Diskussionsphasen zur westdeutschen Währungsreform (Möller 1961), sondern bildete in wesentlichen Punkten auch die Grundlage für die am 20. Juni 1948 tatsächlich durchgeführte Währungsreform. Dies gilt insbesondere für die Lösung des zentralen Problems eines Abbaus des enormen Geldüberhangs, der sich in der NS-Zeit aufgrund der Verschuldungspolitik der Reichsregierung zur Finanzierung der Aufrüstung und Kriegskosten aufgestaut und nach Kriegsende zur Engpaßökonomie und zur zurückgestauten Inflation geführt hatte, in der für Unternehmen und Haushalte kaum noch Anreize bestanden zu verkaufen bzw. zu arbeiten, so daß sich in stärkerem Maße eine unproduktive Tauschökonomie entwikkelte (Buchheim 1988). Zur Beseitigung der Überliquidität sah der CDG-Plan die Abwertung aller finanziellen Forderungen und Verbindlichkeiten im Verhältnis 10:1 vor. Die schnelle Streichung des Geldüberhangs wurde einer befristeten Blockierung eines großen Teils der Mittel vorgezogen, um einerseits einem permanenten politischen Druck auf (Teil-)Freigabe vorzubeugen und andererseits durch eine schnell vollzogene endgültige Regelung positive Wirkungen auf die Er-

Colin, Gerhard Wartungsbildung und Verhaltensweise der Wirtschaftssubjekte zu erreichen. Während die Beseitigung des Geldüberhangs im Juni 1948 weitgehend gemäß Stufe 1 des CDG-Plans - der erst 1955 von Heinz Sauermann in der Zeitschrift fiir die gesamte Staatswissenschaft erstmals publiziert werden konnte (1955b) - vollzogen wurde, galt dies für die zweite und dritte Stufe der Errichtung eines Lastenausgleichsfonds und der zu seiner Finanzierung vorgesehenen Vermögensabgabe nicht. Sehr zum Unwillen von Colm wurde dieser auf amerikanischer wie deutscher Seite von Anfang an nicht unumstrittene Teil des CDG-Plans von der eigentlichen Währungsreform zeitlich abgetrennt und die Verantwortung den Deutschen zur endgültigen Regelung übertragen, die schließlich im August 1952, nach einer provisorischen Regelung durch ein sog. Soforthilfegesetz v. 8.8.1949, mit der Verabschiedung des Gesetzes über den Lastenausgleich erfolgte. Andererseits zeugt der Tatbestand, daß Colm im Auftrag der Vereinten Nationen 1953 zu einer ähnlichen Mission in das vom Krieg gezeichnete Korea geschickt wurde, um Vorschläge für eine wirtschaftliche Stabilisierung zu erarbeiten (vgl. Hoppenstedt 1997, S. 365-390), von dem hohen internationalen Renommee, das er durch seinen Beitrag zum finanziellen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Westdeutschlands erworben hatte. Die Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise war in den USA erst während des Zweiten Weltkrieges abgebaut worden. Die Sorge, daß mit der ökonomischen Wiedereingliederung von Millionen von Soldaten im Zuge der Umstellung von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft wiederum eine hohe Arbeitslosigkeit entstehen könnte, führte im Februar 1946 zur Verabschiedung des Employment Act durch den amerikanischen Kongreß. In diesem Beschäftigungsgesetz (1956, S. 249ff.) wurde die Bundesregierung erstmals auf die Zielsetzung festgelegt, „maximale Beschäftigung, Produktion und Kaufkraft zu fordern" (Abt. 2). Wesentliche Elemente waren die Verpflichtung des Präsidenten auf die Vorlage eines Jahreswirtschaftsberichts (Abt. 3) sowie die Konstituierung eines aus drei Mitgliedern bestehenden 'Council of Economic Advisers to the President', die vom Präsidenten nach Beratung und mit Zustimmung des Senats ernannt werden (Abt. 4), sowie die Etablierung eines aus beiden Häusern des Kongresses paritätisch besetzten 'Joint Economic Committee' (Abt. 5), zu dessen Anhörungen Colm als Experte

bis in die sechziger Jahre regelmäßig geladen wurde. Als Principal Economic Analyst in der Fiscal Division des Budgetbüros im Weißen Haus war er an der Vorbereitung des Employment Acts maßgeblich beteiligt gewesen. Nach Konstituierung des ersten Council of Economic Advisers nahm Colm das Angebot von dessen Vorsitzendem Edwin G. Nourse an und wechselte zum 1. November 1946 als leitender Ökonom in den Mitarbeiterstab, u.a. mit der Aufgabe, die (halb-jährlichen Wirtschaftsberichte federführend vorzubereiten. Colms anfangliche Hoffnungen und Erwartungen bezüglich der Aufstellung längerfristiger Projektionen und Budgets zur Durchsetzung politisch bestimmter makroökonomischer Ziele erfüllten sich jedoch nicht. Als in der Washingtoner Politik Ökonomen an EinfluB gewannen, die an der Aufstellung gesamtwirtschaftlicher Budgets eher desinteressiert waren, schied er Ende April 1952 aus dem wissenschaftlichen Beraterstab von Präsident Truman aus. Zwei Monate später wurde Colm zum Chief Economist der National Planning Association ernannt, einer privaten Forschungsstiftung, die sich maßgeblich für die Verabschiedung des Employment Acts eingesetzt hatte, zu dessen zehnjährigem Bestehen Colm eine Festschrift führender Politiker und Ökonomen der USA herausgab (1956). Colm, dessen wissenschaftliche Produktivität in den Jahren der Politikberatung in der New-DealAdministration anhielt, auch wenn er naturgemäß Beschränkungen bei eigenen Veröffentlichungen unterworfen war, kehlte nun verstärkt zur wissenschaftlichen Publikationstätigkeit zurück. In der Zeit an der New School zwischen 1933 und 1939 waren die Themen seiner Veröffentlichungen, die vielfach in der hauseigenen Zeitschrift Social Research erschienen, noch stark durch die Bereiche geprägt gewesen, über die er in Deutschland gearbeitet hatte, wie die Bewältigung der Weltwirtschaftskrise, die Ausgestaltung eines 'idealen Steuersystems' und vor allem die Analyse der öffentlichen Ausgaben. Allerdings konzentrierten sich deren empirische Bezüge zunehmend auf die amerikanischen Verhältnisse. Sein erstmals im Januar 1936 erschienener Aufsatz The Theory of Ptiblic Expenditures - wiederabgedruckt in der Sammlung seiner wichtigsten Aufsätze der beiden ersten Dekaden in den USA (1955, S. 27ff.) - vermittelte dem amerikanischen Publikum die innovativen Grundgedanken seiner Kieler Habilitationsschrift zur Höhe, Verwendung und Effizienz

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Colin, Gerhard der Staatsausgaben in konzentrierter Form. Der SchluBsatz hebt Colms entscheidendes Anliegen hervor: „Public expenditures today can no longer be considered from a merely fiscal point of view; they must be considered also from the point of view of the whole economic system" (ebd., S. 43). Vor allem mit seinen Arbeiten zum Nationalbudget knüpfte Colm, der Finanzpolitik stets als aktive Wirtschaftspolitik begriff (vgl. Krohn 1987, S. 134-145), in den fünfziger und sechziger Jahren an diesem zentralen Anliegen an. Für ihn war die „Balancierung einer wachsenden Wirtschaft ein wichtigeres Ziel als die Balanciening des Haushalts" (1954, S. 21). Unter Fiscal Policy oder 'Ordnungsfinanz' verstand er primär ein Mittel zur Förderung längerfristigen wirtschaftlichen Wachstums, das in den USA erst mit der Kennedy· Administration Anfang der 1960er Jahre stärker akzentuiert werden sollte. Colm sah in dem Employment Act von 1946 ein 'Mandat für Planung' (vgl. Gruchy 1972, S. 243ff.). Allerdings unterschied er zwischen einer 'planned economy', in der unternehmerische Funktionen vollständig durch eine zentrale Planung ersetzt werden und die mit einer Demokratie unvereinbar sei und einem 'economic policy planning' im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Grundordnung, das er nicht nur als vereinbar mit einer Demokratie, sondern sogar als notwendig für ihr Überleben ansah. , A government policy which promotes employment opportunities is the most effective defense of the values and institutions of democracy. That the price for this goal is not too high can be testified to by none so urgently as by those who have escaped dictatorial regimes" (1955, S. 318). Zweifellos waren Colms Präferenzen für das Vollbeschäftigungsziel und für eine indikative gesamtwirtschaftliche Planung in einer gemischten Wirtschaft durch die Erfahrungen mit den politischen Konsequenzen der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland geprägt. Als entscheidendes Planungsinstrument in einem kapitalistischen Mischsystem sah Colm das Nationalbudget an, das auf der Basis der anzustrebenden Ziele der Wirtschaftspolitik Aussagen über die ökonomischen Konsequenzen der Finanzpolitik macht, in der Regel für einen fünfjährigen Zeitraum. Colm, für den das Budget als „Nervenzentrum der öffentlichen Wirtschaft" eine vergleichbare Rolle spielt wie der Markt in der Privatwirtschaft (1952, S. 519), unterscheidet zwi-

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schen 'performance goals' ('ordnungspolitische Hauptaufgaben') oder Funktionszielen wie Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität oder einer angemessenen Wachstumsrate einerseits und 'achievement goals' ('konkrete Einzelziele') wie Landesverteidigung, Erziehung, Wohnungsbau, Gesundheit und Ernährung andererseits (1961a, S. 536). Da es viele Leistungsziele gibt, die um die produktiven Ressourcen einer Volkswirtschaft konkurrieren, stellt sich die Frage der Prioritäten, die nur im politischen EntscheidungsprozeB demokratisch geklärt werden kann. Colms Überlegungen zur 'National Goal Analysis' fanden auch ein politisches Echo. So setzte Präsident Eisenhower nach der russischen Sputnik-Expedition eine 'Commission of National Goals' ein, die 1960 ihren Bericht über wirtschafte- und gesellschaftspolitische Zielprioritäten vorlegte. Eine Dekade später folgte der Bericht des von Präsident Nixon eingesetzten 'National Goals Research Staff. Colm selbst setzte sich noch in seiner letzten Veröffentlichung mit der Programmplanung für nationale Ziele auseinander, eine Studie (1968) für die National Planning Association, die ihrerseits einige Jahre zuvor einen speziellen Forschungsschwerpunkt, das 'Center for Priority Analysis', errichtet hatte. Da die Rangskala nationaler Ziele sich im Zeitablauf verschieben kann, müssen selbst längerfristige Nationalbudgets fortlaufend überprüft werden. Als wesentliches Element der Aufstellung von Nationalbudgets zwecks Herausarbeitung der erforderlichen Maßnahmen für die Erreichung der Ziele staatlicher Wirtschaftspolitik dienen (Alternativ·) Projektionen, d.h. hypothetische Voraussagen über die Entwicklung privater Konsum- und Investitionsausgaben, außenwirtschaftlicher Beziehungen etc., wie sie unter Colms Mitwirkung erstmals 1944 dem Kongreß vorgelegt worden waren. Im Sinne späterer 'konzertierter Aktionen' sollten diese Projektionen über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zugleich eine Orientierungshilfe für die Privatwirtschaft sein. Wesentliche Voraussetzung für die Aufstellung derartiger Projektionen und die Durchführung einer Politik der Vollbeschäftigung war der Auf- und Ausbau einer leistungsfähigen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, wie sie seit den dreißiger Jahren in den USA vor allem von Simon Kuznets und in Europa von Richard Stone entwickelt wurde. Colm selbst hat sich konsequenterweise mit der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die er als

Cohn, Gerhard ein unverzichtbares Handwerkszeug ansah, zeitlebens beschäftigt: von der frühen Tätigkeit im Statistischen Reichsamt bis zum späten grundlegenden Beitrag für das Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (1961b). Obwohl sich viele von Colms hehren Hoffnungen nicht erfüllten und er bereits kurz vor Ende der Trumanschen Präsidentschaft aus dem Mitarbeiterstab des Council of Economic Advisers ausschied, bevor der von Präsident Eisenhower eingesetzte neue Council unter dem Vorsitz von Arthur F. Bums in seinem ersten im Januar 1954 vorgelegten Jahreswirtschaftsbericht völlig auf die Aufstellung von Projektionen und sogar weitgehend auf Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung verzichtete, war Colm unermüdlich für die Entwicklung und Verbessserung seines Konzepts des National Economic Planning and Programming tätig. Hiervon zeugt auch seine letzte große Studie Integration of National Planning and Budgeting (1968a). Begrenzte Erfolge blieben nicht aus: So kann z.B. das erstmals in den USA angewendete PlanningProgramming-Budgeting-System (PPBS) als Spezialfall der von Colm entwickelten National Goal Analysis angesehen werden, für deren empirische Konkretisierung sich im übrigen entgegen der Ansicht von Colm ähnliche Schwierigkeiten stellen wie bei der von Richard Musgrave, Paul Samuelson u.a. entwickelten Theorie öffentlicher Güter unter Zugrundelegung individueller Präferenzen (vgl. Albers 1977, S. 127). In seinen letzten Lebensjahren, die durch den Kampf gegen ein schweres Krebsleiden gekennzeichnet waren, wurden Colms wissenschaftliche Verdienste in zahlreichen Ehrungen anerkannt So verlieh ihm die New School for Social Research, zu der er nach seinem Weggang in die Washingtoner Administration stets engen wissenschaftlichen Kontakt gehalten hatte, 1964 die Ehrendoktorwürde. Die Association for Comparative Economics wählte ihn 1966 zu ihrem Präsidenten. Aber auch das Deutschland der Nachkriegszeit, dessen Wirtschaftswissenschaft mit der Vertreibung von Colm und anderen herausragenden Ökonomen 1933 einerseits einen unersetzbaren Verlust erlitten hatte, zu dessen wirtschaftlichem Aufstieg er als Mitarchitekt der Währungsreform andererseits jedoch entscheidend beitrug, wurde sich der Rolle und Bedeutung Colms zunehmend bewußt. So wurde ihm im April 1960 für seinen Beitrag zum wirtschaftlichen Wiederaufbau das Große Bundesverdienstkreuz verliehen. Die Goethe-Univer-

sität in Frankfurt würdigte Colms Verdienste um die Entwicklung der Wirtschafts- und Finanzwissenschaft und die enge Verknüpfung von ökonomischer Forschung und praktischer Wirtschaftspolitik im März 1961 mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde. Selbst das Weltwirtschaftsinstitut in Kiel, das hinsichtlich der Verdienste von Lowe und Neisser nach dem Zweiten Weltkrieg von einer merkwürdigen Amnesie befallen war, ehrte Colm, der bereits im Juli 19S4 an der Stelle seines früheren Wirkens wieder einen Vortrag gehalten hatte (1954), 1964 sogar als ersten Wirtschaftswissenschaftler mit der Verleihung des aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens neu geschaffenen Bernhard-Harms-Preises. Schriften in Auswahl: (1921) Beitrag zur Geschichte und Soziologie des Ruhraufstandes vom MärzApril 1920, Essen (Diss.). (1925) Die methodischen Grundlagen der international-vergleichenden Finanzstatistik, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 22, S. 222-249. (1926) Grundsätzliche Bemerkungen zum Begriff des Volkseinkommens und des Volksvermögens, in: Boese, F. (Hrsg.): Beiträge zur Wirtschaftstheorie, Teil I: Volkseinkommen und Volksvermögen, Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 173/1, München/Leipzig, S. 27-51. (1927) Volkswirtschaftliche Theorie der Staatsausgaben. Ein Beitrag zur Finanztheorie, Tübingen (Habil.). (1928) Ein neuer Versuch zur internationalvergleichenden Finanzstatistik, in: Allgemeines Statistisches Archiv, Bd. 17, S. 36-64. (1929) Von der Zwischenlösung zur Endlösung des Reparationsproblems, in: Die Arbeit, Bd. 6, S. 341-355. (1930a) Kapitalbildung und Steuersystem, 2 Bände, Berlin (als Hrsg., zus. mit H. Neisser). (1930b) Lohn - Zins - Arbeitslosigkeit, in: Die Arbeit, Bd. 7, S. 241-247. (1931) Wege aus der Weltwirtschaftskrise, in: Die Arbeit, Bd. 8, S. 815-834.

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Colm, Gerhard (1933)

Die Krisensituation der kapitalistischen Wirtschaft, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 69, S. 385-406.

(1949)

Der Staatshaushalt und der Haushalt der Gesamtwirtschaft, in: Finanzarchiv, N.F., Bd. U . S . 620-633.

(1952)

Artikel 'Haushaltsplanung, Staatsbudget, Finanzplan und Nationalbudget', in: Gerloff, WVNeumark, F. (Hrsg.): Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 1, 2. Aufl., Tübingen, S. 519-536.

(1954)

Entwicklungen in Konjunkturforschung und Konjunkturpolitik in den Vereinigten Staaten von Amerika, Kiel.

(1955a)

Essays in Public Finance and Fiscal Policy, Oxford/New York (mit Schriftenverzeichnis).

(1955b)

Plan für Liquidation der Kriegsfinanzierung und die finanzielle Rehabilitierung Deutschlands (zus. mit J.M. Dodge und R.W. Goldsmith), in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschafit, Bd. 111, S. 244-284.

(1956)

Das amerikanische Beschäftigungsgesetz. Vergangenheit und Zukunft. Eine Festschrift der National Planning Association, Washington, zum zehnjährigen Bestehen des Gesetzes (als Hrsg.), Berlin.

(1961a)

Artikel 'Nationalbudget', in: Handwörterbuch der Sozial wissenschaften, Göttingen u.a., Bd. 7, S. 535-540.

(1961b)

Artikel 'Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. (I) Theorie', in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Göttingen u.a., Bd. 11, S. 390-404. Integration of National Planning and Budgeting, Washington.

(1968a) (1968b)

Programm Planning for National Goals (zus. mit L.H. Gulich), Washington.

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Corden, Warner Max, geb. 13.8.1927 in Breslau Mit seiner Familie emigrierte er 1938 nach Australien, wo er nach dem Besuch der Melbourne High School an der University of Melbourne Betriebswirtschaft studierte. Während seines Studiums beeinflufiten ihn die Schriften von Keynes, Joan Robinson und insbesondere Pigou. Von 1949 bis 1951 arbeitete Corden im Management einer Melboumer Zeitung und schrieb während dieser Zeit seine Diplomarbeit, aus der er 1953 seinen ersten akademischen Artikel über 'Profitmaximierung einer Zeitung' ableitete. 1951 nahm Corden eine Tätigkeit in der Abteilung für industrielle Entwicklung des Ministeriums für Nationale Entwicklung auf. Dort begann er, sich den theoretischen Rahmen für eine auf eine offene Wirtschaft angewandte makroökonomische Analyse anzueignen. Sein Interesse ergab sich aus dem Wunsch, die außenwirtschaftliche Lage Australiens Anfang der fünfziger Jahre zu verstehen, insbesondere die Veränderungen der Terms of Trade und die Zahlungsbilanzkrise. Zudem hatten öffentliche und akademische Debatten zur Schutzzollpolitik Australiens sowie die Einfuhrgenehmigungssorgen seines Vaters, der ein Importunternehmen führte, sein Interesse an Industriepolitik und Handelsrestriktionen angeregt. Eine der Schriften, die ihn während dieser Zeit am meisten beeinfluBten, war James Meades The Balance of Payments. Im Jahre 1953 ging Corden mit einem Stipendium des British Council an die London School of Economics, wo Meade sein Mentor wurde und er 1956, entscheidend beeinflußt von Meades A Geometry of International Trade, mit einer Arbeit über die Auswirkungen wirtschaftlichen Wachstums auf das Handelsvolumen und die Terms of Trade promovierte.

Nachdem Corden von 1955 bis 1957 am Londoner National Institute of Economic and Social Research über britische Importbeschränkungen gearbeitet hatte, kehrte er mit seiner Frau Dorothy nach Melbourne zurück, wo er vier Jahre als Dozent für Außenwirtschaftslehre an der University of Melbourne und ab 1962 an der Research School of Pacific Studies der Australian National University (ANU) in Canberra lehrte. Während dieser Zeit arbeitete Corden sowohl an empirischen und normativen Fragen der australischen Zollpolitik and -geschichte, als auch an der Handels- und Zahlungsbilanztheorie und machte sich im Bereich der Handelspolitik einen Namen als Wissenschaftler. Es entstanden unter anderem The Geometrie Representation of Policies to Attain Interned and External Balance (1960), The Structure of a Tariff System and the Effective Rate of Protection (1966), Monopoly, Tariffs and Subsidies (1967), und Recent Developments in the Theory of International Trade (1965). In The Calculation of the Cost of Protection (1957) bediente sich Corden sowohl der partiellen als auch der allgemeinen Gleichgewichtsmethode, um die Kosten der Schutzzollpolitik zu berechnen. Harry Johnson entwickelte diese Methode weiter und brachte damit Cordens Aufsatz in die internationale Diskussion ein. Es war auch Johnson, der Corden drängte, sich als Nachfolger von Sir Roy Hairod an das Nuffield College in Oxford zu bewerben. Im Jahre 1967 erhielt Corden den Ruf und lehrte dort bis 1976 AuBenwirtschaftstheorie. In dieser Zeit entstanden zahlreiche herausragende Aufsätze zur Theorie der Handelspolitik sowie zwei wichtige Bücher: The Theory of Protection (1971b) und Trade Policy and Economic Weifare (1974). Im ersten dieser Bücher arbeitete Corden sein Argument aus The Structure of a Tariff System and the Effective Rate of Protection (1966) weiter aus, indem er die Bedeutung von Effektivzöllen im Detail analysierte und ein allgemeines Mehrgütergleichgewicht zum Studium der Auswirkungen von Zöllen und anderen Interventionen entwickelte, das den Wechselkurs berücksichtigt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren in der Literatur weder Mehrgütermodelle systematisch eingeführt, noch wurde die Notwendigkeit der Wechselkursanpassung bei veränderten durchschnittlichen Zollniveaus berücksichtigt. Aufsatz und Buch riefen eine rege internationale Diskussion insbesondere um die Berechnung von Effektivzöllen hervor und sind als bedeutende

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Corden, Warner Max Beiträge zur Handelspolitikanalyse in Entwicklungsländern anerkannt. In Trade Policy and Economic Weifare (1974) erörterte Corden das Terms of Trade-Argument zugunsten einer Schutzzollpolitik, den Bereich optimaler Intervention durch Handelspolitik und andere Instrumente sowie die Theorie inländischer Marktverzerrungen. Auch diese Veröffentlichung beeinflußte wesentlich die entwicklungsökonomische Debatte im Bereich Handel und Entwicklung. Weitere Aufsätze umfassen The Effects of Trade on the Rate of Growth (1971a), einer von Cordens bedeutendsten Beiträge zur reinen Handelstheorie, in dem er die neoklassische Wachstumstheorie mit der zweisektoralen Handelstheorie verbindet und annimmt, daB Wachstum nur aus Kapitalakkumulation und einer gegebenen Wachstumsrate des Faktors Arbeit resultiert. Die Thematik dieses Aufsatzes, die in der Literatur im Gegensatz zu den Auswirkungen von Wachstum auf Handel zur Zeit des Erscheinens dieses Beitrages noch kaum in der Diskussion war, wurde erst in den achtziger Jahren in der Debatte um den technischen Fortschritt als Wachstumsfaktor wieder aufgegriffen. In Protection and Growth (1972c) weitet er die Diskussion auf die Auswirkungen der Schutzzollpolitik auf das Wachstum aus. Im Rahmen der Diskussion über den britischen Beitritt zur EG veröffentlichte Corden auch eine Reihe von Aufsätzen zur Wirtschaftsintegration und Währungsunion. Der wichtigste, Monetary Integration (1972b), ist eine weit verbreitete, systematische und theoretische Analyse der Europäischen Währungsunion und der daraus resultierenden wirtschaftlichen Vor- und Nachteile für die Mitgliedsstaaten. In Economics of Scale and Customs Union Theory (1972a) entwickelte er die Konzepte des kostenreduzierenden Effekts und des handelshemmenden Effekts der Zollunion. Ende 1976 kehrte Corden aus familiären Gründen nach Canberra und an die ANU zurück. Dort beteiligte er sich wiederum an der australischen Politikdebatte, insbesondere an den Diskussionen über Strukturanpassung, Gewerkschaften, und die wirtschaftlichen Folgen des Boomsektors und der 'Dutch Disease'. In der theoretischen Arbeit konzentrierte er sich in zunehmendem MaBe auf die offene Makroökonomie. Anlaß dieser Interessenverlagerung war das Auftreten von Arbeitslosigkeit und Inflation als dominante Wirtschaftsprobleme. Auf internationalem Niveau steuerte er zur Debatte über internationale Finanzthemen durch

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seine Assoziierung mit der 'Gruppe der Dreißig' bei. Sein erfolgreiches Buch Inflation, Exchange Rates and the World Economy (1977) spiegelt diese Thematik am besten wider. Seine Arbeiten aus dieser Zeit umfassen u.a. Negative International Transmission of Economic Expansion (1983), wo er (mit Steven Tumovsky) in Anknüpfung an Inflation, Exchange Rates and the World Economy darlegt, wie eine Steigerung der Nominalnachfrage in einem Land den Output in einem zweiten Land beeinfluBt. Das Resultat, so das Argument, hängt davon ab, ob die Realoder Nominallöhne festgelegt sind. In Macroeconomic Policy Coordination under Flexible Exchange Rates: A Two-Country Model (1985) tritt er für eine internationale Koordinierung der makroökonomischen Politik unter Bedingungen einer nicht-vertikalen kurzfristigen Phillipskurve und eines möglichen Lokomotiveffekts ein, um deflationären Tendenzen entgegenzuwirken. Weitere Aufsätze umfassen Booming Sector and De-Industrialization in a Small Open Economy (1982; mit J. Peter Neary) The Exchange Rate, Monetary Policy and North Sea Oil: The Economic Theory of the Squeeze on Tradeables (1981) und Quotas and the Second Best (1985; mit Rod Falvey). Im Jahre 1986 wurde Corden der BernhardHarms-Preis des Kieler Instituts für Weltwirtschaft verliehen. Seit diesem Jahr lebt Corden in Washington, wo er zunächst zwei Jahre für den Internationalen Währungsfond und danach für die Weltbank als Berater im Bereich makroökonomischer Politik in Entwicklungsländern tätig war. Seit 1989 lehrt er auch an der Paul H. Nitze School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University. Corden zählt zu den prominentesten und produktivsten Vertretern der Außenwirtschaftstheorie. Sein Werk umfaßt ca. 100 Aufsätze und Bücher. Seine Beiträge zur offenen Makroökonomie und zur Außenhandelstheorie, insbesondere der Zolltheorie, den Effektivzöllen, Wachstum und Handel, und der Theorie der Zoll- und Währungsunion bilden einen festen Bestandteil der Literatur. Corden war immer ein Verfechter des freien Handels. Obwohl sein Werk einen klaren Hang zur Theorie erkennen läßt, gehen seine wissenschaftlichen Fragestellungen weitgehend von realen wirtschaftlichen Phänomenen aus, die es wissenschaftstheoretisch zu analysieren gilt. Zumeist, so Corden, ist es sein Verlangen, eine aktuelle wirtschaftspolitische Frage im Detail zu ergründen.

Croner, Fritz Simon das ihn zu einem Forschungsprojekt motiviert. Sein ausgeprägter Realitätsbezug erklärt daher auch, daß er die Existenz von politischen Einschränkungen, die einer theoretischen 'first-best option' entgegenstehen können, anerkennt und in seinem Werk 'second-best' und andere optimale, wirtschafitspolitisch relevante Interventionen untersucht. Schriften in Auswahl: (1956) Population Increase and Foreign Trade, Diss., London School of Economics. (1957) The Calculation of the Cost of Protection, in: Economic Record, Bd. 33, S. 29-51. (1960) The Geometric Representation of Policies to Attain Internal and External Balance, in: Review of Economic Studies, Bd. 28, No. 1, S. 1-22. (1965) Recent Developments in the Theory of International Trade, in: Special Papers in International Economics, No.7, International Finance Section, Princeton University, S. 7-78. (1966) The Structure of a Tariff System and the Effective Protection Rate, in: Journal of Political Economy, Bd. 74, No. 3, S. 221-237. (1967) Protection and Foreign Investment, in: The Economic Record, Bd. 43, S. 209-232. (1967) Monopoly, Tariffs and Subsidies, in: Economica, Bd. 34, S. 59-68. (1968) Australian Economic Policy Discussion in the Post-War Period: A Survey, in: The American Economic Review, Bd. 58, No. 3, Part 2, Supplement, S. 88-138. (1971a) The Effects of Trade on the Rate of Growth, in: J. Bhagwati (Hrsg): Trade, Balance of Payments, and Growth: Papers in Honor of Charles P. Kindleberger, Amsterdam, S. 117143. (1971 b) (1972a)

The Theory of Protection, Oxford. Economics of Scale and Customs Union Theory, in: Journal of Political Economy, Bd. 80, No. 3, Part 1, S. 465-475.

(1972b)

(1972c)

(1974) (1977)

(1982)

(1983)

(1985)

(1985) (1992)

Monetary Integration. The Graham Lecture, Princeton University, 1971, in: Essays in International Finance, No.93, International Finance Section, Princeton University, S. 1-41. Protection and Growth, in: L.E. DiMarco (Hrsg): International Economics and Development: Essays in Honor of Raul Prebisch, New York, S. 191-208. Trade Policy and Economic Welfare, Oxford. Inflation, Exchange Rates and the World Economy, Oxford/Chicago. Weitere Auflagen: 1981,1985, 1986. Booming Sector and De-Industrialization in a Small Open Economy (zus. mit J.P. Neaiy), in The Economic Journal, Bd. 92 (368), S. 825848. Negative International Transmission of Economic Expansion (zus. mit S J . Tumowski), in: European Economic Review, Bd. 20, S. 289-310. Macroeconomic Policy Coordination under Flexible Exchange Rates: A Two-Country Model, in: Economica, Bd. 52, S. 9-23. Protection, Growth and Trade: Essays in International Economics, Oxford. International Trade Theory and Policy - Selected Essays of W. Max Corden, Aldershot.

Bibliographie: Kierzkowski, H. (Hrsg) (1987): Protection and Competition in International Trade. Essays in Honor of W.M. Corden, Oxford. Groenewegen, PVMcFarlane, B. (1990): A History of Australian Economic Thought, London. Quellen: Β Hb Π; AEA; WA. Christine Wyatt

Croner, Fritz Simon, geb. 27.2.1896 in Berlin, gest. 7.7.1979 in Stockholm Im wilhelminischen Berlin zum national gesinnten Bildungsbürger erzogen, meldete sich Fritz Croner, der einer jüdischen Kaufmannsfamilie entstammte, mit Ausbruch des ersten Weltkrieges als Freiwilliger. Während des Krieges, den er bis

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Croner, Fritz Simon zum Schluß mitmachte, kam er an der 'Heimatfront' mit den Kreisen um Karl Liebknecht und später an der Ostfront in Südrußland mit Bolschewik! in konspirativen Kontakt. Nach abenteuerlicher Rückkehr aus dem Osten beteiligte er sich im Berliner Kulturrat an der Novemberrevolution von 1918 und setzte seine politische Karriere fort, indem er während seines Studiums der Nationalökonomie verschiedene Funktionärsposten in sozialistischen Studentenvereinigungen übernahm. An der Berliner Universität begegnete er 1919 -» Emil Lederer, der dort neben seiner Tätigkeit in der Sozialisierungskommission Gastvorlesungen hielt und Croner Zugang zu Diskussionszirkeln um Paul Cassirer, Rudolf Breitscheid, Rudolf Hilferding und Alexander Rüstow verschaffte. Croner wechselte noch im gleichen Jahr nach Heidelberg, wo er 1921 bei Lederer über die Sozialisierung des Kohlenbergbaus promovierte. Nach Erkrankung seines Vaters mußte er notgedrungen die kleine Familienfirma Ubernehmen, die bald darauf in der Hyperinflation von 1923 unterging. Mit Hilfe seines Mentors Lederer fand Croner 1924 Anstellung als sozialpolitischer Abteilungsleiter im Deutschen Werkmeister-Verband. Er avancierte rasch zu einem der maßgeblichen Funktionäre des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes (AFA-Bund) in zentralen Sozialversicheningsgremien der Weimarer Republik. Croners berufliche Position war in besonderem Maße prädestiniert, politisches Engagement mit wissenschaftlicher Tätigkeit zu verbinden. Zum einen bildete die Sozialpolitik angesichts der Inflationsfolgen und der heraufziehenden Massenarbeitslosigkeit das zentrale Betätigungsfeld der Sozialdemokratie. Im Rückblick hat Croner (1968, S.232 ff.) beklagt, daß die sozialpolitischen Anliegen der Gewerkschaften über sozialdemokratischen Regierungseinfluß und damit - seiner Meinung nach - letztlich über den Erhalt der Demokratie gestellt wurden. Zum anderen warfen massive Veränderungen der Sozialstruktur im Gefolge der Reorganisation der deutschen Wirtschaft während der 1920er Jahre die 'Angestelltenfrage' (erneut) auf. Die Bestimmung des ökonomischen und sozialen Status der Angestellten und der adäquaten Organisation ihrer Interessen war ein brisantes Politikum und zugleich ein Problem der Vereinbarkeit mit der damals dominanten marxistischen Theorie. Die Position des AFA-Bundes lief im wesentlichen auf eine Integration der Angestellten in das System der Sozialversicherung

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unter Beibehaltung eigenständiger, von berufsständischen Vertretungen einerseits und von Arbeitergewerkschaften andererseits abgegrenzten Organisationen hinaus. Croner versuchte diese Position wissenschaftlich zu begründen. Den Ausgangspunkt bildete die Auseinandersetzung mit Lederers Theorie der Angestellten als „Klasse zwischen den Klassen" (Die Privatangestellten in der modernen Wirtschaftsentwicklung, 1912) und mit Lederers späterer Kehrtwendung zur „geschichteten Klasse des Proletariats" (Die Umschichtung des Proletariats und die kapitalistischen Zwischenschichten vor der Krise, 1929). In Zusammenarbeit mit Otto Suhr strebte Croner danach, den hierarchischen Sichtweisen marxistischer wie konservativer Prägung eine funktionalistische Theorie entgegenzusetzen, nach der die konkrete Arbeitsaufgabe das konstituierende Element des Angestelltenbegriffs bildet. Erst später in Schweden hat er diese Theorie vollständig ausgearbeitet. Aufgrund seiner gewerkschaftspolitischen Publikationen wurde Croner 1927 zum Dozenten für Soziologie und Sozialpolitik an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin (dem späteren Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin) berufen. Diese Position verlor er zugleich mit seiner hauptberuflichen Tätigkeit im Werkmeister-Verband, als die Nazis im Mai 1933 die Gewerkschaften zerschlugen. Croner tauchte in Berlin unter und emigrierte 1934 unter der persönlichen Protektion des schwedischen Außenministers Rickard Sandler nach Stockholm. Dort verhalf ihm Gunnar Myrdal zunächst zu einem Arbeitsplatz an der Universität und zu einem kleinen Stipendium, später vor allem aber zu einer neuen Perspektive. Gegen Croners Neigung zum vollkommenen Bruch mit der Vergangenheit riet ihm Myrdal, sich auf die komparativen Vorteile in der Struktursoziologie und insbesondere in den Angestelltenfragen zu besinnen. Durch Vermittlung Myrdals und mit Hilfe Sven Wicksells, Sohn Knut Wicksells und Statistikprofessor in Lund, begann Croner 1935 mit einer breit angelegten soziologischen Untersuchung der schwedischen Angestelltenschaft, die das sozialstatistische Fundament für seine Weiterentwicklung der Angestelltentheorie liefern sollte. In seiner Autobiographie (1968, S. 355 ff.) beansprucht Croner für sich das Verdienst, die akademische Disziplin der Soziologie in Schweden mitbegründet zu haben. Immerhin gelang es ihm trotz

Croner, Fritz Simon anfänglicher Probleme mit der Sprache, dem verbreiteten Fremdenhaß und speziellen Anfeindungen akademischer Kollegen recht bald, sich so weit an der Lunder Universität zu etablieren, daß er 1936 - unter der Protektion des Professors für Praktische Philosophie, Einar Tegen - eines der ersten soziologischen Seminare an einer schwedischen Universität abhalten konnte. Croners Schilderungen erwecken den Eindruck, als ob aus diesem und späteren Seminaren in Lund und (ab 1939) in Stockholm der größte Teil der ersten Generation schwedischer Soziologen hervorgegangen sei (1968, S. 357 und 363). Sein Einfluß auf die Entwicklung der Soziologie in Schweden ist jedoch umstritten: Die institutionelle Etablieiung des Faches mag er mit vorangetrieben haben, aber an der Entwicklung der Soziologie als Wissenschaft hatte er wohl kaum Anteil (Eriksson 1993b und 1993c). Croners Selbstüberschätzung - in dieser wie in anderen Episoden seiner Autobiographie - ist möglicherweise auf sein lebenslanges Grenzgängertum zurückzuführen. Für ihn lag häufig eine Existenznotwendigkeit oder auch nur ein Vorteil darin, sich Geltung in einem Bereich mit Kenntnissen eines anderen zu verschaffen: in den Gewerkschaften als Mann der Wissenschaft, in akademischen Kreisen als Mann der sozialpolitischen Praxis, im Exil als erfahrener Importeur einer neuen Wissenschaftsdisziplin und schließlich gegenüber dem deutschsprachigen Publikum nach dem Kriege als Schwedenkenner, der es im neuen Heimatland zu wissenschaftlicher und politischer Bedeutung gebracht hat (vgl. Eriksson 1993a). Ohne Croners Verdienste zu schmälern kann man feststellen, daß in seiner wechselvollen Lebensgeschichte die Übergänge zwischen Sein und Schein verfließen. In jedem Falle blieb die akademische Lehre auch in Schweden Croners Spielbein. Nach der 'Lunder Untersuchung' nahm er 1939 das Angebot der Einrichtung einer statistischen Abteilung der Angestelltengewerkschaften an und blieb bis zu seiner Pensionierung 1964 in den Diensten der Zentralorganisation schwedischer Angestelltenverbände, TCO. Daneben leitete er bis 1944 - wiederum unter Tegens Verantwortung - das Soziologische Seminar an der Universität Stockholm. Die vollen akademischen Würden wurden Croner allerdings erst 1951 zuteil, als er über seine Theorie der Angestellten disputierte und den schwedischen Doktortitel erhielt. Die Ernennung zum unbestallten Dozenten erfolgte wiederum erst 1955.

Auf der Grundlage eines Restitutionsgesetzes erhielt Croner schließlich 1958 von der bundesdeutschen Regierung (rückwirkend zum 1.1.1940) den Titel eines Professors zuerkannt. Damit entsprach seine Position an der Stockholmer Universität, an der er auch nach 1944 einzelne Seminare abhielt, in etwa der Stellung eines Honorarprofessors. Croners Beiträge zur Angestelltenforschung fanden in den fünfziger und sechziger Jahren internationale Beachtung. Von seiner schwedischen Perspektive aus beteiligte sich Croner engagiert an soziologischen und gewerkschaftspolitischen Debatten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Croners Angestelltentheorie findet sich insbesondere in den beiden Hauptwerken Die Angestellten in der modernen Gesellschaft (deutsch 1954) und Soziologie der Angestellten (deutsch 1962). Sie besteht im Kein aus der Kombination einer klassifikatorischen Funktionstheorie mit einer historischen Delegationstheorie. Ihre Elemente lassen sich vereinfacht wie folgt zusammenfassen: 1. Angestellte unterscheiden sich von Arbeitern durch arbeitsleitende, konstruktive bzw. analytische, verwaltende und/oder merkantile Funktionsmerkmale ihrer Tätigkeit. Solchermaßen als 'Funktionäre' charakterisiert, unterscheiden sie sich andererseits von Unternehmern durch den Status der abhängigen Erwerbstätigkeit. 2. Die funktionelle Abgrenzung gegenüber der Arbeiterschaft bezieht sich lediglich auf das 'horizontale' Kriterium der Arbeitsteilung. Sie beinhaltet keine 'vertikalen' Kriterien sozialer Rang- oder Schichtordnungen und damit verbundener Gruppenzuordnungen von geistiger und manueller Arbeit. Sofern soziale Statusunterschiede zwischen Angestellten und Arbeitern, aber auch innerhalb der Angestelltenschaft bestehen, sind sie im wesentlichen als Residuen früherer Gesellschaftsordnungen zu betrachten, die durch einen allgemeinen Demokratisierungsprozeß im Zuge der Industrialisierung, Rationalisierung, Kommerzialisierung und Sozialisierung (Ausbau des öffentlichen Sektors) beseitigt werden. Überund Unterordnungsrelationen können wirtschafts- und arbeitsorganisatorisch, also funktionell bedingt sein, haben aber aufgrund zunehmender sozialer Mobilität keine relevanten Auswirkungen auf den allgemeinen Sozialstatus der Betreffenden. „Über- und Un-

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Croner, Fritz Simon terordnungsrelationen sind keine konstitutiven Merkmale der modernen Gesellschaft" (1962, S.75). 3. Die historische Erklärung für die Entwicklung der Angestelltenschaft liegt in der Delegation von Unternehmeraufgaben im Zuge der Entwicklung der Arbeitsteilung. Hierbei sind verschiedene Stadien zu unterscheiden - von der allumfassenden Unternehmertätigkeit über die Delegation an Familienmitglieder und Vertrauenspersonen bis zur Anstellung von spezialisierten Funktionären in Linien- und Stabssystemen. Trotz der sozialen Annäherung von Angestelltenund Arbeiterschaft betont Croner (1954) die Notwendigkeit einer autonomen, aber berufsübergreifenden Interessenorganisation der Angestellten, während in der Soziologie der Angestellten (1962) die Organisationsfrage ausgeblendet bleibt. Daraus auf einen Sinneswandel in zeitversetzter Parallele zu Lederer zu schließen wäre wohl überzogen. Dennoch vermitteln die angestelltentheoretischen Arbeiten Croners den Eindruck, daß er sich zeitlebens an den Vorarbeiten seines ersten akademischen 'Übervaters' Lederer abgearbeitet hat und dies auf eine Weise, die ihm viel Kritik eingetragen hat. Die Einwände (z.B. von Rokkan 1956, Daheim 1963, Hartfiel 1963) richten sich im wesentlichen gegen Croners vehemente Ablehnung von Schichtungsmodellen bzw. Stratifikationstheorien, die er mit der Wertungsprämisse seiner „Überzeugung der Gleichberechtigung und des Gleichgestelltseins in der Gesamtbevölkerung, unabhängig von der Tätigkeit des einzelnen" (1962, S.17) 'begründet'. Die damit verbundene, häufig polemisch überzogene Kritik an marxistischen Erklärungsansätzen kann anhand der Autobiographie Croners als lebenslanger Versuch der 'Abnabelung' von der Denkweise der frühen Jahre gedeutet werden. Schwerer wiegt jedoch, daß die inhaltlich und stilistisch provozierten Gegenkritiker Croner zu Recht vorwerfen konnten, im Kern seiner Theorie staatsbürgerliches Ideal mit sozialer Realität verwechselt zu haben. Diese Verwechslung ist um so erstaunlicher, als Croner immer wieder auch eindringlich auf Differenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Sozialstatistik (1959) oder - in Anlehnung an seinen zweiten akademischen 'Übervater', Gunnar Myrdal - auf die Wertproblematik der Wissenschaftslogik (1964) aufmerksam gemacht hat. Möglicherweise ist das Beharren auf dem Ideal einer

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egalitären modernen Gesellschaft aus der sozialen Realität der schwedischen Sozialdemokratie zu erklären, in der Fritz Croner nach seiner Emigration tiefe Wurzeln geschlagen hat. Schriften in Auswahl: (1928) Die Angestelltenbewegung nach der Währungsstabilisierung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 60, S. 102-146. (1939) De svenska privatanställda. En sociologisk Studie, Stockholm (1954) Die Angestellten in der modernen Gesellschaft. Eine sozialhistorische und soziologische Studie, Frankfurt/ Wien (1959)

(1962)

Soziologie und Statistik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 11, S. 377-400. Soziologie der Angestellten, Köln/ Berlin.

(1964)

Wissenschaftslogik und Wertproblematik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 16, S. 327-341. (1968) Ein Leben in unserer Zeit, Frankfurt u.a. Bibliographie: Daheim, Hansjürgen (1963): [Rezension von] Fritz Croners 'Soziologie der Angestellten', in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 15, S. 558-561. Eriksson, Arne H. (1993a): Fritz Croner och den sociala distinktionens mentalitet. Ett biografiskt utkast till en möjlig samhällshistoria, Stockholms Universitet, Historiska Institutionen, mimeo. Hartfiel, Günter (1963): Irrungen und Wimingen um die Angestellten. Zu Veröffentlichungen von Fritz Croner, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 15, S. 108-125. Rokkan, Stein (1956): Rezension von Fritz Croners 'Die Angestellten in der modernen Gesellschaft', in: Kyklos, Bd. 9, S. 391-394. Tjänstemännens Centraiorganisation (TCO), Biblioteket (1976): Fritz Croner. En bibliografi, 27 februari 1976, Stockholm. Quellen: Eriksson, Arne H. (1993b): Briefe vom 31.8. und 10.9.1993 an den Verfasser; Svenska Dagbladet (1958, Nr.261): Fritz Croner professor. Stockholm, 26. September 1958. Hans-Michael Trautwein

Dernburg, Hans J. D e r n b u r g , H a n s J., geb. 19.2.1901 in Berlin, gest. 1966 in Italien Vater von -» Thomas F. Dernburg. Dernburg promovierte 1925 bei Η. Rickert in Heidelberg über Die metaphysische und mystische Seite des Eckhardschen Systems, wandte sich aber dann der Ökonomie zu. In den Jahren 192S bis 1930 war er Assistent beim Enquete-AusschuB über den Bankkredit des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, der die Aufgabe hatte, das deutsche Banken- und insbesondere das an Gewicht gewinnende Sparkassenwesen im Hinblick auf seine Einlagenstruktur zu untersuchen. 1931 übernahm Dernburg eine Banktätigkeit in Persien, kehrte aber schon 1932 nach Deutschland zurück, um bei der Dresdner Bank einen Posten anzutreten. Diese Position hatte er bis 1936 inne; 1937 emigrierte er in die USA. Dort übernahm Dernburg zunächst, 1938/39, eine Stelle als Instructor am College of Commerce der Ohio University in Athens, wechselte aber schon 1939 an die Denison University in Granville, OH, um dort eine Assistenzprofessur anzutreten. Im Jahr 1943 wechselte er als Economist im Board of Governors an die Federal Reserve Bank in Washington, D.C. Dort war er tätig bis 1946, als er an die Federal Reserve Bank in New York wechselte, wo er bis 1958 als Economist im Research Department arbeitete. Dernburg, der sich Ende der 1920er Jahre durch seine Arbeit bei dem oben erwähnten EnqueteAusschuB einen Namen als Sachkundiger in geldpolitischen Fragen gemacht hatte, beschäftigte sich auch weiterhin mit dieser Thematik. So wandte er sich 1931 in einem Artikel für den Deutschen Ökonomist gegen die gesetzliche Vorschrift einer 40%-Deckung des Notenumlaufs durch Gold und Devisen. Diese Vorschrift, so argumentierte er, schränke die Notenbank bei ihrer Geldmengenpolitik zu stark ein und verhindere eine flexible Anpassung dieser Politik an die jeweiligen Erfordernisse. Er begrüßte es, daB sich die Notenbank über diese gesetzliche Vorschrift hinweggesetzt hatte und forderte, diese abzuschaffen oder zumindest stark zu lockern; denn ,,[o]b z.B. der Notenumlauf inflatorisch oder deflatorisch wirkt, hängt nicht von der Zusammensetzung seiner Deckung, sondern lediglich von seiner Höhe, seiner Umsatzgeschwindigkeit und seinem Verhältnis zu den Umsätzen der Wirtschaft ab" (1931, S. 1187). Die Notenbank habe lediglich

auf eine „hinreichende Liquiditätsreserve für Auslandsverbindlichkeiten" zu achten (1931, S. 1188). Als Mitarbeiter der Federal Reserve Bank, New York, beobachtete Dernburg insbesondere die Entwicklung der nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererstarkten Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ursachen fur das deutsche Wirtschaftswunder sah Dernburg sowohl in den groß angelegten Wirtschaftshilfen der USA als auch in der durchdachten Wirtschafte- und Fiskalpolitik in der Bundesrepublik nach der Währungsreform 1948. Besonders lobenswert erschienen ihm dabei die Abschaffung der Regulierungen auf vielen Märkten, die, teilweise noch aus der Zeit vor dem Krieg stammend, im Nachkriegsdeutschland die freie Entfaltung der Wirtschaft behindert hatten; das Steuersystem, das nach seiner Analyse dazu geeignet war, anstelle des Konsums die Produktion und den Export zu fördern; und nicht zuletzt eine orthodoxe Geldpolitik, der es gelang, sowohl Inflation, als auch eine zu scharfe Aufwertung der DM zu verhindern. So kam es zu einer laufenden Verbesserung der deutschen Terms-of-Trade, die zusammen mit einer geringen Importneigung, welche Dernburg durch strukturelle Gegebenheiten begründet sah, zu einer starken Verbesserung der Außenhandelsbilanz führte (1954). Gefahren für die Stabilität der deutschen Wirtschaft erblickte er in der Wiederbewaffnung (1955). Da die deutschen Vorräte an Arbeit und Kapital in dieser Zeit vollbeschäftigt waren, befürchtete er eine sinkende Wachstumsrate des Sozialprodukts als Konsequenz des Entzugs von Arbeitskräften aus der Produktion in das Militär und der Umwidmung von Kapitalgütern zur Waffenproduktion. Seine Empfehlungen waren der Import von Arbeitskräften aus Italien, sowie verstärkter Import von Gütern aus dem Ausland. Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang erkannte er in der Gefährdung der Preisniveaustabilität: Durch die Waffenproduktion entstehen Einkommen und Kaufkraft, aber keine zusätzlichen Konsumgüter, was zu steigenden Preisen führe. Hier sah er die Wirtschaftspolitik gefordert, die versuchen sollte, diesen Kaufkraftüberhang abzubauen. Schriften in Auswahl: (1925) Die metaphysische und mystische Seite des Eckhardschen Systems, Diss., Universität Heidelberg.

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Dernburg, Thomas F(rederick) (1931)

(1954)

(1955)

Die 40%-Deckung des Notenumlaufs, in: Der Deutsche Ökonomist, Η. 2376, S. 1187-1188. Germany's External Economic Position, in: American Economic Review, Bd. 44, S. 530-558. Rearmament and the German Economy, in: Foreign Affairs, Bd. 33, S. 648-662.

Quellen: Seligman 54/142; UAH 757/18. Thomas Keil

Dernburg, Thomas F(rederick), geb. 25.3.1930 in Berlin Der Name Thomas Dernburg hat in der Welt der makroökonomischen Lehrbücher einen bekannten Klang. Denn in den Glanzzeiten des IS/LM-Modells zählte 'der Dernburg/McDougall' (mit sechs Auflagen zwischen 1960 und 1980) zu den international weit verbreiteten Standardwerken. Dernburg war 1937 mit seinen Eltern ( - • Hans J. Dernburg) in die USA emigriert und hatte 1957 bei James Tobin in Yale promoviert. In den Jahren 1961 bis 1974 lehrte er am Oberlin College in Ohio. Nach einem einjährigen Gastspiel in der fiskalpolitischen Abteilung des Internationalen Währungsfonds (1974/75) wechselte er 1975 an die American University in Washington, wo er bis 1992 blieb. Im darauffolgenden Jahr erhielt er den Chair of Excellence an der Austin Peay State University in Clarksville, Tennessee. Anschließend trat er in den Ruhestand. Neben seinen akademischen Positionen bekleidete Dernburg von den 1960er Jahren bis in die frühen 1980er Jahre verschiedene Ämter in der wirtschaftspolitischen Beratung des amerikanischen Präsidenten und des Kongresses. Zunächst war er im Council of Economic Advisers tätig, später im Joint Economic Committee of the Congress, im Subcommittee on Economic Stabilization sowie in der Haushaltskommission des Senats. Dernburg hat als Lehrbuchautor dazu beigetragen, daß das IS/LM-Modell zu einem Standardwerkzeug der makroökonomischen und wirtschaftspolitischen Analyse avancierte, das in der Lehre und der Politikberatung trotz aller Kritik noch heute viel benutzt wird. Auch die anderen Veröffentlichungen Demburgs zeigen eine eindeutige Ausrichtung auf das Forschungsprogramm der 'Neoklassischen Synthese' in der Tradition James To-

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bins. In den 1950er und 1960er Jahren lag dabei der Schwerpunkt auf ökonometrischen Untersuchungen struktureller Einflüsse auf die Konsumgüternachfrage und das Arbeitsangebot. Den Anfang machte die (1958 veröffentlichte) Dissertation über die Verbreitung des Femsehens als Beispiel für den Einfluß von Produktinnovationen auf die Konsumfunktion. Dernburg fand Indizien dafür, daß Fernsehen ein inferiores Gut sei, sein Konsum mit steigendem Einkommen (und besserer Erziehung) also abnehme. Er war klug genug, dieses Ergebnis einer Querschnittsanalyse nicht auf die Längsschnittbetrachtung einer Prognose zu übertragen, die im Zeitraum der letzten vierzig Jahre wohl vielfach falsifiziert worden wäre. Die weiteren ökonometrischen Arbeiten (z.B. 1966) richteten sich vornehmlich auf zyklische Schwankungen der Erwerbsquote und auf Veränderungen der versteckten Arbeitslosigkeit, die Demburg und seine Mitverfasser als Belege für die partielle Endogenität des Arbeitsangebots betrachteten. Auf diese Weise zeigten sie, daß die theoretischen und statistischen Referenzwerte der Vollbeschäftigung selbst von der Beschäftigungsentwicklung der Vergangenheit abhängig sind. In den 1970er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt der Veröffentlichungen auf die Theorie und Praxis der Stabilisierungspolitik. Dernburg war nun stark in das Geschäft der Politikberatung in Washington eingebunden, während der Zerfall der Weltwährungsordnung von Bretton Woods viele jener Lehrbuchweisheiten infragezustellen schien, die er zu verbreiten geholfen hatte. Es liegt auf der Hand, daß er sich durch die Diskussionen um die Freigabe von Wechselkursen, um Stagflation und um die Ineffizienz stabilitätspolitischer Eingriffe herausgefordert sah, die verbliebenen Spielräume für antizyklische Geld- und Fiskalpolitik auszuloten. Die Erweiterung des IS/LM-Modells zum Mundell/Fleming-Modell einer kleinen offenen Volkswirtschaft wird in der Literatur häufig auf einen einfachen Gegensatz der Regime reduziert. Bei fixen Wechselkursen bildet demnach die Fiskalpolitik das adäquate Instrument zur Stabilisierung des Volkseinkommens, während die Geldpolitik weder die Geldmenge kontrollieren noch die wirtschaftliche Aktivität beeinflussen kann. Bei flexiblen Wechselkursen verhält es sich genau umgekehrt: Die Einkommenswirkung der Fiskalpolitik verpufft im Ausland, während die Geldpolitik die Geldmenge und das Inlandseinkommen über zins-

Dernburg, Thomas F(rederick) induzierte Veränderungen des AuBenbeitrags steuern kann. Demburg (1970) zeigte am Beispiel einer expansiven Stabilitätspolitik, daß dieser Gegensatz die 'ceteris paribus'-Klausel übermäßig strapaziert. Bei rationaler Koordination von fiskalpolitischen und geldpolitischen Maßnahmen spielt es für deren Einkommenseffekte im Prinzip keine Rolle, ob die Wechselkurse fix oder flexibel sind. Denn die Wirkungen gleichgerichteter (expansiver oder restriktiver) Maßnahmen auf das Zinsniveau und die Zahlungsbilanz können bei entsprechender Dosierung einander ausgleichen. Nach Dernburg ist es eine gefahrliche Illusion zu glauben, daß eine Freigabe der Wechselkurse der Geldpolitik größere Schlagkraft verleihe. Ein zynischer Rückblick auf die währungspolitischen Erfahrungen seit 1973 würde Dernburgs Indifferenztheorem zumindest im Negativen bestätigen. Im Vergleich der beiden Wechselkursregime gibt es keinen eindeutigen Verlierer. Sowohl bei fixen als auch bei flexiblen Wechselkursen sind große Mißerfolge der Stabilitätspolitik zu verzeichnen. Häufig sind deren Gründe auch in einer Überschätzung der Geldpolitik und ihrer mangelhaften Abstimmung mit der Fiskalpolitik zu suchen. Die Stagflation der 1970er Jahre galt vielen Ökonomen als empirische Widerlegung der Annahme eines langfristig stabilen Phillipskurven-'trade off von Inflation und Arbeitslosigkeit. In seiner Analyse der Stagflation rekurrierte zwar auch Dernburg (1980) auf die einschlägige Kritik an dieser Annahme. Er hielt aber zugleich daran fest, daß ein Zielkonflikt von Geldwertstabilisiening und Beschäftigung bestehe, wenn man die Stagflation mit den traditionellen Maßnahmenpaketen der Geld- und Fiskalpolitik bekämpfen wolle. Er wies eindrücklich darauf hin, daß die Stagflation der 1970er Jahre auf ein Zusammenspiel von negativen Angebotsschocks (Ölkrisen und Mißemten) und falscher Stabilitätspolitik zurückzuführen sei. Zunächst habe man in den USA einen 'easymoney tight-fiscal policy mix' gefahren. Dieser habe die automatischen Stabilisatoren der Einkommensteuerprogression in inflationäre SteuerLohn-Preisspiralen verwandelt, worauf man zur 'old-time religion of tight budgets and tight money' zurückgekehrt sei. Auf diese Weise seien aus den Angebotsschocks Zyklen von 'boom and bust' entstanden. Zur Bekämpfung der Stagflation schlug Dernburg in seinem Gutachten für den Senat eine neue Kombination von fiskal- und geldpolitischen

Maßnahmen vor. Die Zentralbank solle einmalige Preisschübe im Gefolge von Angebotsschocks akkommodieren und nicht (wie in den Jahren nach 1975) mit Zinsrestriktionen reagieren, die letztlich nur die Kapitalbildung und den Produktivitätsfortschritt hemmen und über den Kostendruck weitere Inflation erzeugen. Damit sich Preisschübe aus Angebotsschocks nicht zu Inflationsspiralen entwickeln, sollten u.a. die Einkommen- und Unternehmensteuern inflationsindexiert und moderate Lohnabschlüsse durch Steuerprämien gefordert werden. Bekanntermaßen fanden derartige Konzeptionen einer 'tax-based incomes policy' (TIP) kein Gehör. Stattdessen schaltete man unter Paul Volcker und Ronald Reagan auf einen 'suddenly tight-money and slowly easy-fiscal policy mix' um. Auch wenn die fiskalische Nachfragestimulierung unter dem Deckmantel der Angebotsorientierung zum Verschwinden der Stagflation beigetragen haben mag, entsprach dieser 'mix' kaum den Vorstellungen von einer wohlkoordinierten Stabilitätspolitik, die Dernburg bis in die letzte, allein unter seinem Namen erschienene Neuauflage seines Lehrbuches (198S, Kap. 18) vertreten hat.

Schriften in Auswahl: (1958)

(1960)

(1966)

(1970)

Consumer Response to Innovation: Television, in: Dernburg, T. u.a. (Hrsg.): Studies in Household Economic Behavior, New Haven, S. 1-50. Macro-Economics. The Measurement, Analysis and Control of Aggregate Economic Activity, New York/ London (I. Aufl., 1960 bis 6. Aufl., 1980 mit Duncan McDougall; alleiniger Autor der 7. Aufl., 1985, mit verändertem Untertitel: Concepts, Theories, and Policies); 3. neubearbeitete deutsche Aufl. nach der 5. amerikanischen Aufl., Stuttgart 1981. Hidden Unemployment 1953-62: A Quantitative Analysis by Age and Sex (zus. mit Kenneth Strand), in: American Economic Review, Bd. 5, S. 71-95. Exchange Rates and Co-Ordinated Stabilization Policy, in: Canadian Journal of Economics, Bd. 3, S. 1-13.

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Dessauer, Marie (1975)

(1980)

Fiscal Analysis in the Federal Republic of Germany. The Cyclically Neutral Budget, IMF Staff Papers, Bd. 22, S. 825-857. Stagflation: Causes and Cures. Special Study on Economic Change of the Joint Economic Committee, Congress of the U.S. Studies, Bd. 4, S. 1-37.

Quellen: Β Hb Π; AEA. Hans-Michael Trautwein

Dessauer, Marie, geb. 28.4.1901

in Bamberg,

ab 1940 Marie Meinhardt Aus den Quellen ist nur wenig über den Werdegang Marie Dessauers zu erfahren. Für die Zeit vor ihrer Emigration im Jahre 1934 lassen sich drei Angaben machen: Sie war als Assistentin an der Handelskammer in Frankfurt a.M. tätig, studierte im Sommersemester 1929 an der London School of Economics (LSE) und promovierte bei Eugen Altschul über Die Big Five. Zur Charakteristik der englischen Depositenbanken. In ihrer Dissertation beschreibt Marie Dessauer eingehend die Entwicklung und Geschäftstätigkeit jener fünf Joint-Stock-Baiikta (Aktiengesellschaften), die in einer enormen Konzentrationswelle im Jahre 1918 entstanden waren und von da an das Einlagengeschäft, das kurzfristige Kreditgeschäft und somit auch den bargeldlosen Zahlungsverkehr in England beherrschten. Bei diesen Großbanken handelte es sich um die Barclays Bank, die Lloyds Bank, die Midland Bank, die National Provincial Bank of England sowie die Westminster Bank. Diese „Markennamen" haben sich bis heute erhalten - wenn auch mittlerweile aus den Big Five durch die Fusion von National Provincial und der Westminster Bank zu NatWest die Big Four geworden sind, die sich das Einlagengeschäft der Filialbanken (retail banks) in Großbritannien mit je einer Großbank aus dem ehemaligen öffentlichrechtlichen Sparkassenbereich (TSB) und dem ehemaligen Bausparkassenbereich (Abbey National) teilen. Die Arbeit von Marie Dessauer ist nicht nur wegen dieser Kontinuität - gewissermaßen als frühe Chronik der heutigen Big Four - von Interesse. Sie bildet vielmehr auch als Momentaufnahme des englischen Trennbankensystems in der Weltwirtschaftskrise, kurz nach der Loslösung des bri-

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tischen Pfundes vom Goldstandard, einen bemerkenswerten Kontrapunkt zu Banksystemvergleichen der achtziger Jahre. Das englische Trennbankensystem, das aus der Konkurrenz der JointSfoc/t-Banken mit Privatbanken einerseits und der hoheitlich privilegierten Bank of England andererseits entstanden war, erwies sich nämlich in den zwanziger und dreißiger Jahren als weitaus weniger boom- und krisenanfällig als das deutsche Uni versalbankensystem und das gemischte Bankensystem in den USA, die beide mit Bankzusammenbrüchen und Insolvenzketten erheblich zur Entstehung und Verschärfung der Weltwirtschaftskrise beitragen. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen wurde in den USA mit dem Glass-Steagall Act von 1933 ein Trennbankensystem nach englischem Muster eingeführt. In den siebziger und achtziger Jahren wurden die entsprechenden Marktsegmentierungen in Großbritannien, den USA und andernorts durch Finanzinnovationen unterlaufen und durch Deregulierungen aufgehoben. Im Nachhinein haben Ökonomen die Trennung des Zahlungsverkehrs und kurzfristigen Einlagen- und Kreditgeschäfts von anderen Bereichen der Finanzintermediation häufig als irrationale bzw. „rein" politisch bedingte Entscheidung gegen die Gesetze des Marktes dargestellt. Nach dem Platzen der Kreditblasen in diesen Ländern zu Beginn der neunziger Jahre denken manche darüber wieder anders. Selbst wenn heutzutage niemand mehr ernsthaft für eine Rückkehr der Big Four zu den Beschränkungen des Depositengeschäfts plädieren kann, gewinnt Marie Dessauers Geschichte der englischen Depositenbanken an Interesse für die genauere Bestimmung der Umstände, unter denen sich in der ökonomischen und politischen Konkurrenz ein Trennbankensystem herausbildet, das das systematische Risiko einer fundamentalen Liquiditätskrise relativ gering hält. Es war allerdings nicht das Ziel Marie Dessauers, einen umfassenden Vergleich von Banksystemen anzustellen, der die Grandlage einer allgemeinen Bankentheorie und entsprechender Politikempfehlungen bilden sollte. Die Big Five ist nicht mehr und nicht weniger als eine gründliche, sehr informative Studie der Besonderheiten des englischen Kreditwesens. Trotz der positiven Würdigung der Robustheit der englischen Depositenbanken warnte die Autorin ausdrücklich davor, das englische Trennbankensystem zum universellen Patentrezept zu erheben. Sie erkannte deutlich die

Doblin, Ernest Martin groBen institutionellen Unterschiede in den Verflechtungen von Industrie- und Finanzsektoren, die beispielsweise zwischen Deutschland und England bestanden und die das System der Depositenbanken kaum auf Deutschland übertragbar machten. Marie Dessauer emigrierte 1934 nach Großbritannien. In den folgenden beiden Jahren besuchte sie die ökonomischen Seminare von -» Friedrich August Hayek und Lionel Robbins an der London School of Economics. Im Juli 1937 erhielt sie eine Anstellung als Forschungsassistentin bei den Professoren Hayek und Gregory. Theodore Gregory war Professor of Banking and Currency und hatte in den zwanziger Jahren maßgeblich - und mit nachhaltigem Eindruck auf seinen Schüler Robbins - dazu beigetragen, daB sich die Ökonomen an der LSE für Werke in den „Sprachen des Kontinents" zu interessieren begannen und somit die „splendid isolation" der englischen Ökonomen durchbrachen (vgl. Shehadi 1991). Gregory und Hayek waren zu verschiedenen Zeiten zentrale Figuren an der LSE gewesen, mittlerweile aber etwas ins Abseits geraten. In den Jahren an der LSE veröffentlichte Marie Dessauer-Meinhardt (sie hatte im August 1940 geheiratet) drei kleinere Aufsätze: einen Kommentar zur Novelle des deutschen Reichsgesetzes Uber das Kreditwesen von 1934, und zwei kurze Aufsätze über englische Arbeitslosenstatistiken des 19. Jhdts. Ihre Tätigkeit an der LSE endete spätestens mit der kriegsbedingten Auslagerung der LSE nach Cambridge im Jahre 1941. In den sechziger Jahren erschienen in Deutschland noch zwei Aufsätze von Marie Meinhardt, mittlerweile wohnhaft in Bournemouth, über das Aktienrecht und die Bilanzierungspraxis von Aktiengesellschaften in Großbritannien. Es kann hier nur vermutet werden, daß ihre Expertise in bezug auf Limited Companies auch auf ihre früheren Arbeiten über die englischen Joint-StockBanken zurückzuführen ist. Schriften in Auswahl: (1933) Die Big Five. Zur Charakteristik der englischen Depositenbanken, Stuttgart. (1935) The German Bank Act of 1934, in: Review of Economic Studies Bd. 2, S. 214-224. (1940a) Unemployment Records, 1848-59, in: Economic History Review Bd. 10, S. 38-43.

(1940b)

(1965)

(1967)

Monthly Unemployment Records, 1854-1892, in: Economica, Bd. 7, S. 322-326. Der Jahresabschluß von Aktiengesellschaften in Großbritannien. In: Der Jahresabschluß von Aktiengesellschaften in Europa und USA, I.Teil, hrsg. vom Ausschuß für wirtschaftliche Verwaltung (AWV), Berlin, S. 59-105. Das neue Aktienrecht in Großbritannien, in: Außenwirtschaftsdienst des Betriebsberaters, Bd. 13, S. 433-435.

Bibliographie: Shehadi, N. (1991): The London School of Economics and the Stockholm School in the 1930s, in: The Stockholm School of Economics Revisited, hrsg. von Lars Jonung, Cambridge, S. 377389. Quellen: SPSL 525; L; Brief von J.M. Alstin (LSE) vom 18.2.1992. Hans-Michael Trautwein

Doblin, Ernest Martin (Ernst Martin Döblin), geb. 14.4.1904 in Berlin, gest 15.7.1951 in New York Neffe des Schriftstellers Alfted Döblin. Doblin veröffentlichte Beiträge in verschiedenen Gebieten der Volkswirtschaftslehre. Er promovierte 1929 bei -» MJ. Bonn an der Handelshochschule in Berlin mit einer Arbeit über die Theorie des Dumpings (1931). In der Zeit von 1929 bis 1931 war Doblin wissenschaftlicher Assistent am Währungsinstitut der Universität Berlin und von 1931 bis 1935 Mitarbeiter des Deutschen Volkswirt. 1933 emigrierte er nach Großbritannien, wo er bis 1936 wissenschaftlicher Assistent an der London School of Economics war. Daneben veröffentlichte Doblin zunächst noch Artikel unter einem Pseudonym als Korrespondent für den Deutschen Volkswirt. 1936 emigrierte er weiter in die Vereinigten Staaten. Dort erhielt er ein Stipendium an der Brookings Institution in Washington/D.C., übte dann eine Lehrtätigkeit an der New School for Social Research, New York, aus und wurde im Zweiten Weltkrieg Mitarbeiter in der Abteilung für Auslandsnachrichten des Office of Price Administration (OPA) sowie Leiter der National Ac-

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Doblin, Ernest Martin counts Division der Europa-Abteilung des USHandelsministeriums. Ab 1947 war Doblin im Statistischen Büro der UN-Wirtschafts- und Sozialabteilung sowie als Dozent am City College, New York, tätig. Doblins Wirken war nach der Emigration durch seine jeweilige Umgebung und den zeitgeschichtlichen Hintergrund beeinflußt. 1942 publizierte er The German Profit Slops of 1941, 1943 folgte Accounting Problems of Cartels und 1945 The Social Composition of the Nazi Leadership. In seiner Dissertation definierte Doblin zunächst den Begriff 'Dumping' als Export unter Inlandspreisen und erläuterte, warum er sich nur mit der genaueren Analyse des dauerhaften Dumpings beschäftigte, in Abgrenzung zum Eroberungsdumping und zum sporadischen Dumping für den kurzfristigen Verkauf von im Inland nicht absetzbarer Überschußproduktion im Ausland, denen seiner Meinung nach eine preistheoretische Fundierung fehlte. Eine zentrale Aussage Doblins war, da£ dauerhaftes Dumping nur von einem monopolistischen Anbieter betrieben werden könne. Er untersuchte ausführlich die Beeinflußbarkeit des monopolistischen Inlandspreises des Exportlandes durch das Dumping. Schließlich stellte er die Auswirkungen des Dumpings auf den Volkswohlstand im Export- und im Importland dar. 1933 setzte er sich mit der Monopolwirtschaft und staatlichen Eingriffsmöglichkeiten in Form von Monopolpreisreguliemng durch Gewinnbeschränkung und einer Monopolumsatzsteuer auseinander. Ein Ansatzpunkt, der solche Eingriffe rechtfertige, sei die möglicherweise geringere Kapitalrentabilität im Monopol, bedingt durch eben diese Marktform (unter bestimmten Bedingungen fehlende Anreize zur Effizienz). Werde der im Monopol erwirtschaftete Gewinn wieder dort investiert, führe dies zu einer geringeren Rendite als bei einer anderweitigen Investition. Zur Vermeidung derartiger Kapitalfehllenkungen wäre eine Steuer auf den Monopolgewinn zu erheben. Zur Monopolpreisregulierung durch Gewinnbeschränkung orientiert er sich am Beispiel der Vorgehensweise bei den amerikanischen Public Utilities. Er kam zu dem Ergebnis, daß der Gewinn als zu beeinflussende Größe wegen der Schwierigkeit, diesen extern zu ermitteln, problematisch sei und daher der Monopolpreis als Eingriffsgröße herangezogen werden müsse. Aufgrund dieser Erkenntnis gab Doblin schließlich einer Monopolumsatzsteuer gegenüber einer Monopolgewinnzusatzsteuer

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den Vorzug. Eine Monopol Umsatzsteuer könne teilweise wegen der nicht vollständigen Abwälzbarkeit dadurch gerechtfertigt werden, daß ein Teil der Monopolrenten, deren weniger produktive Verwendung unterstellt wurde, dem Staat zufließt, der sie effizienter einsetzen könne. Ob der Staat dieses leistet, ist jedoch aus heutiger Perspektive anzuzweifeln. Femer wäre aus allokativer Sicht, die in dem Werk nur an einigen Stellen angedeutet wird, der Zustand mit einer Monopolumsatzsteuer gegenüber dem Zustand ohne diese Steuer aufgrund der Vergrößerung des 'dead weight loss' infolge höherer Preise und geringerer Mengen ineffizienter. In Some Aspects of Price Flexibility (1940) beschäftigte sich Doblin mit dem Problem der Preisrigidität. Er überprüfte die damals in der 'New Economy' angenomme Tendenz zur sich verfestigenden Preisrigidität, die wiederum als depressionsverschärfender Faktor angesehen wurde. Empirische Studien gäben allerdings keine Anhaltspunkte dafür, daß sich das Verhältnis von flexiblen und rigiden Preisen in dem von ihm betrachteten Großhandelspreisindex des U.S. Bureau of Labour Statistics in der Zeitspanne von 1890 bis 1933 signifikant verändert habe. Auch das Verhältnis der aktuellen Anzahl der Preisänderungen gegenüber der möglichen änderte sich nicht grundsätzlich. Doblin versuchte über eine Aufspaltung des genannten Preisindex in Untergruppen detailliertere Aussagen über das Auftreten von Preisflexibilität bei bestimmten Güterklassen bzw. -eigenschaften zu machen. Er untersuchte die Beziehung zwischen Preisflexibilität und Dauerhaftigkeit/Fertigungsgrad/Endkonsumentennähe der Güter sowie administrative Eingriffsintensität und Konzentrationsgrad der Branche. Auch wurden die Auswirkungen der Preisflexibilität in der Depression auf das Produktionsvolumen dauerhafter und nicht dauerhafter Güter betrachtet. In seinem Beitrag The Ratio of Income to Money Supply (1951) analysierte Doblin zunächst, ob und in welchem Umfang sich die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes verändert, wenn sich der Entwicklungsgrad einer Volkswirtschaft erhöht. Er kam zu dem Schluß, daß möglicherweise mit zunehmendem Entwicklungsgrad die Umlaufgeschwindigkeit sinke. Unter der Annahme, daß dies zutrifft, untersuchte Doblin, wie das Volkseinkommen auf Basis der Geldmenge und des Entwicklungsgrades geschätzt werden könne. Über eine Regressionsgleichung, in die er als be-

Dobretsberger, Josef kannte Variable den Energieverbrauch pro Kopf als Indikator für den Entwicklungsgrad einsetzte, ermittelte er die geschätzte Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Da auch die Geldmenge bekannt ist, lasse sich das geschätzte Volkseinkommen bestimmen, dem er das z.B. in amtlichen Statistiken ausgewiesene tatsächliche Volkseinkommen gegenüberstellte. In der Regel war das geschätzte Volkseinkommen höher als tatsächliche, wobei die Abweichungen bei allen betrachteten Ländern bis auf drei eher gering waren. Als mögliche Ursachen für die höheren Abweichungen bei den drei Ländern nannte Doblin einerseits inkorrekte Daten und andererseits nicht berücksichtigte Besonderheiten dieser Länder. Ob die 'normalen' Abweichungen von tatsächlichem zu geschätztem Volkseinkommen bedeutungslos waren oder einen besonderen Aussagegehalt hatten, d.h. ob die Abweichung z.B. als Entwicklungspotential gesehen werden konnte, wurde in seinem Beitrag allerdings nicht erwähnt Doblin hatte mit diesem Aufsatz, wie auch in den anderen von ihm diskutierten Bereichen, interessante Fragen angesprochen, jedoch läBt sich sein heterogenes Werk keiner der gängigen Schulen der Nationalökonomie zuordnen. Schriften in Auswahl: (1931) Theorie des Dumpings, in: Probleme der Weltwirtschaft, Schriften des Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr an der Universität Kiel, Nr. 55, Jena (Diss.). (1932) Internationale Konjunkturabhängigkeit und Autarkie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 67, S. 283-313. (1933) Monopole und Besteuerung, Berlin. (1940) Some Aspects of Price Flexibility, in: The Review of Economic and Stati* sties, Bd. 22, S. 183-189. (1942) The German Profit Stops of 1941, in: Social Research Quarterly, Bd. 9, S. 371-378. (1943) Accounting Problems of Cartels, in: Accounting Review, Bd. 18, S. 249256. (1945) The Social Composition of the Nazi Leadership (als Koautor), in: American Journal of Sociology, Bd. 51, S. 42-49.

(1951)

The Ratio of Income to Money Supply, in: Review of Economics and Statistics, Bd. 33, S. 201-209.

Quellen: BNb I; SPSL230/1; L. Ulrike Berger

Dobretsberger, Josef, geb. 28.3.1903 in Linz, Oberösterreich, gest. 23.5.1970 in Wien Obwohl Dobretsberger im Wien der Zwischenkriegszeit studierte (Staatswissenschaften), ist er keiner der beiden damals dort dominierenden wirtschaftswissenschaftlichen Schulen - der Österreichischen Schule der Nationalökonomie (Menger, Wieser, Mayer) bzw. der ganzheitlichen Schule Ottmar Spanns - zuzurechnen. Seine Schriften sind stark institutionell orientiert, wobei er sich auf Elemente verschiedenster Theorien und Traditionen, der Historischen Schule, der klassischen und der neoklassischen Ökonomie, aber auch des Marxismus stützt. Am ehesten ist er den wirtschaftspolitisch orientierten Ausläufern der deutschen Historischen Schule zuzurechnen. Neben seiner akademischen Laufbahn als Ökonom war Dobretsberger als Gesellschafts- und Sozialpolitiker aktiv, sowohl intellektuell-publizistisch, als auch als praktischer Politiker. Nach seiner Habilitation in Wien war er kurze Zeit Generalsekretär des Reichsbauernbundes. Im Jahr 1930 wurde er an die Universität Graz als außerordentlicher Professor und ab 1934 als ordentlicher Professor berufen. Von Schuschnigg, dem zweiten Bundeskanzler des austrofaschistischen Österreich, wurde er im Herbst 1935 in dessen zweites Kabinett als Sozialminister geholt Er sollte in dieser Funktion eine Aussöhnung mit der überwiegend sozialdemokratisch orientierten Arbeiterschaft erreichen, da diese nach dem Verbot der Sozialdemokratie 1934 das autoritäre Regime ablehnte. Er setzte sich für einen Fortbestand von Arbeitnehmervertretungen mit gewisser Autonomie gegenüber dem autoritären Regime und für die Existenz von Kollektivverträgen ein. Dobretsberger konnte sich aber damit im austrofaschistischen Lager nicht durchsetzen, so daß er bereits im Sommer 1936 von dem Regierungsamt zurücktrat, das wieder von seinem Vorgänger übernommen wurde. Nach der Besetzung Österreichs 1938 war er kurzzeitig in Haft, konnte aber wegen einer Berufung an die Staatsuniversität Istanbul über die Schweiz

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Dobretsberger, Josef in die Türkei emigrieren. Ab 1942 war er Professor an der Giza Universität Kairo, von wo er 1946 nach Graz zurückkehrte. Neben seiner akademischen Tätigkeit versuchte er wieder als Politiker EinfluB zu gewinnen. Von 1948 bis 1957 war er Bundesobmann der von ihm gegründeten 'Demokratischen Union', die aber, unter anderem wegen ihres Zusammenspiels mit der kleinen Kommunistischen Partei Österreichs, keine politische Bedeutung erlangen konnte. Er war in den akademischen Jahren 1937/38 und 1947/48 Rektor der Universität Graz. Seine akademische Laufbahn begann Dobretsberger als Assistent bei dem Staatsrechtler und Autor der österreichischen Bundesverfassung, Hans Kelsen, bei dem er 1927 mit einer Untersuchung über Die Gesetzmäßigkeit in der Wirtschaft dissertierte. Gegen die von der österreichischen Schule, insbesondere von Menger vertretene Position, derzufolge es Aufgabe der theoretischen Ökonomie sei, allgemein gültige Sätze aus spezifischen Annahmen abzuleiten, die ihrerseits als Aussagen, die die Wirklichkeit beschreiben, gesehen werden können, vertrat Dobretsberger die historische Kontingenz und die institutionelle Stnikturiertheit ökonomischen Handelns. Er stützte sich dabei auf Max Webers Einordnung ökonomischen Handelns in eine allgemeine soziologische Theorie. Für seine wirtschaftspolitische Position war diese Untersuchung insofern von Bedeutung, als sie darlegte, daß die rein ökonomischen Theorien, wie etwa diejenigen von Ricardo oder von Menger, übersehen, daß ökonomisches Handeln an eine soziale und institutionelle Ordnung gebunden ist. Daher sei es methodisch falsch, wenn die Theorie politische Regulierung den ökonomischen Handlungen grundsätzlich gegenüberstellt, wie dies etwa Böhm-Bawerk in seiner Schrift Macht oder ökonomisches Gesetz getan hatte. Wenn durch politische Regulierung die wirtschaftliche Ordnung geändert wird, wenn etwa Eigentumsrechte geändert werden, dann wird diese neue Ordnung auch andere Gesetzmäßigkeiten als eine reine Marktwirtschaft aufweisen. Die Möglichkeit, derartige institutionelle Änderungen vorzunehmen, war fur Dobretsberger selbstverständlich. Die Veränderung institutioneller Strukturen und die dadurch geänderten Organisationsprinzipien wirtschaftlicher Aktivitäten stehen im Mittelpunkt aller seiner wirtschaftswissenschaftlichen und politischen Schriften. Es geht dabei, wie bei allen Vertretern der Historischen Schule, aber auch bei

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den Marxisten, um wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitisch motivierte institutionelle Änderungen, die mit historischen Veränderungen in der Wirtschaft im engeren Sinn, das heißt vor allem im organisatorischen Bereich der Produktion, im Zusammenhang stehen. In seiner Habilitationsschrift Konkurrenz und Monopol in der gegenwärtigen Wirtschaft bemühte er sich in Weiterführung der Ideen von -> Robert Liefmann, den Begriff des Monopols gegenüber der in der ökonomischen Theorie der Marktformen üblichen Verwendung zu erweitern. Es handle sich nämlich bei Monopolen um eine grundlegend andere Organisationsform der Wirtschaft als die der Konkurrenz. Wegen der durch Monopole und Kartelle entstehenden Ansätze zu einer zentralen Organisierung von Produktion und Absatz kann die Wirkung von Monopolen nicht, wie in der statischen Theorie der Marktformen, bloß auf höhere Preise und geringeren Output reduziert werden. Vielmehr müssen die durch die Monopolisierung geänderten Produktionsstrukturen analysiert werden. Monopol und Konkurrenz als Organisationsformen der Wirtschaft stehen auch im Mittelpunkt der 1932 veröffentlichten Studie Freie oder gebundene Wirtschaft?. Der Untertitel Zusammenhänge zwischen Konjunkturverlauf und Wirtschaftsform weist auf die Fragestellung dieses Buches hin. Nach Dobretsberger erschweren Monopole und Kartelle durch Preis- und Mengenregulierungen einen konjunkturellen Aufschwung, verhindern aber in einem Abschwung einen Wettbewerb, der zu Kapitalvernichtung fuhrt. Sie können nämlich durch Absprachen verhindern, daß die wegen des fixen Kapitalstockes versunkenen Kosten zu einer Vernichtung des Kapitals führen. Monopole und Kartelle stabilisieren also die Wirtschaft in der Krise. Es geht aber für Dobretsberger nicht bloß um Vor- und Nachteile von Monopolen und Kartellen, sondern auch darum, daß sich in der Krise Kartellierungen und Monopolisierungen verstärkt durchsetzen, während sie in einer Wachstumsphase an Bedeutung verlieren. Die Tendenz zur Monopolisierung der Wirtschaft wird von Dobretsberger aber noch in einem weiteren, gesellschaftspolitisch relevanten Zusammenhang gesehen. Durch die Organisation der Unternehmungen in Kartellen und Monopolen einerseits und der Arbeiter und Angestellten in Gewerkschaften und Berufsverbänden andererseits, wird ein Interessenausgleich in Verteilungskon-

Dobretsberger, Josef flikten möglich. Während der Liberalismus als Theorie der Konkurrenzwirtschaft soziale Fragen überhaupt nicht beachtet, der Marxismus hingegen einen unversöhnlichen Interessengegensatz zwischen einem einheitlich proletarischen und einem einheitlich kapitalistischen Interesse postuliert, ist es in einer kartellmäBig organisierten Wirtschaft, in der auch die Arbeitnehmer organisiert sind, möglich, soziale Probleme im Rahmen einer Untemehmenswirtschaft zu lösen. Für Dobretsberger ist das nicht eine politische Forderung, die an die Organisierung der Wirtschaft gerichtet wird, sondern dies entspricht den historischen Tendenzen der modernen Wirtschaft, in der der starke Gegensatz zwischen Konkurrenz und Monopol, wie er von der statischen Preistheorie betont wird, nicht mehr vorhanden ist. Ein einheitliches Interesse aller Arbeiter könne es in so einer Wirtschaft nicht geben, weil Lohnerhöhungen einer Gruppe von Arbeitnehmern bewirken, dafi der Reallohn anderer Arbeitnehmer sinkt. Verstärkt wird die Tendenz zu sozialem Ausgleich durch die Separiening von Kapitaleigentum von der Untemehmensfuhnmg in den Kapitalgesellschaften. Dadurch können Unternehmensleitungen eher die wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Arbeitnehmer beachten, als dies im Einzelunternehmen der Fall ist. Dies wiederum führt dazu, daß die Arbeitnehmer jeweils eines Unternehmens, eines Monopols, eines Kartells ein wirtschaftliches Interesse am Erfolg ihres Unternehmens haben. In einer kleinen Schrift Vom Sinn und Werden des neuen Staates (1934a) werden die staatspolitischen Konsequenzen dieser Thesen gezogen. Dobretsberger unterstützte darin den austrofaschistischen Staat publizistisch. Er versucht eine positive Ideologie fur den von DollfuB - dem er dieses Büchlein widmete - postulierten Ständestaat zu geben. Dieser Versuch weist spezifische Eigenheiten auf, die auf der ideologischen Verwurzelung Dobretsbergers in christlich-sozialen Vorstellungen beruhen. Er grenzt den autoritären Ständestaat einerseits gegen den Liberalismus ab, wobei er sich vor allem auf die wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben des Staates stützt. Er grenzt ihn aber auch gegen den totalitären Staat ab. Damit meint Dobretsberger sowohl die Sowjetunion als auch Deutschland unter der Herrschaft der NSDAP. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Ständestaat und dem totalitären Staat liegt für Dobretsberger darin, daß in ersterem anerkannt und akzeptiert wird, daß es vom Staat auto-

nome Interessen und Sphären gibt, die auch ein institutionelles Eigenleben haben sollen. Damit sind in erster Linie die Kirche und die Bereiche der Kultur und der Kunst gemeint, aber auch wirtschaftliche Interessenvertretungen. Selbstverständlich grenzte er sich gegen Ideen eines einheitlichen Arbeitnehmerinteresses ab und betont das gemeinsame Interesse von Arbeitern und Eigentümern der Unternehmungen am wirtschaftlichen Erfolg. Wegen dieses gemeinsamen Interesses können sie bestimmte Angelegenheiten autonom lösen. Dobretsberger akzeptierte sowohl die Existenz einer Gesellschaft unabhängig vom Staat als auch von einander widersprechenden Interessenlagen. Dem muß der institutionelle Aufbau des Staates Rechnung tragen. Als Sozialminister versuchte er, diese Ideen praktisch umzusetzen, scheiterte aber an den politischen Realitäten. In seinen geldtheoretischen und geldpolitischen Arbeiten (1934b, 1946) werden vor allem makroökonomische Themen behandelt, aber auch Fragen der Geldschöpfung, Probleme der Regulierung von Banken und des internationalen Zahlungsverkehrs. In der ersten der beiden Arbeiten werden unter anderem mehrere Ideen zu einer monetären Lösung der Weltwirtschaftskrise besprochen. In dem in Ägypten verfaßten und nach dem Krieg publizierten Band wurden weltwirtschaftliche Zusammenhänge berücksichtigt. In diesen Arbeiten macht sich der theoretische Eklektizismus von Dobretsberger besonders bemerkbar. Zwar verfolgte er die makroökonomischen Diskussionen seiner Zeit, aber eine systematische Verwendung der darin entwickelten Konzepte keynesianischer Theorie oder ihrer Kontrahenten ist bei Dobretsberger nicht zu finden. Schriften in Auswahl: (1927) Die Gesetzmäßigkeit in der Wirtschaft, Wien (Diss.). (1929) Konkurrenz und Monopol in der gegenwärtigen Wirtschaft mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Industrie, Leipzig/Wien. (1932) Freie oder gebundene Wirtschaft? Zusammenhänge zwischen Konjunkturverlauf und Wirtschaftsform, München/Leipzig. (1934a) Vom Sinn und Werden des neuen Staates, Graz. (1934b) Neue Wege des Geldwesens und Zahlungsverkehrs, Berlin.

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Dorn, Herbert (1946) (1947) (1963)

Das Geld im Wandel der Wirtschaft, Bern. Katholische Sozialpolitik am Scheideweg, Graz. Wirtschaft und Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze aus drei Jahrzehnten, Graz.

Quellen: Β Hb I; ISL 1959/1984. Peter Rosner

Dorn, Herbert, geb. 21.3.1887 in Berlin, gest. 11.8.1957 in Hallein/Österreich Bis zu dem wegen seiner jüdischen Herkunft erzwungenen Ausscheiden aus dem Reichsdienst Ende 1933 war Dom einer der glänzenden Juristen in der deutschen Finanzverwaltung und Finanzgerichtsbarkeit zur Zeit der Weimarer Republik. Er hatte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Berlin, Freiburg, München und Würzburg studiert. Nach der Ablegung beider juristischer Staatsprüfungen und der Promotion zum Dr. iur. et rer. pol. trat Dorn 1914 in den preußischen Justizdienst ein, wurde jedoch bereits Ende 1914 an das Reichsjustizamt abgeordnet. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 stellte er sich loyal in den Dienst der neuen Republik. An der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung war er beteiligt. Ende 1919 wechselte er in das Reichsfinanzministerium, in dem er zunächst für die allgemeinen Rechtsangelegenheiten des Ministeriums zuständig war. 1920 wurde er - im Alter von 33 Jahren - zum Ministerialrat ernannt. In einer Blitzkarriere rückte er bis 1926 zum Ministerialdirektor und Abteilungsleiter auf. 1931 wurde der - damals erst 44jährige - Dom zum Präsidenten des Reichsfinanzhofs, des 1918 errichteten obersten Steuergerichts im Deutschen Reich mit Sitz in München, ernannt. Dom verdankte diesen Aufstieg seiner überragenden juristischen Kompetenz. Er galt als der 'Kronjurist' der Finanzverwaltung (Falk 1967, S. 307). Besonders interessierten ihn die internationalen Rechtsfragen. Er war einer der wenigen Experten, die sich in dem komplizierten Geflecht der Reparationsfragen auskannten. An den großen internationalen Verhandlungen jener Jahre war Dom auf deutscher Seite stets beteiligt. Das Gebiet, auf dessen Entwicklung Dom den größten Einflufi nehmen konnte, war das Internationale Steuerrecht. Als Wissenschaftler (seit 1920 Lehrbeauf-

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tragter für Finanz- und Steuerrecht, seit 1927 Honorarprofessor für Finanzrecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und internationales Verwaltungsrecht an der Handelshochschule Berlin), Autor von mehr als 50 Veröffentlichungen und hochrangiger Beamter im Reichsfinanzministerium beschäftigte er sich intensiv mit dem Phänomen der Doppelbesteuerung. Es ist auf sein Wirken zurückzuführen, daß Deutschland in jenen Jahren führend beim Abschluß von Doppelbesteuemngsabkommen mit anderen Staaten wurde. Das weltweite Renommee von Dom zeigt sich darin, daß er 1931 zum Präsidenten des 'Comit6 fiscal' beim Völkerbund bestellt wurde. Dieses Amt mußte Dom 1933 nach dem Austria Deutschlands aus dem Völkerbund aufgeben. Ende 1933 wurde die Versetzung Doms in den Ruhestand - mit Wirkung zum 31.3. 1934 - ausgesprochen. Beim Pogrom im November 1938 wurde er von der Gestapo verhaftet und mißhandelt. 1939 floh er in die Schweiz. Von dort aus ging er 1941 nach Kuba. Von 1943 bis 1947 beriet er die kubanische Regierung in Rechtsfragen und vertrat sie auf internationalen Konferenzen. 1947 siedelte Dom in die USA über, wo er 1949 eine wirtschaftswissenschaftliche Professur an der University of Delaware in Newark übernehmen konnte. Dort begründete er das Institute of InterAmerican Study and Research. Seine Forschungsund Lehrtätigkeit übte Dom, seit 1952 amerikanischer Staatsbürger, bis zur Emeritierung 1955 aus. Nach einem ersten Besuch 1955 kam Dom 1957 ein zweites Mal nach Deutschland zurück, um in München seinen Forschungen nachzugehen. Er starb auf einer Reise durch Österreich. Schriften in Auswahl: (1924) Internationales Finanzrecht und internationale Doppelbesteuerung, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Bd. 29, Sp. 628-688. (1925) Welche Grundsätze empfehlen sich für das internationale Vertragsrecht zur Vermeidung internationaler Doppelbesteuerung bei Einzelpersonen und Körperschaften, insbesondere bei gewerblichen Betrieben?, in: Verhandlungen des 33. Deutschen Juristentages, Berlin/Leipzig, S. 495-544. (1928) Empfiehlt es sich im Interesse einer gesunden Finanzwirtschaft, die bestehenden Grundsätze über die Be-

Drucker, Peter Ferdinand

(1929)

(1932)

(1938)

(1944)

(1957)

willigung der Einnahmen und Ausgaben für die Haushalte des Reichs und der Länder zu ändern?, in: Verhandlungen des 35. Deutschen Juristentages, Bd. 1, Berlin/Leipzig, S. 489564. Das Recht der Bewilligung von Einnahmen und Ausgaben der öffentlichrechtlichen Körperschaften, in: Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht, Bd. 3, S. 62-120. Finanzsysteme und Wirtschaftskrise, in: Festgabe für H. Großmann, Berlin/Wien, S. 1-69. Diritto finanziario e questioni fondamentali sulle doppie imposizioni, Padova. Problemas de Post-Guerra en el Transcurso de los Tiempos, La Habana. Das Steuersystem der Vereinigten Staaten im Lichte der Rechtsvergleichung, in: Steuer und Wirtschaft, Bd. 34, Sp. 273-294,473-484.

Bibliographie: Heßdörfer, L. (1957): Nachruf für Dr. Herbert Dorn, in: Steuer und Wirtschaft, Bd. 34, Sp. 633 f. Falk, L. (1967): Die Bedeutung von Herbert Dorn, in: Finanz-Rundschau, Bd. 22, S. 305-308. Klein, F. (1987): Zur Erinnerung an Herbert Dom, in: Steuer und Wirtschaft, Bd. 42, S. 97-100 (mit Anhang von J. H. Kumpf: Schriften von und über Herbert Dorn, S. 100-102). Göppinger, H. (1990): Juristen jüdischer Abstammung im 'Dritten Reich', 2. Aufl. München, S. 275 f. Pausch, A. (1992): Persönlichkeiten der Steuerkultur, Herne/Berlin, S. 104-111. Quellen: Kürschner 1931, Sp. 504 f.; 1935, Sp. 245 f.; 1954, Sp. 245 f.; Β Hb I; Handwörterbuch des Steuerrechts, Bd. 1, 2. Aufl., München 1981, S. 368; N1 Dom, Bundesfinanzakademie, Brühl. Johann Heinrich Kumpf

Drucker, Peter Ferdinand, geb. 19.11.1909 in Wien. Drucker ist als Sohn einer liberalen Familie holländischer Abstammung in Wien aufgewachsen und besuchte dort die Schule bis zum Abitur

1927. Nach anderthalbjähriger Tätigkeit als Angestellter in Exportfirmen in England und Hamburg ging er 1929 nach Frankfurt, wo er Assistent des Staatsrechtlers Karl Strupp wurde und zwei Jahre später mit einer Dissertation über Die Rechtfertigung des Völkerrechts aus dem Staatswillen zum Dr. jur. promovierte. Im gleichen Zeitraum arbeitete er als Bankberater und Journalist, von 1930 an war er als Dozent für internationales Recht und Geschichte an der Universität Frankfurt tätig. Da Drucker als Konservativer galt, bekam er 1933 von den Nationalsozialisten eine Stelle im Propagandaministerium angeboten. Drucker stand jedoch gerade wegen seiner konservativen Weltanschauung dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber. Dies zeigte sich wenige Wochen später in der Veröffentlichung seines ersten Buches, einer Monographie über den jüdischen Philosophen Stahl mit dem Titel Friedrich Julius Stahl, Konservative Staatslehre und geschichtliche Entwicklung. Drucker argumentierte darin vehement für ein freies Unternehmertum innerhalb einer parlamentarischen Demokratie auf der Grundlage eines Viel-Parteien-Systems und bezog damit eindeutig Position gegen die Einpartei-Diktatur von Hitler (Chatteijee 1982). Das Buch stieß bei den Nationalsozialisten auf massive Ablehnung und wurde kurze Zeit nach seinem Erscheinen öffentlich verbrannt. Dies bewegte Drucker dazu, sich im April 1933 nach England abzusetzen, weil er keine Möglichkeit sah, in Deutschland als Journalist oder als Hochschullehrer weiterzuarbeiten. Der Weg in die Opposition stellte für ihn im Gegensatz zu seinem Freund Berthold Freytag, einem der führenden Köpfe des protestantischen Widerstands, keine gangbare Alternative dar. In England fand er anfangs eine Anstellung bei einer Handelsbank, später arbeitete er als Amerikakonespondent für verschiedene britische Zeitungen. Im Jahre 1937 siedelte er schließlich in die USA über. Seine Eltern emigrierten 1938 anläßlich der Annexion Österreichs ebenfalls in die USA. Der Vater Adolph Drucker, Begründer der Salzburger Festspiele, war anschließend als Professor für Außenwirtschaft an den Universitäten von North Carolina und Washington tätig. Drukker setzte zunächst seine Tätigkeit als Journalist und Finanzberater fort, begann aber gleichzeitig mit der Universitätslehre am Sarah Lawrence College in Bronxville. Im Jahre 1942 wechselte er an das Bennington College in Vermont, an dem er bis 1949 Philosophie, Politik und Religion lehrte.

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Drucker, Peter Ferdinand 1950 wurde er Professor für Management an der Graduate School for Business and Administration der New York University. Seit 1971 hat er die „Clarke" Professur für Sozialwissenschaft an der Claremont Graduate School in Kalifornien inne. Parallel zur universitären Laufbahn baute er sich von 1943 an, als er sein erstes Projekt bei General Motors übernahm, ein zweites Standbein als Industrieberater auf. Druckers veröffentlichtes Werk ist äußerst umfangreich und findet eine immense Nachfrage. In zahlreichen Büchem und Artikeln widmet er sich diversen Forschungsfeldem. Seine frühen Arbeiten sind in starkem Maße politisch geprägt. So setzt er sich in seiner ersten größeren Veröffentlichung The End of Economic Man. Α Study of the New Totalitarianism aus dem Jahie 1939 mit dem Totali tarismus Hitler-Deutschlands auseinander und versucht, den Lesern dessen Entstehungsursachen und Wirkungen näherzubringen. Er bezieht darin eine klare Position gegen jegliche Art von Kollektivismus, insbesondere auch gegen den Marxismus. In den folgenden Jahren entwickelt er in Beiträgen wie The Future of Industrial Man (1943), The New Society. The Anatomy of the Industrial Order (1951) und The Practice of Management (1954) in der fur ihn typischen Mischung aus Vision und Realismus das Konzept einer neuen freien Gesellschaftsordnung, die sich als freiheitliche, friedliche Industriegesellschaft konstituieren müsse und in der die Person des Managers eine dominierende Position und Funktion einzunehmen habe. Die Analyse des Wesens und der Aufgaben des Managements steht im Zentrum seines weiteren wissenschaftlichen Schaffens. Als Begründer des Konzepts vom 'Management by Objectives' (MBO) in der heute gebräuchlichen Interpretation hat er einen wichtigen Beitrag zur Theorie des Managements geleistet. Drucker beschränkt sich allerdings nicht auf eine isolierte Betrachtung der Institution Management, sondern geht auch auf das Spannungsverhältnis Unternehmensleitung-Belegschaft und Unternehmen-Gewerkschaft sowie mögliche Ansätze zu ihrer Überwindung ein. Darüber hinaus stellt das Prinzip der Organisation im allgemeinen ein konstituierendes Element seiner neuen Gesellschaftsordnung dar. Nach Drucker wird eine Gesellschaft erst dann funktionieren, wenn die einzelnen Individuen mit einem sozialen Status und einer sozialen Funktion ausgestattet sind, durch die sie in einer Gruppe organisiert werden können.

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In späteren Arbeiten gibt Drucker auch in anderen Bereichen wichtige Impulse. Zu denken ist u.a. an die Innovationsforschung (Landmarks of Tomorrow, 1957) oder die Rentendiskussion (The Unseen Revolution, 1977). In seinem jüngst erschienenen Buch Die postkapitalistische Gesellschaft aus dem Jahr 1993 zeichnet er die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft zur (postkapitalistischen) Wissensgesellschaft nach und analysiert deren individuelle Voraussetzungen und organisatorische Konsequenzen. Gerade durch seine weiterführenden Gedanken zu den ökonomischen Wirkungen von Wissen bringt er Innovatives in die informationsökonomische Wissenschaftsdiskussion ein. Darüber hinaus reflektiert er z.T. auch seine praktischen Erfahrungen in der Industrie (The Concept of Corporation, 1946; Big Business, 1947). Trotz seines publizistischen Erfolges wird Drukker in der Fachwelt nicht uneingeschränkt akzeptiert und anerkannt. Die Meinungen sind sehr heterogen. Seine Kritiker bemängeln eine nicht genügende wissenschaftliche Fundierung seiner Beiträge. So gilt er vielfach eher als Praktiker und Journalist denn als akademischer Sozialwissenschaftler (Nielsen 1982). Einigkeit besteht aber darüber, daß er viele originäre Gedanken zum Management-Konzept entwickelt und damit zu einem verbesserten Verständnis von Organisationen beigetragen hat. Dieser Beitrag ist in zahlreichen Ehrungen gewürdigt worden. Schon in den vierziger Jahren wurde er ein Officer of the American Political Science Association, später wurde er Präsident der Society for the History of Technology und Vize-Präsident des Institute of Management Science. Im Jahre 1967 erhielt er den Taylor Key der Society for the Advancement of Management. Sein Einfluß macht sich weltweit bemerkbar. Aufmerksamkeit wird ihm sowohl von Topmanagern als auch von Politikern zuteil. Schriften in Auswahl: (1932)

Die Rechtfertigung des Völkerrechts aus dem Staatswillen, Berlin (Diss.).

(1933)

Friedrich Julius Stahl. Konservative Staatslehre und geschichtliche Entwicklung, Tübingen.

(1939)

The End of Economic Man. Α Study of the New Totalitarianism, London, New York.

Eckert, Christian Laurenz Maria (1943)

(1946) (1947)

(1950)

(1954)

(1957)

(1964)

(1974) (1976) (1979)

(1993)

The Future of Industrial Man. A Conservative Approach, New York (auch 1965; London 1942). Concept of the Corporation, New York (Neuaufl. 1972). Big Business. A Study of the Political Problems of American Capitalism, London/Toronto. The New Society. The Anatomy of the Industrial Order, New York (dt. Übers.: Gesellschaft am Fließband, Frankfurt 1950). The Practice of Management, New York/London (dt. Übers. Düsseldorf 1956). Landmarks of Tomorrow. A Report on the New 'Post-modern* World, London/New York (dt. Übers.: Das Fundament für morgen, Düsseldorf 1958). Managing for Results. Economic Tasks and Risk-Taking Decisions, London. Management: Tasks, Responsibilities, Practices, New York. The Unseen Revolution, New York (dt. Übers. Düsseldorf/Wien 1977). Adventures of a Bystander, [Autobiographie], New York (dt. Übers.: Zaungast der Zeit, Düsseldorf/Wien 1981). Die postkapitalistische Gesellschaft, Düsseldorf u.a.

Bibliographie Chatteijee, S.S. (1982): Drucker and Marcuse: Their Antagonistic Views on United States Society, in: The Indian Journal of Economics, Bd. 62 (247), S. 531-545. Nielsen, R.P. (1982): Book Review: Management Implications of Drucker's Managing in Turbulent Times, in: California Management Review, Bd. 25(1) (1982), S. 119-124. Shiba, M. (1971): A Note on Human Relations in Organization. Α Study on Prof. Peter Drucker's Principle of Organization, in: Otemon Economic Studies. The School of Economics, Nr. 4, S. 2332. Steger, U. (1993): Wissen überwindet Kapital (Besprechung zum Buch von P.F. Drucker mit dem Titel: Die postkapitalistische Gesellschaft), in: Die Zeit, Nr. 37 (10.9.1993), S. 28.

Tarrant, J.J. (1976): Drucker. The Man Who Invented the Corporate Society, Boston. Winterberger, G. (1956): Gesellschaft am Fließband. Zum Buche von Peter F. Drucker mit dem selben Titel, in: ORDO, Bd. 6, S. 181-185. Quellen: Β Hb Π; SPSL. Klaus Herdzina

Eckert, Christian Laurenz Maria, geb. 16.3.1874 in Mainz, gest. 27.6. 1952 in Köln Promovierte 1897 in Gießen unter Anleitung von A.B. Schmidt zum Dr. jur. utr. und 1898 in Berlin bei G. Schmoller zum Dr. phil. (Hauptfach: Nationalökonomie, Nebenfächer: Philosophie und Kunstgeschichte). Seine Habilitation für das Fach StaatsWissenschaften erfolgte im Jahne 1901 ebenfalls bei Schmoller. Noch im gleichen Jahre wurde er als hauptamtlicher Dozent an die neu gegründete Handelshochschule Köln berufen, dort am 1.4.1902 zum Professor für Staatswissenschaften ernannt und am 1.10.1904 zu deren Leiter als Studiendirektor bestellt. An der ebenfalls neu eröffneten Hochschule für kommunale und soziale Verwaltung in Köln wurde ihm die gleiche leitende Funktion am 1.4.1912 übertragen. Von 1904 bis 1919 war Eckert im Nebenamt a.o. Professor an der Universität Bonn. Neben seinem Lehrer G. Schmoller war er das einzige aus dem akademischen Bereich kommende Mitglied der Immedi atkommission zur Vorbereitung der Verwaltungsreform in Preußen 1904 bis 1916, nach deren Auflösung er in Würdigung seiner Verdienste zum Geheimen Regierungsrat ernannt wurde. Nach fast zehnjährigen intensiven Bemühungen gelang es Eckert, im Zusammenwirken mit dem damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, am 12.6.1919 die Wiedererrichtung der Kölner Universität zu erreichen, deren erster Rektor er auch wurde. Bis zu seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten 1933 gehörte er als Lehrstuhlinhaber für wirtschaftliche Staatswissenschaften und als geschäftsfuhrender Vorsitzender des Kuratoriums dieser Universität an. Wie Henning berichtet, wurde ihm von den nationalsozialistischen Machthabern u.a. vorgeworfen, „... daß er als Gouverneur von Köln (November und Dezember 1918) sich staatsfeindlich verhalten habe, obgleich er durch seine Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung gerade zur Vermeidung sozialer Unruhen mitgewirkt hatte" (Henning

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Eckert, Christian Laurenz Maria 1988, S. 2). Nach dem Zusammenbruch 1945 wurde Eckert sein Kölner Ordinariat formell wieder zurückgegeben; zugleich erfolgte seine Emeritierung. Bereits 1922 hatte ihm die Universität Köln den Titel eines Dr. rer. pol. h.c. und später, im Jahre 1949, den eines Dr. med. h.c. verliehen. Inzwischen war Eckert wegen der Zerstörung seiner Kölner Wohnung nach Worms umgesiedelt, von wo aus er mit ähnlichem Elan wie seinerzeit in Köln die Wiedererrichtung der Universität Mainz betrieb; sie erfolgte schon wenig später am 22.5.1946, und Eckert wurde ihr Gastprofessor und Ehrensenator. Auch an der Wiedererrichtung des 1936 von den Nationalsozialisten aufgelösten Vereins für Socialpolitik, dessen Vorsitz er bereits 1930-1932 innegehabt hatte, war Eckert maßgeblich beteiligt. Von 1948 bis 1952 gehörte er abermals als Schatzmeister dem engeren Vorstand des Vereins an. Eckerts Bedeutung über sein Fachgebiet hinaus beruht auf der Tatsache, daß er sich neben seiner Tätigkeit als Forscher und Universitätslehrer auch als wissenschaftlicher Organisator, als Wirtschaftsführer und als Verwaltungsfachmann große Verdienste erworben hat. Davon zeugen nicht nur seine Erfolge als Mitinitiator der Wiedergründung zweier Universitäten. Als Aufsichtsratsvorsitzender der Lederwerke Cornelius Heyl AG in Worms, eine Funktion, die er von 1936 bis 1946 ausübte, war er maßgeblich am Wiederaufbau dieses durch den Krieg stark in Mitleidenschaft gezogenen Unternehmens beteiligt. Seine Tätigkeit als Oberbürgermeister der Stadt Worms von 1946 bis 1949 zeigt, wie sehr er sich auch für den politischen Neuanfang in Deutschland nach dem Zusammenbruch persönlich eingesetzt hat. Seine schon in der Jugend stark ausgeprägten kunstgeschichtlichen Neigungen fanden ihren Niederschlag in einigen einschlägigen Veröffentlichungen und in seiner Tätigkeit als Vizepräsident der 1949 gegründeten Akademie der Wissenschaften und der Literatur, an der ihm die Leitung der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse übertragen wurde, sowie als Präsident des rheinischen Kulturinstituts. Die sich in der Vielzahl dieser Tätigkeiten und Funktionen dokumentierende Verbindung von wissenschaftlichem, kulturellem und politisch-gesellschaftlichem Engagement gibt einen - wenngleich hier verkürzten - Eindruck von Eckerts Universalität und der Breite seines geistigen und praktischen Schaffens.

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Als Nationalökonom, seinem eigentlichen Kernfach, war Eckert geprägt von seinem Lehrer Schmoller und der jüngeren Historischen Schule, was vor allem in seinen wirtschaftsgeschichtlichen Monographien, wie den Darstellungen der Rheinschiffahrt (1898; 1900) und der Geschichte des Kölner Bankhauses J.H. Stein (1940) zum Ausdruck kommt. Auch das Verhältnis von Ökonomie und Staat und Fragen der Weltwirtschaft nahmen einen wichtigen Platz in seinen Forschungen ein. Neben diesen vorwiegend historisch und wirtschaftspolitisch ausgerichteten Arbeiten verfaßte Eckert zahlreiche Aufsätze, in denen er sich grundsätzlichen Fragen der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre und Forschung sowie der Darstellung der von ihm mitinitiierten Bildungsinstitutionen widmete. Schriften in Auswahl: (1897) Der Fronbote im Mittelalter nach dem Sachsenspiegel und den verwandten Rechtsquellen. Ein Beitrag zur deutschen Rechtsgeschichte, Leipzig (Jur. Diss.). (1898)

(1900) (1921) (1921)

(1926)

(1928)

(1932)

(1932) (1940)

Das Mainzer Schiffergewerbe in den letzten drei Jahrhunderten des Kurstaates. Leipzig (Phil. Diss.). Rheinschiffahrt im 19. Jahrhundert, Leipzig (Habil.). Die neue Universität. Kölner Universitätsreden, 1, Köln. Wirtschaftliche und finanzielle Folgen des Friedens von Versailles, Bonn. Friedensverträge (vom staatswissenschaftlichen Standpunkte), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Bd. 4., Jena, S. 444-528. Die Neuformung Europas. Ausgangspunkte und Auswirkungen. Kölner Vorträge III, 1, Leipzig. Englands Aufstieg und Gefährdung in der Weltwirtschaft. (Wirtschaftsprobleme der Gegenwart, Bd. 19), Berlin. Alter und neuer Imperialismus. (Kieler Vorträge, Bd. 39), Jena. J.H. Stein (1790-1940). Werden und Wachsen eines Kölner Bankhauses in 150 Jahren, Berlin.

Eckstein, Otto Bibliographie: Napp-Zinn, Α.F. (1949): Werden und Wirken des Jubilars, in: Kultur und Wirtschaft im rheinischen Raum. Festschrift für Christian Eckert, hrsg. v. A.F. Napp-Zinn und M. Oppenheim, Mainz. Napp-Zinn, A.F. (1952): Christian Eckert. Gedenkrede, hrsg. v. Institut für Verkehrswirtschaft an der Universität Mainz. Münstermann, H. (1952): Christian Eckert. Ein aktiver Förderer des Handelshochschulstudiums, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung, N.F., Bd. 4, S. 337-340. Napp-Zinn, A.F. (1961): Eckert, Christian. Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 3, Stuttgart u.a., S. 19-20. Henning, F.W. (1988): Christian Eckert (1874 bis 1952), in: Kölner Volkswirte und Sozialwissenschaftler, Köln/Wien, S. 1-13. Quellen: Wenig, O. (1968), S. 61; ISL 1980. Helmut Walter

Eckstein, Otto, geb. 1.8.1927 in Ulm, gest. 22.8.1984 in Boston Eckstein emigrierte 1938 als Schüler mit seinen Eltern nach der 'Kristallnacht' zuerst nach Großbritannien und dann 1939 weiter in die USA. 1945 erwarb er die amerikanische Staatsbürgerschaft, von 1946 bis 1947 diente er im U.S. Army Signal Corps. Eckstein studierte zunächst an der Princeton University, an der er 1951 den Bachelor of Arts erwarb. Dann wechselte er an die Harvard University, der er bis zu seinem Tod verbunden blieb. 1952 erwarb er dort den Master of Science, 1955 promovierte er unter der Anleitung von Arthur Smithies über Water Resource Development. The Economics of Project Evaluation (1958b; 5. Aufl. 1971). Seit 1955 war Eckstein Mitglied der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Harvard University: von 1955 bis 1957 als Instructor, ab 1957 als Assistant Professor, ab 1960 als Associate Professor und seit 1963 als Full Professor of Economics. Die Schwerpunkte seiner Forschungsund Lehrtätigkeit lagen in der theoretischen Volkswirtschaftslehre, der Ökonometrie und Statistik sowie der Finanztheorie und Finanzpolitik. Neben seiner akademischen Tätigkeit beschäftigte sich Eckstein stets mit der praktischen Anwendung der Wirtschaftstheorie auf konkrete wirtschaftspolitische Problemstellungen. Nach Ab-

schluß seiner Promotion war er 1956 als Mitglied des Mitarbeiterstabs von Resources for the Future verantwortlich für die Analyse der sozialen Kosten der staatlichen Finanzierung eines Wasserbauprojekts. 1959 bis 1960 war er als Technischer Direktor für eine Studie des Joint Economic Committee zuständig, von 1964 bis 1966 gehörte er dem Council of Economic Advisers an, von 1967 bis 1969 dem President's Committee on Income Maintenance Programs, von 1967 bis 1970 dem Research Advisory Board Committee for Economic Development. Am bekanntesten wurde er jedoch als Präsident von Data Resources Inc. (seit 1969). Er erhielt zahlreiche akademische Auszeichnungen, war Fellow der Econometric Society und erhielt Ehrendoktorwürden der Universitäten Princeton und Brüssel. Seine berufliche Laufbahn begann Eckstein mit der Analyse eines groß angelegten, mehljährigen Wasserreservenprojekts mit dem Ziel, die Allokation staatlicher Mittel für solche Projekte zu verbessern. Seine erste Veröffentlichung beruhte auf seiner Dissertation (1958b) und befaBte sich mit Kriterien zur Auswahl öffentlicher Investitionen. Wirtschaftstheoretisch bemerkenswert ist dabei seine vollständige intertemporale Wohlfahrtstheorie, mit deren Hilfe er praktisch anwendbare Regeln für die Kosten-Nutzen-Analyse öffentlicher Investitionsprojekte ableitete. Seine Beiträge waren der Ausgangspunkt für eine allgemeine Anwendung des Kosten-Nutzen-Ansatzes, der unter Präsident Johnson als offizielle Politik der U.S. Regierung übernommen wurde. Schon Ecksteins erste wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten zeigen den Charakter seines gesamten Werkes: Er wählt ein praktisch bedeutsames Problem, schafft einen allgemeinen wirtschaftetheoretischen Rahmen, der sich auch auf andere, ähnliche Probleme übertragen läßt, und wendet diesen allgemeinen Ansatz auf sein konkretes Problem an, wobei er stets von einem starken Glauben an die Zweckmäßigkeit des wirtschaftswissenschaftlichen Ansatzes für die Analyse wirtschaftspolitischer Probleme geleitet wird. Innerhalb weniger Jahre nach Veröffentlichung seiner ersten Arbeiten zählte Eckstein zu den führenden Wirtschaftswissenschaftlern in den Vereinigten Staaten. Schon Ende der 1950er Jahre war er der intellektuelle Leiter einer Studie des Joint Economic Committees, Employment, Growth and Price Levels. Das von ihm herausgegebene mehrbändige Werk zielte darauf ab, Wege aus der Sta-

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Eckstein, Otto gnation der U.S. Wirtschaft in der Mitte der fünfziger Jahre zu finden, und legte einen der Grundsteine für die amerikanische Wirtschaftspolitik der frühen sechziger Jahre. Als Mitglied des Council of Economic Advisers unter Präsident Johnson entwickelte er sich zu einem der geistigen Väter der U.S. Wirtschaftspolitik. Aus dieser Zeit stammt auch sein einflußreiches Lehrbuch Public Finance (1964), das mehrmals wiederaufgelegt wurde. Seit Mitte der 1960er Jahre setzte Eckstein mehr und mehr ökonometrische Methoden ein. Die damals beginnende dramatische Verbilligung der computergestützten Datenveraibeitungszeiten ermöglichte es, umfassende ökonometrische Informationssysteme zu schaffen, wie etwa Datenbanken, spezielle Software und Makrosimulationsmodelle. Zusammen mit Donald B. Marren gründete Eckstein deshalb 1968 die Firma Data Resources Inc. (DRI), die sich bald zum weltweit größten Anbieter ökonomischer Informationen entwickelte. Vor Gründung von DRI wurden makroökonometrische Modelle ausschließlich in der Forschung verwendet. Eckstein nutzte sie nun auch kommerziell als Entscheidungshilfen in staatlichen und privaten Organisationen. Ein wesentlicher Teil der DRI-Studien bestand in der Schätzung wichtiger Struktuiparameter der U.S. Volkswirtschaft und in der Analyse der Wirkung wirtschaftspolitischer Maßnahmen auf die volkswirtschaftliche Leistungskraft. Dank der ökonometrischen Modellierung konnten nun die Auswirkungen wirtschaftspolitischer Maßnahmen quantifiziert werden, während vorher nur eine grobe qualitative, oft durch ideologische Vorurteile geprägte, Abschätzung möglich war. Eckstein sah jedoch auch mögliche Gefahren der Quantifizierung, wenn sie etwa zu einer scheinbaren Sicherheit führt und somit Wirtschaftspolitiker zu falschen Schlußfolgerungen verleitet. Auf der anderen Seite betonte Eckstein aber auch die Tatsache, daß es kein Monopol für die Produktion volkswirtschaftlicher Zahlen gibt. Vielmehr beruhen die Forschungen einer Reihe von Institutionen auf ökonometrischen Modellen. Da dabei unterschiedliche Datengrundlagen und theoretische Ansätze verwendet werden, sollten die Gefahren der Quantifizierung auch nicht überschätzt werden. Unter Ecksteins Führung gewann DRI eine bedeutende Rolle auf dem Weltmarkt für ökonomische Informationssysteme.

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1979 wurde DRI eine Tochtergesellschaft von McGraw-Hill, Inc. Eckstein leitete die Entwicklung des DRI-Modells der U.S. Volkswirtschaft und verantwortete die makroökonomischen Prognosen. Durch seine Arbeiten beeinflußte er wirtschaftspolitische Entscheidungsträger in Industrie und Verwaltung. Freunde und Gegner bezeichneten ihn als einen der fähigsten Exponenten der Keynesianischen Makroökonomie. Seine Arbeiten sorgten mit dafür, daß große makroökonometrische Modelle für viele Jahre als mainstream approach zum Verständnis konjunktureller Entwicklungen Anerkennung fanden. Wenn sich auch die Vorhersage konjunktureller Wendepunkte stets als schwierig erwies, galten bis zur Mitte der 1970er Jahre die mit Hilfe dieser Modelle aufgestellten kurz- und mittelfristigen Prognosen als recht verläßlich. Deshalb vertrauten manche Wirtschaftspolitiker darauf, daß eine Fernsteuerung der Volkswirtschaft möglich und auch praktisch durchführbar sei. Die Erfahrung der Rezession des Jahres 1975 ließ jedoch viele MakroÖkonomen am Erfolg herkömmlicher ökonometrischer Modelle zweifeln. Wie sich Eckstein kurz vor seinem Tode erinnerte, war für ihn diese Rezession eine „Wasserscheide" in der ökonometrischen Modellierung der amerikanischen Volkswirtschaft. Keines der damals bekannten Modelle hatte die tiefste Rezession seit Ende des Zweiten Weltkriegs prognostiziert. Eckstein und seine Mitarbeiter überarbeiteten auf diesen Schock hin das DRI-Modell, dessen revidierte Version Eckstein in seinem 1983 veröffentlichten Buch The DRI Model of the U.S. Economy zusammenfassend darstellt. Dieses letzte große Werk bildet die Synthese vieler seiner früheren Arbeiten. In der Tat ist das DRI-Modell eines der umfassendsten makroökonometrischen Modelle, das je entwickelt wurde. Mehr als 25 Spezialisten waren mit dem Modell vollzeitbeschäftigt, das mehr als 800 Gleichungen umfaßte und zu den verschiedenartigsten Simulationen der U.S. Wirtschaft verwendet wurde. Eckstein erreichte mit diesem Modell zwei seiner wichtigsten wissenschaftlichen Ziele: (1) einen allgemeinen Rahmen für wirtschaftspolitische Analysen zu schaffen, und (2) diesen Rahmen zur Untersuchung praktischer ökonomischer Probleme zu nutzen.

Ehrlich, Otto Hild Seit Mitte der siebziger Jahre vertraute Eckstein den Möglichkeiten staatlicher Nachfragesteuerung immer weniger. Dies zeigt sich in seinen letzten Arbeiten, insbesondere in seiner Studie Core Inflation (1981), deren eher pessimistische Ergebnisse auf eine Erwartung der „Kerninflation" hindeuten. Einen Ausweg bieten nach Eckstein eine angebotsorientierte ι Wirtschaftspolitik, verstärkter Wettbewerb, Inve^titionsanreize, und vor allem Steuererleichterungen, die zu höherem Wachstum und mehr Produktivität fuhren sollen. Wenn sich Eckstein gegen Enae seines Lebens auch eher einer angebotsorienqerten Wirtschaftspolitik zuneigte, so folgte er doch nie einem damals modischen Trend, der glaubte, die Erkenntnisse von Keynes und Schumpeter ignorieren zu können. Natürlich hat sich die MakroÖkonometrie seit dem Tode Ecksteins im Jahre 1984 weiterentwickelt. Aus heutiger Sicht, in der Probleme der Modellspezifikation, Endogenisierung von Politikvariablen, zeitabhängige Parameter, nichtstationäre Prozesse und (Reintegration im Mittelpunkt des makroökonometrischen Forschungsinteresses stehen, fällt besonders auf, da8 im DRI-Modell und in den darauf basierenden Veröffentlichungen viele Verhaltensgleichungen nicht explizit angegeben wurden, so dafi ihre ökonometrische Validierung nicht überprüft werden kann. Umfassende makroökonometrische Modelle werden heute weniger in der Forschung, sondern vielmehr - und immer noch mit großem (auch kommerziellem) Erfolg - in der Politikberatung verwendet. Kurzund mittelfristige Vorhersagen stehen dabei im Vordergrund. Der Traum von verläßlichen langfristigen Vorhersagen und dem Ende unerwünschter konjunktureller Schwankungen hat sich nicht erfüllt. Es bleibt jedoch Ecksteins Einsicht, daB die Arbeit mit ökonometrischen Modellen Wirtschaftsforschem und -politikern Disziplin auferlegt, und daß sie helfen kann, wirtschaftspolitische Diskussionen auf eine rationale Grundlage zu stellen. Im Gegensatz zu ideologischen oder rein wirtschaftstheoretisch begründeten Ansätzen zur Politikberatung fördern ökonometrische Analysen ein tieferes Verständnis wirtschaftlicher Vorgänge, sie vermitteln aber auch ein Gefühl der Bescheidenheit und Vorsicht. Ecksteins Vermächtnis besteht in einem Versuch zum Verständnis ökonomischer Prozesse, das nicht auf persönlichen Vorurteilen beruht, sondern auf logischer Konsistenz und empirischer Geltung.

Schriften in Auswahl: (1958a) Multiple Purpose River Development. Studies in Applied Economic Analysis (zus. mit J.V. Krutilla), Baltimore. (1958b) Water Resource Development. The Economics of Project Evaluation, Cambridge, Mass. (Diss.). (1959) Employment, Growth and Price Levels, Joint Economic Committee, U.S. Congress, Washington, D.C. (1964) Public Finance, New York (4. Auflage, 1979). (1967) Studies in the Economics of Income Maintenance (Hrsg.), Washington. (1970) The Econometrics of Price Determination (Hrsg.), Washington. (1976) Parameters and Policies in the U.S. Economy (Hrsg.), Amsterdam. (1978) The Great Recession, Amsterdam. (1981) Core Inflation, New York. (1983) The DRI Model of the U.S. Economy, New York. Quelle: Β Hb Π. Gerhard Wagenhals

Ehrlich, Otto Hild, geb. 29.9.1892 in Wien, gest. 22.5.1979 in Plainfield, New Jersey Von 1911 bis 1914 und 1918/19 studierte Ehrlich, Sohn jüdischer Eltern, Jura an der Universität Wien. Zwischen 1914 und 1918 diente er im Ersten Weltkrieg als Leutnant in der ÖsterreichischUngarischen Armee. Nach seiner Promotion zum Dr. iur. 1919 übernahm er einen gehobenen Posten in der Allgemeinen Depositenbank Wien, den er bis 1925 bekleidete. Im Jahr 1926 ging er als Leiter des Volkswirtschaftlichen Bereiches zur Volkshochschule Volksheim, Wien. Während dieser Zeit hielt er auch an anderen Volkshochschulen und bei verschiedenen Organisationen der Gewerkschaften Vorlesungen über unterschiedliche ökonomische Themen, wobei er ein besonderes Gewicht auf Monopoltheorie legte. 1934 gab er die Tätigkeit an der Volkshochschule auf, um eine Werbeagentur zu gründen und zu leiten. Nach dem 'Anschluß' Österreichs wurde 1938 sein gesamter Besitz beschlagnahmt und seine Familie aus ihrem Hause vertrieben. Nachdem ihm bereits zweimal die Deportation in ein Konzentrationsla-

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Ehrlich, Otto Hild ger gedroht hatte, emigrierte Ehrlich 1939 in die USA. Dort arbeitete er zunächst (1939/40), auch mit Unterstützung durch Empfehlungsschreiben von -» Joseph A. Schumpeter und Ludwig von Mises, bei verschiedenen akademischen Institutionen. 1940 und 1941 leitete er als Business Manager die Shady Hill Press, deren Mitbegründer er war. Im Jahr 1941 erhielt er eine Stelle als Instructor in Economics am Brooklyn College, New York, die er bis 1947 inne hatte. Ab 1946 war er Assistant Professor am City College, New York und Fakultätsmitglied der New York University; ab 1932 Associate Professor und ab 1956 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1958 Professor of Economics an der Graduate School of Aits and Sciences. 1952 gründete er die Economic Abstracts, deren Herausgeber und Leiter er bis 1956 war. Auch nach seiner Emeritierung blieb Ehrlich aktiv, zunächst (1958/59) indem er als Part Time Professor und Lecturer die Wiederaufnahme der ökonomischen Theorie und die erstmalige Aufnahme von Ökonometrie in das Curriculum der Graduate School durchsetzte; dann übernahm er 1959 eine Teilzeitprofessur am Uppsala College in East Orange, N.J., die 1960 zur vollen Professur erweitert wurde. 1961 gab er diese Tätigkeit wieder auf. Dennoch zog sich Ehrlich nicht aus dem akademischen Leben zurück: So hielt er in den Jahren 1958 bis 1962 einige Multi-Media Vorlesungen über „Ten Great Composers" und bereiste von 1962 bis 1965 die Bundesrepublik Deutschland, um an verschiedenen Universitäten und Forschungsinstituten Gastvorlesungen zu halten. Bei seiner Arbeit spezialisierte Ehrlich sich von Beginn an besonders darauf, ähnlich wie Otto Neurath zur selben Zeit, durch den innovativen Gebrauch multimedialer Methoden abstrakte ökonomische Zusammenhänge möglichst anschaulich darzustellen. Dies zeigte sich bereits in den 1930er Jahren, als er fur seine Vorlesungen Filme über Monopole einsetzte. Eine bemerkenswerte Fortsetzung fand dies in seinem 1943 erschienenen Buch Uncle Sam versus Inflation, in dem mit Hilfe von Cartoons - die zwar nicht von ihm selbst gezeichnet, wohl aber von ihm konzipiert waren - die Auswirkungen und die Bekämpfung von Inflation in den Vereinigten Staaten dargestellt wurde.

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Anfang der 1920er Jahre war Ehrlich an einem bemerkenswerten Projekt beteiligt: Ein aus Österreich stammender Amerikaner (Edward A. Filene) hatte einen Preis für die besten wirtschaftspolitischen Empfehlungen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation seines Heimatlands gestiftet. Dieser wurde nun unter der gesamten Bevölkerung Österreichs ausgeschrieben und erzielte eine Vielzahl äußerst heterogener Einsendungen. Ehrlich war Mitarbeiter der Kommission, die die Aufgabe hatte, diese Einsendungen zu ordnen und zu beurteilen; die Auswertung dieser Arbeiten wurde 1926 in dem Buch Kann Österreich geholfen werden? veröffentlicht. Inhaltlich befaBte sich Ehrlich überwiegend mit makroökonomischen Problemen wie monetärer Außenwirtschaft, dem Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, sowie der Transmission monetärer Impulse im Verlauf von Konjunkturzyklen. Dabei verband er konjunkturtheoretisches Gedankengut in der Schumpeterschen Tradition mit der Vorstellung eines funktionierenden Phillipskurven trade-offs. Ehrlich betonte die Rolle der Erwartungen der Unternehmen bei der Entstehung von Konjunkturzyklen. So sollte die Fiskalpolitik durch das Schließen der Nachfragelücke nicht nur die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, sondern im gleichen Zuge auch die Erwartungen der Unternehmen stabilisieren. Als größte Gefahr für einen stabilen Geldwert blieben dann vor allem Monopolisierungstendenzen auf den Arbeits- und Gütermärkten. In seinem letzten Lebensabschnitt entwickelte Ehrlich ein besonderes Interesse an der Analyse des Wertes der Zeit, zu einer eigenen Veröffentlichung zu diesem Thema kam es jedoch nicht mehr. Schriften in Auswahl: (1926)

(1942)

Kann Österreich geholfen werden? Aus 696 Arbeiten zum Preisausschreiben Edward A. Filene's. Wien. Uncle Sam versus Inflation, New York.

(1956)

Other Countries' Economists. In: Economia Internazionale, Bd. 9, S. 87-102.

(1961)

Unvollkommene Synchronisierung zwischen den Volkswirtschaften Europas und der USA, in: Wirtschaftsdienst, Bd. 2, S. 69-78.

Ehrmann, Henry W. (1968)

Inflation in the United States, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 100, S. 226-257.

Quellen: Β Hb II; AEA Thomas Keil

Ehrmann, Henry W. (Heinrich Walter), geb. 10.3.1908 in Berlin Nach dem Abitur am Französischen Gymnasium in Berlin studierte Ehrmann Rechtswissenschaften zunächst an der Universität Berlin und dann in Freiburg, wo er 1928 das Staatsexamen ablegte und 1932 bei dem Arbeitsrechtler H. Hoeniger mit einer Studie über den kollektiven Tarifvertrag promovierte. Seine Ausbildung im Justizdienst der Weimarer Republik muBte er 1933 abbrechen. Wenn er als Jurist und späterer prominenter Politologe auch nicht zu den Wirtschaftswissenschaftlern zu zählen ist, so beschäftigen sich viele seiner tagesaktuellen Publikationen in den dreißiger Jahren im französischen Exil und später seine politikwissenschaftlichen Analysen nach 1940 in den USA mit ökonomischen Problemen oder Grenzbereichen der politischen Ökonomie. Als Mitglied der kleinen intellektuellen sozialistischen Gruppe Neu Beginnen, die von jüngeren Dissidenten der großen Arbeiterparteien, SPD und KPD, gebildet worden war und sich im Unterschied zu diesen schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung auf den aktiven Widerstand vorbereitet hatte, wurde Ehrmann im November 1933 verhaftet. Die Tarnung der Gruppe jedoch verhinderte, daß die Gestapo ihm etwas nachweisen konnte. Nach seiner Entlassung aus dem KZ Oranienburg im Frühjahr 1934 flüchtete er über die Tschechoslowakei nach Frankreich, wo er als Repräsentant von Neu Beginnen enge Kontakte zur sozialistischen Bewegung und besonders zu Leon Blum, dem Ministerpräsidenten der Volksfrontregierung von 1936, aufbaute. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Vertreter des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam und freier Journalist verschiedener Exil-Zeitschriften sowie der sozialistischen Presse diverser europäischer Länder. Seine zahlreichen Artikel, zumeist unter Pseudonym, über die wirtschaftliche und soziale Lage Frankreichs sollten die Grundlage seiner späteren politikwissenschaftlichen Interessen bilden. Der längeren Intemierung in Frankreich nach Kriegsausbruch entging

er durch die Einladung der New School for Social Research in New York, die ihm im Herbst 1940 die Einreise in die USA mit einem Non Quota-Visum ermöglichte. Neben seiner Tätigkeit dort als Forschungsassistent gab er für die American Friends of German Freedom, eine mit den politischen Zielen von Neu Beginnen sympathisierende Intellektuellengmppe, die bibliographische Zeitschrift In re: Germany heraus, welche mit ihren Kurzrezensionen die amerikanische Öffentlichkeit über NS-Deutschland wissenschaftlich zu informieren suchte. Von 1943 bis 1947 wirkte Ehrmann als Berater für Erziehungsfragen im Office of War Information, so bei der Reeducation deutscher Kriegsgefangener in den POW-Lagern, ehe er den Ruf auf eine Professur für Politikwissenschaft an der Universität Colorado erhielt. Dort blieb er bis 1961, anschließend lehrte er bis 1971 am Dartmouth College in Hanover, New Hampshire und von 1971 bis zur Emeritierung 1973 an der McGill University in Montreal. Daneben hielt er Gastprofessuren in Berkeley, an der Freien Universität Berlin, in Paris, Bordeaux, Nizza und Grenoble; von 1976 bis 1991 lehrte er jeden Winter an der University of California in San Diego. Außerdem war er in den USA in diversen Komitees tätig, so etwa als Fellow im Social Science Research Council 1952/53 und 1958/59, femer gehörte er dem Herausgebergremium der American Political Review an. Zahlreiche Ehrenpromotionen in den USA (Hartford University 1978), in Deutschland (Mannheim 1982) und Frankreich (Paris 1989) zeigen das internationale Renommee dieses Gelehrten. In seinen frühen wissenschaftlichen Arbeiten vor 1933 in Deutschland und anschließend in Frankreich untersuchte Ehrmann zunächst die Möglichkeiten der Gewerkschaften und des Tarifvertragssystems, gestaltend auf die soziale und ökonomische Entwicklung einzuwirken. Diese Perspektive erweiterte sich später zu umfassenden Analysen der Strategien und Wirkungen von Interessengruppen im politischen Prozeß. Im Mittelpunkt stand dabei die Entwicklung in Frankreich seit den 1930er Jahren, so zum Beispiel in seinem großen Werk Organized Business in France, das dem Einfluß der Wirtschaftsorganisationen auf die französische Wirtschaftspolitik nach geht. Dieser Fokus Frankreich wiederum diente als Folie für seine international vergleichenden Untersuchun-

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Elsas, Moritz Julius gen, mit denen er als Experte für Interessengruppen und ihre Politik bekannt wurde. Schriften in Auswahl: (1932) Der mehrgliedrige Tarifvertrag, Mannheim. (1932) Recht auf Abwehrkampf bei Verletzung eines mehrgliedrigen Tarifvertrags, in: Arbeitsrecht, Bd. 19, S. 400-418. (1937) Devaluation und Wirtschaftslage im Volksfront-Frankreich, in: Rote Revue, Zürich, S. 85 ff. u. 397 ff. (1941) The Blum Experiment and the Fall of France, in: Foreign Affairs, Bd. 20, S. 152-164. (1947) French Labor from Popular Front to Liberation, New York. (1957) Organized Business in France, Princeton. (1958) Interest Groups in Four Continents, Pittsburgh. (1976) Comparative Legal Cultures, Englewood Cliffs, N.J. (1983) Constitutional Democracy. Essays in Comparative Politics. A Festschrift in honor of Henry W. Ehrmann, hrsg. v. Fred Eidlin, Boulder, Col. (mit Bibliographie). Quellen: Β Hb Π; N1 Ehrmann, SUNY Albany. Claus-Dieter Krohn

Elsas, Moritz Julius, geb. 25.12.1881 in Frankfurt a.M., gest. 18.4.1952 in London Elsas heiratete 1912 in London Esther Margaret Firnberg und führte von da an anstelle von Julius als zweiten Vornamen John. Er hatte zwei Kinder. Elsas promovierte 1918 - vermutlich in Frankfurt a.M. - zum Doktor der Staatswissenschaften und betätigte sich später als Privatgelehrter. Schwerpunkte seines wissenschaftlichen Wirkens waren wirtschaftsstatistische und -geschichtliche Fragestellungen; großen Wert legte er dabei insbesondere auf die wirtschaftstheoretische Fundierung seiner Überlegungen. Elsas entwickelte als erster, und damit auch vor dem Statistischen Reichsamt, einen Preisindex der Lebenshaltung. Von 1919 bis 1924 berechnete er Indexziffern über die Kosten der Lebenshaltung einer vierköpfigen Arbeiterfamilie, zunächst fur

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Frankfurt a.M. sowie Berlin und später für eine Reihe weiterer deutscher Städte. Er verfolgte damit insbesondere die Absicht, eine möglichst objektive Grundlage für die Tarifauseinandersetzungen zur Verfügung zu stellen. Pioniercharakter hat auch das zweite längerfristig angelegte Projekt von Elsas: Von 1924 bis zu seiner Emigration im Jahre 1933 berechnete er Monat fur Monat einen Index des sozialen Wohlstands, der sich als gewogenes arithmetisches Mittel aus einem Index des Massenwohlstands und einem Kapitalindex ergibt. Dabei erfafit ersterer die Entwicklung der Lohneinkommen, letzterer die Entwicklung von Umfang und Qualität der Kapitalausstattung. Elsas versucht somit die Entwicklung des sozialen Wohlstands über wenige grundlegende Symptome und nicht, wie schon damals üblich, über möglichst viele Folgeerscheinungen zu operationalisieren. Er liefert damit einen sehr interessanten Beitrag zu einer Diskussion, die bis heute fur die Wohlfahrts- und Sozialindikatorenforschung fundamentale Bedeutung hat. Ab 1929 arbeitete Elsas an einem Umriss einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland vom ausgehenden Mittelalter bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, der in drei Teilen zwischen 1936 und 1949 veröffentlicht wurde und in beträchtlichem Umfang Quellenmaterial für die Forschung zur Verfügung stellte. Dieses von der Rockefeiler Foundation Finanzierte Projekt war eingebettet in das Forschungsprogramm des Internationalen Wissenschaftlichen Komitees für die Geschichte der Preise, dem Elsas als Gründungsmitglied angehörte und dessen Vorsitzender der Rektor der London School of Economics, William Beveridge, war. Neben seiner jüdischen Herkunft waren dies und die Tatsache, dafi seine Frau aus London stammte, die Gründe dafür, daß Elsas 1933 nach England emigrierte, in London seine preis- und lohngeschichtliche Arbeit fortsetzte und 1935 nach reiflicher Überlegung das Angebot einer Stelle als Sachverständiger für die Kontrolle der öffentlichen Gesellschaften in Ankara ablehnte. Dieses Angebot hatte ihm Fritz Baade vermittelt; die Aufgabe übernahm dann Ernst Reuter, der spätere Berliner Bürgermeister. In England wurde er Mitarbeiter von J.M. Keynes, war für den Manchester Guardian tätig, untersuchte im Auftrag des Population Investigation Committee die dortige Wohnsituation vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und veröffentlichte die Ergebnisse in zwei Bü-

Ellis, Walter Alfred ehem. Von 1939 bis 1940 arbeitete er in einem Komitee der London School of Economics mit, das im Auftrag des National Institute of Economic and Social Research das Volkseinkommen in Großbritannien insbesondere von 1924 bis 1938 durchleuchten sollte. 1948 übernahm er Forschungsaufgaben für das Cabinet Office in London. Abgerundet wird das wissenschaftliche Lebenswerk von Elsas durch Beiträge zur Währungspolitik und zu Indikatoren zur Beschreibung der wirtschaftlichen Situation der Baumwollindustrie. Auch in diesen Beiträgen wird das Charakteristische seines Arbeitsstils deutlich: Er setzt zumeist an konkreten wirtschaftspolitischen Problemstellungen an, bemüht sich für deren Lösung möglichst objektive quantitative Informationen bereitzustellen und beweist dabei hohe Originalität. Erwähnenswert ist schließlich noch, daß er bereits früh viele internationale Kontakte besaß, jedoch in keinem akademischem Netzwerk verankert war. Schriften in Auswahl: (1919-1923)Der Stand der Kosten der Lebenshaltung am ... Indexziffern über die Kosten der Lebenhaltung einer vierköpfigen Familie ... Ermittelt und bearbeitet von Moritz Elsas, Frankfurt a.M. (1924 ff.) Ein sozialer Wohlstandsindex, Frankfurt a.M. (1928) Wohlstandsindex und sozialer Wohlstand, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 60, S. 86-102. (1933) Zur Methode der Preisgeschichte, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 94, S. 213-231. (1934) Volkswohlstand und Volkseinkommen. Messung des Wohlstands und Dynamik des Lohns, Leipzig. (1935) Price Data from Munich, in: Economic History, Bd. 3, S. 63-78. (1936) Cotton Indices (zus. mit B. Ellinger), in: The Economic Journal, Bd. 46 (1936-1949)Umriss einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland vom ausgehenden Mittelalter bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts (unter Mitarbeit von H. Vietzen u.a.), Lei-

(1942) (1947)

den: 1. Bd. 1936, 2. Bd. - Teil A 1940, 2. Bd. - Teil Β 1949. Housing before the War and after, London; 2. erw. Aufl. 1945. Housing and the Family, London.

Quellen: IFZ; L; Arnsberg, P. (1983): Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Bd. 3, Darmstadt. Ulrich Scheurle

Eltis, Walter Alfred, geb. 23.5.1933 in Warnsdorf (Tschechoslowakei) Im Jahr 1939 emigrierte Eltis nach Großbritannien, wo er nach seiner Schulzeit 1951-1953 als Offizier bei der Royal Air Force diente. Im Anschluß an seine Militärzeit studierte er bis 1956 am Emmanuel College in Cambridge Ökonomie und Schloß mit dem Bachelor of Arts ab. Für seine Leistungen im Studium eitaielt er den Adam Smith-Preis und wurde mit den First Class Honours in Economics ausgezeichnet. Eltis wechselte anschließend an die Universität von Oxford. Dort war er zuerst bis 1960 als Research Fellow am Exeter College und danach für drei Jahre als Dozent für Ökonomie am Keble College tätig. Zwischenzeitlich hatte er 1960 die Prüfung zum Master of Aits in Oxford abgelegt 1963 kehlte er an das Exeter College zurück und versah die Aufgaben eines Tutors in Ökonomie, bis er 1988 die Stelle des Generaldirektors im National Economic Development Office (NEDO) antrat, zu dessen Aufgaben die Förderung des Dialogs zwischen der britischen Regierung, den Arbeitgebern, den Gewerkschaften und den Banken gehört. Während seiner Zeit in Oxford verbrachte Eltis die Jahre 1976-1977 bzw. 1980 als Gastprofessor mit Forschungsaufenthalten an der Universität von Toronto und der Europäischen Universität in Florenz. Darüber hinaus war er zwischen 1974 und 1981 als Herausgeber der Oxford Economic Papers tätig. Die zentralen Schwerpunkte des wissenschaftlichen Werks von Eltis bilden die Kapitaltheorie, die Dogmengeschichte, die Wachstumstheorie sowie die Geld- und Finanztheorie bzw. -politik. Insbesondere seine wachstumstheoretischen Arbeiten zeichnen sich durch eine enge Beziehung zwischen dogmengeschichtlichen Kenntnissen und formal-theoretischer Orientierung aus. Während seiner ersten Studienjahre in Cambridge, wo

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Eltis, Walter Alfred u.a. Joan Robinson zu seinen akademischen Lehrern zahlte, richtete Eltis seine Interessen auf die Kapitaltheorie. Nach seinem Wechsel nach Oxford wurde er von Roy Harrod betreut, der ihm riet, ein Lehrbuch über den aktuellen Stand der Wachstumstheorie zu schreiben. 1963 erschien vorab ein erstes Kapitel unter dem Titel Investment, Technical Progress, and Economic Growth in den Oxford Economic Papers. Das komplette Buch Economic Growth: Analysis and Policy wurde 1965 veröffentlicht. Die weitere Beschäftigung mit kapital- und wachstumstheoretischen Fragestellungen führte 1973 zur Publikation von Growth and Distribution. Aufgrund seiner Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden, insbesondere neoklassischen Wachstumsmodelle, die als Folge der getroffenen Annahmen keinen EinfluB des Sparbzw. des Investitionsverhaltens auf die langfristige gleichgewichtige Wachstumsrate zuließen, entwickelte Eltis in diesem Buch bzw. seinem zuvor veröffentlichten Aufsatz The Determination of the Rate of Technical Progress (1971) eine 'Technical Progress Function', die eine Integration bzw. Weiterentwicklung der Arbeiten von Arrow und Kaldor darstellt. Im Gegensatz zu den traditionellen Ansätzen haben dabei die Investitionen einen dauerhaften EinfluB auf die Rate des technischen Fortschritts und damit auf das Gleichgewichtswachstum. Darüber hinaus beinhaltet das Modell eine eigenständige Investitionsfunktion, die den Wunsch zur Vermögensbildung mit der Investitionshöhe und der Profitrate verbindet. Eltis' wachstumstheoretische Arbeiten stellen damit einerseits eine Verbindung zwischen neoklassischen und (post)keynesianischen Elementen dar, andererseits können sie als Vorläufer der seit Mitte der achtziger Jahre entstandenen Modelle der sog. 'Neuen Wachstumstheorie' angesehen werden. Trotz der interessanten Ergebnisse und des positiven Echos in den Rezensionen im Anschluß an die Veröffentlichung des Buches (z.B. Sato 1974; Kennedy 1974) blieben die Überlegungen Eltis' in der wachstumstheoretischen Literatur weitgehend unbeachtet. Da Eltis seit Anfang der sechziger Jahre immer wieder für das National Economic Development Office in Großbritannien tätig war, befaßt sich ein großer Teil seiner Schriften mit den Konsequenzen staatlichen Eingreifens in den Wirtschaftsablauf. Der mit Sicherheit wichtigste Beitrag in diesem Zusammenhang ist das von ihm zusammen

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mit Robert Bacon verfaßte Buch Britain 's Problem. Too Few Producers (1976a). Nach Auffassung der Autoren waren die Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Großbritanniens Mitte der 1970er Jahre in den wachsenden öffentlichen Ausgaben in den sechziger und frühen siebziger Jahren zu suchen. Die Erhöhung des Staatsanteils führte zu einem Ressourcenentzug aus den produktiven Bereichen, insbesondere der Industrie, in die Teile der Volkswirtschaft, die durch ein geringeres Produktivitätsniveau bzw. niedrige Wachstumsraten gekennzeichnet waren. Die Ökonomie verschenkte somit Wachstumschancen, da das Produktionspotential tendenziell niedriger ausfiel, als es ohne den staatlichen Eingriff der Fall gewesen wäre. Des weiteren hatte die steigende Besteuerung des privaten Sektors negative Konsequenzen für die Investitionstätigkeit und damit für die Nachfrage nach Arbeit. Steuert nun der Staat dieser Unterbeschäftigung entgegen, wird ein akkommodierendes steigendes Geldangebot zu einer Erhöhung der Inflationsrate führen. Die theoretischen Grundlagen für diese Sichtweise der 'British Disease' sind in den Arbeiten von Adam Smith und Francois Quesnay zu finden. Die Privatwirtschaft wird in Analogie zum produktiven Sektor bei Quesnay als der Teil der Volkswirtschaft gesehen, der die anderen Bereiche finanziert. Insbesondere werden nur die privaten Investitionen als produktivitätssteigemd angesehen, während staatliche Ausgaben tendenziell konsumtiver Art sind. Diese auf den ersten Blick eingängige Beurteilung der Konsequenzen eines steigenden Staatsanteils läßt eine Reihe von Aspekten außen vor. Die Struktur der Staatsausgaben darf z.B. nicht vernachlässigt werden. Mittel, die in das Bildungswesen fließen, sind im Hinblick auf ihre Produktivitätseffekte anders zu beurteilen als Subventionen für nicht mehr wettbewerbsfähige Industriezweige. Trotz einiger Kritik von wissenschaftlicher Seite (vgl. z.B. Watson 1978, Artis 1977) stieß die Arbeit von Bacon und Eltis auf große Resonanz bei den verantwortlichen Politikern. Insbesondere die Wirtschaftspolitik von Maggie Thatcher wurde durch die Studie von Bacon und Eltis gerechtfertigt. Das Buch von Eltis und Bacon und die vor und nach dessen Veröffentlichung erschienenen Beiträge von Eltis zeigen zwei wichtige Elemente in seiner wissenschaftlichen Ausrichtung: zum einen eine über die Zeit hinweg zunehmende Skepsis gegenüber dem keynesianischen Gedankengebäu-

Eltis, Walter Alfred de, zum anderen das Bestreben, aus den klassischen Werken der Ökonomie Aussagen für das aktuelle Wirtschaftsgeschehen abzuleiten. Seine Vorbehalte im Hinblick auf die wirtschaftspolitische Umsetzung der keynesianischen Theorie wurden in The Failure of the Keynesian Conventional Wisdom (1976b) besonders deutlich. Eltis kritisierte vor allem die Annahme, daB eine Erhöhung der Staatsausgaben letztendlich immer zu einem höheren Beschäftigungsniveau fuhren wird, die weitgehende Vernachlässigung außenwirtschaftlicher Bedingungen sowie die seiner Auffassung nach sehr verkürzte monetäre Theorie in Keynes' General Theory bzw. in den Köpfen seiner Nachfolger. Letztere leide maßgeblich unter der Beschränkung auf Geld und Wertpapiere als den ausschließlichen Formen zur Vermögensanlage. Diese Vorwürfe, die sich mehr gegen den Lehrbuch-Keynesianismus der sechziger und siebziger Jahre und seine Anwendung durch die Träger der Wirtschaftspolitik wandten als gegen die Arbeiten von Keynes selbst, blieben erwartungsgemäß nicht ohne Gegendarstellung. So sah Lord Kahn (1977) in seiner Reaktion auf Eltis' Artikel dessen Kritik als eine recht eigenständige Version des Monetarismus an, die die Folge einer Fehlinterpretation des Keynesschen Theoriegebäudes sei. Die Kritik an der keynesianischen Wirtschaftspolitik in Großbritannien in den sechziger und siebziger Jahren basierte im wesentlichen auf Eltis' Interpretation der klassischen Werke der Nationalökonomie. In einer Reihe von Artikeln, die die Grundlage für das Buch The Classical Theory of Economic Growth (1984) bilden, setzte er sich vor allem mit der Erklärung wirtschaftlichen Wachstums auseinander. Eltis analysierte die Beiträge von Quesnay, Smith, Malthus, Ricardo und Marx sowohl unter theoretischen als auch wirtschaftspolitischen Aspekten. Neben der kritischen Darstellung der zentralen Elemente dieser Beiträge übersetzte er die Aussagen seiner Protagonisten in formal-mathematische Modelle, die für viele Ökonomen eine adäquatere Abbildung des Erklärungsgegenstands Volkswirtschaft sind als die häufig rein verbalen Darstellungen der Klassiker. Durch diese Transformation in die moderne Sprache der Mathematik und mittels des Vergleichs klassischer und moderner Theorien gelang es Eltis, die Aktualität der von ihm analysierten Modelle zu verdeutlichen. Dies zeigte sich schon auf den ersten Blick an den Themen, denen er be-

sondere Beachtung schenkte. Die Konsequenzen steigender Skalenerträge, wie sie von Smith und Marx untersucht wurden, oder die Frage nach der strukturellen Zusammensetzung der Volkswirtschaft sind heute ebenso relevant wie die Folgen des Akkumulationsprozesses und des technischen Fortschritts für die Entwicklung der Arbeitsnachfrage, die von Marx und Ricardo analysiert wurden. Auch die Rolle, die Malthus der effektiven Nachfrage zuwies, kann heute immer noch gewinnbringend diskutiert werden. Das Buch stellte insgesamt einen treffenden Beleg für Eltis' Überzeugung dar, daß einzelne Wirtschaftstheorien nicht für sich genommen falsch oder richtig sind, sondern daß immer gefragt werden muß, ob die Annahmen eines Modells sich im Einklang mit der Realität befinden. Werden die wirtschaftspolitischen Implikationen eines Ansatzes auf andere als die durch die ursprünglichen Annahmen gegebene Situation angewandt, ist das Scheitern der Wirtschaftspolitik vorprogrammiert Das Festhalten an einer einzigen, scheinbar richtigen Sichtweise volkswirtschaftlicher Zusammenhänge stellt somit keine erfolgversprechende Strategie zur Lösung ökonomischer Probleme dar. Dieses Verständnis über den Zweck und die Ausrichtung wirtschaftswissenschaftlicher Forschung prägte auch die Papiere, die von Eltis nach der Übernahme des Direktorenamts am NEDO verfaßt wurden und sich vielfach mit industriepolitischen und finanzpolitischen Themen befassen wie z.B. How Low Profitability and Weak Innovativeness Undermined UK Industrial Growth (1996) oder France's Free Market Reforms in 1774-6 and Russia's in 1991-3: The Immediate Relevance of L'Abbe de Condillac's Analysis (1993b). In letzterem verglich er Turgots Freigabe der Nahrungsmittelpreise mit dem Reformprozeß in Rußland. Die Schwierigkeiten, die sich in beiden Fällen bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln ergaben, wurden dabei anhand der Analyse des Abbe de Condillac untersucht. Hierbei wurde die Ursache für die mangelnde Versorgung der Bevölkerung in dem geringen Nutzen der Güter gesehen, die gegen die Produkte des primären Sektors getauscht werden konnten. Das Gesamtwerk von Eltis, das eine Reihe von Büchern und eine Vielzahl von Beiträgen in wichtigen Zeitschriften und Sammelbänden umfaßt und für das er 1990 von der Universität Oxford den Grad eines Doctor of Letters erhielt, bildet ein gutes Beispiel dafür, wie sich reine Wirt-

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Eppstein, Paul schaftstheorie, Dogmengeschichte und die Auseinandersetzung mit aktuellen wirtschaftspolitischen Fragestellungen produktiv miteinander verknüpfen lassen und voneinander profitieren können. Beeindruckend ist vor allem die schnelle und deutliche Reaktion der realen Wirtschaftspolitik Großbritanniens auf die Arbeiten von Bacon und Eltis in den siebziger Jahren, während die Wirtschaftstheorie ein Buch wie Growth and Distribution, das viele der aktuell in der Wachstumstheorie diskutierten Themen beinhaltet, weitgehend unbeachtet ließ.

Kennedy, Ch. (1974): [Besprechung von] Eltis, W.A.: Growth and Distribution, in: Economic Journal, Bd. 84, S. 196-197. Sato, R. (1974): [Besprechung von] Eltis, W.A.: Growth and Distribution, in: Journal of Economic Literature, Bd. 12, S. 917-918. Watson, W.G. (1978): Bacon and Eltis on Growth, Government, and Weifare, in: Journal of Comparative Economics, Bd. 2, S. 43-56.

Schriften in Auswahl: (1963) Investment, Technical Progress, and Economic Growth, in: Oxford Economic Papers, Bd. 15, S. 32-52. (1965) Economic Growth: Analysis and Policy, Hutchinson. (1971) The Determination of the Rate of Technical Progress, in: Economic Journal, Bd. 81, S. 502-525. (1973) Growth and Distribution, London. (1976a) Britain's Economic Problem: Too Few Producers, London (zus. mit Robert Bacon). (1976b) The Failure of the Keynesian Conventional Wisdom, in: Lloyds Bank Review, Bd. 121, S. 1-18. (1984) The Classical Theory of Economic Growth, London und New York. (1993a) Classical Economics, Public Expenditure and Growth, Aldershot. (1993b) France's Free Market Reforms in 1774-6 and Russia's in 1991-3: The Immediate Relevance of L'Abbe de Condillac's Analysis, in: European Journal of the History of Economic Thought, Bd. 1, S. 5-19. (1996) How Low Profitability and Weak Innovativeness Undermined UK Industrial Growth, in: Economic Journal, Bd. 106, S. 184-195.

Eppstein, Paul, geb. 4.3.1902

Bibliograhie: Artis, M. (1977): [Besprechung von] Bacon, R. und Eltis, W.A.: Britain's Economic Problem. Too Few Producers, in: Economic Journal, Bd. 87, S. 153-155. Kahn, R. (1977): Mr. Eltis and the Keynesians, in: Lloyds Bank Review, Bd. 124, S. 1-13.

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Quellen: AEA; Blaug; IFZ. Stephan Seiter

in Ludwigshafen, am 28.9.1944 im Lager Theresienstadt erschossen

Der Fabrikantensohn Eppstein studierte in Heidelberg Wirtschaftswissenschaften und Soziologie. Nach der Promotion 1923 mit der Arbeit Der Durchschnitt als statistische Fiktion machte ihn sein Doktorvater S.P. Altmann, der neben der Honoraiprofessur in Heidelberg zugleich das Direktorat des Volkswirtschaftlichen Seminars der Handelshochschule Mannheim innehatte, zum persönlichen Assistenten. In Mannheim lehrte Eppstein nach der Habilitation 1929 als Privatdozent bis zur Auflösung der Handelshochschule 1933 durch die Nationalsozialisten. Als typischer Vertreter der Heidelberger Schule, deren wissenschaftliches Interesse immer auch gezielt auf die Ausbildung künftiger Funktionsträger der neuen deutschen Demokratie gerichtet war, hielt er daneben seit 1925 wirtschaftswissenschaftliche Vorlesungen am stadtischen Fröbelseminar für Erzieherinnen in Mannheim, 1928 wurde er dort Direktor der Volkshochschule und ab 1930 zugleich Leiter der Erwerbslosenschule sowie Vorsitzender des städtischen Ausschusses für kulturelle Hilfe der Arbeitslosen. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme verlor Eppstein als Jude alle Ämter und die Privatdozentur. Mit hervorragenden Gutachten empfahlen ihn seine akademischen Lehrer an amerikanische Colleges; -» Eduard Heimann und Emil Lederer, der Gutachter seiner Habilitationsschrift gewesen war, versuchten, ihn an die University in Exile der New School for Social Research in New York zu holen. Doch Eppstein emigrierte nicht, weil ihm die 1933 gegründete Reichsvertretung der Deutschen Juden in Berlin die Leitung ihrer Auswanderungsabteilung übertragen hatte. Nach

Etzioni, Amitai der Reichspogromnacht 1938 bot ihm die New School erneut die Stelle eines Associate Professor an. Eppstein stellte jetzt eine Emigration für Anfang 1940 in Aussicht, um seine Aufgaben in der Reichsvertretung noch zu Ende fuhren zu können. Als die New School Ende 1940 ihr Angebot erneuerte, war er gerade von der Gestapo verhaftet worden. Aus Pflichtgefühl, Loyalität gegenüber der jüdischen Gemeinde und deutschem Legalitätsdenken suchte er auch nach seiner Freilassung 1941 nicht zu fliehen, eist recht nicht, als im Oktober 1941 das offizielle Ausreiseverbot für Juden ergangen war. Anfang 1943 wurde er in das Lager Theresienstadt deportiert, wo er nach einer Rede vor Mitgefangenen, die der Lagerverwaltung mißfiel, am 28.9.1944 erschossen wurde. Eppsteins wissenschaftliches Werk stand zunächst im Zeichen pädagogisch-praktischer Vermittlung und umfaßte in der allgemeinen Wirtschaftstheorie und der Statistik die Darstellung elementarer Tatsachen, Begriffe und Zusammenhänge. Dabei ist zu berücksichtigen, daB er über viele Jahre während der Assistentin und als Privatdozent in Mannheim und Heidelberg die Lehraufgaben seines schwerkranken Lehrers Altmann übernehmen mußte. Mit seiner Habilitation wandte er sich wie viele jüngere Wissenschaftler Ende der zwanziger Jahre dem neuen Forschungsgebiet der Konjunkturanalyse zu. Seine Beiträge hierzu liefern den originellen Ansatz einer frühen Entwicklungstheorie, in der die krisenfreie 'Verstetigung des Wachstums' durch wirtschaftspolitische Eingriffe im Zeichen organisierter Märkte im Mittelpunkt steht. Mit seiner Unterscheidung zwischen normativer und diagnostischer Symptomatik richtete sich Eppstein gegen jede axiomatischen Vorstellungen über den WirtschaftsprozeB, die etwa den Zyklus nur als Abweichung von der Statik oder einem angenommenen gleichmäßigen Entwicklungspfad ansahen. Sein Plädoyer fur die diagnostische Symptomatik meinte die Einsicht, daB der Zyklus eine dem industriellen WachstumsprozeB innewohnende und unvermeidbare Tatsache sei, für den in genauer empirischer Beobachtung seines jeweiligen Ablaufs adäquate Steuerungsinstrumente zu entwickeln seien. Obgleich das alles nur in Ansätzen erscheint, zeigen diese Analysen, welch innovativer Forschungsansatz bei Eppstein 1933 abrupt abgebrochen wurde.

Schriften in Auswahl: (1923) Der Durchschnitt als statistische Fiktion. Ein Beitrag zur statistischen Methodologie auf der Grundlage der Philosophie des Als - Ob (Diss., unveröff.). (1925) Volkswirtschaftliches Denken. Bemerkungen zur Frage des Studienaufbaus aus Theorie und Praxis, in: Akademische Nachrichten der HandelsHochschule Mannheim, Nr. 6. (1928) Die Fragestellung nach der Wirklichkeit des historischen Materialismus, in: Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 60, S. 449-507. (1930) Ökonomische Produktivität, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 132, S. 481-499. (1933) Die Symptomatik in der Konjunkturforschung, Veröffentlichungen der Frankfurter Gesellschaft für Konjunkturforschung, NF, Bd. 6, Leipzig (Habil). (1933) Normative Symptomatik, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 138, S. 210-224. Quellen: SPSL 230/6; ACEP 2/111; N1 Seligman 54/142. Claus-Dieter Krohn

Etzioni, Amitai, geb. 4.1.1929 in Köln. Etzioni wurde als Werner Falk geboren Im Jahr 1936 emigrierte er nach Palästina. In Jerusalem Schloß er 1956 an der Hebrew University sein Studium ab. Seit 1957 lebt und arbeitet Etzioni in den USA. Nachdem er 1958 seinen Ph.D. an der University of California in Berkeley erworben hatte, las er Soziologie an der Columbia University. Nach zwei Jahren als Assistant-Professor und sechs Jahren als Associate Professor nahm er ab 1967 die Position des Professors für Soziologie an dieser Universität ein. Hier blieb Etzioni bis 1980. Während dieser Zeit war er auch Vorsitzender der Fakultät (1969-1971). In den Jahren 1978 und 1979 war Etzioni Stipendiat an der Brookings Institution in Washington. Von der Regierung der Vereinigten Staaten erreichte ihn hier ein Ruf ins Weiße Haus. Dort war Etzioni 1979 bis 1980 als einziger Soziologe ein führender Berater von Präsident Carter. Von 1987 an war er zwei Jahre

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Etzioni, Amitai Gastprofessor an der Harvard University. Etzioni gründete 1989 die International Society for the Advancement of Socio-Economics. In den ersten beiden Jahren war er Präsident dieser Einrichtung. Heute ist er dort Ehrendozent. Etzioni lehrt derzeit Soziologie an der George Washington University. Etzioni ist ein interdisziplinär arbeitender Wissenschaftler. In der lange Zeit vernachlässigten Schnittmenge zwischen Soziologie und Ökonomie findet er nicht nur seine Heimat, dieser Forschungsbereich zieht sich wie ein roter Faden durch seine wissenschaftliche Laufbahn. Zwar war die Soziologie jederzeit seine „große Liebe", doch bereits während seines Studiums an der Hebrew University beschäftigte er sich mit den Wirtschaftswissenschaften. Während Martin Buber und Jacob Talmon seine ersten Professoren waren, lehrte Don Patinkin ihn Ökonomie. Das interdisziplinäre Interesse begleitete Etzioni auch nach Berkeley, wo er am Institut fur industrielle Beziehungen beschäftigt war. Hier wurden die ökonomischen und sozialen Grundsteine der Demokratie gelehrt. Gleichzeitig waren Industriesoziologie wie auch Gewerkschaftsstrukturen Schwerpunktthemen seines Studiums. Auch an der Columbia University fand sich Etzioni in einem Umfeld wieder, das sich mit der wissenschaftlichen Verknüpfung von soziologischen und ökonomischen Fragen beschäftigte. So arbeitete Etzioni in seiner zwanzigjährigen Wirkungszeit an dieser Universität nahezu Tür an Tür mit Gary Becker. Heute steht Etzioni auf Platz neun der ZitationsRangliste aller in diesem Jahrhundert geborenen Soziologen. Bereits eine Studie aus dem Jahr 1982 piazierte Etzioni unter die 30 führenden Experten, die im vorangegangenen Jahrzehnt den Hauptbeitrag zur Public Policy geleistet hatten. Etzioni wurde jedoch nicht zu jeder Zeit in dieser Weise geschätzt. Auf der Suche nach einer besseren Gesellschaft schrieb Etzioni The Active Society (1968). Doch auf diese herausragende und umfangreiche Studie erhielt Etzioni zunächst wenig Anerkennung. Sein Werk wurde in erster Linie deshalb unterschätzt, da es nicht in die gängigen Strömungen der Sozialwissenschaften einzuordnen war. Bis in die sechziger Jahre besaß der strukturelle Funktionalismus von Talcott Parsons die beherrschende Stellung in dieser Disziplin. Danach wurde dieses Paradigma von neuen Theorien wie dem Symbolischen Interaktionismus und dem soziologischen

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Behaviorismus entthront, ohne jedoch vollständig ersetzt zu werden. Etzionis Active Society konnte nicht in diese Paradigmen eingeordnet werden; dieses Werk war eine Synthese aus Erkenntnissen des strukturellen Funktionalismus mit der kybernetischen Systemtheorie, aber auch der Konfliktsoziologie. Im Hintergrund stand dabei immer Martin Bubers Philosophie der Intersubjektivität sowie seine existenzialistische Vernunft Uber die Authentizität des menschlichen Lebens in der Gesellschaft. Letztlich machten Aspekte interaktionistischer und phänomenologischer Kritik Etzioni zu einer systematischen Alternative zu Parsons. Es ist kein Wunder, daß sich Etzioni nach diesem ehrgeizigen Werk, das so wenig Anerkennung fand, zunächst einem anderen Feld zuwandte. Er konzentrierte seine Anstrengungen in der Folgezeit weniger auf die wissenschaftlich-abstrakte Ebene, sondern auf reale, politische Soziologie und politische Programme. Dies schlug sich in der Betrachtung der realen Entwicklung relevanter Volkswirtschaften an der Brookings Institution nieder und gipfelte in seiner Beratungstätigkeit fur die US-amerikanische Regierung. Als Gastdozent an der Brookings Institution war Etzioni an einer Einrichtung beschäftigt, welche die Ökonomie mit anderen Bereichen der Sozialwissenschaften verband. Für ihn waren auch weiterhin die soziologische und die wirtschaftswissenschaftliche Ebene untrennbar miteinander verflochten. Nun arbeitete er an einem Konzept der Reindustrialisierung. Etzioni argumentierte zu dieser Zeit, daß die USA sowie Großbritannien eine neue Kategorie von Ländern bildeten. Neben den bisherigen Entwicklungsländern und den entwikkelten Volkswirtschaften existierten dort Ökonomien, die sich zwar entwickelten, aber ihre Entwicklungspotentiale nicht ausschöpften. Es existierten vernachlässigte Elemente, die für einen dynamischen Entwicklungsprozeß vonnöten sind: Energie, Transportwesen, Humankapital, Rechtsund Finanzinstitutionen, Kapitalstock, Forschung und Entwicklung. Lediglich Kommunikation war ein bisher nicht vernachlässigter Sektor in den USA. Einen Höhepunkt und gleichzeitig einen Wendepunkt in Etzionis Laufbahn stellte die Zeit als Regierungsberater dar. Das Wirken Etzionis im Beratungsstab von Präsident Carter dauerte am Ende der siebziger Jahre aus parteipolitischen Gründen lediglich zwei Jahre. Trotzdem hatte er in dieser

Etzioni, Amitai Zeit ein prägendes Erlebnis, das ihn zu einem Soziookonomen werden ließ. Bereits im zweiten Jahr - einem Wahljahr - kam es angesichts hoher Inflations- und niedriger Wachstumsraten zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb des Beratungsstabes. Während die neoklassischen Ökonomen für ein ausgeglichenes Budget plädierten, wandte sich Etzioni als einziger Soziologe in diesem Stab gegen eine derartig restriktive Finanzpolitik. Seiner Meinung nach würde die Wirtschaft langfristige Schäden durch diese Politik davontragen. Beispielsweise würde die Qualität der Infrastruktur sinken. Eine dauerhafte Senkung der Wachstumsraten wäre letztlich die Folge. Etzioni unterlag in dieser Debatte. Nachdem Reagan zum Präsidenten gewählt wurde, nahm Etzioni einen Lehrstuhl an der George Washington University an. Die Auseinandersetzung mit neoklassischen Theoretikern und Praktikern bestimmt Etzionis Forschung bis heute in erheblichem Maße mit. Davon überzeugt, die Neoklassik sei das falsche Paradigma, eignete sich Etzioni das neoklassische Werkzeug an und begann an einer Kritik der Neoklassik zu arbeiten. Beeindruckt von der Perfektion dieser Sichtweise strebte er ein neues Paradigma an, das Aspekte anderer Sozialwissenschaften beinhaltete, die in der Neoklassik vernachlässigt wurden: Individual- und Gmppenpsychologie, Institutionen, historische Aspekte sowie die Rolle der Wertschätzungen. Sein 1988 erschienenes Werk The Moral Dimension formulierte einerseits den Anspruch der Interdisziplinarität und andererseits seine Kritik an der engen neoklassischen Sichtweise. Es war weniger auf abstrakte Fragen der soziologischen Theorie gerichtet, sondern thematisierte die politische Soziologie und politische Programme. Darüber hinaus knüpfte Etzioni mit seiner Kritik an Parsons' Utilitarismus an die Tradition von Dürkheims Kritik an Spencers Arbeitsteilung an. Es war nur folgerichtig, daß sich aus der Kritik an liberalem Gedankengut eine konstruktive Bewegung entwickelte: der Kommunitarismus. Etzioni ist nicht nur Gründer, sondern auch Direktor des kommunitaristischen Netzwerks. Ebenso ist er Herausgeber der kommunitaristischen Zeitschrift The Response Community: Rights and Responsibilities, die seit 1991 vierteljährlich erscheint. Der Kommunitarismus kann in der Debatte über die moralischen Grundlagen modemer Gesellschaften als Gegenlager der 'Liberalen' um Rawls gesehen werden. Letztere erkennen als normati-

ven Gerechtigkeitsmaßstab lediglich das allgemeine Prinzip gleicher Rechte, Freiheiten und Chancen an. Unter den heutigen Bedingungen des Wertepluralismus ist nach Rawls' Leitidee der Begriff der Gerechtigkeit nicht mit anderen Aspekten zu fassen. Die Kommunitaristen, wie auch deren Vertreter Etzioni, gehen dagegen von der Gemeinschaft aus, was dieser Bewegung ihren Namen gab. Es bedarf ihrer Meinung nach für eine gerechte Sozialordnung einer vorgängigen Rückbesinnung auf gemeinschaftlich geteilte Normen. Damit haben gemeinschaftliche Vorstellungen des Guten für die Kommunitaristen Vorrang vor der liberalistischen Idee von Rechten freier und gleicher Bürger. Letztlich stellt sich auch Etzioni die Frage nach der 'Lebensfähigkeit' moderner Gesellschaften und danach, inwieweit moralische Ressourcen für ein derart differenziertes Gemeinwesen notwendig sind. Diese Problemstellung läßt die beiden scheinbar gegensätzlichen Lager der Liberalen und Kommunitaristen wieder enger zusammenrücken. Der Schwerpunkt der Fragestellung hat sich gewandelt Relevant ist heute nach Etzioni nicht mehr, ob dem liberalen Freiheitsprinzip oder dem gemeinschaftlich Guten Priorität zu geben ist, sondern welche Kollektivnormen als notwendige Voraussetzung für Freiheits- und Gerechtigkeitsprinzipien gelten. Ziel der kommunitaristischen Bewegung und damit auch Forderung Etzionis ist die Stabilisierung der Gesellschaft durch die Propagierung gemeinsamer Werte bzw. durch die Stärkung des Wertebewußtseins. Dabei grenzen sich Etzioni und andere Kommunitaristen bewußt von den Vertretern eines religiösen Fundamentalismus ab. Diese streben ein geschlossenes Moralsystem an, während Etzioni einen moralischen Dialog fordert. Die kommunitaristische Bewegung besitzt zwar kein ökonomisches Programm, sehr wohl lassen sich aus ihrem Grundverständnis aber wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen ziehen. So steht die Lastenverteilung zwischen Armen und Reichen einer Gesellschaft im Mittelpunkt einer derartigen Betrachtung. Nur durch das Zugehörigkeitsgefuhl zu einer Gemeinschaft - so Etzioni in einem Interview in der Wochenzeitung Die Zeit - läßt sich eine ökonomische Umverteilung ohne Gewaltanwendung durchsetzen. Die Verknüpfung soziologischer und wirtschaftswissenschaftlicher Problematiken, die Etzioni bereits zu Beginn seiner wis-

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Eulenburg, Franz senschaftlichen Laufbahn erkannt hat, finden damit im Kommunitarismus ihren Höhepunkt. Etzioni trifft jedoch ebenso Aussagen über die Interdependenz der gesellschaftlichen und der politischen Entwicklung. Hier ist er pessimistisch, was die Überlebensfahigkeit der Demokratie angeht, wenn die Gesellschaft durch immer größere Verteilungsunterschiede gekennzeichnet ist. Eine Anhebung der Wohlfahrt aller auf das Niveau der westlichen Hemissphäre scheint für ihn unmöglich. Auf der anderen Seite sieht er die groBe Chance in der Informationsökonomie. Werden Informationen immer wichtiger für den Wohlstand, so kann deren Eigenschaft der Nichtrivalität im Konsum zur Befriedigung der Bedürfnisse größerer Teile der Menschheit beitragen, soweit es sich bei diesen Informationen zu einem größeren Teil um ein öffentliches Gut handelt. Durch die Betonung der soziologischen Sichtweise innerhalb der Ökonomie, ist es lediglich folgerichtig, daß Etzioni mit Marx übereinstimmt, der die Entfernung des Warenfetischismus aus den ökonomischen Beziehungen fordert. Die Forderung Etzionis, daß die Begegnung mit anderen Menschen einen größeren Nutzen stiften muß als das Tragen von Markenkleidung, kann als sozialpolitisches Ziel wie auch als modelltheoretische Prämisse aufgefaßt werden. Auch hier folgert er Auswirkungen auf die politische Ebene: Eine positive Anreizsetzung kann seiner Meinung nach einer Entdemokratisierung durch die notwendige Senkung des Wohlstandsniveaus entgegenwirken. Insbesondere in seinen Werken The Moral Dimension: Toward a New Economics (1988) und The Spirit of Community: The Reinvention of American Society (1993), aber auch in seinem neuesten Buch The New Golden Rule: Community and Morality in a Democratic Society (1997) kommen die kommunitaristischen Ideen Etzionis zum Ausdruck. Das bereits 1984 entwickelte Konzept, das lediglich in einem kleinen Kreis um Etzioni vorgetragen wurde, hat sich - dank der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien wie dem Internet - zu einem weltumspannenden Netzwerk entwickelt. Als Mittler zwischen Wissenschaft und realer Ideenumsetzung hat Etzioni gerade in der amerikanischen Gesellschaft große Vorteile. Seine Forderungen nach Moral und Reaktivierung des Gemeinsinns haben bereits bei Mitgliedern des US-Kongresses Anklang gefunden. Inwieweit jedoch diese gemeinschaftsorientierte Bewegung in Europa ein großes Echo finden

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wird, läßt sich zum heutigen Zeitpunkt schwer voraussagen. Schriften in Auswahl: (1961) A Comparative Analysis of Complex Organizations, New York. (1964) Modern Organizations, Englewood Cliffs, NJ.; dt: Übers.: Soziologie der Organisationen, München 1967. (1968) The Active Society, New York. (1982) An Immodest Agenda: Rebuilding America before the 21. Century, New York. (1984) Capital Corruption: The New Attack on American Democracy, New York. (1988) The Moral Dimension: Toward a New Economics, New York; dt. Übers.: Jenseits des Egoismus-Prinzips, Stuttgart, 1994. (1991) A Responsive Society: Collected Essays on Guiding Deliberate Social Change, San Francisco. (1993) The Spirit of Community: The Reinvention of American Society, New York; dt. Übers.: Die Entdeckung des Gemeinwesens, Stuttgart, 1995. (1996) The New Golden Rule. Community and Morality in a Democratic Society, New York; dt. Übers.: Die Verantwortungsgesellschaft, Frankfurt a M. 1997. Bibliographie: Etzioni, A. (1969): Social Analysis and Social Action, in: Horovitz, I.L. (Hrsg.): Sociological Selfimages: A Collective Portrait, Beverly Hills, S. 133-142. Piper, N. (1995): Beethoven teilen. Interview mit Amitai Etzioni, in: Die Zeit, Nr. 46 vom 10.11.1995. Sciulli, D. (1996): Macro Socio-Economics: From Theory to Activism. Festschrift for Amitai Etzioni, Armonk, N.Y. und London. Quellen: BHbD; Etzioni, A. (Brief vom Juli 1992) Jürgen Μ. Schechler

Eulenburg, Franz, geb. 29.6.1867 in Berlin, gest. 28.12.1943 in Berlin Eulenburg studierte an der Universität Berlin zunächst Medizin, dann Geschichte, Nationalökonomie und Philosophie und promovierte bei Gustav

Eulenburg, Franz Schindler mit einer Arbeit über die Innungen der Stadt Breslau vom 13. bis zum 15. Jahrhundert. In Schmollers Seminar Schloß er eine lebenslange Freundschaft mit Werner Sombart und Alfred Grodian, dem Begründer der Sozialhygiene. Nach praktischer Tätigkeit als Kaufmann und an den statistischen Amtern in Berlin und Breslau wurde er 1899 in Leipzig habilitiert. Dort war er zunächst als Privatdozent fur Nationalökonomie und Statistik, ab 1905 als außerordentlicher Professor tätig. 1917 wurde er als Ordinarius an die Technische Hochschule Aachen berufen, 1919 an die Universität Kiel, und 1921 an die Handelshochschule Berlin, wo er 1935 emeritiert wurde. Er unternahm danach Vortragsreisen nach Ungarn, Österreich, Rumänien und die Türkei, emigrierte aber nicht wie andere jüdische Schicksalsgenossen. Er wurde 1943 von der Gestapo „unter kümmerlichstem Vorwand" (Eisermann 1955, S. 252) verhaftet, zunächst im Kellergefängnis der Gestapo in der Prinz Albrecht Straße, später im Gestapogefängnis am Alexanderplatz festgehalten, verhört und insgesamt so behandelt, daß der Tod des bei guter Gesundheit Verhafteten am 28. Dezember 1943 festgestellt wurde. Eulenburg war in vielfaltiger Hinsicht ein Produkt des Althoffsystems in Preußen (vgl. Backhaus 1993), dessen Ziele, Formen und Errungenschaften gleichsam spätestens 1943 in jenem Gestapogefängnis ihren Untergang fanden. Als jüdischer Gelehrter profitierte er von der bewußt herbeigeführten Öffnung der dem Althoffsystem zugehörigen Universitäten. Alle seine Berufungen gingen von Hochschulen aus, die zu diesem System gehörten. Die Chancen des Schmollerschen Seminars, das seinerseits durch das Althoffsystem ermöglicht wurde, nutzte er und schuf ein außerordentlich umfangreiches Werk, das charakteristisch für die Historische Schule Theorie, Empirie im Wege der Statistik und eine breite sozialwissenschaftliche Sicht miteinander verknüpfte. Noch in einem dritten Sinne läßt sich Eulenburg aus dem Althoffsystem kaum hinwegdenken. Seine 1908 veröffentlichte Arbeit Der akademische Nachwuchs schuf ein völlig neuartiges und ungemein umfangreiches empirisches Fundament für die von Althoff beabsichtigte und betriebene wirtschaftliche Absicherung der nicht besoldeten Hochschullehrer. Der Umfang und die praktische Bedeutung des Eulenburgschen Werkes, schon durch die von erheblicher Sprengkraft gekennzeichnete Studie von 1908 angedeutet, ist

umso eindrucksvoller, wenn man sich den wechselvollen akademischen Lebensweg des Autors vor Augen hält. Nachdem der erst 1917 an die Aachener Technische Hochschule Berufene im Schatten der nach 1918 einrückenden Besatzungsmacht wegen angeblicher nationalistischer Äußerungen mit einer Gefängnisstrafe bedroht bei „Nacht und Nebel" unter Zurücklassung fast aller seiner der Beschlagnahme verfallenen Habe fliehen mußte, erschien bereits 1919 sein fur die Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik verfaßtes Gutachten über Arten und Stufen der Sozialisierung (1920), das offensichtlich erst aufgrund der Novemberrevolution hatte konzipiert werden können. Dieses fast 50-seitige Buch war aufgrund des Artikels 7 Nr. 13 der Weimarer Reichsverfassung aktuell geworden. Die unter schwierigen Bedingungen in kurzer Frist fertiggestellte Arbeit, die mit das Beste darstellt, das zu jener Zeit in der nationalen und internationalen Literatur zu diesem Thema zur Verfügung stand, die Ausführungen -* Joseph A. Schumpeters eingeschlossen, zeigt, welche ungeheure Bandbreite und intellektuelle volkswirtschaftliche Kapazität Eulenburg in sich vereinigte. Es ist überraschend, daß Schumpeter ihn in seiner History of Economic Analysis nicht erwähnt, Scbmoller dagegen in seinem Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre (1919) gleich mit vier verschiedenen Gebieten, eine besondere Auszeichnung im Hinblick auf die Ausgewogenheit dieses enzyklopädischen Welkes. Eulenburg wird zitiert mit seinen Arbeiten zur Gewerbestatistik, zur Handwerkerstatistik, zum Wiener Zunftrecht und zur deutschen Produktionssteigerung. Die Arbeiten zum Grundriß wurden 1917 abgeschlossen. Eulenburgs Werk ist gut dokumentiert, insbesondere auf Grund einer Festgabe, die 1955 W. Bernsdorf und G. Eisermann unter dem Titel Die Einheit der Sozialwissenschaften: Franz Eulenburg zum Gedächtnis herausbrachten. Dort findet man auch eine Bibliographie Franz Eulenburgs, die 82 eigene und 6 herausgegebene Schriften umfaßt. Die größte Ehrung erfuhr Eulenburg zweifellos durch die Wahl zum Rektor der Handelshochschule Berlin für das akademische Jahr 1929-30. Seine Rektoratsrede hatte bezeichnenderweise den Titel Phantasie und Wille des wirtschaftenden Menschen (1931) „in der er die ungeheure Bedeutung der emotionellen Kräfte des Menschen für die Gestaltung der Wirtschaft einerseits, die Prägung von Phantasie und Wille des wirtschaften-

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Feiler, Arthur den Menschen durch das Wirtschaftsleben, in das er an seinen Platz einbezogen ist. andererseits, in tief einfühlender Analyse darstellte" (Eisermann 1955, S. 250). Seinen Platz in der Geschichte der volkswirtschaftlichen Theorie markiert vielleicht am besten die Tatsache, dafi er für die Encyclopedia of the Social Sciences den Artikel International Trade (1932) anvertraut bekam. Schriften in Auswahl: (1892) Über Innungen der Stadt Breslau vom 13. bis 15. Jahrhundert, Berlin (Diss.). (1908) Der akademische Nachwuchs. Eine Untersuchung über die Lage und die Aufgaben der Extraordinarien und Privatdozenten, Leipzig (zugleich in: Archiv für Sozialwissenschafiten und Sozialpolitik, Bd. 27 (1908), S. 808825. (1912) Von Gesetzmäßigkeiten in der Statistik („historische Gesetze"). Logische Untersuchungen, in: Archiv fur Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 35, S. 299-365. Arten und Stufen der Sozialisierung. (1920) Ein Gutachten (=Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 159), München/Leipzig. (1923) Internationale Kapitalbildung nach dem Kriege, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 19, S. 363-395. (1924) Die sozialen Wirkungen der Währungsverhältnisse, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, F. 3, Bd. 67, S. 748-794. Die handelspolitischen Ideen der (1927) Nachkriegszeit, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 25, S. 59-103. (1929/30) Commercial Policy and its Scientific Method. A Reply, in: Quarterly Journal of Economics, Bd. 44, S. 698706. (1931) Phantasie und Wille des wirtschaftenden Menschen, Tübingen. International Trade, in: Encyclopae(1932) dia of the Social Sciences, Bd. 8, hrsg. von E.R.A. Seligman, New York, S. 189-200. (1938) Allgemeine Volkswirtschaftspolitik, Staat und Wirtschaft, Zürich/Leipzig.

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Bibliographie: Backhaus, J. (1993): The University as an Economic Institution. The Political Economy of the Althoff System, in: Journal of Economics Studies. Bd. 20, S. 8-29. Eisermann, G. (1955): Franz Eulenburg: Persönlichkeit und Werk, in: Bemsdorf, W./Eisermann, G. (Hrsg.): Die Einheit der Sozialwissenschaften: Franz Eulenburg zum Gedächtnis. Stuttgart, S. 245-253. Schmoller, G. (1919): Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, T. 1.2. München/Leipzig. Quellen: ACEP 2/119; WA; ISL 1959. Jürgen Backhaus

Feiler, Arthur, geb. 16.8.1879 in Breslau, gest. 11.7.1942 in Riverdale, New York Nach dem Abitur in Breslau absolvierte Feiler zunächst eine Bankausbildung. Anschließend studierte er Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Frankfurt/M. und Heidelberg. Bevor er dort 1923 bei -» Emil Lederer mit der Arbeit Die deutschen Finanzen vom Kriegsausbruch bis zum Londoner Diktat promovierte, übte er eine Reihe journalistischer und politischer Tätigkeiten aus. So arbeitete er von 1903 bis 1910 zuerst als Handelsredakteur, danach als politischer Redakteur bei der Frankfurter Zeitung. Nach Ende des Ersten Weltkriegs fungierte er als Berater der deutschen Delegation in Versailles und Genua, war ab 1920 Mitglied des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats und ab 1921 bei der Sozialisierungskommission tätig; von 1923 an hatte er die Funktion eines Beisitzers beim Karteilgericht inne. Im Anschluß an seine 1928 erfolgte Habilitation an der Universität Frankfurt/M. und eine vieijährige Zeit als Privatdozent erhielt Feiler dort 1932 eine außerordentliche Professur. Diese gab er jedoch bereits im Sommer desselben Jahres wieder auf, um einen Ruf der Handelshochschule Königsberg - trotz heftiger Proteste nationalsozialistischer Studenten - anzunehmen. Nach der sog. 'Machtergreifung' wurde er 1933 entlassen und emigrierte in die USA, wo er noch bis 1934 für die Frankfurter Zeitung journalistisch tätig war. Feiler zählte 1933 zu den Gründungsmitgliedern der 'University in Exile', der späteren Graduate Faculty der New School for Social Research in New York, an der er bis zu seinem Tode lehrte und die rege Publikationstätigkeit fortführte.

Feiler, Arthur Während seiner Tätigkeit als Redakteur begleitete und kommentierte Feiler die wirtschaftliche und politische Entwicklung in Deutschland, wobei Fragen der Geld- und Währungsordnung sowie der Ordnungspolitik im Mittelpunkt standen. Die zahlreichen Aufsätze und Artikel, die er für die Frankfurter Zeitung verfaßte, wurden vielfach, thematisch geordnet in broschierter Form herausgegeben (z.B. 1908; 1918). Nach der Habilitation arbeitete er verstärkt über die ökonomischen Probleme RuBlands und Das Experiment des Bolschewismus (1929). Anläßlich einer von Bernhard Harms geleiteten Tagung der Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung zu „Problemen des Kapitals und des kapitalistischen Wirtschaftssystems", an der unter anderem -» Gerhard Colm, Rudolf Hilferding, Lederer, -» Joseph A. Schumpeter, Werner Sombart und -» Alfred Weber teilgenommen hatten, diskutierte Feiler die Konzeption der beschleunigten Realkapitalbildung in der Sowjetunion (1931). Seine Hinweise auf die totalitären Strukturen des sowjetischen Systems, die einen derartigen Akkumulationsprozeß erst ermöglichten, deutete bereits eines seiner Hauptarbeitsgebiete nach 1933, die Totalitarismusanalyse, an. Feiler war Zeit seines Lebens ein überzeugter Liberaler gewesen (vgl. Johnson 1942, S. 291) und fiel damit aus dem weitgehend homogenen Profil der ersten Generation der New School-Mitglieder heraus (vgl. Krohn 1987, S. 78). Neben Aufsätzen über den internationalen Kapital verkehr (1935) und die Welthandelspolitik nach dem Ersten Weltkrieg (1937a) publizierte Feiler eine Arbeit über The Totalitarian State (1937b) und - zusammen mit seinem Kollegen an der Graduate Faculty Max Ascoli - das Buch Fascism for Whom?. Im Gegensatz zu Eduard Heimann oder auch Lederer (1940) zählt er mit letzteren Beiträgen zu den Vertretern einer orthodoxen Totalitarismustheorie, die sich an den institutionellen Formen der politischen Herrschaft in Deutschland, Italien und RuBland orientierte und die für die Emigrantengruppe an der New School nicht repräsentativ war. (vgl. Krohn 1987, S. 146). Mit seinem Artikel The Economic Meaning of Conquest leistete Feiler einen Beitrag zu War in Our Time (1939), einer erstklassigen Sammlung von Aufsätzen der Graduate Faculty-Mitglieder über das politische und ökonomische Klima im Westen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Darüber hinaus leitete er zwei von der

Graduate Faculty getragene und von der Rockefeiler Foundation finanziell unterstütze Forschungsprojekte: das Project on War and Peace sowie die Untersuchung über Economic and Social Controls in Germany and Russia. Aus diesen Projekten resultierten verschiedene erstklassige Forschungsarbeiten, von denen viele in der Institutszeitschrift Social Research veröffentlicht wurden. Darin wurden die Ursachen des Krieges, seine ökonomische Wirkung, die von den kriegführenden Nationen angewandten Mechanismen zur Ressourcenallokation sowie die für die Einrichtung einer stabilen internationalen Ordnung nach Kriegsende notwendigen Bedingungen diskutiert. Sein Beitrag zu diesen Projekten kann wohl als sein bedeutendstes intellektuelles Vermächtnis angesehen werden. Feiler starb kurz vor der Fertigstellung einer Studie mit dem Titel The Day after the Armistice über die ökonomischen und sozialen Probleme, die aus seiner Sicht in der Nachkriegszeit zu erwarten waren. Schriften in Auswahl: (1908) Die Probleme der Bankenquete, Jena. (1918) Vor der Übergangswirtschaft, Frankfurt a.M. (1923) Die deutschen Finanzen vom Kriegsausbruch bis zum Londoner Diktat, Diss., Heidelberg. (1929) Das Experiment des Bolschewismus, Frankfurt a.M.; 3. Aufl. 1930 (engl. Übers.: The Russian Experiment, New York 1930). (1931) Kapital Wirtschaft in Sowjetrußland, in: Kapital und Kapitalismus. Bd. 2, hrsg. von B. Harms, Berlin, S. 481490. (1935) International Movements of Capital, in: American Economic Review, Bd. 25 (Suppl.), S. 63-73. (1937a) Current Tendencies in Commercial Policy, in: American Economic Review, Bd. 27 (Suppl. 1), S. 29-42. (1937b) The Totalitarian State, in: Mackenzie, F. (Hrsg.): Planned Society, Yesterday, Today, Tomorrow. Α Symposium by 35 Economists, Sociologists, and Statesman, New York, S. 746774. (1938) Fascism for Whom? (zus. mit Μ. Ascoli), New York.

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Fellner, William John (1939)

The Economic Meaning of Conquest, in: Speier, Η., Kahler, Α. (Hrsg.): War in Our Time, New York, S. 153170.

Bibliographie: Johnson, A. (1942): Arthur Feiler, 1879-1942, in: Social Research, Bd. 9, S. 291-292. Krohn, C.-D. (1987): Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt a.M. Lederer, E. (1940): State of the Masses. The Threat of the Classless Society, New York (posthum); dt. Übers.: Der Massenstaat. Gefahren der klassenlosen Gesellschaft, hrsg. und eingeleitet von Claus-Dieter Krohn, Graz/Wien 1995. Quelle: BHb I. Gary Mongiovi

Fellner, William John, geb. 31.5.1905 in Budapest, gest. 15.9.1983 in Washington, D.C. Als jüngster von vier Söhnen einer ungarischen Untemehmerfamilie begann er in Budapest zunächst ein Jurastudium, doch schon nach einem Jahr wechselte er Studienfach und -ort. Von seinem Vater zu einem technisch orientierten Studium ermuntert, zog er nach Zürich, wo er an der ΕΤΗ ein Chemiestudium begann, das er 1927 mit dem Diplom abschloB. Angeregt durch seine Schul- und Studienfreunde -» John von Neumann und Emery Reves fand er Interesse an der Ökonomie und ging mit beiden nach Berlin. Dort promovierte er 1929 mit einer Arbeit über die ökonomischen Auswirkungen der Prohibition. Nach dem Studium kehrte er nach Ungarn zurück und war neun Jahre lang im Familienuntemehmen tätig. Die schwierige wirtschaftliche Situation der damaligen Zeit ließ sein Interesse an wissenschaftlicher Fundierung ökonomischer Fragestellungen weiter wachsen. USA-Besuche in den Jahren 1928 und 1934 vertieften seine Vermutung, daß die Wirtschaftswissenschaften in den kommenden Jahrzehnten von dort dominiert werden könnten. 1938 verließen er und seine Frau Ungarn und emigrierten nach Kalifornien. 1944 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Erst 1971 hatte er anläfilich einer spektakulären Vorlesung in der Universität von Budapest Gelegenheit, seine Heimatstadt wiederzusehen.

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Mit seiner ersten Anstellung am Department of Economics der University of California (Berkeley) im Jahr 1939 begann eine glanzvolle akademische Karriere, die ihn an mehrere Universitäten führte und die konsequent eine umfangreiche Tätigkeit als wissenschaftlicher Berater nationaler und internationaler Gremien nach sich zog. Schwerpunkt seiner akademischen Tätigkeit war zunächst die Universität von Berkeley, an der er 1947 Full Professor wurde und an der er bis 1952 lehrte. Als das Klima in Berkeley in der McCarthy Ära schwieriger wurde, begann Fellner, sich in Richtung Ostküste und damit auch näher zum wirtschaftspolitischen Entscheidungszentrum Washington hin zu orientieren. Im akademischen Jahr 1951/52 nahm er eine Einladung als Gastprofessor an die Harvard University an, und 1952 folgte er Henry C. Wallich und Robert Triffin nach Yale, wo er bis zu seiner Emeritiening 1973 lehrte. Ab 1959 hatte er dort die Sterling Professur inne, 1957/58 war er als Alfred Marshall Lecturer an der Cambridge University in England tätig. Fellners wissenschaftliches Werk umfafit diverse Bücher und zahllose Artikel und Beiträge anderer Art. Seine ersten Publikationen in den USA waren zwei Aufsätze, die er zusammen mit Howard S. Ellis (Hicks and the Time-Period Controversy, 1940) und mit Harold Μ. Somers (Alternative Monetary Approaches to Interest Theory, 1941) schrieb. Ihnen folgten unmittelbar die Bücher A Treatise on War Inflation (1942) und MonetaryPolicies and Full Employment (1946). Fellners zentrales Forschungsgebiet war demnach die MakroÖkonomik mit allen ihren Hauptfeldern, also Geldtheorie, Konjunkturtheorie und Außenwirtschaftstheorie mit den entsprechenden Ansätzen der Wirtschaftspolitik, die durch Arbeiten auf zahlreichen weiteren Themengebieten erweitert und abgerundet wurden. Fellner läßt sich nicht unmittelbar einer der gängigen ökonomischen Schulen zuordnen. Als Liberaler der alten Schule war er geprägt von den Erfahrungen der deutschen Hyperinflation, der Weltwirtschaftskrise und des Totalitarismus, der in Deutschland daraus erwuchs, und er war bestrebt, dazu beizutragen, daß sich Derartiges nicht wiederholen könne (I. Adelman). Vor diesem Hintergrund verstehen sich seine Plädoyers für eine freie Gesellschaft, für freie Märkte und für einen begrenzten Staatseinfluß. Insoweit stand er dem Monetarismus nahe und hatte in seinen frühen Schriften diverse monetaristische Posititonen vorwegge-

Fellner, William John nommen, ohne allerdings je in den Verdacht zu geraten, allzu einfachen monetaristischen Rezepturen das Wort zu reden. Dementsprechend fühlte er sich , jn einer keynesianischen Rahmenordnung völlig zu Hause", war ein „konservativer Keynesianer" (H.C. Wallich) und wuBte sehr wohl zwischen der Position von Keynes und der verschiedener Keynesianer zu unterscheiden. So propagierte er keynesianische Politikansätze zur Bekämpfung schwerer Rezessionen, war aber der Meinung, daß man leichtere Konjunkturschwankungen zulassen sollte, da mit einer staatlichen Vollbeschäftigungsgarantie die Gefahr von LohnPreis-Spiralen und Inflation verbunden sei. In diesem Kontext plädierte er dafür, der Geldpolitik wieder mehr Beachtung zu schenken und sie in eine Verstetigungsstrategie einzubinden. Eine stabile Wirtschaftspolitik könne dazu beitragen, jene Erwartungen zu schaffen, die eine stabilisierende Anpassung von Löhnen, Zinsen und Preisen ermöglichen. Er hat damit die Theorie der rationalen Erwartungen und das Konzept der supply-side economics in einer subtileren Fonn vorgezeichnet. Charakteristisch für ihn war, daß er alle Ansätze der ökonomischen Theorie zur Lösung spezifischer Probleme einbrachte (G. Haberler). Die Breite von Fellners Forschungsfeldern läßt sich mit einem Blick auf seine wichtigsten Buchveröffentlichungen dokumentieren. Noch als Assistant Professor in Berkeley veröffentlicht er als erste Publikation des neuen Bureau of Business and Economic Research die Arbeit A Treatise on War Inflation (1942), in der er einen nichtinflationären Weg der Kriegsfinanzierung über eine progressive individuelle Einkommenssteuer vorschlägt. In Monetary Policies and Full Employment (1946) umreißt er seine Positition zwischen Keynesianismus und Monetarismus. Die Gefahren, die aus einer staatlichen Vollbeschäftigungsgarantie erwachsen, sieht er auch vor dem Hintergrund monopolistischer Gruppierungen in der Wirtschaft. Dieses Thema greift er in der Studie Competition Among the Few (1949) auf, in der er eine weitgehend nichtmathematische Darlegung der diversen Theorien des Oligopols und des bilateralen Monopols liefert und die er durch einige Aufsätze abrundet. Seine langandauemde Publikationstätigkeit in Yale wird eröffnet mit dem Werk Trends and Cycles in Economic Activity (1956), in dem Fellner den technischen und organisatorischen Fortschritt, Ressourcenmobilität und ein stabilitätsorientiertes flexibles Geldsystem als

die zentralen Determinanten des Wirtschaftswachstums identifiziert. Aus Vorlesungen zur Dogmengeschichte entsteht The Emergence and Content of Modern Economic Analysis (1960). Seine langjährige Beschäftigung mit den Auswirkungen der Unsicherheit auf die Verhaltensweisen der Wirtschaftssubjekte findet ihren Niederschlag in einem Symposiumsbeitrag im Quarterly Journal of Economics 1961 und schließlich in dem Werk Probability and Profit (1965), in dem er u.a. sein Konzept der „semiprobability" entwikkelt und die Preisbildung auf Stückkostenbasis als rationale Verhaltensweise bei Unsicherheit propagiert. Dreißig Jahre nach seiner ersten großen makroökonomischen Schrift greift Fellner die Thematik erneut auf. In Towards a Reconstruction of Macroeconomics: Problems of Theory and Policy (1976) liefert er eine umfassende Darstellung seiner makroökonomischen Position. Kernthese der Arbeit ist die Forderung, daß der Staat durch eine konsistente und glaubwürdige Linie der Wirtschaftspolitik stabile Erwartungen zu schaffen habe, eine Position, die Fellner den Ruf des „Mr. Credibility" einträgt. Fellners vielfältige wirtschaftspolitischen Stellungnahmen führten zwangsläufig dazu, daß ihm zahlreiche Beraterfunktionen angetragen wurden. Nachdem er schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als Berater des I IS-Finanzministeriums und von 1959-1960 als Mitglied eines EWG-Expertengremiums tätig gewesen war, ermunterte er diverse Yale-Kollegen, u.a. J. Tobin, Beraterfunktionen in der Kennedy Administration zu übernehmen. Als Staatssekretär Dillon 1969 umfassende Untersuchungen über das Weltwährungssystem und die Ursachen steigender Zahlungsbilanzungleichgewichte unter ausdrücklichem Verzicht auf wissenschaftliche Beratung ankündigte, wurde Fellner aktiv und gründete mit -» Fritz Machlup, R. Triffin und -• Gottfried Haberler die sog. Bellagio-Gruppe, zu der später namhafte Persönlichkeiten aus dem Zentralbankenbereich und aus internationalen Institutionen stießen und die einen erheblichen Einfluß auf die Entwicklung des Weltwährungssystems hin zu mehr Wechselkursflexibilität hatte. Fellner war schon früh für flexible Wechselkurse als Disziplinierungsinstrument gegen eine zu lockere Geld- und Finanzpolitik eingetreten. Gemeinsam mit Machlup und Triffin gab er 1966 den vielbeachteten Sammelband Maintaining and Restoring Balance in International Payments heraus.

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Fellner, William John Nachdem Fellner 1969 zum Präsidenten der American Economic Association gewählt worden war, knüpfte er 1970 Verbindungen zum American Enterprise Institute for Public Policy Research (AEI), die zu vertieften Kontakten mit namhaften Politikberatern und dem Council of Economic Advisers führten. 1972 gab er die AEI-Publikation Economic Policy and Inflation in the Sixties heraus und propagierte in einem Beitrag die secondbest-Lösung eines nichtinflationären monetaryfiscal policy mix als Alternative zum zuvor praktizierten stop and go. Trotz seiner nachhaltigen Kritik an der US-amerikanischen Wirtschaftspolitik wird Fellner 1973 im Jahr seiner Emeritierung in den Council of Economic Advisers gewählt. Seine Wahl wird als Aufwertung des Gremiums interpretiert, und er wird bereits als künftiger Chairman gehandelt. Angesichts seines Alters und um seine Arbeit im AEI fortzusetzen, verläßt er aber schon 1974 den Council, nachdem er sich nachhaltig fur A. Greenspan als neuen Chairman eingesetzt hatte. Nach dem Rückzug aus dem Council wird Fellner Projektleiter und Herausgeber des AEI-Jahrbuches Contemporary Economic Problems, bleibt aber weiterhin der Politikberatung verbunden, so als Berater des Budget Office des Kongresses, des Finanzministeriums und des Board of Governors des Federal Reserve Systems. Er ist Mitglied des Brooking Panel on Economic Activity und hat Verbindungen zu weiteren renommierten Organisationen, so als Mitglied der American Academy of Arts and Sciences und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1975 wird er anläßlich seines 70. Geburtstages mit der von B. Balassa und R. Nelson herausgegebenen Festschrift Economic Progress, Private Values, and Public Policy: Essays in Honor of William Fellner geehrt. Herausragende Ehrungen in seinem Leben waren darüber hinaus die Ehrenmitgliedschaft im Phi Beta Kappa 1952, die Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland 1975 und die Verleihung des Bemhard-Harms-Preises in Kiel 1982. Die beiden letzten Ehrungen machen seine langjährigen engen Beziehungen zu Kollegen und Freunden in Deutschland deutlich. Als William Fellner 1983 in Washington stirbt, wird er als vornehmer Aristokrat der alten Welt mit klaren, aber undogmatischen Überzeugungen, einem zuvorkommenden und verständisvollen Wesen und intellektueller Integrität gewürdigt.

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der ökonomische Tagesprobleme stets in ihrem historischen Kontext einzuordnen vermochte, und der über die Wirtschaftswissenschaften hinaus der Kunst, der Literatur und der Musik verbunden war. Wie alle großen Ökonomen war er mehr als nur ein Ökonom (G. Haberler). Schriften in Auswahl: (1940) Hicks and the Time-Period Controversy (zus. mit H.S. Ellis), in: Journal of Political Economy, Bd. 48, S. 563578. (1941) Alternative Monetary Approaches to Interest Theory (zus. mit H.M. Somers), in: Review of Economic Statistics, Bd. 23, S. 43-48. (1942) A Treatise on War Inflation, Berkeley, CA. (1946) Monetary Policies and Full Employment, Berkeley, CA. (1949) Competition Among the Few: Oligopoly and Similar Market Structures, New York. (1956) Trends and Cycles in Economic Activity: An Introduction to Problems of Economic Growth, New York. (1960) Emergence and Content of Modern Economic Analysis, New York. (1965) Probability and Profit, Homewood, IL. (1966) Maintaining and Restoring Balance in International Payments (als Hrsg. zus. mit F. Machlup und R. Triffin), Princeton, NJ. (1972) Economic Policy and Inflation in the Sixties (als Hrsg.), Washington, DC. (1976) Towards a Reconstruction of Macroeconomics: Problems of Theory and Policy, Washington, DC. Bibliographie: Adelman, I. (1987): Fellner, William John (19051983), in: The New Palgrave, ed. by J. Eatwell u.a., London, S. 301. Balassa, B./ Nelson, R. (Hrsg.) (1977): Economic Progress, Private Values and Public Policy. Essays in Honor of William Fellner, Amsterdam u.a. (enth. Bibliographie S. 331-335). Haberler, G. (1984): William Fellner in Memoriam, in: Essays in Contemporary Economic Problems, Disinflation, Washington/London, S. 1-4.

Ferber, Marianne Abeles Marshall, J.N. (1988): Fellner, William, J., in: R. Sobel/ B.S. Katz (Hrsg.): Biographical Dictionary of the Council of Economic Advisers, New York, S. 67-75. Wallich, H.C. (1983): Zum Tode von William Fellner, in: Neue Zürcher Zeitung, 30. Sept. 1983. Quellen: Who was Who in America; Blaug. Klaus Herdzina

Ferber, Marianne Abeles, geb. 30.1.1923 in Mirkov, Tschechoslowakei. Ferber verließ als 15-jährige ihre Heimat, um nach Kanada auszuwandern. Dort erwarb sie 1944 den Bachelor of Arts an der McMaster University in Hamilton, Ontario. Anschließend übersiedelte Ferber in die USA, wo sie ihr Studium der Wirtschaftswissenschaften fortsetzte und 1946 an der University of Chicago den Master of Arts erwarb. Danach arbeitete sie als Ökonomin für Standard Oil und gleichzeitig als Assistentin fur Ökonomie am Hunter College, New York. Mit 31 Jahren promovierte sie an der Universität von Chicago. Im Anschluß daran begann sie ihre langjährige Karriere an der University of Dlinois in UrbanaChampaign, zunächst als Assistentin, zwischen 1974-80 als Assistenz- bzw. a.o. Professorin, seit 1980 als ordentliche Professorin für Ökonomie. Ihre fruchtbarste Publikationsphase fallt in die Zeit nach dem 50. Lebensjahr. Dir eigenes wissenschaftliches Leben entspricht in hohem Maße dem Muster, das sie in ihrer Analyse der Geschlechterdifferenz wissenschaftlicher Arbeit herausgearbeitet hat, d.h. Konzentration auf Lehrtätigkeit in jungen Jahren, Publikation wichtiger Forschungsarbeiten erst in höherem Alter. Ferbers wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf der Analyse des Wandels der wirtschaftlichen Tätigkeitsfelder und Motivationssysteme von Männern und Frauen im Lebenszyklus sowie im historischen Verlauf. Sie geht der Verlagerung der Arbeitsteilung zwischen Haushalt und Markt von der vorkapitalistischen Zeit bis in die Gegenwart nach und liefert in The Impact of Mother's Work on the Family as an Economic System (1982) die Grundlage ftir ein besseres Verständnis der Persistenz der Geschlechtertrennung zwischen Haus- und Marktarbeit. Über diese Überblicksarbeit hinaus hat Ferber die Forschungserkenntnisse in einigen Einzelbereichen der Arbeitsmarktanalyse, vor allem der Erklärung der Lohnunterschiede nach Ge-

schlecht, erweitert, und über die Analyse der Hausarbeit die traditionellen Barrieren der ökonomischen Analyse aufgebrochen. Sie geht über die wissenschaftlichen Anregungen der Columbia und Chicago University hinaus und zeigt die Grenzen des neoklassischen Modells der Familie auf. In ihrem Forschungsbeitrag zur Analyse der Lohnunterschiede nach Geschlecht weist Ferber (1984, 1986b) nach, daß die Stellung eines Individuums innerhalb der Betriebshierarchie einen größeren Anteil des Einkommensunterschieds zwischen Männern und Frauen erklärt als die Konzentration der Geschlechter auf unterschiedliche Berufe. Vor allem die Kontrolle über Gelddispositionen und den Einsatz menschlicher Ressourcen (Kontrolle über Arbeit anderer) seien für höhere Löhne ausschlaggebend. Frauen übten derartige Kontrollfunktionen seltener aus als Männer, was ihre Verhandlungsmacht bei Lohnverhandlungen verringere. Frauen hätten in Kemindustriezweigen ebenso wie in peripheren Bereichen vor allem Tätigkeiten inne, die mit geringer Aufwärtsmobilität verbunden seien. Sie profitierten einkommensmäßig von einer Beschäftigung in Großbetrieben, da nur in größeren BeDieben eine Politik der Gleichstellung der Arbeitschancen nach Geschlecht institutionalisiert sei. In der Analyse der Haushaltsproduktion wendet sich Ferber vor allem gegen die Anwendung des Opportunitätskostenprinzips in der Bewertung der Haushaltsproduktion und für die Inputkostenbewertung basierend auf Löhnen am Arbeitsmarkt (Kosten der Haushaltsproduktion bei Einkauf der Leistung über den Markt). Im Fall der Opportunitätskosten kommen in der Bewertung der Hausarbeit Faktoren ins Spiel, die für das Lohnniveau der Erwerbsarbeit ausschlaggebend sind, wie Ausbildungsgrad und Dauer der Erwerbsarbeit, die aber für den Wert der Hausarbeit nicht ausschlaggebend sind (Paradoxon, daß der Wert der Hausarbeit einer Akademikerin den der Hilfsarbeiterin mit gleicher Familiengröße bei weitem übersteigt). Neben der Fortführung ihrer bisherigen Forschungsarbeiten zur Rolle der Frauen in der akademischen Gesellschaft (1996) sowie zur Wechselbeziehung zwischen Arbeit und Familie (1986a, 1991) hat sich Ferber in jüngster Zeit der feministischen Theorie zugewandt (1993). Sie ist Mitherausgeberin der seit 1995 erscheinenden Zeitschrift Feminist Economics und Director of

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Firestone, Otto John Women's Studies an der University of Illinois in Urbana-Champaign.

(1991)

Schriften in Auswahl: (1972) Performance, Rewards, and Perceptions of Sex Discrimination among Male and Female Faculty, (zus. mit J. W. Loeb) in: American Journal of Sociology, Bd. 78, S. 233-240. Professors, Performance, and Re(1974) wards, in: Industrial Relations, Bd. 13, S. 69-77.

(1993)

(1976)

(1978)

(1980a)

(1980b)

(1982)

(1983)

(1984)

(1986a)

(1986b)

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The Sex Differential in Earnings: A Reappraisal, (zus. mit Η. Μ. Lowry), in: Industrial and Labor Relations Review, Bd. 29, S. 377-387. Sex Differentials in the Earnings of Ph.D.'s, (zus. mit Β. Kordick), in: Industrial and Labor Relations Review, Bd. 31, S. 227-238. Are Women Economists at a Disadvantage in Publishing Journal Articles? (zus. mit Μ. Teiman), in: Eastern Economic Journal, Bd. 6, S. 189-193. Housework: Priceless or Valueless? (zus. mit Β. G. Birnbaum), in: Review of Income and Wealth, Bd. 26, S. 387-400. The Impact of Mother's Work on the Family as an Economic System, (zus. mit Β. G. Birnbaum), in: Kamerman, S. B„ Hayes, C. D. (Hrsg.): Families That Work: Children in a Changing World, Washington, D.C., S. 84-143. Housework vs. Marketwork: Some Evidence how the Decision is Made, (zus. mit C. Greene), in: Review of Income and Wealth, Bd. 29, S. 147159. Work Characteristics and the MaleFemale Earnings Gap, (zus. mit J. Spaeth), in: American Economic Review, Bd. 74, S. 260-264. The Economics of Women, Men and Work (zus. mit F.D. Blau), Englewood Cliffs, N.J., 2. Aufl. 1992. Work Power and Earnings of Women and Men, (zus. mit C. Greene, J. Spaeth), in: American Economic Review, Bd. 76, S. 53-56.

(1996)

Work and Family Policies for a Changing Work Force (mit Β. O'Farrell und L. Allen, Washington, D.C. Beyond Economic Man. Feminist Theory and Economics (als Hrsg. zus. mit J.A. Nelson), Chicago. Academic Couples: Problems and Promise (als Hrsg. zus. mit J.W. Loeb), Urbana-Champaign.

Quellen: BHb II; AEA. Gudrun Biffl

Firestone, Otto John ('Jack'), früher: Feuerstein, geb. 17.1.1913 in Österreich Firestone promovierte noch vor seiner Emigration im Jahr 1936 an der Universität von Wien zum Dr. iur. et rer. pol. und emigrierte anschließend nach Großbritannien. Er begann 1938 ein Postgraduiertenstudium an der London School of Economics, muBte das jedoch aufgrund seiner Intervening im Jahr 1940 unterbrechen. Firestone wurde noch 1940 nach Kanada verlegt und blieb dort bis 1941 in Intemierungshaft. Nach seiner Freilassung erwarb Firestone im Jahr 1942 den Master of Arts an der McGill University in Montreal und trat im AnschluB daran als Ökonom in den Dienst der kanadischen Regierung. In den Jahren 1942 bis 1944 befaBte er sich mit Forschungsarbeiten für die Regierungskomitees für Wiederaufbau und Wirtschaftspolitik, arbeitete von 1944 bis 1946 als Research Assistant für das Economic Research Bureau des Department of Reconstruction und wurde im Jahr 1946 Direktor des Department of Reconstruction and Supply. Im Jahre 1948 wechselte Firestone zum Department of Trade and Commerce und nahm dort zunächst die Position des Direktors ein, bevor er 1950 als ökonomischer Berater für das kanadische Handelsministerium tätig wurde. Während seiner Tätigkeit für die kanadische Regierung erstellte er eine Vielzahl von Regierungsberichten, welche sich u.a. mit der Situation des produzierenden Gewerbes und der Forschung und Entwicklung in Kanada, der Investitionstätigkeit im privaten und öffentlichen Sektor sowie mit den Wachstumsperspektiven der kanadischen Wirtschaft befaBten. Im Jahr 1960 kehrte Firestone in den akademischen Bereich zurück und trat eine Professur an der Universität von Ottawa an, die er bis zu seiner Emeritierung 1978 inne hatte. Neben seinem tra-

Firestone, Otto John ditionellen Interessengebiet, den Wachstumsperspektiven der kanadischen Ökonomie, konzentrierten sich seine Forschungstätigkeiten während dieser Phase insbesondere auf drei Problemfelder. Zunächst beschäftigte er sich mit den ökonomischen Auswirkungen von Werbemaßnahmen sowohl des privaten als auch des öffentlichen Sektors. Unter dem Eindruck der während der 1960er Jahre zu beobachtenden anhaltenden Preissteigerungstendenzen in Kanada wurde er vom Institute of Canadian Advertising mit einer Untersuchung beauftragt, welche die Effekte der Werbung auf Inflationstendenzen und Wirtschaftswachstum thematisierte. Firestone publizierte seine Ergebnisse in der 1967 erschienenen Monographie The Economic Implications of Advertising, welche eine umfassende Diskussion der Auswirkungen von Werbemaßnahmen des privaten Sektors auf das Konsumentenverhalten, die Wettbewerbsbedingungen, das Investitionsverhalten sowie die Produkt! vitäts- und Preisentwicklung lieferte. Eine weitere, im Jahr 1970 erschienene Studie (The Public Pursuader, Government Advertising) beschäftigte sich mit der Wirkungsweise von Werbemaßnahmen des öffentlichen Sektors; sie resümierte Firestones Untersuchungsergebnisse hinsichtlich der Ziele und Mittel von Regierungswerbung sowie deren Einflüsse auf Denkhaltungen und Verhaltensweisen der Bürger und präsentierte eine Reihe von Vorschlägen zur Effizienzverbessemng der Werbemaßnahmen. Ein zweites Hauptaibeitsgebiet Firestones war die Untersuchung der Zusammenhänge von Erziehungs- und Bildungsstand der Bevölkerung mit der ökonomischen Entwicklung. Seine 1968 erschienene Untersuchung Industry and Education befaßte sich mit Angebots- und Nachfrageeffekten einer verbesserten Ausbildung der Bevölkerung und untersuchte den Einfluß des Bildungsstandes auf Wirtschaftswachstum, Strukturwandel und technischen Fortschritt sowie deren Rückwirkungen auf die Nachfrage nach Aus- und Weiterbildung. Firestone thematisierte in diesem Zusammenhang auch den Einfluß des Wertewandels in einer stagnierenden Ökonomie und betonte die zunehmende Bedeutung von Bildung als einem der Konsumnachfrage zuzurechnenden Faktor (Education and Economic Instability, 1972a). Schließlich beschäftigte sich Firestone verstärkt mit der Problematik von Patentvergabe und Innovationstätigkeit im Zusammenhang mit ökonomischem Wachstum und veröffentlichte hierzu 1971

die Studie The Economic Implications of Patents, welche auf Basis einer Stichprobenerhebung der in Kananda vergebenen Patente sowie einer Reihe von Interviews mit fünfzehn der wichtigsten Werbegesellschaften die Kosten der Patentvergabe, Angebot und Nutzung von Patenten sowie Lizensierungspraktiken in Kanada untersuchte. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse erwickelte Firestone Theorien über die Auswirkungen des Patentwesens auf Wachstums- und wohlfahrtstheoretische Aspekte und erarbeitete eine Reihe von Empfehlungen zur Reformierung des kanandischen Patentsystems. Eine weitere, diesem Problemkreis zuzurechnende Studie thematisierte den Export und Import von technischem Know How, die Nutzung von patentierten und nicht patentierten Innovationen im internationalen Vergleich sowie den Einfluß von Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen auf die Rate des technischen Fortschritts (1972b). Firestone ist seit 1972 Vorsitzender der Firestone Ait Collection Stiftung und verfaßte in dieser Eigenschaft zwei Kunstbände. Er erhielt 1953 die Coronation Medal von Queen Elizabeth Π und bekam im Jahr 1975 die Ehrendoktorwürde der Hangyang Universität, Korea, verliehen. Schriften in Auswahl: (1965) Problems of Economic Growth. Three Essays and Economic Projections for Canada 1961-1991, Ottawa. (1966) Broadcast Advertising in Canada, Past and Future Growth, Ottawa. (1967) The Economic Implications of Advertising, Toronto/London. (1968) Industry and Education. A Century of Canadian Development, Ottawa. (1970) The Public Pursuader. Government Advertising. Toronto. (1971) The Economic Implications of Patents, Ottawa. (1972) Education and Economic Instability, in: Canadian Journal of Agricultural Economics, Bd. 20, S. 18-27. (1972) Innovation and Economic Development, The Canadian Case, in: Review of Income and Wealth, Bd. 4, S. 399419. Quellen: Β Hb II; AEA; Canadian Who's Who. Margit Kraus

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Foldes, Lucien Paul Foldes, Lucien Paul, geb. 19.11.1930 in Wien Nach dem „Anschluß" Österreichs emigrierte Foldes 1938 mit seinen Eltern nach Großbritannien und erwarb dort die englische Staatsbürgerschaft. Nach Abschluß seiner Schulausbildung 1948 studierte er an der London School of Economics (LSE) und erhielt 1950 den Bachelor of Commerce im Fachbereich Industrie und Handel sowie 1951 das Diplom im Fach Betriebswirtschaftslehre. Im selben Jahr nahm Foldes eine Tätigkeit als Assistant Lecturer an der LSE auf und erwarb 1952 bei Sir Arnold Plant mit einer betriebswirtschaftlichen Arbeit unter dem Titel The Rationale of Cost den Grad des Master of Science. Nachdem Foldes in den ersten beiden Jahren nach Abschluß seiner akademischen Ausbildung fur die British Army tätig war, kehrte er 1954 an die LSE zurück und setzte seine Arbeit zunächst als Assistant Lecturer, ab 1955 dann als Lecturer fort. Seine Lehr- und Forschungstätigkeiten richteten sich zu dieser Zeit zum einen auf theoretische Probleme im Zusammenhang mit Investitionsentscheidungen, Unsicherheit und Wahrscheinlichkeitstheorie, andererseits auf eher praktisch orientierte Fragen im Bereich der Delegation von Budgetierungsentscheidungen und Kontrolle in Unternehmen des öffentlichen Dienstes. Foldes' wichtigste Publikation zur Investitionstheorie erschien im Jahr 1961 unter dem Titel Imperfect Capital Markets and the Theory of Investment· im selben Jahr veröffentlichte er auch die zweiteilige Arbeit Domestic Air Transport Policy, welche sich mit den Auswirkungen verschiedener Formen von Staatsinterventionen im Bereich des Flugverkehrs befaßt. Im Jahr 1962 erhielt Foldes, mittlerweile Reader in Economics an der LSE, ein Travelling Fellowship in die USA, das ihn u.a. an das Carnegie Institute of Technology, Pittsburgh, sowie an die University of California, Berkeley, führte. Im weiteren Verlauf der 1960er Jahre veröffentlichte Foldes eine Reihe von Arbeiten im Bereich der traditionellen MikroÖkonomie, insbesondere der Monopol- und Wohlfahrtstheorie. Gleichzeitig beschäftigte er sich verstärkt mit mathematischen Methoden und Wahrscheinlichkeitsrechnung und nahm eine Neuorientierung seiner betriebswirtschaftlichen Lehr- und Forschungstätigkeit in Richtung quantitativer Entscheidungsmodelle unter Unsicherheit vor. Foldes' erste Publikation in diesem Bereich, Expected Utility and Continuity (1972), befaßte sich mit der Erwartungsnutzen-

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theorie und systematisierte die Zusammenhänge zwischen alternativen topologischen Strukturen eines Wahrscheinlichkeitsraumes und den analytischen Eigenschaften der zugehörigen kardinalen Nutzenfunktion. In der Folgezeit spezialisierte sich Foldes in zunehmendem Maße auf Fragen der Investitionsentscheidung unter Risiko und bemühte sich insbesondere um die Integration von Martingale-Methoden in die Entscheidungstheorie zur analytischen Behandlung stochastischer Prozesse. Als seine wichtigste Publikation während dieser Periode bezeichnet Foldes die 1978 erschienene Arbeit Optimal Saving and Risk in Continuous Time', sie behandelt ein stochastisches Modell optimaler Ersparnisbildung in einem stetigen Zeitablauf und beinhaltet den Existenznachweis eines optimalen Sparplanes sowie seine Charakterisierung durch die Martingale-Eigenschaften der Schattenpreise. In den 1980er und frühen 90er Jahren konzentrierte sich Foldes, seit 1979 Professor an der LSE, auf die Erweiterung des Anwendungsbereichs dieser Methoden und bemühte sich um die Integration von Martingale-Methoden auch in portfoliotheoretisch angelegte Investitionsmodelle sowie in neoklassische Wachstumsmodelle unter Risiko. Unter den geplanten Veröffentlichungen befinden sich mehrere Arbeiten im portfoliotheoretischen Bereich; in Arbeit ist darüber hinaus eine zweiteilige Monographie über die Anwendung von Martingale-Methoden in der Investitions- und Wachstumstheorie. Schriften in Auswahl: (1961a)

Domestic Air Transport Policy, in: Economica, Bd. 28, S. 156-175 und 270-285.

(1961b)

Imperfect Capital Markets and the Theory of Investment, in: Review of Economic Studies, Bd. 28, S. 182195.

(1964)

A Determinate Model of Bilateral Monopoly, in: Economica, Bd. 31, S. 117-131.

(1967)

Income Redistribution in Money and in Kind, in: Economica, Bd. 34, S. 30-41.

(1972)

Expected Utility and Continuity, in: Review of Economic Studies, Bd. 39, S. 407-421.

Forchtaeimer, Karl (1978)

(1990)

(1991)

Optimal Saving and Risk in Continuous Time, in: Review of Economic Studies, Bd. 45, S. 39-65. Conditions for Optimally in the Infinite-Horizon Portfolio-cum-Saving Problem with Semimartingale Investments, in: Stochastics and Stochastics Reports, Bd. 29, S. 133-170. Certainty Equivalence in the Continuous-Time Portfolio-cum-Saving Model, in: H.A. Davis/R.J. Elliott (Hrsg.): Applied Stochastic Analysis, New York, S. 343-387.

Quelle: Blaug. Margit Kraus

Forchheimer, Karl, geb. 29.07.1880 in Prag, gest. 18.06.1959 in Wien Forchheimer absolvierte ein Jurastudium in Prag, das er 1903 mit der Promotion abschloB. Im selben Jahr begann er seine berufliche Laufbahn mit dem Eintritt in die KuK Staatsprokuratur. Als Ministerial beamter machte er eine beachtenswerte Karriere im Staatsdienst. 1913 avancierte er zum Finanzprokuratursadjunkt bei der Statistischen Zentralkommission in Wien, 1917 erreichte er die Position eines Ministerial-Vizesekretärs im Innenministerium und'wechselte im Dezember desselben Jahres ins neu eingerichtete Ministerium für soziale Fürsorge (später für soziale Verwaltung). 1924 wurde er Leiter der Abteilung für legislative und finanzielle Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitsvermittlung; 1936 übernahm er kurzfristig die Leitung der Sektion Sozialversicherung. Die nächsten zwei Jahre hatte er u.a. den Vorsitz des Reichsärzteausschusses inne und war Mitglied der Spruchstelle für die Arbeitslosen- und Altersfursorge. Nebenher hatte er diverse Lehraufträge an der Universität Wien. Im März 1938 erfolgte jedoch die Zwangspensioniening. Forchheimer emigrierte daraufhin im Jahre 1939 nach England. Dort setzte er seine in Wien begonnene Hochschultätigkeit als Research Assistant an der Universität von Oxford fort. Er wurde Mitglied des Institute of Statistics und hielt wirtschaftswissenschaftliche Vorlesungen. Nach dem Krieg kehrte er 1949 nach Wien zurück und führte dort ab 1950 den Amtstitel Sektionschef.

Im AnschluB an sein Jurastudium widmete sich Forchheimer verstärkt wirtschaftswissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen Fragestellungen, die von der Preistheorie über die Wirtschaftsstatistik bis zur MakroÖkonomik und zur Sozialpolitik reichten. Herausragend ist zunächst sein im Wintersemester 1906/1907 im volkswirtschaftlichen Seminar von Alfred Weber in Prag gehaltener Vortrag über Theoretisches zum unvollständigen Monopole, der 1908 in dem von Gustav Schmoller herausgegebenen Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft publiziert wird. In dieser Arbeit konstatiert Forchheimer, daB zahlreiche faktische Monopole doch nur Teilmonopole (unvollständige Monopole) sind, da ein Teil des Angebots in dritten Händen ist. In zwei durch Zahlenbeispiele illustrierten Modellen, in denen das Teilmonopol zudem als Kollektivmonopol (Kartell) interpretiert wird, zeigt er, daB je nach Verhaltensweise der sog. 'outsider' das allmähliche Schwinden des Monopolelements nachgewiesen werden kann und daB somit diverse Abstufungen zwischen Monopol- und Konkurrenzpreis vorkommen. Darüber hinaus diskutiert Forchheimer die Frage, inwieweit es dem Teilmonopolisten möglich ist, seine Konkurrenten durch gezielte Niedrigpreisaktionen zu schädigen oder zu verdrängen. Auch wenn später bemängelt wurde, daB der Ansatz nicht allgemeingültig ist und nur sehr einfache Zahlenbeispiele verwendet, so wird doch uneingeschränkt anerkannt, daB Forchheimer in einer Zeit, in der die preistheoretische Diskussion sich fast ausschließlich dem vollständigen Wettbewerb und dem reinen Monopol widmet, wesentliche Impulse zum Verständnis der zwischen diesen Extrempositionen liegenden Fälle geliefert hat, und zwar zeitlich noch vor Sraffa, Zeuthen und anderen, die teilweise mehr Beachtung gefunden haben (vgl. Reid 1979). Erst in den 1970er Jahren wird Forchheimers Arbeit wieder aufgegriffen. 1983 erscheint sie in englischer Übersetzung im Nebraska Journal of Economics and Business. Als eine Art Nebenprodukt von Forchheimers Tätigkeit in der Funktion eines leitenden Ministerialbeamten im österreichischen Sozialministerium entstehen im Zeitraum von 1913 bis 1929 verschiedene Artikel zur Sozialgesetzgebung bzw. zur Organisation der Sozialversicherung, an deren Einführung in Österreich er maßgeblich beteiligt war. In seinem ersten Aufsatz hierzu (1913) geht er auf die wohnungspolitische Gesetzgebung in

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Forchheimer, Karl Österreich ein. Er beschreibt die einzelnen Entwicklungsphasen seit 1910 in einem kurzen chronologischen Abriß und erläutert die verschiedenen Maßnahmen im Detail, die sich im wesentlichen auf Begünstigungen im Bereich staatlicher Abgaben und auf Erleichterungen der Kreditbeschaffung und des gemeinnützigen Wohnungsbaus erstrecken. Es folgt dann eine Arbeit zur Organisation der Arbeitslosenfürsorge in Österreich (1920/ 21), in der er ihre finanzielle Konstruktion, den angesprochenen Personenkreis sowie die organisatorische Gestaltung nachzeichnet. 1924 und 1929 erscheinen zwei englischsprachige Artikel in der International Labour Review. In dem Beitrag Sliding Wage Scales in Austria (1924) setzt sich Forchheimer mit der Frage auseinander, wie die Kaufkraft der Währung trotz Abwertung gesichert werden kann, und er beschreibt, daB sich in der österreichischen Geschichte drei aufeinanderfolgende Phasen mit jeweils spezifischen Anpassungsmechanismen erkennen lassen. Im dritten arbeitsmarktorientierten Artikel von 1929 diskutiert er die administrative und finanzielle Organisation der Arbeitslosenversicherung. Was den zeitlichen Risikoausgleich betrifft, sollte nach seiner Meinung ein Beitragssystem gewählt werden, das die Festlegung einer langfristig fixen Rate erlaubt, wobei der Durchschnittswert aus guten und schlechten Jahren heranzuziehen sei. Des weiteren spricht er sich angesichts der Mobilität der Arbeiter zwischen den Regionen gegen die regionale Differenzierung aus, die in Österreich eingeführt worden war. In bezug auf die institutionelle Ausgestaltung macht er den Vorschlag, die Arbeitslosenversicherung in ein umfassendes System der Sozialversicherung zu integrieren. Während seiner Hochschultätigkeit am Institute of Statistics in Oxford wendet sich Forchheimer vorwiegend wirtschaftsstatistischen Forschungsprogrammen und makroökonomischen Fragestellungen zu, wobei internationale Vergleiche eine zentrale Aufgabe darstellen. Im Jahre 1941 führt er mit Unterstützung der Rockefeller Foundation eine sekundär-statistische Untersuchung über zyklische Konjunkturschwankungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die wichtigsten westlichen Industrienationen durch. Eine Kurzfassung der Ergebnisse erscheint 1945 in den Oxford Economic Papers unter dem Titel The „Short Cycle" in its International Aspects (1945a). Darin folgert Forchheimer, dafi die konjunkturellen Zyklenverläufe einzelner Länder keine isolierten

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Phänomene darstellen, sondern von internationalen Faktoren beeinflußt werden. Ferner seien spezifische Abläufe im Zusammentreffen von langen und kurzen Wellen zu konstatieren: So seien bei der Abwärtsbewegung innerhalb einer langen Welle längere Rezessionen mit kurzen Aufschwüngen kombiniert, während in der langfristigen Aufwärtsbewegung kurze Rezessionen mit längeren Aufschwungperioden auftreten. Somit bliebe die Gesamtlänge der kurzen Wellen ungefähr gleich. Bezüglich der kurzen Wellenbewegungen zeigt Forchheimer darüber hinaus, daß neben den Hauptwendepunkten ein paar andere Punkte während der Auf- und Abwärtsbewegung existieren, in denen das System empfänglich ist für Kräfte von außen, welche die ansonsten unaufhaltsame Bewegung stoppen oder sogar umkehren können. Sie sind regelmäßiger Bestandteil der Konjunkturzyklen. Im Jahr 1945 erscheint ferner der Artikel WarTime Changes in Industrial Employment. A Comparison Between the Two World Wars (1945b), in dem er die Ergebnisse eines Vergleichs verschiedener Arbeitsmarktkenngrößen zwischen den beiden Kriegsjahren 1918 und 1944 vorstellt. Hierzu untersucht er die absolute und relative Zu- bzw. Abnahme der Beschäftigung jeweils getrennt für Frauen und Männer in den einzelnen Sektoren. Anhand der ermittelten Zahlen gibt er einen Ausblick auf die zu erwartenden arbeitsmarktpolitischen Probleme der Nachkriegsjahre und weist auf die Bereiche hin, in denen sich Umstellungsbzw. Anpassungsbedarf abzeichnet. In den folgenden Jahren konzentriert sich Forchheimer auf das Thema der Streikbewegungen. 1948 publiziert er den Aufsatz Some International Aspects of Strike Movement, in dem er Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Struktur und Entwicklung nationaler Streikbewegungen anhand der Untersuchungsmerkniale Häufigkeit, Anzahl involvierter Arbeiter und Anzahl verlorener Tage ermitteln kann. In einem zweiten Artikel, der ein Jahr später unter dem Titel Some International Aspects of Strikes veröffentlicht wird, präsentiert er die Ergebnisse einer Untersuchung zum Einfluß der Größe und der Dauer von Streiks auf deren Effektivität für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Nach seiner Rückkehr nach Österreich verfaßt Forchheimer eine von der Arbeiterkammer in Wien herausgegebende Broschüre, in der er in die Gedankengänge und Lehren von J.M. Keynes einfuhrt. Er selbst bekennt sich zu den Ideen des eng-

Frank, Andre Glinder lischen Nationalökonomen, deren Wirkung auf die angelsächsischen Länder er während seines Englandaufenthalts beobachten konnte. Wie viele andere namhafte Nationalökonomen erwartet er, daß sich mit Hilfe einer keynesianischen Wirtschaftspolitik nachhaltige Erfolge hinsichtlich der Beschäftigung erzielen lassen. Aufgrund der bis dahin eher geringen Beachtung von Keynes' Lehren und häufiger Anfeindungen in Österreich sieht er es als seine Aufgabe an, das Werk von Keynes in bewußt populärer Weise darzustellen, um es damit einem möglichst breiten Publikum nahezubringen. Schriften in Auswahl: (1908) Theoretisches zum unvollständigen Monopole, in: Jahrbuch fur Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Bd. 32, S. 1-12; englische Übersetzung: Imperfect Monopoly: Some Theoretical Considerations, in: Nebraska Journal of Economics and Business, Bd. 22, No. 2 (1983), S. 65-77. (1913)

(1920/21)

(1924)

(1929)

(1945a)

(1945b)

(1948)

Die neue wohnungspolitische Gesetzgebung Österreichs, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitk, Bd. 36, S. 528-547. Die Organisation der Arbeitslosenfürsorge in Österreich, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 48, S. 707-730. Sliding Wage Scales in Austria, in: International Labour Review, Bd. 10, S. 30-47. The Financial Problems of Unemployment Insurance, in: International Labour Review, Bd. 19, S. 483-502. The „Short Cycle" in Its International Aspects, in: Oxford Economic Papers, Bd. 7, S. 1-20. War-Time Changes in Industrial Employment. A Comparison Between the Two World Wars, in: Institute of Statistics, Oxford, Bulletin, Bd. 7, No. 16, S. 269-278. Some International Aspects of Strike Movement, in: Institute of Statistics, Oxford, Bulletin, Bd. 10, No. 1, S. 924.

(1949)

(1952)

Some International Aspects of Strikes, in: Institute of Statistics, Oxford, Bulletin, Bd. 11, No. 9, S. 279-286. Keynes' neue Wirtschaftslehre. Eine Einfuhrung, Wien.

Bibliographie: Reid, G.C. (1979): Forchheimer on Partial Monopoly, in: History of Political Economy, Bd. 11, No. 2, S. 303-308. Quellen: Β Hb I; IFZ; SPSL 230/9. Klaus Herdzina

Frank, Andre Gunder, geb. 24.2.1929 in Berlin Frank emigrierte als vieijähriger mit seinen Eltern 1933 in die Schweiz. 1940/41 siedelte die Familie in die Vereinigten Staaten über, wo Frank die Ann Arbor High School und später das Swarthmore College besuchte. Unter dem Einfluß seines Vaters, dem Schriftsteller Leonhard Frank, entschloß er sich Volkswirtschaftslehre zu studieren und wurde, wie er selber bekundete, ein Keynesianer. 1950 begann er sein Studium an der Universität von Chicago, wo er u.a. Milton Friedmans Kurs in Wirtschaftstheorie besuchte. Nach bestandenem Examen erhielt er offensichtlich von der Volkswirtschaftlichen Fakultät der Universität von Chicago schriftlich den Rat, wegen der Inkompatibilität zu Friedman, die Universität zu verlassen. So wechselte er 1951 an die Universität von Michigan und studierte dort für ein Semester bei Kenneth Boulding und -* Richard Musgrave. Abschließend präsentierte er Boulding ein Papier über Welfare Economics, in dem er aufzeigte, daß es unmöglich ist „to separate efficiency in resource allocation from equity in income distribution" (1992, S. 154f.). Dafür erhielt er bei Boulding ein „sehr gut", während er in Chicago sein M.A. mit einer schlechten Note abgeschlossen hatte. Frank verließ den Universitätsbereich und wurde im Vesuvio-Caf£ in San Francisco nach eigenem Bekunden ein Antikonformist. Als er dort Jack Kerouac begegnete, entschloß er sich zur Universität zurückzukehren und kam durch die Hintertür wieder an die Universität von Chicago. In Bert Hoselitz' Research Center in Economic Development and Cultural Change erhielt er eine Stelle als Forschungsassistent. Sein erster Forschungsauftrag war eine kritische Evaluierung der ersten

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Frank, Andre Gunder Weltbankberichte über Ceylon, Nicaragua und die Türkei. Dann kehlte er wieder an die Universität von Chicago zurück und arbeitete über die sowjetische Ökonomie. Er promovierte 1957 mit der Arbeit Structural Change and Productivity in the Ukrainian Economy (vgl. auch 1958). Danach wandte er sich in zunehmendem MaBe der Entwicklungsökonomie unter besonderer Berücksichtigung Lateinamerikas zu. Er schrieb über 'social conflict' und rezensierte das Buch von - • Albert Hirschman Strategy of Economic Development in dem Journal von Bert Hoselitz wohlwollend (vgl. 1959/60). Weitere wichtige Stationen seines akademischen Wirkens waren neben der Universität von Chicago die Universitäten von Iowa, Michigan, California at Berkeley und Detroit. 1960 besuchte er erstmals Kuba. Von 1962 bis 1973 hielt er sich insbesondere in Mexiko, Brasilien und Chile zu Forschungsaufenthalten auf und lehrte an den Universitäten von Brasilia, Rio de Janeiro, Santiago und Mexiko. Nach einem zweijährigen Aufenthalt von 1966 bis 1968 in Montreal lehrte er von 1970 bis 1973 als Professor an der Universität von Chile. Anschließend hielt er sich von 1974 bis 1978 am Starnberger Max-Planck-Institut zu Forschungsarbeiten auf. Von 1978 bis 1985 lehrte Frank an der Universität von East Anglia in Norwich und ist seit 1981 an der Universität von Amsterdam tätig, wo er das Institute for Socio-Economic Studies of Developing Regions (ISMOG) leitet. Die Forschungs- und Lehraufenthalte in den 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern prägten sein wissenschaftliches Werk nachhaltig. Frank gehörte zu den profundesten und radikalsten Kritikern der zu dieser Zeit dominierenden entwicklungsökonomischen Mainstream-Theorien. Dabei setzte er sich sowohl mit den Theorien des Pluralismus als auch der Stadientheorie von Rostow und mit soziologischen Entwicklungstheorien auseinander. Er konzentrierte sich besonders auf den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Unterentwicklung. Daher gilt er neben Cardoso, Cordova und Dos Santos als bedeutendster Vertreter der marxistischen Dependenztheorie. Die Ursache von Unterentwicklung erklärt sich auch für Frank aus der Struktur des globalen kapitalistischen Systems, das zu hierarchischen Beziehungen zwischen den Zentren bzw. Metropolen und der Peripherie geführt hat. Frank gehört jedoch nicht zu den verblendeten Ideologen. Er

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setzte sich vielmehr mit den sozialistischen Systemen der sechziger Jahre sehr kritisch auseinander und grenzte sich damit von den orthodoxen Marxisten bzw. Kommunisten eindeutig ab. Seine entwicklungsökonomische Grundposition hat er umfassend erstmals 1967 in dem Buch Capitalism and Underdevelopment in Latin America vorgestellt, das 1969 unter dem Titel Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika auch in deutscher Sprache erschien. Es sei erwähnt, daB er dieses Buch -> Paul Baran und Paul Sweezy, denen er offensichtlich viele Anregungen und auch Zuspruch verdankt, gewidmet hat. Das erste Kapitel des Buches beginnt damit, die These der „kapitalistische[n] Entwicklung der Unterentwicklung in Chile" zu begründen. Danach ist Unterentwicklung in Chile für Frank ein „notwendiges Produkt einer vier Jahrhunderte währenden kapitalistischen Entwicklung und der inneren Widersprüche des Kapitalismus selbst. Diese Widersprüche sind die Enteignung von wirtschaftlichem Surplus von vielen und seine Aneignung durch wenige, die Polarisierung des kapitalistischen Systems in Metropolenzentrum und periphere Satelliten"( 19692, S. 21). In seinem 1978 erschienenen Buch Dependent Accumulation and Underdevelopment (Deutsche Ausgabe 1980 unter dem Titel Abhängige Akkumulation und Unterentwicklung) wendet er sich von seinem konkreten Bezug zu Lateinamerika, insbesondere zu Chile, ab und unternimmt den Versuch, aus dem Zirkel der zeitgenössischen, d. h. insbesondere neoklassischen Entwicklungstheorie auszubrechen. In seiner theoretischen Analyse zeigt er sehr dezidiert auf, wie die Ausdehnung des inneren Marktes durch die internationale Arbeitsteilung und die Produktionsverhältnisse in Entwicklungsländern begrenzt werden. Während der Zeit am Starnberger Max-Planck-Institut entstand schließlich das Buch Weltwirtschaft in der Krise. Verarmung im Norden, Verelendung im Süden (1980). Dieser kleine Sammelband enthält sechs Vorträge von Frank, die er zwischen 1972 und 1976 bei verschiedenen Anlässen gehalten hat. Dabei stellt er in seinen Beiträgen das Theorem von Ricardo und die darauf folgenden Außenhandelstheorien grundsätzlich in Frage. In dem ersten einführenden Beitrag „Gedanken über die Weltwirtschaftskrise" begründet er ausführlich, warum die rapide Öffnung des Weltmarktes nicht zu dem allgemeinen Reichtum für alle Staaten der Erde gefuhrt hat, wie das in der traditionellen Außenhandelstheorie postuliert wird. Für

Frank, Andre Gunder ihn ist die Ölkrise lediglich eine Wirkung, jedoch keinesfalls die Ursache der allgemeinen Krise, in die viele Industrieländer in den 1970er Jahren gerieten. Diese Krise geht für Frank einher mit der zunehmenden Ausbeutung insbesondere in der Dritten Welt. Frank findet mit diesen theoretischen Grundpositionen heute sicher nicht mehr den Zuspruch, den er in den sechziger und siebziger Jahren erfahren hat. Es ist jedoch festzustellen, daB viele seiner Kritiker die von ihm aufgezeigten Probleme weder theoretisch noch politisch lösen konnten. Der letzte Beitrag des Buches hat den Titel „Wartet nicht auf 1984". Es handelt sich um das sehr bekannt gewordene Gespräch zwischen Samir Amin und Andre Gunder Frank, das in der italienischen Tageszeitung II Manifesto abgedruckt wurde. Dabei wird seine Kritik am Kapitalismus noch einmal sehr deutlich. Für Frank steht die klassische Akkumulationskrise im Mittelpunkt, die langfristig zu einem Niedergang des Kapitalismus fuhren werde. Frank bezweifelt jedoch, „ob der Kapitalismus seine historische Funktion erschöpft hat und in eine Phase des Niedergangs eingetreten ist" (1978b, S. 112). Er vertritt die Auffassung, daß das kapitalistische System heute gezwungen ist, neue Entwicklungsmöglichkeiten in der Dritten Welt und in den um die UdSSR gruppierten Ländern zu suchen. Für ihn bleibt die Frage offen, ob solche Versuche erfolgreich sein können. In den achtziger Jahren arbeitete Frank über aktuelle Themen dieses Jahrzehnts. 1982 schrieb er einen bemerkenswerten Artikel zum Thema „After Reaganomics and Thatcherism, what? From Keynesian Demand Management via Supply-Side Economics to Corporate State Planning and 1984". In diesem Artikel geht er der Frage nach, warum das Nachfragemanagement keynesianischer Prägung der westlichen Regierungen durch die monetaristische Politik und angebotsorientierte Ökonomie von Reagan und Thatcher verdrängt wurde. Nachdem er den Aufstieg und Fall des Keynesianismus begründet hat, thematisiert er die aufkommende Popularität von Monetarismus und angebotsorientierter Ökonomie. Während er sich in der Analyse, für ihn ungewohnt, den wirtschaftspolitischen Zusammenhängen und den jeweiligen politischen Vertretern zuwandte, kommt er in seinen Schlußfolgerungen darauf zurück, daß die aufgezeigten Richtungen der Ökonomie die Krisenphänomene der kapitalistisch geprägten

Weltwirtschaft nicht zu lösen vermochten. Schließlich interessierten Frank 1990 die dramatischen Veränderungen in Osteuropa, die er in dem Artikel Revolution in Eastern Europe. Lessons for Democratic Socialist Movements in the Future of Socialism beschreibt. In diesem Beitrag setzt er sich kritisch mit dem Niedergang real existierender sozialistischer Systeme bzw. Länder, d. h. Osteuropas und der UdSSR, auseinander. Abschließend wirft er die Frage auf, ob ein differenzierter Sozialismus in der Zukunft möglich sein wird. Er selbst hält an ihm fest, da für ihn die Alternative eine Verschärfung des kapitalistischen Konflikts mit seinen Folgen der Umweltkrise und kriegerischer Auseinandersetzungen ist. Schriften in Auswahl: (1958) General Productivity in Soviet Agriculture and Industry. The Ukraine 1928-55, in: Journal of Political Economy, Bd. 66, S. 498-515. (1959/60) Built in Destabilization. A.O. Hirschman's Strategy of Economic Development, in: Economic Development and Cultural Change, Bd. 8, S. 433-440. (1969) Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika, Frankfurt a.Μ.; 2. Aufl. 1975 (engl.: Capitalism and Underdevelopment in Latin America. Historical Studies of Chile and Brazil, New York/London 1967). (1975) On Capitalist Underdevelopment, Bombay u.a. (1978a) Dependent Accumulation and Underdevelopment, London/Basingstoke (dt. Übers.: Abhängige Akkumulation und Unterentwicklung, Frankfurt a.M. 1980). (1978b) Weltwirtschaft in der Krise. Verarmung im Norden, Verelendung im Süden, Reinbek. (1980) Crisis in the World Economy, London. (1982)

After Reaganomics and Thatcherism, what? From Keynesian Demand Management via Supply-Side Economics to Corporate State Planning and 1984, in: Contemporary Marxism (San Francisco), Nr. 4, 1981/82, S. 18-28.

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Freeman, Roger Adolf (1983)

(1990)

(1992)

The European Challenge. From Atlantic Alliance to Pan-European Entente for Peace and Jobs, Nottingham. Revolution in Eastern Europe. Lessons for Democratic Socialist Movements in the Future of Socialism, New York. Andre Gunder Frank (bom 1929), in: P. Arestis, M. Sawyer (Hrsg.): A Biographical Dictionary of Dissenting Economists, Aldershot, S. 154-163.

Quellen: DDR-Ökonomenlexikon; Who's Who in the World. Michael von Hauff

Freeman, Roger Adolf, geb. 2.9.1904 in Wien; Sohn des Bankiers Samuel Freimann Freeman studierte in den zwanziger Jahren an der Hochschule für Welthandel in Wien, wo er 1927 sein Diplom erhielt. In der Zeit nach seinem Studium arbeitete er bis 1939 in der Handelsabteilung der Firma DEL-ΚΑ Schuhe. Mehr als ein Jahr nach der Annexion Österreichs durch Hitler emigrierte er 1939 zuerst nach Großbritannien, 1940 dann in die Vereinigten Staaten. Aufgrund eines von ihm verfaBten Artikels zu den Vertriebsproblemen von Handelsketten erhielt er kurze Zeit nach seiner Ankunft in New York die Position eines Vetriebsleiters der auf nationaler Ebene tätigen W.C. Douglas Shoe Corporation angeboten. Dieser ersten Anstellung folgte eine Tätigkeit als Einkäufer eines Kaufhauskonzems bis 1945. Danach siedelte er nach Seattle über, um für vier Jahre im Finanzbereich der Shoe Corporation of America tätig zu sein. Im Jahr 1949 kam es zu einem entscheidenden Wandel in Freemans Karriere. Durch ein Wählervotum zur Einführung eines umfangreichen Wohlfahrtsprogramms war der Bundesstaat Washington zahlungsunfähig geworden. Der damalige Gouverneur Arthur Langlie berief Freeman als Special Assistant und übertrug ihm die Aufgabe, die finanzielle Reorganisation des Budgets durchzufuhren. Der Erfolg dieser Arbeit und sein Bericht über die finanzielle Situation des Bundesstaates stießen auf große Resonanz in den Medien. Seine nächste Stelle führte ihn deshalb zurück an die Ostküste in den Beraterstab des 1953 ins Amt gekommenen Präsidenten Dwight Eisenhower.

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Als Mitglied einer Kommission, die mit der Untersuchung der Verteilung der Machtbefugnisse zwischen Bundesstaaten und der Bundesregierung betraut war, konzentrierte er sich vor allem auf das Gebiet der Finanzierung von Bildungsmaßnahmen. Anfangs noch Teilzeitmitarbeiter war Freeman ab 1955 ausschließlich für das Weiße Haus tätig und ging 1956 im Auftrag der U.S. Treasury als Finanzberater nach Bolivien. Zwischen 1957 und 1962 hatte er die Stelle des Vizepräsidenten des Institute for Social Science Research in Washington inne. 1962 erhielt er einen Ruf als Senior Fellow an die Hoover Institution der Universität Stanford, wo er über den Zeitpunkt seiner Emeritierung im Jahr 1975 hinaus als Senior Fellow Emeritus aktiv war. In dieser Zeit führte er mehrere Forschungsprojekte zu Problembereichen der Regiemngspolitik durch, die vor allem Fragen der Besteuerung, der Bildung, der öffentlichen Wohlfahrt, der Verteidigung und der föderalen Struktur der USA betrafen. Neben seiner universitären Tätigkeit war Freeman mehrfach Mitglied in Gremien und Kommissionen, die auf höchster bundespolitischer Ebene den Präsidenten und das Parlament berieten, wie z.B. 1967 als Vorsitzender der Task Force on Revenue Sharing des Republican National Committee, 1969-1970 als Special Assistant von Präsident Nixon oder 1972-1973 in der Governor's Tax Reduction Task Force. 1977 hatte er eine Professur für Ökonomie am Hillsdale College in Michigan inne. Freeman erhielt aufgrund seiner wissenschaftlichen und politischen Tätigkeiten eine Reihe hoher Auszeichnungen, so z.B. zweimal die George Washington Honor Medal der Freedom Foundation in Valley Forge (1966 und 1972) und zweimal den Distinguished Research Award der Governmental Research Association (1958 und 1975). 1966 wurde ihm die Ehrendoktorwürde im Fach Rechtswissenschaften durch die Brigham Young University, Provo, Utah, verliehen. Die wissenschaftlichen Arbeiten von Freeman sind in einem hohen Maße durch sein Engagement in der Politik geprägt. Seine Forschungsschwerpunkte lagen bei der Finanz- und Sozialpolitik. Insbesondere die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und dessen Auswirkungen auf die anderen Politikbereiche waren über Jahre hinweg die zentralen Themen seiner Veröffentlichungen. Zu nennen sind hier insbesondere die beiden Bücher The Growth of the American Government. A Morphology of the Welfare State (1975) und die Weiter-

Freeman, Roger Adolf entwicklung davon: The Wayward Welfare State (1981). In beiden Werken erläutert Freeman unter Verwendung seines Insiderwissens und umfangreicher Daten den Ausbau des amerikanischen Wohlfahrtsstaates. Die Zunahme der staatlichen Hilfeleistungen in den 1960er und 1970er Jahren wird von ihm sehr kritisch betrachtet, da diese Ausgaben deutlich schneller gewachsen sind als die Bevölkerungszahlen und das Sozialprodukt. Zusätzlich habe diese konsumtive Verwendung von Mitteln zu einem Rückgang des Anteils der Verteidigungsausgaben geführt, was zu Lasten der äußeren Sicherheit gehe. Ständig steigende Staatsanteile schränken nach Meinung Freemans die individuelle Freiheit der privaten Wirtschaftssubjekte immer mehr ein, da sie nicht mehr selbst über die Verwendung der erbrachten Wirtschaftsleistung entscheiden können. Darüber hinaus würden die zur Finanzierung dieser Ausgaben notwendigen Steuererhöhungen die Leistungsbereitschaft der Leistungsfähigen und Leistungswilligen senken, während die Eigeninitiative und Verantwortungsbereitschaft der Wohlfahrtsempfänger gedämpft werde. Diese Entwicklung sei konträr zu der normalerweise als typisch amerikanisch angesehenen Befürwortung des freien Spiels der Marktkräfte. Einen wichtigen Grund für diesen ProzeB sieht Freeman im EinfluB der Intellektuellen, die in den Beraterstäben der Regierung tätig sind und hier eine Möglichkeit zur Machtentfaltung haben, die sich ihnen in ihrem sonstigen Berufsleben (z.B. an der Universität) nicht bieten würde. Die Ideale dieser für amerikanische Verhältnisse meist links der Mitte stehenden intellektuellen Berater und Planer würden mit den Interessen der Nutznießer von Wohlfahrtsleistungen hervorragend harmonieren, so dafi sich aus dieser Allianz eine Tendenz zu steigenden Budgets ergeben würde. Die Bereitstellung von sozialen Leistungen würde darüber hinaus die Forderung nach noch mehr Zuwendungen bedingen. So seien die Studenten- und Rassenunruhen der 1960er Jahre in den Vereinigten Staaten nicht trotz, sondern wegen der ausgebauten Wohlfahrtsleistungen entstanden. Verstärkt würde dies durch die gleichzeitig propagierte keynesianische Wirtschaftspolitik, die in steigender Gütemachfrage die Voraussetzung für einen dauerhaften WachstumsprozeB sieht. Ein einfacher Weg zu mehr Nachfrage ist dabei die Umverteilung von Kaufkraft von einkommensstarken zu den einkommensschwachen Schichten der Gesellschaft. Keynesianische Wirt-

schaftspolitik stellt somit für Freeman nicht nur ein Mittel zur Überwindung von konjunkturellen Fehlentwicklungen, sondern auch eine willkommene Rechtfertigung für den Ausbau des Sozialstaates dar. Ein Ergebnis dieser Politik der sechziger und siebziger Jahre sei die Wandlung des Prinzips Gleiche Möglichkeiten für alle in Gleiche Ergebnisse für alle. Ein weiteres Problem sieht Freeman in der zunehmenden Konzentration staatlicher Kompetenzen auf Bundesebene. Die Regierung in Washington, D.C., würde Uber immer mehr Sachverhalte zu entscheiden haben, die einerseits aufgrund der räumlichen und sachlichen Nähe der lokalen Behörden und der bundesstaatlichen Regierungen von diesen fundierter bearbeitet werden könnten, sowie andererseits den Präsidenten inklusive der ihm unterstellten Behörden von der Erfüllung ihrer eigentlichen Aufgaben, nämlich Verteidigungs- und Außenpolitik, ablenken würden. Die Effizienz staatlicher Entscheidungen könne durch eine Reallokation der Kompetenzen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip gesteigert werden. Vergleichbare Überlegungen finden sich bei Freeman schon früher, z.B. in seinen Untersuchungen zur Notwendigkeit und Finanzierung steigender Bildungsausgaben (1958; 1960). Die Untersuchungen und Aussagen Freemans lassen eine große Nähe zu den wirtschaftetheoretischen Überlegungen der sog. Neuen Politischen Ökonomie (NPÖ) erkennen, deren bekanntester Vertreter der Nobelpreisträger James M. Buchanan ist. Darüber hinaus erinnert vieles in seiner Argumentationsweise an das Wahlprogramm und die Grundeinstellungen von Ronald Reagan, dem das Buch The Wayward Welfare Suite auch gewidmet ist, sowie an manche Aussage anderer republikanischer Politiker, die die Rückbesinnung auf die traditionellen amerikanischen Prinzipien fordern. Freeman, der sich als Amerikaner versteht (vgl. King 1978), hatte nach seiner Emigration die Möglichkeiten, wie sie wohl nur die USA Mitte unseres Jahrhunderts bieten konnten, in positiver Weise erfahren und nutzen können. Hieraus läßt sich mit Sicherheit die kritische Einstellung gegenüber dem amerikanischen Wohlfahrtssystem erklären. Aus europäischer Sichtweise jedoch sind viele der getroffenen Schlußfolgerungen zu kritisieren. Die 1980er Jahre haben teilweise die von Freeman geforderte Umstrukturierung des Wohlfahrtswesens gebracht, inwieweit diese aber die Probleme der Vereinigten Staaten gelöst

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Freudenberger, Hermann hat, bleibt fraglich. Erinnert sei nur an das sog. 'Beschäftigungswunder*, das vor allem aus der Schaffung schlecht bezahlter Dienstleistungsjobs bestand. Die soziale Spaltung der Gesellschaft scheint sich verschärft zu haben. Festzuhalten bleibt, daß die Emigration intensiv auf Freeman gewirkt hat und ihn geradezu 'amerikanisiert' zu haben scheint. Gleichzeitig hat sein Verständnis des Phänomens USA starken Einfluß auf die Analyse und Beurteilung sowie die Gestaltung realer amerikanischer Wirtschaftspolitik genommen, an der er lange Zeit aktiv beteiligt war. Schriften in Auswahl: (1958) School Needs in the Decade Ahead, Washington, D.C. (1960) Taxes for Schools, Washington, D.C. (= The Institute for Social Science Research. Financing the Public Schools, Bd. 2). (1965) Crisis in College Finance? Time for New Solutions, Washington, D.C. (1973) Tax Loopholes. The Legend and the Reality, Washington, D.C. (1975) The Growth of American Government. A Morphology of the Welfare State, Stanford. (1981) The Wayward Welfare State, Stanford. (1982) Soziale Sicherheit im defekten Wohlfahrtsstaat, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Bd. 31, S. 97-109 (übersetzt aus dem Englischen von Dr. H. Hoffmann). Bibliograhie: King, P.H. (1978): The Liberal Success Story of a Conservative Man, in: San Francisco Examiner, 18. Juli. Quellen: Β Hb II; AEA; Who's Who in America. Stephan Seiter

Freudenberger, Hermann, geb.

14.4.1922 in

Eberbach/Baden Noch als Schüler emigrierte Freudenberger im Dezember 1934 in die USA, wo er von einer amerikanischen Pflegefamilie aufgenommen wurde. Nach seiner Schulausbildung arbeitete Freudenberger zunächst in Übergangstätigkeiten, bevor er von 1942 bis 1946 in der amerikanischen Armee in Europa diente. Nach Abschluß seiner militäri-

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schen Verpflichtungen war er wieder in der Industrie tätig, um ab 1949 endgültig eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Er schrieb sich zunächst an der Columbia University in New York ein. Zügig graduierte er 1950 zum Bachelor of Science und 1951 zum Master of Arts. Ein Doktorstudium mit einem wirtschaftsgeschichtlichen Schwerpunkt Schloß sich direkt an. Vor seiner Promotion bei David Landes im Jahre 1957, ebenfalls an der Columbia University, verbrachte Freudenberger die akademischen Jahre 1953 bis 1955 als Fulbright Scholar in Wien an der dortigen Universität. 1955/56 unterrichtete er an der School of Insurance in New York und 1956 bis 1960 am Brooklyn College (City University of New York). Gleichzeitig hatte er 1958/59 auch einen Lehrauftrag an der Rutgers University, New Jersey. Sein nächster Schritt führte ihn nach Missoula an die Montana State University. Dort war er von 1960 bis 1962 als Associate Professor of History tätig. Ab 1962 setzte Freudenberger seine Laufbahn in New Orleans fort; zunächst als Associate Professor, ab 1966 als Full Professor lehrte und forschte er an der Tulane University. Immer wieder unterbrochen von Forschungsaufenthalten in Europa ist er dieser traditionsreichen Universität bis heute treu geblieben. In seiner Dissertation (1957) beschäftigte sich Freudenberger mit dem Versuch der Habsburger Monarchie, im 18. Jahrhundert eine tragfähige industrielle Basis in Mitteleuropa zu schaffen. Von diesem wirtschaftshistorischen Thema ausgehend umspannt das wissenschaftliche Werk Freudenbergers weitere wirtschaftsgeschichtliche Betrachtungen sowie zahlreiche historische Industriestudien mit einem geographischen Schwerpunkt in West- und Mitteleuropa. Eines seiner frühen Hauptwerke (1963) thematisiert zum Beispiel den Produktionsprozeß in einer Wollspinnerei im 18. Jahrhundert in Böhmen. Er analysierte dabei im Detail die Investitionsentscheidungen der Wollspinnerei, deren Marketingkonzept und ihre Beziehung zu den Arbeitern. Darüber hinaus untersuchte er die unternehmerische Reaktion auf zunehmende ausländische Konkurrenz und die besondere Rolle des Adels bei der Untemehmensführung und in der Wirtschaftspolitik im allgemeinen. Auch in seinem zweiten Hauptwerk (1975) widmete sich Freudenberger als Co-Autor einer verwandten Fragestellung. Am Beispiel von Brünn diskutiert er den Aufstieg einer Provinzstadt zur Industrieregion. Das Hauptaugenmerk

Freund, Rudolf Ε. liegt dabei auf der Rolle des Staates fur eine solche Entwicklung und wie wirtschaftspolitische Maßnahmen und Konzepte das ökonomische Bild einer Region nachhaltig (und vorteilhaft) prägen können. Neben den angesprochenen Monographien war Hermann Freudenberger auch ein reger Autor für Sammelbände und wissenschaftliche Zeitschriften. Immer mit dem Blick für die wirtschaftsgeschichtliche Ehmension reichen die von ihm bearbeiteten Themen von der erwähnten Industrialisierung Mitteleuropas im 18. Jahrhundert (1960) über die Rolle des Unternehmers und der Arbeiter (1974) bis hin zu Fragen des Technologietransfers und der Rolle des Staates in der Struktur- bzw. Entwicklungspolitik (1967). Das umfassende wissenschaftliche Werk Freudenbergers ist geprägt von der Einsicht, daß ökonomische Entwicklungen unmöglich getrennt von ihren historischen Komponenten betrachtet werden können. Dazu gehört seiner Ansicht nach vor allem das soziale Umfeld der wirtschaftlichen Akteure sowohl auf Seiten der Unternehmer und der Arbeiter wie auf Seiten der staatlichen Entscheidungsträger. Diese Perspektive wirkt um so moderner, je mehr man das gestiegene Interesse der modernen Ökonomie an wirtschaftsgeschichtlichen Themen im Lichte der 'Neuen InstitutionenÖkonomik' berücksichtigt. Man wird Freudenberger sicher nicht als Wegbereiter oder exponierten Vertreter dieser Forschungsrichtung ausmachen, aber bereits in seinen frühen Werken finden sich Ansatzpunkte, die in den letzten Jahren an Aktualität eher gewonnen, denn verloren haben. Schriften in Auswahl: (1957) A Case Study in the Government's Role in Economic Development in the Eighteenth Century, Diss., Columbia University, New York. (1960) The Woolen Goods Industry of the Habsburg Monarchy in the Eighteenth Century, in: Journal of Economic History, Bd. 20, S. 383-408. (1963) The Wadstein Woolen Mill, Boston. (1967) State Intervention as an Obstacle to Economic Growth in the Habsburg Monarchy, in: Journal of Economic History, Bd. 27, S. 493-509. (1974) Unternehmer in der Industrialisierung, in: Beiträge zur Historischen Sozialkunde, Bd. 4, S. 12-15.

(1975)

(1977)

(1983)

(1992)

Von der Provinzstadt zur Industrieregion. Ein Beitrag zur Politökonomie der Sozialinnovation, dargestellt am Innovationsschub der industriellen Revolution im Räume Brünn (zus. mit G. Mensch), Göttingen. The Industrialization of a Central European City. Brno and the Fine Wooden Industry in the 18th Century, Edington. On the Rational Origins of the Modem Centralized State (zus. mit R.W. Batchelder), in: Explorations in Economic History, Bd. 20, S. 1-13. A Peculiar Sample: The Selection of Slaves for the New Orleans Market (zus. mit J.B. Pritchett), in: Journal of Economic History, Bd. 52, S. 109127.

Quellen: Β Hb Π; AEA. Rolf Daxhammer

Freund, Rudolf E., geb. 21.5.1901 in Pforzheim, gest. 1955 in Raleigh, North Carolina Freund promovierte 1924 bei Edgar Salin in Heidelberg mit einer Arbeit Uber die 'Genfer Protokolle'. Von 1926 bis 1929 und von 1931 bis 1933 war er Assistent am Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. In der von - J. Hirsch 1925, S. 164). Doch schon bald nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sprach man in Deutschland in verschiedener Hinsicht von der „Krisis der Sozialpolitik" (u.a. -» G. Briefs 1924). Das alte Wunschbild vom gnädigen Herrscher, vom 'Vater Staat', dem das Wohlergehen seiner Untertanen am Herzen liegt, zerbrach mit der Monarchie. Und in der jungen Weimarer Republik diskutierten Sozialisten, Liberale und Konservative nun äußerst kontrovers über Sinn und Unsinn sozialpolitischer Maßnahmen. Überdies schwand das Interesse an sozialpolitischen Themen merklich, als nach 1918 der nationalökonomische Historismus immer mehr von der neoklassischen bzw. liberalen Lehre verdrängt wurde. Ferner verstärkten sich die Zweifel, ob sozialpolitische Maximen überhaupt wissenschaftlich begründbar sind. Dies war dem zunehmenden Einfluß der Ansichten Max Webers zuzuschreiben, der schon 1904 gefordert hatte, strikt zwischen sozialwissenschaftlicher Tatsachenerkenntnis und sozialpolitischen Werturteilen zu unterscheiden. Auch Heimann schaltete sich in die anhaltende Debatte über die vermeintliche Krise der Sozialpolitik ein. Anfangs verteidigte er (u.a. 1924a; 1924b; 1926b) die überkommene Lehre, das Ziel der Sozialpolitik darin zu sehen, die Verteilungsergebnisse des Marktes nachträglich zu korrigieren, um Sozialrevolutionären Tendenzen, die die Stabilität von Staat und Gesellschaft gefährden könnten, den Nährboden zu entziehen. Allmählich wandelte sich indes seine Einstellung zur Rolle der Sozialpolitik in der modernen Wirtschaftsgesellschaft. Er wollte der Sozialpolitik nun eine (neue) wissenschaftliche Basis geben und sie dadurch aus der Krise fuhren. Dabei entschied er sich für einen historisch weit ausholenden gesell-

schaftstheoretischen Ansatz, den er in seinem Hauptwerk (1929) zur Theorie der Sozialpolitik ausarbeitete und fast beschwörend vortrug. In der Sache hatte sich Heimann viel vorgenommen, nämlich „den sozialen Weg des Kapitalismus auf deutschem Boden zu beschreiben" (1929, S. 9), mehr noch, das „Wesen der Sozialpolitik" mit Hilfe einer „sozialen Theorie des Kapitalismus" zu entschlüsseln. Das extrem liberalistische Argument, die Sozialpolitik sei ein systemfremdes und daher störendes Element in einer freien Marktund Wettbewerbswirtschaft, versuchte er mit der überraschenden Hypothese zu entkräften, daß die Sozialpolitik selbst ein legitimes Kind des (ökonomischen) Liberalismus sei. Heimann (1929, S. 36ff.) sah die „große sozialpolitische Leistung des Liberalismus", der die eigentumslosen Menschen aus der feudalistischen Knechtschaft befreit habe, in der „Übereignung des Arbeitsvermögens an die Arbeiter". Die dergestalt erworbenen Besitz- und Freiheitsrechte seien jedoch nur im frühen (liberalen) Kapitalismus gesichert gewesen, solange eine „kleinbetriebliche Demokratie" bestand, „die jeden tüchtigen Mann zu seinem eigenen Herrn macht ..." und alle den anonymen Marktgesetzen gleichermaßen unterwirft. Dies gelte jedoch nicht mehr in der „großbetrieblichen Herrschaftsorganisation" des Hochkapitalismus (ebd., S. 4Iff.). Das Individuum verliere seine ökonomische Freiheit wieder und gerate aufs neue in soziale Abhängigkeit und Not. Die liberalistische Hoffnung, daß sich diese 'soziale Frage' in einer dauerhaft wachsenden Wirtschaft gar nicht mehr stellen wild bzw. durch systeminterne Korrekturen der Einkommens- und Vermögensverteilung jederzeit beherrschbar bleibt, verkenne - so Heimann - das eigentliche Problem. Eine solche Erwartung impliziere nämlich eine „materialistische Verfälschung des Lebens zu einer bloßen Güterfrage" (ebd., S. 45; s. auch S. 208ff.) und beschränke damit die Sozialpolitik auf einen quantitativ-ökonomischen Zweck. Diesem traditionellen Verständnis von Sozialpolitik stellte Heimann seine Auffassung vom „dynamisch-geistigen Wesen" der Sozialpolitik entgegen. Sie sei als solches Teil einer „sozialen Bewegung", die sich das Ziel gesteckt habe, die in der „modernen Arbeitswelt" verlorengegangene „Freiheit und Würde der Arbeit" zurückzugewinnen, ohne jedoch die - wegen ihrer hohen Produktivität unbestreitbar vorteilhafteste - großbetriebliche Produktionsweise antasten zu wollen (ebd.,

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Heimann, Eduard S. 139ff.). Die Sozialpolitik müsse also systemstabilisierend und systemverändemd zugleich wirken. Er sprach daher vom „konservativ-revolutionären Doppelwesen", von der „dialektischen Paradoxic" der Sozialpolitik: „... sie baut den Kapitalismus stückweise ab und rettet dadurch seinen jeweils verbleibenden Rest; sie erreicht immer dann und nur dann einen Erfolg, wenn die Erfüllung einer sozialen Teilforderung zur produktionspolitischen Notwendigkeit wird" (ebd., S. 172; s. auch S. 190 und S. 214). Daraus folgte für ihn zwingend, daß Sozialpolitik mehr beinhalten muB als Armenfürsorge und Wohlfahrtspflege, als Umverteilung und soziale Sicherung, nämlich „Sozialisierung ... und zwar Sozialisiening von unten her, aus der Sphäre des einzelnen Arbeiters aufsteigend und allmählich bis in das Herz der Eigentumsfrage vorstoßend ..." (ebd., S. 296; s. auch 5. Abschn.). Seinem dialektischen Ansatz entsprechend, ordnete er (ebd., 4. Abschn.) die sozialpolitischen Maßnahmen danach, ob sie den Wirtschaftsverlauf sichern (z.B. durch Arbeiterschutz und Arbeitswissenschaft), ihn zugunsten der Arbeitnehmer verändern (durch Lohnerhöhungen, Arbeitslosenunterstützung, Schlichtungswesen, Arbeitsvermittlung) oder ihn in seiner ökonomischen Effizienz beeinträchtigen (vor allem durch die gesetzliche Verankerung von Betriebsräten und Gewerkschaften). Während sich die Sozialpolitik im ersten Fall bereits aus den rein wirtschaftlichen Erfordernissen der industriellen Produktionsweise selbst rechtfertige, sei sie in den beiden anderen Fällen „der institutionelle Niederschlag der sozialen Idee im Kapitalismus und gegen den Kapitalismus" und damit eine „Methode der Sozialisierung" zur Wiedergewinnung bzw. Schaffung einer „sozialen Freiheitsordnung, welche die arbeitenden Menschen umfassen und tragen soll" (ebd., S. 290). Eine wirkliche Bewährungsprobe blieb Heimanns sozialpolitischer Philosophie verwehrt. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde sie obsolet - wie alle Ideen, die diesem Regime nicht paßten. Und nach 1945 ist die sozialpolitische Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland - theoretisch wie praktisch - in Bahnen verlaufen (vgl. Schilcher 1964), die von Heimanns Vorstellungen weit entfernt waren. Eduard Heimann wirkt heute wie eine tragische Figur der Geistesgeschichte dieses Jahrhunderts. Zu seiner Zeit war er - mal diesseits, mal jenseits des Atlantiks - ein bekannter und angesehener

248

Gelehrter und Professor. Sein Wirken war von hohen moralischen Ansprüchen bestimmt, sein Denken tiefgründig und anregend, seine Haltung immer aufrecht und offen. Dennoch hat man diese beeindruckende Persönlichkeit und ihr umfangreiches Werk in unserer Zeit schnell vergessen, sogar in jenen Kreisen, in denen sich Heimann durch seine Arbeit einen unverwechselbaren Namen gemacht hatte - in Wissenschaft, Religion und Politik. Und dies gilt nicht nur fur den deutschen Sprachraum, von dem er mehr als zwölf lange Jahre abgeschnitten war. Auch in den USA scheinen sich seine Spuren schnell verwischt zu haben. Obwohl er die Volkswirtschaftslehre durch viele Beiträge bereichert hat, wird er von seinen Fachgenossen kaum noch zitiert und in der dogmengeschichtlichen Literatur auffällig vernachlässigt. Obwohl er mit und neben Paul Tillich sehr viel dafür getan hat, der evangelischen Theologie die Welt der Sozialwissenschaften zu erschließen, nimmt heutzutage weder die Kirche noch die Religionswissenschaft groß Notiz davon. Und obwohl Heimann über ein halbes Jahrhundert zu den gescheitesten Vordenkern eines freiheitlich-demokratischen Sozialismus gehörte, wird seine Leistung von der gegenwärtigen Sozialdemokratie gar nicht oder nur halbherzig gewürdigt. Für dieses Vergessen bzw. Verdrängen scheint es mehrere Gründe zu geben, die entweder mit allgemeinen Zeiterscheinungen oder mit Heimann selbst zu tun haben: (1) In einer Epoche, in der so gut wie alle sozialistischen Experimente gescheitert sind, während gleichzeitig kapitalistische Systeme anhaltend erfolgreich waren, interessiert man sich zwangsläufig auch weniger für die Entwürfe von Mischordnungen, vor allem dann, wenn sie - wie bei Heimann - eine stärkere Auslenkung zur sozialistischen Seite hin haben. Der dauerhaften Rezeption Heimannscher Ideen hinderlich waren und sind außerdem das unzeitgemäße Pathos mancher seiner Texte sowie die Tatsache, daß sein fester Glaube an die Besserungsfahigkeit des Menschen mehr denn je für naiv gehalten wird. (2) Aus Sicht der modernen Wirtschaftswissenschaft ist Heimann nicht zuletzt deshalb ein Außenseiter geblieben, weil er ökonomische Probleme vorwiegend mit „deutschen Denkmitteln" traktierte. Daran hatte sich bei ihm auch dann kaum etwas geändert, als er im amerikanischen Exil viele Jahre gerade in jenem intellektuellen Klima lebte (vgl. auch 1939), das den damaligen wie heutigen Hauptstrom des ökonomi-

Heimann, Eduard sehen Denkens in seinen Zielen, Leitbildern und Methoden stark geprägt hat. (3) Im Unterschied zu Adolf Löwe und Alexander Rüstow hat sich Heimann nie ganz der geistigen Vormundschaft Paul Tillichs entziehen können oder wollen. Er hielt seinen großen Lehrmeister für ein Genie und bewunderte bis zuletzt dessen „mächtige Gedankenarbeit", die zu bewahren er für seine Freundesund Dankespflicht hielt. So spielte er weiter die Rolle des „Petrus", die ihm Tillich schon früh zu Zeiten des Kairos-Kreises zugedacht hatte (vgl. Rathmann 1983, S. 168, auch 1988, S. 123). Er verlor dadurch möglicherweise den Blick für alternative Ansätze, die ebenfalls Religion und Gesellschaft oder Religion und Wirtschaft aufeinander zu beziehen suchten. Von daher fällt auf, dafi Heimann in seinem Spätweik auf entsprechende Vorstellungen, beispielsweise der Freiburger Eukken-Schule, kaum reagiert und sich damit von einem Diskurs selbst ausgeschlossen hat, der für die politische und wirtschaftliche Neuordnung Westdeutschlands nach 1945 von großer Bedeutung war. Dies alles vermag seine bleibende Leistung nicht zu schmälern. Unter den deutschen sozialistischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts ist Heimann vielleicht neben Franz Oppenheimer, Adolf Löwe und Carl Landauer - der Ökonom, der am fruchtbarsten soziologisches und wirtschaftstheoretisches Gedankengut miteinander zu verknüpfen wußte. Und seine Vision von einem religiösen Sozialismus wird - auch wenn sie sich endgültig als Utopie erweisen sollte - für alle Zeit zum notwendigen Ideenvorrat abendländischen Denkens gehören, denn wie die Erfahrung lehrt, erlahmt der Forschungsgeist schnell, wenn es ihm an farbkräftigen Gegenbildem mangelt. Schriften in Auswahl: (1913) Zur Kritik der Sozial-Methode, Tübingen (Diss.). (1916) Vom neuen Wirtschaftsgeist, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 41, S. 758-768. (1921) Stimmen von der Hannoverschen Tagung. [Heimanns] Rede am 13.9.1921, in: Blätter für religiösen Sozialismus, 2. Jahr, Nr. 11/12, S. 41-48. (1922) Mehrwert und Gemeinwirtschaft. Kritische und positive Beiträge zur Theorie des Sozialismus, Berlin.

(1924a)

Marktwirtschaft, Klassengesellschaft und Sozialpolitik. Über die wissenschaftliche Grundlegung der Sozialpolitik und ihr Schrifttum, in: Kölner Sozialpolitische Vierteljahresschrift, 3. Jg., Heft 2, S. 45-71.

(1924b)

Entwicklungsgang der wirtschaftsund sozialpolitischen Systeme und Ideale, Π. Die jüngste Entwicklung, in: GrundriB der Sozialökonomik, I. Abteilung, I. Teil, 2. Aufl., Tübingen, S. 184-201. Zur Kritik des Kapitalismus und der Nationalökonomie, in: Blätter für religiösen Sozialismus, 7. Jahr, Jan./ Febr., S. 5-23. Sozialismus und Sozialpolitik. Ökonomische und philosophische Betrachtungen über die Beziehungen zwischen ihnen (Antrittsvorlesung an der Hamburgischen Universität am 7. Juli 1925), in: Tillich, P. (Hrsg.): Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswendung, Darmstadt, S. 289-310.

(1926a)

(1926b)

(1929)

(1931 a)

(1931b)

(1932a)

(1932b)

(1932/48)

(1939)

Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik, Tübingen; zit. nach der unveränderten Neuaufl., Frankfurt a.M. 1980. Kapitalismus und Sozialismus. Reden und Aufsätze zur Wirtschafts- und Geisteslage, Potsdam. Grundlagen und Grenzen der Sozialpolitik, in: Boese, F. (Hrsg.): Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik in Königsberg 1930 (= Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 182), München/Leipzig, S. 58-83. Sozialismus und Eigentum, in: Neuwerk. Ein Dienst am Werdenden, 14. Jg., S. 99-102. Sozialismus, Kommunismus und Demokratie, in: Neue Blätter für den Sozialismus, 3. Jg., S. 622-625. Sozialistische Wirtschafts- und Arbeitsordnung, Potsdam; Neuaufl., Offenbach a.M. The Refugee Speaks, in: The Annais of The American Academy of Political and Social Science, Bd. 203, S. 106-113.

249

Heimann, Eduard (1945)

History of Economic Doctrines. An Introduction to Economic Theory, London u.a. (dt. Übers.: Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen. Eine Einführung in die nationalökonomische Theorie, Frankfurt a.M. 1949).

(1954)

Wirtschaftssysteme und Gesellschaftssysteme, Tübingen. Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme, Tübingen. Soziale Ideologien und soziale Reform, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 16. Jahr, S. 334-342. Sozialismus im Wandel der modernen Gesellschaft. Aufsätze zur Theorie und Praxis des Sozialismus. Ein Erinnerungsband. Herausgegeben und eingeleitet von H.-D. Ortlieb, Berlin/Bonn-Bad Godesberg [enth. Auswahlbibliographie].

(1963) (1971)

(1975)

Bibliographie: Borchardt, K./Schötz, H.O. (Hrsg.) (1991): Wirtschaftspolitik in der Krise. Die (Geheim-) Konferenz der Friedrich List-Gesellschaft im September 1931 über Möglichkeiten und Folgen einer Kreditausweitung, Baden-Baden. Bottin, A. (1991): Enge Zeit. Spuren Vertriebener und Verfolgter der Hamburger Universität. [Katalog zur Ausstellung] Im Auditorium Maximum, Von-Melle-Park, 23. Februar-4. April 1991, Hamburg. Briefs, G. (1924): Zur Krisis der Sozialpolitik, in: Kölner Sozialpolitische Vierteljahresschrift, 3. Jg., Heft 1,S. 5-16. Gollnick, H. (1968): Eduard Heimann - in memoriam, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik, 13. Jahr, Tübingen, S. 247-249. Heyder, U. (1977): Der sozialwissenschaftliche Systemversuch Eduard Heimanns. Darstellung und Kritik der Möglichkeit einer einheitlichen Theorie der modernen Wirtschafts- und Sozialsysteme, Hamburger Diss., Frankfurt am Main et al. [enth. vollständige Bibliographie]. Hilger, M.-E. (1991): Das Sozialökonomische Seminar (SÖS), in: Krause, E./Huber, L./Fischer, H. (Hrsg.): Hochschulalltag im „Dritten Reich". Die Hamburger Universität 1933-1945, Teil II: Philo-

250

sophische Fakultät, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Berlin/Hamburg, S. 953-979. Hirsch, J. (1925): Deutsche Wirtschaftswissenschaft und -Praxis im letzten Menschenalter, in: Bonn, M.jyPalyi, M. (Hrsg.): Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege. Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag, 2. Bd.: Der Stand der Forschung, München/Leipzig, S. 147-197. Kodalle, K.-M. (1975): Politische Solidarität und ökonomisches Interesse. Der Begriff des Sozialismus nach Eduard Heimann, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Β 26Π5,28. Juni, S. 3-32. Ladwig, B. (1991): Eduard Heimann: Nationalökonom und religiöser Sozialist (1912-1933), unveröffentlichte Diplomarbeit, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Hamburg [enth. umfassende Bibliographie und ein Interview mit H.-D. Ortlieb über Heimann]. Landauer, C. (1967): Das Eindringen marktwirtschaftlicher Vorstellungen in die sozialistische Ideenwelt, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 12. Jahr, Tübingen, S. 142-159. Lowe, A. (1967): In Memoriam: Eduard Heimann, 1889-1967, in: Social Research, Bd. 34, S. 609-612; dt. Übers.: Nachruf für Eduard Heimann, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 124, 1968, S. 209-211. Ortlieb, H.-D. (Hrsg.) (1959): Zur Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Festausgabe für Eduard Heimann zum 70. Geburtstage (= Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 4. Jahr, Tübingen [enth. Bibliographie]). Ortlieb, H.-D. (1968/75): Eduard Heimann. Sozialökonom, Sozialist und Christ, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 13. Jahr, Tübingen, S. 250-266; kaum verändert wiederabgedruckt in: Heimann 1975, S. 1-20. Rathmann, A. (1983): Ein Arbeiterleben. Erinnerungen an Weimar und danach, Wuppertal. Rathmann, A. (1988): Eduard Heimann (18891967). Von Marx und seiner „überwältigend großartigen" Lehre zum religiös-freiheitlichen Sozialismus, in: Lösche, P. et al. (Hrsg.): Vor dem Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten, Berlin, S. 121-144. Schilcher, R. (1964): Sozialpolitik als Wirtschaftspolitik, in: Triebenstein, O. (Hrsg.): Sozialökonomie in politischer Verantwortung. Festschrift für Joachim Tiburtius, Berlin, S. 195-211.

Helleiner, Gerald Karl Tillich, P. (1922): Kairos, in: Die Tat, 14. Jg., Sonderheft über religiösen Sozialismus, S. SSOSSO. Tillich, P. (1923): Grundlinien des Religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf, in: Blätter für religiösen Sozialismus, 4. Jahr, Nr. 8/10, S. 124. Quellen: Β Hb Π; ISL (1980); HLdWiWi 1929. Heinz Rieter

Helleiner, Gerald Karl, geb. 9.10.1936 in St. Pölten Nach der Entlassung des Vaters Karl Ferdinand Helleiner aus seiner Stellung als Stadtarchivar 1938 reiste die Familie im folgenden Jahr über Großbritannien nach Kanada aus. Helleiner studierte zunächst an der University of Toronto, danach an der Yale University, wo er 1962 von R. Triffin mit der Albeit Connections Between United States' and Canadian Capital Markets, 19521960 promovielt wurde. In der behandelten Thematik zeichneten sich bereits seine Interessen auf dem Gebiet der internationalen Wirtschaftsbeziehungen ab. Die stärkere Berücksichtigung von Entwicklungsländerfragen in seine Arbeiten erfolgte kurz darauf unter dem Einfluß seiner Forschungsaufenthalte an der University of Ibadan in Nigeria von 1962 bis 1963 und am University College in Dar es Salaam in Tansania von 1966 bis 1968. Aus dieser Beschäftigung mit den wirtschaftlichen Problemen Zentralafrikas heraus entstand u.a. sein im Economic Journal (1964) publizierter Aufsatz über die umstrittenen staatlichen Marketing Boards als Zwischenhändler bei Agrarexporten. Den auch in der von Internationalem Währungsfonds (IMF) und Weltbank geführten Strukturanpassungsdiskussion der achtziger und frühen neunziger Jahre wieder verstärkt hervorgehobenen, aus steuerlichen Verzerrungen resultierenden negativen Allokationseffekten der Vermarktungsgesellschaften stellte Helleiner eine redistributive und eine externe Effekte intemalisierende Wirkung gegenüber. Er argumentierte, daß die Marketing Boards zum einen über die implizite, höhere Besteuerung der tendenziell reicheren Hersteller von Agrarexportprodukten - im Vergleich zu Produzenten von Agrargütern für den inländischen Markt - eine Einkommensumverteilung ermöglichen. Zum anderen kann der Staat über die

Steuererhebung die nicht Wachstums- und entwicklungsfördemde 'Verschwendung* dieser höheren privaten Einkommen, die z.B. in Form von Geldhortung und durch den Konsum importierter Produkte auftritt, verhindern und einen Teil dieser Einkommen fur die Bereitstellung öffentlicher Güter verwenden (vgl. 1964, S. 601ff.). Seit 1971 ist Helleiner Professor am Department of Economics der University of Toronto, wo er bereits von 196S an - parallel zu seinem Afrikaaufenthalt - eine Stelle als Associate Professor inne gehabt hatte. Mit der Rückkehr nach Kanada richtete sich sein Forschungsinteresse verstärkt auf den Zusammenhang zwischen internationalen Wirtschaftsbeziehungen, Entwicklung in der sog. Dritten Welt und multinationalen Unternehmen. Er wies unter dem Eindruck des mit Beginn der 1970er Jahre steigenden Anteils der Fertigprodukte an den Exporten der Entwicklungsländer auf die Notwendigkeit hin, die aus der Ansiedlung weltweit operierender Unternehmen resultierenden potentiellen Nutzen und Kosten für diese Länder gegeneinander abzuwägen, (vgl. 1973, S. 46; 1989, S. 1454ff.). Im darauffolgenden Jahrzehnt stieg infolge der Schuldenkrise die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit multinationalen Unternehmen, da die Entwicklungsländer ihren Kreditbedarf durch die Erhöhung des ausländischen Beteiligungskapitals reduzieren konnten. Hierin sah Helleiner eine Erweiterung der Funktion transnationaler Unternehmen: sie dienten auch als Finanzintermediäre zwischen dem 'nervösen' internationalen Bankensystem und der Dritten Welt (vgl. 1989, S. 1449f.). Die genaue Analyse der Rolle multinationaler Unternehmen im Entwicklungsprozeß sollte in seiner Sichtweise jedoch nicht allein in einem modelltheoretischen Kontext, sondern verstärkt auf der Grundlage von Länderstudien erfolgen. Er teilte dabei nicht den Standpunkt der Neomarxisten und der Dependenztheorie, daß diese Unternehmen nahezu ausschließlich negative entwicklungspolitische Effekte zeitigten (vgl. 1989, S. 1453). Allerdings erachtete auch er die Berücksichtigung der politischen Dimension, d.h. der Beziehungen zwischen den ausländischen Firmen, den Regierungen und den Interessengruppen für unabdingbar im Rahmen einer umfassenden Wirkungsanalyse (vgl. 1989, S. 1474f.). Im Zuge der sich in den achtziger Jahren verschärfenden Schuldenkrise der Entwicklungsländer setzte sich Helleiner frühzeitig kritisch mit den Kreditvergabekonditionen des IMF auseinan-

251

Herberts, John Η. der (vgl. 1983, S. 352f.). Neben der Abkehr von einer kurzfristig auf Zahlungsbilanzausgleich ausgerichteten Politik des IMF, die den Ländern Mittel- und Südamerikas sowie Afrikas die langfristigen Entwicklungsmöglichkeiten nimmt (vgl. 1991, S. 706), forderte er von der Weltbank ein Überdenken der 'harten' Strukturanpassungsprogramme, die nicht an die ökonomischen und politischen Gegebenheiten in den jeweiligen Kreditempfängerländern angepaßt sind (vgl. 1991, S. 731). Denn bereits 1986 hatte Helleiner in The Question of Conditionality darauf hingewiesen, daB die 'Anpassungskapazität', die er gerade bei afrikanischen Volkswirtschaften ökonomisch und institutionell bedingt als gering einschätzte, im Rahmen dieser Programme berücksichtigt werden muß (vgl. auch Tetzlaff 1993, S. 430f.). In einer Bestandsaufnahme der Nord-Siid-Beziehungen (1993), dreizehn Jahre nach dem AbschluBbericht der Brandt-Kommission, für die er als Berater tätig gewesen war, plädierte Helleiner für eine Reform und Demokratisierung von IMF und Weltbank, die stärkere Einbeziehung regionaler Entwicklungsbanken sowie die Berücksichtigung ökologischer Probleme, um die Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft langfristig zu bewältigen (vgl. 1993, S. 199f.). In Anlehnung an -» E.F. Schumacher charakterisierte er seine wissenschaftliche Arbeit, für die er 1988 ein Ehrendoktorat der Dalhousie University erhielt, somit treffend als „international economics as if the developing countries mattered" (1990, S. 3). Schriften in Auswahl: (1962) Connection between United States' and Canadian Capital Markets, 1952 - 1960, in: Yale Economic Essays, Bd. 2, S. 350-400 (Diss.). (1964) The Fiscal Role of Marketing Boards in Nigerian Economic Development, 1947-61, in: The Economic Journal, Bd. 74, S. 582-610. (1973) Manufactured Exports from Less Developed Countries and Multinational Firms, in: The Economic Journal, Bd. 83, S. 21-47. (1983) Lender of Early Ressort. The IMF and the Poorest, in: American Economic Review, Bd. 73 (2), S. 349-353. (1989) Transnational Corporations, Foreign Direct Investment and Economic Development, in: Chenery, H.B./Srini-

252

(1990)

(1991)

(1993)

vasan, T.N. (Hrsg.): Handbook of Development Economics, Bd. 2. Amsterdam u.a., S. 1441-1480. The New Global Economy and the Developing Countries. Essays in International Economics and Development, Aldershot. Growth-Oriented Adjustment Lending. A Critical Assessment of IMF/ World Bank Approaches, in: Singer, H.W. u.a. (Hrsg.): Aid and External Financing in the 1990s, Neu Delhi, S. 705-733. Nord-Süd-Fragen in den achtziger und neunziger Jahren. Reflexionen über den Brandt-Bericht, in: Wirtschaft und Gesellschaft, 19. Jg., S. 183-201.

Quellen: Β Hb II; Blaug; AEA. Hans Ulrich Eßlinger

Herberts, John H., geb. 31.5.1905 in

Bremen

Herberts promovierte im Juli 1933 bei Otto von Zwiedineck-Südenhorst an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Arbeit über Das internationale Lohngefälle und seine Bedeutung für die weltwirtschaftlichen Beziehungen. Theorie und Methode (1933). Im August wurde er aufgrund seiner „nicht-arischen" Abstammung aus seiner Assistententätigkeit in Kiel entlassen. Noch im selben Monat emigrierte er nach Frankreich, wo er fortan in Paris lebte. Versuche, mit Hilfe des Academic Assistance Councils in Großbritannien oder Australien eine akademische Anstellung zu finden, schlugen trotz Empfehlungsschreiben von -» Adolph Lowe und der Unterstützung von Professor J.L.K. Gifford von der Universität Brisbane fehl (vgl. Uhlig 1991). Seit Mai 1934 war Herberts als wissenschaftlicher Angestellter am Institut Scientifique de Recherches Economiques et Sociales in Paris tätig, das erst am 1. Oktober 1933 mit finanzieller Unterstützung der Rockefeller Foundation gegründet worden war und unter der Leitung des seinerzeit führenden französischen Finanzexperten Charles Rist (1874-1955) stand, der mit seiner Geschichte der Geld- und Kredittheorie (1938) auch international bekannt wurde. Herberts stellte die Forschungsarbeit dieses nach dem Tod von Rist aufgelösten Instituts in einem 1937 für das Weltwirt-

Hennberg, Paul schaftliche Archiv verfaßten Beitrag genau vor. Hierin verdeutlichte er, daß das kleine Pariser Institut mit einem Stab von nur drei ständigen wissenschaftlichen Mitarbeitern kein Konjunkturforschungsinstitut im eigentlichen Sinne darstellte, sondern „seine Bestimmung in der möglichst klaren Darstellung vorhandener statistischer Informationen, in der Erstellung neuer Daten und ihrer Verarbeitung zur Auffindung neuer Erkenntnisse" (1937, S. 202) sah. Eine besondere Spezialität des Instituts, das mit der Activite Economique auch eine Vierteljahresschrift zur aktuellen Wirtschaftsentwicklung herausgab, waren die graphischen Darstellungen, die auf umfassendem statistischen Material aufbauten, so u.a. zur Entwicklung der französischen Wirtschaft von 1910 bis 1934. Herberts selbst war an der Erstellung einer entsprechenden Mappe graphischer Darstellungen beteiligt, die auf 52 Tafeln mit Kommentaren die Entwicklung des internationalen Handels zwischen 1890 und 1938 nachzeichneten. Diese anscheinend kurz nach Kriegsausbruch abgeschlossene Studie konnte erst viele Jahre später erscheinen (1950). Die Spur von Herberts, der zuletzt den Vornamen Jean führte, verliert sich bei Beginn des Zweiten Weltkriegs in Paris. Schriften in Auswahl: (1933) Das internationale Lohngefälle und seine Bedeutung für die weltwirtschaftlichen Beziehungen. Theorie und Methode, Memmingen (Diss.). (1937) Das „Institut Scientifique de Recherches Economiques et Sociales", Paris, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 45, S. 200-202. (1950) Tableaux du Commerce International de 1890 ä 1938. Par Henri Bunle, Jean Herberts et Madeleine Lecler. Sous la direction de Charles Rist, 52 Pläne, lose in Mappe. Institut Scientifique de Recherches Economiques et Sociales, Paris, o.J. Bibliographie: Rist, C. (1938): Histoire des Doctrines relatives au Cridit et ä la Monnaie, Paris. Uhlig, R. (1991): Vertriebene Wissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) nach 1933, Frankfurt a.M. u.a. Quellen: SPSL 232/8; Uhlig. Harald Hagemann

Hermberg, Paul (Gustav August), geb. 16.3.1888 in Münsterdorf/Holstein, gest. 24.1.1969 in Berkeley/Kalifornien Der Sohn eines Pastors gehörte zu den intellektuellen Repräsentanten der zwanziger Jahne, dessen wissenschaftliches Interesse sich mit dem Engagement für die Arbeiterbildung im Kampf um die Weimarer Republik verband. Typisch fur seine Herkunft aus dem protestantischen Elternhaus ist, daß Hermberg nach dem Abitur 1907 zunächst Geschichte, Germanistik und Philosophie in München studierte. Doch nach seinem Wechsel an die Universität Kiel 1909 wandte er sich unter dem Einfluß von Ferdinand Tönnies und vor allem von Bernhard Harms den Wirtschaftswissenschaften sowie der Statisktik zu. Seine 1913 vorgelegte, von Tönnies betreute Dissertation Die Bevölkerung des Kirchspiels Münsterdorf spiegelte einerseits seine ursprünglichen historischen Interessen wider, andererseits erwarb er durch sie mit seinen quantitativen Messungen der beobachteten rhythmischen Schwankungen der Geburtenrate die ersten statistischen Kompetenzen. Im Oktober 1913 begann Hermberg als Assistent im kurz zuvor von Harms gegründeten Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr an der Universität Kiel. Nur wenige Monate später wurde er nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum Militärdienst eingezogen, aus dem er erst im April 1919 nach Heilung einer letzten Kriegsverwundung zurückkehrte. Als Leiter der Statistischen Abteilung des Kieler Instituts gab er fortan die quantitativen Übersichten für die dort erscheinenden Weltwirtschaftlichen Nachrichten heraus. Aus der Beschäftigung mit der Außenhandelsstatistik der Welthandelsländer entstand 1920 seine erste größere Studie Der Kampf um den Weltmarkt, mit der er sich 1921 in Kiel habilitierte. Mit seinen empirischen Kenntnissen und wegen seiner Erfahrungen in der Arbeiterbildung - seit 1910 hatte er Arbeiter-Unterrichtskurse geleitet und nach 1919 an der Volkshochschule in Kiel gelehrt - wurde Hermberg 1922 vom Preußischen Handelsminister zum Direktor der Staatlichen Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung in Berlin ernannt, in der vor allem Gewerkschafter praxisnah ausgebildet wurden. Ein Jahr später wechselte er in das Statistische Reichsamt, nachdem die Schule während der Hyperinflation ihren Betrieb hatte einstellen müssen. 1924 wurde er zum Leiter des Volksbildungsamtes in Leipzig beru-

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Hermberg, Paul fen, daneben erhielt er 1925 an der dortigen Universität eine nichtplanmäßige außerordentliche Professur. Nach kurzer Vertretung der Wirtschaftswissenschaften 1928/29 an der Universität Halle-Wittenberg bekam er den Ruf auf eine ordentliche Professur für Statistik an der thüringischen Landesuniversität Jena. In zahlreichen Schriften legte Hermberg seit Ende der zwanziger Jahre seine theoretischen Analysen zur Wirtschaftsstatistik und diverse quantitative Erhebungen zum neuen Forschungsfeld der Konjunkturbewegung, zur Produktions-, Preis- und Lohnentwicklung sowie zu den Lebenshaltungskosten vor. Diese empirischen Arbeiten bahnten neue Wege im Kanon der herrschenden praxisfernen ökonomischen Denkrichtungen, der Historischen Schule, die in ihrer auf die Nationalwirtschaft orientierten Makroperspektive die privaten Einzelwirtschaften und ihre Entscheidungen kaum in den Blick nahm, der reinen Theorie, wie sie damals von der Neoklassik vertreten wurde, und schließlich des sterilen Parteimarxismus in Teilen der Arbeiterbewegung und der mit ihr sympathisierenden Intellektuellen aus dem Bürgertum. Hennbergs Wissenschaftsverständnis Schloß ebenso die exakte Erfassung der Bildungsinteressen der Arbeiterschaft ein, die er als Leiter des Leipziger Volksbildungsamtes durchführte; in diesem Zusammenhang gab er nach 1930 die Schriften der Statistischen Zentralstelle fur die deutschen Volkshochschulen heraus. Ebenso trat er als Redner auf zahlreichen Gewerkschaftskongressen auf, wie er für diese Organisationen auch verschiedene Studien zu Ordnungsfiragen und über Verteilungsprobleme vorlegte. Schließlich wirkte er im sog. Enquete-Ausschuß der Reichsregierung als Sachverständiger für die deutsche Zahlungsbilanz mit. Seit Januar 1930 amtierte in Thüringen eine Landesregierung, an der zum ersten Mal im Deutschen Reich die NSDAP beteiligt war. Hatte sich Hermberg seit dieser Zeit den Pressionen des nationalsozialistischen Innen- und Volksbildungsministers Frick, aus der Sozialdemokratischen Partei auszutreten, noch widersetzen können, so änderte sich die Situation nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Im Juni 1933 ließ er sich auf eigenen Wunsch in den Ruhestand versetzen; von den Entlassungsgründen des sog. Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums war er als ehemaliger Frontkämpfer, der zudem den höchsten bayerischen Verdienstorden verliehen

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bekommen hatte, nicht betroffen. Da sein Leben nicht unmittelbar bedroht war und er zunächst wie viele andere auch - annahm, daß die NSHerrschaft nur von kurzer Dauer sein würde, blieb er einstweilen in Deutschland. Erst 1936 nahm er eine vom Academic Assistance Council in London vermittelte, zeitlich befristete Stellung als Wirtschaftsberater der kolumbianischen Regierung an. Zunächst im Agrarministerium und ab 1938 bei der Staatsbank in Bogoti aktualisierte er die Handelsstatistik und entwickelte einen nationalen Index für die Preise und Lebenshaltungskosten. Auf die Ergebnisse war Hermberg besonders stolz, weil die Arbeiten nur auf der Grundlage dürftiger Rohdaten und mit kaum geschulten Hilfskräften durchgeführt werden konnten. Einen Bericht über diese Tätigkeit und den Stand der kolumbianischen Statistik lieferte er 1941 fur das erste Handbuch des Inter-American Statistical Institute in Washington. Ein Freund und früherer Mitarbeiter im Leipziger Volksbildungsamt, inzwischen Professor an der deutschen Abteilung der Howard University in Washington, suchte Hermberg an diese Bildungseinrichtung für Afro-Amerikaner zu holen. Doch zuvor hatte er, vermittelt durch - Karl Brandt. Klatt heiratete 1935 Grete Buchholz, die bis zu Brandts Emigration 1933 dessen Assistentin war. In der von

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Brandt herausgegebenen Schriftenreihe des jungen, jedoch renommierten Instituts fur Landwirtschaftliche Marktforschung, das 1933 von den Nationalsozialisten aufgelöst wurde, veröffentlichte Klatt eine Studie über Die Verwertung der deutschen Rebenemten (1932), die weniger eine theoretische Abhandlung als eine empirisch und theoretisch unterfutterte Analyse der agrarischen und ökonomischen Probleme des Weinmarktes zur Zeit der Weimarer Republik mit populärwissenschaftlich gehaltenen Lösungsansätzen darstellt. Zwischen 1930 und 1939 war Klatt als Landwirtschaftsexperte für die IG Farben sowie als Dozent in der jüdischen Gemeinde Neuendorf bei Berlin tätig. Er war Mitglied in der Gewerkschaft und der SPD, darüber hinaus auch beim 'Wandervogel', der 'Akademischen Gilde' und bei 'Neu Beginnen'. Klatt emigrierte Anfang 1939 zunächst in die Schweiz, im Mai desselben Jahres weiter nach Großbritannien. Er wurde dort im Laufe des folgenden Jahres interniert. Bis 1946 war Klatt beim Political Intelligence Department des britischen AuBenministeriums beschäftigt. Danach war er bis 1951 Direktor der Lebensmittel- und Landwirtschaftsabteilung des Control Office in London. Von 1951 bis zu seinem Ruhestand 1966 war er wiederum als Wirtschaftsberater im Außenministerium tätig. Gleichzeitig beriet er auch das Internationale Arbeitsamt und die Food and Agricultural Organization (FAO) der UN. Klatt erhielt 1967 ein Rockefeller-Stipendium für Studien über die Wirtschaftsentwicklung in Asien. Er ist Mitglied des Royal Institute of International Affairs und Fellow am St. Antony's College in Oxford. In zahlreichen Artikeln beschäftigte sich Klatt bis in die 1980er Jahre mit der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Asiens und insbesondere Chinas. Auffallend ist sein großes soziales Engagement, mißt er doch den Erfolg wirtschaftsund entwicklungspolitischer Maßnahmen weniger an aggregierten Zahlen volkswirtschaftlichen Wachstums, sondern vielmehr an der Verbesserung der individuellen Lebensverhältnisse der Bevölkerung, die in den fünfziger und sechziger Jahren überwiegend in ländlich geprägten Regionen und von der Landwirtschaft lebte. Klatt betonte wiederholt, daß zwei Drittel bis drei Viertel der asiatischen Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiten (1956; 1963). Deshalb habe die Entwicklungspolitik in den Entwicklungsländern Asiens ihren Ausgangspunkt in der Verbes-

Klatt, Werner serung der Lage der Landbevölkerung zu nehmen. Technischem Fortschritt in der Landwirtschaft setzte er jedoch entgegen, daß dieser arbeitssparend sei, damit dörfliche Eliten begünstige und Landarbeiter und Kleinbauern benachteilige, deren zunehmende Erwerbslosigkeit nicht durch die Entwicklung von Konsum- und Investitionsgüterindustrien aufgefangen werden könne. Grundlage und Voraussetzung jeder Entwicklungspolitik müßten daher Landreformen sein, die die Intensivierung der Landwirtschaft förderten und die einseitige Abhängigkeit von traditionellen Hierarchien, exzessiven Zinssätzen und Grundrenten beseitigten. Klatt forderte solche Refomen und die Zerschlagung der traditionellen Ungleichverteilung vehement, ohne die einerseits alle Anstrengungen der Entwicklungspolitik scheiterten, andererseits die Bevölkerung radikalisieit werde und damit statt Reform, Kontinuität und Entwicklung vielmehr Umsturz und Chaos wahrscheinlich würden. Obwohl er vielen asiatischen Ländern ein Bemühen um solche Reformen der Besitzverhältnisse an Grund und Boden in den fünfziger bis siebziger Jahren attestierte, sah er deren Umsetzung durch herrschende Eliten, mangelndes BewuBtsein um diese Problematik und mangelnde Einbeziehung der Kleinbauern und Landarbeiter in den meisten Fällen als gescheitert an. Als positive Beispiele für einen wirtschaftlichen Aufstieg asiatischer Länder nach einer radikalen Neuordnung des Landbesitzes dienen ihm Japan, hier allerdings mit Hilfe einer fremden Siegermacht, Südkorea und Taiwan. Aufgrund der mangelnden theoretischen Fundierung von Klatts Thesen und der einseitigen Betonung agrarpolitischer Aspekte in der empirischen Betrachtung bleibt jedoch offen, inwiefern andere Aspekte der Wirtschafts- und Ordnungspolitik sowie die Dynamik des Industriesektors ebenfalls für die Divergenzen in der Entwicklung asiatischer Länder verantwortlich waren und sind. Klatts sozioökonomischer Ansatz geht davon aus, daß technische und wirtschaftliche Entwicklung nur dann stattfinden kann, wenn sie durch eine adäquate soziale Entwicklung begleitet wird: „Den um ihre Existenz ringenden Nationen wäre ein besserer Dienst erwiesen, wenn (...) technische Fortschritte im Rahmen wirtschaftlicher, sozialer und politischer Zusammenhänge gesehen würden" (1972, S. 42). Entspannung lokaler Konflikte in ländlichen Sozialgemeinschaften durch die Re-

form der Besitzverhältnisse sowie differenzierte Wahl produktivitätssteigender Maßnahmen sind für Klatt die wirtschaftspolitischen Grundlagen für eine nachhaltiges Wirtschaftswachstum mit sozialer Gerechtigkeit fur die Mehrheit der Bevölkerung. Während er in kapitalintensivierendem technischen Fortschritt in Form von landwirtschaftlichen Maschinen die Ursache für eine Freisetzung von Arbeitskräften sieht, fordert Klatt die Konzentration auf arbeitintensivierenden technischen Fortschritt in der Landwirtschaft, so z.B. durch verbessertes Saatgut, Düngung, adäquate Bewässerung und Erhöhung der Erntezahl pro Jahr, zur Absorption des Bevölkerungswachstums und als Grundlage für Ersparnisse im Agrarsektor für Investitionen in die Konsum- und Investitionsgüterindustrie.

Schriften in Auswahl: (1930) Die Milchversorgung Groß-Hamburgs, Dessau (Diss.). (1932) Die Verwertung der deutschen Rebenernten, Berlin. (1937) Struktur und Lage der japanischen Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft, Berlin (I.G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft, Volkswirtschaftliche Abteilung). (1950) Food and Farming in Germany. Past, Present and Future, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 64, S. 111158. (1956)

(1963)

(1965)

Ansatzpunkte einer Wirtschaftsentwicklung in Südostasien, in: Wirtschaftsdienst, Bd. 36, S. 276-279. Die Entwicklungshilfe in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West, in: Boettcher, E. (Hrsg.): Ostblock, EWG und Entwicklungsländer, Stuttgart, S. 145-166. The Chinese Model. A Political, Economic, and Social Survey, Hongkong.

(1972)

Konfliktherd Bodenbesitz: Grüne und rote Asien-Revolution, in: ChinaAnalysen, 11. Jg, S. 42-55.

(1973)

Agrarian Issues in Asia, in: Asian Economies, Bd. 4, S. 44-73.

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Knorr, Klaus Eugene (1979)

China's New Economic Policy, in: The China Quarterly, Bd. 80, S. 716733.

Quellen: Β Hb I. Bernhard Holwegler

Knorr, Klaus Eugene, geb.

16.5.1911 in Essen, gest. 25.3.1990 in Princeton, New Jersey

Knorr, dessen Vater Vorarbeiter in einer Maschinen^Werkstatt gewesen war, nahm 1930 das Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg auf, studierte dann fur einige Zeit in Wien und Paris und promovierte 1935 in Tübingen zum Dr. iur. Das anschließende Gerichtsreferendariat in Stuttgart brach er jedoch bereits 1936 ab und emigrierte aus politischen Gründen - er entstammte einem lutherischen Elternhaus - im darauffolgenden Jahr in die Vereinigten Staaten. An der University of Chicago Schloß er 1941 ein zweites, 1938 begonnenes Studium der Wirtschaftswissenschaften mit dem Ph.D. ab. Seine von J. Viner betreute Dissertationsschrift British Colonial Theories, 1570-1850 wurde 1944 veröffentlicht und mehrmals wiederabgedruckt. Von 1941 bis 1945 hatte Knorr an der Stanford University eine Stelle als Research Associate am dortigen Food Research Institute inne, erhielt jedoch bereits 1942 zusätzlich eine Associate Professorship in International Relations an der Yale University. Darüber hinaus war er Research Associate am dortigen Institute of International Studies. Als dieses Institut 1951 aufgelöst werden sollte, wechselte er zusammen mit fünf seiner Kollegen von Yale an das in jenem Jahr neu gegründete Center of International Studies an der Princeton University, wo er bis 1968 eine Professur für Wirtschaftswissenschaften bekleidete. Er leitete dieses Forschungszentrum zwischen 1961 und 1968 und zählte ab 1953 zu den Herausgebern der Institutszeitschrift World Politics, die ebenfalls von Yale nach Princeton transferiert worden war. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung 1979 war er Professor of International and Public Affairs an der Woodrow Wilson School der Princeton University und übte auch noch nach seiner Emeritierung Beratertätigkeiten bei der Rand Corporation, dem US-Department of State und der Central Intelligence Agency aus.

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Knorrs intellektuelle Entwicklung in den Vereinigten Staaten ist, vergleichbar jener von -» Henry Ehrmann und - • Ferdinand A. Hermens, durch eine Verlagerung seines Interessengebiets von der Volkswirtschaftslehre zu den Politischen Wissenschaften gekennzeichnet. Dies war für ihn jedoch insofern kein „großer Schritt", als er sich bereits in seiner Dissertation und den sich daran anschließenden Arbeiten mit den internationalen Wirtschaftsbeziehungen und ihrer Organisation befaßt hatte. In Anlehnung an die Position Viners befürwortete er prinzipiell einen möglichst freien Welthandel (vgl. 1951, S. 442ff.). Jedoch verwies er in seiner Diskussion der Mitte der 1940er Jahre gegründeten 'Bretton Woods-Zwillinge' Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IMF) auf die zu erwartenden Funktionsstörungen der neuen Institutionen (vgl. 1948, S. 19). Seine Bedenken richteten sich im Falle des IMF vor allem gegen den Mechanismus der Währungsabwertung als Mittel zur Erzielung eines Zahlungsbilanzausgleichs und die Uberforderung dieser Organisation mit der Festlegung der Nachkriegs-Währungsparitäten (vgl. ebd., S. 25f.). Mit Blick auf die Weltbank betonte er deren starke Abhängigkeit vom US-amerikanischen Kapitalmarkt und die Unmöglichkeit, im Zuge einer weltweiten Wirtschaftskrise allein durch diese Institution ausreichend internationale Kredite zur Verfügung stellen zu können, um eine stabilisierende Funktion auf die Weltwirtschaft auszuüben (vgl. ebd., S. 31 f.). Die Schaffung einer Internationalen Handelsorganisation (ITO) und den Aufbau von Rohstoffausgleichlagem ('Buffer Stocks') sah Knorr daher als wichtige Ergänzungen zu Weltbank und IMF an, nicht zuletzt, um den Interessen der Staaten der Dritten Welt im internationalen Handel gerecht zu werden (vgl. 1947, S. 549ff.). Auch anläßlich eines Symposiums zum Thema „The Quest for a Stabilization Policy in Primary Producing Countries", zu dem er neben John Η. Adler, Ρ.Τ. Bauer, R.F. Harrod, -» Alexandre Kafka und anderen Entwicklungsexperten als Korreferent eingeladen worden war, diskutierte er im Anschluß an den Vortrag von R. Nurkse (1958) die Möglichkeiten der Glättung zyklischer Bewegungen von Preisen und Mengen bei Rohstoffen und Agrarprodukten mit Hilfe von internationalen Buffer Stocks und nationalen Buffer Funds. Zusammenfassend plädierte er dabei für einen Einsatz der Buffer Funds, begleitet von anderen wirtschaftspolitischen Instrumenten aus den Berei-

Knorr, Klaus Eugene chen der Geld- und Fiskalpolitik, der Handels- sowie der Wechselkurspolitik (vgl. 1958, S. 228ff.). In seiner Dissertation behandelte Knorr neben der Frage der ökonomischen Nutzen und Kosten der Kolonien fur Großbritannien die Kolonialtheorien der Merkantilisten und der Klassiker der Politischen Ökonomie in einem dogmenhistorischen Kontext (vgl. 1944). Zugleich war hier bereits sein späteres Interesse an Fragen der internationalen Macht im ökonomischen und militärischen Bereich und den Ursachen ihrer Entstehung angelegt. Κηοιτ zufolge sind die Kolonialtheorien nicht in einem wissenschaftlichen und politischen Vakuum entstanden, sondern wurden zum einen von ihnen verwandten Theorien, z.B auf den Gebieten des internationalen Handels, der Bevölkerung usw. beeinfluBt und repräsentierten zum anderen auch die Ziele der herrschenden Machteliten (vgl. ebd., S. xviii). Kolonialtheorien wurden von ihm daher als Teil eines umfassenderen intellektuellen Diskurses über Fragen der ökonomischen Entwicklung, der militärische Sicherheit, der weltweiten Wirtschaftsbeziehungen und der Bevölkerungsentwicklung aufgefaßt, an dem sich die Eliten zur Durchsetzimg ihrer Interessen beteiligten, durch den jedoch auch die Ziele dieser Führungsschichten bestimmt und verändert wurden (vgl. Betts u.a. 1992, S. 15). Im Rahmen eines interdisziplinären Ansatzes widmete sich Knorr ab den frühen 1950er Jahren in seinen Schriften verstärkt dem Zusammenhang zwischen ökonomischen Ressourcen und militärischer Stärke insbesondere mit Blick auf die beiden großen Machtblöcke während des Kalten Krieges (vgl. 1961). Dabei wies er u.a. in The Power of Nations (1975), seinem Hauptwerk auf diesem Gebiet, darauf hin, daß gerade außerökonomische Faktoren in den Bereichen Politik, Kultur und Verwaltung dafür verantwortlich seien, wie die wirtschaftlichen Ressourcen in militärische Macht transformiert werden, woraus er die für seine Arbeiten zentrale Unterscheidung zwischen 'Machtressourcen' und 'tatsächlicher Macht' ableitete (vgl. ebd., Kap. 1). Ebenso wie militärische Macht begriff er aber auch die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit und die Veränderung ihrer Intensität einerseits als ökonomisches, andererseits als politisches Phänomen. Zwar gebe es einen durch Modernisierung und technischen Wandel ausgelösten Zwang zu einer fortschreitenden Interdependenz insbesondere der westlichen Industriestaaten, doch sei dieser Pro-

zeß durch die politischen Entscheidungsträger sowie die Eliten moderiert, welche die ökonomischen Nutzen verstärkter Abhängigkeit vom internationalen Handel gegen dessen soziale Kosten abwägten, wobei die Determinierung des Optimums von der relativen Stärke ihrer Präferenzen abhänge (vgl. 1977, S. 5). Über die Arbeiten zu den ökonomischen Grundlagen militärischer Macht hinaus setzte sich Knorr in seinen (militär)strategischen Studien mit der Logik der nuklearen Abschreckung, dem 'begrenzten Krieg', strategischer Glaubwürdigkeit und der Stabilität von Militärbündnissen auseinander (vgl. z.B. 1956). Ferner befaßte er sich zusammen mit Κ. P. Heiss und -» Oskar Morgenstern mit Problemen der langfristigen Projektion der Kräfteverhältnisse zwischen den großen Militärbündnissen auf der Grundlage der in den USA und der ehemaligen UdSSR vorhandenen Kapazitäten im Forschungs- und Entwicklungsbereich (1973). Die Autoren knüpften dabei an ein von Knorr und Morgenstern 1965 erarbeitetes Memorandum an, in dem auf die Schwächen der amerikanischen F&E-Aktivitäten im militärischen Beieich hingewiesen worden war. Dennoch warnte Knorr immer vor einer Überbetonung des militärischen Aspekts bei der Analyse nationaler Sicherheit. Als Flüchtling aus Hitler-Deutschland war er sich der Gefahren des Militarismus bewuBt und legte daher besonderen Wert auf die maßvolle Anwendung militärischer wie ökonomischer Macht, deren wichtigste Bestimmungsgründe in dem Aufsatz Determinants of Military Power (posthum 1992) von ihm nochmals zusammenfassend dargestellt wurden.

Schriften in Auswahl: (1944) British Colonial Theories, 15701850. With a Foreword by H.A. Innis, Reprint, London 1968 (Diss.). (1947)

The Functions of an International Trade Organization, in: American Economic Review, Bd. 37, No. 2, S. 542-553.

(1948)

The Bretton Woods Institutions in Transition, in: International Organization, Bd. 2, No. 1, S. 19-38.

(1951)

Welfare Measures and the Free Market in International Trade, in: Ameri-

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Koch, Waldemar

(1956)

(1958)

(1961)

(1973)

(1975)

(1977)

(1992)

can Economic Review, Bd. 41, No. 2, S. 431-444.

Koch, Waldemar, geb. 25.9.1880 in Bad

Military Policy and National Security (zus. mit G.A. Craig, R. Hilsman und W.W. Kaufmann), Princeton, N.J. Comment on Professor Nurkse's Paper [Trade Fluctuations and Buffer Policies of Low-Income Countries], in: Kyklos, Bd. 11, No. 2, S. 224-230. Purposes of an Accelerated Growth Program, in: Knorr, K.E., Baumol, WJ. (Hrsg.): What Price Economic Growth?, Englewood Cliffs, NJ., S. 1-18.

Sein Vater, ein Schiffsingenieur beim Norddeutschen Lloyd, zog kurz nach der Geburt des Sohnes nach Bremerhaven. „Bremerhaven war also meine Heimatstadt und an der Wasserkante bin ich als ein Hanseat aufgewachsen" (1962, S. 8). Koch begann sein Studium im Wintersemester 1900/01 an der damals Kgl. Technischen Hochschule zu Berlin in Charlottenburg an der Fakultät für Maschinenbau. Im Oktober 1904 legte er das Examen eines Diplomingenieurs ab. Das folgende Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Berlin beendete er im Jahr 1907 mit der Promotion zum Dr. phil. und einer Dissertation zum Thema Die Konzentrationsbewegung in der deutschen Elektroindustrie. Koch unternahm anschließend viele Reisen, die ihn - zur damaligen Zeit außergewöhnlich - in ferne Länder wie die USA, Südamerika, Ceylon, Singapur, Saigon, Hongkong, Shanghai, Japan, Sibirien und die Türkei führten. In seiner Biographie stellte er dazu fest: „Nach meiner Rückkehr bin ich von Freunden und Bekannten oft gefragt worden, ob es sich lohnte, drei Jahre für eine solche Bildungsreise aufzuwenden ... Für weit wertvoller halte ich das, was ich allgemein diesen drei Jahren verdanke, den Gewinn an Überblick über die Welt und an Menschenkenntnis. Am höchsten aber schätze ich den Gewinn an eigener Persönlichkeit, das größere Verständnis fur das Empfinden fremder Völker, ein. Von dem Ergebnis dieser Reise zehre ich noch heute als Achtzigjähriger" (1962, S. 73). Im Jahre 1910 folgte eine weitere Promotion, diesmal zum Dr.-Ing. an der TH Berlin. Von 1910 bis 1912 war Koch Abteilungsleiter bei der AEG in Berlin, 1912 bis 1914 Leitender Direktor der englischen Verkehrsgesellschaft der AEG in London. Der Beginn des Ersten Weltkrieges führte ihn wieder nach Deutschland zurück. Dort war er von 1915 bis 1918 stellvertretender Direktor des Königlichen Instituts für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Universität Kiel, später dessen Delegierter im Reichswiitschaftsministerium. Weitere Stationen waren von 1919 bis 1921 stellvertretender Direktor der Hauptverwaltung der Reichsbetriebe, 1925 bis 1929 kaufmännisches Vorstandsmitglied deutscher Industrieunternehmen.

Long Term Projections of Power. Political, Economic, and Military Forecasting (zus. mit K.P. Heiss und Ο. Morgenstern), Cambridge, Mass. The Power of Nations. The Political Economy of International Relations, New Yoik. Economic Interdependence and National Security, in: Knorr, K.E. und Trager, F.N. (Hrsg.): Economic Issues and National Security, Lawrence, Kansas, S. 1-18. The Determinants of Military Power (posthum), in: Bienen, Η. (Hrsg.): Power, Economics, and Security. The United States and Japan in Focus, Boulder, Coll. u.a., S. 69-133.

Bibliographie: Betts, R. u.a. (1992): An Intellectual Remembrance of Klaus Knorr, in: Bienen, Η. (Hrsg.): Power, Economics, and Security. The United States and Japan in Focus, Boulder, Coll. u.a., S. 9-28. Knorr, K.E. (1989): Reflections on a Life in IR, in: Kruzel, J., Rosenbaum, J.N. (Hrsg.): Journeys Through Politics. Autobiographical Reflections of Thirty-four Academic Travellers, Lexington, Mass., S. 279-292. Nurkse, R. (1958): Trade Fluctuations and Buffer Policies of Low-Income Countries, in: Kyklos, Bd. 11, No. 2, S. 141-154. Quellen: Β Hb Π; AEA. Hans Ulrich Eßlinger

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Harzburg, gest. 15.5.1963 in Berlin

Kohr, Leopold Während seiner Tätigkeit als Manager in größeren deutschen Unternehmen riß die Beziehung zur ΤΉ Berlin nicht ab. „In der Laufbahn des Hochschullehrers hatte ich schon immer einen idealen Beruf gesehen" (1962, S. 119). 1930 erfolgte die Habilitation für Betriebswirtschaftslehre an der TH Berlin mit der Habilitationsschrift Das Abzahlungsgeschäft in Handel und Industrie. Von 1930 bis 1934 war Koch Privatdozent an der TH Berlin. Doch bereits 1934 wurde ihm die Lehrbefugnis wieder entzogen: „Ich war als entschiedener Antinazi bekannt. Auch konnte ich es nicht lassen, in meinen Vorlesungen gelegentlich sarkastische Bemerkungen über nazistische Auffassungen einfließen zu lassen" (1962, S. 122). Die Zeit des Dritten Reiches überbrückte er fem von der Universität als Wirtschaftsprüfer, zu dem er 1932 bestellt worden war. 1945 kehrte Koch an die TH Berlin als Privatdozent zurück und wurde mit der Wahrnehmung des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre beauftragt. 1949 erfolgte die Ernennung zum ordentlichen Professor an der TU Berlin. Die Emeritiening erfolgte 1952. Im Jahre 1955 verlieh ihm die Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Nürnberg in Würdigung seiner wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der Absatzlehre und seiner Verdienste um Theorie und Praxis des Treuhandwesens den Titel und die Würde eines Dr.oec.h.c. Koch hat viel publiziert. Seine Arbeiten sind stets in der Schnittmenge von Wissenschaft und praktischer Anwendung angesiedelt. Dabei kam ihm der Umstand zugute, daß er nicht nur ein engagierter Praktiker, sondern auch ein von Ehrgeiz durchdrungener Wissenschaftler war. Schriften in Auswahl: (1907) Die Konzentrationsbewegung in der deutschen Elektroindustrie, München (phil. Diss.). (1910) Die Industrialisierung Chinas, Berlin (Ing. Diss.). (1917) Handelskrieg und Wirtschaftsexpansion, Jena. (1931) Das Abzahlungsgeschäft in Handel und Industrie und seine Finanzierung, Berlin. (1933) Die Krise des Industriebetriebes, Berlin. (1935) Zwecksparen und Zwecksparunternehmen, Berlin.

(1956a)

(1956b) (1957) (1958) (1962)

Die Entwicklung der deutschen Teilzahlungswirtschaft seit 1945 und ihre Problematik, Berlin. Hochschulprobleme, Berlin. Der Beruf des Wirtschaftsprüfers, Berlin. Grundlagen und Technik des Vertriebes. 2 Bde., 2. Aufl., Berlin. Aus den Lebenserinnerungen eines Wirtschaftsingenieurs, Köln/Opladen.

Quellen: HldWiWi 1959; Schettlaender, R. (1988): Verfolgte Berliner Wissenschaft, Berlin, S. 77-81. Franz Xaver Bea

Kohr, Leopold, geb. 5.10.1909 in Oberndorf bei Salzburg, gest. 26.2.1994 in Glouchester, England Kohr absolvierte das Salzburger Bundesgymnasium und promovierte 1933 zum Dr.iur. an der Universität Innsbruck. Er beteiligte sich 1936/37 als Journalist am spanischen Bürgerkrieg. 1938 emigrierte er aus Österreich in die USA. Dort erwarb er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Kohr begann zunächst als Bergwerksarbeiter in Kanada, ehe er 1941 ein Fellowship von der Universität Toronto erhielt. Von 1942 bis 1944 arbeitete er am Carnegie Endowment for International Peace in Washington als Research Associate in der Abteilung für Internationales Recht. Dabei erstellte er eine umfangreiche Dokumentation Uber die Geschichte der Zollunionen, die von Jacob Viner in seinem viel zitierten Werk The Customs Union Issue verwendet wurde. Kohrs Dokumentation wurde auch Grundlage einer eigenen Monographie über Zollunionen als Tool for Peace - so der Untertitel von Kohr (1949) - und fand später noch Niederschlag in einer Anzahl von Artikeln, die sich mit dem europäischen Gemeinsamen Markt auseinandersetzten, der, handelspolitisch gesehen, als Zollunion konzipiert war (vgl. 1960 und 1965/66). Kohrs weitere akademische Laufbahn führte ihn nach New Jersey an die Rutgers University, wo er (1946-55) die Position eines Associate Professor für Wirtschaftswissenschaft bekleidete. Danach war er von 1955 bis 1973 Professor für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Puerto Rico. Nach seiner dortigen Emeritierung betätigte er sich (1973-77) als Tutor

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Kohr, Leopold für Politische Ökonomie am University College von Wales in Aberystwyth. Schließlich ließ er sich in Glouchester, England, nieder, wo er 1994 starb. Kohr erhielt 1951 den Titel eines Dr.rer.pol. in Wien, 1982 wurde er in seiner Heimatstadt Salzburg im Rahmen eines Symposiums Uber Das menschliche Maß für seine wissenschaftlichen Arbeiten und Anregungen geehrt. Im Jahre 1983 erhielt er den von J.v. Uexküll gestifteten Alternativen Nobelpreis in Stockholm. Kohr hat damit durchaus bemerkenswerte Anerkennungen und Ehrungen erhalten, er hat aber im engeren wirtschaftswissenschaftlichen Lehr- und Forschungsbetrieb der Gegenwart mit seinen Arbeiten kaum jene Beachtung gefunden, die ihm als geistigem Pionier und kreativem Anreger gebührt. Immerhin ist er kürzlich von der Financial Times (13.2.1995) zumindest mittelbar als „Pionier und Prophet" für Manager hervorgehoben worden, nämlich als Mentor von -» Ernst Fritz Schumacher. Es sind vor allem drei Gebiete, auf denen Kohrs Publikationen in den 1940er bis 1960er Jahren bahnbrechend waren: (1) seine Propagierung eines 'Euregio'-Konzeptes grenzüberschreitender regionaler Zusammenschlüsse als Friedensordnung für Europa im Jahre 1941, (2) die Anregung zur Rückbesinnung auf das „menschliche Maß" wirtschaftlicher Strukturen in den 1950er Jahren, die viele Jahre später, nicht zuletzt auch wegen des ausdrücklich auf Leopold Kohr rekurrierenden Bestsellers Small is Beautiful von Ε. F. Schumacher (1973), geistiges Allgemeingut wurde, (3) seine frühzeitige Kritik an der herkömmlichen Sozialproduktsrechnung (1955), die Jahre später in zuweilen recht ähnlicher Intention auch von anderen Ökonomen, z.B. 1973 von James Tobin und W.D. Nordhaus, weiter ausgearbeitet wurde. Verbindendes Element all dieser Arbeiten ist Kohrs Konzept der 'kritischen sozialen Größe' eines souveränen politischen Gebildes (1955). Dieses Konzept unterscheidet sich vom rein physischen Größenbegriff dadurch, daß es neben (a) der physischen Anzahl der Mitglieder noch drei weitere Dimensionen umfaßt, nämlich (b) Dichte, (c) verwaltungsmäßige Integration und (d) 'Geschwindigkeit'. Die Erhöhung jeder dieser Komponenten führt zu einer effektiven Vergrößerung einer Gesellschaft, so daß beispielsweise Großbritannien aufgrund strafferer Organisation und höherer 'Geschwindigkeit' der Bevölkerung eine be-

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deutend höhere soziale Größe hat als das zahlenmäßig weitaus größere Indien (1983). Dieser Ansatz basiert auf Kohrs 'Geschwindigkeitstheorie der Bevölkerung' (siehe z.B. 1973, wo er (S. 55) auch eine algebraische Version dieser Theorie formuliert). Kohr sieht dieses Konzept in Analogie zur 'Umlaufgeschwindigkeit des Geldes': so, wie eine gegebene Geldmenge nach der Fisherschen Verkehrsgleichung eine stärkere Wirksamkeit entwickelt, je höher ihre Umlaufgeschwindigkeit ist, so übt eine höhere Geschwindigkeit einer gegebenen Population einen stärkeren Druck auf die gegebenen Ressourcen aus. Wegen abnehmender Ertragszuwächse bei der Bereitstellung der notwendigen zusätzlichen Infrastruktur führt dies zu erhöhter Belastung pro Kopf der Population. Soziale Größe wird nach Kohr (z.B. 1983) dann kritisch, wenn gesellschaftliche Probleme primär durch die soziale Größe und nicht mehr durch die Charakteristika der Population bedingt sind. Bei den meisten modernen Staaten sieht Kohr diese kritische soziale Größe als längst überschritten an. Das Überschreiten der kritischen Größe eines Gemeinwesens zieht nicht nur eine verstärkte Kriminalität und Kriegsbereitschaft nach sich, sondern auch eine spezifische Geisteshaltung, die die größenbedingten gesellschaftlichen Pathologien noch verstärkt. Solche Entwicklungen sind aber umkehrbar, so daß durch Reduktion der „effektiven sozialen Größe" Gemeinwesen wieder friedfertig, wenn auch nicht unbedingt friedliebend werden. Zuerst hat Kohr (1941) die Kritik der nationalstaatlichen Konsolidierung Europas im Rahmen des Vorschlags einer 'Pan-Europäischen Union' formuliert, die auf der Kantonisierung der 'modernen' Nationalstaaten in einzelne Regionen nach Schweizer Modell beruht. Die dadurch entstehenden Gebilde sollten nicht primär durch ethnischen Zusammenhalt, sondern durch nachbarschaftliche grenzüberschreitende Kooperation bestimmt sein. Beispiele für solche Gebilde waren Vorschläge für Regionen wie Kärnten-Venezien-Slowenien, Baden-Burgund, Lombardei-Savoyen u.s.w. Dieses ursprünglich in den USA erschienene Manifest, das am Anfang von Kohrs akademischer Karriere stand, wurde von der Wochenzeitschrift Die Zeit erst kürzlich in Kohrs eigener Übersetzung wieder vorgestellt und als einstmals utopische Vorwegnahme aktueller Gebietszusammenschlüsse wie 'Euregio', 'Arge-Alp' oder 'ArgeAlpen-Adria' gewürdigt. Kohrs damalige Schrift

Kohr, Leopold könnte mittlerweile auch als ein Grundlagentext für den mit dem Maastrichter Vertrag seit November 1993 in Kraft gesetzten 'Ausschuß der Regionen' proklamiert werden. Eine genauere Ausarbeitung der referierten Grundideen hat Kohr 1957 in einer Monographie über The Breakdown of Nations geliefert. In ihrem Anhang revidiert und entwickelt er das zuvor skizzierte Konzept einer politisch gleichgewichtigen Regionalisierung Europas. Als Orientierung für angemessene territoriale Größenordnungen werden in Beispielen wiederholt die griechischen Stadtstaaten der Antike genannt, anscheinend paradoxerweise aber auch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, und zwar wegen seiner teilweise grotesken Kraftlosigkeit der Zentralgewalt, die von Kohr mit einzelnen historischen Anekdoten belegt wird. In dieser Struktur konnten sich die oberitalienischen Städte, aber auch die späteren deutschen Duodezfurstentümer auf kleinstem Territorium zu großer kultureller Blüte entfalten. Beispielhaft in dieser Hinsicht ist für Kohr sein heimatliches Salzburg. In diesem einstmals politisch eigenständigen Erzbistum mit weniger als hunderttausend Einwohnern konnten großartige Kirchen, eine Universität, etliche Hochschulen und ein halbes Dutzend Theater errichtet und lange Zeit in Blüte gehalten werden (vgl. 19S7, S.107). Die optimale Größe eines Gemeinwesens könnte nach Kohr aber durchaus schon bei zehnbis zwanzigtausend Einwohnern liegen, wenn man sich an den historischen Erfahrungen orientiert. Ein scheinbar naheliegendes Gegenargument gegen Kohrs Lehre vom 'menschlichen Maß' ist das ökonomische Argument, daß territoriale Integration einen verbesserten Lebensstandard ermöglicht. Kohr (1957) greift diese Argumentation in einem Kapitel über die Effizienz kleiner Strukturen auf und legt dar, daß ein Großteil solcher Argumente auf Trugschlüssen beruht. Er plädiert damit aber nicht für ökonomischen Partikularismus, sondern für möglichst weitgehende administrative Autonomie, die eine ökonomische Union im Rahmen einer Zollunion nicht auszuschließen braucht, nach Kohrs Konzeption sie sogar erfordert. Darüber hinaus propagiert er (1962) die Zusammenarbeit in beschränkten internationalen Dienstleistungsgesellschaften wie Post-, Kohle-, Stahl- Unionen. Damit verbindet Kohr seine Konzeption der Auflösung der Nationalstaaten mit dem 'funktionalistischen' Konzept gleicher Intention eines ande-

ren USA-Emigranten, nämlich David Mitrany aus Rumänien, ohne daß Kohr allerdings den Mitrany-Funktionalismus ausdrücklich erwähnt. Noch stärker ökonomisch ist Kohrs nächstes Werk (1962) ausgeprägt. Zwei Gesichtspunkte daraus seien besonders hervorgehoben: das 'Luxometer' und die 'Größentheorie der Konjunkturzyklen'. Beide Konzepte beziehen sich auf den Zusammenhang zwischen der Größe von administrativen und produktiven Strukturen einerseits und dem Wohlergehen der in diesen Strukturen lebenden Einzelpersonen andererseits. Um diesen Zusammenhang zu illustrieren, veranschaulicht Kohr den Gesamtverbrauch einer Gesellschaft in Abhängigkeit von ihrem Wachstum. Mit einem erhöhten gesellschaftlichen Wachstum geht ein zunehmender Verbrauch an lebensnotwendigen und kulturellen Gütern, an 'Dichte-Gütern' und an 'Machtgütem' einher - alles Güterkategorien, deren Merkmal es ist, daß sie nur dem Funktionieren der Gesellschaft, nicht aber dem Wohlbefinden der einzelnen dienen. Der Zuwachs dieser Güterkategorien kann bei zunehmendem Wachstum so stark sein, daß trotz Wirtschaftswachstum über individuell konsumierbare Luxusgüter zunehmend weniger verfügt werden kann. Kohrs Plädoyer lautet nun, durch eine prägnante Erfassung der tatsächlich individuell verfügbaren Luxusgüter ('LUX') sich zu vergegenwärtigen, daß mit zunehmendem Güterverbrauch die LUXe pro Kopf sich tatsächlich vermindern können. Befaßt sich Kohrs LUX-Konzept mit dem Niveau der Wirtschaftstätigkeit und seiner Wohlfahrtswirkung für die einzelnen Wirtschaftssubjekte, so thematisiert seine Doktrin des 'Größenzyklus' dessen Stabilität. Bei letzterem Konzept zerlegt Kohr (1962) die Wirtschaftszyklen gedanklich und in graphischer Darstellung in eine landwirtschaftliche, eine gewerbliche und in eine größenbedingte Komponente. Mit zunehmender wirtschaftlicher Reife verlagert sich die absolute und relative Bedeutung der Wirtschaftsfluktuationen hin zur letztgenannten Kategorie. Während aber die erstgenannten Komponenten entweder durch spontane Reaktionen der Wirtschaftssubjekte oder durch Wirtschaftspolitik relativ leicht abzugleichen sind, sind die größenbedingten Zyklen schon aus physischen Gründen kaum noch wirtschaftspolitisch zu kontrollieren. Je größer die Wirtschaftsstrukturen, desto tiefer und dauerhafter die konjunkturellen Einbrüche.

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Kohr, Leopold Diese allgemeinen Überlegungen zum Problem der Ineffizienz von GroBstrukturen werden von Kohr in einer Anzahl von Studien auf konkrete Fragestellungen gelenkt. So beschäftigt er sich (1973) - zumindest dem Titel nach - primär mit Entwicklungshilfe. Tatsächlich greift er dabei aber auf das ganze Repertoire seiner Theorien zurück. Ahnlich umfassend ist auch seine kleine Monographie über die Frage, ob ein politisch unabhängiges Wales überlebensfähig wäre. Kohr (1971) kommt zum Schluß, daß dies durchaus der Fall sein könnte. Die Erfahrung der Emigration hat die Theoriebildung von Leopold Kohr in komplexer Weise geprägt. Zwar gibt es hierzu keine direkten Selbstzeugnisse, aus den wissenschaftlichen Publikationen wird aber deutlich: 1941 war sein eikenntnisleitendes Interesse, die institutionellen Bedingungen, die zum Zweiten Weltkrieg führten, zu beseitigen. Aus der Überzeugung, dafi man dafür nicht allein Deutschland territorial auflösen, alle anderen nationalstaatlich organisierten Mächte aber in unveränderter Form fortbestehen lassen kann, gelangt Kohr zu den genannten Εuregio-Konzeptionen, die ganz Europa umspannen sollen. Da Kohr seinen Vorschlag einer kleinräumigen Auflösung bestehender Strukturen in Europa später mit seiner Doktrin der kritischen sozialen Größe begründet, mußte für ihn die Hauptverantwortung für Krieg, Aggression, Vertreibung bei dem formalen Konzept der effektiven Größe liegen. Zu Ende gedacht bedeutet dies eine gewisse Exkulpierung seiner ehemaligen Verfolger, was Kohr in seinen Schriften auch durchaus darlegt. Diese Argumentationsmuster scheinen Kohr eine große Souveränität gegenüber den geistigen Impulsen verschafft zu haben, die er in seiner Jugend im deutschsprachigen Kulturkreis empfangen hatte, so daß er sie immer wieder fruchtbar im Sinne seiner analytischen Intentionen einsetzen konnte, beispielsweise wenn er die deutschen Duodezfürstentümer oder sein heimatliches Salzburg als - von der Struktur her - vorbildlich behandelt. Immer wieder hat er auch seine hervorragende Kenntnis des Deutschen Zollvereins und dessen Entwicklung in seine Darstellungen illustrierend eingeflochten. Leopold Kohrs Methode ist in einer Laudatio einmal als ausgeprägt 'semitisch' bezeichnet worden - er wende sich an seine Adressaten im Stile eines Rabbi oder eines Mullah (Illich 1983). In der Tat sind seine Ausführungen zuweilen von orienta-

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lisch anmutendem Anekdotenreichtum, allerdings sind sie zumeist historisch solide belegt. Vergleicht man die Diktion seiner Werke mit jener seines Schülers und Mitstreiters E.F. Schumacher, der in Small is Beautiful u.a. Lehren des Buddha referiert und sich auch auf längere Zitate aus der Bergpredigt bezieht, so fallt auf, wie ausgeprägt weltlich Kohrs Orientierung ist. Zwar propagiert Kohr 'soziale' Bescheidenheit, wenn er zur Abkehr von der gegenwältigen Megalomanie rät. Die Intention seiner Plädoyers ist aber nicht die Askese, sondern der Genuß - nämlich von zivilisierter Gemeinschaftlichkeit bei materieller Behaglichkeit der einzelnen. Kohrs Zivilisationsund Wachstumskritik ist nicht vergleichbar mit jener von essenischen Sektierern; sie ist viel eher die eines humanistischen Epikuräers. Schriften in Auswahl: (1941) Disunion Now, in: The Commonweal, Bd. 26 (dt. Übers.: Einigung und Teilung, in: Die Zeit, Nr. 43 v. 18.10.1991, S.60). (1949) Custom Unions. A Tool for Peace, Washington (Foundation for Peace, Foundation Pamphlets Nr. 8). (19SS) Economic Systems and Social Size, in: R.A. Solo (Hrsg.): Economics and the Public Interest. Essays Written in Honor of Eugene Ewald Anger, New Brunswick, N.J.; Neuabdruck, Westport C.T. (1957)

(1960)

(1962)

(1965/66)

(1971)

The Breakdown of Nations. Foreword by K. Sale. Afterword by Leopold Kohr, New York; Taschenbuchausgabe 1986 mit Vorworten von Ivan Illich und Leopold Kohr, New York. The History of the Common Market, in: Journal of Economic History, Bd. 20, S. 441-454. The Overdeveloped Nations, London (dt. Übers.: Die überentwickelten Nationen, Salzburg 1983). To Join or Not to Join the Common Market, That's Not the Question, in: The American Economist, Bd. 9, No. 2, S. 41^44. Is Wales Viable ? With an Introduction by Alwyn D. Rees, Llandybie/ Wales.

Kolmin, Frank William (1973)

Development Without Aid. The Translucent Society. Foreword by Kenneth D. Kaunda, President of Zambia. Critical Reflections by Robert J. Alexander and Alfred P. Thome, Llandybie/Wales.

Bibliographie: Illich, I. (1983): Vorwort, in: L. Kohr: Die überentwickelten Nationen, S. 7-12. Lehner, G. (1994): Die Biographie des Philosophen und Ökonomen Leopold Kohr, Wien. Schumacher, E.F. (1973): Small is Beautiful. Economics as if People Mattered, London. Viner, J. (1950): The Customs Union Issue, New York. Quellen: BHb Π; Stadler Π; Die Zeit Nr. 43/1991; The New York Times, 28.2.94. Gerhard Michael Ambrosi

Kolmin, Frank William, geb. 15.9.1915 in Wien Kolmin begann 1935 Wirtschaftswissenschaften an der Handelshochschule in Wien mit den Schwerpunkten Rechnungswesen und Finanzierung zu studieren. Neben dem Studium arbeitete er in der Wiitschaftspiüferpraxis seines Vaters. Bevor er sein Studium abschließen konnte, mußte er 1938 nach dem Einmarsch der Deutschen aus Österreich fliehen und damit seine offensichtlich geplante Laufbahn, die väterliche Wirtschaftsprüferpraxis weiterzuführen, aufgeben. Er landete zunächst auf Zypern, wo er sich als Gelegenheitsarbeiter (Taxifahrer, Kellner, Barpianist u.ä.) durchschlug. Im November 1941 emigrierte er über Ägypten weiter nach Tanganyika in Ostafrika. Dort arbeitete er für die britische Armee als Berater, indem er bei der Auswertung deutschsprachiger Dokumente behilflich war. 1945 wanderte Kolmin in die USA weiter, wo er zunächst in der Buchhaltung eines Schuhunternehmens in New York tätig war. Zusätzlich versuchte er, in seinem erlernten Beruf wieder Fuß zu fassen und arbeitete nebenbei als Steuerberater und Berater für Buchhaltungs- und Steuerfragen bei der Eastman School of Business in New York. 1948 bis 1951 besuchte er Abendkurse an der New York University, die er 1951 als M.B.A. abschloß. Danach war er zunächst bei verschiedenen Unternehmen in der Kostenrechnung und Kostenanalyse tätig, be-

vor er 1954 an das Ithaca College in New York kam. Dort war er zunächst Assistant Professor, ab 1957 Associate Professor und Chairman des Department of Economics and Business. 1960 wurde er dort stellvertretender und 1963 bis 1965 geschäftsfuhrender Dekan des College of Arts and Sciences. Seine Beziehung zu Afrika konnte er durch sein Engagement im African School Program des Ithaca College zeigen, in dem er 19591965 in unterschiedlichen Funktionen aktiv war. Seit 1965 ist er Professor der School of Business an der State University New York (S.U.N.Y) at Albany, wo er die Fächer Rechnungslegung und Finanzierung vertritt. Neben seiner Tätigkeit beim Ithaca College besuchte Kolmin ab 1958 die Maxwell Graduate School Syracuse. Dort verfaßte er seine Dissertation über die westdeutsche Geldpolitik in den Jahren nach der Währungsreform. 1961 wurde Monetary Policy in West Germany, 1948-1958 von der Syracuse University als Dissertation angenommen und Kolmin zum Ph.D. promoviert Anschließend befaBte sich Kolmin vornehmlich mit Themen aus den Bereichen des Rechnungswesens und der Besteuerung. Sein umfangreichster Beitrag erschien 1971 als Kapitel 29 in dem von James A. Cashin herausgegebenen Handbook for Auditors. Dieses Handbuch sollte eine umfassende Darstellung interner und externer Prüfungen von Unternehmen bieten. Darin beschreibt er, wie in verschiedenen Unternehmensrechtsfonnen die Formen des Eigenkapitals in der internen und externen Prüfung behandelt werden sollen. Für die Abfassung des Beitrags mußte Kolmin Material aus einer großen Vielfalt von Rechtsquellen zusammentragen, systematisieren und aufbereiten. 1971 befaßte sich Kolmin in zwei Artikeln mit der akademischen Lehre und Möglichkeiten zu ihrer Umgestaltung und Verbesserung. Zusammen mit Richard M. Clark schrieb er den Beitrag Towards More Effective Teaching In Professional Areas (1971c), in welchem er sich dafür einsetzt, daß die Universität weniger reines Faktenwissen vermitteln, sondern die Studenten in die Lage versetzen soll, sich mit ihren Kenntnissen auch in dynamischen Umfeldbedingungen stets zurechtzufinden. Hierfür möchte er eine Atmosphäre des aktiven Studierens und der engagierten Diskussion zur Erarbeitung von Lösungen komplexer Fragestellungen schaffen, von der die Studenten und auch der Dozent profitieren können. Bei einer Umfrage konnte Kolmin einen Großteil der be-

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Kolsen, Helmut Max fragten Studierenden für sein Konzept begeistern. In dem Artikel Teaching Internal Auditing for Managerial Decisions diskutiert er die Integration der Internen Revision in den Studiengang Accounting. Basis des Artikels ist die mittlerweile allgemein anerkannte Tatsache, daß Entscheidungen in Unternehmen nur so gut sein können, wie die Informationen, auf denen sie beruhen. Die Interne Revision lieferte diese Datenbasis, so daß die akademische Lehre auf die Vermittlung der entsprechenden Methoden nicht verzichten könne. In weiteren Beiträgen analysierte Kolmin Besteuerungsprobleme. In dem Artikel Banks, Environmental Problems, and Taxes (1972) behandelt er steuerliche Anreize fiir Investitionen in Umweltschutzmaßnahmen und die Rolle der Banken bei der Finanzierung dieser Projekte. Sein Beitrag The Accumulated Earnings Tax. An Anglo-American Comparison (1979) vergleicht die Praxis der Doppelbesteuerung in den USA und in England. Er unterbreitet dabei auch Vorschläge zur Verbesserung des US-Systems, da die Unternehmen durch die steuerlichen Regelungen zu höheren Ausschüttungen angehalten werden, was sich negativ auf deren Entwicklung auswirke. Schriften in Auswahl: (1961) Monetary Policy in West Germany, 1948-1958, Syracuse University (Diss.). (1971a) Owners' Equity, Chapter 29, in: J. Cashin (Hrsg.): Handbook for Auditors, New York, S. 1-31. (1971 b) Teaching Internal Auditing for Managerial Decisions, in: The Internal Auditor, Sept./Okt., S. 50-53. (1971c) Toward More Effective Teaching in Professional Areas (zus. mit R.M. Clark), in: Improving College and University Teaching, Bd. 19, S. 207210. (1972) Bank, Environmental Problems and Taxes, in: Banking Law Journal, Bd. 87, S. 29-40. (1979) The Accumulated Earning Tax. An Anglo-American Comparison (zus. mit C.W. Nobes), in: International Tax Journal, Bd. 5, S. 410-419. Quelle: Β Hb II. Dirk Becker

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Kolsen, Helmut Max, geb. 30.4.1926 in Berlin Kolsen wandte sich nicht sofort nach der Schulausbildung der akademischen Laufbahn zu. sondern absolvierte, nachdem er 1939 nach Großbritannien emigriert war, eine Lehre als Werkzeugmaschinenmacher. Diesen Beruf übte er sowohl in Großbritannien als auch in Australien aus, wohin er 1948 weiter wanderte. Diese technische Ausrichtung prägte auch sein erstes Studium 1950/51 am Sydney Technical College. Danach widmete er sich von 1951 bis 1954 dem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Sydney. Von 1955 bis 1963 übte er mehrere Tätigkeiten als Dozent an verschiedenen australischen Universitäten aus. In dieser Zeit war Kolsen 1961 Rockefeller Fellow in Social Sciences an der University of Illinois, der Columbia University sowie an der London School of Economics. Von 19621963 hatte er ein Rees Jeffrey Studentship an der London School of Economics, wo er 1963 den Ph.D. erwarb. An der University of Sydney war Kolsen 1965-1968 Associate Professor, seit 1968 ist er Professor of Economics an der University of Queensland. 1978 bis 1982 stand er dort der Faculty of Commerce and Economics als Dekan vor. Von 1969 an war Kolsen Mitglied in verschiedenen australischen Wirtschaftskommissionen, hauptsächlich im Bereich des Transportwesens. Mit dem Verkehrswesen und der Regulierung beschäftigte sich Kolsen nicht erst im Rahmen seiner Kommissionstätigkeiten, er hatte dazu bereits vorher etliche wissenschaftliche Beiträge veröffentlicht. Andere Forschungsfelder sind die Theorie der Protektion und die Finanzwissenschaft. Die Bereiche Verkehrswesen und Regulierung behandelte Kolsen sowohl getrennt als auch - was sich hier anbietet - im Zusammenhang. Von besonderem Interesse ist für ihn die kritische Analyse bestehender Regulierungen, die Ermittlung einer effizienten Regulierung und im Rahmen des Verkehrswesens Betrachtungen zur Kostendekkung der Straßeninfrastruktur. Bei letzterem wird auch die effiziente Kostenzuweisung auf einzelne Nutzer/Nutzergruppen des gemeinsam nachgefragten Gutes Straßeninfrastruktur analysiert (z.B. 1968, 1973, 1982). Bereits in seinem Beitrag How to Pay for the Roads (1957) schlug Kolsen eine effiziente Preissetzung für die Straßenbenutzung vor. Zunächst kritisierte er eine von staatlicher Seite diskriminierende Behandlung einzelner Verkehrsträger,

Kolsen, Helmut Max die sich z.B. in ökonomisch ungerechtfertigt hoher Besteuerung einiger und Subventionen anderer Verkehrsträger äußern könne. Problematisch sei hierbei, daß die sich ergebenden Preise nicht die Opportunitätskosten widerspiegelten. In diesem Beitrag beschränkte sich Kolsen auf die Analyse der Preissetzung fur Straßen. Die Kosten des Straßenangebots wurden hier in die Kategorien nutzungsunabhängig (z.B. Baukosten und witterungsbedingter Verschleiß) und nutzungsabhängig (Abnutzung z.B. der Teerdecke durch das Befahren) eingeteilt. Die Gesamtkosten müßten von den Nutznießern des Straßenangebots gedeckt werden. Kolsen schlug fur alle Nutzer (aktuelle und potentielle) eine nutzungsunabhängige Gebühr, die die sogenannten Fixkosten decke, und eine nutzungsabhängige Gebühr, die von den Fahrern gemäß ihrer tatsächlichen Inanspruchnahme zu entrichten wäre, vor. Diese die variablen Kosten deckende Gebühr sollte über eine genaue Bepreisung aller gefahrenen Kilometer erhoben werden. Dazu empfahl er ein in das Fahrzeug zu installierendes Meßgerät. So könnte man die variablen Kosten verursachungsgerecht anlasten, was über die Mineralölsteuer nicht so präzise zu erreichen wäre. Kolsen war damit einer der ersten Wirtschaftswissenschaftler, der konkrete Vorstellungen von der Erhebung eines benutzungsabhängigen Straßenpreises hatte. In dem Artikel Comparative Economic Advantage and Government Control in Road-Rail Freight Competition (1967) analysierte Kolsen die ökonomischen Charakteristika von Straßen- und Schienenverkehr und die daraus resultierenden komparativen Vorteile des jeweiligen Verkehrsträgers. Er ging kurz auf die Maiktstnikturen und die intermodale Substitutionskonkurrenz ein. Danach stellte er die Regulierungspraktiken in Australien, Großbritannien und USA dar. Schließlich überprüfte er die ökonomische Rechtfertigung und die Effizienz der Regulierungen. Ziel der Regulierung sollte hier ein 'modal split' gemäß der komparativen Vorteile zwischen Bahn und Straße sein. Dazu seien nur geringe Eingriffe nötig. Kolsen deutete an, daß eine Art Wettbewerbspolitik zur Verhinderung marktbeherrschender Stellungen durchgeführt werden müsse. Die Regulierung in Australien beurteilte er als ineffizient und für das erwähnte Ziel eher kontraproduktiv. Mit dem Thema Regulierung befaßte sich Kolsen auch in A Comment on International Comparison of Economic Regulation (1982a). Kolsen stellte

Ziele der Regulierung dar und setzte sich kritisch mit der Theorie der Regulierung auseinander. Beim Vergleich von Regulierungen in den USA und in Australien kam er zu dem Schluß, daß eine Voraussetzung für effiziente Regulierung die Berücksichtigung der jeweiligen institutionellen und konstitutionellen Bedingungen sei. Nach Kolsens Meinung müßten je nach diesen Unterschieden verschiedene Instrumente angewendet werden, um die gleichen Ziele zu erreichen. Schriften in Auswahl: (1957) How to Pay for the Roads, in: The Australian Quarterly, Bd. 29, S. 7482. (1966) The Economics of Electricity Pricing in N.S.W., in: The Economic Record, Bd. 42, S. 555-571. (1967) Comparative Economic Advantage and Government Control in RoadRail Freight Competition, in: Economic Papers. The Economic Society of Australia and New Zealand, Bd. 25, S. 44-54. (1968) The Economics and Control of RailRoad Competition, Sydney. (1970) The Price Mechanism. Demand, Supply and Market Structures, Melbourne. (1971) Road Expenditure Policy in Australia [zus. mit G.E. Docwra], in: Journal of Transport Economics and Policy, Bd. 5, S. 267-294. (1973) The Victorian Land Transport Inquiry, in: Economic Record, Bd. 49, S. 464480. (1982a) A Comment on International Comparison of Economic Regulation, Centre for Applied Economic Research (CAER) Paper, Nr. 17, S. 12-21. (1982b) Public Authority Business Undertaking (PABUs) in Australia, in: Monash University at Melbourne, Department of Economics, Seminar Papers, Nr. 8. (1982c) Track Costs, Road Pricing and Cost Recovery [zus. mit G. Ε. Docwra], in: Development in Transport Studies, Bd. 4, S. 77-92.

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Kozlik, Adolf (1983)

Effective Rates of Protection and Hidden Sectoral Transfers by Public Authorities, in: The Australian Journal of Agricultural Economics, Bd. 27, S. 104-115.

Quellen: Β Hb II; Who's Who in Australia. Ulrike Ε. Berger

Kozlik, Adolf, geb.

14.6.1912 in Wien, gest.

2.11.1964 in Paris Die Biographie des kurzen Lebens von Adolf Kozlik trägt romanhafte Züge. GleichermaBen Idealist wie Realist, von Politik und Wissenschaft gleichermaßen fasziniert, ausgestattet mit messerscharfer Logik und ungezügeltem Aktivitätsdrang kommen sein wechselvolles Leben und sein Einfluß auf seine Mitmenschen in seinen Schriften nur ungenügend zum Ausdruck. Aus armen Verhältnissen stammend - der Vater verdiente den Unterhalt mit einem klapprigen Taxi - ging er als Werkstudent und Taxifahrer an die Wiener Universität, wo er 1935 zum Dr. jur. promovierte. Schon während der Studienzeit fiel er in den nationalökonomischen Seminaren durch sein theoretisches Verständnis und seine streng logische Argumentation auf, und dies verschaffte ihm eine Beschäftigung in dem von -» Oskar Morgenstern geleiteten prestigeträchtigen Österreichischen Institut fur Konjunkturforschung, wo er die Bedeutung empirischer Forschung kennenlernte. Sein Studium und seine frühen Berufsjahre fielen in die Jahre des Zusammenbruchs der österreichischen Demokratie und der Machtergreifung durch den Austrofaschismus im Jahre 1934. Der engagierte sozialdemokratische Student und Marx-Kenner Kozlik nahm an den Februarkämpfen teil und war in den nachfolgenden Jahren im Untergrund aktiv. 1938 legte er die erste Publikation einer größeren theoretischen Arbeit vor (Zur Anwendung der Mathematik in der Nationalökonomie in der Zeitschrift für Nationalökonomie); es ist das Jahr des deutschen Einmarsches in Österreich. Kozlik floh in die Schweiz, wo er vorübergehend als Assistent bei -»• Wilhelm Röpke am Genfer Institut für Höhere Studien tätig war, ging dann nach Frankreich, von wo er sich nach dem Einmarsch der Deutschen neuerlich absetzen mußte. Er kam in die USA, wo er neben -» Gerhard Tintner, seinem ebenfalls emigrierten Kollegen aus

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dem Wiener Institut, als Professor am Iowa State College lehrte. Hier fand Kozlik erstmals Zeit zu intensiverer wissenschaftlicher Tätigkeit. Innerhalb von wenigen Jahren erschienen rund ein Dutzend Artikel, die durchweg originelle Beiträge zur Theorie und Messung der Nachfrage enthalten und in fuhrenden Fachzeitschriften publiziert wurden (American Economic Review, Econometrica, Journal of Political Economy, Review of Economic Studies, Journal of the American Statistical Association etc.). 1941 ging Kozlik an das Institute for Advanced Study in Princeton, wo er sich mit Fragen des europäischen Lebensstandards und der europäischen Produktion beschäftigte. Daneben gründete er unter falschem Namen ein 'Büro für europäische Wirtschaftsforschung' in New York, das ihm Gelegenheit gab - finanziert durch Subventionen und öffentliche Aufträge - bis zu 35 Mitarbeiter, überwiegend österreichische Emigranten, zu beschäftigen. Die Aufdeckung des Namenschwindels und Kozliks Weigerung, einer Einberufung (als Oberst!) Folge zu leisten, führten zu einer Flucht nach Mexiko, wo er zunächst interniert wurde, später aber dann als Gastprofessor an der Universität tätig war und ein Transportunternehmen gründete. Nach Kriegsende fehlen Bemühungen sowohl seitens der akademischen Welt wie seitens der Sozialistischen Partei, den eigenwilligen und radikalen Kozlik - abgesehen von Gastvorträgen - nach Österreich zurückzurufen. 1959 kehrte er schließlich doch zurück und wurde zunächst als Direktor des führenden Wiener Volksbildungshauses 'Urania' eingesetzt. In diese Zeit fällt die Publikation einer Reihe von populärwissenschaftlichen volkswirtschaftlichen Schriften, die sowohl pädagogische wie stilistische Kostbarkeiten darstellen. Wegen Schwierigkeiten bei der Durchführung seiner radikalen Reformpläne kam es 1962 zu einer Unterbrechung dieser Tätigkeit. Kozlik folgte einem Ruf auf eine Professur an der Dalhousie-Universität in Halifax, von wo er ein Jahr später nach Österreich zurückkehrt, um eine Stelle als (beigeordneter) Direktor am Institut für Höhere Studien ('Ford-Institut') in Wien zu übernehmen. Ende 1964 ereilte Kozlik in Paris ein plötzlicher Tod. Erst nach diesem Datum erschienen zwei umfangreiche kritisch-populärwissenschaftlich, aber solide abgefaßte Werke über die amerikanische Wirtschaft (Der Vergeudungskapitalismus in mehrere Sprachen übersetzt - und Volkskapitalismus), an denen er längere Zeit gearbeitet hatte

Kraus, Hertha und die knapp vor ihrer Vollendung gestanden hatten. In ihnen präsentierte Kozlik sein ökonomisches Wissen und sein kapitalismuskritisches Engagement in einem breiten theoretisch-empirischen Rahmen. Schriften in Auswahl: (1938) Zur Anwendung der Mathematik in der Nationalökonomie, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Bd. 9, S. 8698. (1940) Conditions for Demand Curves Whose Curves of Total Revenue, Consumers' Surplus, Total Benefit, and Compromise Benefit Are Convex, in: Econometrica, Bd. 8, S. 263-271. (1941) Note on Consumers Surplus, in: Journal of Political Economy, Bd. 49, S. 754-762. (1941) The Use of Per Capita Figures for Demand Curves, in: Journal of the American Statistical Association, Bd. 36, S. 417-422. (1942) Note on the Integrability Conditions for Interrelated Demand, in: Review of Economic Studies, Bd. 10, S. 7374. (1966) Der Vergeudungskapitalismus. Das amerikanische Wirtschaftswunder, Wien. (1968) Volkskapitalismus. Jenseits der Wirtschaftswunder. Hrsg. von Maria Jilg, Helmut Kramer, Kurt W. Rothschild, Wien. Bibliographie: Rothschild, K.W. (1965): Adolf Kozlik (19121964), in: Zeitschrift fUr Nationalökonomie, Bd. 25, S. 1-2. Simon, J.T. (1979): Augenzeuge, Wien. Quellen: SPSL 233/8; Β Hb I; NL Morgenstern. Kurt W. Rothschild

Kraus, Hertha, geb. 11.9.1897 in Prag, gest. 16.5.1968 in Haverford/Pennsylvania Kraus siedelte Anfang des Jahrhunderts mit ihren Eltern nach Frankfurt a.M. über, wo ihr Vater bis zu seiner 'Entpflichtung' 1933 als Professor für Wirtschaftsgeographie tätig war. Sie studierte an der Frankfurter Universität zunächst Wirtschafts-

wissenschaften, wandte sich aber dann unter dem EinfluS von Prof. Christian Klumker, der den seinerzeit einzigen deutschen Lehrstuhl für Fürsorgewesen innehatte, den Sozialwissenschaften zu. Sie promovierte 1919 mit dem Prädikat 'summa cum laude' zum Dr. rer. pol.; ihre Dissertation behandelt Aufgaben und Wege einer Fürsorgestatistik. Mit der Bedeutung statistischer Daten fur die Sozialarbeit beschäftigte sie sich auch später noch. Nach dem November 1918 leitete Hertha Kraus das Hilfskomitee und von 1920 bis 1923 die Kinderernährungsstelle der amerikanischen Quäker in Berlin-Brandenburg. Gleichzeitig lernte sie durch die Mitarbeit in der von Dr. Friedrich SiegmundSchultze begründeten 'Sozialen Arbeitsgemeinschaft Ost' neue Formen Stadtteil- bzw. nachbarschaftsbezogener Sozialarbeit kennen, die sie dann anwandte und ausbaute. Als man sie am 1. April 1923 zur Direktorin der Abteilung für öffentliche Wohlfahrtspflege der Stadt Köln berief, war sie mit 26 Jahren die jüngste Inhaberin eines solchen Amtes in Deutschland. Zugleich arbeitete sie auf Bezirksebene in verschiedenen sozialen Verbänden und Einrichtungen mit und betätigte sich als Dozentin an der Schule für Sozialarbeit in Köln. Sie wandelte leerstehende Kasernen in Wohnungen und in Heime für alte und pflegebedürftige Menschen um, wie sie sich überhaupt bemühte, Einrichtungen der sozialen Fürsorge produktiv miteinander zu verknüpfen. Unter anderem richtete sie auch ein Nachbarschaftshaus der Quäker ein, zu deren auf praktische Toleranz und Nächstenliebe zielenden Bestiebungen sie sich ein Leben lang bekannt hat. Nach ihrer Entlassung 1933 emigrierte sie mit ihrer ganzen Familie in die USA, die ihr von einer längeren Studienreise 1931 her schon vertraut waren. Sie wurde zunächst Beraterin einer Forschungsgruppe für Gemeindearbeit und Wohnungsbau, lehrte Sozialarbeit am Margaret Morrison College und am Carnegie Institute of Technology in Pittsburgh und übernahm von 1936 an bis zu ihrer Emeritierung 1963 eine Professur fur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte am Bryn Mawr College bei Philadelphia, der bedeutendsten Ausbildungsstätte für Sozialarbeit in den USA, die ausschließlich weiblichen Studierenden zugänglich ist. Darüber hinaus unterrichtete sie zeitweise an mehreren anderen Hochschulen, wirkte an verschiedenen Hilfsprogrammen der Quäker für Flüchtlinge mit und beriet staatliche Dienststellen

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Kuczynski, Jürgen in Fragen der sozialen Sicherheit, des Wohnungswesens oder der Rehabilitation. 1948 wurde sie Sonderberaterin der Wohlfahrtsstelle der amerikanischen Militärregierung in Deutschland, 1930 Sonderberaterin fiir Sozialpolitik bei der Alliierten Hohen Kommission. Wenn auch ihre Ratschläge nicht immer angemessen gewürdigt worden sind, so entstanden doch auf ihren Vorschlag hin insgesamt 13 Nachbarschaftsheime. Durch zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge hat Hertha Kraus Kenntnisse von spezifisch amerikanischen Methoden der Sozialarbeit wie Einzelfallhilfe (Casework) und Gemeinwesenarbeit vermittelt und zu den Traditionen eines demokratisch verfaßten Einwanderungslandes in Beziehung gesetzt. Ihr kommt auch das Verdienst daran zu, daB sich schon 19S0 wieder eine deutsche Delegation am internationalen Gespräch über Sozialarbeit beteiligen konnte. Schriften in Auswahl: (1940) The Plight of Refugees in a Preoccupied World, in: Proceedings of the National Conference of Social Work, New York. (1949) Von Mensch zu Mensch. Casework als soziale Aufgabe, Frankfurt/M. (1950) Social Casework in USA. Theorie und Praxis der Einzelfallhilfe (als Hrsg.), Frankfurt/M. Quellen: Β Hb I, Nachlaß H. Kraus, School of Social Work, Bryn Mawr College, Philadelphia/ Penn., USA; Nachlaß W. Sollmann, Stadtarchiv Köln. Hildegard Feidel-Merz

Kuczynski, Jürgen, geb. 17.9.1904 in Elberfeld, gest. 6.8.1997 in Berlin Die großbürgerliche Herkunft Kuczynskis, er ist der Sohn von - J.A. Schumpeter und F. Oppenheimer in einem Atemzug als „eine Kuriosität" (1924, S. 185) zu bezeichnen. Während Liefmanns frühe Werke, besonders die von akribischem Fleiß gezeichneten Untersuchungen über die Kartelle und die Unternehmensformen durchaus Anerkennung fanden, führte ihn die eigene Überschätzung seiner theoretischen Leistung und seine nicht immer sachlich fundierte Kritik an allen Richtungen tradierter Ökonomik in immer stärkere wissenschaftliche Isolation. Schriften in Auswahl: (1897) Die Unternehmerverbände (Konventionen, Kartelle) ihr Wesen und ihre Bedeutung, Diss. Freiburg. (1899a) Die Hausweberei im Elsaß, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 84, S. 191-247. (1899b) Über Wesen und Formen des Verlags (der Hausindustrie). Ein Beitrag zur Kenntnis der volkswirtschaftlichen Organisationsformen, Tübingen. (1900) Die Allianzen, gemeinsame monopolistische Vereinigungen der Unternehmer und Arbeiter in England, Habil. Jena. (1905) (1907)

(1909)

(1912) (1916) (1917)

(1919)

Kartelle und Trusts, Stuttgart. Ertrag und Einkommen auf der Grundlage einer rein subjektiven Wertlehre, Jena. Beteiligungs- und Finanzierungsgesellschaften. Eine Studie über den Kapitalismus und das Effektenwesen in Deutschland, der Schweiz, den Vereinigten Staaten, England, Frankreich und Belgien, Jena. Die Unternehmensformen, Stuttgart. Geld und Gold. Ökonomische Theorie des Geldes, Stuttgart u.a. Die Grundsätze der Volkswirtschaftslehre. Band 1: Grundlagen der Wirtschaft, Stuttgart u.a. Die Grundsätze der Volkswirtschaftslehre. Band 2: Die Grundlagen des Tauschverkehrs, Stuttgart u.a.

Bibliographie: Liefmann, R. (1924): Robert Liefmann, in: F. Meiner (Hrsg.): Die Volkswirtschaftslehre in Selbstdarstellungen, Leipzig, S. 154-190.

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Limberger, A. (1959): Das wirtschaftstheoretische Lehrgebäude Robert Liefmanns unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes des Ausgleichs der Grenzerträge. Darstellung und Würdigung, Freiburg. Quellen: Universitätsarchiv Freiburg; IFZ; DDRÖkonomenlexikon; NDB 14/525f.; HLdWiWi, 1929; HdSW. Klaus-Rainer Brintzinger

Liepmann, Heinrich, geb. 3.8.1904 in

Stettin, gest. 3.10.1983 in Cateiham, Surrey/GB

Liepmann, Sohn eines Bankdirektors, Bruder von Leo Liepmann, legte 1923 in Jena die Reifeprüfung ab und nahm noch in demselben Jahr an der dortigen Universität als Werkstudent das Studium der Germanistik, Philosophie, Neueren Geschichte und Volkswirtschaftslehre auf. Gleichzeit arbeitete er in einer akademischen Buchhandlung. Im Sommersemester 1925 immatrikulierte er sich in Heidelberg, behielt dort seine Fächerkombination bis auf das Fachgebiet Germanistik bei, das er durch das Studium der Soziologie u.a. bei -» Emil Lederer und -> Alfred Weber, bei denen er auch Vorlesungen in Nationalökonomie hörte, substituierte. Entsprechend seinem interdisziplinär ausgerichteten Studium erfolgte die Promotion bei Weber mit der Arbeit Wirtschaft und Revolution 1848 in Deutschland (1931), die er summa cum laude abschloß. Das Sommersemester 1932 nutzte Liepmann für ein Stipendium an der Graduate School of International Studies in Genf. Im Anschluß daran kehrte er nach Heidelberg zurück und arbeitete im Rahmen des von Weber initiierten und von der Rockefeiler Stiftung geförderten Forschungsprogramms „Zum wirtschaftlichen Schicksal Europas". Ein Manuskript dafür hatte Liepmann im Februar 1936 noch fertigstellen können, bevor er im gleichen Monat Deutschland wegen seiner jüdischen Herkunft verlassen mußte. Der Beitrag zum Forschungsprojekt erschien daher erst zwei Jahre später in seinem Zufluchtsland Großbritannien unter dem Titel Tariff Levels and the Economic Unity of Europe (1938). In Oxford hatte Liepmann mit Hilfe der Society for the Protection of Science and Learning (SPSL) ab 1936 mehrere Forschungsstipendien erhalten, eine feste Position an einer Universität blieb ihm jedoch versagt. 1939 konnte er einer Einladung

Liepmann, Leo des Canadian Institute of International Affairs zu einer Vortragsreise wegen des Beginns des Zweiten Weltkriegs nicht Folge leisten. Auch ein im Frühjahr 1940 von der Queens University in Kingston/Ontario gewährtes zweijähriges Forschungsstipendium konnte Liepmann aufgrund seiner Internierung ab Mai desselben Jahres nicht antreten. Nach der Entlassung im Februar 1941 scheiterte die weitere Verfolgung der KanadaPläne, da er kein Visum bzw. keine Schiffspassage bekam. Ein weiteres SPSL-Stipendium ermöglichte ihm 1942 die Arbeit am Royal Institute of International Affairs/Chatham House in Cambridge, bevor er von April bis September 1943 von der BBC aufgrund seiner Sprachkenntnisse als 'Monitor' angestellt wurde. Ab Januar 1944 war er Deutschlehrer an der County Grammar School for Boys in Beckenham/Kent Liepmanns Interesse hatte seit seinem Studium in Heidelberg mehr der politischen Wissenschaft, der Geschichte und der Philosophie denn der Nationalökonomie gegolten; so gründete und leitete er zwischen 1926 und 1929 etwa die Akademischdemokratische Studentengrappe in Heidelberg (vgl. 1970, S. 50f.). Daher blieb das Buch über die Zölle in Europa (1938) seine einzige Publikation auf dem Gebiet der Volkswirtschaftslehre, mit der er jedoch eine umfangreiche quantitativvergleichende Studie über die Entwicklung der Zolltarife in den wichtigsten europäischen Handelsnationen und ihre ökonomischen Wirkungen vorlegte. Angesichts des immer stärker zunehmenden Protektionismus kurz vor und während der Weltwirtschaftskrise stieB das Werk, das ausführliches Datenmaterial für die Zeit zwischen 1927 und 1931 enthielt, auf ein breites Interesse; dies belegen nicht zuletzt die zahlreichen Buchbesprechungen in der britischen Wirtschaftspresse sowie die Rezension durch Condliffe in Economica (1938). Um eine Vergleichbarkeit der durchschnittlichen Zollhöhen in unterschiedlichen Ländern zu ermöglichen, wählte Liepmann - unabhängig von den tatsächlich gehandelten Gutem und Mengen - fiktive Güterbündel, für die er länderspezifische 'potential tariff levels' errechnete (vgl. 1938, S. 20ff. und S. 45-178). So konnte er anhand des statistischen Materials nachweisen, daß die Zölle für alle Produktgruppen, besonders jedoch im Agrarbereich, in den fünfzehn wichtigsten europäischen Ländern nach der 1927 gescheiterten Weltwirtschaftskonferenz stark angestiegen waren. Allerdings stieß seine Beurteilung der bri-

tischen Schutzzollpolitik in seinem Emigrationsland teilweise auf heftige Kritik. Das in den Rezensionen ebenfalls angemerkte Fehlen ausfuhrlicher Daten fur den Zeitraum zwischen 1931 und 1938 ist hingegen als (indirekte) Folge der Emigration Liepmanns anzusehen. Ob jedoch seine wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der Nationalökonomie durch die Flucht vor dem Nationalsozialismus beeinflußt wurde, muß angesichts seines starken historisch-philosophischen Interesses offen bleiben. Schriften in Auswahl: (1931) Wirtschaft und Revolution 1848 in Deutschland. Ökonomische und soziologische Beiträge zur Geschichte ihrer gegenseitigen Beziehungen, Diss., Universität Heidelberg. (1938) Tariff Levels and the Economic Unity of Europe. An Examination of Tariff Policy, Export Movements and the Economic Integration of Europe, 1913-1931. With and Introduction by Sir Walter Layton. Transl. from the German by H. Stenning, London. (1970) Erinnerungen an Karl Jaspers aus den Jahren 1925-1936, in: Erinnerungen an Karl Jaspers, hrsg. von K. Piper und Η. Saner, München/Zürich, S. 47-52. Bibliographie: Condliffe, J.B. (1938): [Rezension zu] Liepmann (1938), in: Economica, N.S., Bd. 5, S.338-339. Quellen: SPSL 352/3, 61/2; L; EC 78; UAH Η IV 757/29; GLA Karlsruhe. Hans Ulrich Eßlinger

Liepmann, Leo, geb. 16.3.1900 in Elbing, Bruder von -» Heinrich Liepmann Liepmann promovierte 1922 in Jena mit der Arbeit Die Wert- und Preislehre Robert Liefmanns und wechselte danach nach Breslau, wo er sich im Jahre 1928 habilitierte. Nach der Habilitation widmete er sich der Currency-Banking-Kontroverse im England des 19. Jahrhunderts (1933). Ihn faszinierte dabei, daß in der Folge dieser Diskussion ein „völlig von einer wissenschaftlichen Doktrin geformtes wirtschaitspolitisches Gesetz erlassen wurde, das dann praktischer Erprobung jahrzehn-

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Lieser, Helene telang unterworfen werden konnte" (1933, S. V). Also analysierte er sowohl die Ausgangsbedingungen als auch die Wirkungen dieses großen Experiments. Obwohl das Manuskript bereits 1930 praktisch abgeschlossen war, verzögerte sich die Veröffentlichung des Buches bis 1933. Danach arbeitete Liepmann von 1930 bis 193S als Privatdozent in Breslau, 1931/32 unterbrochen von einem Aufenthalt in Cambridge als Rockefeller-Fellow. 1935 emigrierte er nach Großbritannien. Dort übernahm er von 1935 bis 1939 bei William Beveridge an der London School of Economics die Leitung der Redaktion fur das Buch über Prices and Wages in England. Dieses Werk, das nach Beveridges eigener, realistischer Einschätzung „the least appeal to the general reader" hat (Beveridge 1939, S. X), besteht aus einer akribischen Sammlung von Preis- und Lohntabellen für England vom 12. bis zum 19. Jahrhundert, die aus der Analyse zeitgenössischer Buchhaltungen, insbesondere von Colleges und Klöstern, gewonnen wurden. Liepmanns Aufgabe bestand darin, neben redaktionellen Arbeiten, auch an der Durchführung statistischer Tests dieser Zeitreihen mitzuwirken. Nach dem Abschluß dieser Arbeit 1939 wechselte er an das Woodbroke College, Birmingham, wo er bis 1940 blieb. In diesem Jahr wurde er durch das britische Militär auf der Isle of Man interniert, kam aber schon nach wenigen Monaten wieder frei. Dennoch war seine akademische Laufbahn durch die Interniemng schwer beschädigt worden und er konnte zunächst keine universitäre Anstellung mehr finden. In dieser Situation sah er sich gezwungen von 1941 bis 1943 als Feuerwehrmann zu arbeiten. Erst 1945 konnte er an der Summer School in St. Andrews wieder eine akademische Tätigkeit als Tutor übernehmen. Nach dem Krieg arbeitete Liepmann in den Jahren 1947 bis 1953 für die britische Militärregierung in Deutschland und von 1950 bis 1958 als Lecturer in Extramural Studies an der Universität Oxford. Dann verlieren sich seine Spuren. Schriften in Auswahl: (1922) (1933)

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Die Wert- und Preislehre Robert Liefmanns, Diss. Jena. Der Kampf um die Gestaltung der englischen Währungsverfassung, Berlin.

Bibliographie: Beveridge, W. H. (1939): Prices and Wages in England, from the Twelfth to the Nineteenth Century. London. Quellen: SPSL 234/3: EC78: ACEP4/126. Thomas Keil

Lieser, Helene, geb. 16.12.1898 in Wien. gest. 1962 verm, in Paris Vater Gustav war Fabrikant. Sie besuchte u.a. die Schwarzwaldschen Schulanstalten und das PrivatMädchen-Obergymnasium des Vereins fur erweiterte Frauenbildung. Lieser reichte im April 1920 (Rigorosum 15. Juni 1920) ihr Promotionsgesuch bei der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien ein. Die Betreuer ihrer Dissertationsschrift mit dem Titel Währungspolitische Literatur der österreichischen Bankozettelperiode waren Othmar Spann und federführend -> Ludwig von Mises. Lieser geht in dieser Arbeit davon aus, daB die Bancozettelperiode zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Österreich ein vergleichbares Schrifttum aufweist, wie die Englands. Jedoch sei das österreichische Schrifttum von minderer Qualität: Während sich in England aufgrund der Geldentwertung im Gefolge der Koalitionskriege eine Geldtheorie (z.B. Ricardo) entwickelt habe, habe es in Österreich an einer ausformulierten ökonomischen Theorie gefehlt. Eine solche sei erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwikkelt worden. Im Rahmen ihrer Arbeit stellt Lieser verschiedene zeitgenössische Schriften zu den Komplexen Geldentwertung, Inflationsbekämpfung, Notenbankgriindung vor, um sich schließlich ausführlich dem Werk Adam Müllers zuzuwenden. Sie setzt die geldpolitische Relevanz des Müllerschen Theorems in Parallele zur BankingTheorie und kommt zu dem Ergebnis, daß Müllers Papiergeld-Theorie zwar eine Elastizität des Geldumlaufs voraussetze, jedoch die teilweise bankmäßige Deckung, wie sie die Banking-Theorie fordere, noch nicht gesehen habe. Spann sah in Helene Liesers Dissertationsschrift einen bemerkenswerten Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie in Österreich. Lieser war nicht nur die erste Frau, die an der Wiener Universität zum Dr. rer. pol. promoviert wurde, sie legte auch die erste Wiener staatswissenschaftliche Dissertation überhaupt vor. Mises weist in seinen Erinnerungen darauf hin, daß die Drucklegung der

Lion, Max Arbeit Liesers allein an den schwierigen Verhältnissen des Jahres 1920 gescheitert sei. Der Studie Liesers sei ob der um 1920 in Europa diskutierten währungspolitischen Reformprojekte eine hohe Aktualität zugekommen (Mises 1978, S. 72). Zwei Jahre später gab Lieser, die wie -» Martha S. Braun (Browne), -» Ilse Schüller-Mintz und -» Gertrud Lovasy zum Mises-Kreis zählte, im Auftrag Othmar Spanns eine Neuauflage der Müllerschen Versuche einer neuen Theorie des Geldes mit erläuternden Anmerkungen in einer Schriftenreihe Spanns heraus. Helene Lieser arbeitete in der Zwischenkriegszeit zunächst beim Verband österreichischer Banken und Bankiers in Wien. Sie muBte 1938 Österreich verlassen und ging dafür eine Scheinehe mit einem Mann namens Berger ein. In der Schweiz widmete sich Lieser Opfern der Nazi-Aggression. Wie Margit von Mises berichtet, haben sie die Zeitumstände und ihre Erlebnisse deutlich gezeichnet (1981, S. 73,81). Seit der Gründung der International Economic Association mit Sitz in Paris war Helene Lieser noch viele Jahre als deren leitende Sekretärin tätig. Sie vertrat die Organisation auf zahlreichen internationalen Konferenzen. Schriften in Auswahl: (1920) Währungspolitische Literatur der österreichischen Bankozettelperiode, Diss. Wien (MS). (1922) Adam H. Müller, Versuche einer neuen Theorie des Geldes. Mit erklärenden Anmerkungen versehen von Dr. Helene Lieser (= Die Herdflamme. Sammlung der gesellschaftswissenschaftlichen Grundwerke aller Zeiten und Völker, Hrsg. von Prof. Dr. Othmar Spann, 2. Band), Jena. Bibliographie: Mises, L.v. (1978): Erinnerungen von Ludwig v. Mises mit einem Vorwort von Margit von Mises und einer Einleitung von Friedrich August von Hayek, Stuttgait/New York. Mises, M.v. (1981): Ludwig Mises. Der Mensch und sein Werk, München. Quellen: Archiv der Universität Wien, Inskriptionsbogen; Promotionsakte Prot. Nr. 6551 Dr. rer.pol.; Universitätsmatrikel; Haag, J. (1973): The Spann Circle and the Jewish Question, in: Leo Baeck Institute Yearbook, Bd. 18; Nautz, J.

(1997): Zwischen Emanzipation und Integration. Die Frauen der Wiener Schule für Nationalökonomie, in: Fischer, L., Brix, E. (Hrsg.): Die Frauen der Wiener Jahrhundertwende, Wien/München. Jürgen Nautz

Lion, Max, geb. 8.6.1883 in Dortmund, gest. 2.12.1951 in New York Lion, der einer jüdischen Kaufmannsfamilie entstammte, studierte Rechtswissenschaft, Philosophie und Musik (Komposition) in Genf, Berlin, München, Bonn und promovierte 1904 an der juristischen Fakultät Rostock bei Bernhard MatthiaB mit einer Arbeit über Die Mitvormundschaft nach gemeinem und bürgerlichem Recht. 1911 ließ er sich als Rechtsanwalt in Berlin nieder, erhielt 1919 die Zulassung zum Kammergericht, 1925 zum Notar. Lion beschäftigte sich zunächst mit praktischer Steuerberatung und als Steuerrechtskommentator. 1918 gründete er die Fachzeitschrift Ζeitgemässe Steuerfragen und 1927 die Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht, die 1933 ihr Erscheinen eingestellt hat. 1920 berief ihn die Handelshochschule in Berlin als Dozent für Steuerrecht, an der er bis zur Entziehung seiner Lehrbefugnis 1933 durch das Nazi-Regime tätig war. Nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus wurde Lion aufgrund seiner jüdischen Abstammung die Ausübung seines Berufes als Rechtsanwalt und Notar sowie wissenschaftlicher Schriftsteller unmöglich gemacht. 1935 emigrierte er zunächst in die Niederlande und 1937 in die USA, wo er ein Kohlengeschäft führte und sich anscheinend mit befreundeten Rechtsanwälten assoziierte (Pausch, 1992, S. 91). Lion ist als eine der tragenden Persönlichkeiten der Steuerrechtswissenschaft zu betrachten, wie sie sich in der Weimarer Republik von anderen rechtswissenschaftlichen Teildisziplinen verselbständigte. Seine wissenschaftliche Bedeutung liegt nicht zuletzt darin, daß er interdisziplinär Steuerrechtsfakten mit betriebswirtschaftlichem Gedankengut zu verknüpfen wußte. Als Pionier des Bilanzsteuerrechts ist er als die stärkste bilanztheoretische Begabung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anzusehen: Sorgfältiger arbeitend als die Betriebswirte -» Eugen Schmalenbach, Fritz Schmidt, Walb und orginineller als le Coutre, Rieger oder Kosiol. Lions Bedeutung für die Bilanzlehre liegt in der zielgerichteten Formu-

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Lovasy, Gertrud lierung und Begründung von materiellen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung und der theorie- und geschichtskritischen Analyse dieser Grundsätze: 1. Lions Überlegungen zur Trennung von steuerlicher Vermögensbilanz (Vermögensaufstellung) und Ertragsbilanz (Gewinnermittlungsbilanz) halfen, die Notwendigkeit von Einzelgrundsätzen zielentsprechender Gewinnermittlung klarer zu sehen. Durch die Prägung des Begriffs Imparitätsprinzip hob er zwei Säulen der heutigen Gewinnermittlung hervor das Realisationsprinzip und den Grundsatz der Verlustvorwegnahme. 2. Lions Auseinandersetzung mit der Reinvermögenszugangstheorie des Einkommens deckte die Widersprüchlichkeit der Ausführungen von Georg von Schanz auf, insbesondere im Hinblick auf die Übernahme kaufmännischer Gewinnermittlungskonventionen. Lion unterscheidet sorgsam zwischen der Reinvermögenszuwachslehre, die auch unrealisierte Gewinne einschließt, und der Lehre, nur realisierte Gewinne schüfen steuerbares Einkommen. 3. Lion analysiert die Schwächen von Schmalenbachs dynamischer Bilanzauffassung gründlicher als der sich in Begriffsklaubereien ergehende Rieger und belegt mit unerbittlicher Logik die Unhaltbarkeit von Schmalenbachs Verknüpfung von privatwirtschaftlichem und gemeinwirtschaftlichem Gewinn. 4. Lions Untersuchung zur Bilanzgeschichte erscheint als die einzige wissenschaftlich tragfähige Arbeit in deutscher Sprache in den ersten Dreivierteln dieses Jahrhunderts. Lion ringt um eine widerspruchsfreie Ableitung von Einzelfragen der Bilanzierung aus empirisch-induktiv zu ermittelnden materiellen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung. Folgerichtig spricht er sich gegen Bilanzierungswahlrechte und stille Reserven aus. Schriften in Auswahl: (1905) Die Mitvormundschaft, Berlin. (1912) Kommentar zum Reichszu wachssteuergesetz, Berlin. (1919/20) Kommentare zur Grundstücks-Umsatzsteuer, zum Grunderwerbsteuergesetz, Gesetz über das Reichsnotopfer, Berlin. (1922) Das Bilanzsteuerrecht, Berlin. (1927) Wahre Bilanzen! Ein Beitrag zur Vereinheitlichung von Handelsbilanz und Steuerbilanz, Berlin.

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(1928)

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Der Einkommensbegriff nach dem Bilanzsteuerrecht und die Schanzsche Einkommenstheorie, in: H. Teschemacher (Hrsg.): Festgabe für Georg von Schanz zum 75. Geburtstag, 12. März 1928, Bd. II, Tübingen, S. 273300. Die dynamische Bilanz und die Grundlagen der Bilanzlehre, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, Jg. 5, S. 481-506. Geschichtliche Betrachtungen zur Bilanztheorie bis zum Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch, in: Vierteljahresschrift fur Steuer- und Finanzrecht, Jg. 2, S. 401-441. Die Umwandlung und Auflösung von Kapitalgesellschaften, Berlin.

Bibliographie: Bathe, Η. (1980): Zu Max Lion, Pionier des Bilanzsteuerrechts, in: Steuer und Wirtschaft, Jg. 57, S. 181. Göppinger, Η. (1990): Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich", 2. Aufl., München. Pausch, A. (1979): Max Lion, Pionier des Bilanzsteuerrechts, in: Steuer und Wirtschaft, Jg. 56, S. 149-171. Pausch, A. (1992): Persönlichkeiten der Steuerkultur, Herne/Berlin. Schneider, D. (1979): Zu Alfons Pausch: Max Lion, Pionier des Bilanzsteuerrechts, in: Steuer und Wirtschaft, Jg. 56, S. 283-286. Quellen: CV; Β Hb II; Kürschner 1931; L; RHB. d. dt. Ges. Dieter Schneider

Lovasy, Gertrud, geb. 17.12.1900 in Wien, gest. 9.1.1974 in Washington, D.C. Lovasy promovierte in den zwanziger Jahren in Wien und arbeitete anschließend am Wiener Institut für Konjunkturforschung. 1939 floh sie zuerst nach England und von dort in die USA. 1946 begann sie eine Tätigkeit bei der Financial Section der League of Nations, die während des Zweiten Weltkrieges aus Sicherheitsgründen von Genf nach Princeton, N.J., verlegt worden war. Sie war dort als wissenschaftliche Hilfskraft eingestellt, weit unter ihrer Qualifikation und Arbeitserfahrung. 1947 nahm sie eine Stelle als Ökonomin am

Lovasy, Gertrud Internationalen Währungsfonds (IWF) an, dort blieb sie bis zu ihrer Pensionierung 1965. Danach arbeitete sie gelegentlich für die Organisation of American States (OAS). Innerhalb des IWF stieg sie auf vom Economist, Special Studies Division, zum Assistant Chief der Special Studies Division und dann zum Advisor im Research and Statistics Department. Sie spezialisierte sich auf Rohstoffmärkte im Konjunkturverlauf und war maßgeblich an der Entwicklung der vom IWF 1963 eingeführten 'Kompensatorischen Finanzierungs-Fazilität' (CFF) beteiligt. Die CFF ist ein Instrument zur Stabilisierung der Rohstoffpreise. Lovasy war in den 1960er Jahren aktiv an den Verhandlungen des internationalen Kaffeeabkommens beteiligt und reiste in diesem Zusammenhang viel, insbesondere nach Lateinamerika und London. Nach ihrer Pensionierung wurde ihre Arbeit im IWF von einer neu gegründeten Abteilung mit fünf bis sechs Planstellen fortgesetzt. Die ihr gebührende Anerkennung, etwa durch Ernennung zum Division Chief, blieb ihr verwehrt (Polak). Lovasy veröffentlichte insgesamt sieben Aufsätze in den IMF Staff Papers und verfaßte ein von den Vereinten Nationen veröffentlichtes Dokument über internationale Kartelle. Ihre Schriften stehen in direktem Zusammenhang mit ihrer Arbeit als ökonomin. Ein Aufsatz über den Zusammenhang zwischen Inflation, Exporten und Exportdiversifikation in Entwicklungsländern (1962) ist ein empirischer Beitrag zu der bis heute gültigen Stabilitätspolitik des IWF. Sie vertritt die These, daB Länder mit hoher Preisstabilität ein relativ zum Bruttosozialprodukt überproportionales Exportwachstum mit zunehmender Exportdiversifizierung erzielen, während die Exporte von Ländern mit hoher Inflationsrate hinter dem Wachstum des BSP zurückbleiben. Ihr Aufsatz bezieht sich auf die Jahre 1953-1959 und ist implizit eine Kritik der zu der Zeit populären Importsubstituierungspolitik. Andere Aufsätze befassen sich mit Problemen, die im Zusammenhang mit dem Kaffee- und mit anderen Rohstoffabkommen auftauchen. Ein Aufsatz (1964) miBt die Substitutionselastizität für Kaffeesorten aus verschiedenen Regionen in Brasilien auf dem Weltmarkt. Lovasy untersucht in diesem Aufsatz, wie Brasilien durch eine entsprechende regionale Anbaupolitik (Minimierung der Verluste in Gebieten mit hohen Frostschäden) und durch Lagerhaltung seine Erlöse im Rahmen des Kaffeeabkommens optimieren kann. Eine

weitere Publikation befa£t sich mit dem antizyklischen Effekt des Rohstoffabkommens International Materials Conference (IMC) und dem prozyklischen Effekt seiner Terminierung während der Rezession 1953-54. Diese Arbeit hatte sie während der Jahresversammlung der Econometric Society in Detroit, Michigan vorgetragen. Lovasys Arbeiten zeichnen sich durch technische Kompetenz sowie klare wirtschaftspolitische Aussagen aus. In allen Aufsätzen werden die USA als Referenzsystem verwendet, ihre (intellektuelle) Herkunft aus Europa wird aus den Veröffentlichungen nicht deutlich. Schriften in Auswahl: (1952) International Cartels, United Nations. (1953a) Rise in the U.S. Share of World Textile Trade, in: IMF Staff Papers, Vol. 3, S. 47-68. (1953b) Short-Run Fluctuations in U.S. Imports of Raw Materials, 1928 - 1939 and 1947 - 1952, (zus. mit Η. Κ. Zassenhaus), in: IMF Staff Papers, Vol. 3, S. 270-289. (1956) Prices of Raw Materials in the 1953 1954 U.S. Recession, in: IMF Staff Papers, Vol. 5, S. 47-73. (1962) The International Coffee Market: A Note, in: IMF Staff Papers, Vol. 9, S. 226-242. (1964)

(1965)

The International Coffee Market, (zus. mit L. Boissonneault), in: IMF Staff Papers, Vol. 11,S. 367-388. Survey and Appraisal of Proposed Schemes of Compensatory Financing, in: IMF Staff Papers, Vol. 12, S. 189223.

Quellen: SPSL 234/4; Dok. Archiv; Hayek/ Stourzh; Stettner, W. (Brief vom 7.2.92); NL Morgenstern; Gespräche mit Ε. Bernstein, Brookings Institution, ehem. Direktor des Research Department beim IWF, der G. Lovasy eingestellt hat. Interview mit Jacques Polak, ehem. Kollege von Lovasy in Princeton und im IWF am 12.3.1992 in Washington, D.C. im IWF., Interview mit J.H. Furth, am 29.2.1992 in Washington, D.C. Claudia Dziobek

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Lowe, Adolph Lowe, Adolph (bis zum 2.9.1939 Adolf Löwe), geb. 4.3.1893 in Stuttgart, gest. 3.6.1995 in Wolfenbüttel Nach seiner Schulzeit in Stuttgart studierte Löwe von 1911 bis 1915 Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten München, Berlin und Tübingen, wo er 1918 mit der unveröffentlicht gebliebenen Schrift Die rechtliche Entstehung und Ausgestaltung des Kriegsemährungsamtes zum Dr. iur. promovierte. Seit Ende 1915 befafite er sich mit und publizierte zu Fragen der Kriegswirtschaft, der Demobilisierung und der Ernährungspolitik. Löwe beschäftigte sich nicht nur in der sog. 'Kriegswirtschaftlichen Vereinigung' intensiv mit den Problemstellungen einer künftigen Nachkriegsordnung, sondern engagierte sich auch im 'Volksbund für Freiheit und Vaterland', einer Sammlungsbewegung von Linksliberalen und Arbeitern frühzeitig für einen Verständigungsfrieden. Der aus einem liberalen Elternhaus stammende Löwe rückte somit noch im Ersten Weltkrieg näher an die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften heran. Als Referent für Wirtschaftsfragen des vom Rat der Volksbeauftragten eingerichteten Demobilisieningsamtes und im Reichsarbeitsministerium sowie als Sekretär des früheren Gewerkschaftsführers und Reichskanzlers Gustav Bauer bei Unterzeichnung des Versailler Vertrages sah sich Löwe mit den ökonomischen wie politischen Problemen der jungen Weimarer Republik an zentraler Stelle konfrontiert. Zwischen 1919 und 1924 war er im Reichswirtschaftsministerium tätig, zunächst im Sozialisierungsreferat, dann im Referat zur Bekämpfung der Inflation und schließlich im Reparationsreferat. Von 1924 bis 1926 leitete Löwe als Oberregierungsrat die internationale Abteilung des Statistischen Reichsamtes, dessem Präsidenten Emst Wagemann er die Gründung eines deutschen Instituts für Konjunkturforschung nach dem Vorbild des 1917 in Harvard errichteten ersten modernen Konjunkturforschungsinstituts vorschlug. Unter Lowes Federführung entstand die Denkschrift Die weltwirtschaftliche Lage Ende 1925, die zur Gründung des Deutschen Instituts für Konjunkturforschung, des heutigen DIW, in Berlin führte. Anfang 1926 erhielt Löwe von Bernhard Harms, dem Gründer und langjährigen Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr an der Universität Kiel, das Angebot, eine neue Forschungsabteilung aufzubauen. In dem kurz vor

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Kriegsausbruch 1914 gegründeten Institut war bis dahin vor allem umfassendes statistisches Material gesammelt sowie eine hervorragende Bibliothek erworben, jedoch kaum theoretische Forschungsarbeit geleistet worden. Löwe, der bereits seit dem Wintersemester 1924/25 von Berlin nach Kiel pendelte, wo er als Lehrbeauftragter tätig war, nahm das Angebot von Harms an, da es ihm die Doppelbelastung ersparte und eine Konzentration auf die wirtschaftswissenschaftliche Forschungsarbeit ermöglichte. Am 27. Februar 1926 wurde Löwe von der Kieler Christian-AlbrechtsUniversität habilitiert und am 25. März zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor für wirtschaftliche Staatswissenschaften ernannt; am 14. Februar 1930 erhielt er den Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Soziologie. Die von Löwe seit dem 1. April 1926 aufgebaute und bis Ende Februar 1930 geleitete 'Abteilung fur Statistische Weltwirtschaftskunde und internationale Konjunkturforschung' am Kieler Weltwirtschaftsinstitut wurde schnell zu einem international anerkannten Forschungszentrum. John van Sickle, der Pariser Repräsentant der Rockefeller Foundation in Europa, die die in der Zwischenkriegszeit so bedeutsame konjunkturtheoretische Forschung mit größeren Beträgen förderte (vgl. Craver 1986), verglich das Kieler Institut gar mit dem National Bureau for Economic Research in New York (1989, S. 79). Der herausragende Ruf der Kieler war das Ergebnis einer Gruppe exzellenter, sich wechselseitig ergänzender Forscher, die zu ausgeprägter Teamarbeit fähig und zugleich nach außen hin so offen waren, daß sie ständig hoffnungsvolle Nachwuchsökonomen anzogen und integrierten. Dies war neben Löwe vor allem auch das Verdienst der beiden frühzeitig von ihm nach Kiel geholten Freunde -> Gerhard Colm und -» Hans Neisser. Colm hatte zusammen mit Löwe in Berlin nach amerikanischem Vorbild die Konjunkturbarometer für die Reichsstatistik ausgebaut, während Neisser bereits seit der Zeit der Sozialisierungskommission ein enger Vertrauter war. Die Qualitäten eines Forschers zeigen sich nicht zuletzt auch darin, mit welchen Mitarbeitern und Schülern er sich umgibt. Löwe gelang es, u.a. Wassily Leontief und -» Jakob Marschak für seine Forschungsgruppe zu gewinnen. Leontief (geb. 1904), der für seine Arbeiten zur Input-Output-Analyse 1973 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten sollte, war 1927-28 (und

Lowe, Adolph nach seiner Rückkehr aus China 1930-31) Mitglied von Lowes Team, bevor er an die Harvard University wechselte. In dieser Zeit erstellte er auch seine Doktorarbeit Die Wirtschaft als Kreislauf, mit der er 1928 bei Sombart und Bortkiewicz an der Berliner Universität promovierte und die den Keim seiner späteren Forschungsarbeiten enthält. Marschak kam 1928 von Berlin an das Kieler Institut, wo er vor allem Industriestudien für die Wirtschaftsenquete erstellte, die unter Leitung von Harms im Auftrag des Reichstags angefertigt wurde, und auch seine Schrift anfertigte, mit der er im Februar 1930 in Heidelberg habilitierte. Herausragende Forschungsleistungen wurden ebenfalls von Lowes engstem Mitarbeiter -» Fritz Burchardt sowie seinen beiden Doktoranden -» Alfred Kahler und Walther G. Hoffmann erzielt. Burchardt (1931-32) versuchte in zwei umfangreichen Essays eine originelle und ambitionierte Synthese des österreichischen Stufenmodells mit dem Sektorenmodell, ein Ansatz, der vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über die Vorzüge und Schwächen einer 'vertikalen' gegenüber einer 'horizontalen' Betrachtungsweise wirtschaftlicher Strukturen für eine Analyse dynamischer Prozesse sich als bemerkensweit modern erweist. Kahler (1933) nutzte das Burchardtsche Modell für die Analyse der Freisetzungs- und Kompensationseffekte neuer Technologien, die er auf der Basis eines weitentwickelten Embryos eines geschlossenen Input-Output-Modells durchführte. Hoffmann schließlich griff in seiner unter der Betreuung von Löwe entstandenen Dissertationsschrift Stadien und Typen der Industrialisierung (1931) dessen Anregungen zu den Stadien und typischen strukturellen Entwicklungsmustern des Industrialisierungsprozesses auf (1925b) und entwickelte eine theoretische Analyse und zugleich erste gründliche statistische Studie des historischen Prozesses der Industrialisierung, die später international Furore machen sollte. Weitere Doktoranden Lowes in Kiel waren 1929 Otto Pfleiderer, der spätere langjährige Präsident der Stuttgarter Landeszentralbank und 1930 -* Gerhard Emil Otto Meyer. Auch -» Rudolf E. Freund und Konrad Zweig waren längere Zeit am Kieler Institut tätig. Obwohl „Kiel für Lehre wie auch für Forschung ein idealer Standort" (1989, S.79) war, gelang es dem legendären Kurator Kurt Riezler, Löwe an die Johann Wolfgang Goethe-Universität nach Frankfurt zu berufen, wo er zum 1. Oktober 1931

die Nachfolge auf dem Lehrstuhl von -» Carl Griinberg antrat. Dieser Lehrstuhl, dessen Inhaber zuvor auch das Institut für Sozialforschung geleitet hatte, wurde bei diesem AnlaB auf die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät übertragen, während gleichzeitig Max Horkheimer, Lowes enger Freund aus Stuttgarter Kindheitstagen, auf dem neu eingerichteten Lehrstuhl für Sozialphilosophie von Grünberg die Leitung des Instituts für Sozialforschung übernahm. Vor allem Riezlers bereits weit gediehene Pläne, die Frankfurter Universität zu einem herausragenden kulturellen und interdisziplinären Wissenschaftszentrum auszubauen und die Aussicht, mit Horkheimer und -* Friedrich Pollock, aber auch mit den ihm gleichermaBen nahestehenden Theologen Paul Tillich und dem Wissenschaftssoziologen Karl Mannheim sowie weiteren Geistesgrößen wie dem Historiker Emst Kantorowicz und dem Gestaltpsychologen Max Wertheimer enger zusammenzuarbeiten, konnten Löwe bewegen, von dem von ihm sehr geschätzten wirtschafte- und sozialwissenschaftlichen Zentrum an der Kieler Förde an den Main zu wechseln. Wissenschaftlich erfüllte Frankfurt durchaus Lowes Erwartungen. Er nahm nicht nur mit den Genannten an den interdisziplinären Debatten der 'Kränzchen' teil, die 14-tägig im Hause Riezlers stattfanden, sondern leitete zusammen mit Mannheim, dem Politologen Bergsträsser und dem Historiker Noack seit dem Wintersemester 1931/32 auch eine 'Arbeitsgemeinschaft Sozialgeschichte und Ideengeschichte'. Das intellektuelle Niveau vieler Studenten, zu derem engeren Kreis die spätere ΖΕΓΓHerausgeberin Marion Gräfin Dönhoff und der spätere Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller gehörten, erfüllte die bekannt kritischen Anforderungen Lowes. Obwohl die Zahl aktiver Nationalsozialisten vor 1933 an der Frankfurter Universität relativ gering war, wurden die politischen Zeiten jedoch immer turbulenter. Löwe, der dem Kreis der 'religiösen Sozialisten' um Tillich (mit dem er später auch das Wirtschaftsprogramm der ökumenischen Weltkonferenz in Oxford 1937 entwarf) und -» Eduard Heimann nahestand, kämpfte an ihrer Seite, u.a. mit eigenen Beiträgen in der 1930 gegründeten Zeitschrift Neue Blätterfiir den Sozialismus, für den Erhalt der Republik. Vergebens, Lowes Frankfurter Blütenträume sollten nur drei Semester dauern. Lowes Name stand zusammen mit Horkheimer, Mannheim und Tillich auf der ersten

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Lowe, Adolph Beurlaubungsliste der Frankfurter Universität, die nur wenige Tage nach dem am 7. April 1933 verabschiedeten 'Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' erstellt wurde. Gemäß der offiziellen Entlassungsurkunde vom 11. September desselben Jahres wurde Löwe aus politischen (§4) und nicht aus rassischen Gründen (§3) aus dem Staatsdienst entlassen, worüber der agnostische Jude und aktive Sozialdemokrat noch Jahrzehnte später eine gewisse Genugtuung empfand. Löwe hatte Deutschland mit seiner Frau Beatrice, geb. Löwenstein, und den beiden Töchtern Hanna und Rachel aber bereits am 2. April, am Tag nach dem Boykott jüdischer Geschäfte, mit dem Zug nach Basel verlassen. Über Genf emigrierte er nach England, wo er vom Herbst 1933 bis zum Sommer 1940 als Rockefeller Foundation Fellow und Special Honorary Lecturer in Economics and Political Philosophy an der Universität Manchester tätig war. Darüber hinaus war er 1934 Gastdozent an der London School of Economics and Political Science. Am Tag nach Ausbmch des Zweiten Weltkriegs wurde Löwe in England naturalisiert: aus Adolf Löwe wurde Adolph Lowe (vgl. 1979, S. 146). Zwar wurde Lowe in der nach dem Zusammenbruch Frankreichs einsetzenden Panik aufgrund der Naturalisierung nicht wie viele andere Emigranten auf der Isle of Man interniert, jedoch teilte ihm die Universität Manchester mit, daB sein Vertrag nicht verlängert werden könnte. Dies veranlaßte Lowe, ein neuerliches Angebot der 'Universität im Exil' der New School for Social Research in New York anzunehmen und mit seiner Familie auf dem Höhepunkt des UBoot-Krieges in die USA überzusiedeln. Nur einem glücklichen Umstand war es zu verdanken, dafi sie das Schiff, die 'City of Benares', verpaßten, für das sie bereits die Passage gebucht hatten und das nach einem Torpedo-Angriff eines deutschen U-Bootes mit seinen Passagieren, darunter der bekannte Publizist Rudolf Olden mit seiner Frau Ika, im Meer versank. In der offenen Atmosphäre New Yorks fühlte sich der in der Emigration zum Weltbürger gewordene Lowe schnell heimisch. Von 1940 bis zu seiner Emeritierung 1963 war er Alvin Johnson Professor of Economics an der Graduate Faculty der New School und zugleich von 1943-1951 Forschungsdirektor des neu gegründeten Institute of World Affairs, an dem auch der 1939 aus Italien emigrierte Franco Modigliani (Nobelpreisträger 1985) nach seiner Promotion bei Lowe 1944 für

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mehrere Jahre tätig war. 1953 war er Gastprofessor an der Hebrew University in Jerusalem. Trotz zahlreicher Angebote, darunter ein Ruf nach Chicago, blieb Lowe deijenigen Institution treu, die als Zufluchtsstätte für emigrierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaitler so Unvergleichliches leistete (vgl. Krohn 1987). Darüber hinaus kam für den promovierten Juristen und habilitierten Ökonomen Lowe, zeitweiliger Inhaber eines Lehrstuhls für Soziologie, der stets ein großes Interesse für Philosophie, Geschichte und Theologie besaß, die einzigartige Atmosphäre an der New School mit ihrem intensiven interdisziplinären Diskurs in besonderer Weise entgegen. In diesem Diskurs spielte der „ökonomische Philosoph" (Boulding) Lowe stets eine herausragende Rolle. Dies reichte weit über seine Emeritierung hinaus, zumal seine beiden wissenschaftlichen Hauptwerke (1965, 1976) erst in dieser Zeit erschienen und Lowe bis zum Jahre 1980 regelmäßig Vorlesungen an der New School hielt, wo Robert Heilbroner sein engster Vertrauter wurde. An seinem 90. Geburtstag kehrte Lowe nach dem Tode seiner Frau nach Deutschland zurück, wo er bei seiner Tochter Hanna in Wolfenbüttel im Alter von 95 Jahren sein letztes Buch beendete. Ein halbes Jahrhundert nach seiner Emigration hielt Lowe im Juni 1983 als erster Ehrendoktor der Universität Bremen erstmals wieder einen Vortrag vor einer deutschen Zuhörerschaft, den er in Anlehnung an seinen engen Freund -» Alexander Rüstow Zur Ortsbestimmung der Gegenwart überschrieb (1984). Zeit seines Lebens ging es Lowe darum, wirtschaftstheoretische Erkenntnisgrundlagen für politisches Handeln zu gewinnen. Die Konfrontation mit den gravierenden ökonomisch-politischen Problemen während und nach dem Ersten Weltkrieg ist der Schlüssel für das eng verzahnte Theorie-Praxis-Verständnis, das das Werk von Lowe ebenso auszeichnet wie das innovative Ausgreifen auf neue Fragestellungen und neue wissenschaftliche Methoden sowie eine praktizierte Interdisziplinarität. Bereits in der ersten wissenschaftlichen Studie Arbeitslosigkeit und Kriminalität, die der junge Student 1914 verfaßte, werden wirtschaftliche, juristische, soziologische und politische Aspekte miteinander verknüpft. Löwe zeigte in seiner kriminologischen Untersuchung auf, daß der Rückgang der Gewaltverbrechen seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt auf den stabili-

Lowe, Adolph sierenden Einfluß der Gewerkschaften zurückzuführen war. Einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit wurde Löwe erstmals mit seinem Beitrag Zur ökonomischen Theorie des Imperialismus fur die Oppenheimer-Festschrift bekannt (1924). In diesem Beitrag, in dem Löwe sich nicht nur mit Oppenheimers zentralem Konstrukt der 'Bodensperre', sondern auch mit der Wachstums- und Krisentheorie von Marx, der neomarxistischen Lehre, vor allem von Rosa Luxemburg, sowie der Schumpeterschen Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung auseinandersetzt, werden die Konturen von Lowes späterem zentralen Forschungsprogramm klar erkennbar die Konjunktur- und Wachstumstheorie (vgl. Hagemann 1996a). Zunächst wurde Löwe mit seinem Beitrag zur Brentano-Festschrift (1925a) sowie seiner Kieler Habilitationsschrift mit der Kant nachempfundenen Fragestellung Wie ist Konjunkturtheorie überhaupt möglich? (1926) zum Spiritus Rector der konjunkturtheoretischen Debatte in Deutschland. Obwohl er selbst keine eigene Konjunkturtheorie formulierte, sondern erst mit der Entwicklung der modernen Wachstumstheorie nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Elaborierung seiner Strukturanalyse wirtschaftlichen Wachstums gelangte, stellte Lowes Präzisierung der erkenntnistheoretischen Anforderungen, die an eine Konjunkturtheorie zu stellen sind, vor allem die von ihm aufgeworfene Frage, ob es im Prinzip möglich sei, im Rahmen der Gleichgewichtstheorie eine systematische Erklärung für das Konjunkturphänomen zu liefern, eine zentrale Herausforderung für junge theoretisch orientierte Ökonomen dar. Dies zeigt exemplarisch die Wiener Habilitationsschrift Geldtheorie und Konjunkturtheorie (1929) von -» Friedrich August Hayek, der von 1927-1931 erster Direktor des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung wurde. Hayek wie Löwe leisteten auch entscheidende Beiträge zur Jahrestagung des Vereins für Sozialpolitik, die vom 13. bis 15. September 1928 in Zürich stattfand und einen Höhepunkt der konjunkturpolitischen Debatte im deutschen Sprachraum in der Zwischenkriegszeit darstellte (vgl. ausführlich Hagemann 1996b und Kromphardt 1996). Hayek teilte die Kritik Lowes an allen Konjunkturtheorien, die auf exogene Faktoren zurückgreifen und betonte ebenfalls die Notwendigkeit einer endogenen Konjunkturerkläning.

Allerdings trennten sich die Wege bei der Identifikation des entscheidenden endogenen Störfaktors. Während in der Konjunktur- und Wachstumstheorie Lowes der Technische Fortschritt die herausragende Rolle spielt, sind in der Hayekschen Konjunkturtheorie die monetären Faktoren die ursächlichen, obwohl der Konjunkturzyklus selbst aus realen Änderungen der Produktionsstniktur besteht. Während für Hayek „eine andere als eine monetäre Konjunkturtheorie wohl überhaupt nicht denkbar" (1929, S. 107) war, maß Löwe der Geldsphäre lediglich eine Rolle als „intensivierender Faktor" für das Ausmaß der zyklischen Schwankungen bei (1928, S. 369). Beide betonten die Bedeutung der zugrundeliegenden realen Struktur der Produktion sowie der Veränderungen dieser Produktionsstniktur im Zeitablauf. Während jedoch Hayek seiner Konjunkturtheorie ein Stufenmodell in der österreichischen kapitaltheoretischen Tradition Böhm-Bawerks zugrundelegte, in dem originäre Produktionsfaktoren zu Konsumgütern ausreifen, betonte Löwe die intersektoralen Produktionsbeziehungen sowie den Basisgutcharakter gewisser Kapitalgüter, der im Widerspruch zu der bereits von Burchardt kritisierten „Fehlkonstruktion des letzten Arbeitsringes" (1931, S. 557) des österreichischen Kapitalmodells steht. Während Löwe (1926) aus der Unmöglichkeit einer theoretischen Erklärung des Konjunkturphänomens auf der Grundlage des gleichgewichtstheoretischen Ansatzes die radikale Konsequenz zog, das traditionelle Konzept des allgemeinen Gleichgewichts walrasianischer Provenienz aufzugeben, schied für Hayek eine Preisgabe des gleichgewichtstheoretischen Ansatzes als Ausweg aus dem von Löwe skizzierten methodologischen Dilemma von vornherein aus. Er hielt nicht nur an der traditionellen Gleichgewichtstheorie fest, deren Geltungsbereich er zu erweitern suchte, sondern verteidigte im Gegensatz zu Löwe auch das alte Dogma der Unabhängigkeit von Trend und Zyklus. In völligem Gegensatz zu Hayek war Löwe wie die übrigen Mitglieder der Konjunkturabteilung des Kieler Weltwirtschaftsinstituts einer der wenigen frühen Vertreter einer antizyklischen Fiskalpolitik im deutschsprachigen akademischen Bereich (vgl. Garvy 1975). Löwe gehörte wie -» Emil Lederer zu den wenigen Ausnahmen unter den etablierten Inhabern nationalökonomischer Lehrstühle, die in der heftigen wirtschaftspolitischen Debatte am Ende der Weimarer Republik

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Lowe, Adolph gegen eine allgemeine Lohnsenkung als Mittel der Krisenbekämpfung eintraten. Löwe war es vor allem, der in der Weimarer Lohndiskussion auf die neben Lohn- und Zinssenkungen dritte Möglichkeit der Reduktion der Produktionskosten hinwies: durch Senkung der monopolistisch überhöhten Grundstoffpreise. Die Krise habe im Zeichen der Kartelle und Monopole ihren kapitalistischen Sinn verloren, da diese im Bereich der Grundstoff- oder Basisindustrien (z.B. Kohle) das Ausscheiden unproduktiver Grenzbetriebe verhindern, während andererseits insbesondere die Konsumgüterindustrien überhöhte Preise für ihre Vorprodukte zu zahlen haben. Die Überkapazitäten der Schwerindustrie in Europa waren eine Folge des Krieges; die sektoralen Disproportionalitäten wurden durch die Kartelliening stabilisiert. Angesichts dieser Situation forderte Löwe eine Bereinigung der Monopolindustrien und sah den Ansatzpunkt zur Krisenbekämpfung nicht in allgemeinen Lohnsenkungen sondern in der Wiederherstellung der Konkurrenzfähigkeit der verarbeitenden Industrien, da diese bei Lohnerhöhungen in eine doppelte Kostenklemme geraten. Wiederholt hielt er engagierte Plädoyers für den Abbau der zu unerwünschten Allokationsergebnissen führenden Kartellrente und maß der Lösung des Monopolproblems „die Schlüsselstellung für einen erfolgreichen Kampf gegen Krise und Arbeitslosigkeit" (1930c, S. 430) bei. Im Gegensatz zu marxistischen Theoretikern wie -» Rudolf Hilferding, die in der Depression die Endkrise des kapitalistischen Systems und in der Monopolisierung eine Vorstufe des Sozialismus sahen, da lediglich noch ein Austausch der Führungseliten erforderlich sei, stellte der Kampf für eine von monopolistischen Verfälschungen befreite Marktwirtschaft nach Ansicht Lowes (1931, S. 56-59) eine unmittelbare und vordringliche Aufgabe der Arbeiterbewegung dar. Überhöhte Preise der kartellierten Grundstoffindustrien bedeuten eine Erhöhung der Produktionskosten der verarbeitenden Industrien. Steigen außerdem die Löhne an, so geraten die verarbeitenden Industrien in eine Kostenzange und damit in eine Rentabilitätskrise. Dieser Tatbestand wurde von Löwe deutlich herausgestellt. Dennoch sind Lohnsenkungen keine geeignete Antwort auf eine Kostenverteuerung für die verarbeitenden Industrien, die von Monopolpreisen ausgehen. Im Gegenteil: Ohne Lohnsteigerungen im Ausmaß des Produktivitätsfortschritts wäre die Krise bereits

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eher eingetreten. Zwar sei die Krise von den Konsumgüterindustrien ausgegangen, die gleichzeitig überhöhten Preisen ihrer Vorprodukte ausgesetzt seien, eine einseitige Therapie über eine allgemeine Lohnsenkung wäre jedoch verhängnisvoll, da sie die eigentliche Krisenursache nicht beseitige. Die Lohnsenkung würde die Disproportionalitäten nicht beheben, sondern die Konsumgüterindustrien zunächst noch mehr belasten, da sie vom entstehenden Nachfrageausfall überproportional betroffen würden: Eine Senkung der monopolistisch überhöhten Grundstoffpreise sei daher das Gebot der Stunde. „Freilich würde ein solcher Prozeß der Preissenkung die bisherigen Verluste der verarbeitenden Industrie auf die Monopolindustrien zuriickwälzen und dort zu einer Ausschaltung der Grenzbetriebe führen. Es läßt sich aber schwerlich eine wirtschaftspolitische Maßnahme ausdenken, die so sehr im Gesamtinteresse einer allgemeinen Produktionssteigerung und Preissenkung wirken würde, wie ein Abbau der überkapitalisierten Grundstoffindustrien" (1930c, S. 430). Die Berücksichtigung der Kartellfrage verleiht auch dem Wettbewerbsargument eine zusätzliche Dimension. Da die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen verarbeitenden Industrien durch die überhöhten Preise belastet war, die sie für ihre Vorprodukte zu zahlen hatten, wurde Löwe nicht müde, einen Abbau der Zölle zu fordern, die lediglich Fehlinvestitionen der Kriegsund Inflationszeit sowie Kartellrenten schützten, keineswegs aber - wie vorgegeben - der gesamtwirtschaftlichen Produktion und Beschäftigung dienten. Das Wettbewerbsargument, das üblicherweise meist bei der Forderung nach Lohnsenkungen herangezogen wurde, erhielt somit eine andere Stoßrichtung. In zahlreichen engagierten Plädoyers für Freihandel zur Überwindung der Krise forderte Löwe eine mit der Kartellbekämpfung verbundene Wende in der Zollpolitik, die „die deutschen Monopolindustrien der frischen Luft internationaler Konkurrenz aussetzt" (1930b, S. 294). In Analogie zum Listschen ErziehungszollArgument erhob Löwe den „Erziehungsfreihandel" zur Forderung des Augenblicks: „Dem Plane der Monopolinteressenten, die die Reparationsausfuhren durch eine Senkung der deutschen Geldlöhne rentabel machen möchten, stellt das arbeitende Volk die produktionspolitische Forderung entgegen: Preissenkung und Produktionssteigerung durch Abbau der Monopole auf der

Lowe, Adolph Grundlage einer freihändlerischen Politik" (1930a, S. 40). Insbesondere die mit der Rattenbekämpfung intendierte Produktionssteigerung sollte die Voraussetzung dafür schaffen, die Reparationsverpflichtungen aus dem zusätzlichen Produkt und nicht auf Kosten des existierenden Reallohns zu erfüllen. Die Löwesche Argumentation bedeutete keineswegs, den Zusammenhang zwischen dem inländischen Lohnniveau und der internationalen (Preis-)Wettbewerbsfähigkeit zu leugnen. Konsequenterweise insistierte er aber darauf, daß zunächst einmal die Bedingungen einer Marktwirtschaft konkret zu realisieren seien, bevor auf der Basis eines marktwirtschaftlichen Modellansatzes Lohnsenkungen das Wort geredet würde. Nun ist es unter kreislauftheoretischer Betrachtung durchaus zweifelhaft, ob eine allgemeine Lohnsenkung ein wirksames Mittel zur Depressionsbekämpfung darstellt. Es wurde jedoch von den Vertretern der Kieler Schule anerkannt, daß Lohnsenkungen auf der Kostenseite zu Entlastungen führen, die durch den gleichzeitig bewirkten Kaufkraftausfall nicht gänzlich kompensiert werden, da sie die Wettbewerbsfähigkeit der inländischen Produzenten auf Export- und Importsubstitutionsmärkten verbessern. Da für die Exportindustrien der Kostenaspekt des Lohnes gegenüber dem Kaufkraftaspekt dominant ist, sind sie Gewinner von Lohnsenkungen (Verlierer von Lohnerhöhungen). Emigrationsbedingt verließ Lowe den engeren Rahmen der Wirtschaftstheorie und wurde zum Propagator der Zivilgesellschaft. Zunächst entstanden die Werke Economics and Sociology (1935), ein anspruchsvolles Plädoyer für die Kooperation in den Sozialwissenschafiten, und The Price of Liberty (1937), in dem Lowe den Schlüsselbegriff der 'spontanen Konformität' entwikkelte. Im Gegensatz zu Deutschland hatte der Liberalismus in England eine gemeinsame Alltagsethik geprägt, die trotz größerer wirtschaftlicher Ungleichheit dazu geführt hatte, daß die englischen politischen Institutionen bei weitem die freiheitlichsten waren. Allerdings hatte die politische Freiheit einen Preis: die Selbstbeschränkung des Individuums. Die englische Maxime hätte lauten können: „Vermeide die Extreme. Treibe nie ein Argument bis zur letzten Konsequenz. Das stört den Gemeinsinn." Konsequenterweise machte Lowe in hohem Alter (1988) die allgemeine Desintegration der Gesellschaft, die auch das (nach-)thatcheristische England erfaßt hat, Sorge.

Im zunehmenden Hedonismus und Nihilismus erkennt er eine große Gefahr in Richtung einer Selbstvernichtung der Gesellschaft. Allerdings hofft er auf kleine Katastrophen (1979), ohne die sich möglicherweise die zum Überleben der Menschheit notwendige neue Gemeinschaftsethik nicht herausbildet. In Übereinstimmung mit dem kurz vor ihm verstorbenen Freund Hans Jonas, mit dem ihn eine jahrzehntelange Lehrtätigkeit an der New School verband, sah Lowe es als entscheidende Aufgabe der Gemeinschaftsethik an, die Mittel aufzuzeigen, mit deren Hilfe die Gefahren für das Überleben der Menschheit und die Unverletzlichkeit der Natur abgewendet werden können. Worauf es Lowe zeitlebens ankam, ist der Ausgleich zwischen Freiheit und Ordnung. Das zentrale Problem der Versöhnung individueller Freiheit mit gesellschaftlicher Stabilität steht auch im Brennpunkt seines letzten Werkes Hat Freiheit eine Zukunft?, in dem Lowe analysiert wie angesichts der Desintegrationsprozesse in der westlichen Welt und vor dem Hintergrund moderner technologischer Entwicklungen eine stabile freiheitliche Gesellschaft realisiert werden kann (vgl. Hagemann und Kurz 1990). Lowes Überlegungen zur Kooperation in den Sozialwissenschaften kulminieren 1965 in seinem ersten Hauptwerk On Economic Knowledge (dt.: Politische Ökonomik, 1968), in dem er die wesenhafte Instabilität der modernen Marktprozesse, insbesondere das Dilemma der traditionellen Wirtschaftspolitik analysiert, daß die Instabilität des Mikroverhaltens in den modernen Industriegesellschaften staatliche Stabilisierungsmaßnahmen erforderlich mache, die staatlichen Eingriffe aber nur bei stabilen sozialen Verhaltensregeln mit Aussicht auf Erfolg vorgenommen werden können. Um diesem circulus vitiosus zu entgehen, entwickelte Lowe seine spezifische Methode der Politischen Ökonomik: die 'Instiumentalanalyse'. Gemäß seiner Auffassung, daß es die Aufgabe einer empirischen Wirtschaftswissenschaft ist, durch Analyse die Mittel zu finden für wirtschaftliche Ziele, die eine Gesellschaft sich setzt, beschäftigt sich die Lowesche Instrumentalanalyse mit dem Studium der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um ein bestimmtes Makroziel zu erreichen. Entscheidendes Charakteristikum der Instrumentalanalyse ist die Inversion des Problems gegenüber der positiven ökonomischen Theorie. Was traditionell als unbekannt angesehen wird der Endzustand - , ist in der Instrumentalanalyse

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Lowe, Adolph als bekannt vorausgesetzt - als politische Entscheidung. Umgekehrt kennt die Instrumentalanalyse kein ein für alle Male gültiges Verhaltensprinzip wie etwa Maximierung. Vielmehr ist das zieladäquate Verhalten der Marktparteien selbst eine Unbekannte, die aber theoretisch abgeleitet werden kann, wenn erst die zieladäquaten Prozesse bestimmt sind. Die Instrumentalanalyse fragt nach (I) den geeigneten Anpassungspfaden, auf denen sich das ökonomische System dem vorgegebenen Endziel nähern kann, (2) den Verhaltensweisen und Motivationsstrukturen der Wirtschaftssubjekte, die dazu führen, daß sich das System auf solchen Pfaden bewegt und (3) Maßnahmen der öffentlichen Einwirkung und Kontrolle, die dazu geeignet sind, die erforderlichen Motivationen hervorzurufen. Entsprechend zerfällt die Instrumentalanalyse in zwei Komponenten, die die Lowesche Vorgehensweise prägen. Zum einen beschäftigt sich die 'Strukturanalyse' mit den zielgerechten Entwicklungsmustem der Beschäftigung, Investitionen, des Outputs, usw. Sie konzentriert sich in erster Linie auf technische Beziehungen und weist für unterschiedliche Wirtschaftssysteme analoge Züge auf. Im Gegensatz dazu besitzt die ' Motor'oder 'Force-Analyse', die die Entwicklung der für die Bewegung entlang des strukturell bestimmten Anpassungspfades notwendigen Motivationsstrukturen und Verhaltensweisen der einzelnen Wirtschaftssubjekte verfolgt, wegen größerer Handlungsspielräume sowie der potentiellen Unvereinbarkeit des Mikroverhaltens mit bestimmten Makrozielen naturgemäß für Marktwirtschaften eine weit höhere Bedeutung als für zentrale Planwirtschaften. Angesichts einer zunehmenden Oligopolisierung und Monopolisierung der Märkte, wachsenden Überflusses, einer Verlängerung der Investitionsund Produktionsperioden, usw. geht im organisierten Kapitalismus die klassische Determiniertheit des Verhaltens und damit die Prognosefähigkeit der Theorie verloren. Zwar gilt immer noch ein mikroökonomisches Maximierungskalkül, doch wird es zunehmend durch ein breites Spektrum alternativer Ziele überlagert. Als Resultat können in modernen Industriewirtschaften entgegengesetzte Aktionen als Weg zur Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung verteidigt werden. Dieser kurzfristigen Instabilität des Konsumenten- bzw. Produzentenverhaltens entspricht in längerfristiger Perspektive die technologische Entwicklung

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als Unbekannte. Sinn der Kontrollmaßnahmen ist es daher, den realen Wirtschaftsprozessen den Grad an Ordnung zu verleihen, ohne den theoretische Verallgemeinerungen nicht möglich sind. In diesem Sinne stellt die Politische Ökonomik das Ergebnis einer ständigen Wechselwirkung zwischen Theorie und Politik dar. Lowes Einstellung gegenüber ökonomischen Interventionen ist durch ein dialektisches Verständnis von Freiheit und Beschränkungen geprägt. Wie im Price of Liberty so präzis beschrieben, erfordert die Aufrechterhaltung der Freiheit eine gewisse Selbstdisziplin des Individuums. Wenn Lowe Interventionist ist, um den Widerspruch zwischen einzelwirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher Rationalität aufzuheben, so ist er dies - ähnlich wie Keynes - mit der Intention, die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen fur das langfristige Überleben einer freien Gesellschaft zu schaffen. Sein Plädoyer fur ein modifiziertes, kontrolliertes Marktsystem macht ihn zum führenden Theoretiker der „mixed economy". Die Relevanz seines Ansatzes zeigt sich auch darin, daß drei Jahre nach Erscheinen seine Politische Ökonomik zentrales Thema zweier Symposia in New York - „The Relationship of Economic Theory to Economic Practice" und „Philosophical Aspects of Political Economics" - war, deren Teilnehmerlisten sich wie ein Who's Who der Wirtschaftsund Sozialwissenschaften lesen (vgl. Heilbroner 1969). Lowes zweites Opus magnum. The Path of Economic Growth (1976), beinhaltet die Anwendung der Instrumentalanalyse auf das Wachstumsproblem. Im Mittelpunkt der Löweschen Wachstumstheorie steht die detaillierte Analyse der Traversen-Problematik, d.h. das Studium der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Volkswirtschaft nach Änderungen einer der exogenen Wachstumsdeterminanten - des Arbeitsangebots, der natürlichen Ressourcen und des technischen Fortschritts - in möglichst kurzer Zeit und mit minimalen Opfem auf einen Pfad gleichgewichtigen Wachstums zurückfindet. Ebenso wie Hicks (1973) hat sich Löwe damit einem äußerst bedeutsamen und zugleich schwierigen Problembereich zugewandt, welcher zuvor in der wachstumstheoretischen Analyse weitgehend vernachlässigt wurde. Die traditionelle Steady State-Analyse weist in vielerlei Hinsicht semi-statische Züge auf, da sich in einer gleichmäßig wachsenden Wirtschaft zwar die meisten ökonomischen Variablen än-

Lowe, Adolph dem, die Änderungsrate selbst aber eine Konstante ist. Steady States, die sich wegen dieser Uniformität des Wachstums durch eine gleichbleibende Struktur der Ökonomie auszeichnen, sind de facto zeitlos. Wegen der Konstanz der Struktur kommt auch den Fixkapitalgütern, die eine entscheidende produktionstheoretische Verflechtung der einzelnen Perioden implizieren, in einem gleichgewichtigen Wachstumsmodell keine besondere Bedeutung zu. Diese Situation verändert sich grundlegend bei der Traversenbetrachtung. Das entscheidende Problem, dem man sich außerhalb des Golden Age-Pfades als Folge der exogenen Störung konfrontiert sieht, ist die Unangemessenheit des alten Kapitalstocks gegenüber der neuen Datenkonstellation. Der Anpassungsprozeß erfordert in der Regel sowohl Zeit als auch Kosten. Da die Fähigkeit einer Ökonomie, auf Änderungen der exogenen Wachstumsdeterminanten zu reagieren, in jedem Zeitpunkt durch die Quantität und Struktur der endogenen Faktors Realkapital (sowie durch die vortiandene Humankapitalausstattung) begrenzt ist, kommt dem Realkapital und seiner Bildung, d.h. der Investitionstätigkeit, eine Schlüsselstellung für die dynamische Entwicklung einer Volkswirtschaft zu. Die von Lowe entwickelte Traversenanalyse ist damit auch von besonderer Bedeutung für die begonnenen Transförmationsprozesse ehemals sozialistischer Planwirtschaften in kapitalistische Marktwirtschaften, d.h. gerade für die aktuelle wirtschaftliche Situation Ostdeutschlands mit ihrer spezifischen Kapitalstockproblematik. Die produktionstheoretische Basis des Loweschen Ansatzes bildet ein dreisektorales Fixkoeffizientenmodell, welches aus einer Modifikation der Manischen Reproduktionsschemata hervorgegangen ist. Diese Modifikation besteht in einer Aufspaltung der Investitionsgüterabteilung des Manschen Schemas in zwei vertikal integrierte Sektoren, von denen der erste Maschinen erzeugt, die als Input in den beiden maschinenproduzierenden Sektoren fungieren, während im zweiten die für die Konsumgüterproduktion benötigten Kapitalgüter hergestellt werden. Das besondere Charakteristikum dieser Produktionsstruktur ist ihr innerer Zusammenhalt, der Starrheit und Flexibilität zugleich beinhaltet. Dieses Produktionsmodell dient als Basis eines weiteren Leitthemas, das Lowes Werk wie ein roter Faden durchzieht: Ricardos Analyse des Maschinerieproblems bzw. die Beschäftigungswirkungen des technischen Fort-

schritts (1955b; 1988, Kap. 6). Zwanzig Jahre nach der Emigration konzentrierte Lowe sich wieder stärker auf die reine Wirtschaftstheorie und die zentralen Forschungsthemen aus der Zeit in Kiel. Vor dem Hintergrund der durch Harrod und Domar eingeleiteten modernen Wachstumstheorie setzte er sich mit der Analyse des Wirtschaftswachstums bei den Klassikern auseinander (1954) und entwickelte seine Strukturanalyse der Realkapitalbildung (1952; 1955a), die auch dem Path zugrundeliegt (vgl. Hagemann 1990). Die Analyse der durch Innovationsstöße ausgelösten Traversen kann als später Versuch Lowes verstanden werden, seine Vision einer dynamischen Theorie aus Kieler Zeiten einzulösen. Lowe erhielt zahlreiche Ehrungen, so u.a. die Ehrendoktorwürden der New School for Social Research 1964 und der Universität Bremen 1983. Lowe, der in Kiel als Lehrstuhlinhaber in der Nachfolge von Ferdinand Tönnies stand, war Ehrenmitglied der deutschen Gesellschaft für Soziologie. 1979 erhielt er die Veblen-Commons-Medaille der amerikanischen Institutionalisten und 1989 die Ehrenbürgerschaft der Frankfurter Universität. 1984 überreichte ihm Bundespräsident Weizsäcker in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbuttel das Große Bundesverdienstkreuz. Schriften in Auswahl: (1914) Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Eine kriminologische Untersuchung, Berlin. (1924) Zur ökonomischen Theorie des Imperialismus, in: R. Wilbrandt, A. Löwe, G. Salomon (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Ökonomik und Soziologie der Gegenwart. Festschrift für Franz Oppenheimer zu seinem 60. Geburtstag, Frankfurt a.M., S. 189-228. (1925a) Der gegenwärtige Stand der Konjunkturforschung in Deutschland, in: M.J. Bonn/M. Palyi (Hrsg.): Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege. Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag, München/Leipzig, Bd. 2, S. 329-377. (1925b) Chronik der Weltwirtschaft, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 22, S. l*-32*.

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Lowe, Adolph (1926)

(1928)

(1930a) (1930b)

(1930c) (1931)

(1935)

(1937) (1952) (1954)

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(1965)

(1969)

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Wie ist Konjunkturtheorie überhaupt möglich?, in: Weltwirtschaftliches Archiv. Bd. 24, S. 165-197. Über den Einfluß monetärer Faktoren auf den Konjunkturzyklus, in: K. Diehl (Hrsg.), Beiträge zur Wirtschaftstheorie (= Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 173/11), München/Leipzig. S. 335-370. Reparationspolitik, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Bd. 1, S. 37-41. Lohnabbau als Mittel der Krisenbekämpfung?, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Bd. 1, S. 289-295. Lohn - Zins - Arbeitslosigkeit, in: Die Arbeit, Bd. 7, S. 425-430. Der Sinn der Weltwirtschaftskrise, in: Neue Blätter für den Sozialismus, Bd. 2, S. 49-59. Economics and Sociology. A Plea for Co-Operation in the Social Sciences, London. The Price of Liberty. A German on Contemporary Britain, London. A Structural Model of Production, in: Social Research, Bd. 19, S. 135-176. The Classical Theory of Economic Growth, in: Social Research, Bd. 21, S. 127-158. Structural Analysis of Real Capital Formation, in: M. Abramovitz (Hrsg.): Capital Formation and Economic Growth, Princeton, S. 581634. Technological Unemployment Reexamined, in: G. Eisermann (Hrsg.): Wirtschaft und Kultursystem. Festschrift für Alexander Rüstow, Zürich, S. 229-254. On Economic Knowledge. Toward a Science of Political Economics, New York; 2. erweiterte Aufl. White Plains 1977; dt. Übers.: Politische Ökonomik, Frankfurt/Wien 1968; 2. erw. Aufl. Königstein/Ts. 1984. Toward a Science of Political Economics sowie Economic Means and Social Ends. A Rejoinder, in: R.L. Heilbroner (Hrsg.): Economic Means and Social Ends. Essays in Political Economics, Englewood Cliffs, N.J., S. 136 und 167-199.

(1976) (1979)

(1984)

(1987)

(1988)

(1989)

The Path of Economic Growth, Cambridge. Die Hoffnung auf kleine Katastrophen. in: Μ. Greffrath (Hrsg.): Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlem. Reinbek, S. 145-194. Zur Ortsbestimmung der Gegenwart, in: H. Hagemann, H.D. Kurz (Hrsg.): Beschäftigung, Verteilung und Konjunktur, Bremen, S. 26-33. Essays in Political Economics: Public Control in a Democratic Society, edited and introduced by A. Oakley, Brighton. Has Freedom a Future? New York; dt. Übers.: Hat Freiheit eine Zukunft? Marburg 1990. Konjunkturtheorie in Deutschland in den zwanziger Jahren, in: B. Schefold (Hrsg.): Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie VIII, Berlin, S. 75-86.

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Lowe, Yehuda Ludwig Hagemann, H., Kurz, H.D. (Hrsg.) (1984): Beschäftigung, Verteilung und Konjunktur. Zur Politischen Ökonomik der modernen Gesellschaft, Festschrift für Adolph Lowe, Bremen (enth. Bibliographie). Hagemann, H., Kurz, H.D. (1990): Balancing Freedom and Order: On Adolph Lowe's Political Economics, in: Social Research, Bd. 57, S. 733753. Hayek, F.A. (1929): Geldtheorie und Konjunkturtheorie, Wien. Heilbroner, R.L. (1969): Economic Means and Social Ends. Essays in Political Economics, Englewood Cliffs, N.J. Hicks, J. (1973): Capital and Time, Oxford. Hoffmann, W.G. (1931): Stadien und Typen der Industrialisierung, Jena. Kahler, A. (1933): Die Theorie der Aibeiterfireisetzung durch die Maschine, Greifswald. Krohn, C.-D. (1987): Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt/New York. Kromphardt, J. (1996): Der Beitrag Adolf Lowes zur Konjunkturdiskussion im deutschen Sprachraum während der Weimarer Republik, in: V. Caspari, B. Schefold (Hrsg.): Franz Oppenheimer und Adolph Lowe: Zwei Wirtschaftswissenschaftler der Frankfurter Universität, Marburg, S. 251277. Leontief, W. (1928): Die Wirtschaft als Kreislauf, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 60, S. 577-623. Oakley, Α. (1987): Adolph Lowe's Contribution to the Development of a Political Economics, Einleitung zu Lowe (1987), S. 1-24. Quellen: BHb II; NP; Arestis, P., Sawyer, M. (Hrsg.): Biographical Dictionary of Dissenting Economists, Aldershot 1992. Harald Hagemann

Lowe, Yehuda Ludwig, geb. 16.5.1905 in Magdeburg, gest. 17.8.1983 in Engelberg/ Schweiz Als er noch ein Kind war, übersiedelte die Familie nach Hamburg. Nach dem Abitur wollte Lowe die Landwirtschaft kennenlernen und arbeitete als Praktikant in einem bäuerlichen Familienbetrieb und in verschiedenen landwirtschaftlichen Großbetrieben. 1929 bestand er die Inspektorenprü-

fung. Daraufhin studierte er an der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin. Das Thema seiner Dissertation war von Thünens Lehre. Er promovierte 1933 bei Prof. Aereboe als Agrarökonom. Seine Familie war zionistisch gesinnt und daher emigrierte er 1933 sofort nach Palästina. Er hatte typisch 'jeckische' Eigenschaften, die ihm seine Integration in der neuen Heimat erschwerten. Er war pünktlich, genau bis zur Pedanterie und hielt treu an seinen Prinzipien fest. Er bestand auf seinen Ansichten und neigte nicht zu Kompromissen, was ihm in seiner Berufskarriere später manchmal hinderlich war. In Palästina arbeitete er in den ersten Jahren als Landwirt. 1937-42 war er als Assistent des Direktors der landwirtschaftlichen Forschungsstation in Rehovot für die wirtschaftliche Planung der neuen jüdischen Ansiedlungen verantwortlich. Mit vielen der neuen Siedlungen, an deren Gründung er beteiligt war, blieb er in Verbindung und war ihnen, wenn nötig, behilflich. 1942 bot ihm S. Hofften, der Leiter der Anglo-Palestine Bank (heute Bank Leumi) eine Stelle als agraiökonomischer Berater an. Er hatte sich mit der Zuweisung landwirtschaftlicher Kredite an die verschiedenen Siedlungen zu befassen. Die Siedlungsformen waren: Kibbuz, Moschav (beides Kooperativen) und Moshava (private Farmen). Er kombinierte die Verteilung der Kredite mit der Anleitung zu ihrer Verwendung gemäß der Struktur der Siedlungen und ihrer wirtschaftlichen Lage. Als ihm 1950 die Stelle eines landwirtschaftlichen Attachis in der israelischen Botschaft in Washington angeboten wurde, schwankte er, da er in diesen schwierigen ersten Jahren der Masseneinwanderung gerne an der großen Ansiedlungsarbeit teilgenommen hätte. Aber die Anziehungskraft der diplomatischen Stelle in Amerika war wirkungsvoll genug. Drei Jahre verbrachte er dort und lernte bei dieser Gelegenheit die amerikanische Landwirtschaft mit ihren modernen Methoden näher kennen. Als er 1953 zurückkehrte, wurde er im Landwirtschaftsministerium zum Stellvertreter des Direktors der Abteilung für Agrarökonomie ernannt und später zu deren Direktor. Zur selben Zeit war er Verbindungsoffizier zu U.S. Operations Mission in Israel. 1958-63 wurde er Direktor der Instruktionsabteilung. Hier befaßte er sich mit der Strukturanpassung der Farmen an die jeweilige Bodenbeschaffenheit, an Regenfälle, Klima und

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Lutz, Friedrich August Arbeitskräfte und widmete besondere Aufmerksamkeit der gemischten Landwirtschaft. 1958-62 war Lowe Senior Lecturer an der landwirtschaftlichen Fakultät der Hebräischen Universität in Rehovot. Zu dieser Zeit verfaßte er das erste umfassende Buch Uber Agrarökonomie auf Hebräisch: Farm Economics (1957). 1963 erschien eine erweiterte Auflage des Buches: The Farm and its Economic Analysis. Für dieses Buch wurde ihm der Preis Ruppin verliehen. Während dieser Jahre strebte er danach, ein Forschungsinstitut zu gründen, das sich mit der Rentabilität der Landwirtschaft und ihrer verschiedenen Zweige befassen sollte. Viele Schwierigkeiten hatte er zu bewältigen, bis 1963 das Institut eröffnet wurde. Zehn Jahre leitete er es, bis er 1973 in den Ruhestand trat. Das Institut besteht noch heute und bezeugt so das Verständnis seines Gründers für die Bedürfnisse der Landwirtschaft. Yehuda Lowe gehörte nicht zu den Menschen, die den Ruhestand genießen können, und bis zu seinem letzten Tage setzte er seine Arbeit mit all der Energie, die ihn kennzeichnete, fort. Er fuhr im Auftrag des AuBenministeriums 1973-74 in den Iran, um dort ein Institut fur die Leitung landwirtschaftlicher Betriebe und Familienfarmen zu gründen und dessen erste Beamten anzuleiten. In den folgenden Jahren führte er verschiedene Aufträge im Bereich der technischen Hilfe für die Landwirtschaft in der Türkei, in Venezuela und in Zambia aus. Schriften in Auswahl: (1946) Financing of Agricultural Settlements, in: The Palestine Economist. (1955) Economic Planning of Agriculture, in: The Economic Quarterly (hebr.). (1957) Farm Economics, Am Oved, (2. erw. Aufl.: The Farm and its Economic Analysis, ebd. 1963) (hebr.). (1964) Kibbutz and Moshav in Israel - An Economic Study, in: International Explorations of Agricultural Economics, Ames/Iowa. (1974) A Program for Establishing a Farm Management Institute in Iran, in: ENMAC. (1980)

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Mission Report to Small Farm Development Corporation for Planning Family Farm Cooperatives, Israel Association for International Cooperation.

Bibliographie: Andreas, M. (1983): Schrift zum Andenken an Υ. Lowe, nach seinem Tod, in: Moledet, Cooperative Moshav Bulletin. Gedenkschrift (1986) in einer seinem Gedenken gewidmeten Broschüre des Instituts. Quellen: Β Hb I; Ginor, F. (Briefe vom 2.3.92 und 27.5.93). Fanny Ginor

Lutz, Friedrich August, geb. 29.12.1901 in Saarburg/Lothringen, gest. 4.10.1975 in Zürich Lutz studierte Volkswirtschaftslehre in Heidelberg, Berlin und Tübingen, wo er 1925 mit einer Dissertation Der Kampf um den Kapitalbegriff in der neuesten Zeit bei Walter Eucken promovierte. Nach einem kurzen Abstecher in Gefilde außerhalb der akademischen Laufbahn folgte er seinem Doktorvater als Assistent an die Universität Freiburg, wo er sich 1932 habilitierte und bis zu seiner 'freiwilligen' Emigration 1938 tätig blieb. Die Emigration führte ihn über England zur Princeton University in New Jersey an der Ostküste der USA. An der renommierten Universität mußte Lutz seine akademische Laufbahn völlig neu aufnehmen, wurde aber innerhalb kurzer Zeit vom Assistenz- zum Vollprofessor und Lehrstuhlinhaber befordert. Lutz blieb in Princeton bis Anfang der 1950er Jahre, als der engagierte Lehrer und Forscher nach Europa zurückkehrte. Während er den Ruf auf Euckens Lehrstuhl an der Universität Freiburg, wo er 1952 eine Gastprofessur wahrgenommen hatte, noch ablehnte, folgte er 1953 dem Ruf auf eine Professur an der Universität Zürich, wo er bis zu seiner Emeritierung 1972 äußerst aktiv blieb und auch zahlreiche Vorträge hielt, die unter dem Titel seiner 1953 erfolgten Antrittsvorlesung Politische Überzeugungen und nationalökonomische Theorie (1971) veröffentlicht wurden. Während seiner gesamten akademischen Karriere blieb Lutz ein hochgradig produktiver Wissenschaftler, dessen Schriftenverzeichnis - neben mehr als 100 Aufsätzen auch eine Reihe von Büchern mit Beiträgen zur theoretischen Volkswirtschaftslehre - Zeugnis ablegt von der Fähigkeit, weitgespannte Forschungsinteressen mit detailgenauer Auseinandersetzung zu verbinden. Herausragend sind seine Werke zur neoklassischen Geld-, Zins- und Kapitaltheorie, Themenkreise

Lutz, F r i e d r i e b August denen Lutz sich bereits zu Anfang seiner Karriere in Freiburg (1936; 1938) zugewandt hatte, die sein weiteres Schaffen entscheidend prägten (1940; 1945) und die schließlich zur Publikation seines international bekanntesten Werkes, The Theory of Interest (1967), fuhren sollten. In diesem Buch, für Studenten der modernen Zins- und Kapitaltheorie bis heute ein unumgänglicher Klassiker, entwickelte Lutz die Entstehungsgeschichte der modernen Zinstheorie von ihren Anfangen seit Böhm-Bawerk, um auf der Grundlage eines logisch geschlossenen dogmenhistorischen Ansatzes gezielt die Weiterentwicklung der modernen Theorie zu betreiben. Das Wissen um Vorgänger und die Verbindung von Theoriegeschichte und originärer Forschung ist eines der grundlegenden Charakteristika von Lutz' Werken auch zu anderen Themengebieten. Im Falle der Zinstheorie war dies seinen deutschsprachigen Lesern allerdings schon seit 1956 bekannt, dem Jahr, in dem die erste Auflage des Buches auf deutsch publiziert wurde - ein weiteres Beispiel für den sorgfältigen Arbeitsstil des Autors. Neben Werken zur Geld- und Zinstheorie - Lutz (1962) enthält eine lesenswerte Sammlung von Aufsätzen zu diesem Themenkomplex, die allesamt vor 1938 oder aber nach 1950 verfaßt wurden - publizierte Lutz zusammen mit seiner Frau Vera im Jahre 1951 ein weiteres Werk von erheblichem EinfluB: The Theory of Investment of the Firm. Auch hier spielt die Behandlung von Kapital und Zeit in der Tradition von Böhm-Baweik und Friedrich August Hayek eine wichtige Rolle. Sie dient als Ausgangspunkt für den Versuch, datierte Güter in der Tradition der 'österreichischen Schule' mit den Elementen der modernen neoklassischen MikroÖkonomik zu verschmelzen, um so letztere gefügig zu machen für die Erklärung von einzelwirtschaftlichem Investititionsverhalten auf Firmenebene. Auch dieses Werk wurde zu einem bedeutenden Referenzpunkt für die kapitaltheoretische und mikroökonomische Debatte der nächsten Jahre. Das aus heutiger Perspektive vermutlich wichtigste Buch von Lutz blieb jedoch im angelsächsischen Sprachraum das unbekannteste, da es nur auf Deutsch erschien und bis heute nicht übersetzt wurde. Im Jahre 1932 wurde unter dem Titel Das Konjunkturproblem in der Nationalökonomie seine Habilitationsschrift veröffentlicht, die im deutschen Sprachraum frühzeitig den Ruf begründete, daß Lutz auch wirtschaftstheoretischen De-

batten mit den 'Großen' seiner Zunft entscheidende Impulse verleihen konnte. Wiederum diente ihm die Theoriegeschichte als Ausgangspunkt, und diesmal stand sie im Dienst einer Debatte, die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Den Hintergrund zu dieser Veröffentlichung lieferte eine breitangelegte Diskussion im deutschen Sprachraum der zwanziger Jahre zu der Frage, wie der anscheinend reguläre Konjunkturzyklus zu erklären sei. Dire theoretische Brisanz bezog diese Fragestellung aus dem offensichtlichen Widerspruch zwischen der (empirisch weitgehend als unstrittig geltenden) Existenz eines regelhaften Konjunktuizyklus mit parallelen Auf- und Abbewegungen von Preisen und Mengen und der allgemeinen Gleichgewichtstheorie walrasianischer Provenienz, die zu dieser Zeit längst ihren Siegeszug als neues ökonomisches Paradigma angetreten hatte. Schnell spitzte sich das Problem zu auf die methodologische Frage der Vereinbarkeit von allgemeiner Gleichgewichtstheorie und Konjunkturphänomen - eine Fragestellung, die wie keine vor ihr dazu geeignet war, der Debatte um den Sinn oder Unsinn des neuen Paradigmas ein klar umrissenes Feld für die theoretische Auseinandersetzung zu bescheren, und die daher Kritiker und Anhänger des neuen Paradigmas gleichermaßen herausfordern mußte. Den Anfang dabei, die Frage nach den allgemeinen Bestimmungsgründen eines als gegeben unterstellten Konjunktuizyklus in den Dienst der methodologischen Abrechnung mit der allgemeinen Gleichgewichtstheorie zu stellen, hatte bereits 1926 Adolph Löwe, damals Professor an der Universität Kiel und Direktor der Konjunkturforschungsabteilung am Institut für Weltwirtschaft, gemacht. In einem provokanten Aufsatz argumentierte er unter dem Titel Wie ist Konjunkturtheorie überhaupt möglich? (Löwe 1926), daß die allgemeine Gleichgewichtstheorie nicht in der Lage sei, endogene Bestimmungsgründe für regelmäßige zyklische Schwankungen zu liefern und somit ein wesentliches Merkmal des kapitalistischen Alltags zu erfassen. Die Schlußfolgerung war eindeutig: Ein Paradigma, das wesentliche Aspekte der marktwirtschaftlichen Produktionsweise unerklärt lasse, verdiene nicht als allgemeingültiger theoretischer Rahmen akzeptiert zu werden; es sei daher aufzugeben. Der Fehdehandschuh wurde schnell aufgegriffen. Vor allem Hayek in seinem Buch Geldtheorie und Konjunkturtheorie (1929) und -» Joseph A.

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Lutz, Friedrich August Schumpeter in einer Reihe von Aufsätzen (z.B. 1926; 1928) akzeptierten sowohl den Ansatzpunkt (die Existenz eines regelmäßigen Konjunkturzyklus) als auch die damit verbundene Herausforderung, nämlich, daß dieser aus den Prämissen der herrschenden Theorie endogen abgeleitet werden müsse, solle diese Theorie ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit nicht verlieren. Beide versuchten die Ehrenrettung mit verschiedenen Mitteln - Schumpeter mit der Hypothese eines von seinen berühmten Unternehmern getriebenen endogenen technischen Fortschrittes, und Hayek mit seiner Theorie eines endogenen Kreditzyklus. Beide äußerten explizit die Auffassung, mit ihren theoretischen Ansätzen die walrasianische Gleichgewichtstheorie zu ergänzen, nicht aber sie in der Substanz zu verändern oder gar aufzugeben. Lutz' Habilitationsschrift war ein brillanter Beitrag zu dieser Debatte und bildete aufgrund der politischen Entwicklung in Deutschland und Österreich zugleich den Schlußpunkt einer Auseinandersetzung, die erst in den siebziger Jahren in den USA, bedingt durch das Aufkommen der 'Neuen Klassischen Makroökonomie' unter ähnlichen theoretischen Vorzeichen wieder aufleben sollte. In seinem Beitrag untersuchte er, ganz nach dem später zu findenden Strickmuster, zunächst ausführlich die Konjunkturtheorien früherer Autoren unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Gleichgewichtstheorie, bevor er auf die methodologische Fragestellung einging. Seine Schlußfolgerungen, zu denen er auf der Grundlage seines Verständnisses des gleichgewichtstheoretischen Paradigmas gelangte, nimmt in wesentlichen Elementen einige der zentralen Erkenntnisse 'realer' Konjunkturtheorien vorweg, die in den siebziger Jahren entwickelt wurden. Lutz argumentierte, daß eine allgemeine Theorie regelmäßiger Konjunkturzyklen im Rahmen der Theorie des allgemeinen Gleichgewichtes in der Tat weder möglich noch erstrebenswert sei. Die angemessene Einbeziehung von Geld und Kredit in das System lasse zwar, im Gegensatz zur Ricardianischen Überzeugung (und auch im Gegensatz zu deijenigen von Walras), die Möglichkeit einer „allgemeinen Überproduktion" zu, gebe aber keine Handhabe zur Ableitung regelmäßiger Fluktuationen. Die vorgeblich beobachtbare Periodizität sei inkonsistent mit den fundamentalen Grundsätzen der Theorie und müsse daher entweder auf äußere Einflüsse zurückgeführt werden oder sei über geeignete Propagationsmechanismen zu er-

402

klären. Lutz war bereit, die von seinen Kollegen nicht hinterfragte Wahrnehmung der Wirklichkeit seinen theoretischen Schlußfolgerungen anzupassen und schlug daher vor, jeden beobachteten Zyklus als ein historisch einmaliges Ereignis zu verstehen, dessen spezifische Gestalt als die Folge einer exogenen Variation des von der ökonomischen Theorie als gegeben unterstellten Datenkranzes erklärt werden müsse: Systematische Periodizität müsse demzufolge „außerhalb des geschlossenen Systems der ökonomischen Theorie" erklärt werden, entweder über die Abfolge exogener Schocks selbst, oder mittels einer Kombination von stochastischen, exogenen Schocks und spezifischen Propagationsmechanismen (1932). Lutz kam zu dieser Schlußfolgerung, indem er sich einerseits auf die methodologischen Prinzipien der Gleichgewichtstheorie stützte und andererseits die Frage nach exogenen versus endogenen Erklärungsmustem für die behaupteten regelmäßigen, systematischen Parallelbewegungen von Mengen und Preisen in den Mittelpunkt seiner Analyse stellte. Auf dieser Grundlage konnten die Ansätze der Historischen Schule schnell mit dem Vorwurf zurückgewiesen werden, die entsprechenden Autoren hätten induktive mit rein theoretischen Schlußfolgerungen verwechselt. Obwohl in der Analyse von Marx und von Schumpeter durchaus der Versuch unternommen wurde, endogene Gründe für regelmäßige Konjunkturschwankungen zu finden, sei die Marxsche Analyse als logisch inkonsistent zu verwerfen, während Schumpeter implizit irrationales Verhalten seiner Unternehmer unterstelle: Eine korrekte Darstellung von Schumpeters Theorie müsse sich auf technische Veränderungen stützen, und dies sei nichts anderes als eine exogene Veränderung des von der Theorie als gegeben unterstellten Datenkranzes, die per se weder als Auslöser der behaupteten endogenen Fluktuationen gewertet werden könne, noch in irgendeiner Weise Periodizität impliziere. Auf ähnliche Weise wurde Hayeks monetäre Konjunkturtheorie kritisiert, die nicht gezeigt habe, warum ein temporäres Versagen des Preismechanismus notwendigerweise zyklische Schwankungen zur Folge haben sollte, die sich darüber hinaus - wenn schon nicht endogen hervorgerufen - ad infinitum fortsetzen müßten, um regelhafte und systematische Konjunkturschwankungen zu begründen.

Lutz, Friedrich August Lutz' Beitrag zur Konjunkturtheorie erhielt nie die Anerkennung, die er verdient gehabt hätte, zum einen wegen der Sprachbarriere, zum anderen weil die Debatte mit der Emigration ihrer Hauptprotagonisten endete - um erst in den siebziger Jahren wieder aufzuflackern, diesmal allerdings ohne den Vorteil, den Lutz zu einem Markenzeichen seines Gesamtwerkes ausbaute, nämlich die detaillierte Kenntnis und Nutzung der Beiträge von theoriegeschichtlichen Vorgängern, die sich mit ähnlichen Fragestellungen auseinandergesetzt hatten. Im allgemeinen scheint Lutz selbst keine Schwierigkeiten dabei gehabt zu haben, seine ökonomischen Grundüberzeugungen mit einer Lesart der ökonomischen Klassiker wie Ricardo und Smith in Übereinstimmung zu bringen, die jene zu friihen Gleichgewichtstheoretikern reduziert. Allenfalls in späteren Kommentaren zur Wachstumstheorie deutet sich eine kritischere Haltung zum neoklassischen Paradigma an. Während seiner Zürcher Zeit war Lutz ein international hochgeachteter Experte zu Geld- und Währungsfragen. Er war ein früher und glühender Verfechter flexibler Wechselkurse (1954), der seine neoliberalen Positionen u.a. in der Mont Peterin Society vertrat. Die Universität Tübingen, an der er 1925 promoviert hatte, verlieh ihm 1967 die Ehrendoktorwürde. Er selbst wind uns beschrieben als ein sanfter Mensch, der „Festigkeit in den eigenen Überzeugungen mit Respekt für die Überzeugungen anderer" (Niehans 1987, S. 253) zu verbinden wußte. Lutz war ein Kritiker der totalitären Macht und bezahlte für diese Überzeugung mit der Emigration. Wir alle bezahlten indirekt, mit dem Verlust der Kenntnis von Debatten wie deijenigen zur Konjunkturtheorie in den zwanziger und dreißiger Jahren, die abgebrochen wurde dadurch, daS alle Beteiligten den deutschen Sprachraum verließen, und die in dieser Qualität nie wieder aufgenommen wurden - trotz des verbesserten technischen Rüstzeugs, über das Ökonomen viele Jahrzehnte später verfügten. Lutz ist damit sicherlich eines der markantesten Beispiele für den Verlust an Kompetenz und Wissen, den Hitlers Aufstieg zur Macht für die deutsche Volkswirtschaftslehre bedeutete. Schriften in Auswahl: (1925) Der Kampf um den Kapitalbegriff in der neuesten Zeit, Diss. Tübingen.

(1932) (1936)

Das Konjunkturproblem in der Nationalökonomie, Jena (Habil.). Das Gnindproblem der Geld Verfassung, Stuttgart; wieder abgedruckt in: ders., Geld und Währung: Gesammelte Abhandlungen, Tübingen, S. 28-102.

(1938)

(1940)

(1945)

(1951) (1954)

(1956) (1962) (1967) (1968)

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(1971)

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403

Machlup, Fritz Schumpeter, J.A. (1928): The Instability of Capitalism, in: Economic Journal, Bd. 38, S. 361-385. Quellen. Β Hb Π; AEA. Christof Rähl

Machlup, Fritz, geb.

15.12.1902 in Wiener Neustadt, gest. 30.1.1983 in New York

Machlup, SpröBling einer Fabrikantenfamilie, gehört zu jener bemerkenswerten Gruppe von Epigonen der österreichischen Schule der Nationalökonomie - neben ihm vor allem -» Friedrich A. Hayek, -» Gottfried Haberler, Oskar Morgenstern, -» Gerhard Tintner - , alle etwa um 1900 geboren und Studenten an der Wiener Universität nach Ende des Ersten Weltkriegs, die, geprägt von der spezifisch österreichischen Variante der neoklassischen Theorie (repräsentiert vor allem durch Carl Menger, Eugen von Böhm-Bawerk, Friedrich von Wieser), einen Zugang zu einer offeneren, weltweit orientierten Diskussion fanden und in diesem weiteren Rahmen zu höchster Anerkennung gelangten. Es ist kein Zufall, daß alle der genannten österreichischen Ökonomen sich später in Amerika wieder trafen (wenn auch Tintner und Hayek einige Jahre nach dem Krieg nach Europa zurückkehrten). Eine in der Zwischenkriegszeit äußerst intrigenreiche Atmosphäre an der Wiener Universität, welche sich gegen talentierte 'Außenseiter' versperrte, sowie der aufkeimende und später akute Austrofaschismus sorgten dafür, daß diese zweite Generation österreichischen wissenschaftlichen Profils ins Ausland gedrängt wurde. Machlup, der nach dem Ersten Weltkrieg an der Wiener Universität das Studium der Staatswissenschaften begann und 1923 mit einem Doktorat beendete, fühlte sich vor allem von den Fächern Nationalökonomie und Wissenschaftstheorie angezogen. Ökonomie studierte er noch bei Wieser, dem letzten Vertreter der 'alten* österreichischen Schule, und bei -» Ludwig von Mises, der später - ebenso wie Machlup - in den USA landete. Mises war es auch, der Machlups Dissertation betreute, die sich mit Problemen der Goldkernwährung befaßte. Diese Arbeit des 21-jährigen, die 1925 als Buch veröffentlicht wurde, ließ bereits seine Fähigkeit erkennen, theoretische Analyse mit realistisch-relevanten Betrachtungen zu verknüpfen.

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Ohne Chance, den gewünschten wissenschaftlichen Berufsweg einschlagen zu können, trat Machlup - bereits 1922 - in den Familienbetrieb ein, in dem er über zehn Jahre tätig blieb. All diese Jahre hindurch hielt er engen Kontakt mit seinen Studienfreunden und verfolgte weiter seine wissenschaftlichen Interessen, die dann im Jahre 1931 in einem größeren Werk Börsenkredit, Industriekredit und Kapitalbildung einen Niederschlag fanden, das auch ins Englische und Japanische Ubersetzt wurde. Machlups Hoffnung, mit diesem Werk die Habilitation an der Wiener Universität und damit den Zugang zu einer akademischen Laufbahn zu erreichen, scheiterte an der ablehnenden Haltung der Fakultät. 1933 ermöglichte es ihm dann ein RockefellerStipendium, in die USA zu gehen, und so begann - im Alter von 31 Jahren! - Machlups full-time Aktivität als Forscher und Lehrer, die schließlich fast fünfzig Jahre währen sollte und ungemein fruchtbar war. Nach Ablauf des Rockefeller-Stipendiums und einem kurzen Aufenthalt in England wurde Machlup 1935 auf einen Lehrstuhl an der University of Buffalo berufen, wo er bis 1947 blieb, um dann einer Berufung an die Johns Hopkins University zu folgen. 1960 ging Machlup als Nachfolger Jacob Viners an die Princeton University, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1971 verblieb. Dieses altersbedingte Ende der beruflichen Tätigkeit bedeutete aber keineswegs das Ende seiner wissenschaftlichen Aktivität. Machlup übersiedelte im gleichen Jahr als Professor an die New York University, wo er bis knapp vor seinem Tod als Forscher und Lehrer tätig war. Er starb, achtzigjährig, mitten in der Arbeit an einem großangelegten, auf mehrere Bände geplanten Forschungsprojekt Uber industrielle Organisation und Patentwesen, das unvollendet blieb. Eine Würdigung Machlups muß auf mehreren Ebenen ansetzen: inhaltliche Breite und quantitativer Umfang der Forschung, methodologische Einsichten, intellektuelle Intensität, der Lehrer und der Mensch. In all diesen Bereichen stößt man auf besondere Leistungen, die in ihrer Kombination die charakteristische Stellung Machlups in der ökonomischen Wissenschaft begründen. In der heutigen Welt stark ausdifferenzierter Spezialisierungen in jedem Wissenschaftszweig ist es hilfreich und üblich, einzelne Wissenschaftler auf Grund ihres Spezialforschungsgebiets näher zu charakterisieren. Bei Machlup ist dies sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich. Mehr als die

Machlup, Fritz meisten seiner Zeitgenossen bemühte er sich während seines ganzen Lebens, und das erfolgreich, mit vielerlei ökonomischen Problemen theoretisch und empirisch Kontakt zu bewahren und sie zu analysieren. Intellektuelle Fähigkeiten und intellektuelle Neugier paarten sich zu einer breiten Forschungsstrategie. Nicht zu Unrecht hat man daher von Machlup als einem (vielleicht dem letzten?) 'Generalisten' gesprochen (Bitros 1976, VII). Wenn man dennoch versucht, Machlup zu 'kategorisieren', so kann man - je nach persönlicher Beurteilung und Gewichtung - vor allem drei Gebiete hervorheben: internationale monetäre und damit verbundene generelle Fragen, industrielle Organisation und wissenschaftlich-technischer Fortschritt, methodologische und semantische Probleme der Wissenschaft im allgemeinen und der Nationalökonomie im besonderen. Daneben wurden aber immer wieder zahlreiche andere Bereiche aufgegriffen und ausführlich behandelt Probleme der internationalen Beziehungen und insbesondere deren monetäre und finanzielle Aspekte, waren schon das Thema des ersten Werks von Machlup, seiner Dissertation Die Goldkemwährung (192S). Auch seine nächste Veröffentlichung, Die neuen Währungen in Europa (1927), beschäftigte sich mit diesem Thema. Von den rund 25 Büchern, die Machlup insgesamt als Alleinautor publizierte (weitere mit mehreren anderen als Koautor), beschäftigen sich zehn mit Währungsfragen und internationalen monetären Problemen, zwei weitere sind 'realen' Außenwirtschaftsfragen gewidmet, wobei das eine, International Trade and the National Income Multiplier (1943), eine Brücke zur Keynes-Diskussion darstellte, das andere, A History of Thought on Economic Integration (1977) einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Integrationsproblematik leistete. Diese intensive Beschäftigung mit internationalen monetären Problemen, die sich auch in zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen niederschlug, machte Machlup zu einem gesuchten Experten und Berater in den 'heißen' Diskussionen der sechziger und siebziger Jahre, als das Bretten Woods System in eine Krise geriet und neue Wege für den internationalen Zahlungsverkehr gesucht wurden. Zum Thema industrielle Organisation und technischer Fortschritt, das Machlup immer wieder beschäftigte und das in zahlreichen Aufsätzen einen Niederschlag fand, erschien 1962 die umfangreiche, bahnbrechende Studie The Production and Distribution of Knowledge in the United States,

der in den späten siebziger Jahren die Inangriffnahme des (unvollendeten) Großprojekts über das Patentwesen folgte. Machlups Interesse an und Beschäftigung mit wissenschaftstheoretischen und methodologischen Fragen ist über eine große Anzahl von Aufsätzen verstreut, die sich vielfach mit Teilfragen oder aktuellen Diskussionen beschäftigen. In ihrer Gesamtheit liefern sie ein eindrucksvolles Bild von Machlups methodologischer Einstellung. Es ergibt ein deutliches Bekenntnis zur theoretischen und wirtschaftspolitischen Gültigkeit und Nützlichkeit der Modellmethode im allgemeinen und der marginal theoretischen im besonderen, gekoppelt mit einem starken Sinn filr Relevanz und 'common sense' und einer Offenheit für andere Ansätze, so daß Machlup weit eher ein Eklektiker als ein Dogmatiker ist. Wie bereits erwähnt, läßt sich Machlup nicht eindeutig bestimmten Gebieten zuordnen. Neben und zwischen den eben behandelten Hauptinteressengebieten hat sich Machlup immer wieder mit zahlreichen anderen ökonomischen Fragen beschäftigt und zwar zum Teil äußerst intensiv, wie zum Beispiel mit Fragen der Preistheorie und der Marktformen in zwei umfangreichen Bänden The Political Economy of Monopoly (1952b) und The Economics of Sellers' Competition (1952a) mit zusammen 1126 Seiten. Die meisten dieser diversen Themen sind in zahlreichen Aufsätzen behandelt, von denen er mehr als 250 vorlegte (ohne Memoranden, Rezensionen, Stellungnahmen etc.). Die Vielfalt der Themen macht eine zusammenfassende Darstellung, die mehr als eine bloße Aufzählung sein soll, unmöglich. Seine mehr als 25 Bücher und die zehnfache Zahl der zum Teil sehr umfangreichen Aufsätze lassen die Arbeitsfähigkeit, ja die Arbeitswut Machlups erkennen, die er bis ins hohe Alter beibehielt, ohne allerdings je ein weitabgewandter, menschenscheuer 'workaholic' zu werden. Ganz im Gegenteil, Machlups Persönlichkeit war gekennzeichnet durch große Kontaktfahigkeit, Geselligkeit, Liebe zu Musik und Sport (besonders Fechten und Skilaufen), Liebenswürdigkeit und 'Wiener Charme'. Daß er diese Eigenschaften mit einem so enormen Arbeitspensum in Forschung und Lettre verbinden konnte, war Ausdruck einer hohen intellektuellen Begabung, vor allem aber auch einer äußerst raschen Verarbeitungsfähigkeit von neuen Ideen. Dieses Tempo des Denkens faßte Kenneth Boulding im Jahre 1970 bei einem Ban-

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März, Eduard kett in der University of Colorado folgendermaßen zusammen: Oh, happy is the man who sits Beside, or at the feet of, Fritz Whose thoughts, as charming as profound Travel beyond the speed of sound All passing, as he speeds them up. Mach 1, Mach 2, Mach 3, Machlup. With what astonishment one sees A supersonic Viennese, Whose wit and vigour, it appears, Are undiminished by the years. Seine Fähigkeiten als Lehrer, eine Tätigkeit, der er sich gerne widmete, kann nur mehr den Erinnerungen seiner zahlreichen (und erfolgreichen) Schüler entnommen werden. Sie bezeugen, daB seine intellektuell äußerst anregenden und brilliant vorgetragenen Vorlesungen einen großen Anziehungspunkt bildeten und daß er stets für die Studenten da war, ihnen mit Hilfe und Rat zur Seite stand und als Prüfer zwar anspruchsvoll aber immer absolut fair war (siehe Dreyer 1978, besonders Kapitel 2). Machlups Fähigkeit theoretisches Wissen mit Realitätssinn zu verbinden und seine Argumente in besonders luzider Weise logisch zu entwickeln ohne unnötigerweise zu mathematischen Symbolen oder fachchinesischen Ausdrücken zu greifen, machte ihn zu einem gesuchten Berater in wirtschaftspolitischen Angelegenheiten. Mehr als zehn Jahre (1965-1977) war er als Konsulent des US Department of Treasury flir Währungsfragen zuständig und auch von vielen anderen Gremien wurde er fallweise als Experte und Berater zugezogen. Die wissenschaftliche Bedeutung Machlups fand bei seinen Zeitgenossen volle Anerkennung und kam in zahlreichen Ehrungen zum Ausdruck. Sieben Universitäten in verschiedenen Ländern verliehen ihm ein Ehrendoktorat und die prestigeträchtigsten Fachverbände wählten ihn zu ihrem Präsidenten (American Economic Association, International Economic Association, Southern Economic Association, American Association of University Professors). Wenn Machlup in der Dogmengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts etwas weniger in Erscheinung tritt als manche seiner österreichischen und internationalen Kollegen, so hängt das wohl nicht zuletzt mit seinen positiven Qualitäten zusammen. Sein Bestreben und seine Fähigkeit den Kontakt und den Überblick über weite Bereiche seines Faches zu behalten,

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verhinderten es, daß er sich in einem einzelnen Spezialgebiet besonders stark profilierte und dort tiefe Spuren hinterließ. Es gibt kein 'MachlupTheorem', keinen 'Machlup-Effekt'. Auch seine Liebenswürdigkeit, seine Bereitschaft auf andere Meinungen einzugehen, machten seine Persönlichkeit und seine Diskussionsbeiträge weniger 'kantig' als die mancher anderer Ökonomen, die damit den Biographen mehr Stoff liefern. All das ändert aber nichts daran, daß Machlup zweifellos unter die fuhrenden Ökonomen des zwanzigsten Jahrhunderts einzureihen ist. Schriften in Auswahl: (1925) Die GoldkemWährung, Halberstadt (Diss.). (1927) Die neuen Währungen in Europa, Stuttgart. (1931) Börsenkredit, Industriekredit und Kapitalbildung, Wien. (1934) Führer durch die Krisenpolitik, Wien. (1943) International Trade and the National Income Multiplier, Philadelphia. (1952a) The Economics of Seilers' Competition, Baltimore. (1952b) The Political Economy of Monopoly, Baltimore. (1962) The Production and the Distribution of Knowledge, Princeton. (1963) Essays in Economic Semantics, Englewood Cliffs. (1970) Education and Economic Growth, Lincoln. (1977) A History of Thought on Economic Integration, New York. Bibliographie: Bitros, G. (Hrsg.) (1976): Selected Economic Writings of Fritz Machlup, New York. Dreyer, J.S. (1978): Breadth and Depth in Economics. Fritz Machlup - The Man and His Ideas, Lexington. Quellen: Β Hb II; AEA; NP; Who was Who in America. Kurt Rothschild

März, Eduard geb. 21.12.1908 in

Lemberg,

gest. 9.7.1987 in Wien Die Familie, der Vater war Uhrmacher, die Mutter Lehrerin, übersiedelte knapp vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Wien. Im Elternhaus

März, Eduard wurde seit jeher deutsch gesprochen, es herrschte eine Atmosphäre bewuBten, jedoch liberalen Judentums. Unter beengten finanziellen Verhältnissen muBte Eduard März früh einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Nach der 1928 an einer Fachschule abgelegten Matura arbeitete er in einer Textilfabrik und absolvierte gleichzeitig das Studium an der Wiener Hochschule für Welthandel, wo er 1933 den akademischen Grad eines Diplomkaufmanns erwarb. Danach studierte er an der Universität Wien Staatswissenschaften. Knapp vor Abschluß des Studiums muBte er Österreich nach der Okkupation durch HitlerDeutschland verlassen. Politisch hatte sich Eduard März nach den Ereignissen des Justizpalastbrandes im Juli 1927 dem Sozialismus zugewandt. Als Student betätigte er sich in verschiedenen linken Gruppierungen und widmete sich intensiv dem Studium der Manschen Theorie. In der Zeit des Austrofaschismus hielt er volkswirtschaftliche Vorträge an den Wiener Volkshochschulen. Die Verbindung zu dieser Institution verdankte er -» Walter Schiff, Professor fur Statistik und Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien, mit dem er eine getarnte kritische Broschüre über den Ständestaat herausgab. Als frischgebackenem Diplomkaufmann war es März gelungen, eine Anstellung bei der Wiener Niederlassung von IBM zu erhalten. Die berufliche Verbindung mit der weltweit operierenden Firma gab ihm und seiner Familie in den Jahren der Emigration einen existenziellen Rückhalt Zunächst war März zwei Jahre in der Türkei für die dortige IBM-Vertretung tätig. 1940 gelang es ihm, unmittelbar vor Kriegsausbruch ein Visum für die USA zu erlangen, wohin er auf einer abenteuerlichen Reise durch die Sowjetunion und Japan gelangte. Dort studierte er neben seiner beruflichen Tätigkeit bei IBM an der Harvard-Universität, an der er 1943 den Grad des Master of Arts erwarb. Im Krieg war März Mitarbeiter an Radiosendungen für Österreich und meldete sich schließlich freiwillig zur US-Navy. Nach dem Krieg schloB er sein Studium an der Harvard-Universität mit einer Dissertation bei Joseph Schumpeter über Österreichs Wirtschaftsentwicklung nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie ab. Bis zu seiner Rückkehr nach Österreich unterrichtete er an verschiedenen US-Universitäten und Colleges.

In der bedrückenden politischen Atmosphäre der McCarthy-Ära entschloß sich März 1953 zur Rückkehr nach Österreich. Hier arbeitete er zunächst als Konsulent der größten österreichischen Bank, der Creditanstalt-Bankverein, an dem zum 100-jährigen Bestehen des Instituts 19SS herausgegebenen Jubiläumsband Ein Jahrhundert Creditanstalt-Bankverein. Seine intensiven Kontakte zu den Arbeitnehmerorganisationen führten 19S6 zu seinem Eintritt in die Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte, wo er die wirtschaftswissenschaftliche Grandlagenarbeit für die Wirtschaftspolitik aufbaute. Bald wurde er zum Leiter der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung bestellt, die zum 'brain trust' für die Wirtschaftspolitik der Arbeitnehmerseite wurde. Hier entstanden Konzepte und Analysen, die für die wirtschaftspolitischen Programme der Gewerkschaften maßgebliche Bedeutung erlangten. Auch an der Gründung des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen der Paritätischen Kommission 1963 hatte März wesentlichen Anteil. Schon seit seiner Rückkehr nach Österreich hatte sich März engagiert an der ökonomischen und ideologischen Diskussion seiner Partei, der SPÖ, betätigt. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel in deren theoretischer Zeitschrift Die Zukunft und beteiligte sich an der Diskussion zur Erarbeitung der Parteiprogramme 19S8 und 1978. Maßgeblich war sein Beitrag zum Wirtschaftsprogramm der SPÖ 1968, mit dem sich die Partei jene wirtschaftspolitische Kompetenz erwarb, die eine Voraussetzung für den Wahlerfolg 1970 schuf. Zur Lehre an einer Universität konnte März erst 1968 zurückkehren, als er zum Honorarprofessor der Universität Linz ernannt wurde. Insbesondere nach seiner Pensionierung hielt März regelmäßig wirtschaftshistorische Vorlesungen an den Universitäten Salzburg und Wien. Nachdem März 1973 als Abteilungsleiter der Arbeiterkammer in den Ruhestand getreten war, widmete er sich wieder besonders intensiv der Wirtschaftsgeschichte. Als Konsulent der Creditanstalt führte er seine Studien über die Geschichte des Instituts weiter. Darüber hinaus war er nicht nur auf seinem nunmehrigen Forschungsgebiet publizistisch tätig, sondern bewahrte bis zuletzt sein starkes Interesse für Fragen der Wirtschaftspolitk und auch der politischen Entwicklung seines Landes. Durch einen Herzinfarkt wurde er 1987 aus dem Leben gerissen.

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März, Eduard In seiner beruflichen Tätigkeit als Ökonom war März in den USA einige Jahre als Universitätslehrer, nach seiner Rückkehr nach Österreich zunächst vor allem im Bereich der Wirtschaftspolitik tätig. Er gehörte zu jenen Ökonomen, welche den auf den Lehren von Keynes aufbauenden Konzeptionen einer modernen Konjunktur- und Wachstumspolitik in Österreich zum Durchbrach verhalfen. In einem 1954 veröffentlichten Aufsatz Die Hauptpunkte der Keynesschen Lehre bejahte er die Möglichkeit einer nachhaltigen Steigerung von Konsum- und Wohlstandsniveau und betonte in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer aktiven Rolle des Staates fur eine ausreichend hohe Investitionsneigung. März plädierte auch für eine umfassende makroökonomische Planung nach dem Muster der französischen 'planification', wobei er dem vom Staat kontrollierten Sektor in der Industrie und dem Bankwesen eine strategische Funktion zuschrieb. Er verfaßte nicht nur selber eine Vielzahl von Arbeiten zur Wirtschaftspolitik (eine Auswahl enthält das Buch Österreichs Wirtschaft zwischen Ost und West), sondern initiierte im Rahmen der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Wiener Arbeiterkammer, in der auch Philipp Rieger, -> Theodor Prager und Maria Szecsi tätig waren, zahlreiche Studien zu Fragen der Einkommensverteilung, der Kapitalmarktpolitik, der Arbeitsmarktpolitik und der Forschungspolitik. Als Wirtschaftshistoriker ist Eduard März durch grundlegende Werke zum Industrialisieningsprozeß der österreichisch-ungarischen Monarchie hervorgetreten. Seine beiden umfassenden Studien zur Geschichte der Creditanstalt (Österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs 1. und Österreichs Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913-1923) analysieren anhand der Geschichte der Bank die Ursachen des ökonomischen Entwicklungsrückstandes der Habsburgermonarchie sowie die Probleme des Aufholprozesses. Der zentrale Gesichtspunkt ist die strategische Rolle, die den großen Mobilbanken im nachholenden Industrialisierungsprozeß zukommt. Als maßgebliche Eigentümer großer Teile der österreichischen Industrie waren die Banken die Geburtshelfer eines „organisierten Kapitalismus" in Österreich. Bei aller praktischen und politischen Orientierung eines Großteils der Schriften von Eduard März galt sein tiefstes Interesse doch der Theorie. Auf diesem Gebiet waren es die Werke zweier großer

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Ökonomen, mit dem sich März zeitlebens beschäftigte: Karl Marx und Joseph A. Schumpeter. Schumpeter war es - persönlich als akademischer Lehrer und durch sein Hauptwerk Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, der sein Interesse auf die Bankgeschichte lenkte. Mehrere größere Abhandlungen beschäftigen sich mit Weit und Person Schumpeters: mit der wissenschaftssoziologischen Untersuchung der Entstehung von Schumpeters Theorie, mit seinem Wirken als Finanzminister der neu gebildeten Republik Österreich nach dem Ersten Weltkrieg und mit den Bezügen seiner Theorie zum Werk von Karl Marx. Als demokratischer Sozialist war März der Theorie von Marx verpflichtet und fühlte sich wohl bis zuletzt als Marxist. Der Marxismus war für März allerdings kein Kanon feststehender Wahrheiten, sondern ein sozioökonomisches Theoriegebäude, das sich an der realen Entwicklung des Kapitalismus zu bewähren habe und auch ständig weiterentwickelt werden müsse. Die erste Auflage des Buches Die Marxsche Wirtschaftslehre im Widerstreit der Meinungen (1959, zuerst veröffentlicht als Artikelserie in der Zeitschrift Arbeit und Wirtschaft unter dem Pseudonym „Sigmund Schmerling") ist auch stark an der Theory of Capitalist Development Paul Sweezys orientiert, mit dem März in der Zeit seiner Studien- und Lehrtätigkeit in den USA in enger Verbindung stand. Der Schlüssel zu einer befriedigenden Theorie des Kapitalismus lag für März in einer Synthese der Ansätze von Marx und Schumpeter, wobei letzterem bei der Erklärung der Nachkriegsprosperität der Vorzug gegeben wird. Eine wesentlich erweiterte und stark abgeänderte zweite Ausgabe von März' Marx-Buch erschien 1976. Darin spricht er sich dagegen aus, zwei Gattungen der Ökonomie eine marxistische und eine bürgerliche - zu unterscheiden. Sein Werk verstand er als Beitrag zur „einen legitimen ökonomischen Disziplin", ebenso wie er als politischer Mensch von der Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive überzeugt war.

Schriften in Auswahl: (1954) Die Hauptpunkte der Keynesschen Theorie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Bd. 74/1, S. 35-47. (1958) Die Marxsche Wirtschaftslehre im Widerstreit der Meinungen, Wien.

Manes, Alfred (1965)

(1968)

(1976)

(1981)

(1983)

(1987)

Österreichs Wirtschaft zwischen Ost und West. Eine sozialistische Analyse, Wien. Österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs I., Wien. Einfühlung in die Marxsche Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Wien. Österreichs Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913-1923, Wien (engl. Übers. 1986). Joseph Alois Schumpeter - Forscher, Lehrer und Politiker, Wien (engl. Übers. 1991). Erinnerungen, in: F.Stadler (Hrsg.): Vertriebene Vernunft I. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930 - 1940, Wien, S. 499511.

Bibliographie: Bibliographie Eduard Mäiz (1908-1987), in: Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr.48 (1991). Eduard März - 75 Jahre, in: Wirtschaft und Gesellschaft, 9 Jg., Nr. 4 (1983), S. 473^76. Sozialismus, Geschichte und Wirtschaft. Festschrift für Eduard März, Wien 1973. Quelle: Β Hb I. Günther Chaloupek

Manes, Alfred, geb. 27.9.1877 in Frankfurt am Main, gest. 30.3.1963 in Chicago Der Versicherungswissenschaftler Manes studierte ab 1895 in München, Straßburg, Göttingen und London Rechtswissenschaften und promovierte 1898 mit einer Arbeit über Das Recht des Pseudonyms in Göttingen zum Dr. iur. und ein Jahr später in Heidelberg zum Dr. phil. Manes prägte die nationalökonomische Unterdisziplin der 'Versicheningswirtschaft' und vertrat diese Richtung u.a. als Schriftleiter einschlägiger Fachzeitschriften (Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft) oder auch als langjähriger Generalsekretär des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft, der in einer Unzahl von Verbänden führend mitwirkte. Mit dem von ihm herausgegebenen, weltweit einmaligen Versicherungs-Lexikon (1909), für das er auch internatio-

nal vielfach geehrt wurde, legte Manes zugleich die theoretischen Fundamente dieser neuen sozialwissenschaftlichen Forschungssparte. Seit der Eröffnung der Handelshochschule in Berlin lehrte Manes Versicherungswissenschaft und wurde dort Direktor des Versicherungs-Seminars. Er erhielt 1906 den Professorentitel verliehen; ab 1925 nahm er Lehraufträge an der Universität Berlin an, wo er von 1930 bis zu seiner Entlassung 1933 auch als Honorarprofessor tätig war. Manes stammte aus jüdischem Elternhaus, hatte sich bei den neuen Machthabem im Lande aber auch politisch unbeliebt gemacht durch sein frühes und entschiedenes Eintreten fur den Völkerbund ebenso wie durch den offenen 'Internationalismus' seiner Bemühungen um eine zwischenstaatliche Regulierung der Sozialversicherungssysteme. 1935 verließ er Deutschland; anschließend unterrichtete er in Buenos Aires, Santiago de Chile und Rio de Janeiro, bevor er 1936 in die USA einwanderte. Bis 1948 war er Professor für Versicherungswissenschaft an der Indiana State University in Bloomington, anschließend bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1950 Professor fur Wirtschaftslehre und Versicherungswissenschaft an der Bradley University in Peoria, Illinois. Manes hat rund fünfzig Bücher veröffentlicht, und bereits 1905 sprach Schmollers Jahrbuch mit Blick auf seine Leistungen in Theorie und Praxis zu Recht davon, daß sein Werk der Beginn der Kodifizierung der Wissenschaft vom Versicherungswesen darstelle. Dessen Grundlagen und Erfordernisse hat Manes im Lauf der Zeit in fast jeder Hinsicht und Richtung ausgeleuchtet. Sein Werk ist heute nurmehr von historischem Interesse, nicht nur weil die Versicherungsmathematik fortgeschritten ist; ebenso entwertet die unvermeidbare Koppelung seiner Forschungen an den jeweiligen legislativen beziehungsweise umverteilungspraktischen Problemstand seine Erkenntnisse. Schriften in Auswahl: (1898) Das Recht des Pseudonyms unter besonderer Beachtung des bürgerlichen Gesetzbuchs und ausländischen Rechts, Göttingen (iur. Diss.). (1899) Die Diebstahlversicherung, Berlin. (1902) Die Haftpflichtversicherung. Ihre Geschichte, wirtschaftliche Bedeutung und Technik, insbesondere in Deutschland, Leipzig.

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Mann, Fritz Karl (1905a)

(1905b)

(1909)

(1911)

(1918)

(1919)

(1938)

Die Arbeiterversicherung, Leipzig/ Berlin (3. und spätere Aufl.: Sozialversicherung, 7. Aufl. 1928). Versicherungswesen, Leipzig (5. Aufl. mit dem Untertitel: System der Versicherungswirtschaft, 3 Bde., 1930/31). Versicherungs-Lexikon. Ein Nachschlagewerk für alle Wissensgebiete der Privat- und der Sozial-Versicherung (als Hrsg.), Tübingen (3. Aufl. 1930). Ins Land der sozialen Wunder. Eine Studienfahrt durch Japan und die Südsee nach Australien und Neuseeland, Berlin. Staatsbankrotte. Wirtschaftliche und rechtliche Betrachtung, Berlin (3. Aufl. 1922). Versicherungs-Staatsbetrieb im Ausland. Ein Beitrag zur Frage der Sozialisierung, Berlin. Insurance: Facts and Problems. Selected Lectures on Business Administration and Economics, New York/ London.

Quellen: Β Hb II; SPSL 235/6; Wer ist's? 1908/ 1921; Kürschner 1950. Sven Papcke

Mann, Fritz Karl, geb. 10.12.1883 in Berlin, gest. 14.9.1979 in Washington, D.C. In Washington hatte der Nationalökonom, Finanzwissenschaftler und Soziologe Mann, der in der zweiten Entlassungswelle nach Beginn der Hitlerdiktatur zum 30. September 1935 seiner Kölner Professur enthoben worden war, im Jahre 1936 mit seiner Frau Ingeborg Gertrud, geb. Papendieck (1898-1967), und den Kindern Karl Otto, Gisela, Dietrich sowie Hildegard Zuflucht und für sich eine neue Wirkungsstätte als Hochschullehrer an der American University gefunden. Mann entstammte einer angesehenen brandenburgisch-jüdischen Familie evangelisch-reformierten Bekenntnisses. Der Vater, Louis Mann, war erfolgreicher Unternehmer. Er hatte die Edmund Müller & Mann Aktiengesellschaft in BerlinTempelhof mitbegründet und war zuletzt deren Aufsichtsratsvorsitzender. Der Sohn Fritz Karl gehörte während seiner Königsberger und Kölner

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Zeit zu den Aufsichtsratsmitgliedern. Das Unternehmen stellte Lack-, Öl- und Rostschutzfarben her. Louis Mann, eine dem öffentlichen Leben stark zugewandte Natur, hatte im Jahr 1900 den Verband Deutscher Lackfabrikanten e.V. mitgegründet. Eine zur Unterstützung von Studierenden als 'Wohlfahrtseinrichtung' des Verbandes errichtete Stiftung wurde als Kommerzienrat-MannStiftung ins Leben gerufen. In stetem gedanklichem Austausch mit dem Vater - auch ihm ist die Vertreibung, trotz seiner großen Verdienste um die deutsche Wirtschaft, nicht erspart geblieben hat sich Mann über das deutsche Wirtschaftsleben und seine aktuellen Probleme auf dem laufenden gehalten. Ein früher Aufsatz in der Farbenzeitung, dem Organ des Verbandes, Über den Standort der chemischen und der Farbenindustrie (1913/14) zeugt vom praxisnahen Denken Manns. Mann besuchte in Berlin das renommierte Joachimsthalsche Gymnasium, wo er 1902 das Abitur ablegte. Danach studierte er ab dem Sommersemester 1902 Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Freiburg/Br. (1 Semester), München (2 Semester) und Berlin (3 Semester). Zu seinen juristischen Lehrern gehörten u.a. Karl von Amira, Heinrich Brunner, Otto von Gierke, Martin Wolff und Joseph Köhler; zu den Lehrern der Volkswirtschaftslehre Gustav Schmoller, Adolph Wagner, Max Sering, Lujo Brentano und Walther Lötz. Über das Fachliche hinaus betrieb Mann ein breit angelegtes Bildungsstudium, das auch seinen philosophischen und musischen Interessen Raum ließ. So hörte er bei Heinrich Rickert und Georg Simmel Philosophie, Kunstgeschichte bei Heinrich Wölfflin, antike Lyrik bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Am 4. November 1905 legte er die erste juristische Staatsprüfung vor dem Kammergericht in Berlin ab. Als Referendar wurde er dem Amtsgericht Templin (Uckermark) zugewiesen, doch bereits Mitte November ließ er sich aus dem preußischen Justizdienst beurlauben, um im Wintersemester 1905/06 an der Universität München weiteren volkswirtschaftlichen Studien nachgehen zu können. Dort nahm ihn Brentano in sein gemeinsam mit Walther Lötz gehaltenes Seminar auf. Mitte März 1906 kehrte Mann nach Berlin zurück und bat am 18. Mai desselben Jahres die juristische Fakultät der Universität Göttingen um Zulassung zur juristischen Promotion. Die Dissertation, die er einreichte und die auch angenommen wurde, galt dem Thema Die Verpfän-

Mann, Fritz Karl dung eines Wechsels durch Einigung und Übergabe des indossierten Papiers. Ein Beilrag zur Theorie des Wechselaktes. Mit dieser Arbeit wurde er, der in Göttingen nicht studiert hatte und sich nun im Rigorosum fremden Prüfern gegenübersah, am 28. August 1906 von Konrad Beyerle zum Dr. iuris utr. promoviert. Carl Ludwig von Bar bot ihm nach dem Rigorosum die Habilitation an. Doch Mann hatte andere Pläne und so blieb dieses Anerbieten ungenützt. SO Jahre später - zum 28. 8. 1956 - hat ihn die Juristische Fakultät der Georgia-Augusta durch ihren Dekan Georg Erler in Washington, D.C., mit dem goldenen Doktorbrief geehrt. Im Anschluß an den Militärdienst nahm Mann im Juli 1907 seinen endgültigen Abschied aus dem preußischen Justizdienst, um sich weiter der wissenschaftlichen Arbeit widmen zu können und studierte in London Sprachen, in Paris und Berlin Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie. Dabei hatte er sich vorgenommen, insbesondere der Geschichte der volkswirtschaftlichen Ideen vom 16.-18. Jahrhundert nachzugehen. Seine Funde in französischen und englischen Archiven führten ihn zu Montesquieu, John Law und dem französischen Marschall und Festungsbauer Vauban. Über diese Funde berichtete er in französischen und deutschen Schriften, die auch der Festigung seiner Sprachkenntnisse galten. Die Volkswirtschafts- und Steuerpolitik des Marschall Vauban war 1913 das zweite Dissertationsthema, mit dem Mann bei Gustav Schmoller und Max Sering in Berlin zum Dr. phil. promovierte. Es waren zugleich die Kapitel 3 und 4 seiner großen Monographie Der Marschall Vauban und die Volkswirtschaftslehre des Absolutismus. Eine Kritik des Merkantilsystems (1914), mit der er sich am 25. Juli 1914 an der Universität Kiel habilitierte und die Venia legendi für das Fach Nationalökonomie erwarb. Seine Kieler Antrittsvorlesung als Privatdozent galt dem Thema Die Idee der Einkommensteuer im Frankreich der Gegenwart. Wenige Tage später rückte Mann nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Reserveoffizier ins Feld an die Westfront, wurde jedoch im Oktober 1916 nach Rumänien beordert, um dort als Kenner des Landes - er hatte dieses in Friedenszeiten bereist - Sonderaufgaben zu übernehmen. Schließlich wurde er 1918 zum Delegierten der Obersten Heeresleitung bei den deutsch-rumänischen Friedensverhandlungen in Bukarest bestellt. Den wissenschaftlichen Ertrag seines Rumänien-

Einsatzes hat Mann sowohl in der 1918 erschienenen Schrift Kriegswirtschaft in Rumänien als auch in der Abhandlung Das Geldproblem in der rumänischen Besatzungswirtschaft (1919) festgehalten. In beiden Schriften gibt er einen Gesamtüberblick über die Lösungen, welche die vielgestaltigen Wirtschaftsprobleme - und ganz besonders das Geldproblem - im besetzten Rumänien gefunden haben. Nach Kriegsende hielt Mann Vorlesungen und Übungen über Finanzwissenschaft sowie über die Geschichte der sozialökonomischen und sozialistischen Theorien an der Universität Kiel, ehe er im Wintersemester 1919 und im Zwischensemester 1920 mit der Verwaltung eines volkswirtschaftlichen Ordinariats in Breslau beauftragt wurde. Mit Wirkung vom 30. März 1920 wurde er zum beamteten außerordentlichen Professor an der Universität Kiel ernannt. Bernhan) Harms hatte die Fähigkeiten Manns erkannt und ihn an sein Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr geholt, an dem einige Jahre später auch -» Adolf Löwe, -» Gerhaid Colm und -» Hans Neisser ihre akademische Laufbahn begannen. In Kiel begegnete er darüber hinaus dem Juristen Gustav Radbruch, mit dem eine lebenslange Freundschaft entstand. Für Mann war Kiel Sprungbrett. Bereits 1922 wurde er in der Nachfolge von Albert Hesse zum Ordinarius der Staatswissenschaften an der Universität Königsberg und zum Direktor des der Universität angegliederten Instituts für ostdeutsche Wirtschaft ernannt, dessen Vorbild das Kieler Institut gewesen war. Dem Königsberger Institut war die Aufgabe gestellt, „ostdeutsche Wirtschaftskunde" und darüber hinaus „Oststaatenkunde" als Gemeinschaftsarbeit von Wissenschaft und Praxis zu betreiben. Zu seinen Aufgaben gehörte auch - gemeinsam mit W.D. Preyer und H. Teschemacher - die Herausgeberschaft der Königsberger Sozialwissenschaftlichen Forschungen, ein Institutsperiodikum, das sich durch starke soziologische Ausrichtung auszeichnete. Sein besonderes Interesse galt jedoch den zentralen Fragen der finanzwissenschaftlichen Steuerlehre und dem Verhältnis zwischen Finanzwirtschaft und Staatswirtschaft. Die Themen seiner diesbezüglichen Veröffentlichungen behandelten u.a. die Grundsätze der Besteuerung in der Volkswirtschaft, Grundformen der Steuerabwehr, das Reichsnotopfer, Fragen der steuerlichen Lastenverteilung und den Strukturwandel des deutschen

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Mann, Fritz Karl Steuersystems. Diese Arbeiten, ganz besonders aber sein bei den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik in Wien 1926 gehaltenes Referat Wesen und allgemeiner Verlauf der Steuerüberwälzung haben ihn in die vorderste Reihe der finanzwissenschaftlichen Forschung in Deutschland gerückt. Im August 1926 wurde Mann vom preußischen Kultusminister auf den ersten finanzwissenschaftlichen Lehrstuhl in Deutschland, der zum Wintersemester 1926/27 an der Universität Köln neu eingerichtet worden war, berufen. Damit war die R nanzwissenschaft, die bisher bloßer .Annex" der Volkswirtschaftslehre gewesen war, selbständiger Forschungsgegenstand geworden. Er nahm den Ruf auf diesen Lehrstuhl, der auf seinen Wunsch auch die zusätzlichen Lehrgebiete Geld, Kredit und Konjunkturen umfaßte, nach anfänglichem Zögern an, denn nach vier Jahren erfolgreicher Lehr- und Forschungstätigkeit in Königsberg war ihm - wie er selbst bekundet hat - daran gelegen, für seinen weiteren Weg nicht als (bloßer) „Ostexperte" abgestempelt zu werden. Mann begann in Köln sogleich mit der Erweiterung und Vertiefung des finanzwissenschaftlichen Unterrichts. Die bisherige Hauptvorlesung „Finanzwissenschaft" wurde in die beiden Pflichtvorlesungen „Finanztheorie" und „Finanzpolitik" aufgeteilt. Die „Finanzsoziologie" fehlte dabei - sie blieb eine seiner in Köln unerfüllten Hoffnungen. Jedoch zeigen die weiteren von ihm gehaltenen Lehrveranstaltungen sein breites Fachspektrum. So las er nicht nur über Geld und Währung, die Krise der Weltwirtschaft und die Reparationspolitik, sondern auch über die volkswirtschaftlichen Theorien des 19. und 20. Jahrhunderts, Konjunkturen und Krisen, Bankpolitik, Wirtschaftssoziologie sowie die Hauptprobleme und Geschichte des Sozialismus. Neben seinen weit ausgreifenden Forschungsarbeiten hat sich Mann auch wissenschaftsorganisatorischer Aufgaben mit großem Engagement angenommen. So ist auf seine Initiative hin im Jahre 1927 an der Kölner Universität das von ihm selbst geleitete Institut für internationale Finanzwirtschaft gegründet worden. Es sollte sich vorwiegend mit der internationalen Verschuldung und den Reparationsfragen befassen; doch ist es später aufgrund neuer Schwerpunktbildung ohne spezielle Aufgabenstellung als Finanzwissenschaftliches Forschungsinstitut weitergeführt worden.

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In Köln, wo er 1930/1931 auch Dekan seiner Fakultät war, hat Mann seine wissenschaftlich fruchtbarsten Jahre verbracht. Hier entstanden neben vielen Aufsätzen - in rascher Folge jene Bücher, welche die Kölner Schule der Finanzwissenschaft begründeten. Im S. Kapitel des Buches Deutsche Finanzwirtschaft (1929) sind die von Mann 1928 (wieder-) entdeckten und von ihm in Anlehnung an Montesquieus Staatslehre so benannten 'Intermediären Finanzgewalten' dargestellt. Sie fungieren als finanzwirtschaftliche Hilfsorgane, die steuerähnliche Zwangsabgaben erheben. Mann hat sich zeit seines Lebens mit ihnen befaßt. In seinem Buch Der Sinn der Finanzwirtschaft (1978) stellen diese autonomen und halbautonomen Organe eine Gruppe von positiven und negativen Transfers der Finanzwirtschaft dar (vgl. 1978, S. 55). Neuerdings hat M. Kilian in seiner Habilitationsschrift Nebenhaushalte des Bundes die Entwicklungslinien der „Staatsausgaben im weiteren Sinne" „von F.K. Mann bis Christian Smekal" nachgezeichnet (Kilian 1993, S. 208 ff.). Daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Themengebiet nach wie vor aktuell ist, zeigt die 1996 unter dem Titel Budgetflucht und Haushaltsverfassung veröffentlichte Heidelberger Habilitationsschrift von Thomas Puhl, die auch auf Mann verweist (Puhl 1996). Die zweite bedeutende Schrift aus seinen Kölner Jahren, Die Staatswirtschaft unserer Zeit. Eine Einfuhrung (1930), von Mann später als „die erste Einführung der Kölner Schule der Finanzwissenschaft" apostrophiert, ist aus seiner Festrede an der Universität Köln zur 'Reichsgründungsfeier' am 18. Januar 1930 hervorgegangen. Der Vorgang, den er im 1. Teil seiner Schrift als ein Merkmal der neuen Staatswirtschaft beschreibt, ist der Übergang „vom Anteilsystem zum Kontrollsystem". „Die Finanzwirtschaft kontrolliert nicht nur im Nehmen, sondern auch im Geben" (ebd., S. 14). Der 2. Teil der Schrift befaßt sich mit der „hilfsfiskalischen Verzweigung", also den intermediären Finanzgewalten, die, zwischen „Staat und Bürger eingeschoben, auf gesetzlicher Grundlage Zwangsleistungen fordern". Es sind dies „ Z w a n g s i n n u n g e n , Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, Landwirt schaftskammem, Krankenkassen, Berufsgenossenschaften, Versicherungsanstalten. Sie haben wirtschaftsund sozialpolitische Aufgaben übernommen, die ihrem Wesen nach Staatsaufgaben sind", (ebd., S. 20). Den 3. und letzten Teil hatte Mann „Die Öko-

Mann, Fritz Karl nomisierung der Finanzpolitik" überschrieben. Die Finanzpolitik wird zu einer Technik zur Erreichung volkswirtschaftlicher Ziele (vgl. ebd., S. 38). Diese „drei Tendenzen, die wir beobachtet haben, verleihen der Staatswirtschaft unserer Zeit ihr eigentümliches Gesicht. Sie wirken insoweit einheitlich, als sie die Wucht der Staatswirtschaft vermehren und den Spielraum freier Wirtschaftsbetätigung einengen" (ebd., S. 45). Sein Buch Steuerpolitische Ideale. Vergleichende Studien zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung 1600-1935 (1937) schließlich, 1978 neu aufgelegt und mit einem Nachwort Manns versehen, ist bis heute das „Standardwerk der Dogmengeschichte der Besteuerung geblieben" (Klaus Mackscheidt). Im Nachwort faßte Mann die Resultate seines Forschens folgendermaßen zusammen: „Steuerpolitische Ideale der Gegenwart erstrecken sich auch auf drei weitere, oft ineinander verzahnte wirtschaftspolitische Ziele: die Verteilung von Kaufkraft und Geldkapital; die 'Sozialisierung der Risiken'; und - nicht zuletzt - die geplante Relation der beiden Sektoren der Volkswirtschaft" (19372, S.367). Darüber hinaus behandelte er 1928 in der Festgabe fur Georg von Schanz Die Gerechtigkeit in der Besteuerung. Dieser Aufsatz bedeutete ihm sehr viel und fand auch die Zustimmung Radbruchs, denn Mann habe darin ,,[d]en nur formalen Charakter der Gerechtigkeit ... an dem Beispiel der Steuergerechtigkeit anschaulich [gezeigt]" (Radbruch 1950, S. 127 Anm.). In einer gemeinsam mit Hans Carl Nipperdey verfaßten Kommentierung Steuergutscheine und Tariflockerung (1933) erläuterte er die 'Notverordnung des Reichspräsidenten zur Belebung der Wirtschaft vom 4. September 1932'. Es ging dabei um Fragen, die auch heute in neuer Form diskutiert werden: (1) die Stärkung der Betriebe durch fiskalische Entlastung, erleichterte Kreditbeschaffung und Tariflockerung bei Gefahrdung der Betriebe, (2) Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung und (3) die Sicherung der öffentlichen Haushalte und die Aufrechterhaltung der Sozialversicherung. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung konnte Mann aufgrund des sog. 'Frontkämpferprivilegs' nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zunächst in seinem Amt verbleiben. Mit der Aufhebung dieses Privilegs im Jahr 1935 war jedoch auch er rassisch Verfolgter des NS-Regimes geworden. Wegen „Fortfall

des Lehrstuhls" - so lautete die Begründung wurde er kurzfristig zum 30.9.1935 von seinen amtlichen Verpflichtungen entbunden. Zum Ende des gleichen Jahres wurde Mann auch die Lehrbefugnis entzogen. In dieser Situation hat sich Mann, bedrängt von der Sorge um seine Familie, im September 1935 an den Academic Assistance Council in London gewandt und um Hilfe bei der Suche nach einer neuen, eventuell auch bloß vorübergehenden akademischen Tätigkeit gebeten. Die erhoffte Hilfe ist ihm - allerdings erst ein Jahr später aus den USA - zuteil geworden. Auf Vermittlung Edwin R.A. Seligmans und durch die Finanzierungshilfe der Rockefeller Foundation konnte Mann im Oktober 1936 mit seiner Familie in die USA emigrieren. Einige Monate vorher hatte er sich bei seinem zukünftigen „Dienstgeber", der American University in Washington, D.C., persönlich vorgestellt. Seine erste Begegnung mit der Neuen Welt hatte tiefe Eindrücke in ihm hinterlassen, worüber er auf der Heimreise am 24.6.1936 vom Schiff aus Seligman berichtete: „Die Eindrücke, die ich von meinem zweimonatigen Aufenthalt in Amerika mitnehme, sind über Erwarten groß. Jedenfalls aber scheint es mir, daß der Wissenschaftler - besonders auch der Nationalökonom - noch eine große Aufgabe in Ihrem Lande zu erfüllen hat. Ich war über die Aufgeschlossenheit gegenüber volkswirtschaftlichen Problemen nicht wenig erstaunt. Vielleicht haben die trüben Erfahrungen der langen Depressionsperiode hierzu beigetragen. Auch aus diesen Gründen reizt es mich ungemein, mit der neuen Arbeit zu beginnen". Mann stand bereits in seinem sechsten Lebensjahrzehnt, als er im Oktober 1936 in eine neue Kultur und in eine neue Sprachwelt eintrat. Der Anfang und das Eingewöhnen waren nicht leicht, galt es doch auch, sich im akademischen Unterricht auf die viel formlosere Weise des LehrerSchüler-Verhältnisses und damit auf neue Lehrmethoden umzustellen. Von 1936 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1956 arbeitete er als Professor of Economics an der American University in Washington, D.C., davon zwischen 1948 und 1954 als Chairman des Department of Economics and Business Administration, und 1945 gründete er The American University Institute on Federal Taxes, dessen Direktor er bis 1954 blieb. Darüber hinaus wurde Mann, der inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden war, in den Jahren 1943 und 1944 vom War Department als Sachver-

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Mann, Fritz Karl ständiger für Wirtschaftsfragen und vom Industrial College of the Armed Forces als Director of Research zur Mitarbeit herangezogen. Dabei kamen ihm auch seine Erfahrungen und die Einsichten aus der Kriegswirtschaft während des Ersten Weltkrieges zugute. Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat Mann die Verbindungen zu seinen Freunden in Deutschland und zu den deutschen Universitäten wieder aufgenommen, insbesondere zur Kölner Universität, an der er in den Sommersemestem in begrenztem Umfang als Gastprofessor noch Vorlesungen hielt. Seine Deutschlandbesuche verband er mit Erholungsaufenthalten sowie Begegnungen mit alten und neugewonnenen Freunden. Mann hat sich in den 23 Jahren, die ihm nach seiner 1956 erfolgten Emeritiening noch beschieden waren, weiterhin anspruchsvollen Aufgaben gewidmet. So gab er 1965 das Werk History of Economic Analysis seines Freundes -» Joseph A. Schumpeter in deutscher Sprache unter dem Titel Geschichte der ökonomischen Analyse heraus und veröffentlichte 1970 aus dessen NachlaB das Buch Das Wesen des Geldes. Daniber hinaus publizierte er zahlreiche eigene selbständige Schriften und Aufsätze, u.a. das Buch Finanztheorie und Finanzsoziologie (1959), in dessen Vorwort Mann ausdrücklich darauf hinweist, daß er auch nach seiner Übersiedlung in die USA die „finanzwissenschaftliche Arbeit in der früheren Linie fortgesetzt" habe. 1977 verfaßte er zur dritten Auflage des Handbuchs der Finanzwissenschaft den Abriß einer Geschichte der Finanzwissenschaft. Noch als 89jähriger hat Mann im August 1972 - zusammen mit Kenneth Ε. Boulding, -> Gottfried Haberler, Jan Tinbergen und anderen - an einem internationalen Symposium der Universität Augsburg über „Grants and Exchange" mit einem eigenen Beitrag Distribution and Redistribution in the Public Sector of the Economy teilgenommen. Sein letztes Buch, Der Sinn der Finanzwissenschaft (1978), kann als Überblick über sein Lebenswerk gelten. Mann wurde mit zwei Ehrendoktoraten ausgezeichnet: 1959 von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt am Main und 1967 von der (damaligen) Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen. Diese hat in ihrer Verleihungsurkunde in ihm den Forscher gewürdigt, „der in beispielhaften Monographien den Zusammenhang zwischen ökonomischer Dogmenge-

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schichte und allgemeiner Geistesgeschichte sichtbar gemacht hat, der als einer der ersten in zukunftweisenden Studien die enge Verknüpfung von Finanzpolitik und Wirtschaftspolitik analysiert hat, der die Finanztheorie durch die fruchtbare Anwendung soziologischer Fragestellungen und Erkenntnisse bereichert hat." Mann erhielt darüber hinaus das Große Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und war Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sowie Mitglied zahlreicher gelehrter Gesellschaften, wie z.B. des Hauptausschusses des Vereins fur Sozialpolitik (bis 1935), der Herder Gesellschaft in Riga und Correspondent de l'Institut International de Sociologie. Zur Rückkehr nach Deutschland hat er sich nicht entschließen können. Mann blieb Wanderer zwischen den beiden Welten Europa und Amerika. Er starb - geistig klar und rege bis zuletzt - 1979 in Washington, D.C. Schriften in Auswahl: (1906) Die Verpfändung eines Wechsels durch Einigung und Übergabe des indossierten Papiers. Ein Beitrag zur Theorie des Wechselaktes, Göttingen (iur. Diss.). (1913/14) Über den Standort der chemischen und der Farbenindustrie, in: Farbenzeitung, 19. Jg., S. 1609-1612. (1914) Der Marschall Vauban und die Volkswirtschaftlehre des Absolutismus. Eine Kritik des Merkantilsystems, München (Habil.). (1918) (1919)

(1926a)

(1926b)

Kriegswirtschaft in Rumänien, Bukarest/Leipzig. Das Geldproblem in der rumänischen Besatzungswirtschaft, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 14, S. 1-30. Ostdeutsche Wirtschaftsforschung, (= Schriften des Instituts für ostdeutsche Wirtschaft an der Universität Königsberg, H. 15), Jena. Wesen und allgemeiner Verlauf der Steuerüberwälzung, in: Boese, F. (Hrsg.): Krisis der Weltwirtschaft. Überbevölkerung Westeuropas. Steuerüberwälzung (= Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 172), S. 275-300.

Maresch, Elisabeth (1928)

(1929) (1930) (1933) (1937)

(1959) (1977)

(1978)

Die Gerechtigkeit in der Besteuerung, in: Beiträge zur Finanzwissenschaft, Bd. 2, S. 112-140. Deutsche Finanzwirtschaft, Jena. Die Staatswirtschaft unserer Zeit. Eine Einführung, Jena. Steuergutscheine und Tariflockerung (zus. mit. H.C. Nipperdey), Berlin. Steuerpolitische Ideale. Vergleichende Studien zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung 1600-1935, Jena; Neuauflage, Stuttgart/New York 1978. Finanztheorie und Finanzsoziologie, Göttingen. Abriß einer Geschichte der Finanzwissenschaft, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 1, S. 77-98. Der Sinn der Finanzwissenschaft, Tübingen.

Bibliographie: Hansmeyer, K.-H., Mackscheidt, K. (1988): Fritz Karl Mann (1883 bis 1979), in: Henning, F.-W. (Hrsg.): Kölner Volkswirte und Sozialwissenschaftler, Köln/Wien, S. 15-38 (enth. Auswahlbibliographie). Kilian, M. (1993): Nebenhaushalte des Bundes, Berlin. Knill, Ch. (1980): Fritz Karl Mann f, in Finanzarchiv, N.F., Bd. 38, S. 1-3. Puhl, Th. (19%): Budgetflucht und Haushaltsverfassung, Tübingen. Radbruch, G. (1950): Rechtsphilosophie, 4. Aufl., Stuttgart. Schumpeter, J.A. (1965): Geschichte der ökonomischen Analyse. Nach dem Manuskript hrsg. von Elizabeth B. Schumpeter. Mit einem Vorwort von F.K. Mann, Göttingen. Schumpeter, J.A. (1970): Das Wesen des Geldes. Aus dem Nachlaß hrsg. und mit einer Einf. vers, von F.K. Mann, Göttingen. Quellen: Β Hb Π; SPSL 235/2; AEA; HLdWiWi 1966; ISL 1984; WA; E.C. 24; Rhb.d.Dt.Ges., Bd.2, 1931; NDB 16; Kölner Universitätsgeschichte, Bd. 2, 1988; Finanzwissenschaftliche Forschung und Lehre an der Universität zu Köln 1927-1967, Köln 1967; Golczewski, F. (1988): Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus, Köln; Bohnke-Kollwitz, J. (Hrsg.): Köln

und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959-1984, Köln; Göppinger, H. (1990): Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich", 2. Aufl., München; Loos, F. (Hrsg.) (1987): Rechtswissenschaft in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren, Göttingen; Auskünfte: Geheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz Berlin, Universitätsarchive Göttingen und Köln. Karl Weinhard

Maresch, Elisabeth, geb. 16.12.1914 in Wien Maresch emigrierte 1938 nach ihrer Promotion im Fachgebiet Wirtschaftsstatistik an der Universität Wien in die USA, wo sie ihre wissenschaftliche Tätigkeit nicht wieder aufnahm. Sie heiratete mit 33 Jahren und blieb im Anschluß daran als Hausfrau der Erwerbsarbeit fern. In ihrer Dissertation hat sie sich intensiv mit der Analyse der Beweggründe fur die Berufstätigkeit verheirateter Frauen auseinandergesetzt und sah in der Unverträglichkeit bestimmter Berufe mit Haushaltsverpflichtungen, vor allem infolge mangelnder Zeitflexibilität, dafür die entscheidenden Hindernisse. Maresch hat auf Anregung ihres Lehrers Wilhelm Winkler, in dessen Institut sie als Forschungsassistentin tätig war, ein bis dahin unbearbeitetes Thema, die Berufstätigkeit der verheirateten Frau, aufgegriffen und in ihrer Dissertation eine statistische Auswertung der Volkszählung 1934 über dieses Thema für Wien vorgenommen. Die Fragestellungen in der Dissertation sind geprägt von der Suche nach Erklärungen für die massiven Vertialtensänderungen der Gesellschaft, insbesondere des markanten Rückgangs der Fertilität, des Anstiegs der Arbeitslosigkeit der Männer und der steigenden Berufstätigkeit verheirateter Frauen im Gefolge der wirtschaftlichen Krise der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Maresch arbeitete den Integrationsgrad der Frauen ins Erwerbsleben im Lebenszyklus, unterschieden nach sozialem Status der Frau und des Ehepartners, heraus. Des weiteren untersuchte sie den Effekt der Berufstätigkeit der Frau auf die Fertilität, unterschieden nach sozialem Status und „haushaltsfreundlichen" sowie „haushaltsfeindlichen" Berufsgruppen. Dem Effekt der Arbeitslosigkeit des Ehepartners auf die Erwerbsbeteiligung der Frau ging sie ebenfalls nach.

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Mars, John Die Erwerbsbeteilung der verheirateten Frau war 1934, unabhängig von ihrer sozialen Stellung, in jungen Jahren am höchsten. Sie verringerte sich mit steigendem Alter, zunächst kontinuierlich, ab 35 Jahren abrupt. Die höchste Erwerbsquote hatten junge verheiratete Frauen (15-25jährige) ärmerer Schichten. In der Berufstätigkeit dieser Frauen sieht Maresch die finanzielle Voraussetzung für die Möglichkeit zu heiraten. Die Art der beruflichen Tätigkeit, ob haushaltsfem oder -nah, unterscheide sich deutlich nach dem Alter. Junge verheiratete Frauen hätten wesenüich häufiger als ältere Frauen Berufe, die schwer mit Kindererziehung und sonstigen Haushaltsverpflichtungen zu vereinbaren seien. Hierfür werden zwei Gründe angeführt: 1. haushaltsfeme Tätigkeiten sind mit gröBerem Gesundheitsrisiko und körperlicher Belastung verbunden, 2. für haushaltsfeme Berufe werden höhere Löhne gezahlt als für haushaltsnahe. Beide Faktoren seien fur einen früheren Abgang in die reine Hausfrauenarbeit verantwortlich. Frauen mit haushaltsnaher Berufstätigkeit blieben länger erwerbstätig als Frauen mit haushaltsfernen Berufen, da die Kombination von Erwerbsarbeit mit Haushaltsverpflichtungen leichter möglich sei. Ein kohortenspezifischer Effekt der Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen wird besonders hervorgehoben: die Frauengeneration, die während des Ersten Weltkriegs in den Arbeitsmarkt eintrat, hatte eher zu fur Frauen atypischen Berufen Zugang als Frauen früherer und späterer Generationen, da sie Männer am Arbeitsmarkt ersetzen muBten. Die Umschichtung der Frauenerwerbstätigkeit konnte in der Nachkriegszeit nicht zur Gänze rückgängig gemacht werden. Als Hauptursache für die Berufstätigkeit der verheirateten Frau wird ein zu geringes Einkommen des Mannes und/oder Arbeitslosigkeit des Mannes angeführt. Der in der modernen Arbeitsökonomie bekannte Zusatzarbeitereffekt wird von Maresch an Hand der Volkszählungsdaten 1934 für Wiener Haushalte nachgewiesen. Mehr als ein Drittel aller Ehefrauen zwischen 15 und 25 Jahren muBten ihren Mann und, wenn vorhanden, Kinder erhalten. Maresch entgegnet auf die damals übliche Vorstellung, da£ Frauen den Männern „ihre Arbeitsplätze wegnehmen" (S. 20), daB Männer und Frauen nicht dieselben Berufe und Tätigkeiten ausübten, nicht einmal im Bereich der Hilfsarbeitertätigkeit.

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Der einfache Konnex zwischen vermehrter Berufstätigkeit der Frau und geringerer Fertilität wird von Maresch widerlegt. Es gäbe zwei Kräfte mit entgegengesetzter Wirkungsweise: einerseits sei mit größerer Kinderzahl ein verstärktes Hausfrauendasein verbunden, andererseits erfordere eine gröBere Kinderzahl häufig die Berufstätigkeit der Frau, um das finanzielle Überleben der Familie sicherzustellen. Dieser Grad der Komplexität wird an Hand der sozialen Position des Berufs des Ehemannes nachgewiesen. Schriften in Auswahl: (1938) Ehefrau in Haushalt und Beruf. Eine statistische Darstellung für Wien auf Grund der Volkszählung vom 22. März 1934, Schriften des Institutes für Statistik insbesondere der Minderheitsvölker an der Universität Wien, hrsg. von W. Winkler, Wien. Quelle: SPSL 235/3. Gudrun Biffl

Mars, John (bis 1925 Hans Materschläger, Hans Mars), geb. 18.5.1898 in Unter-

dann

Siebenbrunn bei Wien, gest. 17.9.1985 in Baden bei Wien Mars studierte zunächst in Wien, danach in England an der Universität Bristol. Ab dem Wintersemester 1925/26 bis zum Sommersemester 1927 war er an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien eingeschrieben, wo er jedoch erst 1931 promovierte. Von 1926 an war Mars bei der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien beschäftigt, wo er u.a. als Referent für Arbeitswissenschaft und Betriebsrationalisierung tätig war. Diese Arbeit unterbrach er in den Jahren 1931 und 1932 für einen aus Rockefeller-Mitteln finanzierten Studienaufenthalt an der University of Chicago. Mars, der Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei war, verlor seine Stellung bei der Kammer einige Monate nach dem Ausbruch des österreichischen Bürgerkriegs im Juni 1934. Noch im selben Jahr emigrierte er nach Großbritannien. An britischen Universitäten konnte Mars in den ersten Jahren nach der Emigration keine gesicherte Position erreichen. Bis 1935 hatte er, wiederum finanziert von der Rockefeller-Foundation, eine Assistentenstelle an der University of Bir-

Mars, John mingham inne. Die Jahre zwischen 1937 und 1944 verbrachte Mars in Oxford - bis 1940 als Research Student am New College. 1941 lehrte er als Tutor in Economics and Statistics an verschiedenen Colleges, bevor er eine Stelle als Senior Lecturer am Nuffield College antreten konnte. 1946 erhielt er eine Position als Lecturer am Trinity College in Dublin, wechselte jedoch zwei Jahre später als Senior Lecturer an die Universität Leeds. Erst als Reader in Economics an der University of Manchester fand er von 1949 bis 1962 eine letzte, nunmehr längerfristige Anstellung im akademischen Bereich. Anfang 1962 kehrte Mars nach Österreich zurück und arbeitete noch bis 1970 für die Vereinten Nationen, u.a. als Regional Adviser in verschiedenen afrikanischen Staaten sowie als leitender Mitarbeiter des Instituts für Entwicklung und Planung in Afrika. Vor seiner Emigration befaBte sich Mars - aus einer gewerkschaftlichen Perspektive - mit sozialpolitischen Themen auf volks- und betriebswirtschaftlicher Ebene sowie mit Problemen der Arbeitsorganisation. 1930 publizierte er im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik einen ausführlichen Besprechungsaufsatz zu P.H. Douglas' Studie Wages and the Family. Darin diskutierte er den Entwurf eines amerikanischen Minimumlohnsystems, das in Abhängigkeit vom Familienstand des Arbeitnehmers und der Familiengröße variable Lohnzuschläge vorsah. Um allgemeine Lohnerhöhungen zu vermeiden, gleichzeitig jedoch das physische und kulturelle Existenzminimum zu sichern, sollten diejenigen Unternehmen, die höhere 'Familienlöhne' zahlen muBten, aus einem Belastungsausgleichsfonds, an dem alle Unternehmen beteiligt waren, kompensiert werden (vgl. 1930a, S. 182f.). Allerdings sah Mars in einem derartigen, allein von den Arbeitgebern verwalteten Ausgleichsfonds die Gefahr der Schwächung der Macht der Gewerkschaften und forderte daher eine zumindest paritätische Besetzung der Fonds mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern (vgl. 1930a, S. 185 und S. 188). In einem Vortrag über die Haltung der Gewerkschaften gegenüber Maßnahmen der einzelbetrieblichen Sozialpolitik (1930b) setzte sich Mars mit den Motiven der Arbeitgeber, betriebliche Sozialleistungen zu gewähren, auseinander. In diesem Zusammenhang analysierte er u.a. die Frage, ob die Arbeitnehmer über Kapital- und Gewinnbeteiligungen mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem 'ausgesöhnt' werden können und

ob diese Arbeitnehmerbeteiligungen für eine Ergänzung der Lohnpolitik geeignet wären. Femer stellte er die formalen und materiellen Elemente betrieblicher Sozialleistungen dar. Mars Schloß seinen Beitrag mit dem - auch im Hinblick auf die sog. 'Standortdiskussion' der 1990er Jahre aktuellen - Appell, „daß noch überall und jederzeit eine soziale Betriebspolitik dazu führte, daß Leistungen gesteigert und der vermeidbare Produktionsausfall ... verringert wurde. Diesen Erfolg zu erreichen, liegt im Interesse der Volkswirtschaft: der Arbeitnehmerschait und der Unternehmerschaft" (1930b, S. 132). Mit dem dreibändigen Werk Gewerkschaftliches Handbuch des Akkordwesens legte Mars 1931 die erste systematische, von gewerkschaftlicher Seite verfaßte Arbeit auf diesem Gebiet vor. Er versuchte mit dieser umfassenden Darstellung der ökonomischen und rechtlichen Aspekte des Akkordlohns, der Details der Normzeit- und der Verdienstberechnung sowie durch eine neue Begriffssystematik die Gewerkschaftsparole .Akkordlohn ist Mordlohn" (1931, S. 9) zu überwinden und zu objektivieren. Darüber hinaus formulierte er in den jeweiligen Kapiteln Vertragsbestimmungen vor, die den mit Fragen des Akkordwesens befaßten Arbeitnehmervertretem als Verhandlungsgrundlagen dienen konnten. In seinem Emigrationsland Großbritannien fand Mars keinen Anschluß an die dortige Gewerkschaftsbewegung. Er beschäftigte sich nun verstärkt mit konsumökonomischen Themenstellungen, jedoch litt seine publizistische Produktivität offensichtlich unter der Notwendigkeit, sich immer wieder in neue Aufgabengebiete einarbeiten zu müssen. In einem Aufsatz über Credit Costs and Redemption Practices in Hire Purchase (1956) befaßte er sich mit der zunehmenden Bedeutung der Ratenkredite beim Kauf langlebiger Konsumgüter. Er kritisierte die für die Konsumenten undurchsichtigen Geschäftspraktiken der Teilzahlungsbanken und empfahl als letztes Mittel gegen sittenwidrige Ratenkreditverträge Konsumentenstreiks (vgl. 1956, S. 241f.). Kurz vor seiner Versetzung in den Ruhestand kehrte Mars 1962 nach Österreich zurück und wandte sich einem neuen Arbeitsgebiet, der Entwicklungsländerforschung, zu. 1965 verfaßte er für die UN-Economic Commission for Africa einen Bericht über die ökonomischen Rahmenbedingungen der Industrialisierung in Israel. Zwei Jahre darauf legte er mit seinem Buch Afrikani-

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Marschak, Jacob sehe Wirtschaftsintegration (1967) eine Analyse über die Möglichkeiten zur Gestaltung einer 'neuen' Entwicklungspolitik in Afrika vor, die Uber eine rein ökonomische Perspektive hinausging und insbesondere den politischen Konstellationen während des 'Kalten Krieges' explizit Rechnung trug (vgl. 1967, S. 9). Zentrale Punkte des von ihm vorgeschlagenen .Aktionsprogramms", das in einigen Punkten als Vorläufer des 1980 veröffentlichten Berichts der von W. Brandt geleiteten Nord-Süd-Kommission gelten kann, bildeten (1) die Umgestaltung der Wirtschaftsstruktur im landwirtschaftlichen und im industriellen Sektor sowie der Ausbau der Infrastruktur, (2) die Umkehr des Prozesses der absoluten wie relativen Verarmung u.a. durch Maßnahmen der Einkommensumverteilung und verstärkte Entwicklungshilfeleistungen der Industriestaaten, (3) die Verringerung des Bevölkeiungswachstums als Grundlage für die Beseitigung der Arbeitslosigkeit sowie (4) die horizontale und vertikale Wirtschaftsintegration, d.h. den Ausbau der Handelsverflechtungen sowohl in Süd-Süd- als auch in Nord-Süd-Richtung. Infolge seines fortgeschrittenen Alters konnte Mars jedoch auf dem Gebiet der Entwicklungsökonomie nach dieser Publikation keine größere wissenschaftliche Wirkung mehr entfalten. Schriften in Auswahl: (1930a) Der Familienlohn, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 64, S. 179-189. (1930b) Von der negativen zur positiven Einstellung der freien Gewerkschaften gegenüber der sozialen Betriebspolitik, in: Briefs, G. (Hrsg.): Probleme der sozialen Betriebspolitik, Berlin, S. 90-132. (1931) Gewerkschaftliches Handbuch des Akkordwesens. 3 Bde., Wien. (1956) Credit Costs and Redemption Practices in Hire Purchase, in: Accounting Research, Bd. 7, S. 229-243. (1965) Α Report to the Executive Secretary on Investigations into the Economics and the Institutional Framework of Industrialization in Israel, Jerusalem (UN Economic Commission for Africa). (1967) Afrikanische Wirtschaftsintegration. Tatsachen und Perspektiven, Wien u.a.

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Bibliographie: Douglas, P.H. (1925): Wages and the Family, Chicago. Quellen: SPSL 235/4, 61/2; L. Hans Ulrich Eßlinger

Marschak, Jacob, geb. 23.7.1898

in Kiew,

gest. 27.7.1977 in Los Angeles Jacob (bis 1933 Jakob) Marschak wuchs in einer liberalen und stark kosmopolitischen Familie assimilierter Juden auf. Seine Eltern, der Juwelenhändler Israel Marschak und dessen Ehefrau Sophie Khailowsky, sympathisierten mit der ersten russischen Revolution von 1905. Da ihm als Juden die Aufnahme in das klassische Gymnasium verweigert wurde, absolvierte Marschak die Handelsoberschule in Kiew, wo er im Sommer 1915 das Abitur bestand. Unmittelbar danach begann er das Studium an der Hochschule fur Technik und Handel in Kiew, wo ihn Eugen Slutsky als Lehrer in Statistik am stärksten beeinflußte. Gleichzeitig wurde er in der revolutionären Umbruchsituation in Rußland Mitglied der sozialdemokratischen Partei sowie einer sozialistischen Studentengruppe und gewann auch Zugang zu den Arbeitern in der in Kiew konzentrierten Rüstungsindustrie. Als Aktivist in der linken Anti-Kriegsfraktion der Menschewisten wurde Marschak am 6. Dezember 1916 inhaftiert und erst knapp drei Monate später durch die vom neuen Justizminister Kerensky nach dem Sturz des Zaren im Zuge der Februarrevolution erlassene Amnestie aus dem Gefängnis entlassen. Schnell wurde er Sekretär des sozialdemokratischen Stadtkomitees von Kiew und auch in das ukrainische Parlament (Rada) gewählt. Die Offiziersschule, die er seit August 1917 besuchte, wurde nach der bolschewistischen Oktoberrevolution aufgelöst. Wegen einer Lungenerkrankung ging Marschak im Spätherbst „zur Erholung" in den nördlichen Kaukasus, eine Region, die sich schnell als besonders unruhig erweisen sollte. Als knapp Zwanzigjähriger avancierte Marschak hier von März bis Juli 1918 zum Arbeitsminister der kurzlebigen Terek-Sowjetrepublik. Marschaks Hauptaufgabe in dieser Regierung, die er später als „Pädokratie" (vgl. Koopmans 1978, S. X) bezeichnen sollte, war es, für die wenigen Industriearbeiter in der Region - wie in der Ölindustrie um Grosny - eine am deutschen Vorbild orientierte Sozialgesetzgebung vorzubereiten (vgl. ausfuhr-

Marschak, Jacob lieh 1971 und Hagemann 1997). Wegen des eskalierenden Bürgerkriegs wurde seine Position jedoch immer aussichtsloser. Im Herbst 1918 kehrte ein desillusionierter Marschak in das nicht weniger unruhige Kiew zurück, von wo er Anfang 1919 nach Berlin ging und dort direkt in die Spartakuskämpfe hineingeriet. Marschak emigrierte damit als erster einer größeren Gruppe junger russischer Ökonomen und engagierter Menschewisten aus der Sowjetunion nach Deutschland. Dun folgten u.a. -» Paul Baran, Georges Garvy, -> Nathan Leites, Wassily Leontief, -• Mark Mitnitzky und -» Wladimir Woytinsky. Mit letzterem verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Marschak begann sein wirtschaftswissenschaftliches Studium im Frühjahr 1919 an der Berliner Universität, an der ihm Ladislaus von Bortkiewicz die Bedeutung mathematischer und statistischer Methoden für die ökonomische Analyse vermittelte. Bereits nach einem Semester wechselte er an die Universität Heidelberg, wo er vor allem bei ->• Emil Lederer, Alfred Weber und Karl Jaspers eine umfassende sozialwissenschaftliche Ausbildung erhielt. Am 10. November 1922 promovierte Marschak bei Lederer und Weber mit der Dissertationsschrift Die Verkehrsgleichung (1924b) summa cum laude zum Dr. phil. Anschließend war er als Wiitschaftsjounalist tätig: von 1922-24 als freier Mitarbeiter bei der von Albert Halasi herausgegebenen Weltwirtschaftlichen Korrespondenz und verschiedenen gewerkschaftlichen Zeitschriften sowie von 1924-26 als Redakteur der liberalen Frankfurter Zeitung. Von 1926 bis 1928 war er als Referent in der Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Berlin tätig, ehe er fur zwei Jahre in die von -> Adolph Lowe aufgebaute Konjunkturforschungsabteilung des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel wechselte, wo er vor allem Industriestudien fur die Wiitschaftsenquete erstellte, die unter der Leitung von Bernhard Harms im Auftrag des Reichstags angefertigt wurde. Obwohl Marschak 1929 die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte, zerschlug sich der Plan an der Kieler Universität zu habilitieren, da viele Mitglieder der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Marschak als Juden und Sozialdemokraten ablehnten. Marschak ging daher zurück nach Heidelberg, wo er mit der in Kiel verfaßten Schrift Elastizität der Nachfrage Anfang 1930 an der Ruperto Carola

habilitierte und bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung als Privatdozent und Lehrbeauftragter tätig war. Am 20. April 1933 wurde Marschak gemäß dem erst kurz zuvor verabschiedeten 'Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' wegen seiner „nicht-arischen Abstammung" als Assistent des Instituts fur Sozial- und Staatswissenschaften entlassen. Zugleich kündigte das badische Kultusministerium den Lehrauftrag für den Privatdozenten Marschak, der bereits im März mit seinem noch gültigen Paß nach Wien ausgereist war. Nach kurzen akademischen Zwischenaufenthalten in Spanien und Holland nahm Marschak im Herbst 1933 die Einladung auf die Chichele Lectureship in Economics am All Souls College der Universität Oxford an, wo er 1935 auch zum Reader in Statistik ernannt wurde. Noch im selben Jahr wurde er erster Direktor des neugegründeten Oxford Institute of Statistics, das mit finanzieller Unterstützung der Rockefeller Foundation aufgebaut wurde, die vor allem Forschungseinrichtungen förderte, deren Schwerpunkt Probleme der Konjunkturforschung bildeten. Dieses Institut, dessen Leitung 1949 mit -» Frank Burchardt ein weiterer aus Deutschland emigrierter Ökonom übernehmen sollte, erlangte schnell eine hohe internationale Reputation im Bereich theoriegeleiteter empirischer Forschung in der Wirtschaftswissenschaft Mit Burchardt, den Emigranten -» Ernst F. Schumacher und -» Kurt Martin sowie den aus Polen bzw. Ungarn stammenden Michal Kalecki und Thomas Balogh stammten nicht weniger als fünf der sechs Autoren der 1944 erschienenen Studie The Economics of Full Employment vom europäischen Festland. Hierin schlug sich die Personalpolitik seines Gründungsdirektors Marschak nieder, der das britische Universitätssystem erstmals 1927 dank eines mehrmonatigen Reisestipendiums der Rockefeiler Foundation näher kennengelerat hatte und nach seiner Emigration zusammen mit Lowe zum wichtigsten Berater für den 1933 gegründeten Academic Assistance Council, die spätere Society for the Protection of Science and Learning, bei der Einschätzung der wissenschaftlichen Qualifikation emigrierter bzw. hilfesuchender Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler wurde. Oxford stellte für Marschak jedoch nur die erste größere Zwischenstation im zweiten Exil dar. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges befand sich Marschak, dem im Juni 1935 die deutsche Staatsbürgerschaft wieder aberkannt worden war, be-

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Marschak, Jacob reits seit Ende 1938 mit einem Rockefeller-Reisestipendium in den USA, die nun zu seiner endgültigen Heimat werden sollte und deren Staatsbürgerschaft er 1945 erhielt. Im Herbst 1939 nahm Marschak ein neuerliches Angebot von Alvin Johnson, dem Präsidenten der New School for Social Research, an und wurde Lehrstuhl-Nachfolger von Gerhard Colm an der Graduate Faculty, deren Giiindungsdekan und langjähriger Mentor Marschaks, Emil Lederer, kurz zuvor verstorben war. Im Gegensatz zu den meisten anderen emigrierten Wirtschafts- und Sozialwissenschafdern, die an der New School veiblieben, bildete diese für Marschak jedoch nur eine kurze Durchgangsstation. Im Januar 1943 nahm Marschak einen Ruf an die Universität Chicago an und wurde zugleich Direktor der Cowles Commission for Research in Economics, die unter der Leitung von Marschak (1943-48) sowie seines Stellvertreters und späteren Nachfolgers Tjalling Koopmans (1948-S4) vor allem mit ihren Forschungsarbeiten zur Modellierung simultaner Gleichungssysteme und zum wahrscheinlichkeitstheoretischen Ansatz in der Ökonometrie schnell internationales Renommee gewann (vgl. Christ 1994). Hierzu trugen maßgeblich auch die Arbeiten des Frisch-Schülers Trygve Haavelmo bei, der bereits an dem von Marschak in Verbindung mit dem National Bureau of Economic Research von 1940-42 in New York durchgeführten Seminar zur Ökonometrie und mathematischen Ökonomie teilgenommen hatte. Marschaks Rolle bei der Institutionalisierung eines neuen Forschungsgebietes und der Einfluß auf die Entwicklung der modernen Wirtschaftswissenschaft werden auch dadurch verdeutlicht, daß aus dem Kreise der bei der Cowles Commission zwischen 1943 und 1955 in Chicago tätigen Ökonomen und seinen Mitarbeitern mit Koopmans, Haavelmo, Kenneth Arrow, Gerard Debreu, Lawrence Klein, Harry Markowitz, Franco Modigliani und Herbert Simon bis heute nicht weniger als acht Wissenschaftler den Nobelpreis erhalten haben. Als James Tobin 1955 neuer Direktor wurde, wechselte Marschak mit vielen anderen Ökonomen der Cowles Commission, die nun zur Cowles Foundation wurde, von Chicago an die Yale University in New Haven, Connecticut. Von dort nahm er 1960 einen Ruf an die University of California in Los Angeles an, wo er über seine Emeritierung 1965 hinaus bis 1969 Direktor des Western Management Science Institute

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und bis zu seinem Tode Leiter eines interdisziplinären Colloquiums über Mathematik in den Verhaltenswissenschaften blieb. Nachdem Marschak im Anschluß an den Holocaust für viele Jahre nicht nach Deutschland zurückgekehrt war, akzeptierte er 1968 die Ehrendoktorwürde der Universität Bonn. Danach vertiefte sich auch die Aussöhnung mit seinem einstmals so geliebten Heidelberg, aus dem er im Frühjahr 1933 schmählich vertrieben worden war. Bereits 1956-57 hatte die Ruprecht-Karls-Universität den Wiedergutmachungsantrag ihres ehemaligen Privatdozenten aktiv unterstützt, u.a. durch Gutachten von -+ Alexander Rüstow und Alfred Weber. Der dritte Gutachter Jan Tinbergen, zusammen mit Ragnar Frisch 1969 der erste Nobelpreisträger in den Wirtschaftswissenschaften, wies in seinem Schreiben vom 30. Oktober 1956 darauf hin, daß eine „ganze Reihe erstklassiger Untersuchungen in englischer Sprache beweis[e], daß Marschak einer der fuhrenden Männer der Ökonometrie ist und schon 1933 war" (UCLA, Jacob Marschak Papers, Box 154). Die späte Anerkennung Marschaks durch die Heidelberger Universität kam auch darin zum Ausdruck, daß ihn die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät im Jahr des fünfzigjährigen Jubiläums seiner Doktorprüfung am 6. Juli 1972 die Ehrendoktorwürde verlieh. Marschaks Heidelberger Doktorarbeit über die Quantitätsgleichung oder 'Fishersche Verkehrsgleichung' (1924b) bringt bereits sein frühes und lebenslang andauerndes Interesse für Probleme und Motive der Geldhaltung, unter besonderer Berücksichtigung von Unsicherheit und der Bedeutung von Informationen für das wirtschaftliche Verhalten, zum Ausdruck. Charakteristisch für Marschak ist auch die zugrundeliegende Idee, daß die Geldnachfrage besser verstanden werden kann, wenn man sie in eine allgemeine Theorie der verbundenen Nachfrage nach verschiedenen Aktiva einbettet. Sein in England entstandener Aufsatz über die Geldnachfrage als ein Element der Vermögenshaltung von Individuen (1938) sowie sein späterer Aufsatz über die Geldhaltung bei vollständiger und unvollständiger Information (1949) sind bedeutsame frühe Beiträge in der Entwicklung der modernen Geldtheorie. Marschaks erste wissenschaftliche Veröffentlichung, die bereits zu den „papers with the greatest permanent interest" (Arrow 1978, S. 502) zu rechnen ist, war der Aufsatz Wirtschaftsrechnung und

Marsehak, Jacob Gemeinwirtschaft (1924a), in dem er sich mit der von -» Ludwig von Mises kurz zuvor aufgestellten These von der Unmöglichkeit sozialistischer Wirtschaftsrechnung auseinandersetzte. Marschak, der in der Weimarer Zeit an seinen sozialistischen Überzeugungen festhielt, fühlte sich durch Mises' SchluBfolgenuig, daß das Problem der Wirtschaftsrechnung „Beweis" dafür sei, daS der Sozialismus undurchführbar ist, herausgefordert. Er hielt der Misesschen These, daß es ohne freien Markt keine Preisbildung und ohne freie Preisbildung keine Wirtschaftsrechnung gebe, zunächst das empirische Argument entgegen, daß die Voraussetzungen der freien Konkurrenz immer weniger erfüllt seien und eine an die freie Konkurrenz anknüpfende Wirtschaftlichkeitsrechnung daher in Frage gestellt sei. Vielmehr zeige die zunehmende Bildung von Kartellen und Konzemen, daß die Vorteile der monopolistischen Wirtschaftsrechnung gerade auf den beiden Gebieten liegen, „die durch Mises' Skepsis besonders betroffen werden: auf dem Gebiete der Wirtschaftsrechnung für Güter höherer Ordnung und auf dem Gebiete der Dynamik" (1924a, S. 514). Der von Mises gepriesene Vorzug „exakter" Preisbildung auf dem freien Markt verliere gerade mit Blick auf diese beiden Ebenen an Relevanz. Zusammen mit Emil Lederer publizierte Marschak 1926 eine umfangreiche Studie Uber die Klassen und Organisationen - auf dem Arbeitsmarkt, die eine pointierte Analyse des 'neuen Mittelstandes', der Angestellten und Beamten, enthielt, deren starke Zunahme durch den Ersten Weltkrieg beschleunigt worden war (1926). Marschak und Lederer hoben vor allem den gemeinsamen Aspekt der unselbständigen Beschäftigung dieses neuen Mittelstandes mit den Arbeitern und damit die Herausbildung einer einheitlichen Arbeitnehmerschaft hervor. Durch den Zusammenbrach am Ende des Ersten Weltkrieges sowie die anschließende Inflationsperiode seien die noch vorhandenen ökonomischen Differenzen weitgehend eingeebnet und dadurch auch Hemmungen bei den Angestellten zur gewerkschaftlichen Organisierung abgebaut worden. Die Entwicklung laufe daher auf den zentralen Gegensatz Arbeitnehmer - Arbeitgeber hinaus. Die Heidelberger Prägung einer umfassenden sozialwissenschaftlichen Ausbildung wird auch in seiner Faschismusanalyse (1924c) deutlich, die Marschak im Gefolge eines längeren Italien-Aufenthaltes publizierte. Im Gegensatz dazu handelt

es sich bei seinen theoretischen und statistischen Studien zur Nachfrageanalyse, die er mit der Habilitationsschrift begann und später im britischen Exil fortsetzte, um eine im engeren Sinne ökonomische Analyse. So ermittelt Marschak in Elastizität der Nachfrage (1931a) Marktnachfragekurven für einzelne Konsumgüter, indem er haushaltsstatistische Daten auswertet. Zugleich diskutiert der Verfasser nicht nur bestimmte statistische Verfahren, sondern gibt eine innovative und systematische Darstellung der mit der empirischen Marktanalyse verbundenen Probleme. Zusammen mit Frisch und Leontief mufi Marschak als ein früher Pionier auf dem Gebiet der Nachfrageanalyse angesehen werden, bevor Richard Stone seine bahnbrechenden Studien vornahm. Gleichwohl sind Verteilungsfragen und ihr Zusammenhang mit der Beschäftigungsentwicklung als der Themenbereich anzusehen, der in der Spätphase der Weimarer Republik für Marschak zentrale Bedeutung erlangte. Dies wird nicht nur aus seiner Antrittsvorlesung Zur Theorie und Politik der Verteilung deutlich, die Marschak am 22. Februar 1930 an der Heidelberger Universität hielt (1930b), sondern auch aus den zahlreichen Beiträgen, mit denen sich Marschak in die Lohn-Beschäftigungs-Debatte einschaltete, die Mitte der zwanziger Jahre begann und sich nach Einsetzen der Weltwirtschaftskrise und dem Amtsantritt Brünings als Reichskanzler dramatisch zuspitzte. So lieferte er sich u.a. einen Disput mit -» Hans Neisser über die Gültigkeit des Kaufkraftarguments in der Lohnpolitik (1930a). Als bedeutendster Beitrag in diesem Zusammenhang mufi sein Essay Die Lohndiskussion (1930b) angesehen werden. Marschak betont darin die Kostendegression in der Produktion von Massenkonsumgütern als Folge von Reallohnerhöhungen. Dieses „Gesetz stark sinkender Kosten bei Ausweitung der Produktion" (1930b, S. 26) habe zwei Komponenten, die es auseinanderzuhalten gelte: eine kurzfristige Kostendegression, die auf eine verbesserte Auslastung bestehender Produktionskapazitäten zurückzuführen sei, und eine langfristige Kostendegression, die daraus resultiere, daß bestimmte technische und organisatorische Verbesserangen - gerade in Industrien mit einem hohen Fixkostenanteil - erst bei Überschreitung bestimmter Absatzschwellen rentabel und realisiert werden. Marschak sieht diese langfristige Kostendegression als entscheidend an, da die aus der erhöhten Auslastung vorhandener Produktionskapazitäten re-

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Marsehak, Jacob sultierende kurzfristige Kostenersparnis sich auf die fixen Kosten beschränke und zwar den Fixkostenanteil pro Outputeinheit verringere, wegen der Existenz von mit der Produktionsausdehnung verbundenen zusätzlichen Kosten aber nicht ausreiche, um die höheren Löhne zu kompensieren. Sein Verständnis unausgeschöpfter Reserven und Erspamismöglichkeiten ist folglich genuin dynamischer Natur. Es zahlen nicht nur die brachliegenden Kapazitäten, sondern auch die infolge Absatzmangels brachliegenden neuen Produktionsmethoden, wobei in seinen Ausführungen Skalenkomponente und Fortschrittskomponente untrennbar miteinander verknüpft sind. Im Dezember 1931 publizierte Marschak 16 Thesen zur Krisenpolitik, in denen er international koordinierte Arbeitsbeschaffungsprogramme befürwortete, die mittels Kreditausweitung finanziert werden sollten. Seine Thesen waren zuvor als eine Art Memorandum unter den Gegnern der Brüningschen Deflationspolitik zirkuliert und in enger Zusammenarbeit mit Woytinsky entwickelt worden, der in dieser Zeit mit dem Gewerkschaftsführer Fritz Tamow sowie dem Ökonomen und sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Fritz Baade ein vieldiskutiertes Aibeitsbeschaffungsprogramm - den WTB-Plan - verfaßte, das am 13. April 1932 vom Kongreß der freien Gewerkschaften angenommen wurde. Bei aller Kritik Marschaks am übertriebenen „Deckungswahn" und den daraus resultierenden negativen Konsequenzen für Konjunktur und Beschäftigung sollte jedoch nicht übersehen werden, daß er die Grenzen der Kreditausweitung von vornherein betonte und durchgängig präzisierte, um Fehlentwicklungen zu verhindern. So dürfe eine deutsche Kreditausweitung nur ohne Preissteigerung erfolgen, um die Zahlungsbilanz nicht zu gefährden (These 2), was am ehesten durch eine schnelle Verbesserung des Auslastungsgrades vorhandener Produktionskapazitäten ermöglicht würde. Die erhöhte öffentliche Kreditaufnahme müsse jedoch nach eingetretener Steigerung des privaten Vertrauens unmittelbar eingestellt bzw. zurückgeführt werden. Bekanntermaßen fielen diese und andere Empfehlungen für eine „produktive Kreditschöpfung" nicht rechtzeitig auf einen fruchtbaren politischen Boden. Zwar behielt Marschak auch nach der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland seine verteilungs- und beschäftigungstheoretischen wie -politischen Interessen bei, wie es u.a. sein aus-

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führlicher Lohnbeitrag für die Encyclopedia of the Social Sciences (1935) oder sein durch die nachfolgende keynesianische Revolution geprägtes Lehrbuch Income, Employment, and the Price Level (1951) verdeutlichen, jedoch ist beim Studium seiner späteren Schriften unübersehbar, daß die zweite Emigration bei Marschak als ein Schock gewirkt hat, der zu einem Rückzug ins RadikalWissenschaftliche und zum Versuch geführt hat, das Postulat der Wertfreiheit in seinen weiteren wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschungen zu realisieren. Dies verdeutlichen beispielhaft der gemeinsam mit Andrews verfaßte Aufsatz über die statistische Schätzung simultaner Gleichungssysteme (1944), der für die nachfolgenden Studien der Cowles Commission eine große Bedeutung besaß, sowie der 1950 erschienene bahnbrechende Aufsatz Rational Behavior, Uncertain Prospects, Measurable Utility, der die Konsequenzen der modernen axiomatischen Begründung des Nutzens für zahlreiche Wissenschaften aufzeigte und bis heute von fuhrenden Ökonomen hochgepriesen wird, wie es z.B. in Samuelsons Äußerung zum Ausdruck kommt: „For my money Marschak's axioms on expected utility are the definitive ones, preferable to those of von Neumann and of Ramsey - no mean accomplishment" (Samuelson 1988, S. 323). Marschaks Werk konzentrierte sich in den letzten drei Lebensjahrzehnten weitgehend auf die mathematische Analyse der Informations-, Wahlund Entscheidungsprozesse. Stimuliert durch neuere Entwicklungen wie die Spieltheorie wandte er sich bei der Analyse von Entscheidungsprozessen unter Unsicherheit nach Abgabe seines CowlesDirektorats zunächst wieder dem Thema der Geldnachfrage zu, bevor er eine systematische Theorie über den ökonomischen Wert von Informationen und des Verhaltens unter Unsicherheit entwickelte, die wichtige Entwicklungen der Lerntheorie und Psychologie aufgriff und den Themenbereich traditioneller Wirtschaftswissenschaft klar transzendierte. Im wesentlichen lassen sich drei Themenbereiche in Marschaks Spätwerk unterscheiden (vgl. Radner 1984): - Aufbauend auf der Theorie rationaler ökonomischer Wahlhandlungen bzw. der Nutzentheorie und bestimmter psychologischer Meßtheorien entwickelte Marschak einen theoretischen Rahmen zur Analyse annähernd rationaler Entscheidungen wirtschaftlicher Akteure, deren Verhaltenskonsistenz nicht durch empirische Beobachtungen

Marschak, Jacob verifiziert werden kann, da der wissenschaftliche Beobachter nicht in der Lage ist, alle relevanten Entscheidungsfaktoren zu identifizieren. Marschaks in einer Vielzahl von Aufsätzen entwikkelte stochastische Entscheidungstheorie (vgl. 1974, Bd. I) lieferte ein theoretisches Modell für ökonometrische Studien individueller Wahlhandlungen. - Entscheidende Elemente im Entscheidungsprozeß sind Informationen und die Kommunikation zwischen den individuellen Akteuren. Marschaks theoretische Analysen (1974, Bd. Π) zum Wert und zu den Kosten von Informationen wiesen auf die Bedeutung größeren empirischen Wissens bezüglich des Sammeins und der Vermittlung von Informationen hin und haben wegen ihrer synthetischen Zielsetzung die (von ihm selbst nicht durchgeführte) empirische Arbeit in einer Reihe von Fachdisziplinen bis heute befruchtet. - Der relative Wert alternativer Informationsstrukturen und die Frage nach den optimalen Entscheidungsfunktionen bei gegebener Informationsstruktur sind zugleich entscheidende Elemente in der von Marschak später in enger Zusammenarbeit mit Radner entwickelten ökonomischen Theorie von Teams und Organisationen (1972). Ein „Team" ist eine Organisation, deren Mitglieder dieselben Präferenzen und Überzeugungen, aber unterschiedliche Informationen haben und verschiedene Maßnahmen treffen. Das Problem besteht in der Wahl optimaler Entscheidungsregeln, die für jedes Teammitglied seinen Aktionsbereich als Funktion des Informationsstandes bestimmen. Marschak knüpfte mit diesem Ansatz, der die Bedeutung und Problematik dezentralisierter Informationen - und von Anreizsystemen für die Teammitglieder - hervorhob, in seinem Spätwerk wieder an die bereits in seinem ersten wissenschaftlichen Artikel zur sozialistischen Wirtschaftsrechnungsdebatte behandelte Thematik an. Seine Teamtheorie kann als grandiose Interpretation des wirtschaftlichen Koordinationsproblems angesehen werden, das nicht nur für die Funktionsfähigkeit sozialistischer, sondern auch kapitalistischer Systeme relevant ist und zugleich der von -» Friedrich August Hayek betonten Dispersion des Wissens voll Rechnung trägt. Marschaks herausragende wissenschaftliche Leistungen führten zu zahlreichen Ehrungen. So wählte ihn die Econometric Society 1944-45 zum Vizepräsidenten, 1946 zum Präsidenten und 1965-70 zum Council Member. Marschak wurde

1962 Fellow der American Academy of Arts and Sciences, 1963 Honorary Fellow der Royal Statistical Society und 1972 Mitglied der National Academy of Sciences. Er erhielt zahlreiche Gastprofessuren und Ehrendoktorate in den USA, Europa und Israel. Die American Economic Association kürte ihn 1967 zum Distinguished Fellow und 1976-77 zum President Elect, dessen Aufgabe es ist, das Programm der nachfolgenden Jahrestagung vorzubereiten, bei der der Amtsantritt erfolgt. Kurz zuvor erlitt Marschak einen Herzinfarkt, der eines der ungewöhnlichsten Forscherleben eines Wirtschaftswissenschaftlers in diesem Jahrhundert beendete. Schriften in Auswahl: (1924a) Wirtschaftsrechnung und Gemeinwirtschaft. Zur Mises'schen These von der Unmöglichkeit sozialistischer Wirtschaftsrechnung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 51, S. 501-520. (1924b) Die Verkehrsgleichung, in: Archiv für SozialWissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 52, S. 344-384. (1924c) Der korporative und der hierarchische Gedanke im Fascismus I + Π, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Bd. 52, S. 695-728 und Bd. 53, S. 81-140. (1926) Die Klassen auf dem Arbeitsmarkt und ihre Organisationen (zus. mit Emil Lederer), in: Grundriss der Sozialökonomik, Bd. IX, T. 2, Tubingen, S. 106-258. (1930a) Das Kaufkraft-Argument in der Lohnpolitik, in: Magazin der Wirtschaft, S. 1443-1447. (1930b) Die Lohndiskussion, Tübingen. (1930c) Zur Politik und Theorie der Verteilung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 64, S. 115. (1931a) Einige Thesen zur Krisenpolitik, in: Wirtschaftsdienst, Bd. 16, H. 51, S. 2041-2042. (1931 b) Elastizität der Nachfrage, Tübingen. (1935) Wages: Theory and Policy, in: Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 15, New York, S. 291-302. (1938) Money and the Theory of Assets, in: Econometrica, Bd. 6, S. 311-325.

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Marsehak, Thomas A. (1944)

Random Simultaneous Equations and the Theory of Production, in: Econometrica, Bd. 12, S. 143-205 (mit W.H. Andrews).

(1949)

Role of Liquidity under Complete and Incomplete Information, in: American Economic Review, Bd. 39, S. 182-195.

(1950)

Rational Behavior, Uncertain Prospects, Measurable Utility, in: Econometrica, Bd. 18, S. 111-141.

(1951)

Income, Employment, and the Price Level, New York.

(1971)

Recollections of Kiew and the Northern Caucasus, 1917-18. An Interview conducted by Richard A. Pierce, University of California, Regional Oral History Office, Bancroft Library, Berkeley, CA. Economic Theory of Teams (zus. mit Roy Radner), New Haven. Economic Information, Decision, and Prediction. Selected Essays, 3 Bde., Dordrecht/ Boston.

(1972) (1974)

Bibliographie: Arrow, K.J. (1978): Jacob Marschak's Contributions to the Economics of Decision and Information, in: American Economic Review, Bd. 68 (2), Papers and Proceedings, S. XII-XIV. Arrow, K.J. (1979): Jacob Marschak, in: Sills, D. L. (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 18: Biographical Supplement, New York/ London, S. 500-507. Burchardt, F. u.a. (1944): The Economics of Full Employment, Oxford. Christ, C.F. (1994): The Cowles Commission's Contributions to Econometrics at Chicago, 19391955, in: Journal of Economic Literature, Bd. 32, S. 30-59. Hagemann, Η. (1997): Jacob Marschak (18981977), in: R. Blomert, H.U. Eßlinger, Ν. Giovannini (Hrsg.): Heidelberger Sozial- und Staatswissenschaften. Das InSoSta zwischen 1918 und 1958, Marburg, S. 219-254. Koopmans, T. (1978): Jacob Marschak, 18981977, in: American Economic Review, Bd. 68 (2), Papers and Proceedings, S. IX-XI. Krohn, C.-D. (1993): Jacob Marschak, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 16, Berlin, S. 251-252.

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McGuire, C.BVRadner, R. (Hrsg.) (1972): Decision and Organization. Α Volume in Honour of Jacob Marschak, Amsterdam/London (enthält Bibliographie). Mussgnug, D. (1988): Die vertriebenen Heidelberger Dozenten. Zur Geschichte der RuprechtKarls-Universität nach 1933, Heidelberg. Radner, R. (1984): On Marschak, in: Spiegel, H. WVSamuels, W. J. (Hrsg.): Contemporary Economists in Perspective, Greenwich, CT/London, S. 443-460. Samuelson, P.A. (1988): The Passing of the Guard in Economics, in: Eastern Economic Journal, Bd. 14, S. 319-329. Quellen: Β Hb Π; SPSL 235/5; NP; Archivalien, Special Collections Department, University Research Library, University of California in Los Angeles (UCLA), Collection 1275 (Jacob Marschak Papers) und Universitätsarchiv Heidelberg (UAH), Personalakte 3099/Marschak. Harald Hagemann

Marschak, Thomas Α., geb. 31.5.1930 Heidelberg; Sohn von dessen Frau Marianne

in Jacob Marschak und

Marschak war drei Jahre alt, als er im Frühjahr 1933 zusammen mit seinen Eltern über Österreich zuerst nach Frankreich und schließlich im Herbst desselben Jahres nach Großbritannien emigrierte. 1939 verließ die Familie Europa und siedelte in die Vereinigten Staaten über, wo Marschaks Vater in New York eine Professur an der New School for Social Research erhielt. Seinen ersten akademischen Titel erwarb Marschak mit dem Bachelor of Arts 1947 an der Universität von Chicago. Fünf Jahre später Schloß er an der Stanford Universität, wo er 1957 auch promovierte, mit dem Master of Arts ab. Zuvor war er schon seit 1954 als Ökonom bei der RAND Corporation tätig, für die er seit Antritt einer Stelle als Assistenzprofessor an der University of California in Berkeley im Jahr 1960 als Berater fungiert. 1962 wurde er vom dortigen Department of Business Administration zum Associate Professor und 1967 schließlich zum Professor ernannt. Aktuell ist er an der Haas School of Business der UCLA in Berkeley tätig. Marschak war 1962 bis 1963 Research Fellow der Ford Foundation und 1965 bis 1966 Guggenheim Fellow. Zur selben Zeit erhielt er den FulbrightHayes Research Grant.

Marschak, Thomas A. Marschaks wissenschaftliches Werk befaBt sich im wesentlichen mit zwei Themengebieten, deren Auswahl sicherlich auch einen EinfluB der Arbeiten seines Vaters Jacob Marschak widerspiegeln. Zum einen stehen in seinen Veröffentlichungen Fragen der Gestaltung effizienter Organisationen, zum anderen entscheidungstheoretische Aspekte im Vordergrund. Die Grundlagen für diese Ausrichtung wurden in seiner von Kenneth Arrow und Hendrik Houthakker betreuten Dissertationsschrift mit dem Titel Centralization and Decentralization in Economic Organizations gelegt, von der 1959 eine kürzere Fassung unter demselben Titel in Econometrica veröffentlicht wurde. Ausgehend von der Debatte über die Vor- und Nachteile zentraler bzw. dezentraler Planungssysteme innerhalb einer sozialistischen Volkswirtschaft untersuchte Marschak die Frage, welche Planungs- und damit Entscheidungssysteme für ökonomische Organisationen (z.B. Unternehmen) sinnvoll sind. Zu diesem Zweck entwickelte er Definitionen für zentrale, dezentrale und nicht-beschränkte Schemata zur Entscheidungsfindung, die sich vor allem hinsichtlich der Informationsbeziehungen zwischen den Akteuren unterscheiden. Daniber hinaus wurden mögliche Kriterien zur Beurteilung der Effizienz der verschiedenen Vorgehensweisen entworfen und analysiert. Während innerhalb der sozialistischen Wirtschaftsrechnungsdebatte mehrheitlich die dezentrale Lösung bevorzugt wurde, verdeutlichte Marschak, daß eine eindeutige Aussage hinsichtlich der Überlegenheit des einen oder anderen Entscheidungssystems nicht ohne weiteres möglich ist. Das sich einstellende Ergebnis hängt u.a. auch davon ab, welche Kenntnisse eine Organisation über ihre Zukunft hat und welche Zeit ein Entscheidungsprozeß in Anspruch nehmen darf und kann. Marschaks Überlegungen haben auch in die Diskussionen Uber die Vorteile der Marktwirtschaft gegenüber der Zentralverwaltungswirtschaft Eingang gefunden. In seinem 1969 in der American Economic Review veröffentlichten Aufsatz On the Comparison of Centralized and Decentralized Economies unterscheidet er zwischen zwei Gruppen von Ökonomen, die sich dem Vergleich zwischen den Wirtschaftssystemen widmen. Während ein Teil der Wissenschaftler, zu dem er selbst gehört, anhand von abstrakten Modellen Beurteilungskriterien entwickelt, untersucht der andere Teil zur Klärung dieser Frage real existierende Volkswirtschaften mit Hilfe von statistisch-öko-

nometrischen Methoden. Beide Vorgehensweisen haben zwar Erkenntnisse gebracht, doch kann Marschak zufolge nur eine Kombination beider Analysemethoden die Forschung über Wirtschaftssysteme entscheidend voranbringen. Der Erfolg eines Entscheidungsfindungsverfahrens in einer Organisation ist in großem Maße von den verfügbaren Informationen abhängig. Unter der Annahme vollständiger Information werden sich andere Planungs- und Entscheidungsprozesse anbieten als bei unvollständiger Information. Hieraus läßt sich der Inhalt eines weiteren Teils der Arbeiten Marschaks erklären, der sich mit den Konsequenzen unterschiedlicher Infonnationsniveaus fur ökonomisches Verhalten auseinandersetzt. In dem zusammen mit Richard Nelson verfallen Aufsatz Flexibility, Uncertainty, and Economic Theory (1962) untersucht Marschak die These, daß in einer unsicheren Welt Flexibilität prinzipiell von Vorteil ist Es zeigt sich, daß flexibles Reagieren vor allem dann von Vorteil ist, wenn sich erwarten läßt, daß zwischen zwei Zeitpunkten, in denen Entscheidungen neu überdacht werden, eine große Menge an neuen Informationen verfügbar wird. Je mehr man lernen und damit die Unsicherheit Uber die Umwelt reduzieren kann, desto mehr Ertrag bringt flexibles Verhalten. Informationsbeschränkungen spielen auch in mehreren gemeinsamen Arbeiten mit Reinhard Selten eine entscheidende Rolle. So analysieren beide Autoren z.B. in General Equilibrium with Price-Making Firms (1974) alternative Gleichgewichtslösungen im Monopol und Oligopol unter Verwendung des von ihnen entwickelten Konvolutionskonzepts, das z.B. die Reaktionen von oligopolistischen Unternehmern auf Handlungen ihrer Mitanbieter abbildet. Die jüngeren Veröffentlichungen Marschaks befassen sich ebenfalls mit der Rolle von Informationen in ökonomischen Systemen. Ein Weg zum Abbau von Informationsdefiziten wird durch die Kommunikation mit anderen Individuen und Organisationen eröffnet. Durch die aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologien hat sich die Struktur und Qualität von Kommunikationsprozessen verändert. Sowohl innerhalb als auch außerhalb von Unternehmen gewinnen Netzwerke an Bedeutung. In dem zusammen mit Stefan Reichelstein verfaßten Aufsatz Network Mechanisms, Informational Efficiency, and Hierarchies (1998) konzentriert sich Marschak auf diesen Aspekt. Es werden

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Martin, Kurt die Konsequenzen von Untemehmenshierarchien für die Entwicklung der Kommunikationskosten und damit für die Effizienz von Kommunikationssystemen untersucht. Marschaks Beitrag zur ökonomischen Theorie ist vor allem in seinen theoretischen Arbeiten zu finden, in denen Definitionen entwickelt werden, die die Basis fur eine gemeinsame Sprache und damit für ein besseres Verständnis bilden. Darüber hinaus werden Kriterien entwickelt, die Vergleiche zwischen verschiedenen Handlungsalternativen erleichtern. Sie tragen somit letztendlich zur Verbesserung des eigentlichen Untersuchungsgegenstandes, nämlich den Entscheidungen bei.

Schriften in Auswahl·. (1957)

(1959)

(1962)

(1969)

(1974)

(1987)

(1998)

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Quellen: AEA; Β Hb I. Stephan Seiter

426

Martin, Kurt (bis 1947: Kurt Mandelbaum), geb. 13.11.1904 in Schweinfurt, gest. 28.9.1995 in London Mandelbaum zählt zusammen mit -> Paul N. Rosenstein-Rodan und Hans W. Singer zu jenen Pionieren auf dem Gebiet der Entwicklungsökonomie, die als Vertriebene des Nationalsozialismus aus der Kombination der kontinentaleuropäischen Tradition der Wirtschaftswissenschaften mit der Emigrationserfahrung entscheidende Impulse für ihre bahnbrechenden Forschungsarbeiten erhielten. Dennoch wurde Martin, im Gegensatz zu den letztgenannten, nicht mit einem Beitrag in den beiden im Auftrag der Weltbank publizierten Bänden Pioneers in Development (Meier/Seers 1984 und 1987) gewürdigt, und selbst in dogmenhistorisch orientierten Lehrbüchern zur Entwicklungsökonomik fehlt weitgehend der Hinweis auf Mandelbaums Beitrag zur Entstehung dieses Fachgebiets. Die Ursache hierfür ist einerseits im spezifischen Charakter des Mandelbaumschen Werkes zu finden, das wesentliche Einflüsse der Marxschen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie verdankt, andererseits in Martins ausgeprägter selbstkritischer intellektueller Bescheidenheit. Der Sohn eines bei Arbeiterfamilien äußerst beliebten jüdischen Arztes war von seiner frühen Jugend an politisch aktiv. Bereits im Alter von 14 Jahren beteiligte er sich als Kurier auf der Seite der Aufständischen an der nach Münchner Vorbild errichteten, jedoch kurzlebigen Schweinfurter „Räterepublik". Unmittelbar nach der Aufnahme seines Studiums in München, wohin er von der Universität Würzburg gewechselt war, trat Mandelbaum 1922 der Kommunistischen Partei bei. Vor dem Hitlerputsch gewarnt, floh er am 8. November 1923 nach Berlin und setzte dort sein Studium bei Werner Sombart und Ladislaus v. Bortkiewicz fort. Dessen Auseinandersetzung mit dem Marxschen Transformationsproblem weckte Mandelbaums Interesse an der Marxschen Wirtschaftstheorie. Marxistische Einflüsse erhielt er darüber hinaus von dem damals in Berlin lebenden führenden Mitglied der Dritten Internationale Eugen Varga, der Mandelbaums wirtschaftspolitische Beiträge für die Rote Fahne redigierte. Wichtiger noch wurde für Mandelbaums weitere intellektuelle Karriere der freundschaftliche Kontakt zu Karl Korsch, der ihn an das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) empfahl. Unter der Betreuung des Institutsdirektors -» Carl Grünberg

Martin, Kurl Schloß Mandelbaum 1926 als einer der ersten Doktoranden des Instituts sein Studium mit der Dissertationsschrift zum Thema Die Erörterungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie über das Problem des Imperialismus (1895-1914) ab und wurde anschließend Assistent des stellvertretenden Institutsdirektors -» Friedrich Pollock. Wie dieser arbeitete er nun zu den frühen Versuchen der Wirtschaftsplanung und den Industrialisierungsdebatten in der Sowjetunion. Eine wichtige und direkte Informationsquelle bildeten dabei die Kontakte des IfS mit dem Marx-Engels-Institut in Moskau, die durch zusätzliche Verbindungen, unter anderem einem Besuch Pollocks in Moskau, ergänzt wurden (vgl. Greffrath 1979, S. 506). In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, daß Mandelbaums Verhältnis zur Sowjetunion sehr kritisch war. Laut Wiggershaus (1988, S. 47) gehörte er im Institut zu jenen „Korsehisten bzw. Trotzkisten", die „der sowjetrussischen Entwicklung den kommunistischen Charakter absprachen". Das Frankfurter Institut wurde nach der nationalsozialistischen 'Machtergreifung' 1933 geschlossen. Mandelbaum, der nur mit einer Aktentasche reisend die Institutsleitung in Paris aufsuchte, erfuhr dort von einer Hausdurchsuchung der Gestapo und entschloß sich kurzfristig, nicht nach Deutschland zurückzukehren, sondern zunächst in Paris zu bleiben, wo nun das Institutsperiodikum, die Zeitschrift jur Sozialforschung (ZfS) herausgegeben wurde. Nach einigen Interimsaufenthalten in der Tschechoslowakei und in Wien - dort wurde er Mitglied der Widerstandsgruppe Neu Beginnen - ging Mandelbaum 1935 mit seiner Frau Hanna, einer gebürtigen Tschechoslowakin, die nach einem staatswissenschaftlichen Studium in Wien am IfS studiert hatte und seit 1934 mit ihm verheiratet war, nach London. Vom neuen Institutsdirektor Max Horkheimer war er angeblich nicht eingeladen worden, mit dem IfS nach New York überzusiedeln (FitzGerald 1991, S. 7), da sein wirtschaftstheoretisches Verständnis vom philosophischen Ansatz Horkheimers zu weit entfernt war: „[Mandelbaum] had nothing whatever u> do with the 'Critical Theory'" (Greffrath 1979, S. 508: siehe aber Wiggershaus 1988, S.163f. zur grundsätzlichen Übereinstimmung der Faschismusinterpretationen von Herbert Marcuse, Erich Fromm. Max Horkheimer, Mandelbaum und -» (ierhard Meyer). Dennoch verfaßte er bis 1936 für die ZfS noch mehrere Aufsätze und blieb bis

1939 als Verwalter eines Teils des Institutsvermögens sowie als europäischer Korrespondent Pollocks mit dem IfS verbunden. Von -» Frank A. Burchardt, dem stellvertretenden Direktor des Oxford University Institute of Statistics (OIS), mit dem Mandelbaum seit dessen Frankfurter Zeit als Assistent -» Adolph Lowes befreundet war, erhielt er 1940 das Angebot zur Mitarbeit im Institut. Der OIS-Forschungsgruppe gehörten mit -» Josef Steindl, Emst F. Schumacher und Michal Kalecki noch weitere vertriebene kontinentaleuropäische Ökonomen an, so daß ihre (gemeinsamen) Arbeiten ein wertvolles, von der kontinentalen Tradition der Politischen Ökonomie getragenes Gegengewicht zur britischen Neoklassik bildeten (vgl. FitzGerald 1991, S. 8). Zu der herausragenden OIS-Studie The Economics of Full Employment trug Mandelbaum den Aufsatz An Experiment in Full Employment (1944) bei, in dem sich seine weiteren, entwicklungsökonomischen Interessen bereits andeuteten. Im Jahr 1950 verließ Martin das OIS, um bis 1967 eine Dozentur an der Universität Manchester zu übernehmen, wo er sich nun zusammen mit dem späteren Nobelpreisträger W. Arthur Lewis ausschließlich entwicklungsökonomischen Fragestellungen widmete. Während dieser Zeit in Manchester erhielt er gemeinsam mit Alec Nove eine Einladung an die School of Oriental and African Studies in London und wurde dort 1964 einer der Herausgeber der von ihm mitgegründeten Zeitschrift Journal of Development Studies. Zugleich blieb Martins Interesse an der ökonomischen Entwicklung in den sozialistischen Ländern Südostund Osteuropas auch nach seinem Weggang vom OIS erhalten. Davon zeugen zahlreiche Besuche in Ungarn - zusammen mit Maurice Dobb und Joan Robinson - , Polen und der Sowjetunion wiederum mit Joan Robinson - während seiner Arbeit in Manchester (vgl. FitzGerald 1991, S. 11).

Nach einem einjährigen Aufenthalt in Princeton und einem weiteren Jahr als Mitglied des Harvard International Advisory Service in Indonesien kehrte Martin 1969 nach Kontinentaleuropa zurück. Er lehrte bis 1985 am Institute of Social Studies in Den Haag, einer Ausbildungsstätte für graduierte Wissenschaftler aus Ländern der 'Dritten Welt', fungierte dort als Mitherausgeber der Zeitschrift Development and Change und ging erst im Alter von 81 Jahren, ausgezeichnet mit einem Honorary Fellowship des Instituts, zurück nach Lon-

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Martin, Kurt don in den Ruhestand, den er noch fast zehn Jahre zusammen mit seiner Frau Hanna genießen konnte. Die entwicklungsökonomischen Arbeiten Mandelbaums/Martins ab Mitte der 1940er Jahre hatten ihre theoretischen Wurzeln in seinen Forschungen am IfS. In der 1929 publizierten Einleitung zum Briefwechsel von Karl Marx und Friedrich Engels mit dem nissischen Marx-Übersetzer Nikolai Franzewitsch Danielson (Nikolai-on) versuchte Mandelbaum, die russischen Industrialisierungsdebatten der 1920er Jahre mit der Debatte in den 1870er Jahren zu verbinden, als die russischen Narodniki ('Volkstümler') mit den Marxisten die Möglichkeit eines direkten Übergangs zum Sozialismus in einem revolutionären, ökonomisch jedoch rückständigen Rußland diskutierten. Er stellte dabei fest, da£ Marx in der Korrespondenz mit Nikolai-on, einem führenden Narodnik, wie auch in anderen Schriftwecheln an diesen Debatten teilnahm und - überraschenderweise - der Position der Narodniki zuneigte (Greffrath 1979, S. 506). Mandelbaum fand die Antwort auf diesen scheinbaren Widerspruch zu Marx' Stufentheorie in der außergewöhnlichen historischen Situation, in welcher sich die russische bäuerliche Dorfgemeinschaft ('Mir') Ende des 19. Jahrhunderts befand. Während in den westlichen Ländern die kapitalistische Produktionsweise bereits hoch entwickelt war, hatte der russische Agrarkommunismus nach wie vor Bestand. Daher konnte sich die russische Gesellschaft die Ergebnisse der Industrialisierung aneignen, ohne die kapitalistische Gesellschaftsform zu übernehmen. Die Dorfgemeinschaften würden daher schrittweise zur mechanisierten landwirtschaftlichen Massenproduktion übergehen, wobei jedoch infolge der nach wie vor existenten archaischen Vergemeinschaftung im Mir die neuen Produktivkräfte unmittelbar in der Form des Gemeineigentums eingeführt werden würden. Die einzige verbleibende, allerdings notwendige Voraussetzung für diese Entwicklung war der Sturz des Zarenregimes, das durch Besteuerung und Schuldknechtschaft der Bauern diese Dorfgemeinschaft zu zerstören drohte (Mandelbaum 1929, S. Xmff.). Wenngleich Mandelbaum später aus diesen Debatten nicht mehr dieselben Schlüsse ziehen wollte, stellte er doch fest, daß diese frühen Studien zu den Problemen der russischen Landwirtschaft seine späteren entwick-

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lungsökonomischen Überlegungen maßgeblich befruchtet hatten (Greffrath 1979, 506f.). Gleiches galt für das Thema der Wirtschaftsplanung, dem sich Mandelbaum - angeregt durch Pollocks Reise in die Sowjetunion von 1927 (Jay 1979, S. 546) und die Weltwirtschaftskrise - daran anschließend zuwandte. In seinem ersten Beitrag zu diesem Themenkomplex befaßte er sich mit den vom 7a/-Kreis Ferdinand Frieds vorgetragenen Autarkiegedanken, mithin der Forderung nach Errichtung hoher Zollschranken in Kombination mit selektiver binnenwirtschaftlicher Planung. In einem unter dem Pseudonym Kurt Baumann publizierten Artikel Autarkie und Planwirtschaft (1933) wies er diesen Ansatz zurück und forderte demgegenüber gesamtwirtschaftliche Planung auf internationaler Ebene, deren unterschiedliche Formen Mandelbaum (1934) zusammen mit seinem Institutskollegen -» Gerhard Meyer wiederum in der ZfS ausfuhrlich darlegte. Von den vier in diesem Beitrag diskutierten Idealtypen der sozialistischen Planwirtschaft - (1) reiner Verwaltungssozialismus, (2) modifizierter Verwaltungssozialismus, (3) reiner Marktsozialismus und (4) modifizierter Marktsozialismus (1934, S. 235ff.) - schien ihm letztgenannter unter den damaligen Bedingungen die geringsten Schwierigkeiten bei der Implementierung zu bieten (ebd., S. 258). Die weiteren Aufsätze Mandelbaums für die ZfS waren im wesentlichen Buchbesprechungen und ausführlichere Literaturübersichten, in denen er sich unter anderem mit der neueren Literatur zur Planwirtschaft, zum technischen Fortschritt (vgl. z.B. 1932) sowie (1936) mit Keynes' General Theory auseinandersetzte. Die letztgenannte zwanzigseitige, jetzt unter dem Pseudonym Erich Baumann veröffentlichte Arbeit gehört zum Besten, was aus marxistischer Perspektive zu diesem so bedeutungsvollen Buch gesagt wurde. Der marxistische Hintergrund wird nur indirekt deutlich, denn Mandelbaum trat keineswegs - wie etwa sein Frankfurter Institutskollege -» Henryk Grossmann - mit der Generalprämisse der Eindeutigkeit und Überlegenheit der Manschen Akkumulationstheorie an. Vielmehr bemühte er sich zunächst unter Berücksichtigung der aktuellsten englischen Diskussionsbeiträge (z.B. von Hicks, Pigou und Joan Robinson) zur General Theory erfolgreich um eine zusammenhängende Darstellung ihrer Kerngedanken. Zentraler Ansatzpunkt seiner Kritik waren die psychologischen Begründungen der

Martin, Kurt Konsumneigung, der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals und der Liquiditätspräfenz bei Keynes, die „eine wissenschafliche Analyse der diese psychischen Vorgänge auslösenden und nur zum kleinsten Teil von ihnen beeinfluBten ökonomischen Bewegungsgesetze nicht ersetzen können" (1936, S. 401, vgl. auch S. 395). Bezüglich der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals ging es Mandelbaum in erster Linie um den EinfluB der tatsächlichen Profitentwicklung auf die Profiterwartungen, wobei die Rolle des technischen Fortschritts bzw. der Wettbewerbssituation nicht negiert weiden könnten. Die Liquiditätsvorliebe hielt Mandelbaum für ein monetäres Krisenphänomen, wobei die Krise selbst primär aus der realen Entwicklung zu erklären sei. Die Zinserklärung über die Liquiditätsvorliebe schneide den existierenden Zusammenhang mit den Gewinnerwartungen ab (vgl. ebd., S. 396). Mandelbaum kritisierte auch die einseitige makroökonomiscbe Perspektive, die zur Vernachlässigung von Disproportionalitäten führe, sowie Keynes' gelegentliche Rückfälle in eine recht primitive unterkonsumtionistische Argumentationsweise (vgl. z.B. ebd., S. 402). Das ernüchternde theoretische Resümee lautete denn auch, daß vieles von dem, was richtig sei, nicht neu sei, und daß vieles Neue nicht richtig sei (vgl. ebd., S. 400). Für Mandelbaum lag die Bedeutung des Buches darin, daß sich dort ein prominenter Liberaler von Standardaussagen liberaler Theorie und liberalen wirtschaftspolitischen Positionen absetzte. Er sah Keynes nicht als echten Sozialreformer an. Die faktischen sozialen Verhältnisse würden durch Keynes' Hervorhebung des Gegensatzes zwischen aktiven Kapitalisten und parasitären Rentiers falsch wiedergegeben, und für die übergroße Mehrzahl der Bevölkerung weise Keynes' Revision der klassischen Lehre „nicht in eine bessere, sondern in eine triibe Zukunft" (ebd., S. 403). Mandelbaums Haltung zur Keynes'sehen Theorie wurde im Laufe der Zeit positiver, nicht zuletzt unter dem Eindruck der kaleckianischen Variante derselben. Dieser intellektuelle Wandel kam vor allem in seinem Aufsatz An Experiment in Full Employment. Controls in the German Economy, 1933-1938 (1944) zum Ausdruck, mit dem er die theoretisch-analytischen Beiträge seiner OISKollegen zur Studie The Economics of Full Employment empirisch abzurunden versuchte, wenngleich er dabei - in Ermangelung anderer geeigneter empirischer Beispiele - auf die Erfahrungen

in Nazi-Deutschland zurückgreifen mußte (vgl. 1944, S. 181). Der OIS-Band, der wesentlich stärker die Ideen Kaleckis als diejenigen von Keynes reflektierte, postulierte in seiner Gesamtkonzeption die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Kontrolle der privaten Investitionstätigkeit (vgl. FitzGerald 1991, S. 8). So stellte auch Mandelbaum fest, daß zur Vermeidung eines inflationären Drucks in einem Zustand der Vollbeschäftigung Außenhandels-, Lohn- und Preiskontrollen notwendig seien, um nicht wieder in eine Situation der Unterbeschäftigung zu geraten (vgl. 1944, insbes. S. 20Iff.). Am OIS verfaßte Mandelbaum auch seinen bahnbrechenden Beitrag The Industrialisation of Backward Areas (1945), der ihn zusammen mit Rosenstein-Rodan (1943) Mitte der 1940er Jahre zum Begründer der Entwicklungsökonomik machte (vgl. Chakravarty 1980, S. 523; Singer 1979, S. 583 und Singer 1996). Er selbst hat die Entstehung des Buches „merkwürdigen Umständen" zugeschrieben, da ihm im Rahmen seiner Forschungstätigkeit am OIS die Aufgabe zugewiesen worden war, mögliche Probleme der Nachkriegsrekonstniktion in Südosteuropa zu untersuchen. Da inmitten des Zweiten Weltkrieges jedoch niemand wissen konnte, was in diesen Ländern zukünftig geschehen würde, schlug er vor, sich nicht mit praktischen Rekonstniktionsproblemen, sondern mit der Frage zu befassen, wie mit Hilfe von Fünflahresplänen am Beispiel dieser Länder 'rückständige' Agrarstaaten industrialisiert werden könnten - eine Aufgabe, für die er auch auf seine früheren Studien zur Industrialisierung in Rußland und seine Interessen auf dem Gebiet der Wirtschaftsplanung zurückgriff (vgl. Greffrath 1979, S. 510f.). Den Ausgangspunkt für Mandelbaums Überlegungen bildete das Massenphänomen der 'verdeckten Arbeitslosigkeit' im Agrarsektor der südosteuropäischen Volkswirtschaften, wobei er eine Doppelgesichtigkeit der verdeckten Arbeitslosigkeit darin begründet sah, daß sie einerseits das zentrale Problem, andererseits die größte Ressource für einen erfolgreichen Entwicklungsprozeß bildete, denn „if these surplus workers were withdrawn from agriculture and absorbed into other occupations, farm output would not suffer, while the whole new output would be a net addition to the community's income. The economic case for the industrialisation of densely populated countries rests upon this mass phenomenon of disgui-

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Martin, Kurt sed rural unemployment" (1945, S. 2). Mandelbaum rückte damit neun Jahre vor seinem späteren Kollegen W.A. Lewis sowohl das Problem als auch die ökonomischen Möglichkeiten des Economic Development With Unlimited Supplies of Labour (Lewis 1954) in den Mittelpunkt der Entwicklungsdebatte. Lewis erwähnt Mandelbaums Buch in seinem Hauptwerk nur einmal in Form eines Literaturhinweises (Lewis 1956, S. 421), bedankte sich jedoch für Lektüre und Kritik seines Manuskripts u.a. bei Dr. Karl (sie!) Martin (Lewis 1956, S. VO). In Einklang mit der Industrialisierungstheorie seit Marx argumentierte Mandelbaum, daB der strukturelle Arbeitskräfteüberschuß in der Landwirtschaft der rückständigen Länder zusammen mit dem monopolistischen Verhalten der entwickelten Volkswirtschaften die ricardianischen Bedingungen fur eine effiziente Ressourcenallokation durch den freien Handel außer Kraft setzte und daher die einzige Möglichkeit der Erzeugung von Vollbeschäftigung die Absorption der überschüssigen Arbeit in den sekundären und tertiären Sektor sei (1945, S. 3f.). Zur Überwindung der zu geringen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage wie auch der zu niedrigen Realkapitalbildung in den rückständigen Regionen waren sowohl massive Kapitalimporte als auch staatliche Eingriffe erforderlich zum einen durch 'deficit spending' für den Aufbau der Infrastruktur (ebd., S. 5) und zum anderen durch Umverteilung von (Luxus-) Konsumgütem, Zwangssparen und die Besteuerung hoher Einkommen (ebd., S. 8), womit sowohl der von Singer (1979, passim) hervorgehobene Einfluß von Keynes auf das Werk Mandelbaums als auch die von FitzGerald (1991, S. 9 und passim) betonte Beeinflussung durch Kalecki deutlich wird. Auf der Grundlage statistischen Materials für Südosteuropa aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg formulierte Mandelbaum im zweiten Teil des Buches ein rudimentäres Input-OutputModell, ohne - wie er selbst hervorhob - von den Ideen, die mit dem Namen Leontief verbunden waren, Kenntnis gehabt zu haben (1945 2 , S. xi; Greffrath 1979, S. 511; allerdings findet sich in Mandelbaum 1945, S. 49n. ein Verweis auf Leontiefs (1943/44) Aufsatz Output, Employment, Consumption and Investment). Das Planungsziel, den Output in Abhängigkeit von begrenzten Ersparnissen zu maximieren, bis die verdeckte Arbeitslosigkeit im industriellen Sektor absorbiert war, erreichte er daher nicht mit Hilfe der Inver-

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tierung einer Input-Output-Matrix, sondern auf iterativem Wege durch die Anwendung einer heuristischen Methode, die er als einen Kreislauf von Angebot und Nachfrage („Circular Flow of Supply and Demand") bezeichnete (1945, S. 42). Mandelbaum selbst stand seinem Werk bereits in einem ausführlichen Vorwort zur unveränderten zweiten Auflage kritisch gegenüber. So wies er unter anderem darauf hin, daß er die Möglichkeit der Erhöhung der Output-Wachstumsrate durch steigende Skalenerträge nicht genügend berücksichtigt habe und daß die Finanzierung der Investitionen nicht durch hohe Kapitalimporte sondern durch eine Erhöhung der Sparquote im landwirtschaftlichen Sektor erfolgen solle, denn ausländisches Kapital werde lediglich einen Bruchteil der benötigten Investitionen finanzieren können (19452, S. viii ff.). Darüber hinaus sah er das Problem der Technologiewahl nicht tiefgehend genug diskutiert, ebensowenig die Rolle der Zinssätze, die Entwicklung der Terms of Trade, die Bedeutung des starken Bevölkerungswachstums in Entwicklungsländern, die politökonomischen Konsequenzen staatlicher Interventionen und die Probleme innerhalb des Agrarsektors im Entwicklungsprozeß (Greffrath 1979, S. 511; vgl. auch Singer 1979, passim). Jedoch ist eine Vielzahl der Defizite der Zeitgebundenheit der Mandelbaumschen Arbeit geschuldet, so daß das Urteil Singers sicherlich zutrifft, das Buch sei „a mixture of, on the one hand, wonderful insight, points of true premonition, anticipation of future and current debates ... and, on the other hand, a number of statements and approaches very much conditioned by the circumstances of the time and place" (Singer 1979, S. 577). Wenngleich Martin mit den beiden Aufsätzen A Note on the Evolution of Development Thinking (1984) und Modern Development Theory (1991) noch zwei dogmenhistorisch wichtige Arbeiten publizierte, in denen er insbesondere auf die Wurzeln seiner Disziplin in der Klassischen Politischen Ökonomie hinwies und die Pioniere der modernen Entwicklungsökonomik gegen die neoklassische Konterrevolution der 1980er Jahre verteidigte, so blieb doch The industrialisation of Backward Areas von 1945 sein wesentlicher und herausragender Beitrag zur entwicklungsökonomischen Literatur. Abgesehen von kleineren Artikeln und Reports widmete er sich in den vier darauffolgenden Jahrzehnten der Lehre in der neuen Fachrichtung und der Betreuung entsprechender

Martin, Kurt Studiengänge. Wie sehr ihn die Lehraufgaben intellektuell in Anspruch nahmen und welch großes Gewicht er dieser Tätigkeit bei maß, verdeutlicht Martins Aufsatz Teaching Economic Development at Manchester (1967), in dem er detailliert über den ursprünglich von John Mars im Jahr 1960 an der Universität Manchester eingerichteten Diplomstudiengang 'Entwicklungsökonomie' referierte. Diese Ausrichtung seiner Arbeit setzte er auch am Institute of Social Studies in Den Haag fort, wobei er sich dort verstärkt dogmengeschichtlichen Betrachtungen in seinen Vorlesungen zuwandte und auf den Zusammenhang zwischen Industrialisierung und der Agrarfrage, mit der er sich in seinen frühen Arbeiten auseinandergesetzt hatte, rekurrierte (vgl. FitzGerald 1991, S. 12). Martin hatte in seinem 1945 publizierten Hauptwerk in einer bemerkenswerten Präzision, Klarheit und Geschlossenheit zahlreiche zentrale Themen aufgegriffen, welche die frühe entwicklungsökonomische Diskussion bestimmen sollten (vgl. Srinivasan 1994, S. 19). Singer (1996) stellt daher in seinem Nachruf auf Martin fest, daß jener in gewissem Sinne das Schicksal des Schumpeterschen Pionierunternehmers teilte, indem er mit seinen Ideen einer ganzen Reihe herausragender Nachfolger den Weg ebnete, wobei jedoch die unmittelbaren Nachfolger in weit größerem Ausmaß als der Pionierunteraehmer selbst die Hauptgewinne zuericannt bekamen. An dieser Unterschätzung war er gewissermaßen selbst verantwortlich beteiligt durch seine für angelsächsische Verhältnisse untypische Haltung zum Verzicht auf Publizieren und auf Selbstanpreisung. Seine eigenen Veröffentlichungen verdanken sich nahezu ausschließlich den Anforderungen der jeweiligen Arbeitssituation. Ansonsten lautete seine „sparsame" Maxime eher, daß Dinge, die bereits gesagt worden oder selbstverständlich sind, nicht wiederholt oder schriftlich fixiert werden müssen. Indirekte Beiträge durch Lancierung von Ideen bzw. Kritik und Kommentar seien ebenso nützlich wie eigene Originalbeiträge. Man könne eigene Leistungen überdies schlecht „verkaufen", wenn man wissenschaftliche Selbstkritik, wie Martin das tat, als Tugend praktizierte (vgl. Greffrath 1979, passim). Die Anerkennung seiner Leistungen seitens derjenigen, die ihn in seinen Arbeitszusammenhängen gekannt und schätzen gelernt haben, korrigiert zurecht seine quasi-offi-

zielle Vernachlässigung durch die ökonomische Profession. Auch wenn die Übergänge von der Erörterung von Fragen revolutionärer Strategie zur Beschäftigung mit praktischer Entwicklungspolitik, vom kommunistischen Aktivisten der Jugendzeit zum eher skeptischen Labour-Wähler des Alters oder vom marxistischen Kritiker zum kaleckianischen Anhänger keynesianischer Theorie Brüche in der intellektuellen Entwicklung Martins vermuten lassen, so zeigt die detaillierte Lektüre seiner Schriften, von Selbst- und Fremdzeugnissen, daß dem nicht so ist. Vielmehr machen sie klar, daß Martins Entwicklung, ähnlich der vieler Altersgenossen mit vergleichbaren Ausgangspositionen, eine aktive Reaktion auf veränderte historische Bedingungen, theoretische Innovationen und den sich aus den jeweiligen Arbeitszusammenhängen ergebenden Impulsen war. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß die im Jahre 1947 erfolgte Namensänderung nicht als Indiz für einen Abschied von einer alten politischen oder wissenschaftlichen Identität anzusehen ist. Er folgte damit vielmehr dem Wunsch seiner Frau, die angesichts der bitteren gemeinsamen Erfahrungen und der Abwesenheit jüdischer religiöser Bindungen den beiden Kindern der Ehe mögliche zukünftige Belastungen ersparen wollte.

Schriften in Auswahl: (1926)

(1929)

(1932)

Die Erörterungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie über das Problem des Imperialismus (1895-1914), Frankfurt/M (Diss). Das russische Agrarproblem bei Marx, Engels, Lenin. Einleitung zur Neuausgabe der Briefe von Marx und Engels an Danielson, Wiederabdruck in: Bibliothek der Rätekommunisten, Bd. 11, Berlin 1969, S. IÜ-XXXIV; engl. Übers.: Introduction to the Correspondence of Marx and Engels and Danielson (Nikolai-on), in: Development and Change, Bd. 10 (1979), S. 515-544. [Rezension] Emil Lederer, Technischer Fortschritt und Arbeitslosigkeit, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 1, S. 237.

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Mayer, Thomas (1933)

(1934)

(1936)

(1944)

(1945)

(1967)

(1984)

(1991)

Autarkie und Planwirtschaft (Pseudonym: Kurt Baumann), in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 2, S. 79103. Zur Theorie der Planwirtschaft (zus. rait G. Meyer), in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 3, S. 228-262. Keynes' Revision der liberalistischen Nationalökonomie (Pseudonym: Erich Baumann), in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 5, S. 384-403. An Experiment in Full Employment. Controls in the German Economy, 1933-1938, in: The Economics of Full Employment. Six Studies in Applied Economics prepared at The Oxford University Institute of Statistics, Reprint, Oxford 1945, S. 181-203. The Industrialisation of Backward Areas (= Oxford Institute of Statistics, Monograph No. 2), Oxford; 2. Aufl. 1955. Teaching Economic Development at Manchester, in: Martin, K./Knapp, J. (Hrsg.): The Teaching of Development Economics. Its Position in the Present State of Knowledge. The Proceedings of the Manchester Conference on Teaching Economic Development, April 1964, London, S. 141146. A Note on the Evolution of Development Thinking, in: Ekonomi da keangan Indonesia. Economics and Finance in Indonesia, Bd. 32, S. 291-315. Modem Development Theory, in: Martin, K. (Hrsg.): Strategies of Economic Development. Readings in the Political Economy of Industrialization, Basingstoke/London, S. 27-73.

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Mayer, Thomas, geb.

18.1.1927 in Wien

Die meisten Ökonomen betrachten ihre Disziplin als 'exakte Wissenschaft', eine Domäne logischer Argumentation, die von der Person des Wissenschaftlers streng zu trennen ist. Thomas Mayer ist einer der wenigen 'Mainstream'-Ökonomen, die offen die Ansicht vertreten, daß individuelle Lebensgeschichten durch die Formung von Vorurteilen in die Wahl von Gegenstand und Methode der

Mayer, Thomas wissenschaftlichen Albeit einfließen. Vorurteile prägen folglich die Entwicklung ganzer Forschungsdisziplinen, sofern sie die Argumentationskontrollen auf logische Konsistenz und empirische Plausibilität passieren. Wo sich, wie etwa in der Ökonomie, nur selten eindeutige Indizien finden lassen, hängt zudem die Akzeptanz der Prüfungskriterien selbst von Vorlieben für die eine oder andere Denkungsart ab. Die Bedeutung der methodologischen Präferenzen zeigt sich insbesondere an Konflikten zwischen der 'inneren' Konsistenz einer Theorie (im Sinne ihrer Widerspruchsfreiheit) und der 'äufieren' Konsistenz von Theorie und Beobachtung. „Preconceptions function as hidden assumptions, and hence should be brought out into the open" lautet Mayers Credo (1990b, S. 2), das er am eigenen Werdegang zu einem pessimistischen Außenseiter mit einer Vorliebe für monetaristisches Gedankengut illustriert. Die Verbindung von Ökonomie und Emigration ist in Mayers Lebensgeschichte weniger eindeutig als bei vielen Emigranten der Ersten Generation. Dennoch führt Mayer seine pessimistische Grundhaltung wie auch sein Interesse an Ökonomie auf die Kindheit und die Emigration zurück. Die 'postkakanische' Wiener Melange aus sozialem Elend, politischen Unruhen und ironischer Melancholie prägte ihn, das spätgeborene Einzelkind jüdischer Eltern, welche in der Weltwirtschaftskrise um ihr materielles Überleben zu kämpfen hatten. Nach dem 'Anschluß' Österreichs an Deutschland 1938 beschloB die Familie, das Land zu verlassen. Doch wurde zunächst nur dem Kind die Einreise nach England erlaubt, und Thomas Mayer blieb dort die meiste Zeit getrennt von seinen Eltern, bis die Familie 1944 in New York wieder zusammenfand. Die Schulzeit in England verhalf Mayer immerhin zu einem umfassenden Interesse an ökonomischer Literatur. Nach seinem Dienst in der U.S.-Armee 1945/46 erhielt er ein Armeestipendium, das er zum Ökonomiestudium am Queens College und an der Columbia University nutzte. Neben der Arbeit in verschiedenen Behörden in Washington schrieb Mayer seine Dissertation (über demographische Aspekte der Stagnationsthese), mit der er 1953 an der Columbia University promoviert wurde. Die weiteren Stationen waren Professuren an der West Virginia University (1953-54), Notre Dame University (1954-56), Michigan State University (1956-60), Berkeley (1960-61) und schließlich (bis zur Emeritierung 1992) die University of California in Davis.

Im Rückblick beschreibt sich Thomas Mayer (1990b, S. 4) als Einzelgänger, der sich von anderen Kindern wie von ökonomischen Schulen lieber femhielt. Dennoch ist sein Name eng mit der Denkrichtung des Monetarismus verbunden. Mayers Zwischenbilanz der Monetarismus-Kontroverse (1975) hat zumindest im deutschen Sprachraum am stärksten zu seiner Bekanntheit beigetragen. Die meisten seiner Veröffentlichungen kreisen um „heiße Eisen" in der Monetarismus-Debatte, wie z.B. The Empirical Significance of the Real Balance Effect (1959), Monetary Policy in the United States (1968), Forecast Errors and Stabilization Policy (1990a) - um nur drei von mehr als hundert Titeln zu nennen. Warum entwickelte Mayer eine Vorliebe für monetaristische Themen? In den fünfziger und sechziger Jahren war das ökonomische Denken weithin durch den keynesianischen Glauben an die Effizienz der Stabilitätspolitik geprägt. Der Monetarismus bildete eine Minderfaeitsmeinung, die diesen Glauben infragestellte und Mayers skeptischen Neigungen entgegenkam (1990b, S. 14 f.). Dessen psychologische Plädisposition wäre jedoch kaum von allgemeinem Interesse, wenn sie nicht durch seine Präferenz für logischen Empirismus zu beachtlichen theoretischen Leistungen geführt hätte. Mayers Hauptverdienst liegt zweifellos in der Identifikation und Diskussion verschiedener makroökonomischer Denkweisen aus der Sicht eines empirisch orientierten Skeptikers. Als die 'monetaristische Gegenrevolution' in den frühen siebziger Jahren einen neuen Höhepunkt erreichte, waren die Trennlinien zwischen Monetarismus und Keynesianismus unschärfer als es der Stil der Debatte und spätere Lehrbuchvereinfachungen vermuten lassen. Es war keineswegs klar, ob der Monetarismus überhaupt ein eigenständiges Theoriegebäude darstellte. Aus den vielen Versuchen einer Systematisierung der Streitpunkte ragen zwei heraus: Robert Gordons Sammlung von Beiträgen Milton Friedmans und seiner Kritiker (Gordon 1974) sowie Thomas Mayers Zwischenbilanz der Monetarismus-Kontroverse (1975). Diese begann mit einer Bestandsaufnahme von Hypothesen, welche bis dahin als Unterscheidungsmerkmale gegenüber dem Keynesianismus betrachtet wurden: 1. die Gültigkeit der Quantitätstheorie des Geldes; 2. das monetaristische Modell des Transmissionsprozesses; 3. die Annahme einer inhärenten Stabilität des privaten Sektors; 4. der Glaube an einen gut funktionieren-

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Mayer, Thomas den Kapitalmarkt; 5. die Betonung der Bedeutung des Preisniveaus gegenüber der Preisstruktur; 6. das größere Vertrauen in kleine als in große ökonometrische Modelle; 7. die Verwendung der 'Geldbasis' als Indikator für die Geldpolitik; 8. die Verwendung der Geldmenge als Zwischenzielgröße der Geldpolitik; 9. die Befürwortung einer festen Regel für das Geldmengenwachstum; 10. die Ablehnung eines trade-off zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation; 11. die Prioritiening des Globalzieles der Geldwertstabilität; und 12. die Abneigung gegenüber staatlichen Eingriffen. Mayer prüfte jede dieser Hypothesen auf ihre Unabdingbarkeit und Unvereinbarkeit mit keynesianischen Positionen. Obwohl dabei wesentliche Unterschiede zwischen monetaristischen und keynesianischen Sichtweisen klar zutage traten, fand Mayer auch überraschend viele Gemeinsamkeiten - jedenfalls genug um weitere Klarstellungen zu provozieren. Mit dem Vorteil des Rückblicks mag man kritisieren, daß die Gemeinsamkeiten geringer gewesen wären, wenn Mayer zwei Voraussetzungen der Hypothesen 1 und 7-11 mehr Beachtung geschenkt hätte, nämlich der Annahme der exogenen Kontrollierbarkeit des Geldangebotes und dem angebotsorientieiten Konzept einer 'natürlichen Rate' der Unterbeschäftigung. Mayer selbst stellte zudem fest, daß er auch die unterschiedlichen Zeithorizonte keynesianischer und monetaristischer Ansätze vernachlässigt hatte. Ein Großteil der Kontroverse drehte sich letztlich darum, wie lang der keynesianische short-run ist. Dessen ungeachtet bildete Mayers taxonomischer Ansatz zweifellos einen geeigneten Ausgangspunkt fur die weitere Debatte. Mayers neutraler Diskussionsstil beließ seine eigenen Ansichten zu den genannten Hypothesen weitgehend im Dunkeln. Er betonte allerdings, daß man einige darunter vertreten, andere dagegen ablehnen könne. In späteren Beiträgen (z.B. 1990b und 1990c) wird deutlich, daß er weniger mit monetaristischen Glaubensartikeln und Politikempfehlungen als mit Milton Friedmans Methodologie sympathisiert. Er ist skeptisch gegenüber 'laissez faire'-Positionen der Hypothesen 3 und 12 sowie gegenüber dem Glauben an die generelle Vorteilhaftigkeit von Regelbindungen (Hypothesen 7-10; vgl. 1990b, S. 12 ff.). Seine Vorliebe für den Monetarismus beruht nicht auf dem Optimismus im Hinblick auf die Stabilität freier Marktwirtschaften, wie ihn Friedman verbreitet, sondern eher auf dem Pessimismus in bezug auf die

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Effizienz von Staatseingriffen, der auch die geldpolitische Domäne der Monetaristen nicht verschont. Beiläufig erzählt Mayer von seiner Mitgliedschaft im Shadow Open Market Committee, das Karl Brunner und Allan Meitzer ins Leben gerufen hatten um das Federal Reserve System auf monetaristischen Kurs zu bringen. Sie endete damit, daß Mayer „wegen Linksabweichlertums hinausgesäubert" wurde (1990b, S. 14). Friedmans Betonung der Vorhersagekraft einfacher, kleiner Modelle (Hypothesen 4-6) bildet Mayers Leitmotiv, die Grundlage seiner Vorliebe für den Monetarismus. Sie entwickelte sich in den fünfziger Jahren, als das positivistische Programm der 'kühnen Hypothesenbildung und rücksichtslosen Falsifikation' durch empirische Tests die a priori-Plausibilität keynesianischer Doktrinen infragestellte. Die Liquiditätspräferenztheorie, die Konsumfunktion und andere Elemente wurden im Vergleich zu alternativen Hypothesen - wie dem 'permanenten Einkommen' - getestet. Mayers Integrität zeigt sich auch darin, daß er seinen Anspruch auf empirische Relevanz sowohl gegen keynesianische als auch gegen monetaristische Positionen wendete. In einem Aufsatz, den er mit Martin Bronfenbrenner über die Zinselastizität der Geldnachfrage (1960) schrieb, kamen beide zu dem Ergebnis, daß die keynesianische Warnung vor Liquiditätsfallen weder theoretisch noch empirisch haltbar ist. In einem späteren Aufsatz testeten Mayer und Michael de Prano (1965) die relative Bedeutung autonomer Ausgaben und der Geldmenge für Schwankungen des Volkseinkommens und zeigten, daß die monetaristischen Schlußfolgerungen von Friedman und Meiselman (1963) einer empirischen Überprüfung nicht standhalten. Nichtsdestotrotz ist sich Mayer bewußt, daß Arbeiten im Sinne des logischen Empirismus nur selten ihren eigenen Anforderungen gerecht werden. Die meisten empirischen Studien sind eher auf die „Verifikation" der vorausgesetzten Modelle ausgerichtet als auf deren rücksichtslose Überprüfung (1990c, S. 63). Mayer (1993, Kap. 10) hat eine einfache Erklärung für derlei „Kunstfehler": Auch Ökonomen seien rational handelnde Wirtschaftssubjekte. Sie verfolgten ihre Interessen nach Maßgabe von Publikationsfiltem und anderen institutionalisierten „Sachzwängen", die eher die Bestätigung als die Widerlegung etablierter Doktrinen förderten. Er bleibt jedoch bei seiner Forderung nach empirisch orientierter Skepsis -

Mayer, Thomas um so mehr als ein grundlegender Wandel im Selbstverständnis der Disziplin diesen Anspruch aus der Mode gebracht zu haben scheint. Der Umschwung kam mit dem Siegeszug der Neuen Klassischen MakroÖkonomik und mit verschiedenen Entwicklungsspriingen in den Techniken der Ökonometrie. Obwohl die „Neue Klassik" zunächst als Monetarismus 2. Grades betrachtet wurde, brachte sie eine Götterdämmerung des Monetarismus mit sich, die Mayer (1990c) aus der Perspektive eines selbstkritischen Insiders analysiert. Seine Kritik an heutigen Modeströmungen der Methodologie legt er ausführlich in Truth versus Precision in Economics (1993) dar. Hier steht wieder der trade-off zwischen theoretischem Raffinement und empirischer Relevanz ökonomischer Forschung im Mittelpunkt. Mittlerweile sieht Mayer die Bedrohung der Ökonomie weniger in der Verschleierung durch überladene Makromodelle als im Reduktionismus der (primär neuklassischen) Forderung nach rigoroser Mikrofundierung der Makrotheorie. Er bezweifelt nicht, daß die Kriterien der exakten Beweisführung fUr die 'reine' axiomatische Theorie notwendig sind. Aber er hält die Unterordnung aller empirisch orientierten Forschung unter diese Kriterien für anmaßend und irreführend: „In trying to meet these unrealistic criteria empirical science economists have been tempted either to dress up formalist theory as empirical science theory, or to focus attention on the strongest link in the chain of their argument, and to pretend that their whole argument is rigorous because this one link is" (1993, S. 7). Nach Mayers Dafürhalten droht das zunehmende Prestige formalistischen Theoretisierens den Mainstream der Ökonomie in eine verkehrte Ordnung von Mitteln und Zielen zu zwängen. Statt die Wahl der Forschungsmethoden nach deren Eignung zur Lösung gegebener Probleme auszurichten, werden sowohl die Fragen als auch die Antworten durch die neuen „Werkzeugkästen" vordefiniert. Der formale Reduktionismus verengt überdies den Forschungshorizont auf das jeweils stärkste Gliedes in der Beweiskette. Aber die Verdikte der 'Adhocerei', die von neuklassischer Seite über keynesianische und monetaristische Theorien verhängt worden sind, fallen auf ihre Urheber zurück, die ihre 'Mikrofundierung' z.B. auf die übervereinfachende Annahme repräsentativer Akteure gründen und ihre Modelle mit lockeren Anwendungen feinster ökonometrischer Techniken

auf unzureichende Datensets 'testen'. Als empirische Sozialwissenschaft ist diese Art Ökonomie so zweckmäßig wie das Befahren von Holzwegen mit einer Luxuskarosse. „The car is sleek and elegant; too bad the wheels keep falling off" (1993, S. 132 und 149). Obwohl Mayer seine Bestandsaufnahme der ökonomischen Wissenschaft mit einer gehörigen Portion Pessimismus durchsetzt, fragt sich der Leser seiner Werke, ob Mayers Selbstbeschreibung als „pessimistic outsider with a Monetarist bias" (1990b) wirklich zutrifft. In der positivistischen Methodologie, die Mayer vertritt, steckt sicherlich gehöriger Optimismus, obschon Mayer nicht dem naiven Glauben anhängt, daß die Wissenschaft stets neues Wissen schafft. Insgesamt ist Mayers Sicht der Dinge wohl besser als skeptische Offenheit zu bezeichnen. Natürlich lassen sich die persönliche Erfahrungen eines Einzelgängers und Außenseiters nicht infragestellen. Doch seine wohlartikulierten Ansichten über den Zustand der 'Forschungsfront' werden von vielen geteilt, wenn nicht gar von einer 'schweigenden Mehrheit'. Mayers Denken hat zudem die Arbeit vieler anderer Ökonomen beeinflußt - sei es als Stmkturhilfe oder als Inspiration zur Auseinandersetzung mit vorherrschenden Denkrichtungen. In dieser Hinsicht sind Kevin Hoovers Arbeiten über die Neue Klassische MakroÖkonomik hervorzuheben (z.B. Hoover 1988). Was Mayers Monetarismus betrifft, so hat er ihn selbst in die passende Perspektive gerückt: ,J do call myself a moderate monetarist, but that is an arbitrary label, which I adopt in part because monetarists are in a minority. If it were the dominant school I would probably call myself a moderate Keynesian." (1990b, S. 14) Heutzutage sind beide Etiketten ein wenig veraltet. Damit sind keineswegs alle Fragen, die unter diesen Etiketten gestellt wurden, beantwortet oder vergessen. Thomas Mayer gehört zu denen, die ständig daran erinnern. Schriften in Auswahl·. (1959) The Empirical Significance of the Real Balance Effect, in: Quarterly Journal of Economics, Bd. 73, S. 275-291. (1960) Liquidity Functions in the American Economy (zus. mit Μ. Bronfenbrenner), in: Econometrica, Bd. 28, S. 810-834.

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Meidner, Rudolf (1965)

(1968) (1975)

(1990) (1990a) (1990b) (1990c) (1993)

Tests of the Relative Importance of Autonomous Expenditures and Money (zus. mit Μ. de Prano), in: American Economic Review, Bd. 55, S. 729-752. Monetary Policy in the United States, New York. The Structure of Monetarism, in: Kredit und Kapital, Bd. 8, S. 191-218 und 293-316 (neu hrsg. mit Beiträgen von M. Bronfenbrenner u.a., New York/London 1978; dt. Übers, in: Die Monetarismus-Kontroverse. Eine Zwischenbilanz, Beihefte zu Kredit und Kapital 4,1978). Monetarism and Macroeconomic Policy, Aldershot. Forecast Errors and Stabilization Policy, in: (1990), S. 91-115. Getting older, but not much wiser, in: (1990), S. 1-16. The Twilight of the Monetarist Debate, in: (1990), S. 61-90. Truth versus Precision in Economics, Aldershot.

Bibliographie: Friedman, M./Meiselman, D. (1963): The Relative Stability of Monetary Velocity and the Investment Multiplier in the United States, 1897-1958, in: Stabilization Policies, hrsg. von der Commission on Money and Credit, Englewood Cliffs, S. 165-268. Gordon, R. (1974): Milton Friedman's Monetary Framework, Chicago. Hoover, K. (1988): The New Classical Macroeconomics. A Sceptical Inquiry, Oxford/New York. Monetarism and the Methodology of Economics. Essays in Honour of Thomas Mayer, hrsg. von Kevin Hoover und Steven Sheffrin, Aldershot (im Erscheinen). Quellen: Β Hb Π; Blaug; Laidler, D.: Brief vom 14.9.1993 an den Verfasser; Mayer, Th.: Brief vom 22.4.1994 an den Verfasser. Hans-Michael Trautwein

Meidner, Rudolf, geb. 23.6.1914 in Breslau Schweden war lange Zeit Modell für einen Wohlfahrtsstaat, in dem Vollbeschäftigung und soziale Gleichheit Vorrang vor anderen Zielen der Wirt-

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schafts- und Gesellschaftspolitik genießen. Mochten sich die Geister daran scheiden und das 'schwedische Modell' über Gebühr preisen oder verdammen; mochte es auch fragwürdig sein, die Realität d