Bildungskulturen im Islam: Islamische Theologie lehren und lernen 3110737035, 9783110737035

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Bildungskulturen im Islam: Islamische Theologie lehren und lernen
 3110737035, 9783110737035

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Prolegomena
Über die Klassifikation von Wissenschaften in der islamischen Ideengeschichte
Ist Islamische Theologie eine Wissenschaft?
Islamische Theologie im Wissenschaftssystem moderner Universitäten
Was zeichnet wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn in der Islamischen Religionspädagogik aus? – Eine Annäherung
Zwischen Tradition, Performanz und Autorität der Ich-Perspektive: Die Frage von Authentizität in den Islamisch-Theologischen Studien
Historische Perspektiven auf islamische Lehrund Lernkulturen
Islamische Bildung im literarischen Gewand: Unterweisung in religiösen und weltlichen Belangen bei Ibn Qutayba und al-Māwardī
Pädagogisches Denken im Islam am Beispiel von al-Ġazālīs „O Kind!“
The Modernization of Islamic Education in China: The Case of the Hui Muslims
Lehr- und Lernpraktiken in der ḥauze vor und nach der Islamischen Revolution
Islamische Theologie an deutschen Universitäten – Struktur, Macht, Handlungsfelder
Religiöse Pluralität aus islamisch-religionspädagogischer Perspektive
Geschlechtersensible Theologie lehren und lernen
Islamisches Recht als Teildisziplin der Islamischen Theologie in Deutschland – Problemfelder, Herausforderungen und Lösungsvorschläge
Führung zur Selbstführung: Lehren und Lernen in der Islamischen Theologie als pastorale Praxis
Autorenverzeichnis

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Bildungskulturen im Islam

Islamkundliche Untersuchungen

Band 347

Bildungskulturen im Islam Islamische Theologie lehren und lernen Herausgegeben von Abbas Poya, Farid Suleiman und Benjamin Weineck

ISBN 978-3-11-073703-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-073174-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-073177-4 Library of Congress Control Number: 2021944257 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: PREMIO STOCK / Shutterstock Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Einleitung

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Prolegomena Amir Dziri Über die Klassifikation von Wissenschaften in der islamischen 19 Ideengeschichte Farid Suleiman Ist Islamische Theologie eine Wissenschaft?

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Reinhard Schulze Islamische Theologie im Wissenschaftssystem moderner Universitäten

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Fahimah Ulfat Was zeichnet wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn in der Islamischen 103 Religionspädagogik aus? – Eine Annäherung Jan Felix Engelhardt Zwischen Tradition, Performanz und Autorität der Ich-Perspektive: Die Frage von Authentizität in den Islamisch-Theologischen Studien 115

Historische Perspektiven auf islamische Lehrund Lernkulturen Sebastian Günther Islamische Bildung im literarischen Gewand: Unterweisung in religiösen und 137 weltlichen Belangen bei Ibn Qutayba und al-Māwardī Johannes Twardella Pädagogisches Denken im Islam am Beispiel von al-Ġazālīs „O Kind!“

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VI

Inhalt

Gang Li The Modernization of Islamic Education in China: The Case of the Hui Muslims 217 Reza Hajatpour Lehr- und Lernpraktiken in der ḥauze vor und nach der Islamischen 259 Revolution

Islamische Theologie an deutschen Universitäten – Struktur, Macht, Handlungsfelder Zekirija Sejdini Religiöse Pluralität aus islamisch-religionspädagogischer Perspektive Dina El Omari Geschlechtersensible Theologie lehren und lernen

277

309

Serdar Kurnaz Islamisches Recht als Teildisziplin der Islamischen Theologie in Deutschland – Problemfelder, Herausforderungen und Lösungsvorschläge 333 Anne Schönfeld Führung zur Selbstführung: Lehren und Lernen in der Islamischen Theologie als pastorale Praxis 365 Autorenverzeichnis

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Einleitung Inzwischen sind über zehn Jahre vergangen, seit der Wissenschaftsrat seine Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Universitäten veröffentlicht hat. Das Papier wurde nicht von allen Seiten positiv aufgenommen, es stieß auch in manchen Punkten auf Kritik. Am deutlichsten haben sich zahlreiche Islamwissenschaftler*innen in einem Positionspapier kritisch zu den Empfehlungen geäußert. Darin wurde sich vor allem an der vom Wissenschaftsrat anvisierten Namensgebung „Islamische Studien“ abgearbeitet, weil in dieser keine hinreichend klare Trennung zur etablierten Islamwissenschaft vorgenommen würde.¹ Die klare Trennung beider Disziplinen müsse aber, so heißt es, nicht nur begrifflich, sondern auch „präzise und wissenschaftstheoretisch begründet sein“.² Darüber hinaus war die Verortung des neuen Faches innerhalb der Universitäten umstritten: Der Wissenschaftsrat empfahl seinerzeit, die Islamische Theologie an philosophischen bzw. kulturwissenschaftlichen Fakultäten zu verorten. Dies jedoch, so das Positionspapier, würde dem „bekenntnisgebundenen“ Charakter des Faches nicht gerecht, das dementsprechend in theologischen Fakultäten angesiedelt oder als Zentrum, das direkt der Universitätsleitung unterstellt ist, realisiert werden müsse.³ Dieser Band verfolgt nicht den Anspruch, einen weiteren Beitrag zur normativen Debatte der Verhältnisbestimmung von Islamischer Theologie zu anderen Islam-bezogenen akademischen Disziplinen wie der Islamwissenschaft oder der Islam-fokussierten Religionswissenschaft zu leisten. Vielmehr dokumentiert dieses Buch einerseits einen Teil der erzielten Resultate der letzten zehn Jahre, in denen sich die Islamische Theologie an deutschen Universitäten zu etablieren begann, und zeigt dabei den Stand der Integration des Faches in die deutsche akademische Landschaft und das Ausmaß seiner Dialogfähigkeit mit anderen Disziplinen. In Bezug auf die oben genannte Forderung, die Trennung von Is-

 Patrick Franke, „Über die zukünftige Verortung des Islams an den deutschen Universitäten: Ein islamwissenschaftliches Positionspapier zu den Empfehlungen des Wissenschaftsrates vom 29. Januar 2010“, https://www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/split_professuren/is lamkunde/dateien/Islam-Positionspapier.pdf.  Offener Brief mit über 160 Unterzeichnenden, „Stellungnahme von Fachvertreterinnen und ‐vertretern der Islamwissenschaft und benachbarter akademischer Disziplinen zur Einrichtung des Faches ‚Islamische Studien‘ an deutschen Universitäten“. In Das Verhältnis zwischen Islamwissenschaft und islamischer Theologie: Beiträge der Konferenz Münster, 1. – 2. Juli 2011, hrsg. von Mouhanad Khorchide und Marco Schöller (Münster: Agenda, 2012), 245.  „Stellungnahme von Fachvertreterinnen und ‐vertretern“, 245. https://doi.org/10.1515/9783110731743-001

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Einleitung

lamwissenschaft und Islamischer Theologie müsse „präzise und wissenschaftstheoretisch begründet sein“, setzen die Beiträge in diesem Band jedoch einen potentiell kontroversen Standpunkt: Die Beiträge von Schulze, Engelhardt und Suleiman argumentieren, dass es mithin wissenschaftstheoretisch problematisch ist, die normativen Voraussetzungen von Wissenschaftlichkeit zu bestimmen – seien diese nun „bekenntnisgebunden“ oder eben, anders gestaltet, ‚wertfrei‘. Vielmehr argumentieren die Autoren dafür, jeweils mit unterschiedlichem Schwerpunkt, Theologizität von Wissenschaft nicht an normative Voraussetzungen zu koppeln, sondern performativ zu denken: Theologizität, oder auch ‚Authentizität‘ der Lehre begründe sich in dieser Perspektive vielmehr darin, dass in Bezug auf einen bestimmbaren Adressatenkreis gültiges Wissen produziert werde. So kann die Islamische Theologie nicht allein aufgrund eines – wie auch immer bestimmbaren – Bekenntnisses definiert und von der Islamwissenschaft abgegrenzt werden, sondern auch: „(a) wenn sie sich in einem institutionalisierten Vermittlungsakt zu einer Gruppe von Schüler/inne/n oder Studierenden befindet, die sich selbst im Moment der Vermittlung in einem Bezug zum Islam sehen, (b) wenn sie ihre Erkenntnisse in solchen Momenten mit dieser Umwelt kommunizieren lässt und (c) wenn sie einen transdisziplinären Bezug zu einer gesellschaftlichen Umwelt anstrebt, die sich durch eine islamische Vergemeinschaftung auszeichnet. Kurzum: Die Islamische Theologie wird dann bekenntnisbezogen, wenn sie situativ, kommunikativ und performativ mit einer „muslimischen Umwelt“ kommuniziert.“⁴

Auf diese Weise trägt dieser Band als solcher auch dazu bei, sich zum einen mit den erhobenen Forderungen benachbarter Disziplinen und des Wissenschaftsrates auseinanderzusetzen. Zum anderen zielt er aber auch darauf, die Islamische Theologie weiter in der Wissenschaftsfamilie zu vernetzen. Denn hier sind Beiträge versammelt, die wissenschaftstheoretische und ‐systematische Überlegungen zu Fragen der Wissenschaftlichkeit und der Authentizität aus der Feder sowohl von Islamwissenschaftler*innen als auch von islamischen Theolog*innen enthalten, und die hier in einen gemeinsamen Kommunikationsraum treten. Dabei wird zugleich auch deutlich, dass die Grenzen zwischen den hier repräsentierten Disziplinen keineswegs dem akademischen Dialog abträglich sind, sondern unterschiedlich nuancierte Perspektiven auf einen gemeinsamen Gegenstand, wie eben den des Lernens und Lehrens, fruchtbar eingenommen werden können. In den Empfehlungen des Wissenschaftsrates wurde immer wieder auch die Notwendigkeit betont, dass die im Aufbau begriffene Islamische Theologie mit

 Schulze in diesem Band, 92.

Einleitung

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anderen Islam-bezogenen akademischen Disziplinen wie auch mit anderen Theologien in Austausch und Kooperation treten solle. Eine solche Kooperation wurde bei der Einrichtung der Islamischen Theologie an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg insofern institutionell verankert, als die dort angesiedelte Nachwuchsgruppe Norm, Normativität und Normwandel mit der Nachwuchsgruppe Islamische Gegenwartskulturen der Religionswissenschaft an der Universität Bayreuth kooperiert. Aus deren gemeinsam organisierten Workshops und Arbeitsgruppen ist dieser Band hervorgegangen. Der gemeinsame Fokus auf islamische Bildungskulturen ist dabei aus den laufenden Forschungsprojekten heraus erwachsen, die in Erlangen und Bayreuth durchgeführt wurden und werden. Sie berühren die Thematik des religiösen Lernens und der Reproduktion von Tradition von unterschiedlicher Seite her und werfen Fragen nach dem Erlernen von Religion und ritueller Praxis ebenso auf wie normative Fragen nach Autorität, Geltung, Legitimation und Transformation religiösen Wissens. Unter „Bildungskulturen“ sollen dabei die heterogenen, zeitlich wie räumlich unterschiedlichen Modi, Gegenstände, Orte und Akteure des Lernens verstanden werden. Diese galt - und gilt - es mit Blick auf das Thema Lernen als Wissensaneignung und die sich dabei vollziehenden Prozesse der Transformation von (religiösem/rituellem) Wissen, Normen und Praktiken zu untersuchen. Der Komplex von Wissen und Lernen ist dabei nicht nur eine mächtige Instanz, innerhalb derer Kontinuität und Wandel religiöser Traditionen verhandelt werden. Damit zusammenhängende Begriffe und Praktiken wie ʿilm und adab sind schon lange von der islamwissenschaftlichen Bildungsforschung als zentrale Termini in der Vermittlung von Wissen erkannt worden. Sie spielen damit auch im Kontext von Normkonstituierung und Normwandel eine entscheidende Rolle und wurden daher in der islamwissenschaftlichen Bildungsforschung entsprechend gewürdigt.⁵ Die gemeinsame Beschäftigung mit dem Thema Bildungskulturen ergab sich aus dieser zentralen und vielgestaltigen Funktion des Lernens und Lehrens heraus. Aus der Perspektive der Islamischen Theologie war vor allem wichtig, der Frage nachzugehen, wie die traditionellen Lehr- und Lernmechanismen in unterschiedlichen muslimischen Kontexten funktionieren und ob und inwieweit sie

 Vgl. eine entsprechende Formulierung bei Franz Rosenthal, Knowledge Triumphant (Leiden: Brill, 1970), 70. Vgl. auch die Ausführungen in Stefan Reichmuth, Islamische Bildung und soziale Integration in Ilorin (Nigeria) seit ca. 1800 (Münster: LIT, 1998), 114– 18, 180; Jonathan Berkey, The Transmission of Knowledge in Medieval Cairo: A Social History of Islamic Education (Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1992), 5; Sebastian Günther (Hrsg.), Knowledge and Education in Classical Islam: Religious Learning Between Continuity and Change (2 Bde., Leiden; Boston: Brill, 2020). Siehe auch Günthers Beitrag in diesem Band.

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Einleitung

mit Lehr- und Lernmethoden in den heutigen Gesellschaften kommunizieren.⁶ Einerseits schlagen muslimische Gelehrte, die sich mit dem Thema Erziehung und Bildung befassen, diverse und detaillierte Ansätze vor, wie Wissen zu erwerben und zu vermitteln ist. Auf der anderen Seite scheint es, dass diese Vorschläge in den heutigen Gesellschaften und insbesondere im deutschen bzw. europäischen Kontext angesichts der radikalen Veränderungen im Bildungswesen, in den Bildungszielen und in den Bildungsadressat*innen schwer umsetzbar sind. Dennoch kristallisierten sich im Laufe der Diskussionen und Arbeiten, die zur Entstehung des vorliegenden Bandes geführt haben, einige Überlegungen heraus, wie man über die traditionellen muslimischen Lehr- und Lernmethoden reflektieren und sie gleichzeitig in Teilen für die heutige Zeit nutzbar machen kann.⁷ Aus religionswissenschaftlicher Sicht war die Frage des religiösen Lernens relevant, als in einem Projekt zum schiitischen Islam in Deutschland und Europa danach gefragt wurde, wie in schiitischen Gemeinschaften Rituale erlernt werden und darüber rituelles und religiöses Wissen vermittelt wird.⁸ Die Teilnahme an gemeinsamen Ritualen ermöglicht es in dieser Perspektive nicht nur jungen Gemeindemitgliedern in einem Prozess des informellen, ritualisierten Lernens Teil der jeweiligen „Community of Practice“⁹ zu werden. Auch vermag es der Fokus auf Rituale als sozialem Lernraum auch, eine offenere Epistemologie von religiösen Gemeinschaften zu entwickeln und analytisch fruchtbar zu machen. Der heuristische Nutzen einer auf gemeinsame Praxis ausgerichteten Perspektive auf Gruppenformation und -zugehörigkeit liegt darin, das nicht linguistische, nationale, ethnische oder andere grenzziehende Marker bemüht werden müssen, die dazu tendieren, die jeweilige Gruppe als schiitisch, iranisch o. ä. zu essentialisieren. Dabei werden auch Perspektiven auf Kontexte eröffnet, in denen gemeinsame Rituale dazu dienen, die Grenzen zwischen verschiedenen islamischen Denominationen, wie etwa Schiiten, Aleviten und Alawiten zu überwinden.¹⁰

 Abbas Poya, „Islamische praktische Theologie und Religionspädagogik: Eine Verhältnisbestimmung“. In Praktische Theologie und Religionspädagogik. Systematische, empirische und thematische Verhältnisbestimmungen, hrsg. v. Thomas Schlag & Bernd Schröder (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020), 457– 471.  Siehe hierzu in vorliegendem Band die Beiträge von Günther, Hajatpour und Sejdini.  Robert Langer und Benjamin Weineck, „Shiite Communities of Practice in Germany: Researching Multi-Local, Heterogeneous Actors in Transnational Space“. In Journal of Muslims in Europe 6, Nr. 2 (2014), 221– 222.  Étienne Wenger, Communities of Practice: Learning, Meaning, and Identity (Cambridge: Cambridge University Press, 1998).  Benjamin Weineck, „Schiiten, Aleviten und Ehlibeyt-Islam: Grenzziehung und ‚Artikulation‘ im Kontext schiitisch-alevitischer Gegenwartskulturen in Deutschland und der Türkei“. In Zeitschrift für Religionswissenschaft 27.1 (2019).

Einleitung

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Das Erlernen von religiösem Wissen und ritueller Praxis stellt dabei diejenige soziokulturelle Tätigkeit, in der Kontinuität und Wandel des tradierten Gegenstandes verhandelt werden. Kann auf der einen Seite keine Ritualhandlung exakt nachgeahmt werden, so sind auf der anderen Seite auch die hermeneutischen Dimensionen des Lernens stetem Wandel unterworfen. Lernorte sind dabei diejenigen Räume, an denen Wissen sich gleichermaßen verdichtet wie ausbreitet. Gleichwohl können diese Orte, und, damit einhergehend, Methoden und Inhalte der Lehre, unterschiedlicher nicht sein, sowohl in islamisch geprägten Kontexten im Nahen und Mittleren Osten als auch wie in Kontexten, in denen Muslim*innen Minderheiten darstellen. Institutionen wie madrasa, ḥ auze, tekke oder eben Universitäten mit BA-Programmen in Islamischer oder Alevitischer Theologie sind nur prominente Beispiele unterschiedlicher Räume und Modi der Wissenstradierung. Mit der Einführung der Islamischen Theologie in das deutsche Universitätssystem geht auch eine Transformation in Bezug auf Vermittlungspraktiken einher, etwa wenn ein bestimmter Lerngegenstand in ein Modulhandbuch übertragen werden muss. Derartige strukturelle Veränderungen bedingen auch epistemologische Brüche, wie Kurnaz in seinem Beitrag in Bezug auf Islamisches Recht im Rahmen universitärer Islamischer Theologie beschreibt, etwa was die Funktion und Reichweite des iǧtihād betrifft. Im Falle der Alevitischen Theologie, die leider in diesem Band nicht behandelt werden kann,¹¹ wurde schon vor Längerem darauf hingewiesen, dass der Prozess der Etablierung von religiösem Schulunterricht und die damit einhergehende Akademisierung der Ausbildung auch Homogenisierungsprozesse in Gang setzt, die etwa dazu geführt haben, dass sich die religiös wie ethnisch heterogenen Aleviten überhaupt erst als eigene Religionsgemeinschaft formell organsiert haben.¹² Neben diesen institutionalisierten Formen der Wissenstradierung treten auch weniger institutionalisierte Praktiker*innen im Feld auf, die in Gemeinden und „Praxisgemeinschaften“ über Charisma und Kompetenz wichtige Knotenpunkte der Wissensvermittlung verkörpern. In diesem Zusammenhang ist das traditionelle Schüler-Lehrer-Ver-

 Wohl aber wurden auf den dieser Publikation zugrundeliegenden Workshops einschlägige Themen behandelt, so etwa über die Vortragsbeiträge von Handan Aksünger und Robert Langer.  Irka-Christin Mohr, „Lehrpläne für den islamischen und für den alevitischen Religionsunterricht: Ein Feld für die Aushandlung von Sunna, Schia und Alevitentum“. In Islamunterricht – Islamischer Religionsunterricht – Islamkunde: Viele Titel – ein Fach?, hrsg. von Irka-Christin Mohr und Michael Kiefer (Bielefeld: transcript Verlag, 2009), 91. Zu den unterschiedlichen Ansätzen und Strategien der Standardisierung alevitischer Lehre siehe auch Benjamin Weineck & Johannes Zimmermann, „Introduction: Sourcing Alevism between Standard, ‘Canon’ and Plurality“, in Alevism between Standardisation and Plurality: Negotiating Texts, Sources and Cultural Heritage, hrsg. v. Benjamin Weineck & Johannes Zimmermann (Frankfurt a. M.: PL Publishers, 2018). 21– 58.

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Einleitung

hältnis im Kontext islamischer Unterweisung wichtig und zentral, da sich Lernen hier weniger über das Studium von Büchern als vielmehr durch Vermittlung eines Meisters (šayḫ) vollzieht.¹³ Lehrpläne und Modulhandbücher dagegen produzieren Positivität und Standard, die verschiedene Aspekte muslimischer Praxis in der interpersonellen Wissensvermittlung unberücksichtigt lassen. Beispielsweise betonen Günther und Twardella in diesem Band den wichtigen Stellenwert von adab als Grundvoraussetzung zur Erlangung von Wissen (ʿilm) in den Werken von al-Gazā lī, alMā wardī und Ibn Qutayba. Adab, verstanden als charakterliche Tugend, die der weiteren Bildung vorausgeht, findet so in gegenwärtigen, institutionalisierten Entwürfen islamischer Unterweisung in Schule und Universität dagegen kaum Beachtung. Ebenso nimmt die zentrale Rolle von adab in anderen Kontexten islamischer Lernkulturen ab: So hat Rüdiger Seesemann etwa in seinen Arbeiten zu islamischen Lernpraktiken im Sudan aufzeigen können, dass der Stellenwert von adab im Kontext von Lernen von salafistischen und wahhabitischen Strömungen zunehmend zurückgedrängt wurde.¹⁴ Für Seesemann offenbart sich hier ein Bruch zwischen sufisch-esoterischen und rationalen Epistemen in Bezug auf Wissen und Lernen – eine Unterteilung, die auch direkt zu Kurnaz‘ Argumentation in Bezug auf Islamisches Recht spricht, und die daher für den allgemeineren Zusammenhang der Transformation von islamischen Lernkulturen durch ihre Institutionalisierung von unmittelbarer Relevanz zu sein scheint. Dieser Band wirft Schlaglichter auf ebensolche Dynamiken. Auf der Grundlage wissenschaftstheoretischer und ‐systematischer Überlegungen zur Islamischen Theologie setzen sich die unterschiedlichen Beiträge mit historischen und gegenwartsbezogenen Problemen des Komplexes von Lehr- und Lernkulturen auseinander. Dabei werden einerseits normative Debatten um islamische Bildung und historische Praktiken im Verhältnis zwischen Schüler*in und Lehrer*in angerissen, andererseits auch konkrete Fallbeispiele aus iranischen und chinesischen Kontexten behandelt. Gerade diese Fallbeispiele zeigen, dass sich die Transformation islamischer Bildungskulturen nicht allein auf europäische Kontexte und die Institutionalisierung von Islamischer Theologie in deutschen Universitäten bezieht. Vielmehr verweisen sie darauf, dass Lernorte und –praktiken in verschiedenen Teilen der muslimischen Welt nicht nur stetem Wandel unterworfen sind, sondern, wie im Falle der Hui Muslime in China, auch dazu einge William Graham, „Traditionalism in Islam: An Essay in Interpretation“. In Journal of Interdisciplinary History 23 (1993), 505.  Rüdiger Seesemann, „ʿIlm and Adab Revisited: Knowledge Transmission and Character Formation in Islamic Africa“. In The Piety of Learning: Islamic Studies in Honor of Stefan Reichmuth, hrsg. von Michael Kemper und Ralf Elger (Leiden; Boston: Brill, 2017), 35.

Einleitung

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setzt werden können, kollektive Identitäten zu stärken und sich so versuchen der Assimilation entgegenzuwirken. Damit steht vor allem Lis Beitrag zu den Hui Muslimen in ein Spannungsfeld zu Schönfelds Argument aus diesem Band, der auf das disziplinierende Moment Islamischer Theologie an deutschen Universitäten abhebt und diese in einem von politischer Macht durchwalteten Komplex von „Führung und Selbstführung“ verortet.

Über diesen Band Der Beitrag von Amir Dziri zielt darauf ab, die Entwicklungslinien muslimischer Wissenschaftsklassifikation von seinen Anfängen im 9. Jahrhundert bis in das 18. Jahrhundert nachzuzeichnen. Auch wenn der Ausdruck ʿulūm, das heißt Wissenschaften, weder im Koran noch in den Prophetenworten Gebrauch findet, nimmt der Begriff des Wissens (ʿilm) doch eine zentrale Stellung sowohl in den Quellen als auch in der Tradition ein. Dziri zeigt auf, dass die muslimische Wissenschaftseinteilung vom griechischen Denken geprägt ist; er betont jedoch, dass die Vereinbarkeit von nicht-muslimischen (hier vor allem: griechischen) und muslimischen Wissenschaften nicht unstrittig gewesen sei. Tatsächlich ist die Wissenschaftssystematik selbst – und damit offenbart sich ihr normativer Charakter – als ein Instrument dafür verwendet worden, diese oder jene Position über den Charakter der Wissenschaften und ihr Verhältnis zueinander zu festigen. Die in der klassischen Phase des Islams so einflussreiche scholastische Theologie versuchte zum Beispiel den Wissensbegriff für sich zu vereinnahmen, was zu einer Gegenbewegung in der Mystik führte, die gar mit ihrem Fokus auf dem Terminus maʿrifa (Erkenntnis) eine Alternative zum ʿilm-Konzept entwickelte. Eine weitere, Jahrhunderte währende Richtung innerhalb des Genres der Wissenschaftsklassifikation wird durch die bibliographischen Werke repräsentiert, in denen die darin aufgenommen Schriften oftmals danach sortiert wurden, welche der Wissenschaften sie behandeln. Die bekanntesten Autoren sind hier Ibn anNadīm (gest. 385/995) und Ḥaǧǧī Ḫalīfa (gest. 1067/1657). Dziri resümiert, dass sich die komplexe Geschichte der Wissenschaftsklassifikation durch philosophisch-gnostische, theologisch-scholastische, mystisch-esoterische, traditionalistische, enzyklopädische und bibliographische Zugänge auszeichnet, es jedoch auch Werke gibt, die sich dieser Kategorisierung entziehen. In seinem Beitrag Ist Islamische Theologie eine Wissenschaft? setzt sich Farid Suleiman kritisch mit dem Demarkationsproblem von Wissenschaft und NichtWissenschaft auseinander. Diskussionen um den Wissenschaftscharakter von Theologie generell sind zwar sehr viel älter als die akademische Disziplin der Islamischen Theologie an deutschen Universitäten; sie betreffen das junge Fach

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Einleitung

aber insofern, als auch in Bezug darauf gefragt wird, inwiefern das Fach Wissenschaftlichkeit beanspruchen kann und somit einen legitimen Platz an öffentlichen Universitäten einnimmt. Die Frage allein, ob Theologie Wissenschaft sei, fußt, so Suleiman, auf drei Thesen, mit denen er sich in seinem Beitrag kritisch auseinandersetzt und sie schließlich widerlegt: Erstens bestehe ein inhärentes Konfliktverhältnis zwischen (Natur‐)Wissenschaft und Religion; zweitens seien Wissenschaften voraussetzungslos, Theologie jedoch nicht; und drittens erfülle Theologie nicht die Kriterien, welche normative Wissenschaftstheorien aufstellten. Mit seinen Ausführungen dringt Suleiman tief in die europäische Wissenschaftsgeschichte ein, um die genannten Annahmen infrage zu stellen. Daran anschließend schlägt er vor, die Wissenschaftlichkeit eines Faches nicht anhand fester Kriterien zu definieren, sondern hier auf den Wittgensteinschen Begriff der Familienähnlichkeit zurückzugreifen. Ganz ähnlich wie bei anderen Fächern, wie der Rechtswissenschaft, konstituiert sich der wissenschaftliche Charakter der Islamischen Theologie über ihre Ähnlichkeit zu anderen Wissenschaften und durch ihren Platz an der öffentlichen Universität, innerhalb derer das Fach gültiges Wissen in Bezug auf einen bestimmbaren Adressatenkreis produziert. Diese Zugehörigkeit zur Familie der Wissenschaften, so Suleimans Schlussfolgerung, lasse sich im Lichte der Diskussion nicht durch normative Kriterien bestimmen, sondern muss sich vielmehr an „herausragende[n] Forschungsleistungen mit fächerübergreifendem Einfluss“ messen lassen. Reinhard Schulze befasst sich in seinem Beitrag mit einigen zentralen Aspekten der Institutionalisierung der Disziplin Islamisch-Theologische Studien, die unter diversen Bezeichnungen seit mittlerweile über zehn Jahren an verschiedenen deutschen Universitäten etabliert ist. Dabei geht der Autor u. a. auf den Streit um den Namen der Disziplin, die Theologizität des Faches und die Differenzkriterien des Faches insbesondere gegenüber der Islamwissenschaft ein. Schulze versucht in seinem Beitrag anhand einer wissenschaftstheoretischen, wissenschaftshistorischen und wissenschaftspolitischen Besprechung der Themen, die Debatten in diesem Zusammenhang trennscharf einzuordnen. Dabei zeigt er auf, dass die Theologizität einen Bestandteil der Islamischen Studien bildet, aber nicht mit „Bekenntnisorientiertheit“ oder „Bekenntnisgebundenheit“ zu verwechseln ist. Weiter stellt er fest, dass in dieser Theologizität auch der Unterschied zwischen der Islamwissenschaft und den Islamischen Studien zu sehen ist, und zwar in der Absicht der jeweiligen Wissenschaftler*innen, in der Frage also, ob sie mit einer normativen oder deskriptiven Absicht ihrer Forschung und Lehre nachgehen. Wenn Wissenschaftler*innen eine Äußerung zu einem Islam-bezogenen Thema so modulieren, dass sie eine affirmative Wirkung bei denjenigen entfaltet, die die Äußerung erfahren, und diese Affirmation der islamischen Tradition gilt,

Einleitung

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dann betreiben sie nach Schulze Theologie. Sein Resümee: „Dies aber bedeutet, dass Islamische Theologie – wie Theologie überhaupt – nicht durch erkenntnistheoretische, methodische oder praktische Normen gekennzeichnet ist, die sie von anderen Disziplinen unterscheidet.“ Fahimah Ulfat wendet sich in ihrem Beitrag Was zeichnet wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn in der Islamischen Religionspädagogik aus? – Eine Annäherung einer Frage zu, die für die Profilbildung des Faches Islamische Religionspädagogik wesentlich ist. Mit Blick auf die in der deutschen Wissenschaftslandschaft mittlerweile seit rund zwanzig Jahren bestehende Islamische Religionspädagogik geht die Autorin der Frage nach, welche Optionen realisiert wurden, die für den wissenschaftstheoretischen Selbstentwurf des Faches kennzeichnend sind. Zunächst gibt Ulfat einen Überblick über die Hintergründe und die Entwicklung des Faches Islamische Religionspädagogik in Deutschland, um dann seine theologische Verankerung zu skizzieren. Ihr Hauptanliegen ist jedoch, die Frage zu erläutern, wie Tradition und Situation zusammenwirken bzw. wie der Prozess der gegenseitigen kritischen Befruchtung der klassischen theologischen Methoden und der empirischen Vorgehensweisen der Sozialwissenschaften in der Islamischen Religionspädagogik und über sie hinaus in der gesamten Islamischen Theologie zu bewerten ist. Die Autorin plädiert am Ende u. a. dafür, dass die Islamische Religionspädagogik die Aufgabe hat, Theologie und Lebenswelt miteinander ins Gespräch zu bringen. Konkret heiße das, muslimisches Denken in lebensweltliche Diskurse zu übersetzen und umgekehrt lebensweltliche Diskurse theologisch zu verorten, um damit die Theologie in ihrer orientierungsgebenden Funktion auch ein Stück weit zu verlebendigen. Die Islamische Religionspädagogik werde so zu einer Brücke und einer Übersetzerin für die Islamische Theologie und helfe, Sprachlosigkeiten zu überwinden, Begrifflichkeiten zu übersetzen, Denkvorstellungen zu würdigen und eine Verbindung von Spiritualität und Alltag herzustellen. Jan Felix Engelhardt setzt sich in seinem Beitrag mit Spannungen um den Begriff der Authentizität islamischer Lehre im Kontext universitärer Islamischer Theologie auseinander. Eine authentische islamische Lehre zu liefern, sei, so Engelhardt, der Anspruch, der von Politik und Gesellschaft an das Fach Islamische Theologie erhoben werde. Es ist hier allerdings problematisch zu bestimmen, was diesen Anspruch garantiert oder durch was er legitimiert wird. Engelhardt diskutiert in diesem Zusammenhang die Rolle der außeruniversitären Glaubensgemeinschaften, die Verantwortung individueller Theolog*innen sowie die legitimierende Kraft der Tradition. Denn zwar ist es aus Sicht der außeruniversitären Religionsgemeinschaften ihre Aufgabe zu bestimmen, was Teil einer solch authentischen Lehre zu sein hat. Kritiker werfen diesem Anspruch aber vor, dass er als „ideologisches Konstrukt“ die Gefahr der Essentialisierung berge und

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Einleitung

keinesfalls dazu gereicht, die Heterogenität und die Pluralität muslimischer Lebensentwürfe und islamischer Gegenwartskulturen zu repräsentieren. Gegenüber einer solch kollektiv-performativen Dimension hat jedoch auch ein individuiertnormatives Verständnis von Authentizität seine Grenzen, und das insofern, als Theolog*innen in der islamischen Geistesgeschichte „durch die Tradition legitimiert [sind], der sie durch Autorisierung der vorhergehenden Generation hinzugefügt werden“. Angesichts der Spannungen zwischen diesen drei Aspekten um den Begriff der Authentizität fragt Engelhardt zum Schluss seines Beitrags danach, ob nicht das Ringen um den Anspruch einer authentischen Vermittlung islamischer Lehre aufgegeben werden müsse, um an deren Stelle die Frage nach der Bewährung Islamischer Theologie sowohl in den Glaubensgemeinschaften als auch in der individualisierten Beziehung der Gläubigen zu Gott zu stellen. Unter dem Titel Islamische Bildung im literarischen Gewand. Unterweisung in religiösen und weltlichen Belangen bei Ibn Qutayba und al-Māwardī greift Sebastian Günther das Desiderat einer Geschichte des Bildungsdenkens im Islam auf. Eingangs weist der Autor auf die Aktualität und die Bedeutung des Themas hin. Angesichts aktueller Debatten um die (weitere) Einführung des Islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen sowie um die Etablierung konfessionsgebundener Studiengänge für Islamische Theologie an mehreren deutschen Universitäten hätten die Fragen zu Wissen und Bildung im Islam nicht nur die Interessen der Wissenschaft geweckt, sie seien auch deutlich in den Fokus der breiten Öffentlichkeit und der Politik gerückt. Bei seiner Analyse fokussiert Günther zunächst auf den arabischen Terminus adab, der generell im Sinne von „Bildung“ zu verstehen ist. Dabei diskutiert er das vielschichtige Bedeutungsfeld des Begriffs sowie seine Rolle in der Formulierung und Entfaltung von Bildungsgedanken in der klassischen arabischen Literatur. Und er bespricht die Versuche um die Deutung des Begriffs in der westlichen Forschung. Die klassische Situation wird dann anhand der pädagogischen Perspektiven von zwei besonders prominenten muslimischen adab-Autoren herausgearbeitet. Dabei handelt es sich zum einen um den intellektuellen Traditionskenner und Literaten des 9. Jahrhunderts Ibn Qutayba (gest. 889) und zum anderen um den Rechtsgelehrten, rationalen Theologen und Ethiker des 10. und 11. Jahrhunderts alMāwardī (gest. 1058). Günther zeigt in seiner Untersuchung, wie diese beiden Gelehrten in ihren Einstellungen zur Bildung und Ausbildung sowohl eine religiöse als auch eine weltliche, „säkulare“ Perspektive einnehmen. Insgesamt beobachtet Günther in den Ideen muslimischer Denker aus der klassischen Periode des Islams (9. – 15. Jahrhundert) zu Theorien und Praxis der Bildung und Erziehung einen „humanistischen“ Charakter im Sinne eines kulturübergreifenden geistigen Zugangs zu Idealen und Werten von Bildung und Gesellschaft, der den Menschen zum Maßstab aller Dinge und Entscheidungen macht und die Rolle der

Einleitung

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Vernunft und des rationalen Denkens in den zivilisatorischen Entwicklungsprozessen priorisiert. Diesen Formen historischen „pädagogischen“ Denkens spürt auch der Beitrag von Johannes Twardella nach. Mittels der Methode der objektiven Hermeneutik untersucht er pädagogische Praxis, Kommunikationsstruktur sowie das Verhältnis von Meister und Schüler in dem Werk O, Kind!, das traditionell dem einflussreichen Theologen und Mystiker al-Ġazālī (gest. 505/1111) zugeschrieben wird. Dabei arbeitet Twardella zum einen heraus, welches Wissen in einer solchen Kommunikation vermittelt wurde, und unterstreicht dabei zum anderen die zentrale Rolle des „Lehrmeisters“ (šayḫ) in al-Ġazālīs Vorstellungen von Bildung. Erziehung bedeutet in der untersuchten pädagogischen Kommunikation zwischen Meister und Schüler das Erlangen von Bewährungswissen, das für das jenseitige Heil notwendig ist und sich aus dem Koran und der Sunna des Propheten Muḥammad speist. Der Meister tritt dabei als Mittler auf zwischen dem Kind, verstanden als Metapher für den Schüler bzw. heranwachsenden oder bereits erwachsenen Lernenden an sich, der göttlichen Offenbarung und den Hadithen. Die Natur des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, das bei al-Ġazālī rein personalisiert gedacht ist und auf keine Institution (wie etwa eine madrasa) angewiesen scheint, verweist dabei auf die zentrale Rolle einer solchen Beziehung im Kontext islamischer Lehr- und Lernkulturen – eine Beziehung, wie sie etwa auch in sufischen Kontexten weit verbreitet war und wie sie im Zuge tiefgreifender Transformationen modernisierter Bildungssysteme nun aufgebrochen ist. Gang Li diskutiert in seinem Beitrag, der als einziger Artikel in dem vorliegenden Band auf Englisch erscheint, die spannende und im Bereich der Islamwissenschaft und der Islamisch-Theologischen Studien ganz neue Frage nach der Modernisierung islamischer Bildung in China anhand des Fallbeispiels der HuiMuslime. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herum beginnt der Modernisierungsprozess in China. Zu den verschiedenen Faktoren, die sowohl die politische Herrschaft als auch die Gesellschaft antrieben, um die Modernisierung Chinas zu erzielen, gehörte der allgemein verbreitete Glaube an die „nationale Erlösung durch Bildung“. In diesem sozialen Kontext initiierten die Hui-Muslime auch die sogenannte „Neue Kulturbewegung“ der Hui, die die traditionelle islamisch-religiöse Bildung zu reformieren und auf der theoretischen Ebene weiterzuentwickeln versuchte. Die Gründung neuer Bildungsformen und verschiedener Vereinigungen sowie die Publikation von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern durch die Hui-Muslime selbst waren die Kerninitiativen dieser Bewegung. Im Gegensatz zu den HanChinesen wollten die Hui-Muslime mit ihren Bemühungen weder den Aufbau der chinesischen Nation noch das nationale Heilsprogramm Chinas voranbringen; sie

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waren vielmehr stark von der Idee der religiösen Wiederbelebung durch Bildung motiviert. Li befasst sich in seinem Artikel auf der einen Seite mit den historischen Ereignissen und Daten, die zur islamischen Bildungsreform in China beigetragen haben. Auf der anderen Seite versucht er die Perspektive zu erweitern und bei der Darstellung dieses Prozesses das Gesamtbild der chinesischen Gesellschaft mit einzubeziehen. Gleichzeitig diskutiert der Autor die islamischen religiösen Bildungszentren, mit denen sich die Hui-Muslime untereinander verbunden haben. So eröffnet er eine Perspektive auf den nationalen und internationalen Kontext, in dem die Bildungsreform der Hui-Muslime stattgefunden hat. Insgesamt stellt Li fest, dass das Modernisierungsprojekt der islamischen Bildungsreform der Hui-Muslime auf die Rekonstruktion einer doppelten Identität als Chinesen und Muslime abzielte. Das Ziel dieser Bildungsreform war es, neu zu definieren, wer die Hui-Muslime sind und wie ihre Beziehungen zur nicht-muslimischen chinesischen Mehrheitsgesellschaft zu bestimmen sind. Der Beitrag von Reza Hajatpour setzt sich mit Lehr- und Lernkulturen in der schiitischen ḥauze auseinander. Auf der Basis persönlicher Beobachtungen erlaubt er einen seltenen Einblick in die Strukturen, Lehr- und Lernpraktiken in einer solchen schiitischen Bildungsstätte vor und nach der Islamischen Revolution in Iran. Zunächst beschreibt Hajatpour den dreistufigen Studienverlauf an einer ḥauze und charakterisiert diesen dabei einerseits als stark personalisiert, also auf ein enges Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler abzielend, und andererseits als wenig kodifiziert und standardisiert. Weiterhin skizziert er Unterrichtsgegenstände, Lehrmethoden und Lernpraktiken der Studierenden: Die Lehrwerke, die im Unterricht zum Einsatz kommen, werden meist von den Dozenten vorgelesen und deren Inhalte anschließend von den Studierenden in Disputationsseminaren weiter vertieft. Außerdem werden die Redekunst und die Fertigkeit zum Streitgespräch geschult. Im Zuge der Islamischen Revolution wurde dieses Ausbildungssystem zunehmend standardisiert und zentralisiert. Die zunehmende Anbindung der ḥauze an die Universitäten und die Tatsache, dass viele der Studierenden während ihres Studiums Englisch, Ökonomie und westliche Philosophie lernen, verweist dabei auf die Transformation der schiitischen ḥauze und ihrer spezifischen Lehr- und Lernpraktiken im 20. Jahrhundert. Zekirija Sejdini beschreibt in seinem Beitrag Religiöse Pluralität aus islamischreligionspädagogischer Perspektive die Religionen als einen wichtigen Faktor für das gesellschaftliche Zusammenleben und sieht die Theolog*innen daher in der Verantwortung, auf Basis der jeweiligen eigenen Offenbarung und Tradition, adäquate und zeitgemäße Konzepte zur Haltung gegenüber Andersgläubigen und zum Umgang mit ihnen zu entwickeln. Der Autor greift eine in der westlichen Wissenschaft verbreitete Typologisierung der Einstellungen zu religiöser Vielfalt auf, die aus den

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Kategorien „Exklusivismus“, „Inklusivismus“ und „Pluralismus“ besteht. Nach einer Diskussion dieser Ausdrücke resümiert Sejdini, dass nur ein pluralistischer Zugang zu Religion in der Lage ist, Alterität wertzuschätzen und somit einen sicheren Boden für Dialog und Austausch zwischen den Religionen zu bereiten. Es gilt daher – und damit beschäftigt sich der Autor im Anschluss –, diesen Zugang aus muslimischer Perspektive theologisch zu begründen. Dafür verweist er auf einige Vorarbeiten wie die von Fazlur Rahman (gest. 1988), Nurcholisch Madjid (gest. 2005), Ali Asghar Engineer (gest. 2013), Süleyman Ateş (geb. 1933) und Farid Esack (geb. 1959). Die Fähigkeit, mit Andersheiten respektvoll und anerkennend umzugehen, gehört zu den zentralen Lernzielen in der Schule und ist daher auch für die Religionspädagogik eine zentrale Aufgabe. Nach einer Besprechung von einigen relevanten Koranpassagen, die den Umgang mit Andersgläubigen thematisieren, eröffnet der Autor vier Perspektiven, die bei der Erarbeitung eines pluralistischen Religionsverständnisses für Muslime besonders wichtig seien. Dazu gehört erstens der Gedanke, dass der Ausdruck islām jegliche Art von Gottergebenheit bezeichnet und nicht nur die, die im Anschluss an den Propheten Muḥammad gelehrt wurde; zweitens, dass der Koran als Diskurs verstanden wird, der tief von den soziopolitischen Gegebenheiten des Offenbarungskontexts geprägt ist; drittens, dass absolute Wahrheiten dem Menschen verschlossen bleiben und jeder Anteil an ihnen sich immer aus einer speziellen Perspektive vollzieht; und viertens, dass die islamische Tradition eine reichhaltige Ressource darstellt, die zwar unbedingt zu berücksichtigen ist, die aber keineswegs bloß nachgeahmt und reproduziert werden darf. Der Autor schließt seinen Artikel mit der Feststellung ab, dass noch unentschieden ist, wie ein pluralistischer Zugang zu Religion innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft aufgenommen wird, ob er also als inakzeptable Verwässerung der Religion gesehen wird oder als attraktiver Weg, um die eigene Tradition im Lichte der heutigen Umstände weiterzudenken. Im Beitrag von Dina El Omari steht die Frauen- und Geschlechterforschung im Rahmen der deutschsprachigen Islamischen Theologie im Vordergrund. Die Autorin stellt fest, dass diese Forschung aktuell noch weit davon entfernt ist, etabliert zu sein, und plädiert daher dafür, sie in einem ersten Schritt innerhalb der Islamischen Theologie als Querschnittsdisziplin zu verankern, um sie dann, wenn sie sich ausreichend konsolidiert hat, in die Eigenständigkeit zu überführen. Unter welchem Namen sie dann firmieren könnte, ist laut der Autorin noch nicht ausgemacht. Das Für und Wider von Bezeichnungen wie „Feministische Theologie“ und Muslima Theology diskutiert El Omari ausführlich, ohne sich für eine der beiden auszusprechen. Vielmehr schlägt sie die Ausdrücke „geschlechtersensible Theologie“ und „theologische Genderforschung“ als adäquate Optionen zur Benennung der Disziplin vor. Die Autorin, die in ihrem Habilitationsvorhaben selbst historisch-literaturwissenschaftlich arbeitet, erachtet diese Art

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der Herangehensweise an die Quellen des Islams als notwendig, um deren historische Gewachsenheit adäquat zu erfassen. Dabei aufgestellte Fragen sollen aus einer geschlechtersensiblen Perspektive beantwortet werden, um u. a. androzentrische Strukturen, Vorannahmen, Interpretationen und Redeweisen aufzudecken und zu kritisieren. In der Strategie, die Geschlechterforschung zunächst als eine Querschnittsdiziplin anzusetzen, sieht El Omari den Vorteil, dass damit eine große Bandbreite von Themen abgedeckt werden kann. Dies führe zu einer allgemeinen Sensibilisierung für die Tatsache, dass die angesprochenen androzentrischen Strukturen der islamischen Geistestradition disziplinübergreifend tiefe Wurzeln geschlagen haben. Abschließend plädiert El Omari dafür, die geschlechtersensible Theologie innerhalb der Islamischen Theologie sowohl auf Bachelor- als auch auf Masterebene zu lehren, und hebt dabei den Mehrwert interreligiöser Kooperationen hervor. Serdar Kurnaz setzt sich in seinem Beitrag mit der zentralen Frage auseinander, wie die islamischen Rechtswissenschaften (also fiqh und uṣūl al-fiqh) als Teildisziplinen an deutschen Universitäten gelehrt und konzipiert werden sollten. Dabei thematisiert er in überregionaler Perspektive den Wandel dieser Disziplin von der Vormoderne bis zur Gegenwart, vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass in den meisten muslimischen Ländern die religiösen Normen durch positives Recht ersetzt wurden. Tendenzen, das islamische Recht strukturell an das positive Recht anzugleichen, sieht Kurnaz kritisch, da es sonst seiner theologischen Dimension beraubt würde. Diese Dimension erachtet er als so grundlegend, dass – im Sinne des andalusischen Philosophen und Rechtsgelehrten Ibn Rušd (gest. 1198) – die islamischen Rechtswissenschaften als Propädeutikum vor jeder weiteren theologischen Beschäftigung mit dem Islam dienen könnten. Kurnaz plädiert für eine stärkere Zusammenarbeit innerhalb der Islamischen Theologie bei der Konzeption der Lehre, die den im deutschen Kontext bestehenden vielseitigen Erwartungen und Herausforderungen gerecht werden muss. Zu den wichtigen Aufgaben hierbei gehört es, Lehrmaterialien zu erarbeiten, die – anders als in der modernen arabischen Lehrbuchliteratur verbreitet – die Komplexität der muslimischen Rechtstradition nicht zugunsten von unkritischen Vereinfachungen übergehen. Eine Datensammlung zur konzeptionellen und organisatorischen Ausgestaltung der Lehre im Bereich des islamischen Rechts, so wie sie an den verschiedenen Zentren der Islamischen Theologie in Deutschland zu finden ist, ist dem Artikel in Tabellenform angehängt. Anne Schönfeld analysiert im Anschluss an Gedanken von Michel Foucault die Verortung der Islamischen Theologie im deutschen Wissenschaftssystem aus einer machttheoretischen Perspektive. Zu Foucaults zentralen Thesen gehört, dass das Subjekt keine überempirische Instanz ist, deren Grad an Freiheit sich daran bemisst, in welchem Verhältnis sie zu den sie umgebenden Machtstruk-

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turen steht, sondern vielmehr durch diese Strukturen erst konfiguriert und produziert wird. Formen politischer Regierung – von Foucault unter den Begriff der „Gouvernementalität“ subsumiert –, in denen sich Subjekte über Praktiken des „Sich-selbst-Regierens“ bestehenden normativen Erwartungen angleichen, liegen im besonderen Interesse von Schönfelds Betrachtung. Diese Praktiken macht die Autorin in der christlich gewachsenen pastoralen Praxis ausfindig, die in der epistemischen Struktur säkularer Bildungstraditionen aufgegriffen und transformiert wurde. Diese Praxis zielt im Kontext des Themas des Sammelbandes darauf ab, die Akteur*innen an Universitäten, Schulen, Moscheen und sonstigen für die Islamische Theologie relevanten Einrichtungen dazu zu bringen, sich selbst in Richtung eines gesellschaftlich geforderten (Heil‐)Zustands zu führen, dessen Erlangung damit belohnt wird, nun als mündige*r, kritische*r, reflektierte*r und selbstbestimmte*r Muslim*in zu gelten. Die Machtförmigkeit der Praxis der „Führung zur Selbstführung“ wird verschleiert durch den Umstand, dass die Direktiven nicht von außen an die Subjekte herangetragen, sondern von diesen im Prozess der Selbstkonstitution internalisiert werden. Das Subjekt strebt nun aus eigenem Antrieb, so scheint es, nach der Realisierung seines (Heil‐)Zustands, wobei die soziale Umgebung diesen Prozess wie ein Panoptikum überwacht und Abweichungen diszipliniert. Das Verhältnis von Bildung und Macht im Allgemeinen, aber auch das von Islamischer Theologie und säkularem Wissenschaftssystem im Speziellen – darauf dringt der Beitrag – wurden noch nicht ausreichend reflektiert und bedürfe daher weiterer intensiver Forschung.

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Prolegomena

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Über die Klassifikation von Wissenschaften in der islamischen Ideengeschichte 1 Einleitung Jeder Vorschlag einer Klassifikation von Wissenschaften in der islamischen Ideen-, Geistes-, Literatur- und Theologiegeschichte ist letztlich eine subjektive und kontingente, vor allem aber höchst normative Unternehmung. Welcher Ordnung wollte man folgen, um unterschiedliche Wissensbereiche darzustellen und zu sortieren? Die Beschäftigung mit der Klassifikation der Wissenschaften (tartīb al-ʿulūm, ʿilm at-taṣnīf oder auch taqāsīm al-ʿulūm) bildet folglich in der islamischen Ideengeschichte ein enorm breites und kontroverses Feld, das von stark variierenden Ansätzen und Perspektiven auf das Wissen selbst sowie auf die Verhältnisse unter den Wissenschaften geprägt ist. Gleichwohl erwies sich für die islamische Ideengeschichte schon früh, dass der von ihr veranschlagte Wissensbegriff ein konstitutives Element der religiösen Kultur und Literatur bilden und sich zu einem exponierten Identifikationsmerkmal des islamischen Bewusstseins entwickeln wird. Franz Rosenthal bezeichnet „Wissen“ treffend als „Schlüsselkonzept islamischer Zivilisation“.¹ Die Schlüsselrolle des Wissensbegriffs für die Konstitution islamischer Religiosität besteht darin, dass der mit dem Offenbarungsmoment einhergehende Bund zwischen Gott und Mensch einen privilegierten Zugang zu Welterkenntnis eröffnet: Gott garantiert der Offenbarungsgemeinde im Gegenzug für ihren Gehorsam einen besonderen Zugang zum Wissen über ihre Existenz und über das Weltgeschehen als solches.² Diese Vorstellung spiegelt sich in zahlreichen Formulierungen des Korans wider, wobei ihr deutlichster Wiederhall vermutlich durch eine Aussage in Sure 96 belegt wird – jener Sure, mit der die Offenbarung des Korans überhaupt begonnen haben soll: „Er [Gott] lehrte den Menschen, was er nicht wusste.“³ Schon die Unterscheidung zwischen „Leuten des Buches“ und „der Schrift Unkundigen“ markiert gemäß dem Koran ein wesentliches Kriterium zur Beurteilung von Rang und Wert und bildet eine scharfe Trennlinie zwischen jenen, die einem  Franz Rosenthal, Knowledge Triumphant. The Concept of Knowledge in Medieval Islam, 2. Aufl. (Leiden: Brill, 2007), 1– 2.  Walīy ad-Dīn ʿAbd ar-Raḥmān Ibn Ḫaldūn, Muqaddimat Ibn Ḫaldūn, hrsg. von ʿAbd al-Bārī Muḥammad aṭ-Ṭāhir (Kairo, 2007), 440.  Vgl. Koran 96:5. https://doi.org/10.1515/9783110731743-002

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einzigen Gott huldigen, und jenen, die mehrere Götter verehren: „Sprich: Sind diejenigen, die wissen, gleich denjenigen, die nicht wissen?“, fragt der Koran an anderer Stelle nach.⁴ Die starke Animosität schließlich zwischen Gesandten und Dichtern ist eine weitere Konsequenz dieses göttlichen Versprechens eines privilegierten Zugangs zu existenzieller Erkenntnis. Der Anspruch einiger Dichter, durch die Vermittlung von Geisterwesen Zugang zu verborgenem Wissen zu erhalten und damit einen alternativen Zugang zur Welterklärung postulieren zu können, kann aus Sicht der Gesandten nur als Herausforderung ihres eigenen Auftrags verstanden werden.⁵ Die herausragende Stellung, die die Beschäftigung mit Wissen und die Ordnung der Wissenschaften in der islamischen Ideengeschichte einnehmen, ist so gesehen eine unmittelbare Folge einer intensiven religiösen Fokussierung auf den Wissensbegriff. Die exponierte Bedeutung des Wissens beschränkt sich allerdings nicht nur auf einen Bereich des Religiösen (wobei zu berücksichtigen ist, dass der Begriff des Religiösen selbst ein Resultat der modernen Wissensordnung darstellt), sondern umfasst nahezu die gesamte Spannbreite zivilisatorischen Ausdrucks: religiöses und philosophisches Wissen, theoretisches und praktisches Wissen, Spezialwissen und Universalwissen, Hilfswissenschaften und Kernwissenschaften. Wie in der weitläufigen muslimischen Literatur zum tartīb al-ʿulūm jeweilige Wissensfelder sortiert und geordnet wurden, hängt demnach maßgeblich davon ab, aus welchem Blickwinkel die Autoren darauf geschaut haben. So sehr ihre jeweiligen Standpunkte und Zugänge allerdings auch differieren mochten, in einem zentralen Punkt sind sich die Autoren überwiegend einig: Die Ordnung des Wissens und der Wissenschaften sollte nie zum Selbstzweck geschehen, sondern hatte stets einen didaktischen Hintergrund. Es ging also stets darum – darauf machen zahlreiche Autoren in ihren Einleitungen aufmerksam –, durch die angemessene Ordnung des Wissens Schüler möglichst effektiv einzuweisen und an die islamische Gelehrsamkeit heranzuführen. Die angemessene Passung von Wissensfeld und individuellen Lernkonditionen der Schülerschaften bildet demgemäß eine durchgängige Fragestellung der muslimischen Wissenssystematik und wird zu einem zentralen Merkmal der muslimischen Lehr- und Lernkulturen. Obgleich das Arabische – wie auch andere semitische Sprachen wie das Syriakische, Hebräische und Aramäische – eine Reihe von Ausdrücken für das Begriffsfeld „wissen“ bereithält (daraya, ʿarafa, šaʿira, ʿaqala, yaqina, faqiha,

 Vgl. Koran 39:9.  Vgl. Koran 55:33, 72:1.

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fakkara, fahima, ẓanna, zaʿama, ḏakara, bayyana, darasa),⁶ hat sich in den einschlägigen Werken der islamischen Wissenschaftsklassifikation bald die Wurzel ʿl-m als semantische Manifestation des Wissensbegriffs durchgesetzt. Die Wurzel soll sich von dem Nomen ʿalam ableiten, womit in alt-arabischer Zeit Wegmarken bezeichnet wurden, die Wanderern und Karawanen Orientierung boten. Die Vermutung dieser Wortherkunft wird dadurch gestützt, dass das Gegenteil von „wissen“ nicht durch die Wurzel n-k-r ausgedrückt wird, sondern durch die Wurzel ǧ-h-l. Denn die Wurzel n-k-r impliziert eine Vorsätzlichkeit im Nichtwissen, während die Wurzel ǧ-h-l dagegen auch ein passives, indifferentes Nichtwissen ausdrücken kann. Bezogen auf das Vorhandensein der Wegmarken bedeutet dies, dass man ihre Standorte eventuell einfach nicht hätte wissen können; diese allerdings bewusst zu ignorieren, könnte leicht das eigene Leben kosten. Dass die Wurzel ǧ-h-l zur Antipode des islamischen Wissensbegriffs wurde, obwohl n-k-r im Koran deutlich häufiger vorkommt, könnte zusätzlich an der starken normativen Aufladung des ǧāhiliyya-Begriffs im Koran liegen. Das Begriffspaar ʿ-l-m und ǧ-h-l bildet jedenfalls von frühislamischer Zeit an eine mächtige Verbindung, die die Weiterentwicklung islamischer Theologiegeschichte, aber auch islamischer Ideen- und Geistesgeschichte nachhaltig prägen sollte.⁷ Wann wird nun aus dem singulären Wissen eine Anhäufung von Wissenschaften, die einer Ordnung und Klassifizierung bedarf? Im Gegensatz zum Begriff ʿilm ist weder im Koran noch in den kanonischen Hadithsammlungen zu den Aussagen des Gesandten Muḥammad ein Plural ʿulūm vorfindbar. Dass sich aus der Vorstellung eines singulären Wissensbegriffs dennoch eine plurale Aufzählung verschiedener Wissenschaften herausgebildet hat, führt der Historiker und Geschichtsphilosoph Ibn Ḫaldūn (gest. 809/1406) auf zwei Entwicklungen zurück: Erstens habe die bloße Quantität des Wissbaren, sei es durch die Entdeckung neuer Themengegenstände oder auch durch die zunehmende Professionalisierung in bereits bestehenden Wissensgebieten, im Laufe der Zeit stetig zugenommen. Zweitens hätten sich klar voneinander differenzierbare Wissensbereiche abgezeichnet. Beides zusammen habe gerade in den zivilisatorischen Zentren der islamischen Welt, in Bagdad, Cordoba, Kairouan, Basra und Kufa, zur Notwendigkeit einer Klassifizierung, Systematisierung und Ordnung der Wissensbereiche geführt. Diese Entwicklung habe sich zudem in der sprunghaft angestiegenen Produktion von wissenschaftlicher Literatur niedergeschlagen.⁸ Das al-Muwaṭṭaʾ von Mālik ibn Anas (gest. 179/796), das Kitāb al-Umm des

 Rosenthal, Knowledge Triumphant, 31.  Rosenthal, Knowledge Triumphant, 7– 18, 33.  Ibn Ḫaldūn, Muqaddima, 404– 5.

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ägyptischen Rechtsschulbegründers aš-Šāfiʿī (gest. 204/820) und die Sīra nabawiyya von Ibn Isḥāq (gest. 150/767) gelten als erste monographische Abhandlungen islamischer Geistesgeschichte und markieren einen Wendepunkt ehemals überwiegend anthologisch gestalteter Wissensdokumentation hin zu einer systematisch-differenzierten Wissensproduktion.⁹

2 Auf der Suche nach Anschluss zur Antike: Das Wissen der Altvorderen und das Wissen der Nachfolgenden Erschloss sich in der Frühzeit der islamischen Ideengeschichte der Wissens- und Wissenschaftsbegriff noch überwiegend auf Grundlage eines räumlich und inhaltlich eingehegten Rahmens, so führte die geographische Ausdehnung muslimischer Dynastien nicht bloß zu einer Begegnung mit neuen Autoren,Werken und Perspektiven, sondern auch zur prinzipiellen Frage ihrer Beziehung zum arabisch-islamischen Wissenssurrogat. Sassanidische, insbesondere aber hellenistische Vorstellungen der Weltdeutung sollten die Weiterentwicklung der arabischmuslimischen Wissenschaftsklassifikation fortan nachhaltig prägen. Bereits der als „Philosoph der Araber“ gerühmte al-Kindī (gest. zwischen 252/866 und 259/ 873¹⁰) suchte in seinen philosophischen Werken eine überzeugende Integration hellenistischer und arabisch-islamischer Welterklärung und strebte insofern danach, eine konsistente Komptabilität beider Wissens- und Erkenntnisverständnisse herzustellen.¹¹ Al-Kindī betrachtet die Philosophie dabei als ein Streben nach „der ersten Wahrheit“ (al-ḥaqq al-awwal), welches durch die Suche nach Erkenntnis der ersten Ursache Erfüllung fände.¹² Diesem Erkenntnis- und Wahrheitsbegriff ordnet al-Kindī fortan jede intellektuelle Suchbewegung unter. Es komme nicht darauf an, woher die Wahrheit stamme und wer sie beigetragen

 Gregor Schoeler, The Oral and the Written in Early Islam (London; New York: Routledge, 2006), 28 – 42.  J. Jolivet und R. Rashed, „al-Kindī“, in Encyclopédie de l’Islam, First published online 2010.  Jean-Charles Ducène, „Lorsque l’ordre des livres contrevient à l’ordre des sciences: les répertoires d’Ibn Al-Nadim (XE S.) Et Muḥammad Ibn Al-Akfani (M. 1349)“, in Diversitate si Identitate Culturala in Europa 14, Nr. 2 (2017): 110 – 14; Yaʿqūb Ibn Isḥāq al-Kindī, Die erste Philosophie. Arabisch-Deutsch, hrsg. von Matthias Lutz-Bachmann (Freiburg im Breisgau; Basel; Wien: Herder, 2011), 25 – 30.  Yaʿqūb Ibn Isḥāq al-Kindī, Rasāʾil al-Kindī al-falsafiyya, hrsg. von Muḥammad ʿAbd al-Hādī Abū Riḍā (Kairo, 1978), 25; al-Kindī, Die erste Philosophie, 37– 38.

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habe: „Wir dürfen uns nicht schämen, die Wahrheit für gut zu erachten und anzuerkennen, woher sie auch kommen mag, auch wenn sie von Menschen kommt, die anders als wir und uns fremd sind.“¹³ Damit wendet sich al-Kindī von einer privilegierten arabischen Wahrheitsposition deutlich ab und begreift den islamischen Wahrheits- und Wissensbegriff als mit der hellenistischen Überlieferung vereinbar. Das Verhältnis des Wissens der Altvorderen, der awāʾil, das bei al-Kindī spezifisch das Wissenschaftserbe der griechischen Philosophie bezeichnet, zum Wissen der Nachfolgenden, den awāḫir, worunter er seine Generation versteht, wird für die kommenden Jahrhunderte muslimischer Wissensklassifikation ein beständiges Narrativ und ein wiederkehrender Diskussionspunkt bleiben. Das Kitāb Māhiyyat al-ʿilm wa-aqsāmihī (Buch über die Beschaffenheit des Wissens und dessen Teilbereiche) ist leider nicht eigenständig erhalten, sondern nur punktuell aus späteren Rezeptionen rekonstruierbar.¹⁴ Erst aus einer weiteren Abhandlung mit dem Namen Risāla fī kammiyyat kutub Arisṭūṭālīs wa-mā yuḥtāǧu ilayhi min taḥṣīl al-falsafa (Abhandlung über die Anzahl der Werke des Aristoteles und was es für ein Studium der Philosophie benötigt)¹⁵ erfährt man von der grundsätzlichen Unterscheidung von zwei Wissensbereichen bei al-Kindī: dem ʿilm ilāhī (göttliches Wissen) und den ʿilm insānī (menschliches Wissen).¹⁶ Beide Bereiche unterscheiden sich nicht dem Gehalt nach, aber in ihren Zugängen: Um alleine mit den Kapazitäten menschlichen Wissens Erkenntnis und Wahrheit zu erschließen, bedürfe es langwieriger systematischer Anstrengung – dies sei der Weg der philosophischen Erziehung. Die durch Überlieferung weitergetragenen Satzungen der Propheten eröffneten hingegen allen Menschen, unabhängig ihrer geistigen Disziplin, Zugang zu Wahrheitserkenntnis. Damit verhindert al-Kindī zunächst provisorisch eine konfrontative Gegenüberstellung von religiösen Wissenschaften und Philosophie und stellt die Suche nach Erkenntnis als identischen Zweck beider Zugänge in den Vordergrund.¹⁷ In diese frühe Phase der Wissenssystematisierung gehört gleichermaßen das Wirken des Ǧābir ibn Ḥayyān (gest. um 200/815), der vielen Werken zur islamischen Wissenschaftsgeschichte als der erste muslimische Wissenschaftssys-

 Al-Kindī, Die erste Philosophie, 65.  Gerhard Endress, „The Cycle Of Knowledge: Intellectual Traditions and Encyclopædias of the Rational Sciences in Arabic Islamic Hellenism“, in Organizing Knowledge. Encyclopaedic Activities in the Pre-Eighteenth-Century Islamic World, hrsg. von Abdou Filali-Ansary und Gerhard Endress (Leiden; Boston: Brill, 2006), 110.  Vgl. die Werkübersicht bei Peter Adamson und Peter Ernst Pormann, The Philosophical Works of Al-Kindī (Oxford: Oxford University Press, 2012), li.  Jolivet und Rashed, „al-Kindī“.  Endress, „The Cycle Of Knowledge“, 111.

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tematiker gilt. Über sein Leben besteht einige Unsicherheit. Ǧābir selbst hat sich als Schüler des schiitischen Imam Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq ausgegeben und soll frühqarmāṭischen Ideen nahegestanden haben.¹⁸ Da keines seiner Werke unmittelbar erhalten ist, lassen sich seine Positionen nur aus späteren Wiedergaben collagieren. Einige Zeitgenossen und Bibliographen formulierten allerdings Zweifel an der Urheberschaft seiner Schriften. Peter Kraus zieht es daher vor, von einem „Korpus Ibn Ḥayyān“ zu sprechen, der sich zwischen dem 2./8. und 4./10. Jahrhundert entwickelt habe und über Ǧābir ibn Ḥayyān hinaus vermutlich weitere Autoren, Redaktoren und Kopisten umfasse.¹⁹ In seiner Einteilung der Wissenschaften orientiert sich Ibn Ḥayyān maßgeblich an hellenistischen Erzeugnissen. Er gilt gar als hervorragender Kenner der Ideenwelten von Aristoteles, Alexander von Aphrodisias, Porphyrios, Platon, Galen, Euklid, Ptolemäus und Archimedes. In seinen eigenen Überlegungen scheint Ibn Ḥayyān einen wissenschaftstheoretischen Synkretismus vertreten zu haben, dessen erkenntnistheoretische Grundlage ein strikter Gnostizismus bildet. Vor dem Hintergrund dieser zentralen Bedeutung seiner Gnosis-Lehre lässt sich der Korpus von Ibn Ḥayyān in eine intellektuelle Linie mit den Ausführungen der Iḫwān aṣ-Ṣafā stellen.Wie bei Ǧābir ibn Ḥayyān postuliert der in den Episteln (rasāʾil) der Iḫwān aṣ-Ṣafā verwendete Wissensbegriff die Einheit von Wahrheit, Wissen und Erkenntnis und lehnt daher jede kulturalistische, geografisch oder temporär determinierte Vorstellung von Wissen ab.²⁰ Das Verhältnis des Wissens der Altvorderen und der Späteren – und damit die Integration von hellenistischer Wissenschaftsklassifikation und muslimischem Wissenschaftsverständnis – wird auch für den als Aristoteles-Kommentator bekannt gewordenen al-Fārābī (gest. 339/950) zu einer großen Herausforderung.Wie sein Vorgänger al-Kindī folgt auch al-Fārābī dem aristotelischen Grundgedanken, dass Erkenntnis notwendig Glück und Erfüllung nach sich ziehe. Aufgrund dieser Kongruenz sieht al-Fārābī die Möglichkeit der Einordnung der islamischen Gotteslehre in die hellenistische Wissenschaftssystematik: Die islamische Suche nach Gotteserkenntnis sei die Entsprechung der hellenistischen Suche nach der Ursächlichkeit jeder Existenz, und beide Wege seien Ausdruck der Glückseligkeit – vgl. al-Fārābīs Werke Taḥṣīl as-saʿāda (Die Erfüllung des Glücks) und at-

 P. Kraus und M. Plessner, „Djābir b. Ḥayyān“, in Encyclopédie de l’Islam, First published online 2010.  Kraus und Plessner, „Djābir b. Ḥayyān“.  Paul Kraus, Jabir ibn Hayyan: contribution à l’histoire des idées scientifiques dans l’islam (Kairo, 1943).

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Tanbīh ʿalā sabīl as-saʿāda (Hinweis auf den Pfad des Glücks).²¹ So geht auch alFārābī von einer natürlichen Übereinstimmung der Wissenschaften der Altvorderen und „importierter“ Wissenschaften aus (al-ʿulūm al-aṣīla vs. al-ʿulūm addaḫīla).²² In seinem Iḥṣāʾ al-ʿulūm (Aufzählung der Wissenschaften) definiert alFārābī fünf Wissensbereiche: 1. Sprache (ʿilm al-lisān), 2. Logik (ʿilm al-manṭiq), 3. mathematische Wissenschaften (ʿulūm at-taʿālīm), 4. Physik und Metaphysik (ʿilm aṭ-ṭabīʿa wa-l-ʿilm al-ilāhī) sowie 5. Politik/Ethik, Recht und dialektische Theologie (al-ʿilm al-madanī, ʿilm al-fiqh, ʿilm al-kalām).²³ Damit weicht al-Fārābī in einigen Details von der aristotelischen Wissenschaftseinteilung ab, hält zugleich allerdings an der primären Differenzierung von theoretischen und praktischen Wissenschaften fest. Seinem Verständnis einer natürlichen Identität von hellenistischer Philosophie und islamischem Wahrheitsbegriff vermittelt er dadurch Ausdruck, dass er die islamischen Wissensdisziplinen in diese Systematik einordnet. Das Wissen um die Gotteslehre subsumiert al-Fārābī unter den theoretischen Bereich als Bestandteil der Metaphysik. Die Wissenschaften der Scharia wie auch religiöse Fragestellungen aus der dialektischen Theologie ordnet er dem praktischen Wissenschaftsfeld zu.²⁴ Ein inklusives Verständnis vertritt ein weiterer wichtiger Protagonist und naher Zeitgenosse von al-Fārābī, und zwar der im östlichen Nischapur geborene Gelehrte Abū Ḥayyān at-Tawḥīdī (gest. 414/1023). In seiner Risāla fī bayān ṯamarāt al-ʿulūm (Darlegung der Früchte der Wissenschaften) erregt at-Tawḥīdī sich zunächst über „eine Gruppe von Leuten im Irak“, die sich im Hinblick auf die Wissenschaften der Altvorderen folgende Losung zu eigen gemacht hätten: „Weder habe die Logik Anteil an der islamischen Normenlehre, noch habe die Philosophie etwas zu tun mit dem Glauben, noch existiere eine bestimmte Weisheit, die Auswirkung auf juristische Urteile hätte“ (laysa li-l-manṭiqi madḫalun fī l-fiqhi, wa-lā li-l-falsafati ittiṣālun bi-d-dīni, wa-lā li-l-ḥikmati taʾṯīrun fī laḥkāmi).²⁵ At-Tawḥīdī wendet sich entschieden gegen diese Formel, und zwar mit folgenden Worten:

 Vgl. Osman Bakar, Classification of Knowledge in Islam: A Study in Islamic Philosophies of Science (Cambridge, 1998), 124– 26; Abu-Nasr Muhammad Ibn-Muhammad al-Farabi, De scientiis. Secundum versionem Dominici Gundisalvi; lateinisch – deutsch = Über die Wissenschaften: die Version des Dominicus Gundissalinus, übers. von Jakob Hans Josef Schneider (Freiburg: Herder, 2006), 102– 13.  Ibn Naṣr al-Fārābī, Iḥṣāʾ al-ʿulūm, hrsg. von ʿAlī Bū Mulḥim (Beirut, 1997), 5.  Al-Fārābī, Iḥṣāʾ al-ʿulūm, 15.  Al-Fārābī, Iḥṣāʾ al-ʿulūm, 8 – 13.  Abū Ḥayyān at-Tawḥīdī, Min rasāʾil Abī Ḥayyān at-Tawḥīdī, hrsg. von ʿIzzat as-Sayyid Aḥmad (Damaskus, 2001), 227.

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Jedes Wissen aber ist ehrerbietiger als Nicht-Wissen. Nein, das Nicht-Wissen verfügt über nichts Ehrerbietiges. Denn es ist das Nichts, und das Sein ist ehrerbietiger als das Nichts, und das Rechtmäßige ist ehrerbietiger als das Unrechtmäßige.²⁶

Um seinem Standpunkt Nachdruck zu verleihen, zählt at-Tawḥīdī im Fortgang seines Werkes alle Bereiche des relevanten Wissens auf, einschließlich hellenistischer Wissensfelder. Zu den vierzehn Wissenschaftsbereichen, die er nennt, gehören explizit auch die Wissenschaft der Analogie (ʿilm al-qiyās), die dialektische Theologie (ʿilm al-kalām) und die Logik (ʿilm al-manṭiq). Damit macht er unmissverständlich deutlich, dass eine muslimische Wissenschaftssystematik die Leistungen früherer, externer – und das heißt vor allem auch: nicht-muslimischer – Gelehrter einzubeziehen habe. Für die spezifisch religiösen Wissenschaften fällt in at-Tawḥīdīs Systematik indes die Nennung eines Wissenschaftsbereiches at-taṣawwuf auf. Nicht nur wird die islamische Mystik damit als ein eigenständiger Wissenschaftsbereich betrachtet, der Vermerk dürfte auch eine der frühesten Belege für eine derartige muslimische Positionierung darstellen.²⁷ Dass die Vorstellung einer Komptabilität nicht-muslimischer, besonders hellenistischer Wissenschaften und islamischer Wissenschaften nicht selbstverständlich ist und dass die ausgiebigen Bemühungen vornehmlich muslimischer Philosophen nicht unbegründet sind, wird aus dem Werk eines weiteren wichtigen Autors auf dem Gebiet des tartīb al-ʿulūm ersichtlich: Muḥammad ibn Aḥmad al-Ḫwārizmī (gest. 365/976). In seiner Wissenschaftssystematik, dem Mafātīḥ alʿulūm (Die Schlüssel zu den Wissenschaften), zeigt er zwar ebenfalls, dass ihm die hellenistische Wissenschaftseinteilung geläufig ist, und in Teilen bedient er sich ihrer. Die islamischen Wissenschaftsfelder subsumiert al-Ḫwārizmī allerdings, anders als al-Fārābī und al-Kindī, nicht unter jenes herrschende Wissenschaftssystem des Aristoteles, sondern er parallelisiert „arabisch-islamische Wissenschaften“ (al-ʿulūm aš-šarʿiyya wa-l-ʿarabiyya) und „Wissenschaften von NichtArabern wie den Griechen und anderen“ (ʿulūm al-ʿaǧam, min al-yūnāniyyīn waġayrihim min al-umam).²⁸ Zu den arabisch-islamischen Wissenschaften zählt alḪwārizmī fortan die Bereiche Recht (al-fiqh), dialektische Theologie (al-kalām), Grammatik (an-naḥw), Koran (al-Kitāb), Lyrik und Metrik (aš-šiʿr wa-l-ʿarūḍ) und zuletzt Geschichte (al-aḫbār). Als Wissenschaften fremder Völkerschaften betrachtet al-Ḫwārizmī Philosophie (al-falsafa), Logik (al-manṭiq), Medizin (aṭ-ṭibb), Arithmetik (al-irtimāṭīqī), Geometrie (al-handasa), Sternenkunde (ʿilm an-nuǧūm),

 At-Tawḥīdī, Min rasāʾil Abī Ḥayyān at-Tawḥīdī, 227.  At-Tawḥīdī, Min rasāʾil Abī Ḥayyān at-Tawḥīdī, 238.  Muḥammad ibn Aḥmad ibn Yūsuf al-Ḫwārizmī, Mafātīḥ al-ʿulūm, hrsg. von Ibrāhīm al-Abyārī (Beirut, 1984), 15.

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Musik (al-mūsīqā), Mechanik (al-ḥiyal) und Alchemie (al-kīmīyāʾ).²⁹ Al-Ḫwārizmīs Klassifikation der Wissenschaften gleicht inhaltlich einer Sammlung von Definitionssätzen, die er für den jeweiligen Wissenschaftsbereich sowie für jede einzelne Wissenschaft angibt. Seiner Intention nach will er eine Art Destillat fachspezifischer Diskurse anbieten, indem er herrschende Definitionen wiedergibt und ihre wichtigsten Diskussionspunkte aufzeigt. Nicht zuletzt deshalb bezeichnet Dimitri Gutas die Wissenschaftsklassifikation al-Ḫwārizmīs als Inventarverzeichnis; er sieht darin weniger eine enzyklopädische Darstellung von Wissenschaftsfeldern, so wie es beispielsweise bei al-Fārābī und al-Kindī der Fall sei.³⁰ Al-Ḫwārizmīs Beitrag zur Wissenschaftsklassifikation führt eindrücklich vor Augen, dass die Bestimmung des Verhältnisses zwischen arabisch-islamischen und anderweitig aufgenommenen Wissenschaftsfeldern für die muslimischen Autoren ein zähes intellektuelles Problem blieb. Selbst der bereits zitierte Ibn Ḫaldūn kommt nicht an der Notwendigkeit vorbei, grundsätzlich zwischen den „weisheitlich-philosophischen Wissenschaften“ (al-ʿulūm al-ḥikmiyya al-falsafiyya) und den „per Offenbarung gesetzten und fortan tradierten Wissenschaften“ (al-ʿulūm an-naqliyya al-waḍʿiyya) zu differenzieren, gleichwohl er beide Bereiche als komplementär betrachtet.³¹ Dieses schwierige Verhältnis wird nicht zuletzt aus dem Wirken des andalusischen Gelehrten Ibn Rušd (gest. 595/1298) erkennbar, der sich genötigt sah, sich gegen die vehementen Angriffe des Abū Ḥāmid al-Ġazālī (gest. 505/1111) auf die islamische Philosophie im Allgemeinen und insbesondere gegen eine von al-Ġazālī wahrgenommene Dominanz hellenistischer Wissenschaftsverständnisse zur Wehr zu setzen.³² Mit seinem Tahāfut al-falāsifa (Die Inkohärenz der Philosophen), in dem al-Ġazālī die muslimischen Philosophen dreier Standpunkte beschuldigt, die mit der islamischen Lehre unvereinbar seien, beschädigte er die öffentliche Reputation der Philosophie nachhaltig. Im Nachhallen dieser Kritik al-Ġazālīs wird zwei Jahrhunderte später der Damaszener Gelehrte Ibn Taymiyya (gest. 728/1328) mit seinem Kitāb ar-Radd ʿalā l-manṭiqiyyīn (Replik auf die Logiker) zu einem weiteren scharfen Stoß gegen die islamische Philosophie ansetzen und sich vehement für ein kulturautonomes, rein arabisch-islamisches Wissenschaftsverständnis aussprechen.³³

 Al-Ḫwārizmī, Mafātīḥ al-ʿulūm, 17– 18.  Dimitri Gutas, „The Greek and Persian Background of Early Arabic Encyclopedism“, in Organizing Knowledge. Encyclopaedic Activities in the Pre-Eighteenth-Century Islamic World, hrsg. von Abdou Filali-Ansary und Gerhard Endress (Leiden; Boston: Brill, 2006), 91.  Ibn Ḫaldūn, Muqaddima, 405.  Amir Dziri, Die „ars disputationis“ in der islamischen Scholastik: Grundzüge der muslimischen Argumentations- und Beweislehre (Freiburg im Breisgau: Kalām, 2015), 173 – 86.  Dziri, Die „ars disputationis“ in der islamischen Scholastik, 123 – 247.

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Noch in Reaktion auf al-Ġazālī bemüht sich indessen Ibn Rušd, die Beschäftigung mit der Philosophie als Bestandteil der islamischen Erkenntnisordnung auszuweisen und gar als religiöses Pflichtgebot auszugeben und so zur Vorstellung wechselseitiger Komptabilität, wie von zahlreichen seiner früheren Philosophenkollegen postuliert, zurückzukehren: Wenn die Beschäftigung mit der Philosophie nichts anderes als eine Untersuchung der existierenden Dinge und das Nachdenken darüber ist, wie diese Dinge auf ihren kunstfertigen Gestalter hinweisen, ich meine von dem Blickwinkel, dass sie gestaltet sind – denn die existierenden Dinge weisen doch nur auf den kunstfertigen Gestalter hin, wenn man ihre kunstfertige Gestalt erkennt, und je perfekter die Erkenntnis ihrer kunstfertigen Gestalt ist, desto perfekter ist die Erkenntnis vom Gestalter –, dann hat das Religionsgesetz schon immer ein solches Nachdenken über die existierenden Dinge empfohlen und dazu angestachelt.³⁴

Wird die muslimische Wissenschaftsklassifikation folglich aus einer philosophischen Perspektive heraus betrieben, dann ist mehrheitlich ein Bemühen um einen wissenschaftstheoretischen Anschluss an antike Konzepte der Wissenssystematik zu beobachten. Muslimische Philosophen wie al-Kindī, al-Fārābī und auch Ibn Sīnā (gest. 428/1037) übernehmen die Vorstellung einer Einheit von Wahrheit, Wissen und Erkenntnis und ordnen sie einem existenziellen Zweck von Suche nach Glück und Erfüllung unter; der islamische Gottesbezug bleibt in diesen Ausführungen explizit erhalten und wird als Bestandteil der Metaphysik inkorporiert. In der Folge bemühen sich muslimische Philosophen um die Subsumierung islamischer Wissensbereiche in bestehende, vornehmlich aristotelisch oder platonisch begründete Wissenssystematiken. Neben den bereits genannten Autoren und Werken lassen sich eine Reihe weiterer Beispiele dieser Zuordnung anführen: Das Kitāb Ǧawāmiʿ al-ʿulūm (Kompendium aller Wissenschaften) von Ibn Farīġūn (auch: Ibn Farīʿūn, gest. Mitte 4./10 Jahrhundert) besticht durch seine graphische Umsetzung, insofern der Autor Wissenschaftsfelder in Form von Baumdiagrammen darstellt.³⁵ Abū l-Ḥasan al-ʿĀmirī (gest. 381/992) verfolgt in seinem Kitāb al-Iʿlām bi-manāqib al-islām (Über die Vortrefflichkeit des Islams) einen wissensphilosophischen Ansatz und unterstreicht die Einheit von Glauben, Erkenntnis und Handeln.³⁶ Der persisch-muslimische Philosoph Ibn Miskawayh

 Ibn Rushd, Massgebliche Abhandlung – Faṣl al-maqāl, übers. von Frank Griffel (Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2010), 10.  Vgl. Hans Hinrich Biesterfeldt, „Ibn Farīghūn“, hrsg. von Kate Fleet u. a., Encyclopaedia of Islam, THREE, First published online 2017; Ibn Farīʿūn, Kitāb Ǧawāmiʿ al-ʿulūm. Compendium of the Sciences, hrsg. von Fuat Sezgin (Frankfurt am Main, 1985).  Vgl. Abū l-Ḥasan al-ʿĀmirī, Kitāb Ǧawāmiʿ al-ʿulūm, hrsg. von Aḥmad ʿAbd al-Ḥamīd Ġurāb (Riad, 1988).

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(gest. 421/1030) wiederum bleibt seiner grundsätzlich tugendethischen Programmatik treu und bezieht diese auch auf seine wissenschaftssystematischen Überlegungen im Tahḏīb al-aḫlāq wa-taṭhīr al-aʿrāq (Die Kultivierung des Charakters und Zügelung des Temperaments).³⁷

3 Das Aufkommen der dialektischen Theologie sowie die Vereinnahmung des Wissens- und Wissenschaftsbegriffs Waren in den ersten Jahrhunderten der muslimischen Wissenschaftssystematik philosophische und gnostische Ansätze in der Redaktion entsprechender Werke ausgesprochen dominant, so führte die Professionalisierung der dialektischen Theologie vor allem während der Epoche der Herausbildung der unterschiedlichen Theologieschulen zu einer spürbaren Verschiebung der Beschäftigungsintention. Der Wissens- und Wissenschaftsbegriff wurde nun zum zentralen Ausgangspunkt jedweder theologisch-systematischen Erörterung: Wie wird der Wissensbegriff im Koran akzentuiert? Was meint die koranische Aussage „Gott weiß, aber ihr wisst nicht“? Gleicht das Wissen Gottes dem Wissen der Menschen? Woher gelangt der Mensch zu sicherem, ganz unzweifelhaftem Wissen? Bedeutet die Unterscheidung von ʿilm al-yaqīn, ḥaqq al-yaqīn und ʿayn al-yaqīn eine Abstufung der Erkenntnisqualität des Menschen oder ist Erkenntnis ein synchroner Zustand, der keinerlei Division noch Abstufung erlaubt? Auf welcher Wissensgrundlage müssen Ethik und Moral sich begründen können? Für die dialektischen Abhandlungen der islamischen Theologen wurde die Bestimmung des Wissensbegriffs so zu einem Dreh- und Angelpunkt ihrer theologischen Positionierungen.³⁸ Konsequenterweise beginnt Ibn Fūrak (gest. 406/1015), einer der wichtigsten Ausleger ašʿaritischer Theologie, seine Kommentierung der Lehrsätze alAšʿarīs (gest. 324/935) mit einem Kapitel über „Die Kenntlichmachung seiner Position [d. h. die al-Ašʿarīs] in Bezug auf das Wissen und dessen Definition“. Die Formel „Das, wodurch der Wissende das Gewusste weiß“ (mā bihī yaʿlamu l‐ʿālimu l‐maʿlūma) wird fortan zur paradigmatischen Wissensdefinition der ašʿaritischen Theologieschule.³⁹ Hieraus leitet al-Ašʿarī für seine Gotteslehre eines der sie Endress, „The Cycle Of Knowledge“, 114.  Rosenthal, Knowledge Triumphant, 46 – 49.  Muḥammad ibn al-Ḥasan Ibn Fūrak, Maqālāt aš-šayḫ Abī l-Ḥasan al-Ašʿarī, hrsg. von Aḥmad ʿAbd ar-Raḥīm Sāyiḥ (Kairo, 2006), 5.

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ben Wesensattribute ab, nämlich dass Gott wissend sei; dennoch sei die Art und Weise des Wissens bei Gott eine andere als die, wie der Mensch weiß. Ohne Definition des Wissensbegriffs, das wird aus al-Ašʿarīs exemplarischen Ausführungen deutlich, kann die dialektische Theologie keine Arbeit aufnehmen: Bei alǦuwaynī (gest. 478/1085), Ibn ʿAqīl (gest. 513/1119), aš-Šīrāzī (gest. 476/1083) und dem Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār (gest. 416/1025) – quer über alle Theologieschulen und Positionen hinweg wird der Diskussion des Wissensbegriffs in allen Abhandlungen ein prominenter Platz eingeräumt. Dem entsprechend kommt Franz Rosenthal in seiner Übersicht theologiesystematischer Definitionen des Wissensbegriffs auf mindestens zwölf unterschiedliche Bestimmungen.⁴⁰ Ein eindrückliches Beispiel für die Verknüpfung von theologischen und wissenssystematischen Fragestellungen bilden zudem die Arbeiten des andalusischen Gelehrten Ibn Ḥazm (gest. 456/1064). Neben seinem Taqrīb li-ḥadd al-manṭiq (Die Bestimmung der Logik) ist es vor allem seine Risāla fī marātib al-ʿulūm (Über die Klassen der Wissenschaften), die in die Bestandsliste muslimischer Wissenschaftsklassifikation Einzug fand. Ibn Ḥazm beginnt seine Abhandlung zunächst mit grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis unterschiedlicher Wissensbereiche. Darin wendet er sich gegen eine von ihm wahrgenommene Tendenz zu „Fachspezialistentum“ (taʿaṣṣub li-ṣ-ṣanʿa), das die jeweiligen Fachvertreter glauben macht, sie würden mit der Meisterung ihrer eigenen Disziplin gleich die Welt als Ganze verstanden haben. Ibn Ḥazm fährt fort, etwa zwei Dutzend Disziplinen aufzuzählen, die er in zwei grobe Bereiche gliedert: einen kulturspezifischen und einen kulturunspezifischen. Kulturspezifisch seien die Wissenschaften der Scharia, der Geschichte und der Sprache. Mit dem Begriff „Wissenschaft der Scharia“ (ʿilm aš-šarīʿa) scheint Ibn Ḥazm jedoch weniger auf islamische Normativität hinweisen zu wollen; vielmehr versteht er den Begriff hier (vermutlich auch in Anlehnung an Koran 5:48: „Für jeden von euch haben wir ein [anderes] Gesetz und eine [andere] Lebensweise bestimmt“) weitläufiger im Sinne von kulturellen Überzeugungen (muʿtaqadāt) – etwas antiquiert gesprochen: von verschiedenen kulturellen Mentalitäten.⁴¹ Da jedes Volk seine eigenen Überzeugungen, seine eigene Geschichte und Sprache besitze, seien die Wissenschaftsbereiche von ihren kulturellen Rahmungen abhängig. Als kulturunspezifisch erachtet Ibn Ḥazm dagegen die Bereiche der Sternenkunde, der Arithmetik und Medizin, der Philosophie sowie der Metaphysik.

 Rosenthal, Knowledge Triumphant, 46 – 69.  ʿAlī ibn Aḥmad Ibn Ḥazm, Rasāʾil Ibn Ḥazm al-Andalūsī, hrsg. von Iḥsān ʿAbbās (Beirut, 2007), 78.

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Wie einige andere Autoren muslimischer Wissenschaftsklassifikation unterzieht auch Ibn Ḥazm seine Aufzählung unterschiedlicher Wissensbereiche einer Prüfung pädagogischer Ziele. So kommt er für jedes Alter zur Formulierung einer detaillierten Empfehlung des zu erlernenden Wissens: In einem ersten Altersabschnitt sei dem Kind das Schreiben und Lesen beizubringen, in einem zweiten Grammatik, Ausdruck und Dichtung. Arithmetik sei im nächsten Abschnitt zu lehren, Naturwissenschaften und Logik im wiederum darauffolgenden. Geschichte und Philosophie bilden die nächsten beiden Abschnitte. Vom letzten Abschnitt an, dem siebten, solle das Kind sich den Wissenschaften der Scharia zuwenden.⁴² Ibn Ḥazm ordnet seine Empfehlungen der wissenschaftlichen Erziehung streng dem Nützlichkeitsprinzip unter: Da die religiösen Wissenschaften diejenigen seien, die dem Menschen am nützlichsten sind und sie ihm sein ewiges Dasein im Jenseits sicherten, seien diese die zu bevorzugenden Bereiche des Wissens.⁴³ Gegen die scholastische Vereinnahmung des Wissens- und Wissenschaftsbegriffs, die aufgrund der intensiven Beanspruchung durch die dialektische Theologie Einzug in das islamische Geistesleben hält, formiert sich bald Widerstand seitens wissenschaftskritischer, zumeist mystisch orientierter Gelehrter. Sie werfen besonders den Vertretern der rationalen Theologie vor, den Wissensbegriff durch ihren scholastischen Ansatz zu entleeren. Dem scholastisch dominierten ʿilm-Begriff setzen die Mystiker, im Anschluss an die bereits vorgestellten Haltungen der muslimischen Gnostik wie u. a. bei Ibn Ḥayyān, fortan den Begriff der maʿrifa entgegen. Zwar komme dieser im Gegensatz zum ʿilm-Begriff nicht explizit im Koran vor, allerdings bilde maʿrifa ein ganzheitliches Erkenntnisideal ab, welches unbestritten oberstes Ziel religiöser Lebensführung sei. Besonders mithilfe von Lichtmetaphern wird die esoterische Bedeutung (al-maʿnā al-bāṭinī) des Wissens- und Erkenntnisbegriffs hervorgehoben. Al-Ḥakīm at-Tirmiḏī (gest. nach 285/898) weiß zu berichten: „Wissen ist Licht: Je mehr Gottesfurcht eine Person erlangt, desto heller strahlt ihr Licht.“⁴⁴ Für die mystische Perspektive auf Wissen und Erkenntnis wird schließlich der Zusammenhang zwischen Glauben und Wissen zu einem maßgeblichen intellektuellen Fokus. Īmān (Glauben) und ʿilm (Wissen) bilden in mystischer Perspektive eine zusammenhängende Einheit, beide Begriffe stehen hier in absoluter wechselseitiger Bedingtheit. Al-Ġazālīs Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn (Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften) weist bereits im Titel auf diese Programmatik hin und bildet einen der wirkmächtigsten

 Ibn Ḥazm, Rasāʾil Ibn Ḥazm al-Andalūsī, 27– 29.  Ibn Ḥazm, Rasāʾil Ibn Ḥazm al-Andalūsī, 64, 78.  Rosenthal, Knowledge Triumphant, 164.

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Ausdrücke jenes Versuchs der islamischen Mystiker, den Wissensbegriff nicht einer rein scholastischen Deutung zu überlassen.⁴⁵

4 Traditionsbasierte Anthologien über die „Vorzüge des Wissens“ Einen weiteren elementaren Zugang zum Genre des tartīb al-ʿulūm bilden traditionsbasierte Darstellungen der „Vorzüge des Wissens“ (faḍl al-ʿilm) beziehungsweise der „Vorzüge des Strebens nach Wissen“ (faḍl ṭalab al-ʿilm). In unterschiedlich umfangreichen Anthologien zählen die Protagonisten dieses Ansatzes Hinweise aus dem Koran, den Aussagen des Gesandten Muḥammad sowie Aussagen weiterer Weiser und Gelehrter auf, um die grundsätzliche Bedeutung des Wissens und zahlreiche weitere Aspekte zu konservieren und hervorzuheben. So führt etwa der andalusische Gelehrte Ibn ʿAbd al-Barr (gest. 463/ 1070), ein Zeitgenosse Ibn Ḥazms, in seiner üppigen Sammlung Ǧāmiʿ bayān alʿilm wa-faḍlihī (Kompendium der Darlegung des Wissens und seiner Vorzüge) das Beispiel Luqmāns an, einer legendenhaften koranischen Figur (vgl. Koran 31:12– 13), über deren Funktion die Meinungen der muslimischen Gelehrten auseinandergehen. Luqmān wird jedenfalls für Ibn ʿAbd al-Barr und viele seiner Gelehrtenkollegen zu einer Art Prototyp des muslimischen Idealgelehrten. Dementsprechend finden wir bei Ibn ʿAbd al-Barr folgende Anekdote überliefert: Luqmān sagte zu seinem Sohn: „Mein Sohn, was hast du bereits an Erkenntnis gewonnen?“ Er sagte: „Ich lernte, mich nicht mit dem zu beschäftigen, was belanglos ist.“ Luqmān ergänzte: „Mein Sohn, da ist noch etwas: Sitze eng mit den Gelehrten, bis deine Knie an ihren Knien reiben. Denn Gott lässt die leblosen Herzen durch die Hinwendung zur Weisheit auferstehen, so wie er die tote Erde mit der Nässe des Himmels wiederbelebt.“⁴⁶

Derlei umfangreiche Anthologien (das genannte Werk enthält rund 2.500 Überlieferungen, Anekdoten und Gedichtverse) erlauben zwar nur selten direkte Hinweise auf die Frage nach der Systematisierung von Wissensgebieten, sie bilden jedoch wichtige Ausgangspunkte der Normierung von Wissen und Wissenschaftsbereichen. Spricht der ehrerbietige Luqmān in der obigen Überlieferung etwa von Weisheit (ḥikma) in einem philosophischen oder einem gnostischen Sinne oder versteht er Erkenntnis ausschließlich als Hinweis auf ein islamisches

 Bakar, Classification of Knowledge in Islam, 171.  Yūsuf ibn ʿAbdallāh Ibn ʿAbd al-Barr, Ǧāmiʿ bayān al-ʿilm wa-faḍlihī, hrsg. von Abū Ašbal azZuhayrī (Kairo, 2011), 438.

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Heilsverständnis? An anderer Stelle gibt Ibn ʿAbd al-Barr die folgende Aussage von Abū Isḥāq al-Ḥūfī wieder: Die Wissenschaften sind drei an der Zahl: irdisches Wissen, irdisches und zugleich jenseitiges Wissen sowie Wissen, das weder dem Diesseits noch dem Jenseits dient. Nun wisse, dass zum irdischen Wissen die Medizin, die Sternenkunde und dergleichen gehört. Das Wissen, das zugleich irdisch wie auch jenseitig ist, ist das Wissen um den Koran, die Lebensweise des Propheten und alles, was das Verstehen dieser beiden Bereiche betrifft. Das Wissen aber, das weder im Diesseits noch im Jenseits nützt, ist die Dichtkunst.⁴⁷

Iḥsān ʿAbbās, ein zeitgenössischer Spezialist für arabische Wissenschaftsphilosophie, kritisiert die in seinen Augen vorhandene intellektuelle Enge von derlei Aussagen, wie sie vielfach in Kompendien wie dem von Ibn ʿAbd al-Barr zum Vorschein komme. Die Bedeutung des Wissens beschränke sich in solchen Aussagen auf die Inhalte islamisch-religiöser Erkenntnis, andere Wissensbereiche würden dagegen als irrelevant abgetan oder in rein instrumenteller Funktion als Hilfswissenschaften betrachtet.⁴⁸ Anhand der Kritik von Iḥsān ʿAbbās wird deutlich, dass die zahlreichen Überlieferungen, seien sie nun in Ibn ʿAbd al-Barrs umfangreichem Werk kompiliert oder in andere Exemplare traditionsbasierter Wissenschaftsklassifikation aufgenommen, nicht nur die enorme Bedeutung von Wissen widerspiegeln, sondern auch als Argumente normativer Fragen der Definition von Wissen, seinem Zweck und seiner Komponenten genutzt werden. Ein wesentlicher Nachteil solcher Anthologien besteht auf der anderen Seite in ihrer mangelnden inhaltlichen Diskussion. Zahlreiche Exemplare dieses dokumentarischen Zugangs verstehen sich als reine Kompilationen, ohne eine inhaltliche Diskussion der einander oftmals widerläufigen Überlieferungen anzubieten.

5 Entstehung und Entwicklung bibliographischer Werke Einen wichtigen Ansatz innerhalb der Bandbreite muslimischer Wissenschaftsklassifikation bilden ferner bibliographisch ausgerichtete Werke. Die wohl früheste und bekannteste bibliographische Sammlung ist das Kitāb al-Fihrist (Der Index) von Ibn an-Nadīm (gest. 385/995), einem Buchhändler aus Bagdad.⁴⁹ Sein Anspruch ist ambitioniert:

 Ibn Ḥazm, Rasāʾil Ibn Ḥazm al-Andalūsī, 8.  Ibn Ḥazm, Rasāʾil Ibn Ḥazm al-Andalūsī, 8 – 9.  ʿAbd as-Sattār ʿAbd al-Ḥaqq Ḥalwaǧī, Al-Maḫṭūṭāt wa-t-turāṯ al-ʿarabī (Kairo, 2001), 143 – 60.

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Dies ist ein Index aller Bücher und Manuskripte arabischer und nicht-arabischer Völker, die auf Arabisch erschienen sind und sich mit unterschiedlichen Wissenschaften befassen, inklusive von Berichten über die Verfasser, der Ränge der Autoren und ihrer Nachkommen, ihrer Geburtsdaten und Lebensspannen, ihrer Todesdaten, ihrer Heimatorte und Funktionen, ihrer Widerfährnisse – und dies von Beginn einer jeden Wissenschaft bis zu unserer Zeit, dem Jahr 377 nach der Hedschra.⁵⁰

Ibn an-Nadīm sammelt demnach umfangreiche Angaben zu Autoren und Werken und reichert die Einträge mit allerlei wissenschaftstheoretisch verwertbaren Überlegungen an. Sortiert sind die Einträge in zehn Wissenschaftsbereiche, die er maqālāt nennt. Jede maqāla ist wiederum in unterschiedliche Künste (Sg. fann) gegliedert:⁵¹ 1.

Kalligraphie und Schrift; Offenbarungen; der Koran (ʿilm al-ḫaṭṭ wa-l-kitāba; ʿilm addiyānāt; ʿulūm al-Qurʾān) 2. Grammatik und die Grammatiker (an-naḥw wa-n-naḥawiyyūn) 3. Geschichte, Literatur, Kriegszüge, Genealogie (al-aḫbār wa-l-ādāb wa-s-siyar wa-lansāb) 4. Dichtkunst und Dichter (aš-šiʿr wa-š-šuʿāraʾ) 5. Dialektische Theologie und Theologen (al-kalām wa-l-mutakallimūn) 6. Islamische Normenlehre und Rechtsgelehrte, Hadithgelehrte (al-fiqh wa-l-fuqahāʾ wa-lmuḥaddiṯūn) 7. Philosophie und die antiken Wissenschaften (al-falsafa wa-l-ʿulūm al-qadīma) 8. Erzählungen, Aberglauben, Beschwörungen, Zauberei, Augenwischerei (al-asmār wa-lḫurāfāt wa-l-ʿazāʾim wa-s-siḥr wa-š-šaʿbaḏa) 9. Sekten und nicht-islamische Weltanschauungen (al-maḏāhib wa-l-iʿtiqādāt ġayr alislāmiyya) 10. Über die Alchemisten und Erfinder (aḫbār al-kimyāʾiyyīn wa-ṣ-ṣinʿūwiyyīn)

Mit dieser Kapiteleinteilung folgt Ibn an-Nadīm größtenteils der herrschenden Wissenschaftsklassifikation seiner Zeit. Er beginnt mit Sprache und Schrift als Grundlagen jedes intellektuellen Ausdrucks und fährt fort mit einer thematisch orientierten Systematik unterschiedlicher Wissensbereiche. Die Nennung der Geschichtswissenschaften schon an dritter Stelle fällt hingegen auf und ist eher unüblich. Auch die eigenständige Behandlung folkloristischer Literatur in Form von Aberglauben und Erzählungen findet sich in anderen Werken der arabischislamischen Wissenschaftsklassifikation nur selten.  Abū l-Faraǧ Muḥammad ibn Abī Yaʿqūb Isḥāq al-Warrāq Ibn an-Nadīm, Kitāb al-Fihrist, hrsg. von Riḍā Taǧaddud (Teheran, 1971), 3. Vgl. Muḥammad ibn Isḥāq Ibn al-Nadīm, The Fihrist of alNadīm. A Tenth-Century Survey of Muslim Culture, übers. von Dodge Bayard (New York: Columbia University Press, 1970), 1– 2.  Ibn an-Nadīm, Kitāb al-Fihrist, 3 – 5.

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Der Index von Ibn an-Nadīm verdankt seine hervorragende Bedeutung der Möglichkeit, einen profunden Einblick in die Werkvielfalt muslimischer Buchproduktion bis ins 4. Jahrhundert islamischer Zeitrechnung zu erhalten. So lassen sich wichtige Entwicklungen der arabisch-islamischen Geistesgeschichte detailliert nachzeichnen. Selbst Werke, die die Zeit nicht überdauert haben und heute nicht mehr eigenständig erhalten sind, lassen sich anhand dieses Indexes zumindest nominell identifizieren. Schließlich wird der Index zu einem literarischen Vorbild für kommende Autoren, die nun weitere bibliographische Sammlungen verfassen, so etwa Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 607/1210) (Ḥadāʾiq al-anwār fī ḥaqāʾiq al-asrār, Die leuchtenden Gärten über die Wahrheit der Geheimnisse), Šams ad-Dīn al-Fanārī (gest. 835/1431) (Anmūḏaǧ al-ʿulūm, Exempel der Wissenschaften) oder as-Suyūṭī (gest. 911/1505) (an-Nuqāya, Die Auslese).⁵² Im 10./16. Jahrhundert werden die bibliographischen Anstrengungen Ibn anNadīms besonders durch das Wirken des osmanischen Enzyklopädisten Taşköprüzade (gest. 968/1561) wieder aufgenommen. Mit seinem Werk Miftāḥ as-saʿāda wa-maṣābiḥ as-siyāda fī mawḍūʿāt al-ʿulūm (Der Schlüssel zum Glück und die Leuchte der Führung in den Feldern der Wissenschaften) knüpft er auf zweifache Weise an bisherige Aspekte der muslimischen Wissenschaftsklassifikation an. Mit dem Begriff des „Glücks“ kann Taşköprüzade an die Betonung der Einheit von Erkenntnis und Glückseligkeit bei muslimischen Philosophen wie al-Fārābī und Ibn Miskawayh anschließen und damit auch die Brücke zum aristotelischen Wissenschaftsbegriff schlagen.⁵³ Zum anderen knüpft Taşköprüzade nahtlos an das islamische Heilsverständnis an, insofern Glückseligkeit als notwendige Folge der Beschäftigung mit islamisch-religiösem Wissen erachtet wird.⁵⁴ Mittels vier ausgedehnter Einleitungen (Sg. muqaddima), zum „Vorzug des Wissens und Lernens“, zu den „Voraussetzungen eines Lehrers und seinen Aufgaben“, zu den „Bedingungen des Wissens“ sowie zum „Zusammenhang von Wissen und Handeln“, rekurriert Taşköprüzade zudem auf traditionelle muslimische Vorstellungen zur Bedeutung von Wissen und pädagogischer Erziehung.⁵⁵ Im Anschluss an die Einleitungen erläutert Taşköprüzade seinen Klassifikationsansatz: Alles Seiende drücke sich aus im Geschriebenen (al-kitāba), im Gesprochenen (al-ʿibāra), im Abstrakten (al-aḏhān) oder in Konkretionen (al-aʿyān). Das konkrete Sein sei

 Muḥammad ibn Abī Bakr al-Marʿašī; alias Sāǧaqlīzāda, Tartīb al-ʿulūm, hrsg. von Muḥammad ibn Ismāʿīl as-Sayyid Aḥmad (Beirut, 1988), 25 – 26.  Francesca Bellino, „The Classification of Sciences in an Ottoman Arabic Encyclopaedia: Ṭāškubrīzādah’s ‚Miftāḥ Al-Saʿāda‘“, in Quaderni di Studi Arabi 9 (2014): 172– 73.  Aḥmad ibn Muṣṭafā Ṭāškubrīzāda, Miftāḥ as-saʿāda wa-misbāḥ as-siyāda fī mawḍūʿāt alʿulūm (Beirut, 1985), 3 – 7.  Ṭāškubrīzāda, Miftāḥ as-saʿāda, 9 – 70.

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das wirkliche Sein, Schrift und Ausdruck seien ihrer ontologischen Natur nach Abbildungen; in Bezug auf das abstrakte Sein seien die Gelehrten dagegen uneins, ob es als autonome oder als abgeleitete Wirklichkeit aufzufassen sei.⁵⁶ Die ersten drei Wissensbereiche, Schrift, Ausdruck und Abstrakta, seien das Gebiet von Hilfswissenschaften (al-ʿulūm al-āliyya) und hätten somit ausschließlich propädeutischen Charakter. Das konkrete Sein gliedere sich weiterhin in theoretisches und praktisches Wissen. Praktisches Wissen sei dadurch gekennzeichnet, dass es nicht zum Selbstzweck erlernt werden würde, theoretisches Wissen dagegen schon. Beide Bereiche ließen sich des Weiteren im Hinblick auf die Arten des Zugangs differenzieren. So sei der Zugang einerseits mithilfe von Quellen der Wissenschaften der göttlichen Offenbarung (al-ʿilm aš-šarʿī) oder andererseits anhand ausschließlich der rationalistischen Wissenschaften (al-ʿilm al-ḥikamī) möglich. Dies seien, so resümiert Taşköprüzade, die „sieben Wissensgrundlagen“ (al-uṣūl as-sabʿ); dieser Wissensphänomenologie folgen die Überschriften zu den sieben Abschnitten (Sg. dawḥa) in zwei großangelegten Buchteilen (Sg. ṭaraf).⁵⁷ Taşköprüzades Klassifikation orientiert sich demnach primär an methodologischen Kriterien; Zugänge und Methoden sind für ihn ausschlaggebender als die jeweiligen Wissensinhalte. Dadurch löst Taşköprüzade auf elegante Weise die dauerhafte Herausforderung muslimischer Wissenschaftsklassifikation, zwischen „islamischen“ und „externen“ Wissenschaften trennen zu müssen. Ähnlich wie bei Ibn an-Nadīm setzen sich die inhaltlichen Ausführungen zu den einzelnen Fächern und Wissensbereichen aus der Anführung von Definitionen, Berichten, Autorenverzeichnissen und bibliographischen Angaben zusammen. Nur wenige Zeit nach Taşköprüzade stellt Katib Çelebi alias Ḥaǧǧī Ḫalīfa (gest. 1067/1657) mit seinem Kašf aẓ-ẓunūn ʿan asāmī al-kutub wa-l-funūn (Die Beseitigung jeglichen Zweifels im Hinblick auf die Namen der Werke und Wissenschaften) ein weiteres zentrales Werk der muslimischen Wissenschaftsklassifikation bereit. Anders als die vorherigen Autoren im Genre des tartīb al-ʿulūm stützt sich Ḥaǧǧī Ḫalīfa nicht auf eine bestimmte Einteilung von Wissenschaftsfeldern, denen er dann seine Ausführungen widmet, sondern er behandelt diese Felder in alphabetischer Reihenfolge. Damit löst er das Problem der normativen Wertung von Wissenschaftsfeldern, die notwendig durch jegliche Art der Gliederung entstehen würde.⁵⁸ Einen stärker inventarischen Charakter weist wiederum das Werk eines weiteren wichtigen Autors auf: das Kaššāf iṣṭilāḥāt al-funūn wa-l-ʿulūm (Darlegung der Terminologie der Künste und Wissenschaften) von  Ṭāškubrīzāda, Miftāḥ as-saʿāda, 75.  Ṭāškubrīzāda, Miftāḥ as-saʿāda, 75, 287.  Vgl. Kâtip Çelebi, Kashf al-ẓunūn ʿan asāmī al-kutub wa-al-funūn, übers. von Gustav Flügel (London, 1858).

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Muḥammad at-Tahānawī (gest. 1158/1746). Der inventarische Charakter dieses Werkes rührt von der Betonung der Bedeutung von Definitionen und Terminologien als Grundlage jeder Wissenserschließung – eine Haltung, die bereits bei alḪwārizmī erkennbar wurde. At-Tahānawī reiht sich damit in einen Strang der muslimischen Wissenschaftsklassifikation ein, für den die Terminologie der Maßstab jedes wissenschaftlichen Begreifens darstellt. Gleichwohl, so erläutert at-Tahānawī in seiner Einleitung, seien die Wissenschaften grundsätzlich einzuteilen in arabische (ʿulūm al-ʿarab), das heißt Literatur und Philologie, islamische (al-ʿulūm aš-šarʿiyya), das heißt das religiöse Wissen, und ontologische Wissenschaften (al-ʿulūm al-ḥaqīqiyya), wo unter anderem die Philosophie und die Naturwissenschaften genannt werden. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Kaššāf besteht darin, dass at-Tahānawī aufgrund seiner Herkunft vom Indischen Subkontinent regionale Werke und Autoren deutlich stärker einbeziehen kann als frühere arabisch-, persisch- oder türkischstämmige Vertreter der muslimischen Wissenschaftsklassifikation. Mit seinem Kitāb Tartīb al-ʿulūm reiht sich im 12./18. Jahrhundert auch Muḥammad ibn Abī Bakr al-Marʿašī, eher bekannt unter dem Namen Saçaklızade (gest. 1145/1733), in das Genre muslimischer Wissenschaftsklassifikation ein. Saçaklızade hat zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Schrift (vermutlich im Jahr 1716⁵⁹) bereits zahlreiche Werke in unterschiedlichen islamischen Wissensbereichen produziert⁶⁰ und widmet sich nun bildungstheoretischen Fragen. Die Nützlichkeitsunterstellung, die bereits in Ausführungen einiger früherer muslimischer Wissenschaftssystematiker eine wichtige Rolle spielte, rückt hier nun deutlich in den Vordergrund und wird zum entscheidenden Kriterium der wissenstheoretischen Ausführungen. Saçaklızade gliedert sein Werk in fünf Bereiche: eine Einführung (muqaddima), zwei Erörterungen (Sg. maqṣad), einen Exkurs (taḏyīl) und den Schluss (ḫāṭima). In seiner Einführung legt er sein wissenstheoretisches Verständnis dar, indem er differenziert zwischen nützlichen Wissenschaften (ʿulūm nāfiʿa), schädlichen Wissenschaften (ʿulūm ḍārra) und indifferenten Wissenschaften, deren Kenntnis nicht nützt und deren Unkenntnis nicht schadet (ʿulūm lā yanfaʿu ʿilmuhā wa-lā yaḍurru ǧahluhā).⁶¹ Zu den nützlichen Wissenschaften zählt Saçaklızade die arabischen und islamischen Wissenschaften, die schädlichen Wissenschaften seien jene der Zauberei und der Philosophie, zu den indifferenten Wissenschaften gehörten vor allem die Naturwissenschaften. In der ersten Erörterung folgt die umfangreiche definitorische  Khaled El-Rouayheb, Islamic Intellectual History in the Seventeenth Century: Scholarly Currents in the Ottoman Empire and the Maghreb (Cambridge: Cambridge University Press, 2015), 115.  Al-Marʿašī, Tartīb al-ʿulūm, 52– 54.  Al-Marʿašī, Tartīb al-ʿulūm, 82– 83.

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und bibliographische Erläuterung derjenigen Fächer, die Saçaklızade zuvor als nützlich gekennzeichnet hat. In der zweiten Erörterung gliedert er die bereits genannten Fächer nach einer in seinen Augen bildungspädagogisch sinnvollen Reihung. Damit erfüllt er eine wesentliche Intention seiner Abhandlung: die angemessene Anleitung derjenigen Adepten, die sich auf den Weg der Erkenntnis begeben haben. Denn viele von ihnen, so moniert Saçaklızade, verlören sich in kleinteiligen Spezialdiskussionen, weil sie von ihren Lehrern unangemessener Weise Kommentarwerke, Glossen und Superglossen zur Lektüre empfohlen bekämen.⁶² Saçaklızade hält dagegen, dass diejenigen, die sich der edlen Suche nach Wissen und Erkenntnis verschrieben hätten, zunächst mit einfacheren Übersichtswerken ihre Studien beginnen sollten, und nennt das Kitāb al-Mawāqif von ʿAḍud ad-Dīn al-Īǧī (gest. 756/1355) und das Kitāb al-Maqāṣid von at-Taftāzānī (gest. 792/1390) als positive Beispiele sowie die Risālat Iṯbāt al-wāǧib von Ǧalāl adDīn ad-Dawwānī (gest. 918/1512) als ein negatives.⁶³ Saçaklızade setzt sich ferner für eine Staffelung von Kompetenzniveaus ein, die er in ihrer Formulierung von alĠazālī übernimmt: Durch die Unterscheidung von Grundniveau (iqtiṣār), mittlerem Niveau (iqtiṣād) und fortgeschrittenem Niveau (istiqṣāʾ) falle es Lehrern und Schülern leichter, jeweilige pädagogische Bedürfnisse und Erwartungen abzustimmen.⁶⁴ Im Zuge seiner Darstellung spart Saçaklızade dementsprechend nicht mit Kritik am zeitgenössischen osmanischen Bildungskanon und mokiert sich unter anderem über „hochgeadelte Gelehrte, die jedoch kaum mehr Koran aufsagen können, als für die Gültigkeit ihrer Gebete nötig ist“.⁶⁵ Das dritte Kapitel des Tartīb al-ʿulūm, der Exkurs, bildet ein Sonderkapitel, dass ausschließlich den Wissenschaften des Korans gewidmet ist. Das letzte Kapitel widmet Saçaklızade schließlich explizit der Diskussion der Philosophie. Hier folgt er weitgehend der skeptischen Haltung, die schon alĠazālī ausgezeichnet hatte: Logik und rationalistisch betriebene Theologie seien durchaus anerkannt, nützlich und auch empfehlenswert. Sie bleiben jedoch erstens dem Zweck propädeutischer Hilfswissenschaften, zweitens einer eschatologisch ausgerichteten Nützlichkeitsklausel untergeordnet, was auch daran deutlich wird, dass Saçaklızade die Beschäftigung mit der Philosophie als eine Kollektivpflicht (farḍ kifāya) bezeichnet, bei der es für die Gemeinschaft genüge, wenn einige wenige Meister sich ihrer annähmen. Mit Blick auf die wesentlichen Geschäftsbereiche der Philosophie seien besonders ihre Aussagen über das We-

   

Al-Marʿašī, Tartīb al-ʿulūm, 80 – 81. Al-Marʿašī, Tartīb al-ʿulūm, 150. Al-Marʿašī, Tartīb al-ʿulūm, 217– 18. Al-Marʿašī, Tartīb al-ʿulūm, 70.

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sen Gottes (al-ilāhiyya) und diejenigen über die Beschaffenheit der Welt (aṭ-ṭabīʿiyya) mit Vorsicht zu betrachten.⁶⁶ Mit seiner Wissensphänomenologie folgt Saçaklızade im ausgedehnten Spektrum muslimischer Wissenschaftssystematik der Tradition holistisch-esoterischer, vor allem jedoch scholastik-kritischer Erkenntnislehre. So formuliert er an anderer Stelle: „Je mehr sie [die angehenden Gelehrten] ihren majestätischen Herrn [d. h. „Gott“] als Ursache aller Ursachen und ersten aller Gründe konzipieren, desto stärker nimmt ihre Ehrfurcht ab.“⁶⁷ Nicht zufällig bilden vor allem die Werke al-Ġazālīs zentrale Referenzen für das Tartīb al-ʿulūm. ⁶⁸

6 Fazit Hier endet der vorläufige Versuch, einen Überblick über zentrale Autoren, Werke, Themen und Entwicklungen der muslimischen Wissenschaftsklassifikation zu geben. Dabei wurde die außerordentliche Breite der zugrundeliegenden Ansätze und Perspektiven deutlich. Dieser Umstand macht es schwer, die zahlreichen Werke in einem angemessenen Zusammenhang vorzustellen und zu erschließen. Dennoch scheint es vertretbar zu sein, auf Grundlage der bisherigen Erkenntnisse zur muslimischen Wissenschaftsklassifikation tendenziell zwischen philosophisch-gnostischen, theologisch-scholastischen, mystisch-esoterischen, traditionalen, enzyklopädischen und bibliographischen Ansätzen zu unterscheiden. Dass sich aber selbst anhand einer solch vorsichtigen Typologie nicht alle Perspektiven treffsicher identifizieren lassen, zeigt das Beispiel des Miftāḥ alʿulūm (Schlüssel der Wissenschaften) des Grammatikers Abū Yaʿqūb Yūsuf ibn Abī Bakr as-Sakkākī (gest. 626/1229), dessen Werk zwar nominell einschlägig erscheint, sich in seiner Aufzählung der Wissenschaften jedoch ausschließlich auf Disziplinen der Philologie konzentriert.⁶⁹ Damit verstärkt sich der Eindruck, dass die muslimische Wissenschaftsklassifikation als literarisches Genre wohl kaum einheitlich zu erfassen ist. Darüber hinaus ist allerdings zu bemerken, dass die muslimische Wissenschaftsklassifikation über die Jahrhunderte hinweg gleichbleibende Fixpunkte der inhaltlichen Diskussion aufweist. Stark kulturalistische Vorstellungen stehen beispielsweise durchgehend universalistischen Ansätzen gegenüber. Die Nützlichkeitsunter Al-Marʿašī, Tartīb al-ʿulūm, 227– 30.  Al-Marʿašī, Tartīb al-ʿulūm, 151.  El-Rouayheb, Islamic Intellectual History in the Seventeenth Century, 117.  Vgl. Abū Yaʿqūb Yūsuf ibn Abī Bakr as-Sakkākī, Miftāḥ al-ʿulūm, hrsg. von Naʿīm Zarzūr (Beirut, 1983).

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stellung bleibt gleichermaßen in fast allen Werken ein durchgängiger Diskussionspunkt und ein zentrales Legitimationskriterium der Beschäftigung mit Wissen. Auffällig in den Werken ist zudem der große Raum, der bildungspädagogischen Reflexionen eingeräumt wird. Diese werden gar häufig zu einem signifikanten Aspekt der Zweckbestimmung jeglicher Wissensbefassung.

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Farid Suleiman

Ist Islamische Theologie eine Wissenschaft? 1 Einleitung In der westlichen szientistisch geprägten Wissenskultur hängt die Akzeptanz von Erkenntnisformen maßgeblich davon ab, ob sie als „wissenschaftlich“ klassifiziert werden oder nicht. So ist die Wissenschaft vielleicht nicht der Ort der Wahrheit, aber sie ist ihm am nächsten. Auch wenn man sich in vielen Fällen weitgehend einig ist, welche Wissensdisziplinen in den Rang einer Wissenschaft erhoben werden können und welche nicht – man denke zum Beispiel an die Astronomie und die Astrologie –, scheint sich keine klare Trennlinie zwischen Wissenschaftlichkeit und ihrer Negation finden zu lassen.¹ Der deutsche Wissenschaftsbegriff vereinfacht die Sache nicht, insofern er sich auf eine große Breite verschiedener Wissensdisziplinen bezieht. Im Deutschen spricht man von den Natur- und den Geisteswissenschaften, im Englischen hingegen in der Regel von Sciences und Humanities. Literaturwissenschaft oder Musikwissenschaft zum Beispiel bezeichnet man dort als Literature Studies bzw. Music Studies, sodass der science-Begriff in der Regel den (harten) Naturwissenschaften vorbehalten bleibt. Martin Mahner, der in einem Artikel die Demarkationslinie zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft zu finden versucht, kommt zu dem Ergebnis: In sum, compared to formal sciences and technology, the humanities show the greatest distance from factual science. But again, we emphasize that this is not a value judgement. When saying, for example, that the arts and humanities are not scientific, nobody claims that they are therefore objectionable or bad.²

Im deutschsprachigen Raum hingegen ist es aus den oben genannten Gründen sehr wohl als ein value judgement zu verstehen, wenn eine universitäre Disziplin als „unwissenschaftlich“ eingestuft wird, ja wird damit gar ihre Existenzberech-

 Freilich ist man sich keineswegs einig, warum die Astrologie keine Wissenschaft ist. Siehe hierzu z. B. Kuhn in Auseinandersetzung mit Popper bei Thomas Kuhn, „Logic of Discovery or Psychology of Research?“, in Criticism and the Growth of Knowledge, hrsg. von Imre Lakatos und Alan Musgrave (Cambridge: Cambridge University Press, 1970), 7– 10.  Martin Mahner, „Demarcating Science from Non-Science“, in General Philosophy of Science: Focal Issues, hrsg. von Theo A. F. Kuipers (Amsterdam; London: Elsevier, 2007), 542. https://doi.org/10.1515/9783110731743-003

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tigung an der Universität verneint. Zwar ist bedenkenswert, wie Ludger Jansen in einem kürzlich veröffentlichten Sammelband zum Wissenschaftscharakter der Theologie argumentiert, dass die Wissenschaftlichkeit einer Disziplin weder eine notwendige noch eine hinreichende Eigenschaft dafür ist, um an einer Universität verortet sein zu können; jedoch dürfte er damit eine Minderheitenposition vertreten.³ So heißt es an anderer Stelle im selben Sammelband: Man muß sich vor Augen halten, daß die Theologie ihre jahrhundertealte Stellung im Rahmen der Universitäten ihrem tatsächlichen oder bloß vermeintlichen Wissenschaftscharakter verdankt; wäre die Theologie keine Wissenschaft, so würde ihr […] wohl nicht ein Platz im Rahmen der Universität zustehen.⁴

Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit – im deutschen Sprachraum ist er, wie gesagt, als ein solcher zu verstehen – wird nun nicht allein gegen die Theologie vorgebracht.⁵ Er richtet sich mitunter gegen alles außerhalb der Naturwissenschaften,⁶ mitunter auch nur gegen bestimmte Disziplinen, wie zum Beispiel die Rechtswissenschaft oder die Philosophie.⁷ Zudem hat ein an Wirtschaftlichkeit und Profitmaximierung orientiertes Denken – welches zwar nicht direkt mit der Debatte um Wissenschaftlichkeit zusammenhängt, diese aber beeinflusst – längst auch die Bildungssysteme erreicht. Alarmiert durch die Entwicklungen im amerikanischen Bildungsbereich verfasste die Philosophin Martha Nussbaum vor wenigen Jahren ein Plädoyer für die „Nützlichkeit“ der Geisteswissenschaften.⁸

 Ludger Jansen, „Wenn Theologie eine Wissenschaft ist. Einige Anschlussfragen“, in Die Wissenschaftlichkeit der Theologie. Historische und systematische Grundlagen, hrsg. von Benedikt Paul Göcke (Münster: Aschendorff, 2018), 351– 65.  Edgar Morscher, zitiert nach Christoph Tapp, „Wissenschaftliche Theologie. Anforderungen und Grundlinien eines theorie-orientierten Modells“, in Die Wissenschaftlichkeit der Theologie. Historische und systematische Grundlagen, hrsg. von Benedikt Paul Göcke (Münster: Aschendorff, 2018), 206.  Zur Einordnung ist zu sagen, dass diejenigen, die keine der Universitäten befindlichen Disziplinen hinsichtlich ihrer Wissenschaftlichkeit infrage stellen, wohl zumindest im akademischen Diskurs die Mehrheit stellen.  So z. B. bei dem Evolutionsbiologen und materialistischen Reduktionisten Ulrich Kutschera; siehe Michael Klasen und Markus Seidel, „Einleitung“, in Einheit und Vielfalt in den Wissenschaften, hrsg. von Michael Klasen und Markus Seidel (Berlin; Boston: De Gruyter, 2019), 5 – 6 mit Fn. 11.  Siehe z. B. Hubert Rottleuthner, „Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft“, in Handbuch Rechtsphilosophie, hrsg. von Eric Hilgendorf und Jan Joerden (Stuttgart: Metzler, 2017), 251– 54; Willi Oelmüller, Hrsg., Philosophie und Wissenschaft (Paderborn: Schöningh, 1988).  Martha Nussbaum, Not for Profit: Why Democracy Needs the Humanities (Princeton: Princeton University Press, 2010).

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Besonders betroffen ist jedoch die (christliche) Theologie, zumal ihr auch der Ruf anhängt, im historischen Verlauf des Entstehens der modernen Wissenschaften eine destruktive Rolle gespielt zu haben. Entsprechend widmen sich viele Veröffentlichungen der (Un‐)Wissenschaftlichkeit der (christlichen) Theologie und der Frage nach ihrer Existenzberechtigung an der Universität. Hervorzuheben sind die Auseinandersetzungen zwischen dem evangelischen Theologen Karl Barth und dem Philosophen und Theologen Heinrich Scholz,⁹ eine Reihe von Veröffentlichungen in den 1970er und 1980er Jahren¹⁰ sowie das Forschungsprojekt „Theologie als Wissenschaft?! Naturalismus und Wissenschaftstheorie als Herausforderungen katholischer Theologie“, in dessen Rahmen bislang zwei Sammelbände zum Thema veröffentlicht wurden.¹¹ In der noch jungen Disziplin der Islamischen Theologie¹² ist die Veröffentlichungslage hingegen überschaubar.¹³  Siehe hierzu Arie Molendijk, Aus dem Dunklen ins Helle. Wissenschaft und Theologie im Denken von Heinrich Scholz (Amsterdam; Atlanta: Rodopi, 1991), v. a. Kap. III.  Matthias Gatzemeier, Theologie als Wissenschaft? (Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1974); Helmut Peukert, Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentale Theorie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung (Düsseldorf: Patmos, 1976); Richard Schaeffler, Glaubensreflexion und Wissenschaftslehre. Thesen zur Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Theologie (Freiburg: Herder, 1980); Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987).  Benedikt Paul Göcke, Hrsg., Die Wissenschaftlichkeit der Theologie: Historische und systematische Grundlagen (Münster: Aschendorff, 2018); Benedikt Paul Göcke, Hrsg., Die Wissenschaftlichkeit der Theologie. Katholische Disziplinen und ihre Wissenschaftsdisziplinen (Münster: Aschendorff, 2018).  In diesem Artikel wird, wie in der Literatur allgemein üblich, durch Groß- und Kleinschreibung zwischen der Islamischen Theologie als universitärem Fach und der islamischen Theologie als 1400-jähriger Geistestradition unterschieden.  Besonders hervorzuheben ist die bislang einzige Studie in Monographielänge zur Entstehung des Faches der Islamischen Theologie: Jan Felix Engelhardt, Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem (Wiesbaden: Springer, 2017), v. a. Kap. 5.4 zur Frage der Wissenschaftlichkeit Islamischer Theologie. Siehe auch Ömer Özsoy, „Islamische Theologie als Wissenschaft. Funktionen, Methoden, Argumentationen“, in Zwischen Glaube und Wissenschaft. Theologie in Christentum und Islam, hrsg. von Mohammad Gharaibeh u. a. (Regensburg: Pustet, 2015), 56 – 68; Serdar Güneş, „Islamische Theologie im Spannungsfeld zwischen Glaubenslehre und Wissenschaft“, in Das Verhältnis zwischen Islamwissenschaft und islamischer Theologie. Beiträge der Konferenz Münster, 1. – 2. Juli 2011, hrsg. von Mouhanad Khorchide und Marco Schöller (Münster: Agenda Verlag, 2012), 150 – 56; Amir Dziri, „Freie Wissenschaft? Die Islamische Theologie im akademischen Methoden- und Ethikstreit“, in Jahrbuch für Islamische Theologie und Religionspädagogik, hrsg. von Mouhanad Khorchide und Milad Karimi (Freiburg: Kalam, 2014), 33 – 48; Ruggero V. Sanseverino, „Was ist Islamische Theologie? Für eine akademische Glaubenswissenschaft des Islams“, in Frankfurter Zeitschrift für islamisch-theologische Studien 3 (2016): 171– 84.

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Der vorliegende Artikel fußt auf der Annahme, dass sich die Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der universitären Theologie in erster Linie aus einer szientistisch geprägten Weltsicht speisen, die folgende drei Thesen vertritt: (1) Es besteht ein wesensimmanentes Konfliktverhältnis zwischen Naturwissenschaft und Religion. (2) Wissenschaften sind voraussetzungslos, Theologie nicht. (3) Die Theologie erfüllt nicht die Kriterien, die die normative Wissenschaftstheorie an Wissenschaftlichkeit stellt. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass keine der drei Thesen haltbar ist. An die Widerlegung der dritten These schließt eine Reflexion darüber an, welche womöglich notwendige Bedingung für Wissenschaftlichkeit im Rahmen der Debatten um den Wissenschaftscharakter der Theologien den vornehmlichen Streitpunkt bildet.

2 Die Idee eines systematischen Antagonismus zwischen Naturwissenschaften und Religion Der Glaube, dass Religion und Wissenschaft mindestens seit Galileo Galilei, wenn nicht gar seit der Antike, in einem Dauerstreit stehen, ist im zeitgenössischen Geschichtsbewusstsein tief verankert. Dieser Glaube, auch bekannt als „KonfliktThese“, wird genährt durch eine Reihe populärwissenschaftlicher Schriften, aber auch durch akademische Publikationen, die Titel tragen wie 400 Jahre Streit um die Wahrheit – Theologie und Naturwissenschaft. ¹⁴ Unter Wissenschaftshistoriker*innen gilt die Konflikt-These seit den 1990er Jahren hingegen als widerlegt.¹⁵ In der Folgezeit wuchs die Anzahl der Publikationen stetig, die diese These als zentrales Element eines identitäts- und machtstiftenden Narrativs der im 19. Jahrhundert aufkommenden Wissenschaftsideologie dekonstruiert.¹⁶

 Hans Schwarz, 400 Jahre Streit um die Wahrheit. Theologie und Naturwissenschaft (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012).  Besonders wichtig war hierbei das 1991 erstmals veröffentlichte Werk John Hedley Brooke, Science and Religion: Some Historical Perspectives (Cambridge: Cambridge University Press, 2014).  Hierzu eine Auswahl relevanter Literatur: David C. Lindberg und Ronald L. Numbers, Hrsg., When Science and Christianity Meet (Chicago: University of Chicago Press, 2008); Ronald L. Numbers, Hrsg., Galileo Goes to Jail and other Myths about Science and Religion (Cambridge, Mass.; London: Harvard University Press, 2010); Peter Harrison, The Territories of Science and Religion (Chicago: University of Chicago Press, 2017); Jeff Hardin, Ronald Numbers und Ronald A. Binzley, Hrsg., The Warfare between Science and Religion: The Idea that Wouldn’t Die (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2018); Miguel Asúa, „The ‚Conflict Thesis‘ and Positivist History of Science: A View from the Periphery“, in Zygon 53, Nr. 4 (2018): 1131– 48; James C. Ungureanu,

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Seit über zweihundert Jahren wird die Konflikt-These in mal mehr, mal weniger drastischer Form vorgetragen. In einem Literaturanzeiger aus dem Jahre 1846 liest man: Die Religion hat bekanntlich sehr oft in die Naturwissenschaften gepfuscht. Was sie darin geleistet ist männiglich [d. h. jedermann] bekannt.Wo nur der forschende Blick, das mit allen Errungenschaften des Menschengeschlechts bewaffnete Auge und der auf das Einmaleins basirte Calcul ermitteln und entscheiden kann, hat sie [d. h. die Religion] das Wunder setzen wollen. Sie hat Galilei in den Kerker geworfen und durch Folter zum heuchlerischen Widerruf gezwungen, weil er seiner Wissenschaft und ihren untrüglichen Gesetzen mehr Glauben schenkte als einem jüdischen Märchen.¹⁷

In diesem Zitat sieht man beispielhaft, wie Galileo Galilei – in anderen Fällen auch andere Denker wie Giordano Bruno – zu Märtyrerfiguren der Wissenschaftsgemeinde hochstilisiert werden, die ihr Leben gaben für den Kampf gegen die Unterjochung der Rationalität durch die Vertreter der Religion (womit in erster Linie die katholische Kirche gemeint war, weniger die protestantische). Ihre scheinbare historische Absicherung erhielt die Konflikt-These durch William Draper (gest. 1882) und Andrew Dickson White (gest. 1918), die daher in der Forschung auch als die Begründer jener These beschrieben werden. Drapers Werk History of the Conflict Between Religion and Science (1875) wurde in viele Sprachen übersetzt und über zwanzigmal aufgelegt. Der große Erfolg des Buches wurde von Whites Monographie A History of the Warfare of Science with Theology in Christendom (1896) noch übertroffen. Darüber hinaus hat George Sarton (gest. 1956), auch bekannt als der Vater der akademischen Disziplin der Wissenschaftsgeschichte, in zahlreichen Veröffentlichungen das Bild vom unausweichlichen Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft weiter verstärkt.¹⁸ Auch Karl Popper (gest. 1994), einer der einflussreichsten Wissenschaftstheoretiker, reproduziert dieses Bild, wenn er sich in einer seiner späten Schriften in einer Tradition der Wissenschaft verortet, die er bis zu Thales (gest. um 546 v. Chr.) zurückzuführen können glaubt und die im Westen vom Christentum unterdrückt worden sei.¹⁹ Hier lässt sich die Annahme herauslesen, die man als das Fundament der Konflikt-

„Relocating the Conflict between Science and Religion at the Foundations of the History of Science“, in Zygon 53, Nr. 4 (2018): 1106 – 30; Joshua M. Moritz, The Role of Theology in the History and Philosophy of Science (Leiden; Boston: Brill, 2017).  Levin Schücking, „Literarische Notizen aus England: Der fromme Astronom“, in Blätter für literarische Unterhaltung, 27. Mai 1846.  Laut Ungureanu ist Sarton gar als der eigentliche Begründer der Konflikt-These zu sehen; siehe Ungureanu, „Relocating the Conflict between Science and Religion“.  Harrison, The Territories of Science and Religion, 24.

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These bezeichnen kann: Die Kategorien Wissenschaft und Religion beschreiben zwei voneinander abgrenzbare überhistorisch gültige Bereiche, die in erster Linie durch die Summe ihrer propositionalen Aussagen charakterisiert werden. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Konflikt-These geht Peter Harrison 2017 ausführlich auf die Geschichte der Begriffe „Wissenschaft“ und „Religion“ ein und widerspricht jener Annahme mit den Worten: „Modern religion had its birth in the seventeenth century; modern science in the nineteenth.“²⁰ Harrison beschreibt den heute gängigen Wissenschaftsbegriff als den entmoralisierten und enttheologisierten Rest der Naturphilosophie vormoderner Zeiten.²¹ Wissenschaft wird nicht mehr als ein intellektueller Habitus verstanden, der die individuelle Seelenentwicklung fördern soll, so wie das bei dem in der Tradition aristotelischer Tugendethik stehenden Thomas von Aquin der Fall war, sondern als ein von einer Wissenschaftsgemeinde mit bestimmten Methoden zusammengetragener Wissenskorpus, der auf einen möglichst effizienten Umgang mit der Natur abzielt, die als bloße Ressource und nicht als Schöpfung gedacht wird. Bevor sich das heutige Verständnis von Fortschritt herausbildete, musste sich eine zur modernen Wissenschaft wandelnde Naturphilosophie noch auf gesellschaftlicher Ebene dafür rechtfertigen, welchen Beitrag zur moralischen Entwicklung des Menschen sie denn leisten könne.²² Heute, unter veränderten Vorzeichen, steht die Theologie unter Druck, zu erklären, welchen Beitrag zum Wissenskorpus der modernen Wissenschaften sie zu leisten vermag. Der Weg zum modernen Begriff der Religion verlief nach Harrison ähnlich wie der zu dem der Wissenschaft. Vormoderne Religion wurde in erster Linie als moralischer Habitus verstanden, in dem Glaube zuvörderst bedeutete, Gott zu lieben und Ihm zu vertrauen. Religion, insofern sie als innere Haltung verstanden wurde, gab es zu diesen Zeiten nicht im Plural, und schon gar nicht den Begriff der Weltreligionen. Erst als der Ausdruck Religion keinen moralischen Habitus mehr bezeichnete, sondern eine Gesamtheit propositionaler Aussagen, so wie sie sich zum Beispiel in den Katechismen finden lassen, ist die Rede von „Glaubenssys-

 Harrison, The Territories of Science and Religion, 147.  Harrison, The Territories of Science and Religion, 52– 53. Das soll nun keineswegs bedeuten, dass die Entstehung der modernen Naturwissenschaft als Subtraktionsgeschichte verstanden werden kann, derzufolge moderne Formen der Weltbeschreibung sich von den vormodernen dadurch abgrenzen, dass sie sich jeglicher Metaphysik entledigt haben und sich nur noch auf die neutrale Beschreibung der Dinge beschränken. Zur Kritik an dem bis heute einflussreichen subtraktionsgeschichtlichen Paradigma siehe Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2012), 53 – 54, 270 – 71, 291– 92.  Harrison, The Territories of Science and Religion, 126 – 31.

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temen“ bzw. „Religionen“ (im Plural) möglich geworden.²³ Während noch in der Zeit vor dieser Bedeutungsverschiebung Wissenschaft und Religion als Formen von innerem Habitus unter dem Dach eines aristotelisch geprägten Tugend- und Teleologie-Verständnisses als integrative Einheit gewirkt hatten, konnte man sie jetzt als voneinander abgrenzbare Wissensfelder mit ihren jeweiligen kognitiven Wahrheitsansprüchen zueinander in Beziehung setzen. Das ist die Basis der Konflikt-These, die sich damit schon deswegen als unhaltbar erweist, weil sie Frontlinien mit überzeitlicher Existenz zeichnet, von denen man jedoch, wenn überhaupt, erst ab dem 19. Jahrhundert sinnvoll sprechen kann. Die Konflikt-These lebt nicht nur von dieser Kategorisierung von Wissenschaft und Religion, sondern auch von einer Reihe von geschichtlichen Schein- und Halbwahrheiten. Die bekanntesten davon, die nicht nur bei längst verstorbenen Autoren wie Draper und White zu finden sind, sondern auch heute noch verbreitet sind, sollen im Folgenden behandelt werden. Zu den wichtigsten Topoi in den Schriften der Vertreter der Konflikt-These gehört die Auseinandersetzung zwischen Galileo Galilei (gest. 1642) und der katholischen Kirche. Die Entwicklungslinien dieser Auseinandersetzung lassen sich wie folgt nachzeichnen:²⁴ Im Jahre 1609 übernimmt Galileo das einige Jahrzehnte zuvor von Kopernikus vorgeschlagene heliozentrische Weltbild, nach dem sich die Erde weder im Mittelpunkt der Welt befindet noch stillsteht. Neue Funde, auf die Galileo durch seine Verbesserung des Teleskops stößt, bestärken ihn in seinem Vorhaben. Durch seine Schriften wird seine Haltung öffentlich, und er kommt in Konflikt mit der Kirche, die das kopernikanische Weltbild ablehnt. Im Jahre 1616 bestätigt ein päpstliches Inquisitionsverfahren, dass die Behauptung der Erdbewegung wissenschaftlich und theologisch unhaltbar sei. Das Verfahren hat nicht direkt mit Galileo zu tun, wird also unabhängig von ihm und ohne die Erwähnung seines Namens geführt. Im Nachgang aber erhält Galileo von Robert Bellarmin, einem der mächtigsten Vertreter der katholischen Kirche jener Zeit, eine wohlwollend formulierte Warnung davor, die These von der Erdbewegung weiter zu vertreten. Zur selben Zeit stellt die Kirche ein drastisch formuliertes Verbot aus, das es Galileo untersagt, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen. Dieses Schriftstück bleibt ohne Unterschrift und Galileo wird Zeit seines Lebens behaupten, es nie erhalten zu haben. Im Jahre 1623 wird der Galileo-Bewunderer Maffeo Barberini als Papst Urban VIII. zum Kirchenoberhaupt gewählt. Er findet Gefallen an der heliozentrischen Sicht, sieht jedoch wissenschaftliche Gegenar-

 Siehe Harrison, The Territories of Science and Religion, 7, 13, 97– 101.  Die folgenden Ausführungen beruhen auf Maurice A. Finocchiaro, Defending Copernicus and Galileo: Critical Reasoning in the Two Affairs (Dordrecht; New York: Springer, 2010).

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gumente, die Galileo seiner Ansicht nach nicht zu widerlegen vermag. Galileo fühlt sich ermutigt, eine Schrift zu verfassen, in der fiktive Personen das Für und Wider des kopernikanischen Weltbildes diskutieren. Eine dieser Personen trägt den Namen Simplicius und wird von Galileo als ein naiver Halbgebildeter dargestellt. Die Worte, die Galileo ihn sagen lässt, lassen jeden, der in der Sache ausreichend kundig ist, wissen, dass das Vorbild für diese Kunstfigur Papst Urban ist. Dieser ist entsprechend verärgert, als er von Galileos Schrift erfährt.²⁵ Galileo sieht sich auf sicherem Terrain, insofern er das kopernikanische Weltbild in seiner Schrift nicht explizit vertritt und daher meint, nicht gegen das Warnschreiben Bellarmins gehandelt zu haben. Im Jahre 1633 wird Galileo jedoch in Rom auf Basis des oben genannten Verbots, von dem er beteuert, keine Kenntnis zu haben, verurteilt. Ihm wird Häresie unterstellt, er wird gezwungen, sich vom kopernikanischen Weltbild loszusagen, und er verbringt die letzten neun Jahre seines Lebens unter Hausarrest. Aufgrund des Häresievorwurfs ist es umstritten, ob und in welcher Form Galileo ein christliches Begräbnis erhalten soll. Endgültig entschieden wird diese Angelegenheit erst knapp hundert Jahre später, als man seinen Leichnam in das ehrenhafte Mausoleum der florentinischen Kirche Santa Croce umbettet. Eine vollständige Rehabilitation seiner Person erfolgt erst 1992 durch Papst Johannes Paul II. Die Galileo-Affäre erscheint oberflächlich betrachtet als paradigmatischer Ausdruck der Feindschaft zwischen Wissenschaft und Religion, jedoch entpuppt sich diese Lesart bei näherem Hinsehen als die Fiktion eines auf der KonfliktThese beruhenden Geschichtsbildes – eine Fiktion, die bis heute in den Lehrplänen forschungsstarker Universitäten und in akademischen Handbüchern reproduziert wird.²⁶ Festzuhalten ist hier, dass Galileo im Gegensatz zu weitverbreiteten Behauptungen weder in einen Kerker eingesperrt noch gefoltert wurde.²⁷ Vielmehr verbrachte er seinen Hausarrest in mehreren luxuriösen Anwesen, darunter die Residenz des Erzbischofs von Siena. Der Erzbischof behandelte ihn gar so gut, dass kirchliche Gegner Galileos sich darüber beschwerten. Zudem schrieb Galileo

 Moritz, The Role of Theology in the History and Philosophy of Science, 44.  Siehe Thomas Aechtner, „Galileo Still Goes to Jail: Conflict Model Persistence within Introductory Anthropology Materials“, in Zygon 50, Nr. 1 (2015): 209 – 26.  Der oben zitierte Schücking ist zumindest hinsichtlich der Folterbehauptung zu entschuldigen, da die historischen Dokumente, die die Behauptung entkräften, erst zu Ende des 19. Jahrhunderts zugänglich waren; siehe Maurice Finocchiarro, „That Galileo was Imprisoned and Tortured for Advocating Copernicanism“, in Galileo Goes to Jail and other Myths about Science and Religion, hrsg. von Ronald L. Numbers (Cambridge, Mass.; London: Harvard University Press, 2010), 73.

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weitere Werke und empfing politische und intellektuelle Persönlichkeiten seiner Zeit.²⁸ Diese Umstände weisen auf etwas hin, das bei genauerem Hinsehen offenkundig wird: Die Konfliktlinien in der Galileo-Affäre verlaufen nicht zwischen den Vertretern von Wissenschaft und Religion. Galileos Schriften lassen vielmehr darauf schließen, dass er selbst sehr religiös war und keinen Widerspruch zwischen der Bibel und dem kopernikanischen Weltbild sah. Zudem hatte er in der Kirche und in verschiedenen Mönchsorden viele Unterstützer.²⁹ Auf der anderen Seite galt bis Galileo das ptolemäische Weltbild als der damalige wissenschaftliche Forschungsstand, der zwar Probleme bereitete, aber sowohl philosophisch als auch empirisch besser gestützt war. Kopernikus konnte die Einwände gegen seine Thesen nicht entkräften, daher hatte sie ja auch Galileo selbst noch bis zu den neuen Erkenntnissen, die sich aus der Weiterentwicklung des Teleskops ergaben, abgelehnt. Aber auch die Leistungsfähigkeit der neuen Teleskope war umstritten, da sie zwar zuverlässige Ergebnisse brachten, wenn man sie auf irdische Objekte richtete, nicht aber bei der Himmelsschau.³⁰ Galileo hatte daher auch unter Astronomen und Himmelskundlern seiner Zeit eine große Gegnerschaft.³¹ So lässt sich feststellen, dass man, selbst wenn man in anachronistischer Manier die relevanten Zeitgenossen Galileos in die Vertreter der Religion und die der Wissenschaft teilen wollte, den Konfliktlinien nicht näherkäme. Viel besser lässt sich die Galileo-Affäre verstehen, wenn man sie vor dem Hintergrund der schwindenden Macht der Kirche im Zeitalter der Reformation und des Dreißigjährigen Krieges sieht. Konservative Kräfte konnten sich gegen ihre progressiven Widersacher durchsetzen, weil die Galileo-Affäre eine Möglichkeit zur Machtdemonstration in Zeiten schwindender Anerkennung bot. So erscheint es plausibel, dass die Angelegenheit einen friedlichen Ausgang genommen hätte, wenn Galileo hundert Jahre früher gelebt hätte.³² Anstatt solcher Erklärungen haben sich im breiteren Bewusstsein antireligiöse Stereotype durchgesetzt, wie zum Beispiel dasjenige, nach dem die Kirche sich deshalb gegen das kopernikanische Weltbild stellte, weil ihr angeblicher  Siehe Finocchiaro, Defending Copernicus and Galileo, 165 – 66.  Siehe Maurice Finocchiarro, „The Galileo Affair“, in The Warfare between Science and Religion: The Idea that Wouldn’t Die, hrsg. von Jeff Hardin, Ronald Numbers und Ronald A. Binzley (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2018), 33.  Siehe hierzu Paul Feyerabend, Against Method (London: Verso, 2010), Kap. 8 – 10.  Finocchiarro, „The Galileo Affair“, 33.  Dafür spricht auch, dass vor Galileo der Rektor der Pariser Universität Johannes Buridan (gest. nach 1358), sein Schüler und Bischof Nikolaus von Oresme (gest. 1382), der Kardinal Nikolaus von Kues (gest. 1464) und bekanntermaßen Kopernikus (gest. 1543) die These von der Erdbewegung vertraten, ohne dabei größeres Aufsehen zu erregen; siehe Moritz, The Role of Theology in the History and Philosophy of Science, 29 – 30.

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narzisstischer Anthropozentrismus auf dem Glauben beharrte, der Mensch befinde sich im Mittelpunkt des Kosmos. So identifizierte Sigmund Freud die Kopernikanische Wende als eine von drei Kränkungen, die die Wissenschaft der Religion zugeführt habe. Mit der Wirklichkeit hat dies jedoch nichts zu tun. Im aristotelisch geprägten Denken der Vormoderne – und man kennt es ebenso aus dem Neuplatonismus – galt der Mittelpunkt des Kosmos (oder philosophisch ausgedrückt: die sublunare Sphäre) als der verächtlichteste Ort der Welt. Der Himmel bzw. die supralunaren Sphären waren ihm gegenüber massiv aufgewertet. Wenn überhaupt, hätte man also die Kopernikanische Wende als eine Erhöhung des Menschen betrachtet. Der Gedanke hingegen, dass der Glaube daran, im Zentrum des Kosmos zu stehen, die Wichtigkeit des Menschen symbolisiere, ist ein Produkt späterer Zeiten.³³ Eine Vielzahl weiterer Legenden, die den Mythos von der ewigen Feindschaft zwischen Wissenschaft und Religion nähren, sind im geschichtlichen Bewusstsein unserer Zeit bis heute präsent. Zu diesen Legenden gehören die Geschichte um das Märtyrertum Giordano Brunos im Namen der Wissenschaft;³⁴ die Vorstellung, dass man im Mittelalter geglaubt habe, die Erde sei flach;³⁵ die Idee, dass die Kirche die Leichensezierung³⁶ und das Impfen verboten habe; sowie die Überzeugung, dass Darwins Evolutionstheorie in religiösen Kreisen auf allgemeine Ablehnung gestoßen sei.³⁷ Harrison schreibt über die Funktion solcher Legenden: But these are myths not only because they are historically dubious, but also because they fulfill a traditional function of myth – that of validating a particular view of reality and a set of social practices. This accounts for the persistence of these myths in spite of the best efforts of historians of science. At the same time, the myths also serve to reinforce the boundaries of religion, which has a negative role to play in shoring up the identity of modern science.³⁸

 Siehe hierzu Dennis Danielson, „That Copernicanism Demoted Humans from the Center of the Cosmos“, in Galileo Goes to Jail and other Myths about Science and Religion, hrsg. von Ronald L. Numbers (Cambridge, Mass.; London: Harvard University Press, 2010), 50 – 58.  Jole Shackelford, „That Giordano Bruno was the First Martyr of Modern Science“, in Galileo Goes to Jail and other Myths about Science and Religion, hrsg. von Ronald L. Numbers (Cambridge, Mass.; London: Harvard University Press, 2010), 59 – 67.  Cormack Lesley, „That Medieval Christians Taught that the Earth was Flat“, in Galileo Goes to Jail and other Myths about Science and Religion, hrsg. von Ronald L. Numbers (Cambridge, Mass.; London: Harvard University Press, 2010), 28 – 34.  Katharine Park, „That the Medieval Church Prohibited Human Dissection“, in Galileo Goes to Jail and other Myths about Science and Religion, hrsg. von Ronald L. Numbers (Cambridge, Mass.; London: Harvard University Press, 2010), 43 – 49.  Harrison, The Territories of Science and Religion, 172.  Harrison, The Territories of Science and Religion, 173.

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Es sollte dabei auch nicht vergessen werden, dass die Konflikt-These nicht das einzige Konstrukt ist, das die szientistisch untermauerten Formen von Wissenschaft, die den Theologien grundsätzlich misstrauisch gegenüberstehen, hervorgebracht haben. Man denke hier nur an die mindestens seit dem 18. Jahrhundert bestehende Auffassung, die von einem Entwicklungsmodell des menschlichen Denkens ausgeht, demgemäß der Mythos die niedrigste, die Metaphysik (und Religion) die mittlere, und die Wissenschaft die höchste Stufe darstellt. August Comte (gest. 1857) und der bis in das 20. Jahrhundert reichende Positivismus, aber auch Anthropologen wie James Frazer (gest. 1941) mit seinem einflussreichen Werk The Golden Bough haben dieses Denken in akademischen Kreisen vergangener Zeiten akzeptanzfähig gemacht, und im breiteren Diskurs ist die Idee bis heute wirksam. Nachdem nun gezeigt wurde, dass die Behauptung vom wesensimmanenten Konfliktverhältnis zwischen Naturwissenschaft und Religion nicht haltbar ist, kann zu der zweiten in der Einleitung aufgeworfenen These szientistisch geprägter Weltverständnisse übergegangen werden, nämlich der Ansicht, dass die Naturwissenschaft im Gegensatz zur Theologie voraussetzungslos sei.

3 Die angebliche Voraussetzungslosigkeit der Naturwissenschaft Dass (Natur‐)Wissenschaft kein voraussetzungsloses Unterfangen ist, scheint zwar noch nicht im allgemeinen Bewusstsein der Wissenschaftsgemeinde oder gar der breiteren Bevölkerung verankert zu sein, gehört jedoch schon seit Längerem zum Allgemeinplatz wissenschaftstheoretischer Schriften, vor allem, wenn es darum geht, das Ideal positivistischer Auffassungen von Wissenschaft als metaphysikfreiem Welterkenntniszugang als Fiktion zu entlarven. Dessen ungeachtet wird im Allgemeinen – und im Speziellen im Sinne einer Abgrenzung von den „bekenntnisgebundenen“ Theologien – von der „Voraussetzungslosigkeit“ der Wissenschaften und der Philosophie gesprochen.³⁹ Sofern damit nicht eine naive Voraussetzungslosigkeit im absoluten Sinne gemeint ist, basiert dies auf der Annahme, dass im Gegensatz zu den Theologien die Wissenschaft jenseits der unhintergehbaren Voraussetzungen, die der Mensch als Mensch im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess mit sich bringt, keine zusätzlichen Vorannahmen postuliert. So heißt es bei Max Weber vor etwa hundert Jahren:  Die Ausdrücke Bekenntnisgebundenheit bzw. -orientiertheit werden problematisiert in Reinhard Schulzes Beitrag zu vorliegendem Sammelband.

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Keine Wissenschaft ist absolut voraussetzungslos, und keine kann für den, der diese Voraussetzungen ablehnt, ihren eigenen Wert begründen. Aber allerdings: jede Theologie fügt für ihre Arbeit und damit für die Rechtfertigung ihrer eigenen Existenz einige spezifische Voraussetzungen hinzu.⁴⁰

In diesem Sinne von Voraussetzungslosigkeit dürfte auch folgende Beschreibung der Philosophie von einem ihrer Fachvertreter zu verstehen sein: Philosophie ist stets am Anfang. Ihr Glanz und Elend bestehen darin, daß sie voraussetzungslos antritt und sich selbst begründen muß, wobei sie immer auf das Grundsätzliche und das Ganze zielt. Die Philosophie ist, das möchte ich herausstellen, immer etwas zu leistendes, sie hat die Aufgabe der intellektuellen Selbstverständigung.⁴¹

So ist die Voraussetzungslosigkeit auch heute noch ein beliebtes Abgrenzungskriterium zwischen Philosophie (falsafa) und Theologie (ʿilm al-kalām), um zum Beispiel die Muʿtaziliten im Gegensatz zu „philosophischen“ Denkern wie alFārābī (gest. 950) als „Theologen“ auszuweisen.⁴² Hier ist nicht der Ort, um das weiter auszuführen, aber meiner Meinung nach gibt es keinen dieses Abgrenzungskriterium rechtfertigenden Unterschied zwischen der aristotelischneuplatonischen Tradition als Voraussetzung für die falsafa und ihren gläubigen Anhängern wie al-Fārābī auf der einen Seite und den islamischen Offenbarungsschriften als Voraussetzung für den kalām und seinen gläubigen Anhängern wie dem Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār (gest. 1025) auf der anderen.⁴³ Das Credo von der Unwissenschaftlichkeit der Theologie aufgrund ihrer dogmatischen Gebundenheit wird auch immer dann wieder ins Feld geführt, wenn es um die Existenzberechtigung der Theologien im deutschen Wissenschaftssystem geht. So konstatiert der Staatsrechtslehrer Martin Kriele im Jahre 1990: Nach 1968 gab es das Bestreben, die Theologie von den Universitäten zu verbannen, weil sie keine voraussetzungslose Wissenschaft sei, die Voraussetzungslosigkeit aber zum Wesen der Wissenschaft gehöre. Es konnte sich nicht durchsetzen, hat aber anscheinend dazu beige-

 Max Weber, Wissenschaft als Beruf 1917/1919 – Politik als Beruf 1919, hrsg. von Wolfgang Mommsen und Wolfgang Schluchter (Mohr Siebeck, 1994), 21.  Friedrich Rapp in einer protokollierten Plenumsdiskussion, abgedruckt bei: Herbert Schnädelbach, „Philosophie als Wissenschaft und als Aufklärung“, in Philosophie und Wissenschaft, hrsg. von Willi Oelmüller (Paderborn: Schöningh, 1988), 222.  Ulrich Rudolph, „Einleitung“, in Philosophie in der islamischen Welt. 8. – 10. Jahrhundert, hrsg. von Ulrich Rudolph (Basel: Schwabe, 2012), xxx–xxxi.  Siehe hierzu auch Farid Suleiman, Ibn Taymiyya und die Attribute Gottes (Berlin; Boston: De Gruyter, 2019), 60 – 62.

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tragen, daß manche Theologen sich eifrig zeigten, die Theologie doch als voraussetzungslose Wissenschaft zu erweisen.⁴⁴

Dass sich auch die Islamische Theologie mit dem Vorwurf der fehlenden Voraussetzungslosigkeit – oder genauer: der ideologischen Voreingenommenheit – konfrontiert sehen muss, zeigt folgende Passage aus einem islamwissenschaftlichen Buch von Tilman Nagel zur Biographie des Propheten Muḥammad: Im Grundsätzlichen unterscheidet sich die Sicht der Muslime auf Mohammed von derjenigen der historisch Interessierten anderer Orientierung, seien sie Agnostiker, Atheisten oder religiös Gebundene. Die letztgenannten alle suchen Aufklärung über den Lebensweg jenes Mannes, der am Beginn des 7. Jahrhunderts in der Mitte Arabiens eine religiöse Bewegung schuf, die, von einem aggressiven Kampfgeist durchdrungen, rasch weite Gebiete Vorderasiens und Nordafrikas eroberte, ihrem Glauben unterwarf und zu einem Herrschaftsgebilde eigener Art zusammenfügte. Was waren die benennbaren Voraussetzungen dieses Geschehens, was die unvorhersehbaren, unableitbaren Wendungen, die es beeinflußten? Kurz, es geht den nicht durch den muslimischen Glauben geprägten Fragenden um die Erhellung und Darstellung eines Vorganges von weltgeschichtlicher Bedeutung. Das Geschehen ist unter Beachtung der methodischen Standards zu schildern, denen Historiographie in einer von Wissenschaft bestimmten, d. h. der Vorläufigkeit und der Revidierbarkeit unterliegenden Weitsicht zu genügen hat.⁴⁵

Auch wenn wohl einige Islamwissenschaftler*innen wie Clinton Bennett, die einen kritischeren Blick auf die westliche Rezeptionsgeschichte des Propheten Muḥammad haben, Nagel hier widersprechen würden,⁴⁶ so wird zumindest allgemein die Annahme mehr Zustimmung finden, dass die Islamische Theologie aufgrund ihrer „Bekenntnisgebundenheit“ an die säkulare Islamwissenschaft in puncto Objektivität nicht heranreicht.⁴⁷ Dies ist ein Ausläufer des Credos von der relativen Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaften, welches im Folgenden als unhaltbar aufgezeigt werden soll. Wir befinden uns heute, mit Charles Taylor gesprochen, in einem säkularen Zeitalter.⁴⁸ Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das moderne europäische Denken eine strukturelle Artverwandtschaft mit der griechischen Metaphysik und der von ihr stark beeinflussten christlichen Theologie hat. Dem neu-

 Martin Kriele, „Aktuelle Probleme des Verhältnisses von Kirche und Staat“, in Communio 19 (1990): 552.  Tilman Nagel, Mohammed. Zwanzig Kapitel über den Propheten der Muslime (München: Oldenbourg, 2010), 7.  Clinton Bennett, In Search of Muhammad (London; New York: Cassell, 1999).  Siehe das Zitat im Schlusskapitel des vorliegenden Artikels.  Taylor, Ein säkulares Zeitalter.

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zeitlichen Bewusstsein ist dieser Umstand nicht mehr in Erinnerung. Das liegt daran, dass das moderne Denken den Fortbestand metaphysisch-theologischer Elemente mit teils jahrtausendealter Geschichte durch eine säkularisierte Sprache verschüttet und durch seine innerweltliche Abgeschlossenheit jeglichen Transzendenzbezug aufgegeben zu haben vorgibt. Der Philosoph Eric Voegelin hat diesen Sachverhalt mit Bezug auf die Staatenbildung im neuzeitlichen Europa und dem Aufkommen von Massenbewegungen wie der im faschistischen Deutschland aufgedeckt. Totalitarismen wie den Nationalsozialismus bezeichnet Voegelin daher als politische Religion. Zudem baut laut Voegelin auch der laizistische Staat auf metaphysischen Grundlagen griechisch-christlicher Prägung auf, die er jedoch „in a-religiöse Kategorien übersetzt“.⁴⁹ Ein weiterer Philosoph, Karl Löwith, hat Ähnliches in seinem vielfach übersetzten Werk Meaning in History (1949) aufgezeigt, in dem er das Selbstverständnis der von Voltaire begonnenen Geschichtsphilosophie, demzufolge diese das wissenschaftliche Gegenstück zu der unwissenschaftlichen, da theologiegetriebenen Geschichtsschreiberei früherer Zeiten darstelle, einer genealogischen Untersuchung unterzieht. Diesem Selbstverständnis hält Löwith entgegen: Against common opinion that proper historical thinking begins only in modern times, with the eighteenth century, the following outline aims to show that philosophy of history originates with the Hebrew and Christian faith in a fulfilment and that it ends with the secularization of its eschatological pattern.⁵⁰

Nicht nur angesichts der Debatten jüngerer Zeit wie denen über das sogenannte „Ende der Geschichte“ lässt sich feststellen, dass die von Löwith angesprochenen säkularisierten eschatologischen Muster bis heute wirkmächtig sind. Im Folgenden sollen nun nicht die Voraussetzungen der Wissenschaft angeführt werden, wie sie etwa in wissenschaftstheoretischen Abhandlungen unter dem Stichwort der „Theoriebeladenheit“ erörtert werden. Auch sollen wissenssoziologische Betrachtungen ausgeklammert werden, die den wissenschaftlichen Tatsachen den ihnen durch individualistische und ahistorische Erkenntnistheorien verliehenen Schein der Objektivität berauben, indem sie diese Tatsachen als geschichtlich gewachsene Produkte der in Denkkollektiven organisierten Wis-

 Eric Voegelin, Die politischen Religionen, hrsg. von Peter J. Opitz (München: Fink, 1996 [1938]), 63.  Karl Löwith, Meaning in History (Chicago; London: University of Chicago Press, 1949), 1– 2. Die deutsche Ausgabe trägt den Titel Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie.

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senschaftsgemeinde dekonstruieren.⁵¹ Eine entsprechende Darstellung wäre zwar relevant, würde aber den Umfang des Artikels sprengen. Der Fokus soll daher begrenzt werden auf die von Voegelin und Löwith beschriebenen neuzeitlichen Säkularisierungsbestrebungen alteingesessener philosophisch-theologischer Denkelemente. Dabei soll verdeutlicht werden, dass die moderne Naturwissenschaft keine voraussetzungslose Welterkenntnisform darstellt, die von allen Menschen angestrebt, aber nur im neuzeitlichen Europa realisiert wurde, sondern vielmehr eine ist, die, so Georg Picht, „aus der Säkularisierung einer Reihe von theologischen Grundlehren erst möglich geworden ist“.⁵² Die folgenden Betrachtungen fußen weitestgehend auf den Schriften und Vorlesungen Pichts, die zu ihrem großen Teil darauf abzielen, die Geschichtlichkeit dieser säkularisierten Grundlehren durch eine akribisch durchgeführte Ahnenforschung sichtbar zu machen. Wenn Picht die moderne Naturwissenschaft als historisch kontingentes Produkt europäischer Geistesgeschichte darstellt, geht es ihm nicht darum, ihren stetig wachsenden Erkenntnisumfang als bloße Fiktion auszumachen. Vielmehr steht für Picht die Richtigkeit vieler naturwissenschaftlicher Aussagen über die Welt außer Frage. Gleichwohl beschreibt er die Naturwissenschaft als unwahr. Damit möchte er sagen, dass er die ihr bis in ihre Substrukturen eingravierte Metaphysik nicht nur für falsch hält, sondern ihr gar eine destruktive Kraft im Umgang mit ihrem Erkenntnisobjekt, also der Natur, zuschreibt. Für Picht gilt die Annahme: „Eine Wissenschaft, die die Natur zerstört, kann nicht wahr sein.“⁵³ Er kann also von der Unwahrheit der Naturwissenschaften sprechen, weil er die Summe der von ihnen hervorgebrachten richtigen Einzelerkenntnisse nicht als ein Wahrheitskriterium ansieht. Als Euklid vor über zweitausend Jahren in seinem Werk Elemente die Geometrie auf das Fundament von Axiomen und Postulaten stellte, versuchte er, die Mathematik an das in den Jahrhunderten vor ihm aufkommenden Ideal von Wissenschaft (episteme) anzugleichen. In anderen Kulturen, zum Beispiel der babylonischen, hatte man erfolgreich Mathematik betrieben, ohne von diesem Wissenschaftsideal Kenntnis gehabt zu haben. Euklid hingegen setzte einen neuen Standard, der solch breite Akzeptanz erfuhr, dass sein Werk bis heute als

 Siehe hierzu die folgende Arbeit, die auch Thomas Kuhns „mob psychology“ bei der Analyse wissenschaftlicher Revolutionen stark geprägt hat: Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hrsg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, 12. Aufl. (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2019).  Georg Picht, „Einleitung“, in Theologie – was ist das?, hrsg. von Georg Picht und Enno Rudolph (Stuttgart; Berlin: Kreuz, 1977), 39.  Georg Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte (Stuttgart: Klett-Cotta, 1989), 313.

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die einflussreichste Schrift in der Geschichte der Mathematik gilt. Spätestens bei Aristoteles findet sich die Idee vom systematisch-axiomatischen Aufbau des Wissens und damit verknüpft der Anspruch auf Letztbegründung, der sich durch die aristotelische Substanzontologie absichern lässt.⁵⁴ Die Wahrheit der Wissenschaft liegt nicht in einer alltagssprachlich verstandenen Übereinstimmung von Aussage und Sachverhalt begründet, sondern in der ontologischen Konzeption von Wirklichkeit als eine der göttlichen Vernunft entspringenden zeitlosen Ordnung (kosmos). Hier liegt das Fundament der Korrespondenztheorie von Wahrheit, also dem Glauben von der adaequatio rei et intellectus, an dem bis heute wissenschaftstheoretische Strömungen wie zum Beispiel die des Kritischen Rationalismus festhalten.⁵⁵ Die Vernunft des Menschen, also der logos, kann über das begriffliche Denken, dessen Gesetzmäßigkeiten in der Logik beschrieben werden, den kosmos erkennen.⁵⁶ In dieser Tradition der griechischen Philosophie sind göttliche und menschliche Vernunft nicht substanziell, sondern nur graduell voneinander verschieden. Das Ziel der Philosophie besteht darin, diesen graduellen Unterschied zu verkleinern und sich damit, soweit das menschenmöglich ist, der göttlichen Vernunft anzunähern (homoiosis theo kata to dynaton). ⁵⁷ Je mehr dies gelingt, desto mehr vermag man die ewig gültigen Grundstrukturen der Wirklichkeit – also die, die nicht dem Werden und Vergehen ausgesetzt sind – erschauen, und zwar auf die Weise, wie Gott dies tut. Diese Schau, griechisch theoria genannt, bildet bei Aristoteles das Kernelement bei der Verwirklichung der eudaimonia; ihr Ort ist daher im bios theoretikos bzw. in der vita contemplativa. Diese Grundstruktur lebt als metaphysischer Unterbau der modernen Wissenschaften fort, auch wenn an ihm in der frühen Neuzeit gewichtige Veränderungen vorgenommen wurden. Ein wichtiger Schritt hin zur Säkularisierung der eben beschriebenen griechischen Vorstellung von Wissenschaft geschieht im Zuge der Rezeption der kartesischen Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa, wobei für Descartes selbst die Gottesidee noch von zentraler Bedeutung ist.

 Siehe Michael Hoffmann, „Axiomatisierung zwischen Platon und Aristoteles“, in Zeitschrift für philosophische Forschung 58, Nr. 2 (2004): 224– 45.  Der bekannteste Vertreter dieser Strömung, Karl Popper, sah die Korrespondenztheorie durch Alfred Tarskis Wahrheitsdefinition rehabilitiert. Damit lag er jedoch falsch; siehe hierzu Carlo Cellucci, Rethinking Knowledge: The Heuristic View (Cham: Springer, 2017), 97– 99. Tarskis Wahrheitswerte beziehen sich rein auf das Verhältnis von Meta- und Objektsprache, nicht aber auf Aussage und Wirklichkeit. Sein Ansatz kann also im Gegensatz zur Korrespondenztheorie den Realismus nicht legitimieren, der im Kritischen Rationalismus vorausgesetzt wird.  Genauer gesagt, beschreibt die Logik die Gesetze des Seins, die des Denkens hingegen nur in abgeleiteter Weise, insofern die Strukturen des Seins und des Denkens in der aristotelischen Tradition als kongruent erachtet werden.  Platon, Theaitetos, 176b.

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Das ist die Geburtsstunde der Idee vom autonomen Subjekt (res cogitans), dem eine von ihm radikal geschiedene Natur (res extensa) gegenübersteht. Der Garant der Wahrheit ist nicht mehr eine durch die göttliche Vernunft ewig bestehende Struktur der Wirklichkeit und Wesenhaftigkeit ihrer Einzeldinge, so wie das in moderat-realistischen Ontologien vorausgesetzt wurde, sondern die logische Gültigkeit von Denkoperationen in der Vernunft des gegenüber der Natur bestehenden autonomen Bewusstseins.⁵⁸ Der Naturbegriff wird heruntergebrochen auf die Summe der erkennbaren Einzeldinge, deren Ordnung mathematisch erfasst und in Naturgesetze mit empirischem Gehalt ausformuliert werden kann. Insofern die Natur der Mathematik gehorcht, die Mathematik der Logik und diese nichts anderes darstellen soll als die Gesetzlichkeit des menschlichen Denkens, hält man an der griechischen Überzeugung von der Kongruenz der Strukturen der Natur und des Denkens fest.⁵⁹ Für die Griechen (und auch noch für Descartes) war der Philosophengott der Garant dafür, dass der Mensch einen Zugang zur Wahrheit hat; in der modernen Wissenschaft liegt dieser Zugang hingegen im autonomen Subjekt selbst begründet, das damit seine eigenen Voraussetzungen schafft.⁶⁰ Die Idee der Wissenschaft als objektive Welterkenntnisform gedeiht auf diesem Boden. Picht kommentiert diese Entwicklung mit den Worten: „Hier macht die Wissenschaft sich selbst zur Religion; das Streben nach dem Ideal der Voraussetzungslosigkeit erscheint als ein Streben nach Gottähnlichkeit, als eine ὁμοίωσις θεῷ.“⁶¹ Die theoria als Gottesschau wird im neuzeitlichen Theoriebegriff zur Selbstschau in der auf der Logik fußenden mathematisierten Form der Naturbeschreibung. Bei Picht liest man dazu: Der sogenannte „Gott der Philosophen“ manifestiert sich in jeder Form der Erkenntnis, die wir bis heute als „Theorie“ bezeichnen. Die Evidenz des axiomatischen Denkens, die absolute Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch, der Begriff der „Substanz“, die Kategorienlehre und die Vorherrschaft der Logik erklären sich erst, wenn man erkennt, daß sich in diesen Grundstrukturen des europäischen Denkens eine Erscheinung des Göttlichen dar-

 Siehe auch Georg Picht, „Der Sinn der Unterscheidung von Theorie und Praxis in der griechischen Philosophie“, in Wahrheit – Vernunft – Verantwortung, hrsg. von Georg Picht (Stuttgart: Klett, 1969), 137– 38.  Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte, 200 – 1.  Diese Neuverortung auf der erkenntnistheoretischen Ebene kann analog gesehen werden zu dem Übergang von einer durch Gottesgnadentum legitimierten Herrschaft hin zum Nationalstaat, der sich selbst legitimiert.  Georg Picht, „Die Voraussetzungen der Wissenschaft“, in Wahrheit – Vernunft – Verantwortung, hrsg. von Georg Picht (Stuttgart: Klett, 1969), 14.

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stellt, deren Herkunft aus der griechischen Mythologie wir noch in allen wesentlichen Schritten nachzeichnen können.⁶²

Das Bild der Wissenschaft als metaphysikfreier, objektiver Welterkenntniszugang, das vor allem im Zeitalter des Positivismus hochgehalten wurde, hat indes bereits seit dem 19. Jahrhundert deutliche Risse bekommen. Noch bis etwa in die Zeit Kants hinein bestand an der Allgemeingültigkeit der euklidischen Geometrie kein Zweifel. In den Jahrzehnten danach konnte man jedoch zeigen, dass etwa das zu dieser Geometrie zugehörige Parallelenaxiom und die Aussage, dass die Winkelsumme eines Dreiecks stets 180 Grad beträgt, keine objektive Beschreibung der Wirklichkeit sind, sondern lediglich unter der Voraussetzung euklidischer Begriffs- und Raumkonzeptionen Bestand haben. Einsteins Relativitätstheorie lehrt darüber hinaus, dass man keine absolute, sondern immer nur eine bezugssystemspezifische Beobachterposition einnehmen kann. Nach Heisenberg gilt zudem, dass wir als Beobachter selbst daran mitwirken, was wir beobachten. Der Mathematiker Grünbaum folgert aus ähnlichen Erkenntnissen, dass Raum und Zeit metrisch amorph sind, das heißt, dass es sich bei ihrer Ausmessung immer nur um Zuschreibungen handelt, nicht aber um Beschreibungen angeblicher objektiv vorliegender Eigenschaften.⁶³ Auch hat das Aufkommen neuer Logiken, die als unumstößlich geglaubte Axiome der klassischen Logik, wie zum Beispiel das Bivalenzprinzip, verwerfen, aufgezeigt, dass die klassische Logik keine universale Gültigkeit besitzt, sondern ein historisch kontingentes Kulturprodukt der Griechen ist. Schließlich seien noch Gödels Unvollständigkeitssätze angeführt, mit denen er bewiesen hat, dass sich selbst die präziseste aller Wissenschaften, nämlich die Mathematik, auf kein widerspruchsfreies Fundament stellen lässt, aus dem sich alle gültigen mathematischen Terme ableiten lassen.⁶⁴ Zu den metaphysischen Voraussetzungen der modernen Naturwissenschaft gehört jedoch immer noch der Glaube, dass sich die Denkstrukturen des Menschen mit den Seinsstrukturen der Wirklichkeit decken. Zwar haben einflussreiche wissenschaftstheoretische Strömungen wie zum Beispiel der Kritische Rationalismus vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Entwicklungen die Idee eines Gottesstandpunkts auf die Natur verworfen und sie durch Konzepte wie

 Picht, „Einleitung“, 14.  Siehe Adolf Grünbaum, Philosophical Problems of Space and Time, 2. stark erw. Aufl. (Dordrecht: Springer, 1973).  Siehe dazu Dirk Hoffmann, Die Gödel’schen Unvollständigkeitssätze. Eine geführte Reise durch Kurt Gödels historischen Beweis (Berlin; Heidelberg: Springer, 2017).

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die der „Wahrheitsnähe“ ersetzt.⁶⁵ Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass die Wissenschaft trotz aller erkenntnistheoretischer Hürden, derer sich der Mensch nicht entziehen kann, in ihrem Fortgang zu immer besseren Beschreibungen der objektiven Realität kommt. Jedoch hält dieser Ansatz, der auf einer korrespondenztheoretischen Auffassung von Wahrheit beruht,⁶⁶ die Idee von der Gottesperspektive grundsätzlich aufrecht, wenn auch in abgeschwächter Form.⁶⁷ Dies gilt auch für ihre Gegenstücke, die von Skeptikern oder gar Antirealisten vertreten werden, insofern sie sich noch im Rahmen der philosophischen Problemstellung vom Verhältnis von Denken und objektiver Wirklichkeit befinden. Ohne dies an dieser Stelle weiter auszuführen zu können, sei gesagt, dass meiner Ansicht nach erst der sogenannte linguistic turn, so wie er durch die Philosophie Wittgensteins hervorgebracht wurde, eine echte Abkehr von der Idee des Gottesstandpunkts in den Wissenschaften bietet.⁶⁸ Eine weitere folgenschwere Transformation der oben besprochenen griechischen Metaphysik fand ebenfalls in der frühen Neuzeit statt. So wurde die Idee des „theoretischen Lebens“, also der vita contemplativa, als Endziel moralischer Lebensführung in den Sinnhorizont des in der Neuzeit aufkommenden Kapitalismus verfrachtet, in dem die wissenschaftliche Erkenntnis kein Endziel, sondern ein Instrument möglichst zweckmäßiger Naturbeherrschung darstellt. Der Baconsche Ausspruch „Wissen ist Macht“ und die kartesische Beschreibung des Menschen als ein „maître et possesseur de la nature“ veranschaulichen den Mentalitätswechsel dieser Zeit.⁶⁹ Das Aufkommen nominalistischer Theologien bereitete voluntaristischen Vorstellungen von Gott den Boden, was wiederum die Verdrängung aristotelischer Naturauffassungen zugunsten mechanistischer Alternativen nach sich zog, die nur noch Wirk- und keine Finalursachen kennen.⁷⁰

 Karl Popper, Objective Knowledge: An Evolutionary Approach, überarb. Aufl. (Oxford: Clarendon Press, 1979), v. a. 52– 60.  Siehe hierzu oben, Fn. 55.  Die Gottesperspektive wird durch die des „super-human“ ersetzt; siehe Wolfgang Künne, Conceptions of Truth (Oxford: Clarendon Press, 2005), 23 – 24.  Eine Hinführung zu diesem Thema findet sich bei Michael Zimmermann, „Karl Popper und Ludwig Wittgensteins analytische Philosophie“, in Handbuch Karl Popper, hrsg. von Giuseppe Franco (Wiesbaden: Springer, 2019), 223 – 37. Zimmermans Etikettierung von Wittgenstein als Antirealist halte ich indes für verfehlt.  Siehe Georg Picht, „Struktur und Verantwortung der Wissenschaft im 20. Jahrhundert“, in Wahrheit – Vernunft – Verantwortung, hrsg. von Georg Picht (Stuttgart: Klett, 1969), 353 – 54.  Siehe Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 199 – 200. Siehe hierzu auch allgemein Michael Allen Gillespie, The Theological Origins of Modernity (Chicago; London: The University of Chicago Press, 2008).

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Traumatische Ereignisse wie das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 stärken zudem die Überzeugung, dass niemand dem Menschen den Kampf um die Verbesserung seiner Lebensbedingungen abnehmen wird, man also auch nicht länger auf das von der Religion vorgegebene Narrativ der göttlichen Fürsorge vertrauen darf.⁷¹ Naturbeherrschungsglaube und eine aufkommende Ideologie des Fortschritts wurden genährt durch den unheimlichen Erfolg, den die Wissenschaft als Produktivkraft im einsetzenden europäischen Industrialisierungsprozess hatte, sodass sich die Wissenschaft den Nimbus der Überlegenheit gegenüber allen anderen Welterkenntnisformen, insbesondere der Philosophie und Theologie, erwerben konnte. Dieser Nimbus hat erst im 20. Jahrhundert deutliche Kratzer erhalten, ausgelöst u. a. durch Zivilisationskatastrophen wie Auschwitz und Hiroshima sowie durch das wachsende Bewusstsein um die Gefahr, dass die moderne Wissenschaft eine Technologisierung in Gang gesetzt haben könnte, die unseren Planeten in einen für uns lebensfeindlichen Ort zu verwandeln droht. Dass dies ein Umdenken bewirkt hat, zeigt sich zum Beispiel daran, dass zentrale Elemente der Feyerabendschen Kritik an der Wissenschaftsideologie, die im letzten Jahrhundert noch oft als ein nicht ernst zu nehmender Auswuchs eines abstrusen Anarchismus gebrandmarkt wurde, im heutigen akademischen Mainstream weithin angekommen sind.⁷² Mit Picht lässt sich die moderne Wissenschaft als eine „angewandte Metaphysik“ verstehen.⁷³ Es war mein Anliegen, diese Beschreibung, die er in seinem umfangreichen Schriftenkorpus zu belegen versucht, auf wenigen Seiten plausibel zu machen. Zumindest meine ich, aufgezeigt zu haben, dass ein wie auch immer geartetes Kriterium der „Voraussetzungslosigkeit“ grundsätzlich kein adäquates Mittel darstellen kann, um zwischen „wissenschaftlichen“ und „unwissenschaftlichen“ Erkenntnisdisziplinen zu unterscheiden.

4 Die Kriterien von Wissenschaftlichkeit Die Frage, wie man Wissenschaften von allem, was nicht als Wissenschaft zu gelten hat, abgrenzen kann, hat eine lange Geschichte und ist seit Karl Popper

 Siehe A. Betâmio de Almeida, „The 1755 Lisbon Earthquake and the Genesis of the Risk Management Concept“, in The 1755 Lisbon Earthquake: Revisited, hrsg. von Luiz A. Mendes-Victor u. a. (Dordrecht: Springer, 2009), 147– 66.  Siehe hierzu die Sonderausgabe der Zeitschrift Studies in History and Philosophy von 2016 mit dem Titel Reappraising Feyerabend; Ian Kidd, „What’s so Great about Feyerabend? Against Method, Forty Years on“ (Review der Neuaufl. von Against Method), in Metascience 24 (2015): 344.  Siehe z. B. Picht, „Einleitung“, 18.

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als „Demarkationsproblem“ bekannt. Die Bestrebungen unserer Zeit, „gute“ Wissenschaft von „schlechter“ klar zu unterscheiden, um erstere reinzuhalten, haben ihren Ausgangspunkt in dem Drang der Aufklärung, „gültiges“ Wissen von „ungültigem“, wie zum Beispiel Aberglauben, klar zu unterscheiden.⁷⁴ Popper schlug als Kriterium der Wissenschaftlichkeit seine These der Falsifizierbarkeit vor. Auch wenn dieser Vorschlag auf einige Akzeptanz stieß, hat er sich doch letztlich nicht durchgesetzt. Im Jahre 1983 argumentierte Larry Laudan in einem einflussreichen Artikel dafür, dass es sich bei der Demarkationsfrage um ein Pseudoproblem handele.⁷⁵ Der Artikel bewirkte, dass das Interesse am Demarkationsproblem tatsächlich zumindest zeitweilig stagnierte; letztlich konnte sich aber auch Laudans Position nicht durchsetzen. Es lässt sich jedoch eine weitgehende Einigkeit bezüglich der Annahme feststellen, dass es kein Wesen der Wissenschaft gibt, über dessen Beschreibung man zu den notwendigen und hinreichenden Kriterien von Wissenschaftlichkeit gelangen könnte. Das gilt nicht nur für den breiten Begriff von Wissenschaft, der sich auch auf die Natur-, Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften erstreckt, sondern auch für den enger gefassten science-Begriff. Zusätzliche Komplexität erhält das Demarkationsproblem, wenn man die Wissenschaft nicht nur von Pseudowissenschaften wie der Astrologie, sondern auch von Nicht-Wissenschaften wie der Logik und vom Alltagswissen abgrenzen möchte. Auch wenn die Hoffnung aufgegeben wurde, notwendige und hinreichende Kriterien für Wissenschaftlichkeit zu finden, ist es im Regelfall doch sehr wohl möglich, konkrete Theorien oder propositionale Aussagen auf ihre Wissenschaftlichkeit hin zu überprüfen. Daher ist man Laudan nicht darin gefolgt, das Demarkationsproblem aufzugeben; vielmehr lässt sich beobachten, dass die schon jetzt unübersichtliche Fülle an Veröffentlichungen zum Thema stetig zunimmt.⁷⁶ Ein aus meiner Sicht überzeugender Ansatz, dem Demarkationsproblem beizukommen, besteht darin, den Wissenschaftsbegriff als einen Familienbegriff im Wittgensteinschen Sinne aufzufassen, wie es in der Forschung schon mehrfach unternommen wurde, zum Beispiel von Gürol Irzik und Robert Nola.⁷⁷ Das

 Siehe Thomas Nickles, „The Problem of Demarcation: History and Future“, in Philosophy of Pseudoscience: Reconsidering the Demarcation Problem, hrsg. von Massimo Pigliucci und Maarten Boudry (Chicago: The University of Chicago Press, 2013), 105.  Larry Laudan, „The Demise of the Demarcation Problem“, in Physics, Philosophy and Psychoanalysis: Essays in Honour of Adolf Grünbaum, hrsg. von Robert S. Cohen und Larry Laudan (Dordrecht: Springer, 1983), 111– 27.  Ein Überblick findet sich bei Nickles, „The Problem of Demarcation“.  Gürol Irzik und Robert Nola, „A Family Resemblance Approach to the Nature of Science for Science Education“, in Science & Education 20 (2011): 591– 607.

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bedeutet, dass sich der Ausdruck „Wissenschaft“ nicht deshalb sinnvoll auf unterschiedlichste Disziplinen von den Agrarwissenschaften bis hin zu den Zentralasienstudien zur Anwendung bringen lässt, weil seine Denotata über ein gemeinsames Wesen verfügen, sondern weil sie durch ein Netz von zueinander bestehenden Ähnlichkeiten zusammengehalten werden. Diese Ähnlichkeit setzt keine Schnittmenge von Eigenschaften der Wissenschaften voraus, über welche man das Wesen der Wissenschaften ermitteln könnte. Irzik und Nola können so die Einheit und Vielfalt des science-Begriffs (den sie ausschließlich im Sinne von Naturwissenschaften verstehen) bewahren und zum Beispiel die theoretische Physik als Naturwissenschaft auszeichnen, trotz ihrer fehlenden empirischen Dimension. Dasselbe gilt für die Evolutionsbiologie vor dem Hintergrund, dass sie nicht in der Lage ist, den für die Naturwissenschaften sonst typischen Anspruch zu erfüllen, Vorhersagen über die Zukunft zu machen.⁷⁸ Erweitert man den Blick und bezieht die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften mit ein, verdeutlicht sich der Vorteil des Ansatzes von der Familienähnlichkeit gegenüber denen, die von hinreichenden und notwendigen Elementen von Wissenschaftlichkeit ausgehen. So liest man in einem rechtswissenschaftlichen Handbuch jüngerer Zeit: Die Kriterien von Wissenschaftlichkeit, an denen auch die akademische Jurisprudenz gemessen wird, sind eigentlich nicht sehr anspruchsvoll. Es wird kein strenges ‚Sinnkriterium‘ formuliert, keine Falsifizierungsmöglichkeit eingefordert, es muss nicht unbedingt quantifiziert werden können, es kann auch ohne Experimente gehen […]. Das Postulat der Wertfreiheit wird nicht rigide erhoben […]. Es werden keine Theorien im Sinne einer Menge von Hypothesen zur Erklärung und Prognose von Phänomen [sic] formuliert, die empirisch überprüft werden können. Das juristische Verständnis von ‚Theorie‘ liegt völlig jenseits dessen, was in anderen Wissenschaften darunter verstanden wird […]. Es gibt keine eigenständige Methodologie der Rechtswissenschaft.⁷⁹

Diesem Ansatz zufolge rechtfertigt die akademische Jurisprudenz ihren Wissenschaftsstatus aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu anderen akademischen Disziplinen. Ohne im Detail auf diese Ähnlichkeitsbeziehungen einzugehen, sei im Folgenden eine Eigenschaft hervorgehoben, die aus meiner Sicht zentral für die Debatte um die Wissenschaftlichkeit der Theologien ist. Diese Eigenschaft, die wohl nicht nur die Rechtswissenschaft, sondern überhaupt jede akademische Disziplin haben muss, um als Wissenschaft anerkannt zu werden, liegt darin, dass man von der Disziplin erwarten können muss, gültiges Wissen zu produzieren. Tatsächlich scheint hier gar ein Verhältnis der Implikation zu bestehen, woraus natürlich  Irzik und Nola, „A Family Resemblance Approach“, Abschnitt 3.  Rottleuthner, „Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft“, 252– 53.

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nicht folgt, dass diese Eigenschaft hinreichend für den Begriff der Wissenschaftlichkeit ist. Es ist, wie gesagt, womöglich diese Eigenschaft, die den zentralen Streitpunkt bei den Debatten um den Wissenschaftscharakter der Theologie ausmacht. Wie hoch die Bereitschaft ist, ein bestimmtes Wissen als gültig anzuerkennen, hängt nun maßgeblich ab vom Maß an Konformität zwischen den Vorannahmen, auf dem dieses Wissen gründet, und dem, was Wittgenstein als „Weltbild“ bezeichnet. Das Weltbild setzt sich zusammen aus der Fülle an sogenannten grammatischen Sätzen, die für unseren in der Sprache ausgedrückten Weltzugang so basal sind, dass sie selbst keiner Wahrheitsprüfung mehr unterliegen können. Vielmehr setzen sie Semantik und Referenz der Ausdrücke einer Sprache fest, mit der man sich der Welt zuwendet, und bestimmen so die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit und Gültigkeit in dieser Sprache.⁸⁰ Das Weltbild markiert den Rahmen und den Inhalt dessen, was als vernünftiges Denken und Handeln verstanden wird.⁸¹ Wittgenstein schreibt: 94. Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide. 95. Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehören. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln, lernen.⁸²

Es soll betont werden, dass es bei der angesprochenen Konformität nicht um die Grundüberzeugungen oder Handlungen eines einzelnen Akteurs in der Wissenschaft geht (denn die können sehr wohl stark vom vorherrschenden Weltbild und somit auch von allgemein anerkannten Rationalitätsstandards abweichen), sondern um die strukturgebenden Grundannahmen, die in den jeweiligen Wissenschaftsdisziplinen als gültig erachtet werden, ja ohne die sich diese Disziplinen in ihrer Gestalt nicht aufrechterhalten ließen.⁸³ Die Bewertung des Wissenschaftscharakters einer Disziplin hängt nun meines Erachtens maßgeblich davon ab,

 Wilheim Lütterfelds, „Wittgensteins Weltbild-Glaube. Ein vorrationales Fundament unserer Lebensform?“, in Wittgenstein y el Círculo de Viena. Wittgenstein und der Wiener Kreis, hrsg. von Jesús Padilla Gálvez (Cuenca: Ed. de la Universidad de Castilla-La Mancha, 1998), 136.  Lütterfelds, „Wittgensteins Weltbild-Glaube“, 138.  Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, hrsg. von G. E. M. Anscombe, 16. Aufl. (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2019), 139.  Der Ausdruck „Grundannahmen“ soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach Wittgenstein das Weltbild gleichzusetzen ist mit der Art und Weise, wie wir unser Leben leben. Das Weltbild ist also nicht der Grund oder das Fundament dafür, dass z. B. Physiker*innen ein Experiment auf diese oder jene Weise durchführen, sondern die Weise selbst ist das Weltbild.

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wie sehr diese Grundannahmen einer Disziplin mit der Grammatik des vorherrschenden Weltbilds in Einklang gebracht werden können. Dabei wird nicht die Disziplin selbst, sondern ihr Verhältnis zum Weltbildglauben betrachtet. Der Physik zum Beispiel wird also die Wissenschaftlichkeit nicht aufgrund ihrer selbst attestiert, sondern deswegen, weil die ihr zugrundeliegenden metaphysischen Ideen von der raumzeitlichen und naturgesetzlich-deterministischen Abgeschlossenheit ihres Untersuchungsgegenstandes,⁸⁴ von der Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie sowie von einer wertfreien und entteleologisierten Natur mit dem vorherrschenden Weltbild im Wittgensteinschen Sinne im Einklang stehen. Dahingegen hat sich in Europa durch den im 16. Jahrhundert aufkommenden Deismus und die von ihm in gewisser Weise abhängige Entstehung des modernen Atheismus im 17. Jahrhundert das vorherrschende Weltbild dahingehend verändert,⁸⁵ dass die Wissenschaftlichkeit einer Disziplin strittig wurde, die von der metaphysischen Idee eines Schöpfergottes ausgeht, der aktiv in das Weltgeschehen eingreift (und dies möglicherweise gar außerhalb des Rahmens der Naturgesetze, also zum Beispiel durch Wunder). Dieser Streit drückt sich etwa in der Behauptung aus, Wissenschaftlichkeit setze einen Atheismus auf der Methodenebene voraus, sodass Theologie und Wissenschaft als gegenseitig ausschließende Erkenntnisformen erscheinen müssen. Dieser Behauptung jedoch kann man mit guten Gründen widersprechen.⁸⁶ Das Verhältnis zwischen den grammatischen Sätzen eines Weltbilds und den Voraussetzungen einer Wissenschaft darf weder dichotomisiert noch statisch aufgefasst werden. Vielmehr sind Überlappungen und gegenseitige Beeinflussungen stets anzunehmen. Die Physik konnte sich bezüglich Form und Inhalt immer wieder neu an die aktuelle Verfasstheit des vorherrschenden Weltbildglaubens anpassen, sodass sie in vielerlei Gestalten aufgetreten ist, die zueinander inkommensurabel sind. Selbiges gilt für die Theologie, die jedoch seit der Moderne in so zentralen Annahmen mit dem gängigen Weltbildglauben in Konflikt zu stehen scheint, dass eine Anpassung einer Auflösung gleichkäme. Dies ist nun kein grundsätzlich theologiespezifisches Problem; vielmehr könnte Ähnli-

 Abgeschwächt wird diese Idee seit einiger Zeit durch die Annahme der Zufälligkeit auf der Quantenebene.  In der detailreichen Darstellung der europäischen Entwicklung hin zur Säkularität in den letzten fünfhundert Jahren beschreibt Taylor den Deismus als „Zwischenstation auf dem Weg zum heutigen Atheismus“; siehe Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 460, passim.  Siehe Holm Tetens, „Müssen Theologen methodische Atheisten sein? Überlegungen zu einem vermeintlichen Dilemma, den Wissenschaftsanspruch der Theologie einzulösen“, in Die Wissenschaftlichkeit der Theologie. Historische und systematische Grundlagen, hrsg. von Benedikt Paul Göcke (Münster: Aschendorff, 2018), 189 – 201.

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ches auch der Physik widerfahren, vorausgesetzt, es ergäbe sich eine entsprechende tiefgreifende Veränderung im Weltbild, die jedoch zumindest aus heutiger Sicht alles andere als wahrscheinlich ist.

5 Schlussbetrachtung Die in der Religionssoziologie vorgebrachte Säkularisierungsthese, nach der die Religionen in den modernen Gesellschaften auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit seien, hat sich nicht durchgesetzt. Im Gegenteil ist in den modernen Gesellschaften eher eine steigende Relevanz von Religion zu beobachten, und es ist gar von der „Wiederkehr der Götter“ die Rede.⁸⁷ Im universitären Bereich spiegelt sich diese Entwicklung in der im Jahre 2010 vom deutschen Wissenschaftsrat vorgebrachten Empfehlung, die Präsenz christlicher, jüdischer und islamischer Theologien im deutschen Universitätssystem zu stärken bzw. in die Wege zu leiten.⁸⁸ Das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung setzte diese Empfehlung nicht nur zügig um, sondern es gab auch erstaunlich wenig aktive Gegenstimmen von theologiekritischer Seite zur Position des Wissenschaftsrates.⁸⁹ Zu den bereits bestehenden universitären Standorten Islamischer Theologie ist kürzlich ein weiterer hinzugekommen, nämlich an der HumboldtUniversität zu Berlin, und ein Ende des Wachstums dieser noch jungen Disziplin ist aktuell noch nicht abzusehen. Daraus nun abzuleiten, dass die Wissenschaftlichkeit der Islamischen Theologie als unstrittig gilt, wäre aber voreilig. So liest man in der eben genannten Empfehlung des Wissenschaftsrates auch Folgendes: In der Islamwissenschaft war es bis vor kurzem in Deutschland weder Praxis noch vorstellbar, Muslime auf eine islamwissenschaftliche Professur zu berufen. Verbreitet bestand die Furcht, dass Muslime zu einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Islam nicht fähig seien.⁹⁰

Zwar bezieht sich das auf die Besetzungspraxis von Professuren innerhalb der Islamwissenschaft; wer allerdings befürchtet, dass Muslim*innen zur wissen Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur (München: Beck, 2004).  Wissenschaftsrat, Empfehlung zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen (Berlin, 2010).  Magnus Striet, „Keine Universität ohne Theologie. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates fordern heraus“, Herder Korrespondenz 9 (2010): 451– 56.  Wissenschaftsrat, Empfehlung, 13.

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schaftlichen (also nicht allein zur islamwissenschaftlichen) Auseinandersetzung mit dem Islam nicht fähig sind, wird wohl auch Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Islamischen Theologie haben. Die ganze Breite von möglichen Gründen für Zweifel am Wissenschaftscharakter der (Islamischen) Theologie als akademische Disziplin konnte in dem vorliegenden Artikel nicht aufgegriffen werden. Beleuchtet wurden daher nur drei Thesen, bei denen davon ausgegangen wurde, dass sie diese Furcht bzw. diese Zweifel maßgeblich nähren. Alle drei Thesen haben sich als unhaltbar erwiesen. Es hat sich darüber hinaus jedoch gezeigt, dass, wenn auch die Wissenschaften allesamt auf ihren jeweiligen metaphysischen Fundamenten errichtet sind, dasjenige der Theologie das meiste Konfliktpotenzial gegenüber dem in den modernen Gesellschaften vorherrschendem Weltbild birgt. Es wurde versucht, deutlich zu machen, dass darin einer der Kernpunkte des Streites um die Wissenschaftlichkeit der Theologien liegt und nicht, wie man vielleicht annehmen würde, in der Fragestellung, ob die Theologien einem wie auch immer gearteten Kriterienkatalog für Wissenschaftlichkeit entsprechen, den sich findige Wissenschaftstheoretiker*innen erdacht haben, oder nicht. Die noch junge Disziplin der Islamischen Theologie muss ihr Selbstverständnis sowie ihren spezifischen Begriffs- und Methodenapparat kritisch diskutieren und weiterentwickeln. Von außen herangetragene Zweifel an ihrer Wissenschaftlichkeit wird sie jedoch in erster Linie dadurch zerstreuen können, dass sie herausragende Forschungsleistungen mit fächerübergreifendem Einfluss hervorbringt.

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Ist Islamische Theologie eine Wissenschaft?

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Islamische Theologie im Wissenschaftssystem moderner Universitäten Vorbemerkung Über die Hintergründe der Einführung der Islamisch-Theologischen Studien als Bündel akademischer Disziplinen an deutschsprachigen Universitäten ist schon viel geschrieben und geforscht worden.¹ Ich will hier auf diesen Prozess, der letztendlich durch die Empfehlungen des deutschen Wissenschaftsrats vom 29. Januar 2010 ausgelöst wurde, selbst nicht nochmals eingehen. Die langen Debatten in der Arbeitsgruppe, die seit 2006/7 an den Empfehlungen gearbeitet hat, die vielen Anhörungen, die Begleitstudien und die ausführliche Evaluation des damaligen Ist-Zustands hatten ein Diskussionsfeld erschlossen, auf dem sehr viel von dem, was später in der universitären und außeruniversitären Öffentlichkeit kontrovers debattiert wurde, vorweggenommen worden war.Wenn ich mir heute meine Notizen der Diskussionen in der Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrats anschaue, dann fällt mir auf, dass die Räson und die Argumente, mit denen die Einführung der Islamischen Studien gerechtfertigt wurden, nur recht schwach öffentlich aufgegriffen wurden. Dies betrifft vor allem die Frage der Theologizität der Islamischen Studien, deren Differenz zur „Islamwissenschaft“, die Rolle der Universitätstheologie, die Staatsbindung der Universität und die Formalisierung des Mitwirkungsrechts der islamischen Religionsgemeinschaften (Stichwort „Beiräte“). Die Empfehlungen selbst konnten diese Debatten natürlich nicht reproduzieren. Daher möchte ich im Folgenden einige Aspekte der Institutionalisierung der Islamischen Studien aufgreifen, die nicht in die Empfehlungen eingeflossen sind, die sich aber in einer engen Beziehung zu den Hintergründen der Entstehung der Empfehlungen deuten lassen.

 Um den vom Wissenschaftsrat präferierten Begriff „Islamische Studien“ im akademischen System besser zu verorten, verwende ich seit einigen Jahren die Bezeichnung „Islamisch-Theologische Studien“. Dies erlaubt eine mögliche eigenständige Spezifikation der Theologizität durch die islamischen Fachwissenschaften selbst. https://doi.org/10.1515/9783110731743-004

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1 Einführung Schon bevor das akademische Projekt der Etablierung eines Bündels islamischtheologischer Disziplinen erste institutionelle Umsetzungen erfuhr, war der Streit um den Namen entbrannt. In den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Weiterentwicklung der Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften (2010) war immer von „Islamischen Studien“ die Rede. Hintergrund dieser Wahl war die Einsicht, dass es den muslimischen Akademikerinnen und Akademikern an den Universitäten überlassen werden müsse, den neuen universitären Disziplinen einen Namen zu geben. So sollte vermieden werden, ihr akademisches Feld durch den Begriff „Theologie“ zu normieren und an den Standards christlicher Theologien auszurichten. Die Wortwahl „Islamische Studien“ erfolgte bewusst. Sie orientierte sich am französischen und angelsächsischen Sprachgebrauch.² Dieser unterscheidet nicht terminologisch zwischen „theologischen“ und „nichttheologischen“ Forschungen. Somit sind sowohl Muḥammad ʿAbduh als auch Ignaz Goldziher Vertreter der Islamic Studies. ³ Goldziher selbst nutzte die Zweideutigkeit des Ausdrucks „Islamwissenschaft“: Dieses Kompositum konnte im Sinne eines Genitivus objectivus diejenige Wissenschaft bezeichnen, deren Forschungsobjekt der Islam ist, genauso wie im Sinne eines Genitivus subjectivus die Forschungen, die von Gelehrten „des Islams“ durchgeführt wurden. In der Kolonialsprache des frühen 20. Jahrhunderts war natürlich klar, dass die akademische, universitäre Forschung allein jene Islamwissenschaft umfasste, die sich den Islam zum Objekt erkoren hatte. Um Letzteres zu betonen, benutzte Goldziher den Ausdruck „Islamstudien“, den zuvor Christaan Snouck Hurgronje allerdings noch

 In Tunis wurde 1946 auf Initiative unter anderem von Šakīb Arslān ein Institut d’Études Islamiques gegründet. Dadurch fand auch der arabische Ausdruck buḥūṯ islāmiyya („islamische Studien“) Verbreitung. Das am 1. August 1933 an der Universität Istanbul eingerichtete İslâm Tetkikleri Enstitüsü („Institut für Islamforschung“) nutzte als Namen eine türkische Übersetzung des französischen Ausdrucks études islamiques, der seit den 1880er Jahren verwendet worden war.  Ignaz Goldziher spricht in seinem Vortrag „Die Fortschritte der Islamwissenschaft in den letzten drei Jahrzehnten.Vorgetragen im Congress of Arts and Science in St. Louis, 23. Sept. 1904“, Preußische Jahrbücher 121 (1905): 274– 300, von Islamwissenschaft, was in der englischen Übersetzung mit Islamic Science übersetzt wurde. Diese Bezeichnung wurde dann in Indien bei der Institutionalisierung Islamischer Theologie an der Universität Kalkutta 1910/19 aufgenommen. Dort galt Moulana Obeidullah el Obeidy Suhrawardy (1832– 1885, ein Anhänger von Syed Ahmed Khan) als „Pioneer of Anglo-Islamic Studies“.

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im Sinne eines Genitivus subjectivus verwendet hatte.⁴ Dieser war es auch, der als einer der ersten direkt einer „Islamkunde“ und zur einer „Islamwissenschaft“ zugeordnet wurde.⁵ Snouck Hurgronje selbst nannte schon 1887 Hartwig Dérenbourg einen „neuen Professor der Islamwissenschaft der ‚section des sciences religieuses‘“ an der Pariser École Pratique des Hautes Études. ⁶ Das terminologische Wirrwarr bereicherte Martin Hartmann, der 1899 vorschlug, von einer „Islamologie“ zu sprechen.⁷ Hartmann, ein Orientalist und Verfechter des soziologischen Positivismus, versuchte wenig erfolgreich, die akademische Befassung mit dem Islam als „Islamologie“ in das Feld der französischen „Religionssoziologie“ zu integrieren. Immerhin war nun klar, dass zwischen 1884/85 und 1899 mehr und mehr das Bedürfnis nach einer Ausdifferenzierung der Orientalistik durch religionsbezogene Kriterien sichtbar wurde. Hartmann schrieb in der französischen Fachzeitschrift Revue du Monde Musulman 1910 euphorisch: Alles deutet darauf hin, dass es in der Islamologie (étude de l’islam) in Deutschland gelungen ist, ihren Platz als eine besondere Wissenschaft zu erobern, und dass sich diese neue Wissenschaft glücklicherweise von der Vormundschaft ihrer nährenden Mutter, der Semitistik, emanzipiert, so wie sich diese früher von der Theologie des Alten Testaments emanzipiert hatte. „Lasst uns mit der Semitistik brechen“, so lautet das Motto, mit dem diese noch junge Wissenschaft ihre Position festigen kann.⁸

Es sollte noch lange dauern, bis sich ein Konsens über die Bezeichnung dieses Faches herausbildete. Erst in den 1980er Jahren sollte der Name „Islamwissenschaft“ dominant werden (Abb. 1):

 Christiaan Snouck Hurgronje, Mekka – Aus dem heutigen Leben, Bd. 2 (Den Haag: Nijhoff, 1889), 365. Hier verweist er allerdings auf Muḥammad Nawāwī, einen aus der Provinz Banten auf Java stammenden schafiitischen Gelehrten.  Ignaz Goldziher, „Snouck Hurgronje’s Mekkawerk“, Österreichische Monatsschrift für den Orient 15, Nr. 2 (1889): 18, plagiiert von W. F. Andriessen, „Europäer und Araber in Deutsch-Ostafrika“, in: Koloniales Jahrbuch (1893); Johanna Jantsch, Hrsg., Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade: Theologie auf dem öffentlichen Markt (Berlin: Walter de Gruyter, 1996), 14.  Christiaan Snouck Hurgronje, „[Besprechung von] Hartwig Dérenbourg: La science des religions et l’Islamisme. Paris: Leroux, 1886“, Literaturblatt für Orientalische Philologie 3 (1887): 108: „[M]ancher von unseren angehenden Kolonialbeamten versteht vom Islâm noch etwas mehr als der neue Professor der Islamwissenschaft in der ‚section des sciences religieuses‘.“  Martin Hartmann, „Islamologie“, Orientalische Literaturzeitung 2 (1899): 1– 4.  Martin Hartmann, „Les études musulmanes en Allemagne“, Revue du monde musulman 12 (1910): 535 (meine Übersetzung).

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Abb. 1: Relative Häufigkeit der akademischen Benennungen 1880 – 2008, erstellt durch Google Ngram.

In dieser Tradition spielte der Name „Islamische Studien“ keine Rolle. Der von Carl Heinrich Becker favorisierte Ausdruck „Islamstudien“ konnte sich nicht als Bezeichnung der Disziplin durchsetzen. Insofern war „Islamische Studien“ terminologisch unbestimmt und bot sich als Platzhalter für die Benennung der zukünftigen islamisch-theologischen Wissenschaften an. Doch der Protest der islamwissenschaftlichen Fachvertretungen gegen diese Bezeichnung wies darauf hin, dass es um mehr ging als um die Frage, wie das Fach heißen sollte. Es ging um die disziplinäre Grenzziehung, durch die Theologien von Nichttheologien getrennt und unterschieden wurden und die nun auch in der akademischen Befassung mit dem Islam eingeführt werden sollte. Doch die Grenzziehung wurde nicht durch eine epistemische Ordnung definiert. Islamwissenschaft und islamisch-theologische Wissenschaften wurden nicht als zwei epistemische „Kulturen“ abgegrenzt, so wie Charles Percy Snow 1959 in Two Cultures and the Scientific Revolution zwischen sciences und humanities unterschieden hatte.⁹ Stattdessen wird die Differenz auf die Ebene der wissenschaftlichen Persönlichkeiten selbst reduziert. Typisch hierfür ist die Taxonomie, die in der englischen Wikipedia benutzt wird. Dort heißt es: Islamische Studien nach Autor (nicht-muslimisch oder akademisch): Nicht eingeschlossen sind jene Studien über den Islam, die von muslimischen Autoren verfasst wurden und die sich in erster Linie an ein muslimisches Publikum richten.¹⁰

 Charles Percy Snow, The Two Cultures and the Scientific Revolution (Oxford: Oxford Univ. Press, 1959). In seinem Essay geht Snow nicht auf eine mögliche Differenzierung der Theologie von den Humanities ein.  „Islamic studies by author“, Wikipedia, zugegriffen am 14.7. 2020, https://en.wikipedia.org/ wiki/Islamic_studies_by_author_(non-Muslim_or_academic) (meine Übersetzung).

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Aus der Sicht der anonymen Autorenschaft der Wikipedia werden Islamic Studies von denjenigen bestimmt, die keine Muslime sind; wenn doch, dann müssten sie auf jeden Fall als Akademiker gelten, was ihren Status als Muslim aufhebe. Diese Auffassung schimmert auch in einem Bericht des Deutschen Hochschulverbands über einen Konflikt durch, der seit 2010 zwischen den Fachvertretungen der etablierten „Islamwissenschaft“ und den Vertretungen der neuen „Islamischen Theologie“ schwelt: Rund 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben gegen die Zusammenstellung der Kandidierendenliste der Fächergruppe „Islamwissenschaften, Arabistik, Semitistik“ für die diesjährige Fachkollegienwahl der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) protestiert. Die Auswahl der Kandidierenden sei intransparent, übergehe die Fachvertretungen und vermische Islamwissenschaften und Islamische Theologie. Das geht aus einer Stellungnahme der Sektion „Islamwissenschaften“ der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) hervor.¹¹

Die DFG ließ verlauten, es handle sich um ein „Missverständnis“.¹² Doch der Streit um die Zugehörigkeit der neuen Islamischen Theologie ist kein Sturm im Wasserglas. Vielmehr spiegelt er eine Grundfrage der Gestaltung der Wissensfelder an säkularen Universitäten. Welches harte Kriterium kann benutzt werden, um zwischen „Islamwissenschaft“ und „Islamischer Theologie“ zu unterscheiden? Und muss diese Unterscheidung überhaupt getroffen werden, wo doch im angelsächsischen Raum der Begriff Islamic Studies jedwede Auslegung des wissenschaftlichen Zugriffs auf den „Islam“ erlaubt – sei es „in theologischer Absicht“, sei es in „religionskritischer Absicht“? Warum also dieses Beharren auf einer fundamentalen Differenzierung zwischen Theologie und Nichttheologie, wenn es um den Islam geht?

 Claudia Krapp, „Islamwissenschaften vs. DFG“, Forschung & Lehre, 22. 8. 2019, zugegriffen am 11.8. 2020, https://www.forschung-und-lehre.de/politik/protest-gegen-kandidierende-fuerfachkollegien-2063/.  Michael Weißenborn, „Wohin gehört die islamische Theologie“, Stuttgarter Nachrichten, 22.10. 2019, zugegriffen am 11.8. 2020, https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.islamwis senschaftler-protestieren-wohin-gehoert-die-islamische-theologie.84732957-9b0a-4fad-9643acb5557bbe34.html.

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2 Islamische Theologie – durch ein Bekenntnis verflochten? Die Leitfrage ist also, ob sich ein hartes Kriterium definieren lässt, das die Islamische Theologie als eigenständige Disziplin im Kanon der Universitätswissenschaften bestimmt und, wenn ja, was dieses Kriterium ist oder sein könnte. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist zunächst die Evaluation der Differenzkriterien, die konventionell die Spezifikation der Islamischen Theologie im deutschsprachigen Universitätssystem markieren: Die Theologie sei „bekenntnisorientiert“ oder „bekenntnisgebunden“. Beide Ausdrücke paraphrasieren das Bezugsfeld des Theologischen durch den Begriff „Bekenntnis“. Dabei handelt es sich für gewöhnlich um die Kurzform für eine Gesamtheit von dogmatischen Aussagen, die das eine Religionsgemeinschaft verbindende Credo ¹³ des Einzelnen umfassen, sowie die hierdurch definierte Gemeinschaft und ihre Praxis, ihre Institutionen und ihre Traditionen einschließlich möglicher „Gründungsdokumente“. „Bekenntnisorientiert“ bzw. „bekenntnisgebunden“ heißt also zunächst, dass sich die wissenschaftliche Praxis in Forschung und Lehre an diesem Bekenntnis „orientiert“ oder „bindet“. Das ist natürlich ein Unterschied: Eine „Orientierung“ sagt nur etwas über die Gerichtetheit der wissenschaftlichen Praxis; eine „Gebundenheit“ hingegen hat einen sehr viel stärker verpflichtenden und „verbindlichen“ Charakter. Unklar ist darüber hinaus, ob die Ausdrücke „bekenntnisorientiert“ bzw. „bekenntnisgebunden“ auf die Kurzform des Begriffs „Bekenntnis“ verweisen oder auf ein explizites Glaubensbekenntnis (Credo), wobei formal nicht klar ist, ob es sich um kultische Bezeugungen wie das Šmaʿ Yišrāʿēl der Juden, das Apostolicum, das Athanasianum oder das NicaenoConstantinopolitanum der Christen oder die šahāda der Muslime handelt oder um den Kanon von dogmatischen Lehrsätzen (confessiones, ὁμολογία¹⁴). Das bedeutet, dass der Grad der Rückbindung an die jeweilige Tradition unbestimmt ist. Sie reicht von der Möglichkeit, die wissenschaftliche Praxis an der Gesamtheit der Religionsgemeinschaft irgendwie „auszurichten“, bis an ihre unmittelbare Anbindung an ein konkretes rituelles und/oder dogmatisches Bekenntnis. Un-

 „Beherzigen“ (credere, verstanden als cor-dare, „Herz geben“); das Herz ist Ort und Organ der Treue, „Herz geben“ heisst also „anvertrauen“ und paraphrasiert fido („ver/trauen“).  Den griechischen Parallelbegriff ὁμολογία verstanden arabische Übersetzer im 10./11. Jahrhundert meist als ʿahd, mīṯāq oder gar bloss als muškila. Der Ausdruck δόγμα (wörtl. „was einem erscheint“) wurde im Arabischen fast immer mit raʾy übersetzt. Hingegen wurde griechisch δόξα („Erwartung, Meinung, Ansehen“) im Arabischen meist mit iʿtiqād (oder bisweilen mit ʿaqd) wiedergegeben.

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bestimmt ist also (a) der Charakter der Anbindung und (b) die Bedeutung des Ausdrucks „Bekenntnis“. Diese Unbestimmtheit verursacht eine Vielzahl von Missverständnissen und konkurrierenden Geltungsansprüchen. Völlig unbestimmt ist auch der Grad der „Verbindlichkeit“, die die Theologie gegenüber den Institutionen, Dogmen oder Praxen der Religionsgemeinschaft eingeht oder eingehen soll. Eine Klärung dieser Verhältnisse ist also angebracht – dies vor allem auch deshalb, weil im Feld der Theologien explizit außeruniversitäre Akteure, hier die Kirchen oder die Religionsgemeinschaften, einen weitgehenden Geltungsanspruch auf Mitbestimmung erheben. Doch ist Theologie tatsächlich eine „Angelegenheit einer Religionsgemeinschaft“, wie es Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung suggeriert? Oder ist die Theologie somit dadurch definiert, dass sie die Wissenschaften organisiert, die zwei „Souveräne“ hat, den Staat und die Religionsgemeinschaft? Ist es also die Tatsache, dass sie eine res mixta (früher: weltliche Sache und geistliche Sache¹⁵) ist, die sie zu Theologie werden lässt? Ist damit jede Wissenschaft, die sich dieser doppelten Souveränität unterstellt, Theologie?

3 Bekenntnisorientierung Der Ausdruck, der einen deutlich schwächeren normativen Gehalt des Bezugs beschreibt, ist das Attribut „orientiert“. Das Attribut „bekenntnisorientiert“ ist jüngeren Datums und ist erstmals in einer Publikation aus dem Jahr 1957 belegt; hier wies das Attribut aber noch nicht auf Theologie hin, sondern auf „Leben und Handeln“ und meinte zunächst eine besonders „orthodoxe“, im protestantischen Kontext „fundamentalistische“ Haltung christlicher Kirchen. In den späten 1960er Jahren wurde das Attribut gebraucht, um im Kontext des beginnenden Prozesses der Entkonfessionalisierung in Deutschland einen generischen Begriff für jedweden Religionsunterricht zu bilden. Die Konnotation „fundamentalistisch“ haftete dem Attribut „bekenntnisorientiert“ noch bis in der Mitte der 1990er Jahre an, als zum ersten Mal von einer „bekenntnisorientierten Theologie“ die Rede war, und zwar in Abgrenzung von einer „liberalen Theologie“.¹⁶ Gleichzeitig nahm auch die Presse Notiz von dem Begriff. Damals stand das

 Der Ausdruck res mixta entstammt der deutschen Juristensprache der nachreformatorischen Zeit und ist eng mit der Konstituierung protestantischer Landesherrschaft verknüpft.  So Jantsch, Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade: Theologie auf dem öffentlichen Markt, 6. In der Theologischen Realenzyklopädie meint „bekenntnisorientierte Theologie“ jene Theologie, die das Corpus christlicher Lehraussagen zugrunde legt. Aus der Sicht mancher Autoren ergebe sich damit eine Spannung zwischen Bekenntnisorientierung und Deu-

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Attribut oft noch in Differenz zu „wissenschaftlich“ und akzentuierte eine „frömmigkeitsbetonte“ Haltung von Institutionen oder einzelnen Akteuren. Eine vorsichtige Umwertung des Begriffs „bekenntnisorientiert“ zugunsten einer allgemeinen religionsbezogenen Ausrichtung zeichnete sich um das Jahr 2000 herum ab, als die Frage eines islamischen Religionsunterrichts an den Schulen und einer vorbereitenden Religionspädagogik diskutiert wurde. Ohne Übertreibung kann gesagt werden, dass das heutige Verständnis von „Bekenntnisorientierung“ unmittelbar durch die Debatte um die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts geprägt wurde.¹⁷ Fortan galt jeder positiv erscheinende Islambezug als „Bekenntnisorientierung“. Seit 1999 wird in der deutschsprachigen Presse in über 90 % der Verwendungen des Begriffs „bekenntnisorientiert“ auf den Islam oder auf Muslime referiert. Weiterhin fällt auf, dass die Korrelation in der Häufigkeit der Verwendung von Bekenntnisorientierung und Imamausbildung sehr hoch ist. Dadurch entstand seit etwa 2004 eine diskursive Verkettung von Islam, bekenntnisorientierter Vermittlung und Ausbildung des muslimischen Religionspersonals. Diese Verkettung war auch in der frühen Debatte um eine akademische Selbstvertretung der muslimischen Gemeinden im tertiären Bildungssektor maßgeblich. „Bekenntnisorientierung“ wurde damit zu einem politischen Begriff in einer Zeit, als die Position der Religionswissenschaft und der Theologie im Wissenschaftssystem neu evaluiert wurde. Hier ging es um die Frage, ob Theologie lediglich ein Hoheitsraum der Kirchen an den Universitäten darstelle und damit „konfessionell-kirchlich“ sei oder ob sie einen eigenständigen Modus der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse, eine eigene wissenschaftliche Wahrheitsordnung oder gar eine antiwissenschaftliche, eigenständige Erkenntnisordnung darstelle oder ob sie bloß ein spezifischer Zuordnungsbegriff einer nicht notwendig religiös konnotierten Wissenschaftsordnung darstelle. Getragen wurde diese Debatte von Überlegungen, die verschiedenen konfessionell-kirchlichen theologischen Fakultäten in einer gemeinsamen theologischen Fakultät zu fusionieren und diese konfessionell zu pluralisieren. So wurde geltend gemacht, dass sich Forschungen zum Alten Testament nicht durch spezifische Konfessionsbezüge unterscheiden würden: An einer katholischen Fakultät werde wohl kaum eine andere Erkenntnis zum Alten Testament gewonnen als an einer

tungsoffenheit. Sabrina Müller, „Discipleship: eine kirchentheoretische Grundfigur in der Spannung von Bekenntnisorientierung und Deutungsoffenheit“, Praktische Theologie 53, Nr. 1 (2018): 34– 38.  Mathias Rohe zum Beispiel verwendete damals den Begriff in einem eher neutral klingenden Sinn, siehe Mathias Rohe, „Rechtliche Perspektiven eines islamischen Religionsunterrichts in Deutschland“, Zeitschrift für Rechtspolitik 33, Nr. 5 (2000): 207– 12.

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evangelischen. Hingegen unterschieden sich die Erkenntnisse grundsätzlich etwa von Forschungen an einer evangelikal ausgerichteten Hochschule. Auch wurde darauf hingewiesen, dass der Großteil der Forschungen an theologischen Fakultäten nicht durch dogmatische konfessionelle Setzungen bestimmt sei; mithin könne man einen Großteil der theologischen Disziplinen fusionieren. Auf der anderen Seite wurde darauf aufmerksam gemacht, dass theologische Fakultäten in den letzten Jahren weitgehend auf die Judaistik als Teildisziplin verzichtet und diese an philosophische Fakultäten übergeben haben. Im deutschsprachigen Raum gibt es heute an 25 Universitäten wissenschaftliche Einrichtungen, die sich der Erforschung des Judentums widmen; dreizehn davon sprechen noch von „Judaistik“, sieben haben inzwischen die Bezeichnung „Jüdische Studien“ übernommen; die restlichen Einrichtungen heißen nach auf das Judentum bezogenen Teildisziplinen (Geschichte, Philosophie, Theologie). Zwei Drittel der Einrichtungen (genauer 16) gehören heute philosophischen Fakultäten an, und nur noch an sechs Universitäten ist Judaistik an theologischen Fakultäten institutionalisiert. An zwei Universitäten ist Judaistik auf beide Fakultäten verteilt. Doch wie weit kann eine solche Fusion gehen? Wenn die Theologien in plural organisierte theologische Fakultäten integriert werden sollten, dann bedarf es einer klaren Definition dessen, was mit „Bekenntnisorientierung“ gemeint ist. Denn in einem solchen Fall ist Theologie ja nicht mehr „Angelegenheit“ einer Religionsgemeinschaft, sondern der Universität selbst. Genau dieser Punkt war bei der Etablierung der Islamischen Theologie wichtig: Sie wurde eben nicht als res mixta begründet, sondern allein und ausschließlich aus dem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Universität heraus. Wir können also sagen: Die deutschsprachige Islamische Theologie (oder besser: die Islamischen bzw. die Islamisch-Theologischen Studien) war als „Angelegenheit“ der Universität auf die Welt gekommen. Allerdings traf sich dieses universitäre Ansinnen mit einem wachsenden Bedürfnis, den neuen islamischen Religionsunterricht akademisch durch eine islamische Religionspädagogik aufzuwerten, die ihrerseits eine theologische Komponente haben sollte. Erstmals war diese Forderung 1985 dokumentiert worden.¹⁸ Darauf werde ich zurückkommen. Hier ist nur wichtig, dass das ursprüngliche universitäre Interesse an der Etablierung einer islamischen Theologie durch das Matching mit den Bestrebungen nach einer Akademisierung der islamischen Religionspädagogik in Form einer islamischen Theologie durch die Festschreibung einer Bekenntnisorientierung

 Adel Theodor Khoury, Islamische Minderheiten in der Diaspora (Mainz: Kaiser/Grünewald, 1985), 139: „An den Pädagogischen Hochschulen bzw. Universitäten müßten Lehrstühle für islamische Theologie bzw. islamische Religionspädagogik eingerichtet werden.“

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zurückgebunden wurde. Dadurch kam es zu einer wissenschaftspolitischen Gratwanderung, die bis heute andauert. Denn durch das Zugeständnis einer „Bekenntnisorientierung“ richteten die Universitäten „ihre“ Disziplin auf bestehende muslimische Religionsgemeinschaften aus, die sich dann ihrerseits berechtigt sahen, ihren verfassungsrechtlich garantierten Mitwirkungsanspruch geltend zu machen.

4 Phantomgrenzen Dieser Umstand macht nochmals deutlich, wie wichtig eine Klärung der Charakterisierung des wissenschaftspolitischen Begriffs „Bekenntnisorientierung“ ist. Dass es sich dabei um mehr handeln muss als um die Charakterisierung einer „religiösen Motivation oder Zwecksetzung“ der Forschung und Lehre, zeigte die Wissenschaftsgeschichte: Jedwede wissenschaftliche Disziplin kann mit dem Attribut „religiös“ belegt werden, sofern der/die Wissenschaftler/in selbst implizit oder explizit einen Bezug der Erkenntnistätigkeit zu einer Religion voraussetzt oder definiert oder sofern eine Hermeneutik einen solchen Bezug in einem wissenschaftlichen Werk aufdeckt. So wurden die Religionswissenschaftler Rudolf Otto, Friedrich Heiler und Jakob Wilhelm Hauer als Vertreter einer „theologischen Religionswissenschaft“ bestimmt, die in eine „religiöse Religionswissenschaft“ mündete, da sie selbst „religiös“ waren.¹⁹ Judaistik an christlich-theologischen Fakultäten wäre auch dann „theologisch“, wenn die jüdischen Religionsgemeinschaften keinerlei Mitwirkungsrecht geltend machen. Analog wäre eine Islamwissenschaft, die in religiöser Absicht geschieht, theologisch, selbst wenn die religiöse Motivation nicht „islamisch“ ist. Man denke an die Arbeiten von Louis Massignon, Henry Corbin, Henry Laoust und Wilfred Cantwell Smith. Und auch das Werk mancher deutschsprachigen Islamwissenschaftler müsste als „theologisch“ angesehen werden. Denn auch ihr Werk orientierte sich an einem „Bekenntnis“ im weiten Sinn des Wortes, auch wenn diese Orientierung vielfach nur durch eine Texthermeneutik aufgezeigt werden kann. Diese implizite Theologie findet sich auch in ganz anderen Disziplinen.²⁰

 Armin Kreiner, „Zwischen Fallibilismus und Dogmatismus“, in Handbuch Karl Popper, hrsg. von Giuseppe Franco (Wiesbaden: Springer VS, 2018), 1– 16. Im 19. Jahrhundert sprach man gelegentlich von einer „religiösen Religionswissenschaft“, die Teil der Homiletik zu sein habe, so im protestantischen Sinne Christian Wilhelm Niedner, Lehrbuch der christlichen Kirchengeschichte von der ältesten Zeit bis auf die Gegenwart (Berlin: Wiegandt & Grieben, 1866), 516.  Man denke nur an das Werk von Charles Taylor oder von Hans Joas.

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Damit aber war klar, dass eine akademische Befassung mit dem Islam durch muslimische Wissenschaftler/innen als „bekenntnisorientiert“ bezeichnet werden müsse. Es handelt sich um eine normative Festlegung, die allerdings wissenschaftstheoretisch niemals begründet wurde. Horst Junginger vermerkte 2001: Theoretisch möglich erscheint eine solche religiöse Religionswissenschaft auch für den Islam, wie sie neuerdings im Zusammenhang eines bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichtes diskutiert wird. Die dabei von dem syrisch-deutschen Politikwissenschaftler Bassam Tibi in scharfem Gegensatz zur (philologisch ausgerichteten) Universitätsorientalistik entwickelten Vorstellungen von einer wissenschaftlichen „Islamologie“ und einem den Religionsunterricht ersetzenden allgemeinen Studiengang „Ethik abrahamitischer Religionen“ sind freilich allzu unausgereift.²¹

Inzwischen hat sich im deutschsprachigen Raum die Vorstellung durchgesetzt, Theologie sei eine „bekenntnisorientierte Wissenschaft“. So schrieb der Münsteraner Theologe Arnulf von Scheliha: „Denn die Theologie als eine bekenntnisorientierte Wissenschaft steht nicht in einem Gegensatz zur religiösen Praxis, sondern steht im Dienst des religiösen Bewusstseins, dessen Wahrheitsgewissheit sie wissenschaftlich reflektiert.“²² Eine solche Charakterisierung der Theologie aber ist nur im deutschsprachigen Raum üblich. Weder im Französischen noch im Englischen gibt es eine lexikalische Entsprechung zum Ausdruck „bekenntnisorientiert“.²³ Dies verwundert wenig, bedenkt man die besondere Position der Theologien in den angelsächsischen Ländern und in Frankreich. Im angelsächsischen Umfeld gibt es keine wissenschaftstheoretische Unterscheidung zwischen Religionsforschung, konfessionsbezogener Religionsforschung und Theologie. Der institutionelle Raum, in dem sich die Wissenschaften vollziehen, ist nicht durch ein Bekenntnis determiniert. So gibt es an der Divinity School in Harvard (1) Theologie, die auch von muslimischen Wissenschaftler/innen betrieben wird, (2) Islamwissenschaft im Sinne einer religionskritischen Forschung und Lehre (früher auch Study of Islam genannt) und (3) Islamwissenschaft im Sinne einer Forschung und Lehre, die mit dem kulturellen oder religiösen

 Horst Junginger, „Einführung: Das Überleben der Religionswissenschaft im Nationalsozialismus“, Zeitschrift für Religionswissenschaft 9 (2001): 156.  Arnulf von Scheliha, „Religionspolitische Konstellationen und wissenschaftsethische Folgerungen im Zusammenhang mit der Etablierung von Zentren für Islamische Theologie“, in Ordnungen religiöser Pluralität. Wirklichkeit – Wahrnehmung – Gestaltung, hrsg. von Ulrich Willems, Astrid Reuter, und Daniel Gerster (Frankfurt am Main: Campus, 2016), 595.  Bisweilen begegnet man im Französischen dem Ausdruck obédience, um die „Anbindung“ zum Ausdruck zu bringen. So wurde ein belgischer Politiker als d’obédience moins laïque charakterisiert, also als „weniger bekenntnisneutral“ als ein Kollege von ihm.

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Selbstverständnis der Studierenden und einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit kommuniziert. All das firmiert unter dem Oberbegriff Islamic Studies, also mit jenem Begriff, mit dem sich die traditionelle deutsche Islamwissenschaft gerne identifiziert. In einem solchen Geflecht macht die Unterscheidung zwischen „bekenntnisorientierter“ und „nicht bekenntnisorientierter“ Wissenschaft keinen Sinn. Im Bereich der jüdischen Wissenschaften hat sich daher die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine Differenzierung von bekenntnisneutraler Judaistik und einer bekenntnisorientierten Disziplin namens „Jüdische Studien“ sinnlos ist und aufgegeben werden sollte. Tatsächlich wird die Charakterisierung der Theologie als „bekenntnisorientierte Wissenschaft“ von vielen Theolog/innen nicht akzeptiert. Sie verweisen darauf, dass ihre Forschung im Kern und faktisch religions- bzw. bekenntnisneutral sei; Bibelforschung, Kirchengeschichte, Ethik, Philosophie, Archäologie und selbst Dogmatik folgen, so sagen sie, in jedem Fall den wissenschaftlichen Kriterien, Praxen, Methoden und Theorien, die auch in der Vielzahl der geistes-, sozial- und staatswissenschaftlichen Fächer genutzt werden. Erkenntnisse in der Theologie unterscheiden sich daher nicht von Erkenntnissen in den nichttheologischen Disziplinen. Ein Theologe komme bei der Behandlung einer kirchengeschichtlichen Problematik zu gleichen Erkenntnissen wie eine Historikerin, sofern sie die gleichen Methoden, Quellen und Theorien verwenden. Diese Gleichförmigkeit bleibe selbst dann bestehen, wenn die Erkenntnis in den Dienst einer Religionsgemeinschaft gestellt werde. Dies bedeutet, dass der Begriff „bekenntnisorientiert“ kein Kriterium für die Ausdifferenzierung der islambezogenen Wissenschaften sein kann, die heute als „Islamische Theologie“ konstituiert sind. Daher verwundert es nicht, dass Jan Felix Engelhardt dieses Attribut in seiner Studie zur Etablierung der Islamischen Theologie im deutschen Wissenschaftssytem nicht benutzt.²⁴ Um einer Dichotomie zwischen „Bekenntnisorientierung“ und „Bekenntnisneutralität“ auszuweichen, wurde in den Diskussionen um die Einführung der Islamischen Theologie dafür plädiert, nach angelsächsischem Muster von „Islamischen Studien“ zu sprechen; dieser Begriff ließ offen, ob sich akademische Vertreter/innen islamischer Diskurse einer Theologie zugeordnet sehen und in welcher Weise sie auf den Islam referieren wollten. Doch konnte sich diese Bezeichnung nicht durchsetzen, da die Vorstellung, eine Differenz zwischen einer bekenntnisorientierten und ei-

 Jan Felix Engelhardt, Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem. Ausdifferenzierung und Selbstkonzeption einer neuen Wissenschaftsdisziplin (Wiesbaden: Springer VS, 2017), 187, hier nur im Sinne des Zitats eines anderen Standpunkts.

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ner nicht bekenntnisorientierten Wissenschaft vom Islam machen zu müssen, diskursiv deutlich dominierte. Mithin läuft auch der Protest jener islambezogenen Wissenschaften, die sich als „nicht bekenntnisorientiert“ verstehen, ins Leere.²⁵ Und doch wird immer wieder auf einen engeren Bekenntnisbegriff zurückgegriffen, wenn es darum geht zu erklären, was „Islamische Studien“ denn seien. In der Öffentlichkeit liest sich der Versuch einer Differenzierung (hier am Beispiel der Islamischen Studien an der Goethe-Universität in Frankfurt) so: Hier lernen künftige islamische Religionslehrer ihr Handwerk – bekenntnisorientiert. Theologen, die hier lehren, sehen den Koran als Offenbarung. Nicht zu verwechseln ist das Fach mit Studiengängen, die „Orientalistik“, „Arabistik“ oder „Islamwissenschaft“ heißen und sich ebenfalls mit dem Islam beschäftigen – nicht bekenntnisorientiert. Die Professoren dieser Studiengänge betrachten den Islam „von außen“, sehen etwa den Koran als historisches Dokument.²⁶

Hier schimmert noch die alte Sichtweise aus dem 19. Jahrhundert durch: „Bekenntnisorientiert“ heißt hier, auf der Grundlage eines fixen dogmatischen Bekenntnisses Erkenntnisse wissenschaftlich geltend zu machen. Dies wird so verstanden, dass es im islamischen Kontext unmöglich sei, die islamische Bekenntnisordnung kritisch zu untersuchen und fortzuschreiben. Hingegen sei eine solche Kritik für die „orientalistischen Fächer“ möglich. In dieser Vorstellung wirkt der Islam wie eine großräumige, zeitlose und sozial umfassende Institution, die kollektiv eine Bekenntnisorientierung der Wissenschaft durch ein Nihil obstat bekundet. Der Islam, eigentlich die islamische Ökumene, wird wie ein katholisches Lehramt gedacht; die dogmatische Zensurbehörde sei in jedem und jeder Gläubigen allgegenwärtig. Daraus erwächst die Vorstellung, dass die Muslime ein besonderes Verhältnis zur Wahrheit hätten. Der Begriff der „Bekenntnisorientierung“ hatte aber noch einen anderen Befürworter, nämlich die islamischen Verbände. Diese sehen ihr religionsver „Stellungnahme von Fachvertreterinnen und -vertretern der Islamwissenschaft und benachbarter akademischer Disziplinen zur Einrichtung des Faches ‚Islamische Studien‘ an deutschen Universitäten“, zugegriffen am 13.7. 2020, https://www.dmg-web.de/page/aktuelles_de/Stellung nahme_Islamstudien.pdf.  Andrea Eibl, „Den Islam studieren: Ein Gott, zwei Perspektiven“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.7. 2013, zugegriffen am 11.8. 2020, https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/ campus/den-islam-studieren-ein-gott-zwei-perspektiven-12287159.html. Der Aachener katholische Theologe Andreas Frick meinte in einem Kommentar zu diesem Beitrag, dass es in „der bekenntnisgebundenen christlichen Theologie […] immer eine harte Auseinandersetzung und Infragestellung aller Inhalte“ gegeben habe und dass das im Islam verboten sei. Es sei „also nur eine reine religiöse Unterweisung möglich“.

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fassungsrechtlich verbürgtes Mitwirkungsrecht in den Feldern gegeben, in denen es um „bekenntnisorientierte Sachverhalte“ geht. Der Begriff „bekenntnisorientiert“ dient so der Definition eines Mitwirkungsraums, insofern der Begriff „Bekenntnis“ jene islamische Identität markiert, für die die Verbände als Interessensvertreter zu wirken beabsichtigen. Zusammenfassend gesagt: Der Ausdruck „Bekenntnisorientierung“ ist ungeeignet, um die Spezifikation einer „Islamischen Theologie“ gegenüber anderen Wissenschaften zum Ausdruck zu bringen. Selbst in den Feldern, in denen Handlungen (wie zum Beispiel die Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen) auf islamische Bekenntnisse (heute: ʿaqāʿid bzw. iʿtiqādāt) bezogen werden, bleibt unbestimmt, wie dieser Bezug definiert ist.

5 Zwischenbemerkung Eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung einer „Bekenntnisorientierung“ akademischer Forschung und Lehre ist nicht möglich. Akademisches Wissen, also das Wissen, das sich eine wissenschaftliche Gemeinschaft teilt, beruht auf einer spezifischen Kognition von Informationen.²⁷ Sollte es eine Differenz zwischen bekenntnisorientiertem (im weitesten Sinne theologischem) und bekenntnisneutralem (im weitesten Sinne säkularem) Wissen geben, dann müsste sich die Spezifikation der Kognition entsprechend unterscheiden. Für wissenschaftliche Kognition reicht es aber aus, dass sie gleichförmig ist, um der Bedingung, der Wissenschaft zugehörig zu sein, zu genügen. Daher wird im deutschsprachigen Kontext zurecht keine „theologische Kognition“ diskutiert.²⁸ Hingegen finden sich manche Überlegungen, die für die Eigenständigkeit einer „theologischen Epistemologie“ (theological epistemology) werben, u. a. mit der Setzung, dass „die theologischen Vorstellungen von Glaube, Hoffnung und Liebe einen einzigartigen Zugang zur Wahrheit bieten, der die theologische Erkenntnistheorie vom Fideismus, Fundamentalismus und Triumphalismus be-

 Die alte Bestimmung, wonach Wissen wahres und gerechtfertigtes Meinen sei, ist bekanntermaßen nicht haltbar.  Bisweilen stößt man auf reichlich esoterische Diskussionen einer Theologie als eigenständige Kognitionswissenschaft, interessanterweise vor allem in Russland. Auch im befreiungstheologischen Kontext wird eine „theologische Kognition“ diskutiert, so etwa bei Clodovis Boff, Theology and Praxis: Epistemological Foundations, übers. von Robert R. Barr (Eugene, Oregon: Wipf & Stock, 1987), 111. Dem nicht unähnlich gibt es auch iranische Versuche, eine eigenständige islamischtheologische Kognition zu bestimmen.

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freit“.²⁹ Die Nähe solcher Positionen zu neo-evangelikalen Kreisen und zur konservativen reformierten Theologie (z. B. dem schottischen reformierten Theologen Thomas Forsyth Torrance) ist offenkundig.³⁰ Auch im islamischen Kontext wird eine „theologische Epistemologie“ diskutiert, sowohl historisch (z. B. auf die Muʿtazila und hier besonders auf den Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār bezogen) als auch systematisch. Im Hintergrund ist die Auffassung wirksam, dass es ein „Wissen des Glaubens“ gebe. Ich will das hier nicht weiter diskutieren, sondern nur auf die Implikationen hinweisen, die eine solche Bestimmung der Differenz zwischen „theologischem“ und „säkularem“ Wissen mit sich bringt.

6 Innen und Außen Ein anderer Begriff, der die Ausdifferenzierung einer islamischen Theologie markiert, ist der Ausdruck „Binnenperspektive“. Dieser Ausdruck löste in den 1980er Jahren die Differenzierung eines Interpretationsstandpunkts durch das Paradigma „emisch/etisch“ ab, das der Linguist Kenneth Lee Pike 1954 vorgeschlagen hatte. Beide Terminologien sind sich ähnlich und gehen von der Definition eines Insider-Standpunkts aus, der aber in bestehenden Diskursgeflechten kaum bestimmbar ist und der noch an der Unterscheidung zwischen dem „Eigenen“ und dem „Anderen“ festhält. Diese Positionierung wurde durch die Diskurskritik schon vor Längerem aufgegeben. Erkenntnisse zum Feld „Islam“ sind so nicht danach bestimmbar, ob sie von einem/einer Insider/in erbracht wurden, es sei denn, es gelingt, eine „Binnenperspektive“ zu definieren. So hat Fritz Stolz eine solche Perspektive als jene Setzung bestimmt, die aus einer normativen Sicht der jeweiligen Akteure heraus gerechtfertigt wird.³¹ Positiv erscheint diese Definition in einer Studie zur Islamischen Theologie in Österreich. Ihr Autor, Ednan Aslan, charakterisierte den Diskurs der Islamischen Theologie als „das Einbringen islamischer Normen und Wertvorstellungen aus der Binnenperspektive in die akademische und öffentliche Debatte“.³²

 André van Oudtshoorn, „Theological Epistemology and Non-Foundational Theological Education“, Journal of Adult Theological Education 10, Nr. 1 (2013): 64– 77.  Steven B. Sherman, Revitalizing Theological Epistemology: Holistic Evangelical Approaches to the Knowledge of God (Princeton, NJ: Princeton Univ. Press, 2008).  Fritz Stolz, „Synkretismus“, in Theologische Realenzyklopädie, hrsg. von Gerhard Müller u. a., Bd. 32 (Berlin: de Gruyter, 2001), 527.  Ednan Aslan, Islamische Theologie in Österreich (Wien: Selbstverlag des Autors, 2012), 160, zugegriffen am 11. 8. 2020, https://www.researchgate.net/profile/Ednan_Aslan/publication/

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Das Innen/Außen-Schema spielte bei der Verortung der Islamischen Theologie in Deutschland eine wichtige Rolle.³³ Ali Özgür Özdil zum Beispiel legte sie seiner Zusammenstellung der islamisch-theologischen Einrichtungen an deutschen Universitäten zugrunde. Es erschien selbstredend, dass die Islamische Theologie eine „Binnenperspektive“ vertrat und dass die der Orientalistik zugeordnete Islamwissenschaft eine „Außenperspektive“ einnähme.³⁴ Mit dem Aufkommen der Festschreibung einer islambezogenen Bekenntnisorientierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde auch einer „islamischen Binnenperspektive“ das Wort geredet.³⁵ Manch einer sieht in der Unterscheidung zwischen einer Binnen- und einer Außenperspektive gar das Eigentümliche einer religionsphilosophischen Sichtweise.³⁶ Es stimmt natürlich, dass es verschiedene Standpunkte gibt, um ein Relatum zum Ausdruck zu bringen, nur sind diese Standpunkte niemals so fix, dass sie einen Identitätsort repräsentierten und dass sie das Relatum und seinen propositionalen Gehalt änderten. Zudem sind die Standpunkte nur dadurch Standpunkte, dass sie in einem Beziehungsgeflecht stehen, also immer nur relativ zueinander Standpunkt sind.

7 Oder doch eher bekenntnisgebunden? Bisweilen wird der Theologie unterstellt, sie sei eine „bekenntnisgebundene Wissenschaft“. „Bindung“ sagt mehr als „Orientierung“. Dieses Attribut ist etwas älter als das Attribut „bekenntnisorientiert“; historisch stammt es aus dem Sprachgebrauch der „bekennenden Kirche“ 1935/36. Es wurde dann nach 1945 wieder aufgegriffen und im Sinne einer Dogmenkonformität etwa des Religionsunterrichts verallgemeinert. „Bindung“ ist deutlich „verbindlicher“ als „Orien-

280444190_Islamische_Theologie_in_Osterreich/links/55b4ded008aed621de02ca8d/IslamischeTheologie-in-Oesterreich.pdf.  Beispiele für eine Selbstdarstellung über diese Begrifflichkeit bei Engelhardt, Islamische Theologie, 170.  Ali Özgür Özdil, Islamische Theologie und Religionspädagogik in Europa (Stuttgart: Kohlhammer, 2011), 178.  Der englische Ausdruck internal perspective meinte eigentlich eine konkrete „Innenansicht“, zum Beispiel eines Kirchenfensters aus der Perspektive des Chors.  „Die Unterscheidung von Innen- und Außenperspektive der Religion und die Anwendung von beiden Perspektiven ist ein wesentliches Merkmal der philosophischen Perspektive der Religionsphilosophie, wie sie sich im Übergang von der Antike zum Christentum entwickelt hat.“ Hans Otto Seitschek, Religionsphilosophie als Perspektive. Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft (Wiesbaden: Springer VS, 2017), 99.

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tierung“. Sie hat einen selbstverpflichtenden Charakter; allerdings bleibt offen, worin diese Bindung besteht und auf wen sich die Bindung bezieht. Viele Theologen, vor allem auch katholische Theologen, wehrten sich vehement gegen diese Charakterisierung, die auch auf die „Wissenschaft des Judentums“ bezogen wurde und neuerdings in einem engen Zusammenhang mit der islamischen Theologie diskutiert wird.³⁷ Andreas Brämer vermerkte zum Beispiel: Die Wissenschaft des Judentums als bekenntnisgebundene Wissenschaft zeichnete sich aus durch ihren Bezug auf eine göttliche Offenbarung, in den Seminaren aber auch durch das praktische und öffentliche Interesse, eine Funktionselite auszubilden, die die überlieferten jüdisch-religiösen Gehalte vernünftig zu übersetzen und zu kommunizieren verstand. Eine konsequente Trennung zwischen den Begriffen „jüdische Theologie“ und „Wissenschaft des Judentums“ fand deshalb häufig nicht statt, wie sich etwa anhand der Positionen von Abraham Geiger und Zacharias Frankel nachweisen lässt. Weder der eine noch der andere betrieb eine von metaphysischen Grundannahmen freie Forschung. Während Geiger Theologie und Wissenschaft mitunter gleichsetzte, sprach Frankel ausdrücklich von einer Glaubenswissenschaft, die trotz seiner Vorbehalte gegen ein dogmatisch fixiertes Judentum nicht völlig ohne Glaubensgrundsätze als zentralen Bezugspunkt auskam. Frömmigkeit galt ihm zugleich als Voraussetzung, Wegweiser und Ziel der eigenen wissenschaftlichen Forschung.³⁸

Dennoch reklamierte 1987 zum Beispiel die katholische Kirche im Streit um die Einführung eines theologischen Diplomstudiengangs an hessischen Universitäten, dass sie deshalb ein Bestimmungsrecht gegenüber „ihrer“ Theologie hätte, weil es sich bei der Theologie um eine „bekenntnisgebundene Wissenschaft“ handele.³⁹ Auch protestantische Kirchen argumentierten in diesem Sinne.⁴⁰ Ein Konsens bestand in dieser Frage natürlich nie. Im Zusammenhang mit der Entkonfessionalisierung der Lebenswelten in Deutschland in den 1950er und 1960er

 Rauf Ceylan und Clauß Peter Sajak, Hrsg., Freiheit der Forschung und Lehre? Das wissenschaftsorganisatorische Verhältnis der Theologie zu den Religionsgemeinschaften (Wiesbaden: Springer VS, 2017).  Andreas Brämer, „Glaubenswissenschaft? – Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert zwischen konfessioneller Theologie und empirischer Forschung“, zugegriffen 13.11. 2019, http:// www.igdj-hh.de/forschungsprojekte-leser/glaubenswissenschaft-wissenschaft-des-judentumsim-19-jahrhundert-zwischen-konfessioneller-theologie-und-empirischer-forschung.html.  Rainer Himmelsbach, Die Rechtsstellung der theologischen Fakultäten Trier, Paderborn, Frankfurt, St. Georgen und Fulda (Berlin: Duncker & Humblot, 1997), 84; Carl Joseph Hering und Hubert Lentz, Hrsg., Entscheidungen in Kirchensachen, Bd. 25 (Berlin: De Gruyter, 1992), 283.  Joachim E. Christoph, Kirchen- und staatskirchenrechtliche Probleme der Evangelisch-theologischen Fakultäten: neuere Entwicklungen unter besonderer Berücksichtigung des Bologna-Prozesses (Tübingen: Mohr Siebeck, 2009), 43 – 45.

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Jahren vermerkte der Pädagoge Anton Neuhäusler: „Es gibt keine bekenntnisgebundene Wissenschaft, aber es gibt bekenntnisgebundene Wissenschaftler.“⁴¹ „Bekenntnisgebundenheit“ ist inzwischen zu einem Rechtsbegriff geworden. Eine staatskirchenrechtlich verankerte Bekenntnisbindung wird gemeinhin für die akademische Theologie vorausgesetzt.⁴² So führte die thüringische Landesregierung zur Begründung des Konkordats des Freistaats Thüringen mit dem Vatikan 2002 (zu Art. 6 Abs. 1) aus: Theologie ist bekenntnisgebundene Wissenschaft. Der Staat ist weltanschaulich neutral. Die Feststellung der Authentizität der Lehre und der Einhaltung sittlicher Grundnormen einer Lebensführung entsprechend dem Bekenntnis ist daher nur der Kirche möglich.

Der Sache nach geht es aber nicht um die Wissenschaft an sich, sondern um den staatskirchenrechtlichen Status als Institution innerhalb einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung. Bekenntnisgebundenheit verlangt also juristisch gesehen nicht von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, ihre Forschungen und Erkenntnisse einer religiösen Bekenntnisbindung zu unterstellen. Verlangt wird, dass die Kirchen (also Religionsgemeinschaften) im Rahmen des Rechts für jene wissenschaftlichen Institutionen Sorge tragen, die sich auf das Feld der Religionsgemeinschaft beziehen.⁴³ Die Religionsgemeinschaften bilden daher eine spezifische „Umwelt“ von bestimmten Wissenschaften, die hierdurch „theologisch“ werden.⁴⁴ Allerdings kam auch der Wissenschaftsrat in seinen „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Theologie und der religionsbezogenen Wissenschaften“ von 2010 an einer Stelle nicht umhin, „Bekenntnisgebundenheit“ als Proprium einer Theologie zu definieren. So heißt es dort (S. 52): Das Spannungsverhältnis zwischen historisch-hermeneutischen Zugängen und systematisch-normativen Ansprüchen ist konstitutiv für jede Theologie als bekenntnisgebundene Wissenschaft, welche wissenschaftliche Analyseverfahren wie das hermeneutische Verstehen begründender Texte der jeweiligen religiösen Überlieferung, die begriffliche Analyse

 Zitiert in Wolfgang Brezinka, Der Erzieher und seine Aufgaben: Reden und Aufsätze zur Erziehungslehre und Erziehungspolitik (Stuttgart: Klett, 1966), 95.  Vgl. Anne Schönfeld, Islamische Wissensproduktion an der öffentlichen Universität (Typoskript, 2019), 5.  Hans Michael Heinig, Die Verfassung der Religion: Beiträge zum Religionsverfassungsrecht (Tübingen: Mohr Siebeck, 2014), zu „Islamische Theologie an staatlichen Hochschulen“, 300 – 322.  In diesem Sinne galten die Empfehlungen des Wissenschaftsrats, Weiterentwicklung der Theologien und der religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Universitäten (Drucksache 9678) (Berlin: Wissenschaftsrat, 2010).

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ihrer Konzepte und Normen, die Historisierung von Texten sowie von Glaubensinhalten und -symbolen etc. anwendet.

Diese normativen Ausführungen stellen allerdings eine Ausnahme in den Empfehlungen dar. An anderer Stelle ist nur dann von „Bekenntnisgebundenheit“ die Rede, wenn ein Bezug zum schulischen Religionsunterricht oder zu Studiengängen hergestellt wird. Die Empfehlungen betonen daher, dass die Bekenntnisgebundenheit durch die Ebene der Wissensvermittlung definiert werde und dass daher die Adressaten als die Umwelt anzusehen seien, durch die eine Bekenntnisgebundenheit entstehe. Hier zeigt sich der Versuch, die Islamisch-Theologischen Studien dadurch von der Islamwissenschaft abzugrenzen, indem sie zumindest hinsichtlich ihres methodischen Aspekts als „Normwissenschaft“ definiert werden. So hatte Hans Kelsen die Rechtswissenschaft charakterisiert, andere Juristen sehen die Rechtswissenschaft in toto als Normwissenschaft; auch im Selbstverständnis der Theologien findet sich diese Charakterisierung.⁴⁵ Manche machen diese Charakterisierung geradezu zu einem Proprium einer „Dritten Kultur“ der Wissenschaften: Neben Geistes- und Naturwissenschaften gebe es eine eigenständige Kultur der Normwissenschaften, wozu neben der Jurisprudenz die Theologie und die Ethik gehörten.⁴⁶ Vor etwas mehr als hundert Jahren hatte Paul Tillich die Theologie als „konkret-normative Religionswissenschaft“ definiert und ausgeführt: „Aufgabe der Theologie ist es demnach, von einem konkreten Standpunkt aus auf Grund der religionsphilosophischen Kategorieen und unter Einbettung des individuellen Standpunktes in den konfessionellen und den allgemein religionsgeschichtlichen und den geistesgeschichtlichen überhaupt ein normatives Religionssystem zu entwerfen.“ Und dies bestimme den Charakter der Theologie als Normwissenschaft: „Die Normwissenschaften erarbeiten das Besondere, Inhaltliche, Gelten-Sollende in speziellen Systemen für jede Kulturwissenschaft.“⁴⁷

 Katholisch: Walter Kern, Max Seckler, Hermann Josef Pottmeyer, Hrsg., Handbuch der Fundamentaltheologie, Band 4, Traktat Theologische Erkenntnislehre (Tübingen: Utb, 2000), bes. die Beiträge von Otto Hermann Pesch, „Das Wort Gottes als objektives Prinzip der theologischen Erkenntnis“ (27– 49) und Max Seckler, „Theologie als Glaubenswissenschaft“ (180 – 239).  In der Rezeption von Snow, The Two Cultures, wurde die „Dritte Kultur“ oft das Ergebnis einer Fusion von geistes- und naturwissenschaftlicher Erkenntnis genannt.  Paul Tillich, „Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919)“, in Paul Tillich: Ausgewählte Texte, hrsg. von Christian Danz, Werner Schüßler, und Erdmann Sturm (Berlin: De Gruyter, 2008), 27– 28.

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Natürlich wurde auch in den Islamisch-Theologischen Studien die Eigentümlichkeit einer Bestimmung als „Normwissenschaft“ debattiert.⁴⁸

8 Die illokutive Rolle der Theologie Angesichts dieses Befunds stellt sich die Frage, wie die akademische Position der Islamischen Theologie jenseits der politisch-rechtlichen Behauptungen einer „Bekenntnisorientiertheit“ oder „Bekenntnisgebundenheit“ bestimmt werden kann. Diese beiden Bestimmungen sollen im Folgenden unter dem Begriff „Bekenntnisbezogenheit“ zusammengefasst werden. Grundsätzlich wird festgeschrieben, dass die Islamische Theologie dann als „bekenntnisbezogen“ gilt, (a) wenn sie sich in einem institutionalisierten Vermittlungsakt zu einer Gruppe von Schüler/innen oder Studierenden befindet, die sich selbst im Moment der Vermittlung in einem Bezug zum Islam sehen, (b) wenn sie ihre Erkenntnisse in solchen Momenten mit dieser Umwelt kommunizieren lässt und (c) wenn sie einen transdisziplinären Bezug zu einer gesellschaftlichen Umwelt anstrebt, die sich durch eine islamische Vergemeinschaftung auszeichnet. Kurzum: Die Islamische Theologie wird dann bekenntnisbezogen, wenn sie situativ, kommunikativ und performativ mit einer „muslimischen Umwelt“ kommuniziert. Dieser Vergemeinschaftungsbezug ist im islamischen Kontext auch deshalb prominent, weil die islamischen Wissensordnungen idealiter vergemeinschaftet sind und nicht notwendig durch „Kirchen“ oder „Lehrstätten“ kontrolliert werden.⁴⁹ Es bietet sich also an, die Spezifikation der Theologie nicht in den systemischen Ressourcen oder Prozeduren wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung zu suchen, sondern im wissenssoziologischen Feld, das durch Kommunikation, Diskurse und Handlungen bestimmt ist. Die Grundform der Kommunikation einer wissenschaftlichen Erkenntnis, also ihre wissenssoziologische Vermittlung, besteht in einer Handlung. Die Erkenntnis wird in einer Proposition gefasst, deren Zweckbestimmung in Gestalt einer spezifischen Rolle (Illokution) aufgeführt wird, die ihrerseits die Wirkung der Erkenntnis wie die Intention, diese Wirkung zu erzielen (Perlokution), einschließt. Wenn wir nun Erkenntnisse handlungstheoretisch modellieren, dann ergibt sich das theologische Moment aus dem ill-

 Stellvertretend: Darius Asghar-Zadeh, Menschsein im Angesicht des Absoluten. Theologische Anthropologie in der Perspektive christlich-muslimischer Komparativer Theologie (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2017).  Reinhard Schulze, „Islam, Islamic Knowledge and the Modern Order of Authority“, Frankfurter Zeitschrift für Islamisch-Theologische Studien, Nr. 2, Special issue (2019): 15 – 37.

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okutionären und dem perlokutionären Akt der Erkenntnis, also aus dem Modus und aus der Wirkung der mitgeteilten Erkenntnis. Wie lässt sich aber diese Kommunikation näher bestimmen? Man erinnere sich: John Austin und, ihm folgend, John Searle haben „das Vollziehen einer Handlung mit Hilfe einer sprachlichen Äußerung“ betrachtet und analysiert. Den faktischen Vollzug nannten sie „Illokution“, was zugleich die Modalität der Sprechhandlung markiert. In der Paraphrase erscheint die Illokution wie ein Adverb, das die Äußerung charakterisiert. So ist der Sachverhalt „Lachend sagte Johann zu Johanna“ zu analysieren als eine Illokution („Lachen“), in der eine „Proposition“ („sagte zu Johanna“) eingebettet ist. Teil der Sprechhandlung ist aber auch die Wirkung, die dadurch besteht, dass die Sprechhandlung geäußert wird. Die Wirkung zeigt sich meist selbst wieder als Handlung (hier von Johanna). So kann der Sachverhalt beschrieben werden in der Form: „Lachend sagte Johann zu Johanna, die ihn daraufhin verwundert anschaute.“ Damit ist der eine Sprechakt formal abgeschlossen. Vorausgegangen war sicherlich ein anderer Sprechakt – genauso, wie ihm wohl ein weiterer Sprechakt folgt. Allerdings kann es sich auch um nonverbale Akte handeln, nur sind diese in der Wissenschaft eher selten (vielleicht gibt es sie im Labor). Der Wirkungseffekt kann epistemisch (eine Erkenntnis entsteht), motivational (eine Absicht entsteht) oder emotional (ein Gefühl oder Affekt entsteht) erfasst werden. Dieser Wirkungsaspekt, der zugleich konventionell oder kausal mit der Illokution verbunden ist, stellt das spezifische Moment der Theologie dar. Sie braucht also immer einen sozialen Raum, in dem sie sich, wie Wolfhart Pannenberg sagt, „bewähren“ kann. „Bewähren“ bedeutet hier, dass sie jene Wirkung auslöst, die mit ihrer Illokution konventionell, kausal oder funktional verknüpft ist.Wie schon an anderer Stelle ausgeführt,⁵⁰ könnte Theologie also als jene Wissenschaft von dem Religiösen (bzw. notwendigerweise konkretisiert im Sinne von einzelnen Religionen) angesehen werden, das sich in doppelter Hinsicht diskursiv bewährt: im Diskurs der Wissenschaften und im Diskurs der Religionsgemeinschaften, den die entsprechende Wissenschaft selbst zum Gegenstand hat. Wenn unter Bewährung jener Prozess verstanden wird, durch den über einen längeren Zeitraum hinweg und in einer Praxis sich zeigt, dass etwas oder jemand geeignet ist, dann bestünde die Bewährung eines Wissens im Diskurs der Religionsgemeinschaft mit dem Ziel, diese zum eigenständigen Handeln und zur reflexiven Selbstauslegung zu befähigen. Der soziale Raum des akademischen Wissens wird hierdurch deutlich ausgeweitet und integriert die Religionsgemeinschaften, die selbst wie-

 Reinhard Schulze, „Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft“, Zeitschrift für islamische theologische Studien 2 (2015): 99 – 125.

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der Gegenstand des Wissens sind. Das so theologisch werdende Wissen unterscheidet sich selbst in seinem propositionalen Gehalt nicht von seiner „säkularen“ Gestalt. Die Extension des sozialen Raums des Wissens ist aber eine rein akademische Angelegenheit. Sie erfolgt nicht aus religionsverfassungsrechtlichen Motiven. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrats haben daher von vornherein das akademische Feld einer möglichen „Islamischen Theologie“ der Universität zugeordnet.⁵¹ Islamische Theologie wurde als „Funktion der Universität“ definiert. Sie ist also nicht das Ergebnis einer Delegation an die Universität, die durch einen Vertrag abgesichert wäre, sondern Resultat eines innerwissenschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesses. Es ist nicht überraschend, dass die Islamische Theologie in der Zeit an deutschsprachigen Universitäten eingerichtet wurde, als die Universitäten ihre enge Bindung an den Staat zu lösen begannen und sich durch den Zugewinn an Autonomie gestützt mehr und mehr an den Anliegen der Zivilgesellschaft ausrichteten. Ja, in bestimmten fachlichen Feldern ist die Universität sogar zu einem Akteur der Zivilgesellschaft geworden (Klima, Medizin, Ökonomie). In dem Maße, wie die Universität ihre Bindung an den Staat lockerte, wurde sie von zivilgesellschaftlichen Diskursen herausgefordert. Überspitzt gesagt bildete sich in manchen Bereichen der Wissenschaft eine neue Partnerschaft mit Teilen der Zivilgesellschaft, die in einigen Bereichen (Extremismusforschung, Klimaforschung, Medizinforschung) sogar einen Bindungscharakter entwickelte. Ihr Wissen bewährt sich nun nicht mehr allein in der Wissenschaft, sondern auch in der Zivilgesellschaft. Das heißt nicht, dass die fachliche Gültigkeit der Wissenschaft (also ihr propositionaler Gehalt) von dieser Bewährung abhängig ist, wohl aber die Anerkennung ihrer Forschungsergebnisse in der Zivilgesellschaft. Diese Anerkennung ist neben der Nachhaltigkeit zu einem nicht zu unterschätzenden Gütekriterium der Wissenschaft geworden. Da es sich um eine Bewährung handelt, zeigt sich die Güte der Erkenntnisse nun auch in der Entfaltung zivilgesellschaftlicher Tugenden und in der Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion.

9 Theologizität der Theologie Theologie verbirgt sich also in einem intentional vorweggenommenen Wirkungsaspekt des Wissens. Wenn die Illokution dadurch geschieht, dass ein/e

 Überlegungen, die Islamische Theologie den Fachhochschulen zuzuweisen, wurden aus systematischen Gründen verworfen.

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Wissenschaftler/in eine Äußerung zu einem islamischen Thema so moduliert, dass sie eine affirmative Wirkung bei denjenigen entfaltet, die die Äußerung erfahren,⁵² und diese Affirmation der islamischen Tradition gilt, dann soll diese Illokution als „theologisch“ bezeichnet werden. Dies aber bedeutet, dass Islamische Theologie – wie Theologie überhaupt – nicht durch erkenntnistheoretische, methodische oder praktische Normen gekennzeichnet ist, die sie von anderen Disziplinen unterscheidet. Die Theologizität ist also allein durch die Modalität, in der eine wissenschaftliche Erkenntnis mitgeteilt wird, und durch die nachfolgende Wirkung gegeben.⁵³ Sie hängt nicht von dem propositionalen Gehalt ab, der im Sprechakt eingekleidet ist. Theologie ist also immer zu verstehen als das Zusammenspiel einer bestimmten illokutionären Rolle (oder eines Typs), wissenschaftliche Erkenntnis zu kommunizieren, mit dem Wirkungseffekt, den diese Kommunikation auslöst. Damit hängt Theologie zwangsläufig von denjenigen ab, die eine wissenschaftliche Erkenntnis gewinnen und kommunizieren, sowie von denjenigen, denen diese Erkenntnis kommuniziert wird. In diese Rolle kann jede/r Wissenschaftler/in schlüpfen, so hat die Wissenschaftsgeschichte vielfach deutlich gemacht, und damit kann jede wissenschaftliche Erkenntnis „theologisiert“ werden. Zugleich bedeutet dies, dass an dem propositionellen Gehalt von Sätzen, die eine islambezogene Erkenntnis formulieren, nicht erkennbar ist, ob sie „theologisch“ oder „nichttheologisch“ sind. Theologizität ist ein illokutiver Akt wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis. Es muss näher bestimmt werden, welche anderen Illokutionen es in der Wissenschaft gibt und wie sich diese von der Theologie unterscheiden. Ich denke, dass auch die Naturwissenschaft eine eigenständige Illokution darstellt. Ob dies auch für die nichttheologischen Geistes- und Sozialwissenschaften zutrifft, müsste gesondert diskutiert werden. Für unseren Zusammenhang ist allein wichtig, dass sich islambezogene Forschung in verschiedenen illokutiven Modulationen vollziehen kann und es keinen Sinn macht, eine Islamische Theologie von einer Islamwissenschaft dadurch abzugrenzen, dass die Islamische Theologie „bekenntnisorientiert“ oder „bekenntnisgebunden“ sei oder eine „Binnenperspektive“ darstelle. Vielmehr ist Theologie offenbar nur eine pragmatische Rolle wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis.

 Dieser Sachverhalt weist auf Freges Bestimmung einer „behauptenden Kraft“ zurück.  Thomas Schlag und Jasmine Suhner, „Was erschließt die Perspektive der Theologizität? Erkenntnisse und Herausforderungen“, in Theologie als Herausforderung religiöser Bildung. Bildungstheoretische Orientierungen zur Theologizität der Religionspädagogik, hrsg. von Thomas Schlag und Jasmine Suhner (Stuttgart: Kohlhammer, 2017), 179 – 190.

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10 Scholastische Einlassungen Die Festlegung, Theologizität gründe auf einer Vernunft, die die Setzungen der transzendenten Wahrheitsordnung erkennt, versteht und begreift und damit das Verstehen zu einer Funktion der Wahrheitstreue (intellectus fidei, „Glauben“) macht, ist wenig hilfreich. Denn dies würde bedeuten, dass das Verstehen einer bestimmten Wahrheit nur aus dieser Treue heraus möglich sei. Theologie in diesem Sinne wäre heute ein Glauben, der zum Verstehen und Erkennen dessen motiviert, woran ein Mensch glaubt. Das wäre eine Fortschreibung des Fides quaerens intellectum von Anselm von Canterbury. Die Offenbarung bediene sich der Prinzipien, die die Theologie konstituieren. Thomas von Aquin⁵⁴ forderte entsprechend, dass „neben den philosophischen Wissenszweigen, welche die menschliche Vernunft zum Gegenstande haben, eine Wissenschaft bestehe, die sich auf die göttliche Offenbarung stützt und in dieser ihr leitendes Prinzip sieht“. Dem schließen sich konservative Theologen bis heute an. Für sie gilt, dass Theologie „Offenbarungs- oder Glaubenswissenschaft“ ist. Sofern muslimische Wissenschaftler/innen ihre Theologie analog definieren, grenzen sie diese wesentlich und grundsätzlich von allen anderen Wissenschaften ab. Theologizität entstünde dann allein aus der Annahme einer Offenbarung. Eine solche Rückbindung der Theologie an die mittelalterliche Scholastik ist natürlich legitim. Allerdings droht dann auch die Gefahr eines Reduktionismus, indem das theologische Moment auf den „Glauben“ ausgerichtet und dieser zum Gegenstand und zum Medium der Erkenntnis gleichermaßen erkoren wird.⁵⁵ In der abendländischen Scholastik war dies systemisch, doch im Kontext einer säkularen Universität wirkt eine solche Bestimmung eher befremdend und archaisierend.

 Summa theologica, Iª q. 1 a. 1 co.  Der lateinische Ausdruck scientia fidei war bei den Kirchenvätern und in der Scholastik überaus beliebt und wurde zur Übersetzung einer Vielzahl arabischer Formulierungen verwendet; so findet sich in der lateinischen Übersetzung von Abū Ḥāmid al-Ġazālīs Maqāṣid al-falāsifa der Ausdruck für Arabisch al-ʿulūm aš-šarʿiyya; Richard Gosche, „Über Ghazzâlis Leben und Werke,“ Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin (1859), 278 (arab.), 279 (lateinisch). Der arabische Ausdruck ʿilm al-īmān findet sich in den älteren Texten der islamischen Tradition eher selten, und wenn, dann vornehmlich in sufischen Kontexten. In der frühen Neuzeit wurde er deutlich aufgewertet. Heute wird er oft in Kreisen verwendet, die den Muslimbrüdern nahestehen.

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11 Universitätstheologie oder Kirchentheologie Andererseits wird Theologie auch als außeruniversitäre Institution bestimmt und gefragt, ob sie eine Funktion der, von oder für Religionsgemeinschaften sei.⁵⁶ In diesem Sinne stünden Theologien in einer engen Nutzungsbeziehung zur jeweiligen Religionsgemeinschaft. Historisch trifft dies für die christlichen Kirchen sicherlich zu,⁵⁷ doch mit der Etablierung der neueren, säkularen Universitäten ergab sich eine fundamentale Differenzierung zwischen einer „Universitätstheologie“ und einer „Kirchentheologie“. Theologinnen und Theologen selbst agierten meist auf beiden Ebenen, bisweilen sogar simultan. Universitätstheologie ist das Ergebnis einer weitgehenden Reform kirchlicher Institutionen. Selbst die katholische Kirche, in der sich durch das Lehramt eine sehr eigene und eigenwillige Form der Kirchentheologie entwickelt hat, erkannte die Autonomie der Universitätstheologie an und behielt sich allein ein Nihil obstat vor, also einen Diskurs, der Forschungen und Erkenntnisse danach überprüft, ob es aus Sicht der Kirchentheologie Einwände geben könnte.⁵⁸ Gemeinhin wird behauptet, dass Theologie eine Funktion der Kirche sei, dass also die Kirche selbst die Funktion habe, eine Theologie ein- bzw. auszurichten. Auf die Islamische Theologie übertragen hieße dies, dass die islamischen Religionsgemeinschaften die Funktion hätten, die islamische Theologie ein- bzw. auszurichten. Gemäß älterer religionsrechtlicher Vorstellung würden die Kirchen (d. h. die Religionsgemeinschaften) dieses Recht per Konkordat an den säkularen Staat abtreten; es sei auch dieser Rechtsanspruch der Kirchen, der dazu führe, dass der Staat in eine Rechtsbeziehung mit der Kirche eintritt. Der Staat erkennt

 Hans-Martin Rieger, Theologie als Funktion der Kirche: eine systematisch-theologische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Kirche in der Moderne (Berlin: de Gruyter, 2007), 307– 311. Zum Ganzen: Engelhardt, Islamische Theologie, 95. Eine „Theologizität“ wird im deutschsprachigen Kontext seit 1973 angesprochen, siehe z. B. Gerhard Sauter, „Grundzü ge einer Wissenschaftstheorie der Theologie“, in Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie: die Theologie und die neuere wissenschaftstheoretische Diskussion. Materialien, Analysen, Entwürfe, hrsg. von Gerhard Sauter [et al.].. München: Kaiser, 1973), 213 – 332, 289.  Ob der von Engelhardt, Islamische Theologie, 95, zitierte Satz des evangelischen Theologen Martin Jung „Nur weil es Kirchen gibt, gibt es Theologie“ heute noch gilt, muss stark bezweifelt werden.  Von Universitätstheologie war seit etwa 1788 die Rede; als Kirchentheologie wurde seit 1750 zunächst die Theologie der Kirchenväter bezeichnet, dann ab etwa 1780 die Theologie, die von kirchlichen Institutionen betrieben wurde. Zur Geschichte der Universitätstheologie siehe: Johannes Wischmeyer, Theologiae Facultas: Rahmenbedingungen, Akteure und Wissenschaftsorganisation protestantischer Universitätstheologie in Tübingen, Jena, Erlangen und Berlin 1850 – 1870 (Berlin: Walter de Gruyter, 2008).

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das Recht der Kirche an, indem er das Bekenntnis zur Kirche als legitimen Akt der Anbindung anerkennt. Der Begriff „Bekenntnisbindung“ markiert damit sowohl den Rechtsanspruch der die Religionsgemeinschaften tragenden Institutionen als auch die Rechtsbeziehung des Staates zu den Religionsgemeinschaften.⁵⁹ Diese Situation erinnert stark an vormoderne, ständische Formen der Wissensorganisation. Analog könnten Ärzte reklamieren, dass sie die Funktion hätten, die Medizin als Wissenschaft auszurichten, und dass sie diese Funktion an den Staat delegiert hätten. Heute hingegen würden wir sagen, dass Medizin Teil einer Wissens- und Wissenschaftsorganisation der Gesellschaft und deshalb im Kanon der Wissenschaften beheimatet sei. Damit hat die Medizin die Funktion, Ärzte auszubilden. Entsprechend – und dem entsprach die Logik der Empfehlungen des Wissenschaftsrats – ist die Theologie nicht als Funktion der Religionsgemeinschaften zu verstehen, sondern als Teil einer Wissens- und Wissenschaftsorganisation der Gesellschaft selbst. Mithin habe die Theologie die Aufgabe, Theologen „auszubilden“. Eine Medizin, die durch die Interessensverbände der Ärzteschaft organisiert würde, hätte einen völlig anderen Charakter als die, die durch die Autonomie der akademischen Wissensorganisation etabliert wurde. Entsprechendes gilt auch für die Theologie. Durch die Konkordate haben sich die christlichen Theologien ihren Platz an der modernen Universität sichern können.⁶⁰ Es verwundert nicht, dass diese Dualität auf all jene Wissenschaften zutrifft, die in den drei höheren Fakultäten organisiert waren (Theologie, Medizin, Jurisprudenz); die sieben artes liberales (trivium plus quadrivium)⁶¹ waren ja nur als Propädeutikum zur Vorbereitung auf das Studium an diesen drei Fakultäten gedacht. Damit hatten sie keine andere Institution im Hintergrund als eben diese drei Fakultäten; in gewisser Hinsicht waren sie daher tatsächlich „freie Wissenschaften“.⁶² Eine Rückbindung ergab sich allerdings auch durch die Tatsache, dass die „freien Wissenschaften“ der Vorbereitung der Schullehrer dienten. Es gab also neben der Universität eine Kirchentheologie, eine Ärztemedizin und eine

 Engelhardt, Islamische Theologie, 148 – 58, diskutiert ausführlich die Problematik der Bekenntnisbindung.  Ansonsten wäre das Szenario denkbar gewesen, dass die Kirchen dem Staat „verboten“ hätten, Theologie zu betreiben; damit wäre ein neuer Kulturkampf möglich gewesen, der transdisziplinäre Legitimität der Theologie vollkommen zerstört hätte.  Grammatik/Rhetorik/Logik sowie Arithmetik/Geometrie/Musik/Astronomie.  Seneca, 88. Brief: Quare liberalia studia dicta sint vides: quia homine libero digna sunt, begründet das „freie“ Moment anders: Es handele sich um jene Künste, die im Unterschied zu den artes mechanicae nicht unmittelbar dem Broterwerb dienten, und frei sei der Mensch, wenn er nicht für seinen Broterwerb arbeiten müsse.

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Juristenrechtswissenschaft. Im vormodernen Universitätssystem hätte es also eine islamische Gemeindetheologie gegeben, die mit einer doppelten Funktion ausgestattet gewesen wäre: ersten der einer autoritativen Kompetenz in der Gemeinde und zweitens der eines Raums, in dem die perlokutive Kraft der illokutiven Rolle der Theologie zur Geltung kommt. Das liest sich abstrakt: Vereinfacht formuliert ist die Islamische Theologie im vormodernen Universitätssystem zu verstehen als jene Wissenschaften, die in einem Modus agieren, der von autoritativen Institutionen der Religionsgemeinschaften als „Theologie“ gespiegelt wird. Dann wäre die Islamische Theologie in die „höheren Fakultäten“ zu integrieren. Da es aber an der modernen Universität die Unterscheidung zwischen höheren Fakultäten und „freien Wissenschaften“ nicht mehr gibt und da die Theologie heute auf einer Ebene mit allen anderen Wissenschaften vernetzt ist, muss sich auch die Islamische Theologie in der Rolle einer Universitätstheologie definieren, die sich in einer zivilgesellschaftlichen Umwelt zu bewähren hat und die hilft, die muslimischen Gemeinden und Gemeinschaften in eben diese Umwelt diskursiv zu integrieren. Das akademische Wissen über den Islam steht damit vor einer großen Bewährungsprobe. Diese kann gelingen, wenn die Islamische Theologie ihre Erkenntnisoffenheit betont und den muslimischen Gemeinden plausibel machen kann, dass diese Offenheit auch für sie einen enormen Gewinn darstellt und die damit verbundene Kontingenzerhöhung einen Zugewinn nicht an Risiko, sondern an Freiheit bedeutet.

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Was zeichnet wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn in der Islamischen Religionspädagogik aus? – Eine Annäherung 1 Einleitung Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einer wissenschaftstheoretischen Fragestellung, die für die Profilbildung des Faches Islamische Religionspädagogik wesentlich ist, nämlich was wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn in der Islamischen Religionspädagogik auszeichnet. Nach etwa 20-jährigem Bestehen der Islamischen Religionspädagogik in der deutschen Wissenschaftslandschaft lohnt es sich, skizzenhaft darzustellen, welche Optionen rückblickend realisiert wurden, die für den wissenschaftstheoretischen Selbstentwurf des Faches kennzeichnend sind. Dazu wird in Abschnitt 2 des Artikels zunächst ein Überblick über die Hintergründe und die Entwicklung des Faches Islamische Religionspädagogik in Deutschland gegeben. In Abschnitt 3 wird die theologische Verankerung des Faches skizziert. In Abschnitt 4 wird dann eine wissenschaftstheoretische Kernfrage der Islamischen Religionspädagogik (sowie der Praktischen Theologie) erläutert, nämlich das Zusammenwirken von Tradition und Situation oder, anders formuliert, der Prozess der gegenseitigen kritischen Befruchtung der klassischen theologischen Methoden und der empirischen Vorgehensweisen der Sozialwissenschaften in der Islamischen Religionspädagogik sowie darüber hinaus in der gesamten Islamischen Theologie.

2 Die Entstehung der Islamischen Religionspädagogik in der deutschen Wissenschaftslandschaft Aus einer historischen Perspektive betrachtet ist Religionspädagogik eine Disziplin, die sich konzeptionell auf der Grundlage christlicher Bildungsvorstellungen entwickelt hat. Die Entwicklungslinien der christlichen Religionspädagogik https://doi.org/10.1515/9783110731743-005

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können von der klassischen Katechetik bis zum modernen Selbstverständnis als wissenschaftliche Disziplin nachgezeichnet werden.¹ Innerhalb der muslimisch geprägten Kulturkreise fand eine andere Entwicklung statt. Nach Gregor Schoeler zeigt sich bereits im frühen Islam zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert n. Chr. eine klare Trennung zwischen Elementarunterricht und höherer Ausbildung.² In diesen „Grundschulen“ wurden Lesen, Schreiben, Rechnen und arabische Grammatik erlernt sowie der Koran memoriert.³ Eine weiterführende Ausbildung für Schüler und Erwachsene fand nach Schoeler in der formativen (7. – 8. Jahrhundert) und klassischen Zeit (9. – 13. Jahrhundert) des Islams eher auf informeller Basis statt, indem männliche und weibliche Gelehrte des Korans, des Hadith, des Fiqh, der Grammatik und der Philologie meist in Moscheen Vorlesungen vor Wissbegierigen hielten.⁴ Sebastian Günther beschreibt das so: In the first three centuries of Islam, the transfer of the knowledge needed in the religiously defined disciplines (such as the study of prophetic traditions, Qurʾānic exegesis, Islamic history, Islamic law, Arabic language, etc.) primarily took place in assemblies or ‘sessions’ (sing. majlis) and in classes with a restricted number of students, also known as ‘study circles’ (sing. ḥalqa).⁵

So entstanden Lehrzentren in Mekka, Medina, Basra, Kufa und Bagdad und später auch in anderen Städten, deren Einfluss dazu führte, dass sich eine Praxis der Studienreisen in entfernte Städte entwickelte. Erst ab dem 11. Jahrhundert entwickelten sich die Madrasas als Institutionen für höhere Bildung.⁶ Schoeler arbeitet heraus, dass in der frühen Zeit die Vermittlung religiösen Wissens parallel schriftlich und mündlich stattfand. Man legte mehr Wert auf die „gehörte Überlieferung“ als auf die schriftliche, da man davon ausging, dass jemand, der Wissen nur schriftlich aufnahm, zu Fehlern neigte, da er die „gehörte Überliefe-

 Vgl. Bernd Schröder, Religionspädagogik. Neue theologische Grundrisse (Tübingen: Mohr Siebeck, 2012).  Vgl. Gregor Schoeler, „Gesprochenes Wort und Schrift. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im frühislamischen Lehrbetrieb“, in Von Rom nach Bagdad. Bildung und Religion von der römischen Kaiserzeit bis zum klassischen Islam, hrsg. von Peter Gemeinhardt und Sebastian Günther (Tübingen: Mohr Siebeck, 2013), 269.  Vgl. Schoeler, „Gesprochenes Wort und Schrift“, 272.  Vgl. Schoeler, „Gesprochenes Wort und Schrift“, 272– 74.  Sebastian Günther, „Education, General (up to 1500)“, in Encyclopaedia of Islam, THREE (Brill, 2017), zugegriffen 19.7. 2020, https://www.academia.edu/30495165/Education_general_up_to_ 1500_The_Encyclopaedia_of_Islam_THREE.  Vgl. Schoeler, „Gesprochenes Wort und Schrift“, 272– 74.

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rung“ nicht kannte.⁷ In dieser Hinsicht spielte ein grundlegendes Lehrprinzip eine wesentliche Rolle, und zwar: „close, personal contact between teacher and student as a way of safeguarding the transmission of religious knowledge“.⁸ Die Kolonialisierung der muslimisch geprägten Länder – der Beginn wird mit dem Einzug Napoleons in Ägypten 1798 datiert – führte auch im Bildungswesen zu tiefgreifenden Veränderungen. Die zentralen Bildungsinstitutionen (Madrasas), in denen Philosophie und Theologie studiert wurden, wurden von neuen Institutionen westlicher Prägung verdrängt.⁹ In Deutschland wurden seit Anfang der 2000er Jahre an verschiedenen Orten Professuren fü r „Islamische Religionspädagogik“ eingerichtet. Die Begrifflichkeit ist der Terminologie des christlichen Pendants entlehnt, die über die letzten 60 Jahre hinweg eine Entwicklung hin zu einer wissenschaftlichen Religionspädagogik vollzogen hat. Auf der Basis der Betrachtung der verschiedenen oben skizzierten Entwicklungslinien lässt sich die Frage stellen, ob auch im Bereich der Erziehung und Bildung im Islam von einer wissenschaftlichen Religionspädagogik gesprochen werden kann. Diese Frage ist zu bejahen, denn die Aneignung dieses Terminus impliziert nicht, dass die Islamische Religionspädagogik eine Abwandlung oder Modifikation der katholischen und evangelischen Religionspädagogik ist. Die Islamische Religionspädagogik entwickelt ihr eigenes Profil. Sie erarbeitet ihre eigene Form der theologischen Expertise und schöpft dabei aus ihrer eigenen Tradition, die sie im veränderten Kontext neu deutet. Es findet somit eine Übernahme des Begriffs „Religionspädagogik“ als Etikett für eine akademische und forschende Disziplin statt, wobei die konkrete inhaltliche Füllung eine islamische ist. Freilich finden methodologische und methodische Übernahmen statt und auch ein Lernen aus den langjährigen Erfahrungen der evangelischen und katholischen Religionspädagogik, doch hier lernt eine Fachwissenschaft von der anderen. In Deutschland hat sich die Islamische Religionspädagogik als akademische Disziplin vor der Islamischen Theologie an Universitäten und pädagogischen Hochschulen etabliert. Die Entwicklung und Akademisierung der Islamischen Religionspädagogik ist mit der Migrationsgeschichte in Deutschland eng verwoben, insbesondere mit der Anwerbung von Gastarbeitern aus der Türkei, die 1961 begann. Ab 1973 holten viele Gastarbeiter ihr Familien nach. Havva Engin stellt dar, wie die Entwicklung von Konzepten zur sprachlichen Eingliederung der  Vgl. Schoeler, „Gesprochenes Wort und Schrift“, 286 – 89.  Günther, „Education, General (up to 1500)“.  Vgl. Frank Griffel, Den Islam denken. Versuch, eine Religion zu verstehen (Ditzingen: Reclam, 2018), 58.

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„Gastarbeiterkinder“ durch die „Ausländerpädagogik“ an den Hochschulen vorangetrieben wurde. Die kulturelle und religiöse Unterweisung der muslimischen Kinder wurde erst ab 1977 durch den „muttersprachlichen und landeskundlichen Ergänzungsunterricht“ gewährleistet, der von Lehrkräften aus den Herkunftsländern auf der Grundlage der Heimatlehrpläne gegeben wurde.¹⁰ Man ging davon aus, dass diese sogenannten Wanderarbeitnehmer nach einer bestimmten Zeit in ihre Länder zurückkehren würden. Als sich diese Annahme nicht bestätigte und es sich abzeichnete, dass diese Menschen muslimischen Glaubens auf Dauer ein Teil der deutschen Gesellschaft sein würden, stellte sich die Frage nach der Errichtung einer religionspädagogischen Infrastruktur mit zunehmender Dringlichkeit. Der Islamischen Religionspädagogik fiel somit eine Pionierrolle in der deutschen Hochschullandschaft zu. Sie wurde als Antwort auf die Herausforderung der Präsenz muslimischer Kinder an öffentlichen Schulen in Deutschland entwickelt. Aus dieser Präsenz und der Notwendigkeit rechtlicher und institutioneller Rahmenbedingungen, die für die religiöse Beheimatung der Kinder in Deutschland unerlässlich waren, entstand eine inhaltliche Dynamik, die für die Entwicklung und Etablierung der Islamischen Religionspädagogik den Anstoß gab.¹¹ In ihrer akademischen Pionierfunktion musste die Islamische Religionspädagogik zeitweilig auch die Aufgaben der Fachwissenschaften übernehmen. Mit der Etablierung dieser Fachwissenschaften an den Zentren für Islamische Theologie ist diese Pionierphase weitgehend abgeschlossen. Die Islamische Religionspädagogik sieht sich aber dennoch nicht als eine Anwendungswissenschaft, sie „betreibt ihre eigene Form theologischer Expertise“.¹²

 Havva Engin, „Die Institutionalisierung des Islams an staatlichen und nichtstaatlichen Bildungseinrichtungen“, in Handbuch Christentum und Islam in Deutschland, hrsg. von Mathias Rohe u. a., 2. Aufl. (Freiburg im Breisgau; Basel; Wien: Herder, 2015), 369.  Vgl. ausführlich Fahimah Ulfat, „Current State of Research on Islamic Religious Education in Germany“, in Researching Religious Education: Classroom Processes and Outcomes, hrsg. von Friedrich Schweitzer und Reinhold Boschki (Münster: Waxmann, 2017), 343 – 72.  Harry Harun Behr, „Worin Liegt die Zukunft der Islamischen Religionspädagogik in Deutschland?“, 2010, Zeitschrift für die Religionslehre des Islam 4 (2010) 7, 22– 32, hier 24.

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3 Worauf richtet die Islamische Religionspädagogik ihren Blick und woher holt sie ihre Erkenntnisse? Aus einer wissenssoziologischen Perspektive besteht die Funktion von Theologie allgemein¹³ darin, religiöses Wissen zu „pflegen“. Das heißt, die Bedeutung, den Sinn und die Relevanz des religiösen Wissens weiterzugeben und zu sichern, aber auch, dieses religiöse Wissen immer wieder dahingehend zu prüfen, ob es mit den Lebenserfahrungen und ‐bedingungen der Menschen vereinbar ist. Somit bewegt sich diese theologische Pflege „in der Regel zwischen den Polen des ‚Bewahrens‘ und des ‚Erforschens‘“.¹⁴ Anders ausgedrückt, besteht eine theologische Grundspannung zwischen den Polen der Tradition und der Situation. Das Ausbalancieren dieser Pole kann als eine der wichtigsten Herausforderungen der Theologie bezeichnet werden. Dazu ist es wesentlich, sich zunächst Klarheit darüber zu verschaffen, was unter Islamischer Theologie zu verstehen ist. Nach Ali Ghandour kann Theologie in einem muslimischen Kontext in einem allgemeinen und einem spezifischen Sinn verstanden werden. Der allgemeine Sinn umfasst die Summe aller Disziplinen, die sich direkt oder indirekt mit der göttlichen und prophetischen Botschaft befassen. Die Disziplinen, die hier dazuzurechnen sind, variieren je nach Klassifikation. Zur Theologie gehört laut der Definition von Quṭb ad-Dīn aš-Šīrāzī (gest. 1310): […] jede Wissenschaft, die sowohl über Gott spricht, sei es mit rein intellektuellen Mitteln oder auch basierend auf der göttlichen Kunde (waḥy), als auch jede Wissenschaft, die sich hermeneutisch, philologisch, historisch oder normativ-ethisch bzw. normativ-rechtlich mit der göttlichen Kunde (waḥy) beschäftigt.¹⁵

 Religionspädagogik ist eine praktisch-theologische Disziplin.  Winfried Gebhardt, „Zwischen Tradition und Innovation. Von der Funktion der Theologie in symbolischen Sinnwelten“, in Zwischen Himmel und Erde. Bildungsphilosophische Verhältnisbestimmungen von Heiligem Text und Geist, hrsg. von Harun Behr und Fahimah Ulfat, Bd. 2 (Münster: Waxmann Verlag, 2014), 65.  Ali Ghandour, Die theologische Erkenntnislehre Ibn al-ʿArabīs. Eine Untersuchung des Begriffsvermögens (ʿaql), der Imagination (al-ḫayāl) und des Herzens (al-qalb) in Bezug auf ihr Erkenntnisvermögen in der Theologie aus der Perspektive der Sufis (Hamburg: Editio Gryphus, 2018), 22.

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In einem spezifischen Sinne kann Theologie als die Disziplin verstanden werden, die sich hauptsächlich mit Gott und den fundamentalen Fragen des Glaubens beschäftigt. Gerade in diesem Bereich gab es unter den klassischen Gelehrten zahlreiche Auseinandersetzungen.Vertreter des kalām postulierten die Auslegung des Glaubens mit rationalen Argumenten. Dabei bedienten sie sich der Philosophie, der Metaphysik, der Ontologie und der Kosmologie.Vertreter der ahl al-ḥadīṯ und auch einige Ḥanbaliten kritisierten diese Art der Begründung und Auslegung der Fundamente des Glaubens basierend auf den Methoden der Philosophie.¹⁶ Im Laufe dieser theologischen Debatten wurden zahlreiche Gotteskonzepte und -narrative entwickelt, je nachdem, welche Denkschulen sich mit der Thematik auseinandersetzen. Mit der so entstehenden Vielfalt der Gotteskonzepte und ‐narrative gingen die Muslim*innen der Vormoderne relativ gelassen um. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen, denn auch heute werden von muslimischen Theolog*innen, Denker*innen und Intellektuellen weiter Gottesnarrative konstruiert, die sich aus den Quellen, insbesondere aus dem Koran, speisen, aber mit heutigen Wertvorstellungen kritisch kontrastiert werden. So argumentiert etwa Sa’diyya Shaikh, dass das „Göttlich-Feminine“ bereits unter den frühesten muslimischen Gelehrten und Denkern diskutiert wurde, denn ein Großteil der vielfältigen göttlichen Attribute bzw. Qualitäten im Koran seien in der arabischen Sprache weiblichen Geschlechts und würden traditionell mit Weiblichkeit assoziiert.¹⁷ Allerdings würde im sprachlichen Gebrauch für Gott das männliche arabische Pronomen verwendet, auch wenn theologisch jede Form geschlechtsspezifischer Anthropomorphismen abgelehnt werde. Shaikh geht davon aus, dass patriarchale Strukturen die „männliche Bildsprache“ normiert haben, sodass die „weibliche Bildsprache“¹⁸ für das Göttliche als undenkbar oder zumindest unangemessen marginalisiert wurde. Die implizite Assoziation des Männlichen mit dem Göttlichen hat nach Shaikh massive Auswirkungen auf die Wahrnehmung vom Weiblichen und Männlichen sowie von der Rolle von Mann und Frau. Auf der Grundlage einer historisch-kritischen Sichtweise antwortet Shaikh mit einem Narrativ über Gott, in dem sie die göttlichen Attribute, die weiblichen Geschlechts sind, in den Vordergrund rückt. Sie argumentiert, dass Vorstellungen von der göttlichen Natur untrennbar verbunden seien mit unseren Vorstellungen von der menschlichen Natur und den Beziehungen der Geschlechter zueinander.¹⁹ So

 Vgl. Ghandour, Die theologische Erkenntnislehre Ibn al-ʿArabīs, 22– 24.  Sa’diyya Shaikh, „Allah, hidden treasures, and the Divine Feminine“, in Social Science Research Council. The Immanent Frame (Blog), zugegriffen 27. 5. 2019, https://tif.ssrc.org/2019/05/27/ allah-hidden-treasures-and-the-divine-feminine/.  Übersetzungen englischsprachiger Begriffe ins Deutsche von der Autorin.  Vgl. Shaikh, „Allah, hidden treasures, and the Divine Feminine“.

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versucht sie, die Normierung der „männlichen Bildsprache“ zu durchbrechen und ein Gottesnarrativ zu entwickeln, dass den Wertevorstellungen von Geschlechtergerechtigkeit und ‐gleichheit entspricht. Islamische Theologie ist somit keine dogmatische und für alle Zeiten festgelegte Lehre über das Wesen Gottes, auch wenn sich diese Ansicht basierend auf den Lehren al-Ašʿarīs (gest. 935) und al-Māturīdīs (gest. 941) im Mainstream der zeitgenössischen Debatten etablieren konnte. Islamische Theologie muss, kann und wird weiterhin und auf Dauer unabgeschlossen formuliert werden. Das Woher und Wohin der Erkenntnis befindet sich, was die Theologie betrifft, also im Fluss. Für die Islamische Religionspädagogik dient freilich nicht nur die Interpretation der Quellen als epistemologische Grundlage, sondern auch die „Situation“. Damit sind die Menschen, ihre Lebenswelt, ihre Denkweisen, Haltungen und Handlungen, aber auch die Geschichte, Kultur und Gesellschaft, in der sie leben, gemeint.²⁰ Für die Islamische Religionspädagogik geht es insbesondere um die Vermittlung zwischen Situation und Theologie, das heißt darum, heutige Situationen mit der Theologie in einen fruchtbaren Dialog zu bringen und umgekehrt. Harry Behr spricht von einem Übersetzungsprozess zwischen der theologischen Tradition in Form von Schrift, Wort und Bekenntnis einerseits und der Situation von in Deutschland lebenden Muslim*innen andererseits.²¹ Hier erhält die Islamische Religionspädagogik ihr kritisches Moment. Die Situation, in der Menschen ihren Glauben leben, kommt zu theologischer Geltung und wird zu einer Größe, die Anstöße für theologierelevante Erkenntnisse liefert. Das spezifische theologische Merkmal der Islamischen Religionspädagogik (wie der praktischen Theologie im Allgemeinen) ist somit, die Erkenntnisse der Situation in die heologie einzubringen und theologische Normen neu oder weiter zu denken.

 Vgl. Mirjam Schambeck, „Zum Verständnis und Geschäft der Religionspädagogik: wissenschaftstheoretische Anmerkungen“, Religionspädagogische Beiträge 70 (2013): 99.  Vgl. Harry Harun Behr, „Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe“, in Gemeinsam das Licht aus der Nische holen. Kompetenzorientierung im christlichen und islamischen Religionsunterricht der Kollegstufe, hrsg. von Frank van der Velden, Harry Harun Behr, und Werner Haussmann (Göttingen: V & R Unipress, 2012), 22.

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4 Mit welchen Methoden kommt die Islamische Religionspädagogik zu ihren Erkenntnissen? In dieser Wechselbeziehung zwischen Theologie und Situation wird auch das Wie der Erkenntnis der Islamischen Religionspädagogik unmittelbar deutlich. Neben der Theologie als „Reflexionshorizont“²² der Erkenntnis greift die Religionspädagogik auf weitere Reflexionshorizonte zurück, denn um die Situation in den Erkenntnisprozess hineinholen zu können, sind Theorien aus der Pädagogik, der Psychologie und den Sozialwissenschaften unabdingbar, also aus den Wissenschaften, die den Menschen, seine Entwicklung und seine Lebenswelt beschreiben. Aber auch methodisch orientiert sich die Islamische Religionspädagogik an den Sozialwissenschaften. Mit Mirjam Schambeck gesprochen, reicht es „nicht mehr, mit historischen oder hermeneutischen Methoden zu arbeiten. Die Praktische Theologie [und somit auch die Religionspädagogik, a. d.V.] greift insbesondere auf empirische Methoden aus der Sozialforschung zurück und unterscheidet sich dadurch von den systematisch-theologischen Disziplinen“.²³ Neben den empirischen Verfahren verwendet die Religionspädagogik auch historische, vergleichende und systematische Verfahren, um zu ihren Erkenntnissen und Theorien zu kommen.²⁴ Die empirische Forschung der Islamischen Religionspädagogik fokussiert sich dezidiert auf die Analyse religiöser Orientierungen und religiöser Lehr- und Lernprozesse. Die Islamische Religionspädagogik steht somit auf zwei Säulen bzw. muss Anforderungen aus zwei verschiedenen Bereichen entsprechen: der Islamischen Theologie und den empirischen Sozial- und Bildungswissenschaften. Sie muss nicht nur den Qualitätskriterien beider Säulen genügen, sondern hat überdies eine Brücken- und Übersetzungsfunktion.²⁵ Der Ruf nach einer Übersetzbarkeit der Islamischen Theologie in die Lebenswelt junger Menschen, die sich mit dem Islam beschäftigen wollen, wird vor allem in empirischen Forschungsarbeiten

 Schambeck, „Zum Verständnis und Geschäft der Religionspädagogik“, 99.  Vgl. Schambeck, „Zum Verständnis und Geschäft der Religionspädagogik“, 99.  Vgl. Friedrich Schweitzer, „Fragen zum Stand der Forschung in der islamischen Religionspädagogik in Deutschland. Freundschaftliche Anmerkungen aus der Sicht eines evangelischen Religionspädagogen“, Hikma. Journal of Islamic Theology and Religious Education 8, (2017) 1: 115 – 20.  Fahimah Ulfat, „Islamische Theologie und Religionspädagogik: Das dringende Abenteuer der Übersetzung“, in EinFach Übersetzen. Theologie und Religionspädagogik in der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit, hrsg. von Werner Haußmann u. a. (Stuttgart: Kohlhammer, 2019), 241– 48.

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deutlich, wie der folgende Interviewausschnitt aus der aktuellen Forschungsarbeit der Autorin zeigt: Bilal: Ja was mir auch grad eingefallen ist also man sagt ich kenn mich jetzt nicht mit dem Christentum so gut aus aber ich bin erst fünfzehn ich bin noch nicht sechzehn aber so zum Beispiel Alkohol trinken oder so einmal wurde gesagt ja wenn wir sechzehn sind dann gehen wir halt irgendwo hin oder sowas trinken und dann sagt so einer aber dann kann Bilal ja nicht mit weil der ist ja Moslem aber dann denk ich mir so ist es nicht bei den Christen eigentlich auch so dass man zum Beispiel kein Alkohol trinken darf oder also des ist ja nicht so dass der Islam irgendwie eine Religion ist die dir alles vorschreibt und das Christentum eine Religion die dich so frei lässt weil da gibts ja auch Regeln und also ich bin zwar ein Moslem aber es gibt auch Sachen wo ich also zum Beispiel ich hinterfrag Sachen es gibt auch Rituale wo ich mich frag warum und so und keine Ahnung ich hab auch mal so gesagt es würde mehr Sinn machen wenn man den Koran updaten würde zur Zeit weil desto mehr die Zeit vergeht desto schwerer wird es einfach viele Sachen sind halt so ungenau beschrieben. (männlich, 15 Jahre, Gymnasium) (Zitat leicht geglättet)

Die empirische Forschung hat das Potenzial, das als asymmetrisch wahrgenommene Verhältnis zwischen Tradition und Situation, das der Jugendliche hier schildert, für Bildungsprozesse nutzbar zu machen. Dabei geht es nicht darum, Praxis und Theorie (Theologie) einander konfrontativ gegenüberzustellen. Es geht auch nicht darum, einen Bruch zwischen Tradition und Situation zu konstatieren und den Abstand zwischen heutigen Lebensentwürfen und der tradierten Religion zu messen, sondern im Gegenteil um Prozesse der Vermittlung und Befruchtung zwischen Theologie und Situation.²⁶ Aus islamischer Perspektive verlaufen solche Vermittlungsprozesse in Form einer dynamischen Rückkopplung: Die gegenwärtige Situation wird aus dem Blickwinkel der Tradition, also aus Koran und Sunna heraus gedeutet. Die Tradition wiederum wird aus dem Blickwinkel der gegenwärtigen Situation gedeutet. Dieser Prozess ist dauerhaft unabgeschlossen und ergebnisoffen. Auf diese Weise wird die Situation von der Tradition kritisch begleitet und die Tradition von der Situation lebendig gehalten, ganz im Sinne von Jean Jaurès: „Tradition heißt nicht Asche bewahren, sondern ein Feuer am Brennen halten.“²⁷

 Vgl. Hans-Georg Ziebertz, „Methodologische Multiperspektivität angesichts religiöser Umbrüche“, in Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – aktuelle Projekte, hrsg. von Burkard Porzelt (Münster; Hamburg; London: Lit, 2000), 31.  Gerhard Kiefel, Betroffen vom Leben (Wuppertal: Kiefel, 1980), 145.

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5 Schlussbetrachtung Die Islamische Religionspädagogik als praktische Disziplin der Islamischen Theologie ist eine Orientierungs- und Verbundwissenschaft mit Rückwirkung in das soziale Feld hinein, aus dem heraus sie ihre Fragen und ihre Legitimation bezieht. Sie bildet gemeinsam mit der Praktischen Theologie in entscheidender Weise die Verbindung der Islamischen Theologie zur Praxis. Im Verbund mit anderen Disziplinen der Islamischen Theologie sowie den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften finden diese beiden Disziplinen ihren Gegenstand in der empirisch gegebenen religiösen Praxis der Menschen, der gelebten Religion des Islams. Dabei ist das Besondere an diesen Disziplinen die Erfassung der lebensweltlichen Relevanz der Religion für Muslim*innen, die mit den anderen theologischen Fächern ins Gespräch gebracht wird. Die Erforschung religiöser Praxis und religiöser Bildung dient dazu, einerseits religiöse Lebens-, Denk- und Bildungsprozesse von Muslim*innen in Deutschland besser zu verstehen, andererseits empirische Grundlagen für eine qualifizierte religiöse Bildung in verschiedensten Handlungsfeldern zu liefern. Zusammenfassend kann also das kritische Potenzial der Islamischen Religionspädagogik aus dem Situationsbegriff abgeleitet werden. Die sozialwissenschaftlich-empirische Seite der Religionspädagogik vermittelt die Situation in die klassischen Disziplinen der Islamischen Theologie hinein. Sie kann zum Beispiel zeigen, ob bestimmte theoretisch abgeleitete Normen in der gelebten Praxis funktionieren oder nicht, ob sie Leid oder Segen erzeugen, ob sie eine Erleichterung oder eine Erschwernis für die Menschen in ihren jeweiligen Kontexten darstellen. Darin steckt das kritische Potenzial dieser Seite der Religionspädagogik. Doch wegen der Brückenfunktion findet eine Vermittlung in zwei Richtungen statt: Die Ergebnisse der empirischen Forschung werden in die Islamische Theologie eingespeist, wodurch diese Anstöße zur Weiterentwicklung und Innovation erhält. In umgekehrter Richtung aber vermittelt die Islamische Religionspädagogik (und die Praktische Theologie) Denkweisen und Werte der Islamischen Theologie in die Lebenspraxis von Muslim*innen, denen sie so Orientierung, kritische Begleitung, Trost und Sinn geben kann. Die Islamische Religionspädagogik hat in ihrer Übersetzungsfunktion die Aufgabe, Theologie und Lebenswelt miteinander wechselseitig ins Gespräch zu bringen, das heißt muslimisches Denken in lebensweltliche Diskurse zu übersetzen sowie umgekehrt lebensweltliche Diskurse theologisch zu verorten und damit die Theologie in ihrer orientierungsgebenden Funktion auch ein Stück weit zu ‚verlebendigen‘. Die Islamische Religionspädagogik wird somit zu einer Brücke und zu einem Übersetzer für die Islamische Theologie und hilft, Sprachlosigkei-

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ten zu überwinden, Begrifflichkeiten zu übertragen, Denkvorstellungen zu würdigen und eine Verbindung von Spiritualität und Alltag herzustellen.

Literatur Behr, Harry Harun. „Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe“. In Gemeinsam das Licht aus der Nische holen. Kompetenzorientierung im christlichen und islamischen Religionsunterricht der Kollegstufe, hrsg. von Frank van der Velden, Harry Harun Behr, und Werner Haussmann, 17 – 40. Göttingen: V & R Unipress, 2012. Behr, Harry Harun. „Worin Liegt die Zukunft der Islamischen Religionspädagogik in Deutschland?“, Zeitschrift für die Religionslehre des Islam 4 (2010) 7: 22 – 32. Engin, Havva. „Die Institutionalisierung des Islams an staatlichen und nichtstaatlichen Bildungseinrichtungen“ In Handbuch Christentum und Islam in Deutschland, hrsg. von Mathias Rohe, Havva Engin, Mouhanad Khorchide, Ömer Özsoy, und Hansjörg Schmid, 2. Aufl., 369 – 91. Freiburg im Breisgau; Basel; Wien: Herder, 2015. Gebhardt, Winfried. „Zwischen Tradition und Innovation. Von der Funktion der Theologie in symbolischen Sinnwelten“. In Zwischen Himmel und Erde. Bildungsphilosophische Verhältnisbestimmungen von Heiligem Text und Geist, hrsg. von Harun Behr und Fahimah Ulfat, 2:63 – 76. Münster: Waxmann Verlag, 2014. Ghandour, Ali. Die theologische Erkenntnislehre Ibn al-ʿArabīs. Eine Untersuchung des Begriffsvermögens (ʿaql), der Imagination (al-ḫayāl) und des Herzens (al-qalb) in Bezug auf ihr Erkenntnisvermögen in der Theologie aus der Perspektive der Sufis. Hamburg: Editio Gryphus, 2018. Griffel, Frank. Den Islam denken. Versuch, eine Religion zu verstehen. Ditzingen: Reclam, 2018. Günther, Sebastian. „Education, General (up to 1500)“. In Encyclopaedia of Islam, THREE. Brill, 2017. Zugegriffen 19. 7. 2020. https://www.academia.edu/30495165/Education_general_ up_to_1500_The_Encyclopaedia_of_Islam_THREE. Kiefel, Gerhard. Betroffen vom Leben. Wuppertal: Kiefel, 1980. Schambeck, Mirjam. „Zum Verständnis und Geschäft der Religionspädagogik: wissenschaftstheoretische Anmerkungen“. Religionspädagogische Beiträge 70 (2013): 91 – 103. Schoeler, Gregor. „Gesprochenes Wort und Schrift. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im frühislamischen Lehrbetrieb“. In Von Rom nach Bagdad. Bildung und Religion von der römischen Kaiserzeit bis zum klassischen Islam, hrsg. von Peter Gemeinhardt und Sebastian Günther, 269 – 90. Tübingen: Mohr Siebeck, 2013. Schröder, Bernd. Religionspädagogik. Neue theologische Grundrisse. Tübingen: Mohr Siebeck, 2012. Schweitzer, Friedrich. „Fragen zum Stand der Forschung in der islamischen Religionspädagogik in Deutschland. Freundschaftliche Anmerkungen aus der Sicht eines evangelischen Religionspädagogen“, Hikma. Journal of Islamic Theology and Religious Education 8, (2017) 1: 112 – 24. Shaikh, Sa’diyya. „Allah, hidden treasures, and the Divine Feminine“. In Social Science Research Council. The Immanent Frame (Blog). Zugegriffen 27. 5. 2019. https://tif.ssrc.org/ 2019/05/27/allah-hidden-treasures-and-the-divine-feminine/.

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Fahimah Ulfat

Ulfat, Fahimah. „Current State of Research on Islamic Religious Education in Germany.“ In Researching Religious Education: Classroom Processes and Outcomes, hrsg. von Friedrich Schweitzer und Reinhold Boschki, 1. Aufl., 343 – 72. Münster: Waxmann, 2017. Ulfat, Fahimah. „Islamische Theologie und Religionspädagogik: Das dringende Abenteuer der Übersetzung. In EinFach Übersetzen. Theologie und Religionspädagogik in der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit, hrsg. von Werner Haußmann, Andrea Roth, Susanne Schwarz, und Christa Tribula, 241 – 48. Stuttgart: Kohlhammer, 2019. Ziebertz, Hans-Georg. „Methodologische Multiperspektivität angesichts religiöser Umbrüche“. In Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – aktuelle Projekte, hrsg. von Burkard Porzelt, 29 – 44. Münster; Hamburg; London: Lit, 2000.

Jan Felix Engelhardt

Zwischen Tradition, Performanz und Autorität der Ich-Perspektive: Die Frage von Authentizität in den Islamisch-Theologischen Studien 1 Einleitung Der vorliegende Beitrag möchte analysieren, wie Authentizität als ein Kriterium in den Islamisch-Theologischen Studien konzeptionalisiert wird. Dazu wird zunächst geklärt, inwiefern Authentizität als Begriff genutzt wird. Hierfür wird zwischen zwei unterschiedlichen Auffassungen von Authentizität unterschieden: Zum einen wird Authentizität in einer kollektiv-performativen Funktion beschrieben, bei der Forschung und Lehre von individuellen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit den Überzeugungen von Glaubensgemeinschaften kongruieren (sollen). Zum anderen wird Authentizität in einer individuiert-normativen Funktion beschrieben, bei der Forschung und Lehre als authentisch gelten, wenn sie in Übereinstimmung mit individuellen Sinnzusammenhängen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern stehen. Zudem versucht der Beitrag auszuloten, inwiefern theologische Traditionen einen gemeinsamen Sinnhorizont bereitstellen können, in den sich beide Auffassungen von Authentizität in den Islamisch-Theologischen Studien einfassen lassen. Die Islamisch-Theologischen Studien etablieren sich seit ihrer Gründung als wissenschaftliches Feld: Sie entwickeln eigene Semantiken, Zugangskontrollen zum Feld, Allokationsmechanismen von wissenschaftlichem Kapital und Möglichkeiten, externe Ansprüche vonseiten anderer Disziplinen und nichtwissenschaftlicher Akteure abzuwehren. Mit Blick auf außeruniversitäre Anspruchsgruppen spielen vor allem die muslimischen Glaubensgemeinschaften bzw. all jene Menschen, die sich in irgendeiner Weise als muslimisch identifizieren, eine zentrale Rolle bei der Frage, welche Angebote das Fach seinen außeruniversitären Adressaten machen kann. Wortmeldungen von religionsgemeinschaftlichen Akteuren in der Anfangsphase der Etablierung des Faches weisen darauf hin, dass diese die islamischtheologische Wissensproduktion an deutschen Universitäten eher als Teil ihres Zuständigkeitsbereiches antizipiert hatten. Exemplarisch sei hier auf die Bemerkung des damaligen Sprechers des Koordinationsrats der Muslime in Deutschland https://doi.org/10.1515/9783110731743-006

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Jan Felix Engelhardt

(KRM), Bekir Alboğa, im Vorwort zum Gutachten¹ zum Münsteraner Theologen bzw. Religionspädagogen Mouhanad Khorchide verwiesen. Darin schreibt er: Als freier [sic] Wissenschaftler ist es jedem und somit auch ihm [Khorchide] unbenommen, wenn er seiner Forschung den freien Lauf lässt und hierbei zu den verschiedensten Schlussfolgerungen gelangt. Dazu bestehen außerhalb der Islamischen Theologie Möglichkeiten.²

Khorchide habe jedoch […] seine eigene Pflicht als Islamischer Theologe verletzt und die islamische Religionsgemeinschaft, zu deren Lehre er sich verpflichtet hat, vor vollendete Tatsachen gestellt.³

Die Aussage, dass sich ein muslimischer Theologe zur Lehre einer islamischen Religionsgemeinschaft verpflichtet hat, stellt den Dienstleistungscharakter von Theologie als Ausbildungswissenschaft religionsgemeinschaftlicher Wissensund Bedeutungssysteme in den Vordergrund. Diese Funktion ist dem deutschen Theologiemodell nicht unbekannt, schließlich dient ein Großteil der Lehre in den christlichen Theologien und auch in der islamischen der Ausbildung von Lehrkräften für den Religionsunterricht sowie des Personals für Tätigkeiten in den Gemeinden. Auf diese Ausbildungsfunktion hat unter anderem der Religionswissenschaftler und evangelische Theologe Andreas Feldtkeller hingewiesen.⁴ Für die Islamisch-Theologischen Studien stellt sich allerdings die Frage, in welchem Maße sie islamischen Religionsgemeinschaften gegenüber zur Dienstleistung verpflichtet sind und wo sie auch jenen Musliminnen und Muslimen Ange-

 Khorchide verö ffentlichte 2012 eine Monographie, deren Hauptthese in dem programmatischen Titel Islam ist Barmherzigkeit zum Ausdruck kommt. Sein Buch sowie verschiedene ö ffentliche Ä ußerungen zur stockenden Konstituierung des islamischen Beirats fü r das Zentrum für Islamische Theologie in Mü nster setzten eine Diskussion ü ber ihn und seine Thesen in Gang. Im Januar 2013 forderten ihn die Vorsitzenden der Schura Hamburg zur „Reue“ auf, und im Dezember 2013 verö ffentlichte der KRM eine umfangreiche Stellungnahme zu dem Buch. Zeitgleich gab die DITIB eine Pressemitteilung heraus, in der sie die Zusammenarbeit mit Khorchide aufkü ndigte. Ausführlich dazu vgl. Jan Felix Engelhardt, Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem: Ausdifferenzierung und Selbstkonzeption einer neuen Wissenschaftsdisziplin (Wiesbaden: Springer, 2017).  Bekir Alboğa, „Gutachten zur ‚Theologie der Barmherzigkeit‘ von Mouhanad Khorchide, dem Leiter des Zentrums für Islamische Theologie Münster“, 2013, 6, kursiv von JFE.  Alboğa, „Gutachten“, 6, kursiv von JFE.  Vgl. Andreas Feldtkeller, „Religionswissenschaft innerhalb und außerhalb der Theologie“, in Die Identität der Religionswissenschaft. Beiträge zum Verständnis einer unbekannten Disziplin, hrsg. von Gebhard Löhr (Frankfurt am Main: Peter Lang, 2000), 85 – 86.

Zwischen Tradition, Performanz und Autorität der Ich-Perspektive

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bote machen, die nicht unter das Vertretungsmandat der Religionsgemeinschaften fallen.

2 „Authentizität“ als Kernbegriff Zwar kann eine Diskussion um Authentizität in der Islamischen Theologie natürlich vor dem Hintergrund islamischer Theologie- und Wissenstraditionen gelesen werden, da es bei diesem Thema schnell um Fragen der Echtheit und Glaubwürdigkeit geht – etwa bei der Beurteilung von Hadithen und ihren Überlieferungsketten. Auch institutionalisierte Praktiken wie die Kritierien zur Vergabe einer Lehrerlaubnis (iǧāza) oder das Folgen von religiösen Autoritäten im schiitischen Islam (marǧaʿ at-taqlīd)⁵ könnten hier eine Rolle spielen. Authentizität (arab. aṣāla) wird in der Literatur zudem als Kernbegriff in der Diskussion um Wissensproduktion und Technik in muslimischen Ländern,⁶ als Konzept muslimischer Reformer des 19. Jahrhunderts,⁷ als Thema kultureller Identität⁸ sowie als Narrativ islamistischer Bewegungen im 20. und 21. Jahrhundert⁹ besprochen. Diese Kontexte sind allerdings für das Verständnis der Diskussion von islamisch-theologischen Aussagen mit Blick auf ihren authentischen Gehalt nicht relevant. Authentizität muss hier stattdessen zum einen als ein begriffliches Konzept diskutiert werden, das seinen Ursprung in der westlichen Moderne¹⁰ hat, und zum anderen als Kernbegriff, mit dessen Hilfe sich (akademische wie religiöse) Diskursfelder ordnen und regieren lassen.

 Siehe dazu Katajun Amirpur, „A Doctrine in the Making? Velayat-e Faqih in Post-Revolutionary Iran“, in Speaking for Islam: Religious Authorities in Muslim Societies (Leiden: Brill, 2006), 218 – 19.  Mazyar Lotfalian, „Knowledge Systems and Islamic Discourses. A Genealogy of Keywords on the Development of Science and Technology in Transcultural Context“, in Cultural Dynamics 13, Nr. 2 (2001): 231– 43.  Aziz al-Azmeh, „The Discourse of Cultural Authenticity: Islamist Revivalism and Enlightenment Universalism“, in Culture and Modernity. East-West Philosophic Perspectives, hrsg. von Eliot Deutsch (Honolulu: University of Hawaii, 1993), 468 – 86.  Abdolkarim Soroush, Reason, Freedom, & Democracy in Islam: Essential Writings of Abdolkarim Soroush, übers. von Mahmoud Sadri und Ahmad Sadri (New York, N.Y.: Oxford University Press, 2000), 162– 65.  Jocelyne Cesari, „Islam in the West. Modernity and Globalization Revisited“, in Globalization and the Muslim World: Culture, Religion, and Modernity, hrsg. von Birgit Schaebler und Leif Stenberg (Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press, 2004), 80 – 92.  Vgl. Ken Koltun-Fromm, Imagining Jewish Authenticity: Vision and Text in American Jewish Thought (Bloomington: Indiana University Press, 2015), 6.

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Gleichzeitig kann das Bedürfnis nach Authentizität auch innerhalb einer gegenwärtig grundlegenden Diskussion um Authentizität in den Wissenschaften kontextualisiert werden: Ein Trend ist hier, das Reden von anderen zu ersetzen durch ein Reden von sich. Die Sprachfähigkeit muslimischer Akteure zu erhöhen, war ja eines der Ziele, mit denen der deutsche Wissenschaftsrat für die Etablierung des Faches argumentiert hatte. Hier berührt das Thema Authentizität zwangsläufig das Thema Repräsentation und Ordnungsmacht. So knüpft die Frage der Authentizität in den Islamisch-Theologischen Studien auch an grundlegende Diskurse von Repräsentativität und Identität in den Islamstudien an, die im nordamerikanischen Kontext bereits seit Längerem geführt werden.¹¹ Zum einen geht es auch hier vor allem um die gesellschaftliche Anbindung von Islamstudien und die Frage, wessen Sprechen als Wissenschaftler repräsentativer gegenüber Anfragen und Anklagen von außerhalb des Wissenschaftssystems gilt. Zum anderen geht es um die Ordnung des wissenschaftlichen Feldes, um die Verknüpfung von Epistemen und Macht in diesem Feld, in dem eine „First Person Authority“¹² an Glaubwürdigkeit gegenüber anderen Verfahren der Wissensgewinnung und ‐dissemination gewinnt. Mit Blick auf den Aufbau der Islamisch-Theologischen Studien als wissenschaftliches Feld werden diese grundlegenden Tendenzen relevant. Fest steht: Professorinnen und Professoren verstehen sich zu einem Großteil damit beauftragt, Problem- und Fragestellungen aus verschiedenen religiösen, ethischen, praktischen und Identität formierenden Bereichen von Musliminnen und Muslimen in Deutschland theologisch zu reflektieren. Der Bezug zur muslimischen Glaubensgemeinschaft – in einer sehr weit gefassten Definition – als zentralem außeruniversitären Adressaten entwickelt sich zu einem Paradigma im Fach. Dies beinhaltet die Aufnahme (angenommener) glaubensgemeinschaftlicher Erwartungen und Bedürfnisse gegenüber der universitären Theologie in die Lehre und Forschung.¹³ Dabei werden allerdings mehrheitlich alle Musliminnen

 Aaron W. Hughes, Islam and the Tyranny of Authenticity: An Inquiry into Disciplinary Apologetics and Self-Deception (Sheffield, UK; Bristol, CT: Equinox, 2015); Jan Felix Engelhardt, „On Insiderism and Muslim Epistemic Communities in the German and US Study of Islam“, in The Muslim World 106 (2016): 740 – 58.  Terry F. Godlove, Jr., „Religious Discourse and First Person Authority“, in The Insider/Outsider Problem in the Study of Religion. A Reader, hrsg. von Russell T. McCutcheon (London: Continuum, 2005), 164– 78.  Vgl. Bekim Agai u. a., „Islamische Theologie in Deutschland: Herausforderungen im Spannungsfeld divergierender Erwartungen“, in Frankfurter Zeitschrift für Islamisch-theologische Studien 1, Nr. 1 (2014): 21; Katajun Amirpur, Aufgaben und Perspektiven islamischer Theologie in Deutschland aus Sicht der Wissenschaft, hrsg. von Konferenz zur Woche der islamischen Einheit: Islam in Deutschland – Herausforderungen zur Etablierung einer islamischen Theologie (Schura

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und Muslime weltweit als Angehörige dieser glaubensgemeinschaftlichen Bezugsgruppe definiert. So betont etwa das Institut an der Universität Frankfurt, dass die muslimische Glaubensgemeinschaft weit über die institutionalisierten Formen von Religionsgemeinschaften in Deutschland hinausgehe.¹⁴ Das Fach wird also nicht nach den Erwartungen eines religionsgemeinschaftlichen Adressatenkerns ausgerichtet, sondern nimmt alle Personen, die sich auf unterschiedliche Art und Weise als muslimisch identifizieren, in den Blick. Die Frage, die sich angesichts der Angebotsfunktion der Islamisch-Theologischen Studien stellt, ist unter anderem die nach der Glaubwürdigkeit und Legitimität ihrer Wissensangebote. Hier wird „Authentizität“ als Bewertungskategorie islamischer Wissensproduktion in Deutschland relevant. Dabei fällt zunächst auf, dass der Begriff zwar häufig verwendet, bisher allerdings nie geklärt wurde. Ähnlich wie die islamische „Tradition“ ist „Authentizität“ ein selbstverständlicher Begriff, dessen Selbstverständlichkeit darauf beruht, dass er bisher nicht infrage gestellt wurde. Vielleicht fehlte dazu bisher die Zeit; lohnenswert ist es aber, hier auf zwei Funktionen hinzuweisen, die die Forderung nach Authentizität übernimmt: Zum einen soll Authentizität die notwendige Verbindung zwischen theologischem und glaubensgemeinschaftlichem Feld sicherstellen: In dieser Hinsicht ist sie Bedingung für die Akzeptanz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Islamisch-Theologischen Studien und ihrer Aussagen in der Glaubensgemeinschaft. Sehr deutlich wird dies durch eine Selbstverpflichtung illustriert, in der Khorchide zum Antritt seiner Professur gegenüber dem KRM erklärte, dass die Ausbildung von Religionslehrern für den islamischen Religionsunterricht ein religionspädagogisches Personal hervorbringen solle, das „sowohl auf wissenschaftlicher Ebene als auch auf persönlicher Ebene authentisch“ sein müsse.¹⁵ Zum anderen fungiert die Authentizität als normatives, individuiertes Ideal, auf dessen Grundlage Forschende und Lehrende sich dazu befähigt sehen, sich auch

Hamburg, 2014), 13 – 14; Ednan Aslan u. a., Hrsg., Islamische Theologie in Österreich: Institutionalisierung der Ausbildung von Imamen, SeelsorgerInnen und TheologInnen (Frankfurt am Main: Peter-Lang-Edition, 2013), 161. Zu ähnlichen Ansätzen in den christlichen Theologien vgl. den Überblick von Christoph Bochinger, „Wahrnehmung von Fremdheit. Zur Verhältnisbestimmung zwischen Religionswissenschaft und Theologie“, in Die Identität der Religionswissenschaft. Beiträge zum Verständnis einer unbekannten Disziplin, hrsg. von Gebhard Löhr (Frankfurt am Main: Peter Lang, 2000), 57.  Vgl. Agai u. a., „Islamische Theologie in Deutschland“, 20.  Mouhanad Khorchide, „Absichtserklärung“, 2010.

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in kritischer Abgrenzung mit dem bestehenden Wissensarchiv des Islams¹⁶ und Aspekten muslimischer Glaubenssysteme auseinanderzusetzen. Im Folgenden werden diese beiden Auffassungen als kollektiv-performative und individuiert-normative Auffassungen von Authentizität unterschieden.

2.1 Kollektiv-performative Authentizität Von religionsgemeinschaftlicher Seite wird Authentizität als notwendige Kategorie der islamisch-theologischen Lehre und Forschung betont. So sprach Mustafa Yoldas, der damalige Vorsitzende der Schura Hamburg, bereits Jahre vor der Etablierung der islamisch-theologischen Studien von der „Vorbildfunktion“ und notwendigen „Glaubwürdigkeit“ von potenziellen deutschen muslimischen Theologinnen und Theologen.¹⁷ Nach der Einrichtung der Standorte betonte Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime in Deutschland, dass es die Glaubensgemeinschaft sei, die die Authentizität der Theologie beurteilen werde: „Was authentisch ist, müssen die Gläubigen sagen.“¹⁸ Auch Engin Karahan wies in seiner damaligen Funktion als Vertreter der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş darauf hin, dass es die muslimischen Religionsgemeinschaften seien, die für die notwendige Authentizität an den islamisch-theologischen Standorten Sorge tragen würden.¹⁹ Auch politische Akteure verbinden die Frage nach der Authentizität des Faches mit den Religionsgemeinschaften. So argumentierte die nordrhein-westfälische Landesregierung 2014 mit Blick auf die Weiterentwicklung des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster: Nach Auffassung der Landesregierung muss es darum gehen, die Authentizität der islamischen Religionspädagogik und der islamischen Theologie entsprechend der in Deutschland geübten Tradition des Staatskirchenrechts in Zusammenarbeit mit den vier im KRM zu-

 Vgl. Reinhard Schulze, „Islam, Islamic Knowledge and the Modern Order of Authority“, in Islam in Knowledge-Power Relations. A Challenge for Muslim Theologies?, hrsg. von Jan Felix Engelhardt und Hansjörg Schmid (Berlin, 2020).  Vgl. Mustafa Yoldas, „Fachkompetenz für muslimische Theologen. Eine Stellungnahme der SCHURA zur Errichtung einer Professur in islamischer Theologie“, in Islamische Theologie. Internationale Beiträge zur Hamburger Debatte, hrsg. von Ursula Neumann (Hamburg: EditionKörber-Stiftung, 2002), 145 – 52.  Vgl. Aiman Mazyek, „Interview mit der Katholischen Nachrichtenagentur“, 5.11. 2013.  Engin Karahan, „Islamische Theologie an deutschen Universitäten. Die Problematik der fehlenden Vertretung der muslimischen Gemeinschaften“, 2013, 3 – 4.

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sammengeschlossenen muslimischen Gemeinschaften, der Universität Münster und den dort islamische Religionspädagogik Lehrenden sicherzustellen.²⁰

Islamisch-theologische Akteure führen Authentizität ebenfalls ins Feld, wenn es um die Konzeption ihres Faches mit Blick auf dessen außeruniversitäre Akzeptanz geht.²¹ Das Osnabrücker Institut für Islamische Theologie (IIT) etwa beschreibt seinen Ansatz wie folgt: So ist bei der Implementierung des ‚Osnabrücker Modells‘ wesentlich, dass durch die Fokussierung auf die Glaubenswirklichkeit der Muslime in Deutschland eine binnenislamische Authentizität gelehrter Inhalte unbedingt gewährleistet wird.²²

Das IIT formuliert zudem den Anspruch, „die unterschiedlichen Strömungen des Islams in Deutschland […] authentisch durch ihre jeweiligen Angehörigen zu vertreten und in einen Austausch zu bringen.“²³ Dessen Direktor Bülent Uçar betont dabei das muslimische Bedürfnis, die eigene Religion „wissenschaftlich fundiert und authentisch lernen und lehren“ zu können.²⁴ Auch der Wiener Religionspädagoge Ednan Aslan nennt als erste notwendige Eigenschaft des islamisch-theologischen Faches Authentizität, das heißt in Forschung und Lehre den klassischen Kanon islamischer Wissensordnungen abzudecken und zu reflektieren, ohne die Inhalte „zum Objekt spekulativer Wissenschaft“ zu machen und dadurch die Akzeptanz in der Glaubensgemeinschaft zu verlieren.²⁵ Diese kollektiv-performative Auffassung von Authentizität fördert sicherlich die inhaltliche Kongruenz von Theologie und Glaubensgemeinschaften. Folgt man der von Amir Dziri formulierten These, „dass in der muslimischen Wissenschaftsmentalität der Berufung auf eine Autorität generell eine größere Beweishaftigkeit zugeschrieben wird als dem Vernunft- oder Schriftbeweis“,²⁶ wundert  Landesregierung Nordrhein-Westfalen, „Bericht der Landesregierung zur Weiterentwicklung des Instituts für islamische Studien an der Universität Münster“ (Düsseldorf, 2014), 1– 2.  Vgl. Yašar Sarıkaya, „Genese eines neuen Typs Islamischer Theologie in Deutschland“, in HIKMA 1, Nr. 1 (2010): 41.  IIT Osnabrück, 2013, 23.  IIT Osnabrück, 11.  IIT Osnabrück, „Vorwort“.  Aslan u. a., Islamische Theologie in Österreich, 161. Vgl. außerdem Ömer Özsoy und Ertugrul Sahin, „Fundamente der islamischen Theologie in Deutschland“, in Handbuch Christentum und Islam in Deutschland. Grundlagen, Erfahrungen und Perspektiven des Zusammenlebens, hrsg. von Mathias Rohe, Bd. 1 (Freiburg: Herder, 2014), 430.  Amir Dziri, „Gibt es eine theologische Methode? Autoritätsverweis, Schrift- und Vernunftbeweis in der muslimischen Gelehrsamkeitstradition“, in Zwischen Glaube und Wissenschaft: Theologie in Christentum und Islam (Regensburg: Friedrich Pustet, 2015), 199.

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die Fokussierung auf das theologische Subjekt und sein Verständnis von der Religion des Islam nicht. Auch Jens Bakkers Argument einer individuumszentrierten Autorisationsstruktur der islamischen Theologie kommt hier zum Tragen. Diese findet laut Bakker ja anhand der Autorisierung von Gelehrten durch andere Gelehrte statt und zieht sich als Konstante durch die islamische Theologietradition. Theologinnen und Theologen sind also durch die Tradition legitimiert, der sie durch Autorisierung der vorhergehenden Generation hinzugefügt werden.²⁷ Die hier aufgeführten Ansprüche an eine authentische Theologie haben gemeinsam, dass sie primär auf die äußeren, sozialen und öffentlichen Aspekte der wissenschaftlichen Arbeit von Theologinnen und Theologen eingehen – sie beziehen sich auf die Lehre, auf Publikationen, auf Vertretungsakte von Religion, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vollziehen und die vonseiten anderer Akteure hinsichtlich ihres Authentizitätsgehalts überprüft werden können. Der performative Charakter von Authentizität, also die Herstellung von Authentizität durch Handlungen gegenüber anderen,²⁸ steht hier deutlich im Vordergrund. Diese Auffassung von Authentizität ist also erstens eine kollektive, da es eine Gruppe von Menschen bzw. deren Vertreterinnen und Vertreter sind, die die Frage nach Authentizität beantworten. Zweitens ist sie eine performative, da diese Gruppe die Authentizität von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern natürlich nur auf der Grundlage ihrer Handlungen im weitesten Sinne beantworten kann – also anhand ihrer Aussagen in Lehrveranstaltungen und Vorträgen, in Publikationen, in öffentlichen Äußerungen, aber auch im öffentlich einsehbaren persönlichen Lebenswandel und Dingen wie der Kleidung. Drittens ist sie eine heteronome, da sie von Religionsgemeinschaften als Bewertungskategorie islamisch-theologischer Akteure und Aussagen eingesetzt werden und Zugriff auf das islamisch-theologische Feld ermöglichen kann.

2.2 Individuiert-normative Authentizität Authentizität ist eine Idee der Neuzeit, die eng mit gesellschaftlichen Prozessen und Idealen von Individualisierung und Liberalisierung zusammenhängt. Charles Taylor argumentiert, dass die Übereinstimmung mit sich selbst stets eine individuelle ist und dass authentisches Handeln einen liberalen Umgebungskontext

 Vgl. Jens Bakker, Normative Grundstrukturen der Theologie des sunnitischen Islam im 12./ 18. Jahrhundert (Berlin: EB-Verlag, 2012), 850.  Vgl. Koltun-Fromm, Imagining Jewish Authenticity, 6.

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benötigt, der sich in der Bewertung des Handelns zurückhält.²⁹ Taylor macht freilich auf die Spannung dieses „liberalism of neutrality“ aufmerksam und warnt vor den daraus entstehenden Risiken von moralischem Relativismus und gesellschaftlichem Atomismus.³⁰ Trotzdem definiert er Authentizität als ein Ideal, über das man vernunftgeleitet diskutieren kann, genauso wie über Handlungen, die mit diesem Ideal in Einklang stehen (sollten), und zwar im Sinne einer „selbstbestimmten Übernahme von Handlungsmaßstäben“.³¹ Vor diesem Hintergrund bleibt Kritik an der Auffassung von Authentizität als kollektiv-performative Kategorie vonseiten islamisch-theologischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht aus. So weist zum Beispiel der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Harry Harun Behr darauf hin, dass die Güte des islamisch-theologischen Studiums nicht bestimmt werde durch […] die vordergründige Annahme von „theologischer Authentizität“, so wie das von manchen auch in Deutschland in einer Art positivistischer Verklärung missverstanden wird. Hier kommt natürlich die Frage muslimischer Interessenvertretungen ins Spiel. Der Vertretungsanspruch so genannter „wahrer“ Lehre im Sinne des genuin Eigenen und Eigentlichen ist nämlich primär ein institutioneller und nicht etwa ein wissenschaftlicher Anspruch.³²

Und weiter: Theologische Authentizität bleibt angesichts der religiösen und kulturellen Pluralität des Islams und der Heterogenität muslimischer Gegenwartskulturen sowieso ein ideologisches Konstrukt.³³

Zum einen kritisiert Behr damit den hinter der Forderung nach Authentizität stehenden Anspruch auf Mitgestaltung des theologischen Feldes. Zum anderen knüpft er an sozialwissenschaftliche und christlich-theologische Diskurse an, in denen der Begriff der Authentizität bereits „seine Unschuld verloren“³⁴ hat und Vorstellungen von Authentizität als gesellschaftlich konstruiert und radikal kontingent sichtbar gemacht werden. Hier zeigt sich, dass die Idee von Authen-

 Vgl. Charles Taylor, The Ethics of Authenticity (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1992), 17– 19.  Taylor, The Ethics of Authenticity, 19 – 23, 68.  Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, übers. von Joachim Schulte (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009), 792– 93.  Harry Harun Behr, „Vorüberlegungen zur Konzipierung des MA Islamisch-Religiöse Studien mit Schwerpunkt theologische Grundlagenforschung“, 2013, 2.  Behr, „Vorüberlegungen“, 2.  Michael Rössner und Heidemarie Uhl, Hrsg., Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen (Bielefeld: transcript, 2012), 9.

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tizität als Übereinstimmung von Überzeugungen und Praktiken religiöser Subjekte mit den Grundlagen einer Religion, mit dem gemeinsam geteilten Kern von Glauben, in die argumentatorischen Untiefen des Faktischen gerät. Shahab Ahmed diskutiert das für diesen Kontext relevante Paradigma, der Islam sei vor allem eine Religion des Rechts – ein Paradigma, das er bei sowohl muslimischen als auch nicht-muslimischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Gelehrten als „default conceptualization“ ausmacht. Er warnt vor der […] tendency towards an over-determined and over-delimited constitution of the term „Islam“ whereby Islam is conceptualized in terms of a contraction or essentialization or concentration of phenomena into a substantive core, kernel or essence of Islam – which is taken as „Islam-proper“. This tendency identifies as, or gives primacy to, only some selected part of the human and historical phenomenon (usually, Islamic law) as being, somehow, more properly or authentically „Islamic“ and, thus, as Islam, thereby marginalizing, disenfranchising, or altogether excluding other parts of the historical phenomenon [and] privileging the notion of orthodoxy – that is, the authoritatively correct – as necessarily constitutive of the more „authentically“ Islamic.³⁵

Dabei weist Ahmed auf das Problem hin, das aus der Konzeptionalisierung von Islam als „Gesetzesreligion“ entsteht: This totalizing „legal supremacist“ conceptualization of Islam as law, whereby the „essence“ of Islam is a phenomenon of prescription and proscription, induces, indeed constrains us to think of Muslims as subjects who are defined and constituted by and in a cult of regulation, restriction and control.³⁶

Für Ahmed negiert diese Konzeption von Islam historische Realitäten, nämlich die Tatsache, dass Muslime, die sich selbst in der Mitte der Gesellschaft und keineswegs an ihren Rändern befanden, Normen lebten, die in großem Gegensatz zu Rechtsvorstellungen standen.³⁷ Diese Normen würden aber mittlerweile, da sie von den als das Zentrum des Islams dargestellten rechtlichen Vorgaben abwichen, als nicht-repräsentativ für muslimisches Leben gelten.³⁸ Ahmed problematisiert hier auf der einen Seite die Idee von einem „Kern des Islams“, also seinen un-

 Shahab Ahmed, What Is Islam? The Importance of Being Islamic (Princeton; Oxford: Princeton University Press, 2016), 115.  Ahmed, What Is Islam?, 120.  Ahmed, What Is Islam?, 121.  Für eine ähnlich lautende Kritik vgl. Tarek Badawia, „Konturen eines islamischen Gewissenskonzepts“, in Zwischen Gewissen und Norm. Autonomie als Leitkategorie religiöser Bildung im Islam und Christentum, hrsg.von Tarek Badawia und Hansjörg Schmid (Münster: Lit, 2016), 77– 96.

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veränderbaren Grundzügen, und auf der anderen Seite die aus seiner Sicht nicht zielführende Vorstellung, dass alle Phänomene, die unter dem Stichwort „Islam“ entstehen, auch wirklich Islam seien. Mit dieser Spannung zwischen allgemein geltenden Prinzipien und atomistischen Partikulardefinitionen schließt er an Taylors Diskussion von Authentizität als Norm an.³⁹ Mit Blick auf die Frage nach der Authentizität ist diese Argumentation insofern hilfreich, als sie auf die diskursive Konstruktion von Orthodoxie,⁴⁰ ja sogar von dem, was unter „Islam“ verstanden wird, hinweist. Wenn Authentizität in den Islamisch-Theologischen Studien die Übereinstimmung von Forschung und Lehre, ja sogar von den persönlichen Auffassungen der Forschenden und Lehrenden mit den Auffassungen muslimischer Glaubensgemeinschaften bedeutet, so ist auf diese Konstruiertheit mindestens hinzuweisen. Allerdings ist das Fach selbst nicht frei von der Idee, bestimmen zu können, was Islam ist und was nicht. Natürlich war dies eine der integrations- und wissenschaftspolitischen Motivationen, die hinter der Etablierung der IslamischTheologischen Studien standen. Und durch den Willen, die Bestimmungshoheit über ihren Gegenstand auszuüben, unterscheiden sich die Islamisch-Theologischen Studien nicht von anderen normativ grundierten Disziplinen. Mit Blick auf heteronome Definitionsansprüche von Islam liest sich allerdings die gemeinsame Erklärung von Fachvertreterinnen und Fachvertretern 2019 problematisch. Darin heißt es: Die FachvertreterInnen verpflichten sich der genuin theologischen Aufgabe, die immanenten Wahrheitsansprüche, so wie sie sich aus den Grundlagen des Islams heraus artikulieren lassen, zu reflektieren und auf dieser Basis die Religionspraxis der Glaubensgemeinschaft […] kritisch zu begleiten.⁴¹

Offenbleiben muss hier, worin diese kritische Begleitung der Religionspraxis bestehen kann. Zur Diskussion steht etwa, ob sie die Markierung von religionspraktischen Handlungen als islamisch oder nicht-islamisch beinhaltet – gesellschaftliche und juristische Anfragen dazu, etwa zum Mindestalter des Fastens im

 Taylor, The Ethics of Authenticity, 19 – 23.  Vgl. hierzu Zareena Grewal, „Destabilizing Orthodoxy, De-Territorializing the Anthropology of Islam“, in Journal of the American Academy of Religion 84, Nr. 1 (2016): 44– 59.  FachvertreterInnen der Islamisch-Theologischen Studien (Islamische Theologie, Islamische Studien, Islamisch-Religiöse Studien, Islamische Religionspädagogik) an europäischen Universitäten und Hochschulen: Erklärung der FachvertreterInnen der Islamisch-Theologischen Studien (Islamische Theologie, Islamische Studien, Islamisch-Religiöse Studien, Islamische Religionspädagogik) an europäischen Universitäten und Hochschulen zur aktuellen Lage ihrer Fächer, Institute und Zentren (2019), 1.

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Ramadan, zum Tragen des Kopftuchs, zur Beschneidung oder zur Eheschließung zwischen Musliminnen und Nicht-Muslimen werden zunehmend auch an Vertreterinnen und Vertreter der Islamisch-Theologischen Studien gestellt. Will sich das Fach hier an der Bestimmung dessen, was (noch) als islamisch gelten kann und was nicht, beteiligen? Jedenfalls verbittet sich die Erklärung weitgehend die Verpflichtung zur Orientierung an religionsgemeinschaftlichen Vorstellungen, da „[d]as Fortschreiben der islamischen Diskurstradition […] grundsätzlich nicht gebunden an eine partikulare religionsgemeinschaftliche Organisationform und Interessenartikulation“ sei.⁴² Stattdessen gelte der „Wille des forschenden Subjekts […], die islamische Diskurstradition in aktualisierender Deutung fortschreiben zu wollen“.⁴³ Mit dem Begriff des „forschenden Subjekts“ in der Theologie kommt hier die Vorstellung von genuiner Theologie nach Maßgabe des individuellen Theologen ins Spiel. Authentische Theologie könnte in dieser Hinsicht bedeuten, dass Aussagen von Forscherinnen und Forschern mit ihrer Person und ihrem Handeln in Übereinstimmung stehen, also nicht mit anderen, sondern mit sich selbst. ⁴⁴ Hier geht es nicht um die „kollektive Religionsausübung“, sondern um die „subjektive Religiosität“, vor deren Gleichsetzung Behr warnt.⁴⁵ Damit rückt hier das Individuum als Authentizität herstellendes Subjekt in den Vordergrund.⁴⁶ Die Selbstzuschreibung des islamisch-theologischen Personals zur muslimischen Glaubensgemeinschaft ist dabei eine Voraussetzung für eine theologische Authentizität, die sich aus der individuierten Normativität der Einzelnen speist. Ein interessanter Aspekt dieser Auffassung von Authentizität ist dabei, dass Individuen insbesondere dadurch Authentizität herstellen können, dass sie durch kritisches Fragen über die Bindungen zu ihrer Gemeinschaft hinausgehen.⁴⁷ Hier wird der Begriff der Glaubensgemeinschaft relevant: Als Glaubensgemeinschaft können wir zunächst eine Gruppe von Personen definieren, die ein

 FachvertreterInnen der Islamisch-Theologischen Studien, Erklärung, 2.  FachvertreterInnen der Islamisch-Theologischen Studien, Erklärung, 2.  Vgl. Taylor, The Ethics of Authenticity, 15; Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 791– 93; Susanne Knaller, Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2007), 22.  Harry Harun Behr, „An den KRM, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Gesprächs am 1. Dezember 2013 in Köln und weitere universitäre Fachvertreter Islamischer Theologie“ (Nürnberg, 16.12. 2013).  Vgl. Jochen Sautermeister, Identität und Authentizität. Studien zur normativen Logik personaler Orientierungen (Freiburg: Herder, 2013), 33, 51.  So betont Taylor, dass Authentizität notwendigerweise die Opposition zu gesellschaftlichen Regeln und moralischen Standards beinhalte. Vgl. Taylor, The Ethics of Authenticity, 66.

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religiöses Symbolsystem teilen. Dabei können wir allerdings nicht davon ausgehen, dass die Zustimmung zu einem solchen System eine homogene, harmonische Gemeinschaft konstituiert, sondern müssen feststellen, dass zwischen und innerhalb von Glaubensgemeinschaften über dieses Symbolsystem unterschiedliche Ansichten bestehen, dass über die religiös-theologische Ausrichtung und die Bedeutung von religiösen Glaubens- und Handlungsroutinen der Gemeinschaft gerungen wird. Der gemeinsame Bezug auf zentrale Motive und Narrationen von Religion zieht demnach nicht nur ein geteiltes Verständnis der beteiligten Akteure nach sich, sondern immer auch die antagonistische Deutung derselben.⁴⁸ Für Reinhard Schulze ist der Islam „gerade auch durch seine eigene akademische Selbstauslegung geprägt“, in deren „Debatten Möglichkeitsräume erschlossen werden, die den Islam aus seiner modernen Selbstbegrenzung befreien könnten“.⁴⁹ In diese Richtung argumentiert auch Ömer Özsoy, greife doch die Islamische Theologie auf eine sehr lange Wissenschaftstradition zurück, die sich nie als Sonderhermeneutik verstand, sondern sich gegenwärtig geltenden Wissenschaftsprinzipien wie rationalen Methoden- und Argumentationsstrukturen sowie Selbstkritik stets verpflichtet sah. Die in der Moderne Mode gewordene Anstrengung, originär islamisch zu sein, und die daraus abgeleitete Beanspruchung, über genuin islamische Methoden und Argumentationsstrukturen zu verfügen, rühren von einer dem klassischen Islam fremden modernen Haltung her.⁵⁰

Authentische Theologie ist hier also gerade nicht die Theologie, die sich besonders islamisch gibt – und sich damit an den Rand des wissenschaftlichen Feldes stellt –, sondern die Theologie, die sich auf der wissenschaftlichen Höhe der Zeit bewegt. Ein „genuin islamischer“ Erkenntnisweg führt hier gerade nicht zu Authentizität, sondern stellt eine Abkehr von der islamischen Tradition dar. Authentisch im Sinne einer Befolgung der islamischen Wissenstraditionen sei daher jene Theologie, die ihren Platz in den epistemologischen Rahmungen sucht, die ihr andere Fächer bieten. Dazu Özsoy: Die islamische Theologie soll sich mit diesem Anspruch auf die Wissenschaftlichkeit bei gleichzeitiger Verbundenheit mit den authentischen Inhalten ihrer eigenen Tradition in den

 Vgl. dazu Werner Schiffauer, Die Gottesmänner. Türkische Islamisten in Deutschland; eine Studie zur Herstellung religiöser Evidenz (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000), 319 – 20, 324.  Reinhard Schulze, Geschichte der islamischen Welt: von 1900 bis zur Gegenwart (München: C. H. Beck, 2016), 30.  Ömer Özsoy, „Islamische Theologie als Wissenschaft. Funktionen, Methoden, Argumentationen“, in Zwischen Glaube und Wissenschaft: Theologie in Christentum und Islam (Regensburg: Friedrich Pustet, 2015), 59.

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Lehr- und Forschungsbetrieb an der Universität integrieren und sich hier als interdisziplinär lern-, aber auch lehrfähig zeigen.⁵¹

Jochen Sautermeister nennt drei Bedingungen für eine Anerkennung der Authentizität theologischer Aussagen: Erstens sollten sie „kohärent in die Identität von Menschen integrierbar“ sein, zweitens „in die biographischen Selbsterzählungen von Menschen eingebettet werden“ können und drittens „subjektiv bedeutsam sein“.⁵² Daran schließt Tarek Badawia an, und auch an die individuell zu beantwortende Frage nach der Authentizität, indem er „für eine stärkere Gewichtung des Subjektes als Experte seiner Lebenswelt innerhalb der gegenwärtig noch sehr stark (verbands)politisch und institutionell geprägten Debatte über die Konstitution der islamischen Theologie“ plädiert.⁵³ Stattdessen weist er darauf hin, dass eine um Authentizität bemühte Theologie die individuellen Gläubigen als Experten ihrer alltäglichen Kontexte anerkennen müsse. Hier geht es nicht primär um die „Wahrung der Religion“, sondern um die Berücksichtigung der Gläubigen.⁵⁴ Taylor würde hier von „self-determining freedom“ sprechen, also von der Idee, dass das Individuum die Entscheidungsfreiheit darüber haben muss, was es selbst betrifft, anstatt dabei von äußerlichen Faktoren beeinflusst zu werden.⁵⁵

2.3 Tradition als Authentizität stiftender Sinnhorizont? Die „islamische Tradition“ kann als ein Sinnhorizont fungieren, auf den sich ein Großteil der akademischen und religionsgemeinschaftlichen Akteure einigen kann. Die Fruchtbarmachung der Tradition, die kritische Überprüfung tradierter Wissenssysteme, die Entdeckung der theologischen Diversität und Reichhaltigkeit

 Özsoy, Islamische Theologie als Wissenschaft, 64.  Jochen Sautermeister, „Theologie – Identitätsbildung – Glaubenserfahrung. Anmerkungen zu einem spannungsvollen und produktiven Wechselverhältnis“, in Zwischen Glaube und Wissenschaft: Theologie in Christentum und Islam (Regensburg: Friedrich Pustet, 2016), 122 – 23.  Tarek Badawia, „Identitätswandel als Chance für die Rekonstruktion theologischer Konzepte“, in Zwischen Glaube und Wissenschaft: Theologie in Christentum und Islam (Regensburg: Friedrich Pustet, 2016), 99.  Sautermeister, „Theologie – Identitätsbildung – Glaubenserfahrung“, 107. Zu dieser Frage mit Blick auf den islamischen Religionsunterricht siehe auch Fahimah Ulfat, Die Selbstrelationierung muslimischer Kinder zu Gott: eine empirische Studie über die Gottesbeziehungen muslimischer Kinder als reflexiver Beitrag zur Didaktik des islamischen Religionsunterrichts. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017.  Taylor, The Ethics of Authenticity, 27.

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der Tradition, ist in den Islamisch-Theologischen Studien ein Paradigma in the making, an dessen Festigung sich die große Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligt. Die Erklärung der Fachvertreterinnen und Fachvertreter spricht hier von einer „kohärenten Bezugnahme“⁵⁶ auf die Diskurstradition des Islams. Dies umschließt explizit auch grundlegende Reformen islamisch-theologischer Wissenssysteme, wie Milad Karimi deutlich macht: Bei der Reform im Islam gehe es […] allein darum, aus den Bedingungen und der historischen Verfasstheit des Islams heraus die Möglichkeit zu erarbeiten, wie das Neue, das uns herausfordert, erfasst werden kann. Eine Reformulierung der gesamten Religion jedoch muss mit aller nötigen Entschiedenheit vollzogen werden, immer und immer wieder. So gesehen ist die Reform als Versuch, aus der Tradition heraus auf dem Boden der eigenen Zeit zu stehen, ein konstitutiver Akt im islamischen Denken.⁵⁷

Ein weiteres Beispiel liefert Khorchide, der in der Argumentation für eine Freiheitsbeziehung des Menschen zu Gott zwar einräumt, dass die dominierenden (sunnitischen) Theologietraditionen diese Beziehung überwiegend skeptisch sehen. Allerdings argumentiert er, dass „das Insistieren neuzeitlicher Freiheitstheologie, dass das Gott-Mensch-Verhältnis als Freiheitsverhältnis und wechselseitiges Bestimmungsverhältnis zu denken ist, keineswegs ohne Referenzpunkte in der traditionellen islamischen Theologie“ sei, wobei er auf die theologische Schule der Muʿtazila sowie auf die islamische Mystik verweist.⁵⁸ Tradition fungiert hier als ein „authentification device“,⁵⁹ das theologische Positionen – und damit dessen Vertreterinnen und Vertreter – legitimiert. Es bleibt aber die Frage bestehen, welche theologischen Aussagen wann als authentisch gelten können und wann nicht. Schließlich ist auch der Rückgriff auf die islamische Tradition kein Garant dafür, dass man von authentischer Theologie sprechen kann – dem steht schnell die theologische, historische und soziale Varianz und Widersprüchlichkeit von Tradition gegenüber. Sollte die bloße Bezugnahme auf die Tradition für die notwendige Authentizität theologischer Aussagen ausreichen, würde die Idee von Authentizität in den Händen der Theologen zerbröseln wie ein altes Pergament.

 FachvertreterInnen der Islamisch-Theologischen Studien, Erklärung, 2.  Milad Karimi, Warum es Gott nicht gibt und er doch ist. Freiburg: Herder 2018, 203.  Mouhanad Khorchide, Gottes Offenbarung in Menschenwort: Der Koran im Licht der Barmherzigkeit. (Freiburg: Herder, 2018), 107.  Gudrun Krämer und Sabine Schmidtke, „Introduction: Religious Authority and Religious Authorities in Muslim Societies. A Critical Overview“, in Speaking for Islam: Religious Authorities in Muslim Societies (Leiden: Brill, 2006), 7.

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3 Ausblick Mit Blick auf die kollektiv-performative Auffassung von authentischer Theologie stellt sich die Frage, ob der Authentizitätsbegriff nicht mehr garantieren kann als nur eine mit Vorstellungen der Glaubensgemeinschaft deckungsgleiche Lehre und Forschung: Kann das Kriterium des Muslim-Seins für das wissenschaftliche Personal der Islamisch-Theologischen Studien mehr Funktionen bereitstellen, als die Zulassungsvoraussetzung zum Fach zu sein? Zugespitzt gefragt: Wozu soll das Personal der Islamisch-Theologischen Studien eigentlich muslimisch sein, wenn seine Authentizität lediglich anhand der Übereinstimmung der Lehrinhalte mit den (angenommenen) Vorstellungen muslimischer Glaubensgemeinschaften gemessen wird? Authentizität wäre dann auf einen mimetischen, also nachahmenden Charakter reduziert. Doch Mehrwert verspricht eine Authentizität, die im Subjekt der Forschenden und Lehrenden angelegt ist, in der eigenen Erfahrungswelt als Musliminnen und Muslime, die sich der Reflexion der eigenen Religion widmen, weil sie ihnen wichtig ist, weil sie sie etwas angeht? Authentizität in der Theologie könnte hier als „Involviertsein in eine Behauptung“⁶⁰ verstanden werden. Damit wäre Authentizität mehr als nur ein Exklusionsmechanismus, nämlich das Empfinden einer glaubensgemeinschaftlichen und/oder transzendentalen Verantwortung für das eigene wissenschaftliche Arbeiten. Allerdings würden dann innere Erfahrungswerte und Emotionen zu einer Bewertungskategorie wissenschaftlicher Aussagen. Theologie als „wissenschaftliche Reflexion von Glaubenserfahrung und Glaubensüberlieferung“⁶¹ stünde hier vor der Herausforderung, dass Erfahrungen des Glaubens nur bis zu einem bestimmten Punkt nachvollziehbar, das heißt intersubjektiv vermittelbar sind. Die Islamisch-Theologischen Studien würden sich damit in Richtung einer Disziplin bewegen, die ihre Grenzen über ein striktes Insider-Regime sichern würde. Wenn Authentizität im Sinne geteilter Erfahrungswerte ein hinreichendes Differenzkriterium des Faches wäre, dann würden die Islamisch-Theologischen Studien in der Tat zu einer Disziplin der Erfahrungswelt werden, die (nur) denjenigen offen stünde, die diese Welt teilen. Dies würde zu der Frage führen: Wessen Erfahrungen? Wessen Welt? Wessen Islam? Vielleicht ist es sinnvoll, die Suche nach authentischer Theologie aufzugeben und den Blick weg von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und ihren theologischen Aussagen hin zu dem Ort zu wenden, an dem sich die Islamisch-

 Jürgen Werbick, Vergewisserungen im interreligiösen Feld (Münster: Lit, 2011), 124.  Sautermeister, „Theologie – Identitätsbildung – Glaubenserfahrung“, 111, kursiv von JFE.

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Theologischen Studien zu bewähren haben.⁶² Dies kann, wie Ruggero Vimercati Sanseverino es ausdrückt, zum einen der „soziale, kulturelle und vor allem spirituelle Lebensvollzug der Gläubigen“ sein, zum anderen letztlich aber wohl auch die „Beziehung des Gläubigen zu Gott“, die durch die Theologie Berücksichtigung und Reflexion finden soll.⁶³ Natürlich haben sich die Islamisch-Theologischen Studien zunächst einmal vor sich selbst zu bewähren, indem sie ihren Anspruch, Wissenschaft zu sein, auch einlösen. Aber die Frage nach der Relevanz der eigenen Aussagen für außerwissenschaftliche Anspruchsgruppen stellt sich zu Recht und ist womöglich einfacher in die theologisch-wissenschaftliche Weiterentwicklung des Faches zu integrieren als die nach seiner religiösen Authentizität.

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Historische Perspektiven auf islamische Lehrund Lernkulturen

Sebastian Günther

Islamische Bildung im literarischen Gewand: Unterweisung in religiösen und weltlichen Belangen bei Ibn Qutayba und al-Māwardī Die Fragen zu Wissen und Bildung im Islam sowie zu einer an den Grundsätzen und Werten des Islams orientierten Pädagogik haben in jüngster Zeit nicht nur das Interesse der Wissenschaft geweckt; sie sind auch deutlich in den Fokus der breiten Öffentlichkeit und der Politik gerückt. Dafür sind die zum Teil kontrovers geführten Debatten um die Einführung des Islamunterrichts an deutschen Schulen sowie die Etablierung konfessionsgebundener Studiengänge für Islamische Theologie an mehreren deutschen Universitäten beredte Beispiele. Umso mehr erstaunt es, dass trotz dieser vermehrten öffentlichen Diskussionen um islamische Konzeptionen zu Bildung und Erziehung die Fragen nach den Grundzügen der historischen Entwicklung und den Charakteristika des pädagogischen Denkens im Islam bzw. der über Jahrhunderte gewachsenen, vor allem arabischsprachigen Literatur zu Bildung und Erziehung bislang kaum Beachtung in westlichen Handbüchern zur Pädagogik und Didaktik gefunden haben. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, da einige der von muslimischen Denkern aus der klassischen Periode des Islams (9. – 15. Jahrhundert) formulierten Aussagen zu den Theorien und zur Praxis der Bildung und Erziehung Ideen antizipieren, welche in der modernen Forschung als „humanistisch“ bezeichnet werden. Der Begriff „Humanismus“ wird von mir im Kontext der arabisch-islamischen Ideengeschichte zur Kennzeichnung eines universalen, kulturübergreifenden geistigen Zugangs zu Idealen und Werten von Bildung und Gesellschaft verwendet, der den Menschen zum Maßstab aller Dinge und Entscheidungen macht und die Rolle der Vernunft bzw. des rationalen Denkens in den zivilisatorischen Entwicklungsprozessen priorisiert.¹

 Zur islamwissenschaftlichen Debatte über die Begriffe „arabischer“ und „islamischer Humanismus“ siehe den Abschnitt „Humanismus im Islam? Ein Exkurs“ in Sebastian Günther und Yassir El Jamouhi, „Der Moralphilosoph und Historiker Miskawaih: Traditionsbindung und Neubestimmung im Bildungsdiskurs des Islams“, in Islamic Ethics as Educational Discourse: Thought and Impact of the Classical Muslim Thinker Miskawayh (d. 1030), hrsg. von Sebastian Günther und Yassir El Jamouhi (Tübingen: Mohr Siebeck, 2021), (im Druck). – Übersetzungen aus dem Arabischen sind meine eigenen, wenn nicht anders vermerkt. Meinen Göttinger Kollegen https://doi.org/10.1515/9783110731743-007

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Sebastian Günther

Der vorliegende Beitrag greift das Desiderat einer Geschichte des Bildungsdenkens im Islam auf, indem er bestimmte Kernfragen im komplexen Gefüge der islamwissenschaftlichen Bildungsforschung thematisiert. Der Fokus ist dabei zunächst auf den arabischen Terminus adab mit seinem vielschichtigen Bedeutungsfeld sowie seine Rolle in der Formulierung und Entfaltung von Bildungsgedanken in der klassischen arabischen Literatur gerichtet, gefolgt von Betrachtungen zu seiner Deutung in der westlichen Forschung.Veranschaulicht und erweitert werden diese Ausführungen anhand der pädagogischen Perspektiven, die sich aus entsprechenden Aussagen von zwei besonders prominenten klassischen muslimischen adab-Autoren herausarbeiten lassen. Es handelt sich hierbei um Ibn Qutayba, intellektueller Traditionskenner und Literat des 9. Jahrhunderts aus dem irakischen Kufa, und al-Māwardī, Rechtsgelehrter, rationaler Theologe und Ethiker des 10. und Anfang des 11. Jahrhunderts aus Basra. Diese beiden Autoren setzen sich mit dem adab-Begriff auf einem hohen theoretischen Niveau auseinander. Insofern gewähren ihre individuell-spezifischen Auffassungen und epistemologischen Zugänge zu dem, was unter „Bildung“ im klassischen Islam zu verstehen ist, zwar punktuelle, aber gleichwohl unmittelbare und äußerst aufschlussreiche Einblicke in die islamische Bildungsgeschichte. Deutlich wird dabei nicht zuletzt, dass diese beiden Gelehrten das Interesse ihrer Leserschaft explizit sowohl auf religiöse als auch weltliche – modern ausgedrückt: „säkulare“ – Themen, Aufgaben und Argumentationsmodelle der Bildung und Ausbildung im Islam lenken.² Ideengeschichtlich ist diese Problematisierung religiöser und weltlicher Themen der Bildung im Islam insofern interessant, als es in der arabisch-islamischen Geschichte immer wieder herausragende muslimische Denker gegeben hat, die in ihrer Suche nach gerechter Staatsführung, gesellschaftlichem Gemeinwohl und individuellem menschlichen Glück konzeptionelle Ansätze entwickelten, welche über das Religiöse hinaus das „Säkulare“ in die betreffenden Argumentationsmodelle einbezogen oder dieses

Akram Bishr und Dr. Mahmoud Haggag danke ich herzlich für ihre Hilfe im Verständnis bestimmter schwieriger Textpassagen.  Das „Säkulare“ verstehe ich im Sinne Talal Asads als epistemische Kategorie (in Abgrenzung zum Begriff „Säkularismus“ als einer das politische und staatliche Handeln betreffenden Doktrin). Das heißt, das Säkulare „bewegt sich mit dem Religiösen, das ihm vermeintlich vorangegangen ist, weder in einem Kontinuum (d. h. es ist nicht die letzte Phase einer von einem heiligen Ursprung sich herschreibenden Entwicklung), noch ist es ein einfacher Bruch mit ihm (sprich es ist nicht das Gegenteil des Religiösen, keine Essenz, die darauf angelegt ist, das Heilige auszuschließen).“ Das Säkulare ist somit ein „Begriff, der bestimmte Formen des Verhaltens, des Wissens und des Empfindens zu dem konfiguriert,“ was als gelebte Wirklichkeit aufgefasst werden kann. Vgl. Talal Asad, Ordnungen des Säkularen: Christentum. Islam, Moderne, übers. von Uwe Hebekus (Paderborn: Konstanz University Press, 2017), 33.

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sogar in den Vordergrund rückten. Zu nennen sind vor allem im 10. und 11. Jahrhundert Auffassungen zum (idealen) Staat des Philosophen und Logikers alFārābī (gest. 950), des in diesem Beitrag behandelten Rechtsgelehrten al-Māwardī (gest. 1058) sowie des Rechtsgelehrten und Theologen al-Ǧuwaynī (gest. 1085); im Weiteren die Psychologie des Universalgelehrten Ibn Sīnā (Avicenna, gest. 1037), die Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Ratio des Philosophen und Rechtsgelehrten Ibn Rušd (Averroes, gest. 1198), der gesellschaftliche (und religiöse) Skeptizismus des Freidenkers und Literaten al-Maʿarrī (gest. 1057) sowie nicht zuletzt die nuancierte, religiöse und weltliche Aspekte verbindende Moralphilosophie des Ethikers Miskawayh (gest. 1030). Diese und andere Gelehrte formulierten im Kontext ihrer religiösen Grundhaltungen deutlich auf das Diesseits – vor allem auf die Überwindung politischer und gesellschaftlicher Missstände ihrer Zeit – gerichtete Denkansätze. Mit anderen Worten, das „säkulare“ Denken ist im Islam – auch in seinen frühen und klassischen Perioden – nicht grundsätzlich absent; es ist jedoch durch vielschichtige religiöse Argumentationen oft überlagert worden und wohl auch deshalb bislang nur unzureichend erforscht.³ In diesem Aufsatz dienen die Begriffe „religiös“ und „weltlich“ (bzw. „säkular“) als hilfreiche ordnende Kategorien zur Analyse der Aussagen Ibn Qutaybas und al-Māwardīs. Das Hauptaugenmerk unserer Studie ist hierbei darauf gerichtet, einen auf den arabischen Primärquellen basierenden Schritt hin zu einer umfassenderen, wissenschaftlichen Erschließung der Kernaussagen einflussrei-

 Wichtige Arbeiten sowohl zu klassischen als auch modernen Themen in diesem Kontext sind: Cathérine Mayeur-Jaouen, Hrsg. Adab and Modernity: A „Civilising Process“? (Sixteenth–TwentyFirst Century) (Leiden: Brill, 2020); Armando Salvatore, „Secularity Through a ‚Soft Distinction‘ in the Islamic Ecumene? Adab as a Counterpoint to Shariʿa“, in Historical Social Research/Historische Sozialforschung 44, Nr. 3 (Spezialausgabe: Islamicate Secularities in Past and Present) (2019): 35 – 51; Sona Grigoryan, „Poetics of Ambivalence in Al-Maʿarrī’s Luzūmīyāt and the Question of Freethinking“ (Budapest (Diss.): The Medieval Studies Department, Central European University, 2018); Gudrun Krämer, „Zum Verhältnis Von Religion, Recht und Politik: Säkularisierung im Islam“, in Glaubensfragen in Europa: Religion und Politik im Konflikt, hrsg. von Elke Ariëns u. a. (Bielefeld: Transcript Verlag, 2011), 127– 48; Sadiq al-Azm, Islam und säkularer Humanismus (Tübingen: Mohr Siebeck, 2005); Talal Asad, Formations of the Secular: Christianity, Islam, Modernity (Stanford, CA: Stanford University Press, 2003); Aziz al-Azmeh, Die Islamisierung des Islam: Imaginäre Welten einer politischen Theologie (Frankfurt am Main: Campus Verlag, 1996); Tilman Nagel, „Gab es in der islamischen Geschichte Ansätze einer Säkularisierung?“, in Studien zur Geschichte und Kultur des Vorderen Orients: Festschrift für Bertold Spuler zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans Robert Roemer (Leiden: Brill, 1980), 275 – 88.

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cher muslimischer Denker zu Bildungstheorien und Bildungspraktiken im Islam zu gehen.⁴

1 Adab: Begrifflichkeit und Entwicklung 1.1 Historische Einbettung Der Begriff der Bildung bezieht sich im islamischen Kontext – wie auch schon der Terminus paideia in der Antike – vor allem auf den Vorgang und das Ergebnis der Aneignung von theoretischem und praktischem Wissen. Ein wichtiger Grund für das vitale, über die Jahrhunderte gewachsene Interesse der Muslime an allen Fragen zur Wissensvermittlung und zum Wissenserwerb besteht vor allem darin, dass die Offenbarungsschrift des Islams, der Koran, Fragen der Bildung und Erziehung ausdrücklich – und mithin auf für die islamische Kultur prägende Weise – thematisiert. So werden die Menschen an zahlreichen Stellen im Koran dazu aufgefordert, ihren Verstand sowohl in Fragen des Glaubens als auch in profanen Dingen zu benutzen. Auch wird im Koran festgestellt, dass Gott der erste und höchste Lehrer der Menschheit ist, der den Menschen durch die „in deutlichem Arabisch“ erfolgte Offenbarung des Korans unterrichtet und ihn „lehrte, was er [zuvor] nicht wusste“ (Koran 26:195; 96:4– 5). Doch „nur diejenigen, die Verstand haben, lassen sich mahnen!“ (Koran 39:9). So sei der Koran geoffenbart worden, um die Menschen im „Glauben“, in „Gottesfurcht“ und in moralischem Verhalten zu unterweisen und sie vor Selbstzerstörung zu bewahren (Koran 2:195; 25:63 – 76). Deshalb habe Gott den Menschen die Fähigkeit gegeben, verstandesmäßig zu unterscheiden, was „sündhaft“ bzw. unrecht und was „gottesfürchtig“ bzw. recht ist (Koran 91:8). Im Kontext koranischer Aussagen dieser Art besitzen Fragen nach Wissen und Bildung im Islam sowohl für das Individuum als auch für das gesellschaftliche Ganze besondere Bedeutung. Diese herausragende Stellung der Erziehung des Menschen im Koran, die sich in der islamischen Prophetentradition, dem Hadith, fortsetzt, führte in der Frühzeit des Islams dazu, dass zahlreiche Vorstellungen und zum Teil komplexe Gedankensysteme von muslimischen Gelehrten erarbeitet und in ihren Schriften artikuliert wurden. Muslimische Gelehrte aus unterschiedlichen Fachdisziplinen und verschiedener theologischer und rechtlicher

 Hinzuweisen ist hier auf ein aktuelles Forschungsprojekt von Mahmoud Haggag (Göttingen und Osnabrück) mit dem Titel: Ein Beitrag zur Ideengeschichte anhand der Werke Ibn Qutaibas (gest. 889).

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Denominationen definierten die Ideale, Ziele, Praktiken und Formen wie auch die sozialen und gesellschaftlichen Bezüge des Lehrens und Lernens im Islam. Ihre Ausführungen schlossen auch die Betrachtungen zu den Idealen eines lebenslangen, geographische und kulturelle Grenzen überschreitenden sowie für Männer wie Frauen gleichermaßen verpflichtenden Strebens nach Wissen und Bildung ein. In einem solchen von der Religion und Lebensweise des Islams geprägten – und geförderten – geistes- und literaturgeschichtlichen Kontext entwickelte sich zwischen dem 8. und dem 18. Jahrhundert eine Gattung des arabischen Schrifttums, die sich explizit den Fragen der Pädagogik und Didaktik widmet und die als die pädagogische Literatur des Islams in der Zeit der Vormoderne zu bezeichnen ist.⁵ Signifikante Impulse erhielten die wissenschaftlichen und literarischen Aktivitäten muslimischer Gelehrter auf den Gebieten des islamischen Bildungsdenkens im 9. und 10. Jahrhundert durch die intensive Übersetzungstätigkeit, in deren Ergebnis große Teile des philosophischen und wissenschaftlichen Schrifttums des antiken griechischen, des persischen und des indischen intellektuellen Erbes für die Muslime in Arabisch verfügbar wurden. Träger dieser Übersetzungstätigkeiten waren neben Muslimen vor allem Christen verschiedener Konfession sowie Angehörige anderer Religionen. Bagdad, die 762 gegründete Hauptstadt des Kalifats der Abbasiden (750 – 1258), war die prosperierende kommerzielle, kulturelle und intellektuelle Metropole der islamischen Welt und mithin das Zentrum auch für Fragen der Bildung und Erziehung. Es war die Zeit äußerst fruchtbarer Aktivitäten in den Bereichen der Wissenschaft und Technik, in der bedeutende Leistungen in den Geistes- und Naturwissenschaften sowie der Medizin erbracht wurden. Die weit über lokale Grenzen hinaus berühmten Akademien, die reich ausgestatteten Bibliotheken und die speziellen Forschungslaboratorien im damaligen Einflussbereich des Islams waren bemerkenswert frei von kulturellen, ethnischen und konfessionellen Beschränkungen. Das vom Ka-

 Sebastian Günther, „‚Your Educational Achievements Shall Not Stop Your Efforts to Seek Beyond‘: Principles of Teaching and Learning in Classical Arabic Writings“, in Philosophies of Islamic Education. Historical Perspectives and Emerging Discourses, hrsg. von Nadeem A. Memon und Mujadad Zaman (London: Routledge, 2016), 73 – 93, insbes. 73; Sebastian Günther, „‚Eine Erkenntnis, durch die keine Gewissheit entsteht, ist keine sichere Erkenntnis‘: Arabische Schriften zur klassischen islamischen Pädagogik“, in Aufbruch zu neuen Ufern: Aufgaben, Problemlagen und Profile einer Islamischen Religionspädagogik im europäischen Kontext, hrsg. von Yaşar Sarıkaya und Franz-Josef Bäumer (Münster: Waxmann Verlag, 2017), 69 – 92, insbes., 69 – 70; Sebastian Günther, „Bildung und Ethik im Islam“, in Islam: Einheit und Vielfalt einer Weltreligion, hrsg. von Rainer Brunner (Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 2016), 210 – 36.

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lifen al-Maʾmūn (reg. 813 – 833) in Bagdad gegründete bayt al-ḥikma („Das Haus der Weisheit“) beispielsweise war nicht nur die Bibliothek des Kalifen, sondern umfasste auch ein astronomisches Observatorium. Es war gleichzeitig ein Ort des gelehrten Austauschs, der Forschung und der Übersetzungstätigkeit.

1.2 Bedeutungsspektrum Ein zentraler Begriff, der die humanistischen Inhalte und Ziele von Bildung und Erziehung im Islam repräsentiert, ist das arabische Wort adab. Die klassischen arabischen Lexikographen leiten adab von der Wurzel ʾ-d-b ab, welche die Bedeutung „[zu einem Fest] einladen“, „ein Festmahl veranstalten“ aber ebenso „im Erwerb guter Eigenschaften [von Geist und Seele] unterrichten“ besitzt. Die westliche Arabistik sieht zudem eine Verbindung von adab zu daʾb, also „Brauch“ oder „Habitus“.⁶ Der Ausdruck adab ist durch die altarabische Poesie schon für die Zeit vor dem Islam belegt. Mit dem Aufkommen des Islams wurde seine Bedeutung dann erweitert und zum Teil neu kontextualisiert. Während adab in vorislamischer Zeit vor allem die Achtung der Gewohnheiten und Traditionen der Vorväter, ein sittliches Verhalten sowie eine gute Erziehung (der Kinder) umfasste, erlangte der Ausdruck im Islam über seine ethischen und sozialen Aspekte hinaus stärkere intellektuelle und literarische Bezüge, wie die folgende Grafik verdeutlicht. In islamischer Zeit steht adab nun nicht mehr nur für die Kontrolle des eigenen Willens bzw. der eigenen Gefühle und Neigungen, für die Wertschätzung der überlieferten Normen, ein korrektes Verhalten, die Achtung und Wahrung der Dinge, die sich als gut erweisen bzw. bewährt haben, sowie gutes Benehmen generell. Adab schließt jetzt auch Bedeutungen ein wie: die guten Eigenschaften und Wesensmerkmale des Geistes und der Seele, die Verfeinerung des Charakters, moralische Lebensführung (im Sinne des Islams), gute Umgangsformen und Anstand, lobenswertes Handeln sowie Ehrerweisung gegenüber höhergestellten und kultiviertes Verhalten gegenüber untergeordneten Personen. Mit der Machtübernahme durch die Abbasiden in Bagdad und unter dem Einfluss iranischen Gedanken- und Kulturgutes wird adab schließlich auch ein Ausdruck für die höfische Etikette sowie für Urbanität, Zivilisation und Menschlichkeit. Der zugleich sehr individuelle Charakter von adab-Idealen im Sinne der persönlichen,  Vgl. dazu Edward Lane, An Arabic-English Lexicon, 8 Bde. (London: William & Norgate, 1863; Nachdruck: Beirut: Librairie du Liban, 1980), 6/2429), Bd. 1, 34– 35; Francesco Gabrieli, „Adab“, in The Encyclopaedia of Islam. Second Edition, hrsg. von Hamilton Alexander Gibb und Clifford Edmund Bosworth u. a., (Leiden: Brill, 1986), Bd. 1, 175 – 76.

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auch psychologischen Entwicklung des Menschen im Hinblick auf sein Erleben und Verhalten – bis hin zur psychologischen Transformation – kommt am augenscheinlichsten in der islamischen Mystik, dem Sufismus, zum Tragen. Hier bezeichnet der Plural von adab – ādāb – nichts Geringeres als „den Weg zum Göttlichen“ und „die Annäherung an Gott“. In dieser Hinsicht umfasst der adabBegriff, der zunächst und vor allem äußere Verhaltensweisen und Prozesse bezeichnet hatte, nun auch ausdrücklich innere Qualitäten.⁷

Im Wissenskontext ist adab einerseits ein Synonym für Wissen und intellektuelle Bildung generell. Andererseits repräsentiert der Terminus auch spezielle

 Barbara D. Metcalf, „Introduction“, in Moral Conduct and Authority: The Place of Adab in South Asian Islam, hrsg. von Barbara D. Metcalf (Berkeley, Los Angeles: University of California Press, 1984), 3 – 4.

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Fähigkeiten und Kenntnisse. Zu nennen sind hier: Wissen, das nötig ist für bestimme Berufsgruppen (etwa für Ärzte, Lehrer, Musiker, Richter und Juristen oder Sekretäre), soziale Gruppen (Höflinge oder auch Hausfrauen), die Anhänger bestimmter religiöser Überzeugungen und Praktiken (wie die Mystiker) und auch für Herrscher (Könige und Prinzen),⁸ wodurch adab deutlich stärker auch sozialpolitische Komponenten repräsentiert. Grundsätzlich bezeichnet adab im klassischen Islam nicht zuletzt die wichtige Kategorie von Texten in arabischer Sprache, die den doppelten Anspruch erheben, die Leser zu unterweisen und in ästhetisch anspruchsvoller Weise zu unterhalten – eine weitgespannte Konzeption also, die in dem deutschen Begriff „schöngeistige Literatur“ eine passende Entsprechung findet. Dieser doppelte Anspruch wird in repräsentativer Weise in dem Vorwort deutlich, das der prominente arabische Historiker und Literat Abū l-Faraǧ al-Iṣfahānī (gest. nach 971) seiner monumentalen Musik- Literatur- und Kulturgeschichte, dem Kitāb al-Aġānī („Das Buch der Lieder“) voranstellte.⁹ Er schreibt hier in der dritten Person Folgendes über den Aufbau seines Buches, seine Arbeitsweise und den inklusiven Bildungsanspruch, den er als ein Vertreter des adab – also als ein adīb – mit seinem Opus verbindet: In jedem Kapitel führt der Autor deshalb etwas an, das [diesem] ähnelt, ein wenig, das dazu passt, und einige Abschnitte, bei deren Betrachtung der Leser stets von einem Nutzen zu einem Ähnlichen anderen gelangt und immerfort die Wahl hat zwischen Ernst und Scherz, Überlieferungen und Nachrichten, biografischen Daten und Gedichten, […] deren Kenntnis den Gebildeten gut ansteht, deren Studium die Jünglinge bedürfen und wovon zu entlehnen auch reifere Männer nicht zu erhaben sind. Denn all diese Dinge sind aus den besten und erlesensten Nachrichten und Quellen ausgewählt und von kenntnisreichen und erfahrenen Leuten übernommen worden.¹⁰

Es ist somit nicht verwunderlich, dass im klassischen Islam das Wort ʿālim, „Gelehrter“, als ein Synonym für adīb, „Literat“ bzw. „Schriftsteller“, galt. Auch der Begriff ahl al-qalam, „Leute des Stiftes“, begegnet als Bezeichnung für die Vertreter dieser großen learned community, zu der die angesehensten Literaten, Grammatiker, Philologen, Historiker, Juristen, Theologen und Kanzleibeamte ihrer Zeit zählten. Dies wird auch durch einige besonders prominente Namen von adabAutoren aus den ersten drei Jahrhunderten des Islams deutlich, die hier stell-

 Metcalf, „Introduction“, 4.  Zum Autor siehe Sebastian Günther, „Abū l-Faraj al-Iṣfahānī“, in Encyclopaedia of Islam Three (online), hrsg. von Kate Fleet, zugegriffen 22.7. 2020, http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_ei3_COM_ 0105.  Übers. Manfred Fleischhammer, Altarabische Prosa (Leipzig: Reclam, 1991), 265 – 67.

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vertretend für die übergroße Zahl arabischer Schriftsteller genannt werden sollen: Zu erwähnen sind der Kanzleisekretär und Literat ʿAbd al-Ḥamīd al-Kātib (gest. 750), der Übersetzer und Literat Ibn al-Muqaffaʿ (gest. 760), der Literat und rationale Theologe al-Ǧāḥiẓ (gest. ca. 868), der Theologe und Schriftsteller Ibn Qutayba (gest. 889), der Literat und Philosoph al-Marzubānī (gest. 994), der Literat at-Tanūḫī (gest. 994) sowie der Literat und Philosoph at-Tawḥīdī (gest. 1023). Im Fortgang der islamischen Bildungsgeschichte erweiterte sich das Bedeutungsspektrum des Begriffs adab. Einerseits wurde der Begriff unter dem Vorzeichen der individuellen und gesellschaftlichen Bildung sowie der Sozialisation und Ethik inklusiver. Doch andererseits schärften sich seine Konturen auch – so etwa in den philologischen Bereichen. Der in Kairo wirkende Enzyklopädist, Naturwissenschaftler und Arzt Abū ʿAbdallāh Ibn al-Akfānī (gest. 1348) definiert den Ausdruck in seinem Iršād al-qāṣid ilā asnā al-maqāṣid („Die Anleitung für den [nach Wissen] Strebenden zur [Erreichung der] höchsten Ziele [im Bildungserwerb“]) folgendermaßen: .‫ ﻭﻣﻮﺿﻮﻋﻪ ﺍﻟﻠﻔﻆ ﻭﺍﻟﺨ ّﻂ‬،‫ﻋﻠﻢ ﺍﻷﺩﺏ ﻭﻫﻮ ﻋﻠﻢ ﻳﺘﻌ ّﺮﻑ ﻣﻨﻪ ﺍﻟﺘﻔﺎﻫﻢ ﻋ ّﻤﺎ ﻓﻲ ﺍﻟﻀﻤﺎﺋﺮ ﺑﺄﺩﻟّﺔ ﺍﻷﻟﻔﺎﻅ ﻭﺍﻟﻜﺘﺎﺑﺔ‬ ‫ﻭﻣﻨﻔﻌﺘﻪ ﺇﻇﻬﺎﺭ ﻣﺎ ﻓﻲ ﻧﻔﺲ ﺇﻧﺴﺎﻥ ﻣﺎ ﻣﻦ ﺍﻟﻤﻌﺎﻧﻲ ﻭﺇﻳﺼﺎﻟﻪ ﺇﻟﻰ ﺷﺨﺺ ﺁﺧﺮ ﻣﻦ ﺍﻟﻨﻮﻉ ﺍﻹﻧﺴﺎﻧﻲ ﺣﺎﺿ ًﺮﺍ ﻛﺎﻥ ﺃﻭ‬ ‫ ﻭﺇﻧ ّﻤﺎ ﺍﺑﺘﺪﺃ ُﺕ ﺑﻪ ﻷ ّﻧﻪ ﺃ ّﻭﻝ ﺃﺩﻭﺍﺕ‬.‫ ﻭﺑﻪ ﻳﺘﻤ ّﻴﺰ ﻇﺎﻫﺮ ﺍﻹﻧﺴﺎﻥ ﻋﻠﻰ ﺳﺎﺋﺮ ﺍﻟﺤﻴﻮﺍﻥ‬،‫ ﻭﻫﻮ ِﺣﻠﻴﺔ ﺍﻟﻠﺴﺎﻥ ﻭﺍﻟﺒﻨﺎﻥ‬.‫ﻏﺎﺋﺒًﺎ‬ .‫ ﻭﻟﺬﻟﻚ ﻣﻦ ﻋﺮﻯ ﻋﻨﻪ ﻟﻢ ﻳﻬﺘ ّﻢ ﺑﻐﻴﺮﻩ ﻣﻦ ﺍﻟﻜﻤﺎﻻﺕ‬،‫ﺍﻟﻜﻤﺎﻝ‬ ‫ ﻭﻫﻲ ﻋﻠﻢ ﺍﻟﻠﻐﺔ ﻭﻋﻠﻢ ﺍﻟﺘﺼﺮﻳﻒ ﻭﻋﻠﻢ ﺍﻟﻤﻌﺎﻧﻲ ﻭﻋﻠﻢ ﺍﻟﺒﻴﺎﻥ ﻭﻋﻠﻢ ﺍﻟﺒﺪﻳﻊ ﻭﻋﻠﻢ‬:‫ﻭﺗﻨﺤﺼﺮ ﻣﻘﺎﺻﺪﻩ ﻓﻲ ﻋﺸﺮﺓ ﻋﻠﻮﻡ‬ .‫ ﻭﺫﻟﻚ ﻷ ّﻥ ﻧﻈﺮﻩ ﺇ ّﻣﺎ ﻓﻲ ﺍﻟﻠﻔﻆ ﺃﻭ ﺍﻟﺨ ّﻂ‬.‫ﺍﻟﻌﺮﻭﺽ ﻭﻋﻠﻢ ﺍﻟﻘﻮﺍﻓﻲ ﻭﻋﻠﻢ ﺍﻟﻨﺤﻮ ﻭﻋﻠﻢ ﻗﻮﺍﻧﻴﻦ ﺍﻟﻜﺘﺎﺑﺔ ﻭﺍﻟﻘﺮﺍﺀﺓ‬ Das Wissensgebiet des adab (ʿilm al-adab): Es ist das Wissen, welches das zwischenmenschliche Verstehen von Mitteilungen anhand der Bedeutungen von Ausdrücken im mündlichen und schriftlichen Gebrauch betrifft. Sein Gegenstand ist das mündliche und das schriftliche Wort. Sein Nutzen besteht darin, dass es das, was sich im Inneren einer Person und hinsichtlich der Intentionen ihrer Ideen befindet, hervorbringt und einer anderen Person weitergibt – gleich, ob diese an- oder abwesend ist. [Dieses Wissensgebiet] ist die Zierde sowohl der Zunge [die wohlformulierte Rede betreffend] als auch der Hand [in Bezug auf den guten Schreibstil]. Durch adab-Wissen unterscheidet sich der Mensch vom Rest der Lebewesen. Ich habe [meine Ausführungen zu diesem Buch] mit dem Wissensgebiet des adab begonnen, weil es das erste Element zur menschlichen Vollkommenheit (kamāl) ist. Wer sich dieses nicht aneignet, wird sich auch nicht für andere Formen der Vollkommenheit interessieren. Seine Ziele lassen sich in folgende zehn Disziplinen kategorisieren: 1. 2. 3.

Sprachwissenschaft (ʿilm al-luġa), Morphologie (ʿilm at-taṣrīf), Semantik (ʿilm al-maʿānī),¹¹

 Zu den Bedeutungsfeldern von ʿilm al-maʿānī und ʿilm al-bayān siehe Benedict Reinert, „Al-

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4. Rhetorik (ʿilm al-bayān), 5. Stilistik (ʿilm al-badīʿ), 6. Metrik (ʿilm al-ʿarūḍ), 7. Reimkunst (ʿilm al-qawāfī), 8. Syntax (ʿilm an-naḥw), 9. Schreibregeln (qawānīn al-kitāba) bzw. 10. Rezitationsregeln (qawānīn al-qirāʾa); denn es handelt sich hier sowohl um den verbalen als auch den schriftlichen Ausdruck.¹²

Der Begriff ʿilm al-adab steht sodann auch regulär für die Wissenschaft, die sich mit der sprachlichen Analyse von Texten beschäftigt: die Philologie. Die Bezeichnung al-ʿulūm al-adabiyya für die philologischen Wissenschaften ist erst in nachklassischer Zeit (ca. 15. – 18. Jahrhundert) belegt. Der Plural ādāb wiederum bezieht sich (abgesehen von seiner oben erwähnten speziellen Funktion im mystischen Kontext) vor allem auf die praktischen Verhaltensweisen und ethischen Normen im allgemeinen Sinne. Im modernen Kontext steht er für die Geisteswissenschaften. Seit Ende des 19. Jahrhunderts steht adab im Arabischen und adabiyyāt im Persischen und Türkischen sodann vor allem für die schöngeistige Literatur im engeren Sinne.¹³

1.3 Westliche Forschung Die Geschichte eines für die arabisch-islamische Kultur und Zivilisation so zentralen Begriffs wie dem des adab hat die westliche Orientalistik schon seit dem 19. Jahrhundert beschäftigt.¹⁴ Während Edward Lane in seinem Lexikon zum klassischen Arabischen die Bedeutungsvielfalt von adab in vor- und frühislamischer Zeit belegt hat, verwies Charles Pellat (1964) auf die moralischen, sozialen und intellektuellen Komponenten des Begriffs im Kontext der arabischen

Maʿānī Wa ’l-Bayān“, in The Encyclopaedia of Islam. Second Edition, hrsg. von Clifford E. Bosworth u. a. (Leiden: Brill, 1986), Bd. 5, 898 – 902.  Muḥammad ibn Ibrāhīm ibn Sāʿid al-Anṣārī Ibn al-Akfānī, Iršād al-qāṣid ilā asnā al-maqāṣid, hrsg. von ʿAbd al-Munʿim Muḥammad ʿUmar (Kairo: Dār al-Fikr al-ʿArabī, o.J), 109. Vgl. auch George Makdisi, The Rise of Humanism in Classical Islam and the Christian West: With Special Reference to Scholasticism (Edinburgh: Edinburgh University Press, 1990), 93; Muhsin J. al-Musawi, The Medieval Islamic Republic of Letters (Notre Dame: University of Notre Dame Press, 2015), 180 – 81; Jan Just Witkam, De egyptische arts Ibn al-Akfānī (gest. 749/1348) en zijn indeling van de wetenschappen (Leiden: Ter Lugt Press, 1989), 180 – 81.  Mayeur-Jaouen, Adab and Modernity, 2.  Die Angaben zu den Publikationen, auf die im folgenden Abschnitt Bezug genommen wird, sind im Literaturverzeichnis vermerkt.

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Literatur (in der nachklassischen Periode des Islams). In diesem Sinne äußerten sich dann auch Seeger Adrianus Bonebakker (1990), Hartmuth Fähndrich (1990), Bo Holmberg (2006), Habib El Mallouki (2013) sowie Thomas Bauer, Susanne Enderwitz und Jaakko Hämeen-Anttila (2013, 2014). Der Verbindung zwischen adab und daʾb spürte Karl Vollers (1906) nach, während Carlo Nallino (1948) die nahezu synonyme Verwendung von adab und sunna, das heißt „die von den Vorfahren überlieferte, normative Praxis (im säkularen Sinne)“, hervorhebt. Auf die griechischen, persischen und arabischen Elemente im Prozess der Literarisierung von adab im klassischen Islam macht Gustav Edmund von Grunebaum (1946) aufmerksam. Die vielfältigen Zusammenhänge von adab und ʿilm als dem „Wissen aller essenziellen Dinge, die Gott offenbarte“ und die Bedeutung von adab als „Charakter, Disziplin, Disposition und Habitus“ im religiösen Kontext haben Franz Rosenthal (1970), Ira Lapidus (1984), Claude Gilliot (1999) und Sebastian Günther (2020) beleuchtet. Einen interessanten Vorstoß unternimmt Armando Salvatore (2019), der adab als Gegenstück zu(r) Scharia untersucht. Die Sammelbände von Stefan Leder (1998), Albert Arazi (1999) und Philip Kennedy (2005) widmen sich vor allem dem literarischen und sprachlichen Kontext von adab im klassischen Islam. Wichtige Beiträge sowohl zur Entwicklung und Bedeutung von adab im Kontext der klassischen islamischen Geschichtsschreibung als auch zu literarischen Darstellungen von Muḥammad als „Teacher of Manners“ verfasste Tarif Khalidi (1994, 2009). Zur Rolle von adab in der Moderne und im Kontext sozialer Integration äußerten sich Stefan Reichmuth (1998), Ralf Elger (2008), Stefan Guth (2010), Boutros Hallaq (2014) und Rüdiger Seesemann (2017).

2 Adab-Literatur: Repositorium und Medium im Bildungsdiskurs 2.1 Ibn Qutayba (828 – 889) Ein besonders herausragender Vertreter des adab ist Abū Muḥammad ʿAbdallāh ibn Muslim, bekannt als Ibn Qutayba ad-Dīnawarī. Ibn Qutayba wurde in Kufa in eine arabisierte, ursprünglich aus Chorasan stammende Familie geboren. Seine Studien zur Theologie, Traditions- und Rechtswissenschaften sowie zur Philologie, Grammatik und arabischen Poesie und Prosa unternahm er vor allem in Basra. Eine gewisse Zeit verbrachte Ibn Qutayba dann im iranischen Dīnawar, wo er als Richter eingesetzt war. Auf diesen Posten hatte ihn der Wesir des Abbasidenkalifen al-Mutawakkil (reg. 847– 861), Fatḥ b. Ḫāqān, berufen, dem Ibn Qu-

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tayba sein um das Jahr 851 verfasstes Buch Adab al-kātib („Der Bildungs- und Verhaltenskodex für Kanzleisekretäre“) gewidmet hatte. Die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbrachte der Autor in Bagdad. Es ist die Regierungszeit eines neuen Kalifen, al-Muʿtamid (reg. 870 – 892), der die abbasidische Hauptstadt von Samarra wieder nach Bagdad verlegt hatte und für relative politische und ökonomische Stabilität im Reich sorgte. In Bagdad widmete sich Ibn Qutayba intensiv der Schriftstellerei und war auch als Lehrer tätig.¹⁵ Ibn Qutayba nimmt einen prominenten Platz in der arabisch-islamischen Literatur- und Bildungsgeschichte ein. Diese Anerkennung ist zudem – wie die zahlreichen Drucke und Nachdrucke seiner Werke zeigen – bis in die Gegenwart deutlich zu spüren. Ibn Qutayba hat ein umfangreiches Schrifttum hinterlassen, zu dem sowohl enzyklopädisch-historische, theologisch-dogmatische, philologische und poetologische Schriften als auch wichtige adab-Werke zählen. Vor allem letztere begründeten Ibn Qutaybas Reputation als produktiver Autor und Bildungsschriftsteller in der westlichen Welt. Zu nennen sind hier Hauptwerke wie das gerade erwähnte Adab al-kātib, ein Leitfaden für Verwaltungsbeamte; das Kitāb alMaʿārif („Das Buch der Kenntnisse“), eine Enzyklopädie zu historisch-kulturellem Wissen für die Mittel- und Oberschicht aus islamischer Sicht; das ʿUyūn alaḫbār („Die Quintessenzen der Nachrichten“), ein historisches Handbuch und eine poetische Anthologie, die in synkretistischer Weise das arabisch-islamische Kulturgut mit persischen, griechischen und indischen Elementen sowie jüdischchristlichen Überlieferungen und Erinnerungen an Arabien vor dem Islam verbindet;¹⁶ sowie aš-Šiʿr wa-š-šuʿarāʾ („Die Dichtung und die Dichter“), ein Klassiker der frühen arabischen Literaturkritik mit Beispielen von über zweihundert Dichtern aus vorislamischer und islamischer Zeit. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass Ibn Qutayba einer der frühesten muslimischen Gelehrten ist, der wörtlich aus der Bibel zitiert.¹⁷

 Isḥāq Mūsa Ḥuseini, The Life and Works of Ibn Qutayba (Beirut: The American Press, 1950), 11– 46; Abū Muḥammad ʿAbdallāh ibn Muslim Ibn Qutayba ad-Dīnawarī, Ibn Qutaybah: The Excellence of the Arabs [Arabic and English], hrsg. von James E. Montgomery und Peter Webb, übers. von Sarah Bowen Savant und Peter Webb (New York: New York University Press, 2017), x – xiv.  Mahmoud Haggag, „Ethik in der Bildungskonzeption Ibn Qutaibas (gest. 276/889): Eine analytische Studie anhand seiner Werke Adab al-kātib und ʿUyūn al-aḫbār“, in Al Azhar University, Faculty of Translation’s Journal 5, Nr. 2 (2013): 294– 95, stellt fest, dass das ʿUyūn al-aḫbār nach Ibn Qutaybas eigenen Aussagen in diesem Werk „als Erweiterung und Ergänzung des Buches Adab alkātib“ gelten muss.  Zu Ibn Qutaybas Bibelzitaten siehe Said Karoui, Die Rezeption der Bibel in der frühislamischen Literatur am Beispiel der Hauptwerke von Ibn Qutayba (gest. 276/889) (Heidelberg: Seminar für

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Die adab-Konzeption Ibn Qutaybas verbindet die ethischen mit den intellektuellen Grundvorstellungen der arabisch-islamischen Kultur unter den Abbasiden in einer Weise, die diese den gebildeten Lesern seiner Zeit verständlich macht. Durch die Vermittlung von Wissen und Bildung in einer verständlichen literarischen Form wurden diese Kenntnisse einem relativ weiten Kreis der Bevölkerung zugänglich und dadurch gewissermaßen auch popularisiert. Ibn Qutaybas adab stellt insofern, wie es Gérhard Lecomte, einer der besten modernen Ibn Qutayba-Kenner, formulierte, „eine Art Humanismus“ dar.¹⁸ Doch die Werke Ibn Qutaybas sind auch von einer entschiedenen Verteidigung des Sunnitentums und der islamischen Tradition sowie einem gewissen Eklektizismus in religiösen Belangen geprägt. Insbesondere letzterer relativiert u. a. bestimmte seiner Äußerungen zu säkularen Fragen, die sein Adab al-kātib so deutlich kennzeichnen. Diese Widersprüchlichkeit zwischen intellektueller Offenheit, Lebenszugewandtheit und literarischem Bildungseifer einerseits und einem Verhaftetsein in religiöser Tradition, Autoritätsgläubigkeit und Konservatismus andererseits, wie der Kalif al-Mutawakkil sie in der Mitte des 9. Jahrhunderts mit der Restauration der islamischen Orthodoxie und ihrer Erhebung zur Staatsdoktrin vertrat, kennzeichnen das vielschichtige und ungemein produktive Gesamtschaffen Ibn Qutaybas.¹⁹

2.1.1 Schreibkultur und Bildung Eine zentrale Quelle zu Ibn Qutaybas Bildungskonzeption ist das Adab al-kātib. Das Werk richtet sich explizit an die Kanzleisekretäre – und hier vor allem an jene, die ihre Bildung vernachlässigt haben und die der pädagogisch aufbereiteten,

Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients, 1997), 1; Sabine Schmidtke, „The Muslim Reception of Biblical Materials: Ibn Qutayba and his Aʿlām al-Nubuwwa“, in Islam and Christian–Muslim Relations 22, Nr. 3 (2011): 249 – 74; Sebastian Günther, „‚Wehe dieser sündigen Gemeinde, die nicht weiß, ob ihr Gutes oder Böses widerfährt‘: Jesaja, ein alttestamentlicher Prophet und seine Botschaft in der islamischen Tradition“, in Transmission and Interpretation of the Book of Isaiah in the Context of Intra- and Interreligious Debates, hrsg. von Peter Gemeinhardt und Florian Wilk (Leuven: Peeters Publishers, 2016), 397– 98.  Gérard Lecomte, Ibn Qutayba (mort en 276/889): L’homme, son oeuvre, ses idées (Damaskus: Institut Français, 1965), 422; Gérard Lecomte, „Ibn Ḳutayba“, in The Encyclopaedia of Islam. Second Edition, hrsg. von Bernard Lewis (Leiden: Brill, 1971), Bd. 3, 844– 47.  Vgl. dazu auch Lecomte, Ibn Qutayba, 421.

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leichten Lektüre zur Belehrung bedürfen²⁰ – sowie an diejenigen, die sich auf diesen Berufsstand erst vorbereiten. Für sie und für alle anderen, die professionell mit dem Anfertigen von Schriftstücken befasst sind, bietet das Buch detaillierte und systematische Unterweisungen vor allem zur sprachlichen und zur formalethischen Bildung. Der gesellschaftliche Hintergrund und Anlass zum Verfassen dieses Werkes war offenbar der zur Zeit der Abbasiden steigende Bedarf an Verwaltungsbeamten in ihren verschiedenen Ämtern und Funktionen. Dies führte zu einem Anwachsen der sozialen und kulturellen Bedeutung dieser Berufsgruppe in der abbasidischen Gesellschaft, aber auch zu einer Spezialisierung ihrer Aufgaben sowie zur Differenzierung der von ihnen benötigten Kenntnisse und mithin ihrer Ausbildung.²¹ Darüber hinaus beinhaltet das Adab al-kātib eine umfassende Erörterung all dessen, was ein gebildeter Muslim des 9. Jahrhunderts aus der Sicht seines Autors grundsätzlich wissen sollte, um sich schriftlich und mündlich gleichermaßen korrekt und wohlgefällig auszudrücken. Unter thematischen Gesichtspunkten ist dieses Kompendium deshalb vor allem ein Handbuch zur arabischen Grammatik und Stilistik, in dem das Augenmerk des Lesers auf die richtige, effektive und ästhetisch anspruchsvolle Verwendung der arabischen Sprache gerichtet wird. Der Autor behandelt, wie seinerzeit Max Grünert seiner Edition dieses Werkes voranstellte,

 Wa-ǧaʿaltu li-muġfili t-taʾdībi kutuban ḫifāfan, vgl. Abū Muḥammad ʿAbdallāh ibn Muslim Ibn Qutayba ad-Dīnawarī, Adab al-kātib, hrsg. von ʿAlī Fāʿūr (Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 1408/ 1988), 14.  Die vielfältigen Aufgabengebiete werden u. a. in den Bezeichnungen deutlich, die für diese Beamten verwendet wurden. So gab es im dīwān bzw. „Amt“ für Schriftstücke den Kanzleisekretär: kātib rasāʾil; im Weiteren den Verwaltungssekretär des Provinzgouverneurs: kātib ʿāmil; den Sekretär als politischen Berater für hohe Staatsbeamte: kātib tadbīr; den Sekretär in der Zentralverwaltung: kātib maǧlis; den Sekretär für Steuerangelegenheiten: kātib ḫarāǧ; den Finanzsekretär: kātib ʿaqd; den Sekretär im Polizeibüro: kātib maʿūna; den Sekretär im Armeebüro: kātib ǧund; den Sekretär im Musterungsamt: kātib ʿarḍ; im dīwān al-azimma („Amt für Zügel“, eine Aufsichtsbehörde des Finanzwesens) den Finanzprüfer: kātib azimma; den Justizsekretär: kātib ḥakīm; den Sekretär im Amt für rechtliche Beschwerden und Appellation: kātib maẓālim; und den Postsekretär: kātib barīd. Vgl. dazu Lecomte, Ibn Qutayba, 442– 43; Maaike van Berkel, „Bureaucracy“, in Abbasid Court: Formal and Informal Politics in the Caliphate of al-Muqtadir (295 – 320/908 – 32), hrsg. von Maaike van Berkel u. a. (Leiden: Brill, 2013), 95 – 97, mit Bezugnahme auf das K. al-Kuttāb („Die Sekretäre“) von ʿAbdallāh ibn ʿAbd al-ʿAzīz al-Baġdādī (gest. nach 255/869), einem Zeitgenossen von Ibn Qutayba, und das K. al-Burhān fī wuǧūh al-bayān („Der Beweis über die Vielfalt des sprachlichen Ausdrucks“) von Abū l-Ḥusayn Ibn Wahb al-Kātib (gest. Mitte 4./10. Jh.).

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[…] im Allgemeinen die Vorschriften, wie man das Arabische sowohl richtig wie elegant als schriftstellerisches Mittel zu behandeln habe, und verbreitet sich im Besonderen über alle Fragen der Orthographie, Grammatik, Lexikographie, Wortbedeutungslehre usw., indem nebenbei eine Fülle historischen, naturwissenschaftlichen, poetischen, juridischen und theologischen Stoffes als Beweis- und Ausstattungsmateriale verwendet wird.²²

Nach einer originellen Einleitung (ḫuṭba) ist das Werk in folgende vier Abschnitte (kutub) gegliedert: 1. Al-Maʿrifa, („Das Wissen“): eine enzyklopädische Behandlung in 56 Kapiteln zu den verschiedensten Themen der sprachlichen und allgemeinen Bildung. Hierzu zählen Ausführungen zu einzelnen Wörtern; grammatikalische Erscheinungen; Reimwörter, Wunsch- und Grußformeln; Redensarten; Personen-, Pflanzen- und Tiernamen; bestimmte Singular- und Pluralformen; umfangreiche Ausführungen zum Pferd; (seltsame) körperliche Merkmale bei Menschen; lange Listen mit Synonymen für Körperteile und körperliche Eigenschaften bei Mensch und Tier sowie Laute und Geräusche in der Natur; umfangreiche Ausführungen zu Speisen und Getränken; Bezeichnungen von Werkzeugen, Gewändern, Waffen und Handwerken; Tiernamen; Wörter mit ähnlicher Bedeutung; Feinheiten im Ausdruck; und Antonyme. 2. Taqwīm al-yad („Die Schulung der Hand“): über Orthographie. Behandelt werden orthographische Besonderheiten, Beispiele für Plene- und defektive Schreibung; Getrennt- und Zusammenschreibung; Unterscheidung von Wörtern durch hinzutretende Buchstaben; Sonderfälle in der Schreibung von Nomina und Verben; die Hamza-Schreibung; die Deklination; Konstruktion und Anwendung von Zahlen – u. a. in der Datierung; Dualbildung; nichtdeklinierbare und diptotische Nomina; Adjektivformen; und vokalisch auslautende Nomina. 3. Taqwīm al-lisān („Die Schulung der Zunge“): über Orthoepie, das heißt die Lehre von der richtigen Aussprache der Wörter. In diesem Teil erörtert der Autor Fragen der arabischen Volkssprache seiner Zeit und bietet originelle Beobachtungen und Einschätzungen, die von zahlreichen späteren Autoren zitiert werden. Er erörtert dabei: richtige und weniger gute Formen im mündlichen Ausdruck; Fragen der Wortbildung; Bedeutungswechsel bei Verben durch geringfügige Veränderungen; den richtigen und falschen Gebrauch von Präpositionen; Fremdwörter; Fragen der Lautlehre; und Einzelfragen der Syntax. 4. Al-Abniya („Die [sprachlichen] Strukturen“): über die Lehre der Bildung, der Formen und Ableitungen von Nomina und Verben, gegliedert in vier weitere  Vgl. Ibn Qutayba, Adab al-kātib, VII.

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Teile. Der Teil widmet sich Beispielen für Bedeutungsfelder bei unterschiedlichen Konjugationen; Fremdwörtern in der Volkssprache, die aus dem Persischen, Griechischen, Nabatäischen, Türkischen, Abessinischen und Syrischen stammen; dem Gebrauch von Präpositionen bei bestimmten Verbformen; Anomalien bei Nominalbildungen; und Fragen der Verbalnomina.²³ Anlass und Motivation zum Verfassen dieses Buches waren, wie Ibn Qutayba in der Einleitung zu seinem Kompendium beklagt, das drastisch gesunkene Bildungsniveau, das mangelnde Interesse am Lernen, der Verfall von Sitten und Moral sowie das Streben nach weltlicher Anerkennung und Besitz unter seinen Zeitgenossen. Dies waren kulturelle Erscheinungen, die in der Wahrnehmung Ibn Qutaybas ganz offenbar mit den politischen Krisen des abbasidischen Kalifats im 10. und 11. Jahrhundert einhergingen. Diese Umstände waren für den Autor Grund genug, um ein leicht verständliches Handbuch²⁴ zu verfassen, das sich mit Fragen der Lernkultur, der Bildung und der Ethik in diesem Kontext beschäftigt. Der Autor sagt hierzu: ِ ِ ‫ ﺃ ّﻣﺎ ﺍﻟﻨﺎﺷﺊ ﻣﻨﻬﻢ‬:‫ ﻭﻷﻫﻠﻪ ﻛﺎﺭﻫﻴﻦ‬،‫ ﻭﻣﻦ ﺍﺳﻤﻪ ﻣﺘﻄﻴّﺮﻳﻦ‬،‫ﻓﺈ ّﻧﻲ ﺭﺃﻳﺖ ﺃﻛﺜﺮ ﺃﻫﻞ ﺯﻣﺎﻧﻨﺎ ﻫﺬﺍ ﻋﻦ ﺳﺒﻴﻞ ﺍﻷﺩﺏ ﻧﺎﻛﺒﻴﻦ‬ ‫ﺱ؛ ﻟﻴﺪﺧﻞ ﻓﻲ ﺟﻤﻠﺔ‬ ٍ ‫ﺱ ﺃﻭ ﻣﺘﻨﺎ‬ ٍ ‫ ﻭﺍﻟﻤﺘﺄ ّﺩﺏ ﻓﻲ ﻋﻨﻔﻮﺍﻥ ﺍﻟﺸﺒﺎﺏ ﻧﺎ‬،‫ ﻭﺍﻟﺸﺎﺩﻱ ﺗﺎﺭﻙ ﻟﻼﺯﺩﻳﺎﺩ‬،‫ﻓﺮﺍﻏﺐ ﻋﻦ ﺍﻟﺘﻌﻠﻴﻢ‬ .‫ ﻭﻳﺨﺮﺝ ﻋﻦ ﺟﻤﻠﺔ ﺍﻟﻤﺤﺪﻭﺩﻳﻦ‬،‫ﺍﻟﻤﺠﺪﻭﺩﻳﻦ‬ ،‫ ﻭﺑﺎﺭﺕ ﺑﻀﺎﺋﻊ ﺃﻫﻠﻪ‬،‫ ﻭﻛﺴﺪﺕ ﺳﻮﻕ ﺍﻟﺒ ّﺮ‬،‫ ﻭﺑﻜ ّﺮﺓ ﺍﻟﺠﻬﻞ ﻣﻘﻤﻮﻋﻮﻥ ﺣﻴﻦ ﺧﻮﻯ ﻧﺠﻢ ﺍﻟﺨﻴﺮ‬،‫ﻓﺎﻟﻌﻠﻤﺎﺀ ﻣﻐﻤﻮﺭﻭﻥ‬ ‫ ﻭﺍﻟﺠﺎﻩ ﺍﻟﺬﻱ ﻫﻮ ﺯﻛﺎﺓ‬،‫ ﻭﺍﻟﻔﻀﻞ ﻧﻘﺼﴼ ﻭﺃﻣﻮﺍﻝ ﺍﻟﻤﻠﻮﻙ ﻭﻗﻔﴼ ﻋﻠﻰ ﺷﻬﻮﺍﺕ ﺍﻟﻨﻔﻮﺱ‬،‫ﻭﺻﺎﺭ ﺍﻟﻌﻠﻢ ﻋﺎﺭﴽ ﻋﻠﻰ ﺻﺎﺣﺒﻪ‬ َ ‫ﺍﻟﺸﺮﻑ ُﻳﺒﺎﻉ ﺑﻴﻊ ﺍﻟﺨﻠﻖ ﻭﺁ‬ ‫ ﻭﻟ َّﺬﺍﺕ ﺍﻟﻨﻔﻮﺱ ﻓﻲ ﺍﺻﻄﻔﺎﻕ‬،‫ﺿﺖ ﺍﻟﻤﺮﻭﺀﺍﺕ ﻓﻲ ﺯﺧﺎﺭﻑ ﺍﻟﻨﺠﺪ ﻭﺗﺸﻴﻴﺪ ﺍﻟﺒُﻨﻴﺎﻥ‬ ُ ،‫ ﻭﺳﻘﻄﺖ ِﻫ َﻤﻢ ﺍﻟﻨﻔﻮﺱ‬،‫ ﻭﻣﺎﺗﺖ ﺍﻟﺨﻮﺍﻃﺮ‬،‫ ﻭ ُﺟﻬﻞ ﻗﺪﺭ ﺍﻟﻤﻌﺮﻭﻑ‬،‫ ﻭﻧﺒِﺬﺕ ﺍﻟﺼﻨﺎﺋﻊ‬.‫ﺍﻟﻤﺰﺍﻫﺮ ﻭﻣﻌﺎﻃﺎﺓ ﺍﻟﻨﺪﻣﺎﻥ‬ .‫ﻭ ُﺯ ِﻫﺪ ﻓﻲ ﻟﺴﺎﻥ ﺍﻟﺼﺪﻕ ﻭﻋﻘﺪ ﺍﻟﻤﻠﻜﻮﺕ‬ So beobachte ich, dass die meisten unserer Zeitgenossen vom Weg des adab abweichen, seiner Bezeichnung [bzw. der Konzeption, für die sie steht] gegenüber negativ eingestellt sind und seine Vertreter verachten. Was denjenigen unter ihnen betrifft, der zur jungen Generation gehört, so hat er eine Abneigung gegen das Lernen; derjenige, der ein wenig weiß, will nicht mehr dazulernen; und der Gebildete in der vollen Kraft der Jugend ist vergesslich oder zu nachlässig, als dass er in den Kreis der vom Glück Begünstigen eintreten und den der Beschränkten verlassen könnte. Die [wahren] Gelehrten sind nicht mehr bekannt und der Macht des Unwissens unterworfen. All dies ereignete sich, als der Stern der Güte gefallen ist; der Markt der Rechtschaffenheit erfolglos, die Ware ihrer Verfechter unverkäuflich, das Wissen für seinen Besitzer zu Schande und die Tugend zu einem Makel geworden ist; als die Vermögen der Könige nur noch für eigene Begehrlichkeiten verwendet wurden und die Würde, die eigentlich die

 Vgl. hierzu auch Gisela Schatte, Ibn Qutaiba: Beiträge zum islamischen Bildungswesen im 3./9. Jahrhundert (Halle-Saale (Diss.), 1944), 62– 89.  Ibn Qutayba, Adab al-kātib (Ed. Fāʿūr), 14.

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Pflichtsteuer der Vornehmheit ist, wie billige Lumpen verkauft wurde, und als die männlichen Tugenden [vergessen wurden und sich nur noch] in den Zierden des Wohnungsmobiliars und im Errichten von Gebäuden sowie in den genüsslichen Empfindungen beim Spiel der Saiteninstrumente und in der Gesellschaft von Zechgenossen beim Kredenzen von Wein äußerten. Die Kunstfertigkeiten (ṣanāʾiʿ) werden gemieden und der Wert des Guten [und Wissenswerten] wird nicht erkannt. Die Empfindungen [des Mitgefühls für den Mitmenschen] sind erloschen und die hehren menschlichen Bestrebungen sind tief gesunken. Man ist abgeneigt, die Wahrheit zu sagen [in Anlehnung an Koran 19:50, 26:84], und der Wunsch nach Vollkommenheit hat nachgelassen.²⁵

Ibn Qutayba kritisiert die Verwaltungsbeamten – die für ihn hier stellvertretend für die Schicht der Gebildeten stehen – deutlich auch für ihre übermäßige Konzentration auf die nicht-arabischen bzw. nicht aus Koran und Sunna hergeleiteten Wissenschaften. Tatsächlich sind ihm die „neuen“ wissenschaftlichen Disziplinen und Methoden – wie etwa die diskursive Theologie (ʿilm al-kalām), die peripatetische, an der griechischen Antike orientierte Philosophie (falsafa) und die Nutzung des Analogieschlusses (qiyās) in islamischer Theologie und Recht – suspekt. Der „wahre“ adab sollte seiner Meinung nach vielmehr auf einem umfassenden, vernunftgemäßen Studium der einheimischen arabischen Wissenschaften beruhen. Für diese Form eines an den gesellschaftlichen Erfordernissen seiner Zeit orientierten adab lassen sich aus Ibn Qutaybas Adab al-kātib folgende Hauptbereiche der Bildung für „den Schreiber“ (al-kātib) bzw. die Vertreter der Schriftkultur generell identifizieren: 1. Philologische Bildung: in Grammatik, Lexikographie und Phonetik; 2. Juristische Bildung: das heißt Wissen zu den Grundbegriffen des islamischen Rechts (fiqh) mit seinen Teilbereichen (furūʿ), welches auf soliden Kenntnissen der arabischen Sprache zum Verständnis der islamischen Primärtexte (Koran und Hadith) beruht, um elementare rechtliche Belange korrekt formulieren zu können;²⁶

 Ibn Qutayba, Adab al-kātib (Ed. Fāʿūr), 9 – 10.  Fiqh bedeutet grundsätzlich „Verständnis“ und „Wissen“ und ist synonym zu ʿilm (vgl. Lane, An Arabic-English Lexicon, Bd. 6, 2429). Während der Ausdruck üblicherweise religiöses Wissen – vor allem auch im rechtlichen Kontext (fiqh aš-šarīʿa), also Jurisprudenz – bedeutet, steht er im philologischen Kontext für einen nicht genauer definierten Wissensbereich, der gute Sprachkenntnis und das tiefe Textverständnis betrifft (fiqh al-luġa). So begegnet letzterer Begriff in den Titeln mittelalterlicher Werke mit einem weiten Themenspektrum, das philosophische und historische Fragen der Sprachentwicklung ebenso wie lexikographische und grammatikalische Probleme einschließt. Vgl. Ahmed El Shamsy, „Fiqh, faqīh, fuqahāʾ“, in Encyclopaedia of Islam Three (online), hrsg. von Kate Fleet u. a., zugegriffen 18.11. 2019, http://dx.doi.org/10.1163/15733912_ei3_COM_27135.

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6. 7.

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Literarische Bildung: das heißt Kenntnisse der arabischen Prosa und Poesie sowie ihrer Themen und Konzeptionen; Naturwissenschaftliche Bildung: in Arithmetik, Geometrie und Astronomie; Technische Bildung: zu Instrumenten, zur Konstruktion von Brücken und Gebäuden, zu Namen von Handwerken und der verwendeten Werkzeuge, Waffen und Kleidung, zur Vogelkunde;²⁷ Historische Bildung: in der Geschichte der Völker (aḫbār an-nās) und den Quintessenzen der Prophetentradition (ʿuyūn al-ḥadīṯ); und nicht zuletzt Ethische Bildung (aḫlāq).²⁸

Ibn Qutayba propagiert im Adab al-kātib den Vorrang der Sprache als der Hauptgrundlage aller menschlichen Kommunikation und widmet sein Handbuch ganz diesem Oberthema. Seiner Zeit, seinem gesellschaftlichen Umfeld und den Zielen dieses Bandes entsprechend, steht die arabische Sprache hier deutlich im Vordergrund. Der arabischen Grammatik räumt Ibn Qutayba dabei ebenfalls Priorität ein, allerdings ohne diese zu einer eigenen Philosophie zu entwickeln. So scheint er sich in vielen seiner Ausführungen an dem führenden Vertreter der klassischen arabischen Grammatik, Sībawayh (gest. 796), bzw. an dessen berühmter enzyklopädischer Grammatik al-Kitāb („Das Buch“) zu orientieren.²⁹ Auch eine Präferenz für die „anomalistische Methode“ der Grammatiker von Kufa – denen (anders als ihren basrischen Konkurrenten) die Fülle und Vielfalt der Überlieferungen, der buchstäbliche, äußere Wortsinn (ẓāhir) sowie der Lautbestand (lafẓ) als erste und wichtigste Quellen galten – ist offenkundig.³⁰ Letzteres

 Vgl. William O. Sproull, An Extract from Ibn Kutaiba’s Adab al-Kâtib or The Writer’s Guide with Translation and Notes (Leipzig: Stauffer, 1877).  Vgl. auch Lecomte, Ibn Qutayba, 445; Ḥuseini, The Life and Works of Ibn Qutayba, 42. Der Begriff aḫlāq bezeichnet im Arabischen (als Plural von ḫuluq, „Wesensart, Charakter“) sowohl die individuellen Charakterzüge als auch generell die Charakterbildung bzw. die Ethik und Moral im Sinne der Sittenlehre bzw. einer philosophischen Disziplin (ʿilm al-aḫlāq); vgl. Richard Walzer und Hamilton Alexander Rosskeen Gibb, „Akhlāḳ“, in Encyclopaedia of Islam. Second Edition, hrsg. von P. Bearman (Leiden: Brill, 1986), Bd. 1, 325 – 29.  Schatte, Ibn Qutaiba, 57.  Zu der in Kufa verwendeten „anomalistischen“ und der in Basra angewandten „analogistischen“ Methode der Grammatik vgl. Gotthold Weil, Die grammatischen Schulen von Kufa und Basra: Zugleich Einleitung zu der Ausgabe des Kitāb al-Inṣāf von Ibn al-Anbārī (Leiden: Brill, 1913), 7– 37.

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belegen u. a. Ibn Qutaybas zahlreiche Zitate von al-Farrāʾ (gest. 822), einem zentralen Vertreter der kufischen Grammatikerschule.³¹

2.1.2 Literatur und Bildung Das Adab al-kātib besitzt einen deutlich säkular ausgerichteten, literarischen Charakter. Doch obwohl das Werk frei von expliziten religiösen Unterweisungen ist, wird auch in ihm deutlich, dass Ibn Qutayba sich letztlich als Lehrer in Fragen der Ethik und der Religion versteht, dessen literarische Qualifikationen das Mittel zum Zweck sind.³² Der ethische Schwerpunkt des Bildungsanliegens, das Ibn Qutayba mit diesem Werk verfolgt, kommt zunächst in den folgenden Worten des Autors zum Ausdruck: ‫ﻭﻧﺤﻦ ﻧﺴﺘﺤ ّﺐ ﻟﻤﻦ َﻗ ِﺒ َﻞ ﻋ ّﻨﺎ ﻭﺍﺋﺘ ّﻢ ﺑﻜﺘﺒﻨﺎ ﺃﻥ ﻳﺆ ّﺩﺏ ﻧﻔﺴﻪ ﻗﺒﻞ ﺃﻥ ﻳﺆ ّﺩﺏ ﻟﺴﺎﻧﻪ ﻭ ُﻳﻬ ّﺬﺏ ﺃﺧﻼﻗﻪ ﻗﺒﻞ ﺃﻥ ُﻳﻬ ّﺬﺏ ﺃﻟﻔﺎﻇﻪ‬ .‫ﻭﻳﺼﻮﻥ ﻣﺮﻭﺀﺗﻪ ﻋﻦ ﺩﻧﺎﺀﺓ ﺍﻟﻐﻴﺒﺔ ﻭﺻﻨﺎﻋﺘﻪ ﻋﻦ ﺷﻴﻦ ﺍﻟﻜﺬﺏ‬ Wir möchten von demjenigen, der von uns [Wissen] annimmt und der durch unsere Bücher Rechtleitung erfährt, erwarten, dass er seine Seele erzieht, bevor er seine Sprache verbessert, dass er seine Charakterzüge verfeinert, bevor er dies mit seinen Worten tut, und dass er seine Mannestugend (murūʾa) vor den Gemeinheiten verleumderischer Menschen und seine Kunstfertigkeit (ṣināʿa) vor der Schande der Lüge schützt.³³

Im Weiteren ist Ibn Qutayba bestrebt, den Menschen die Kenntnisse und Qualifikationen zu vermitteln, die nötig sind, um die arabische Sprache so gut zu meistern, dass sie den Koran und die darauf begründete Religion des Islams gut erfassen und verstehen können. Unterdessen ist Ibn Qutayba ein großer Bewunderer allen Wissens – gleich, ob dieses durch die genuin arabischen Disziplinen oder die sogenannten „fremden“ (nicht-arabischen) Wissenschaften vermittelt wird. In diesem Sinne merkt er grundsätzlich an: „Wissen, das man nicht kommuniziert, ist wie ein Schatz, aus dem man nicht schöpft.“³⁴ Allerdings unterscheidet Ibn Qutayba deutlich zwischen den unterschiedlichen Arten von Nutzen dieser Wissenschaften: Denn  Clifford Edmund Bosworth, „Adab al-Kāteb“, in Encyclopædia Iranica, hrsg. von Iḥsān Yāršātir (London u. a.: Routledge & Paul, 1985), aktualisierte Version online: zugegriffen 19.11. 2019, http:// www.iranicaonline.org/articles/adab-al-kateb, Bd. 1.4, 446.  Ḥuseini, The Life and Works of Ibn Qutayba, 43.  Ibn Qutayba, Adab al-kātib (Ed. Fāʿūr), 16.  Abū Muḥammad ʿAbdallāh ibn Muslim Ibn Qutayba ad-Dīnawarī, ʿUyūn al-aḫbār, hrsg. von der Egyptian National Library (Kairo: National Library Press, 1996), Bd. 2, 126. Vgl. auch Lecomte, Ibn Qutayba, 431; Haggag, „Ethik in der Bildungskonzeption Ibn Qutaibas“, 286.

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Wissen und Bildung aus den „arabischen“ Wissenszweigen – das heißt vor allem Rechtswissenschaft, Grammatik und Poesie – seien nicht mit den Kenntnissen gleichzusetzen, die aus fremden Wissenschaften resultieren. Die ersteren Disziplinen habe Gott speziell den Arabern gegeben; sie besäßen deshalb im Studium Vorrang vor allen anderen Wissensbereichen. Ibn Qutayba wiederholt diese für seine Bildungskonzeption zentrale Auffassung in einem seiner späteren Bücher, dem Faḍl al-ʿArab wa-t-tanbīh ʿalā ʿulūmihā („Die Vorzüglichkeit der Araber und der Hinweis auf ihre Wissenschaften“). Er bezeichnet die einheimischen Wissensgebiete hier nicht als „arabische“, sondern als „islamische“ Wissenschaften. Doch der Fortgang seiner Argumentation zeigt auch in diesem Werk, dass Ibn Qutayba die Fahne des Arabertums und ihrer kulturellen Vorzugsstellung vor anderen Völkern hochhält. So spricht Ibn Qutayba auch in seiner Würdigung der Entwicklung der islamischen Wissenschaften ausdrücklich von den Arabern, nicht von Muslimen: Allein den Arabern stehe das Verdienst zu, das auf guter Kenntnis der arabischen Sprache basierende und für die islamische Jurisprudenz essenzielle Verständnis der islamischen Primärtexte mit ihrer rechtlichen Anwendung (fiqh), die arabische Grammatik (naḥw) sowie die Lehre von den Themen und Konzeptionen der arabischen Poesie (maʿānī aš-šiʿr) entwickelt zu haben und zu meistern. NichtArabern hingegen sei das Erlernen (taʿallum) und „Zitieren“ (iqtibās) solchen Wissens zwar möglich, das heißt, sie könnten sich darauf stützen, sie könnten dieses aber nicht selbst hervorbringen. Für die Nicht-Araber verwendet Ibn Qutayba den Ausdruck ʿaǧam, der in seiner Zeit pejorativ für die Bewohner des iranischen Raumes benutzt wurde, die – aus der Sicht eloquenter Arabischsprecher – das Arabische nicht korrekt oder nicht deutlich genug sprechen konnten. Diese ablehnende Haltung arabischer Muslime gegenüber den nicht-arabischen Muslimen aus den östlichen Gebieten im Einflussbereich des Islams (sowie ihren angestammten kulturellen Traditionen) war das Gegenstück zu einer oppositionellen Geisteshaltung und kulturellen Bewegung – der šuʿūbiyya –, die unter den Abbasiden vor allem für das 8. und 9. Jahrhundert zu verzeichnen ist (an die aber auch retrospektiv angeknüpft wurde) und durch die wiederum iranischstämmige Muslime ihre kulturellen Traditionen hervorzuheben und die kulturelle Bedeutung der Araber geringzuschätzen versuchten.³⁵ Die betreffende Aussage im Faḍl al-ʿArab wa-t-tanbīh ʿalā

 Zum literatur- und geistesgeschichtlichen Kontext von Ibn Qutaybas Verteidigung des Arabertums in einer von politischen und sozialen Verwerfungen gekennzeichneten Periode des abbasidischen Kalifats siehe Ibn Qutayba, Ibn Qutaybah: The Excellence of the Arabs, xix–xvii.

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ʿulūmihā, die für Ibn Qutaybas Bildungskonzeption insgesamt aufschlussreich ist, lautet wie folgt: ‫ﺻ ًﺔ‬ ّ ‫ ﻭﻫﺬﺍ ﻟﻠﻌﺮﺏ ﺧﺎ‬،‫ ﺃﺣﺪﻫﻤﺎ ﻋﻠﻢ ﺇﺳﻼﻣﻲ ﻧﺘﺞ ﻣﻦ ﺑﻴﻦ ﺍﻟﺪﻳﻦ ﻭﺍﻟﻠﻐﺔ ﻛﺎﻟﻔﻘﻪ ﻭﺍﻟﻨﺤﻮ ﻭﻣﻌﺎﻧﻲ ﺍﻟﺸﻌﺮ‬:‫ﻭﺍﻟﻌﻠﻮﻡ ﺟﻨﺴﺎﻥ‬ ‫ ﻻ ﺃﻋﻠﻢ ﻣﻨﻪ‬،‫ ﻭﺍﻵﺧﺮ ﻋﻠﻢ ﻣﺘﻘﺎﺩﻡ ﺗﺘﺸﺎﺭﻙ ﻓﻴﻪ ﺍﻷﻣﻢ‬،‫ﻟﻴﺲ ﻟﻠﻌﺠﻢ ﻓﻴﻪ ﺳﺒﺐ ﺇ ّﻻ ﺗﻌﻠُّﻤﻪ ﻭﺍﻗﺘﺒﺎﺳﻪ ﻭﻟﻠﻌﺮﺏ ﺳﻨﺎﺅﻩ ﻭﻓﺨﺮﻩ‬ .‫ ﺛ ّﻢ ﺗﺘﻔ ّﺮﺩ ﻣﻦ ﺫﻟﻚ ﺑﺄﺷﻴﺎﺀ ﻻ ُﺗﺸﺎ َﺭ ُﻙ ﻓﻴﻬﺎ‬،‫ﻓ ّﻨﴼ ﺇ ّﻻ ﻭﻗﺪ ﺟﻌﻞ ﷲ ﻟﻠﻌﺮﺏ ﻓﻴﻪ ﺣ ّﻈﴼ‬ Die Wissensgebiete gliedern sich in zwei Kategorien: Die eine der beiden betrifft islamisches Wissen. Es ist ein Produkt der islamischen Religion und der arabischen Sprache. Es umfasst den fiqh,³⁶ die Syntax und die Semantik der Poesie. Dieses Wissen ist speziell den Arabern eigen und Nicht-Araber können es lediglich erlernen und sich darauf stützen. Den Arabern hingegen gebühren sein Glanz und sein Ruhm. Die andere Kategorie betrifft uraltes Wissen (ʿilm mutaqādim), an dem alle Völker teilhaben; allerdings kenne ich keinen Wissensbereich (fann), an dem Gott [nicht auch] den Arabern einen Anteil gewährte. Überdies zeichnen sie [die Araber] sich auf einigen Sachgebieten aus, an denen andere [Völker] nicht teilhaben [und in denen die Araber einzigartig sind].³⁷

Im Adab al-kātib bestätigt Ibn Qutayba, dass für die Bildung eines guten Muslims in erster Linie das Studium der arabischen Wissenschaften und ihrer Textquellen sowie die perfekte Beherrschung der arabischen Sprache unabdingbar sind. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Ibn Qutaybas Verständnis von adab deutlich von dem seines Zeitgenossen, des großen adab-Schriftstellers al-Ǧāḥiẓ (gest. 868), den er bewunderte und gleichzeitig für seinen kunstvoll-spielerischen Umgang mit der arabischen Sprache und für seine dialektische Argumentationsweise in der Vermittlung von Wissenswertem kritisierte.³⁸ Denn – wie Ibn Qutaybas in klarer und zielorientierter Sprache verfassten adab-Werke belegen – steht für diesen Autor nicht die „Unterhaltung“ des Lesers im Vordergrund, auf die al-Ǧāḥiẓ so viel Wert legte, sondern die Vermittlung von Kenntnissen zu jenen kulturellen Bereichen und intellektuellen Fähigkeiten, die für den gebildeten Muslim in einem religiös geprägten gesellschaftlichen Kontext vonnöten und dienlich sind. Auffällig an Ibn Qutaybas pädagogischer Methode ist dabei die geradezu puristische Art und Weise, in der er die Dinge erörtert und seine Leser darin unterrichtet: „Er stellt Regeln auf, gibt Beispiele aus dem Sprachgebrauch der alten Araber und des Korans, nach denen man sich zu richten habe, und zitiert das

 Siehe hierzu Fn. 26.  Ibn Qutayba, Ibn Qutaybah: The Excellence of the Arabs, 108 – 9.  Sebastian Günther, „‚Praise to the Book!‘ Al-Jahiz and Ibn Qutayba on the Excellence of the Written Word in Medieval Islam“, in Jerusalem Studies in Arabic and Islam 31 (2006): 133 – 35.

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Richtige gegenüber dem vom Volke gebrauchten Fehlerhaften, wobei er im Allgemeinen vermeidet, das Falsche direkt zu benennen,“ wie Gisela Schatte es formulierte. Wenn Ibn Qutayba Belege für seine Aussagen angibt, beruft er sich einmal auf die „als mustergültig betrachtete Ausdrucksweise der Beduinen, die sich ihm in der altarabischen Poesie darbietet“ und in vielen anderen Fällen auf die Autoritäten der klassischen arabischen Grammatik.³⁹ Gleichwohl gelingt es Ibn Qutayba, durch teils subtile, teils direkte Nennung von Bildungsmissständen und moralischem Fehlverhalten dem Leser gewissermaßen den Spiegel vorzuhalten und ihn zu positivem Handeln zu bewegen. Allerdings ist neben Ibn Qutaybas ernsthafter Sorge um den niedrigen Bildungsstand seiner Zeitgenossen sowie den von ihm aufgezeigten Lösungsansätzen auch ein gewisser Sarkasmus in seinen Äußerungen zu erkennen: ‫ ﻭﺃﻋﻠﻰ ﻣﻨﺎﺯﻝ ﺃﺩﻳﺒﻨﺎ ﺃﻥ ﻳﻘﻮﻝ ﻣﻦ ﺍﻟﺸﻌﺮ ﺃُ َﺑ َّﻴﺎﺗﴼ‬،‫ﻓﺄﺑﻌ ُﺪ ﻏﺎﻳﺎﺕ ﻛﺎﺗﺒﻨﺎ ﻓﻲ ﻛﺘﺎﺑﺘﻪ ﺃﻥ ﻳﻜﻮﻥ ﺣﺴﻦ ﺍﻟﺨ ّﻂ ﻗﻮﻳﻢ ﺍﻟﺤﺮﻭﻑ‬ ‫ ﻭﻳﻨﻈﺮ ﻓﻲ ﺷﻲء ﻣﻦ‬،‫ ﻭﺃﺭﻓﻊ ﺩﺭﺟﺎﺕ ﻟﻄﻴﻔﻨﺎ ﺃﻥ ﻳﻄﺎﻟﻊ ﺷﻴ ًﯫ ﻣﻦ ﺗﻘﻮﻳﻢ ﺍﻟﻜﻮﺍﻛﺐ‬،‫ﻓﻲ ﻣﺪﺡ َﻗ ْﻴ َﻨﺔ ﺃﻭ ﻭﺻﻒ ﻛﺄﺱ‬ ‫ ﻭﻋﻠﻰ ﺣﺪﻳﺚ ﺭﺳﻮﻝ ﷲ ﺻﻠّﻰ ﷲ‬،‫ ﺛ َّﻢ ﻳﻌﺘﺮﺽ ﻋﻠﻰ ﻛﺘﺎﺏ ﷲ ﺑﺎﻟﻄﻌﻦ ﻭﻫﻮ ﻻ ﻳﻌﺮﻑ ﻣﻌﻨﺎﻩ‬،‫ﺍﻟﻘﻀﺎﺀ ﻭﺣ ّﺪ ﺍﻟﻤﻨﻄﻖ‬ ‫ "ﻓﻼﻥ ﻟﻄﻴﻒ" ﻭ" ﻓﻼﻥ‬:‫ ﻗﺪ ﺭﺿﻲ ﻋﻮﺿﴼ ﻣﻦ ﷲ ﻭﻣ ّﻤﺎ ﻋﻨﺪﻩ ﺑﺄ ّﻥ ُﻳﻘﺎﻝ‬،‫ﻋﻠﻴﻪ ﻭﺳﻠّﻢ ﺑﺎﻟﺘﻜﺬﻳﺐ ﻭﻫﻮ ﻻ ﻳﺪﺭﻱ ﻣﻦ ﻧﻘﻠﻪ‬ ‫ﺩﻗﻴﻖ ﺍﻟﻨﻈﺮ" ﻳﺬﻫﺐ ﺇﻟﻰ ﺃ ّﻥ ﻟُﻄﻒ ﺍﻟﻨﻈﺮ ﻗﺪ ﺃﺧﺮﺟﻪ ﻋﻦ ﺟﻤﻠﺔ ﺍﻟﻨﺎﺱ ﻭﺑﻠﻎ ﺑﻪ ﻋﻠ َﻢ ﻣﺎ ﺟ ِﻬﻠﻮﻩ؛ ﻓﻬﻮ ﻳﺪﻋﻮﻫﻢ ﺍﻟﺮﻋﺎﻉ‬ ‫ ﻓﻬﺎﺗﺎﻥ‬،‫ ﻭﻫﻲ ﺑﻪ ﺃَﻟﻴَﻖ؛ ﻷ ّﻧﻪ ﺟﻬﻞ ﻭﻇ َّﻦ ﺃ ْﻥ ﻗﺪ ﻋﻠﻢ‬،‫ ﻭﻫﻮ – ﻟﻌﻤﺮ ﷲ – ﺑﻬﺬﻩ ﺍﻟﺼﻔﺎﺕ ﺃﻭﻟﻰ‬،‫ﻭﺍﻟ ُﻐﺜﺎﺀ ﻭﺍﻟ ُﻐ ْﺜﺮ‬ . ‫ﺟﻬﺎﻟﺘﺎﻥ؛ ﻭﻷ ّﻥ ﻫﺆﻻﺀ ﺟﻬﻠﻮﺍ ﻭﻋﻠِﻤﻮﺍ ﺃﻧّﻬﻢ ﻳﺠﻬﻠﻮﻥ‬ In unseren Tagen bestehen die höchsten Ziele des Sekretärs in seiner Tätigkeit darin, über eine gute Handschrift zu verfügen und die Buchstaben korrekt zu schreiben. Die höchsten Stufen des Gebildeten unserer Zeit sind es, einige kleine Verse zum Lob einer Sängerin zu dichten oder einen Kelch zu beschreiben. Die höchste Absicht des Feingeistes (laṭīf) unserer Tage wiederum ist, ein wenig über die Sternkonstellation zu lesen, etwas von Juristerei und Logik zu verstehen und dann dem Buch Gottes, des Erhabenen, durch Sticheleien zu widersprechen – wobei er dessen Bedeutung gar nicht versteht – und gegen die Überlieferungen des Gesandten Gottes, Gottes Segen und Heil sei auf ihm, [zu wettern], indem er sie als Lüge bezeichnet, ohne zu wissen, wer sie überliefert hat. Anstelle von Gott und dem, was mit ihm zu tun hat [zu lernen], ist er damit zufrieden, dass man von ihm sagt: ‚Der Soundso ist ein Feingeist‘ oder ‚Der Soundso hat einen scharfen Blick‘. Er meint, dass ihn ein solcher ‚feingeistiger Blick‘ vom Kreis der [übrigen] Menschen trennt und er dadurch Wissen erlangt, das den anderen verborgen bleibt. Er bezeichnet sie als Törichte, Abschaum und Pöbel, wobei er – [ich schwöre] beim Leben Gottes – diese Bezeichnungen selbst als erster verdient und sie zu ihm weit besser passen: [zum einen] weil er [in Wahrheit] unwissend ist und [trotzdem] behauptet, wissend zu sein – [so repräsentiert er letztlich] zwei Erscheinungsformen von Unwissenheit –; und [zum anderen] weil diejenigen [die er kritisiert, zwar] unwissend sind, sie [aber zumindest] wissen, dass sie nicht wissen.⁴⁰

 Vgl. Schatte, Ibn Qutaiba, 58 – 59.  Ibn Qutayba, Adab al-kātib, 10.

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Das Adab al-kātib ist ein intellektueller Höhepunkt in Ibn Qutaybas Schaffen insofern, als sich seine, diesem thematisch vielschichtigen Buch nachfolgenden Schriften zwar in ähnlicher Weise mit großen Sachzusammenhängen und themenübergreifenden Fragen beschäftigen. Doch schon die klassischen muslimischen Gelehrten räumen dem Adab al-kātib eine Sonderstellung im literarischen Schaffen Ibn Qutaybas und darüber hinaus im klassischen arabischislamischen Bildungskanon ein. So betont der Sozialhistoriker Ibn Ḫaldūn (gest. 1406) in seiner berühmten Muqaddima, der umfangreichen „Einführung“ (bzw. den „Prolegomena“) zu seiner Universalgeschichte: ‫ ﺃﺩﺏ ﺍﻟﻜﺎﺗﺐ ﻻﺑﻦ ﻗﺘﻴﺒﺔ‬:‫ﻭﺳﻤﻌﻨﺎ ﻣﻦ ﺷﻴﻮﺧﻨﺎ ﻓﻲ ﻣﺠﺎﻟﺲ ﺍﻟﺘﻌﻠﻴﻢ ﺃ ّﻥ ﺃﺻﻮﻝ ﻫﺬﺍ ﺍﻟﻔ ّﻦ ﻭﺃﺭﻛﺎﻧﻪ ﺃﺭﺑﻌﺔ ﺩﻭﺍﻭﻳﻦ ﻭﻫﻲ‬ ‫ ﻭﻣﺎ ﺳﻮﻯ ﻫﺬﻩ‬.‫ ﻭﻛﺘﺎﺏ ﺍﻟﻨﻮﺍﺩﺭ ﻷﺑﻲ ﻋﻠ ّﻲ ﺍﻟﻘﺎﻟﻲ ﺍﻟﺒﻐﺪﺍﺩﻱ‬،‫ ﻭﻛﺘﺎﺏ ﺍﻟﺒﻴﺎﻥ ﻭﺍﻟﺘﺒﻴﻴﻦ ﻟﻠﺠﺎﺣﻆ‬،‫ﻭﻛﺘﺎﺏ ﺍﻟﻜﺎﻣﻞ ﻟﻠﻤﺒ ّﺮﺩ‬ .‫ ﻭﻛﺘﺐ ﺍﻟﻤﺤ َﺪﺛﻴﻦ ﻓﻲ ﺫﻟﻚ ﻛﺜﻴﺮﺓ‬.‫ﺍﻷﺭﺑﻌﺔ ﻓﺘﺒﻊ ﻟﻬﺎ ﻭﻓﺮﻭﻉ ﻋﻨﻬﺎ‬ Im Unterricht (maǧālis at-taʿlīm) hörten wir von unseren Lehrern, dass vier große Schriften (dawāwīn) die Grundlagen und Säulen dieser Wissensdisziplin (fann) [des adab] sind. Diese sind: Adab al-kātib von Ibn Qutayba, al-Kāmil [fī l-luġa wa-l-adab] („Der perfekte [Leitfaden zur arabischen Sprache und Literatur]“) von al-Mubarrad (gest. 898), al-Bayān wa-t-tabyīn („Die Deutlichkeit und die Verdeutlichung“) von al-Ǧāḥiẓ und an-Nawādir („Die seltenen Phänomene [in der arabischen Sprache]“) von Abū ʿAlī al-Qālī al-Baġdādī (gest. 967). Die Bücher, die später als diese vier verfasst wurden, folgen diesen nach und sind Ableitungen von ihnen. Die Schriften der nachfolgenden Gelehrten darüber sind zahlreich.⁴¹

2.1.3 Pädagogik und Bildungserwerb Ibn Qutayba empfiehlt für Unterricht und Studium vor allem die arabischen Fachdisziplinen. Diese bilden für ihn die Grundlage des Curriculums für einen gebildeten Muslim, da sie – anders als die nicht-arabischen Wissenschaften – auf den direkten und dokumentierten Erfahrungen der Araber beruhen würden und deshalb besonders vertrauenswürdig und edel seien. Hierzu gehören die

 ʿAbd ar-Raḥmān ibn Muḥammad Ibn Ḫaldūn, Ibn Khaldun: The Muqaddimah, Introduction to History, übers. von Franz Rosenthal (Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1958), Bd. 2, 257, Nr. 2392. Vgl. auch Bd. 3, 340 – 41; Günther, „Praise to the Book!“, 135, Fn. 39. Von klassischen arabischen Gelehrten wurden mehrere Kommentare zum Adab al-kātib verfasst; die zwei wichtigsten davon sind ediert: Der Šarḥ Adab al-kātib („Kommentar zum Adab al-kātib“) des Bagdader Grammatikers Abū Manṣur al-Ǧawālīqī (gest. 1144), hrsg. von Muṣṭafā Ṣādiq ar-Rāfiʿī (Kairo: alQudsī, 1350/1931); sowie al-Iqtiḍāb fī Šarḥ Adab al-kuttāb [sic] („Kurzfassung des Kommentars zum Adab al-kātib) des andalusischen Grammatikers ʿAbdallāh ibn Muḥammad al-Baṭalyūsī (gest. 1127), hrsg. von Ḥāmid ʿAbd al-Maǧīd und Muṣtafā as-Saqqā (Kairo: al-Hayʾa al-Miṣriyya alʿĀmma li-l-Kitāb, 1981).

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Wissenschaften der arabischen Sprache sowie zum Verständnis des Korans und der Überlieferungen des Propheten. Im Weiteren sind Grundkenntnisse in der Jurisprudenz (fiqh) und ihren Teilbereichen (mit den dafür nötigen sprachwissenschaftlichen Kenntnissen) erforderlich.⁴² Explizit empfohlen sind sodann die arabische Dichtung, die arabische Grammatik und die Geschichte aus islamischer Sicht.⁴³ Die Kenntnisse in diesen Wissensbereichen machen die Beschäftigung mit anderen Wissensgebieten und alltäglichen Lebensbereichen jedoch nicht obsolet. Diese Haltung ist in Ibn Qutaybas adab-Konzeption deutlich präsent und wird gestützt durch „Weitherzigkeit und einen freien Blick“,⁴⁴ um Ibn Qutaybas Verständnis von Bildung noch einmal in den Worten Schattes zu charakterisieren. Ibn Qutayba empfiehlt den Bildungsbeflissenen deshalb, sich in ihrem Streben nach Wissen und Bildung, nach Wahrem und Nützlichem, intellektuell offen zu zeigen. In nichtreligiösen Dingen sei diese geistige Freimut auch gegenüber Nicht-Muslimen angezeigt (wie u. a. Ibn Qutaybas Zitate von Aristoteles und anderen griechischen Philosophen in seinen verschiedenen Werken belegen) und ebenfalls gegenüber Muslimen möglich, die eine gegnerische theologische Position vertreten (wie etwa jene der von Ibn Qutayba kritisierten diskursiven Theologie, des kalām). Das intellektuelle Niveau des Lernenden muss dabei von den Lehrenden stets beachtet werden. Begrifflichkeiten beispielsweise, die zu komplex sind für „den Unerfahrenen“ (al-ġumr) und „den unkundigen Anfänger“ (al-ḥadaṯ), könnten diese zwar zunächst im Unterricht begeistern, sie letztlich aber nur verwirren, da sie diese nicht wirklich erfassen und verstehen können (110 – 11).⁴⁵ Eine klare und verständliche Sprache ist im Unterricht – wie überhaupt im akademischen Austausch – angezeigt. Alles andere gereicht sowohl dem Sprecher als auch dem Rezipienten „zum Schaden, ist eine Fessel für seine Zunge, eine Behinderung bei den Zusammenkünften und eine Hemmung für Disputierende“ (111). Der Lernprozess muss graduell und in thematisch geordneter, gedanklicher Reihenfolge erfolgen. Er sollte mit den grundlegenden Themen beginnen und darauf aufbauend zu den spezielleren Fragen hinführen. Am Anfang der Denkarbeit sollte die Aufmerksamkeit nicht Themen gewidmet werden, die entweder

 Ibn Qutayba, Adab al-kātib, 15. Vgl. Schatte, Ibn Qutaiba, 117, 119.  Schatte, Ibn Qutaiba, 97; Ḥuseini, The Life and Works of Ibn Qutayba, 44.  Schatte, Ibn Qutaiba, 102.  Ibn Qutayba, Adab al-kātib, 3 – 4. Die im Haupttext in Klammern gesetzten Angaben bezeichnen die Seitenzahlen von Ibn Qutaybas Einleitung zum Adab al-kātib in der Übersetzung Gisela Schattes.

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zu viel Vorbildung erfordern oder erst am Ende eines bestimmten Lernprozesses stehen. Im Gegenteil, der Lernende sollte sich zunächst auf grundsätzliche Dinge konzentrieren und alles andere beiseitelassen (112). Eine gefestigte religiöse Überzeugung, Gottvertrauen und die Kenntnis der Tradition helfen in einem religiös gebundenen Lernprozess. Sie unterstützen den Lernenden u. a. dabei, sich von Spitzfindigkeiten einzelner Disziplinen – gerade auch wenn diese logisch formuliert sind – täuschen oder abschrecken lassen. Denn der Glaube ist für fromme Lernende Rechtleitung und gleich einem Licht in der Finsternis (112– 13). Das Streben nach Bildung erfordert Anstrengung. An Ruhe und Bequemlichkeit Gefallen zu finden, hemmt „das Streben der Seele“ und des Intellekts. Ein Mangel an Wissen wiederum kann sich gerade in einem professionellen Umfeld für die betreffende Person als beschämend auswirken (113 – 14). Eine gute Allgemeinbildung gehört zum Dasein des Menschen. Dies trifft insbesondere auf Experten in bestimmten Berufen und im wissenschaftlichen Bereich zu, die sich oft in Fachsimpeleien ergehen, ohne die grundlegenden Dinge des Lebens zu kennen (115). Im Lernprozess besitzt das Auswendiglernen einen besonderen Stellenwert. (In dieser Hinsicht unterscheidet sich Ibn Qutayba deutlich von al-Ǧāḥiẓ, der Bücher und die Lektüre hochlobt, da dadurch ein freies und kreatives Denken initiiert würde). Ibn Qutayba argumentiert, dass das Memorieren: ‒ es erleichtert bzw. erst ermöglicht, den Sinn bestimmter Aussagen richtig zu verstehen und zu verinnerlichen, die notwendigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen und diese dann im Alltag zu beachten; ‒ es in bestimmten Fällen entbehrlich macht, umfangreichen weiteren Stoff zu einem bestimmten Wissensgebiet – etwa in der Sprachwissenschaft, den Rechtswissenschaften (fiqh), der Geschichte oder der Prophetentradition – zu studieren; ‒ es unterstützt, Textbausteine zur Illustration und als Argumentationshilfe in eigene Texte einzubringen und eigene Gedanken damit zu verbinden; ‒ es gestattet, Texte frei und aus dem Gedächtnis heraus zu unterrichten, weshalb sprachliche „Weitläufigkeit und Beschwerlichkeit“ in Schriften mit einem konkreten Bildungsauftrag vermieden werden sollten (116, 119 – 20).⁴⁶ Das gesprochene Wort sollte von einer einfachen und verständlichen Sprache gekennzeichnet sein. Dies hilft zudem, Sprachfehler und eine Geziertheit im

 Ibn Qutaybas Sohn Aḥmad soll dies im Übrigen mit den Büchern seines Vaters in Kairo in eben dieser Weise getan haben. Vgl. Ḥuseini, The Life and Works of Ibn Qutayba, 42.

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Ausdruck zu vermeiden (122). Anders in der schriftlichen Kommunikation, wo auch kompliziertere Konstruktionen möglich sind. Zwar darf auch im schriftlichen Ausdruck durch das Streben nach Kürze und Prägnanz die Verständlichkeit der Information nicht beeinträchtigt werden. Doch die Kürze im Ausdruck ist „nicht an jeder Stelle lobenswert und nicht in jedem Brief vorzuziehen; nein, an jeden Platz gehört sein Wort“ (125). Weitergehende Ausführungen und Erläuterungen sind insbesondere dann nötig, wenn es um komplexe Sachverhalte geht; und Wiederholungen sind dann erforderlich, wenn diese dem Verständnis helfen. Schwer verständliche Formulierungen sollten jedoch im mündlichen wie im schriftlichen Ausdruck vermieden werden (122– 26). Scherze und Späße sind – solange diese schicklich sind – auch in seriösen Lernszenarien möglich und erlaubt. Diese im Bildungskontext seines Adab alkātib allgemein getroffene Aussage untermauert Ibn Qutayba mit entsprechenden Beispielen aus dem Verhalten des Propheten Muḥammad und dessen Schwiegersohns ʿAlī ibn Abī Ṭālib (121). Doch wenden wir uns nun al-Māwardī, einem gleichermaßen produktiven wie prominenten muslimischen Gelehrten des 11. Jahrhunderts zu.

2.2 Al-Māwardī (972 – 1058) Abū l-Ḥasan ʿAlī ibn Muḥammad al-Māwardī wurde schon zu seinen Lebzeiten wegen seiner Gelehrsamkeit, seiner sprachlichen Eloquenz und seiner Bescheidenheit hochgeschätzt. Bekannt wurde er vor allem als Autor von Werken zu religiösen Themen (der Koranauslegung und dem islamischen Recht); zu politischen, sozialen und ethischen Fragen (zur Staatsräson, zu Regierungsformen und zur Ausübung von Herrschaft) sowie zur Philologie und Literatur (zur Grammatik, zu Sprichwörtern etc.). Studiert hatte al-Māwardī zunächst in seiner Heimatstadt Basra, später dann auch in Bagdad. Er war als Richter zunächst in verschiedenen Städten und schließlich in Bagdad tätig, wo er den Fall der Buyiden, einer schiitischen Verwaltungsdynastie, miterlebte. Von den Kalifen al-Qādir (reg. 991– 1031) und alQāʾim (reg. 1031– 1074), die für ihre ausdrücklich pro-sunnitische Politik bekannt waren, wurde er aufgrund seines diplomatischen Geschicks mit verschiedenen diplomatischen Missionen betraut. Heute ist al-Māwardī über die arabische Welt hinaus vor allem wegen seines Buches zur Staatskunst, al-Aḥkām as-sulṭāniyya wa-l-wilāyāt ad-dīniyya („Die Gesetze der islamischen Herrschaft und die religiöse Führung“) sowie seines Adab ad-dunyā wa-d-dīn („Bildungs- und Verhaltenskodex in weltlichen und re-

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ligiösen Belangen“) bekannt, wobei das umfangreiche letztere Werk im Fokus unserer weiteren Ausführungen stehen soll. Das Adab ad-dunyā wa-d-dīn enthält zum Zwecke einer guten Allgemeinbildung überreiches Material aus den Gebieten der Koranexegese, der Prophetentradition, der Ethik, der Poesie und Prosa sowie einer Reihe von Spruchweisheiten. In fünf Kapiteln (Sg. bāb) widmet sich der Autor in diesem Buch den Vorzügen des Verstandes sowie der wissenschaftlichen, der religiösen, der weltlichen und der moralischen Bildung. Die einzelnen Kapitel lauten: 1. Fī faḍl al-ʿaql wa-ḏamm al-hawā („Über den Vorzug des Verstandes und den Tadel der emotionalen Neigung“); 2. Fī adab al-ʿilm („Über den Bildungs- und Verhaltenskodex im Wissenserwerb“); 3. Fī adab ad-dīn („Über den Bildungs- und Verhaltenskodex in religiösen Belangen“); 4. Fī adab ad-dunyā („Über den Bildungs- und Verhaltenskodex in weltlichen Belangen“); und 5. Fī adab an-nafs („Über den Bildungs- und Verhaltenskodex im seelischen [und moralischen] Bereich“).⁴⁷

Im Kontext dieser Oberthemen vermittelt der Autor vielfältige Informationen zu den theoretischen und den praktischen Fragen des Lehrens und Lernens, wobei die ethische Grundierung seiner pädagogischen und didaktischen Ausführungen stets deutlich ist.

2.2.1 Unkenntnis vs. Bildung Al-Māwardī stellt grundsätzlich fest, dass adab das Gegenteil von ǧahl, „Ignoranz“ bzw. dem „Mangel an Bildung“ ist. Doch zur Aneignung von Bildung und Wohlverhalten – adab – sei nicht nur ein verstandesmäßiges Lernen notwendig. Auch die praktische Umsetzung von erworbenem Wissen ist erforderlich. Mit anderen Worten: Theorie und Praxis müssen eine Einheit bilden (3/3).⁴⁸

 ʿAlī ibn Muḥammad al-Māwardī, Adab ad-dunyā wa-d-dīn, hrsg. von Muṣṭafā as-Saqqā (Kairo: Maktabat wa-Maṭbaʿat al-Bābī al-Ḥalabī wa-Awlādihī, 1375/1955); ʿAlī ibn Muḥammad alMāwardī, Das Kitâb „adab ed-dunjâ wa ’ddîn“: (über die richtige Lebensart in praktischen und moralischen Dingen) des Qâḍî abû ’l-Ḥasan e.-Baçrî, genannt Mâwerdî (nach den Ausgaben Stambul 1299 und Cairo 1339 H. sowie mit Benutzung der Hs. ’Aşir Efendi 740), übers. von Oskar Rescher, 3 Bde. (Stuttgart: Oskar Rescher, 1932– 1933).  Die Angaben in Klammern bezeichnen die Band- und Seitenzahlen in Reschers Übersetzung des Werkes.

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Der Autor führt im Weiteren aus, dass adab eine Kraft ist, die den Geist befruchtet. Adab ist eine Stütze, durch die Gott die Herzen kräftigt, und ein Schmuck, durch den Gott auch jene ziert, die einer vornehmen Abstammung oder sozialem Ansehen entbehren. Adab ist ein Mittel und ein Weg, um geistige Vorzüge zu erlangen. Denn adab hilft sogar dabei, sich über die naturgegebenen Veranlagungen hinaus zu entwickeln und zu bilden. Doch andersherum ist der Verstand ohne adab wie ein Baum ohne Früchte. Aber gleichzeitig ist adab auch ein Zündstoff, der das Herzensfeuer entfacht (3/3 – 4). Taʾdīb, „Erziehung“, bezeichnet den Prozess und den praktischen Weg, der zu adab, Bildung und Wohlverhalten, führt.⁴⁹ Dies trifft sowohl auf die Erziehung zu, die im Kindesalter durch die Eltern erfolgt, als auch auf die Bildung, die sich jeder Mensch selbst aneignet (3/4). Dabei ist es von Vorteil, junge Menschen schon früh an Grundbegriffe des adab heranzuführen. Dies erleichtert es, sich im späteren Alter entsprechend diesen ethischen Normen des (zwischen)menschlichen Umgangs zu verhalten. Eine gute und umfängliche Bildung ist deshalb das beste Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen und mit auf den Lebensweg geben können.⁵⁰ Die Selbsterziehung im späteren Lebensalter kann sodann auf zwei Arten erfolgen: a) durch die Aneignung bestimmter sprachlicher Konventionen und die Nutzung einer bestimmten Terminologie (adab al-muwāḍaʿa wa-l-iṣṭilāḥ); sowie b) durch Selbsterziehung und die Berücksichtigung des gemeinschaftlichen Wohls (adab ar-riyāḍa wa-l-istiṣlāḥ).⁵¹ In beiden Fällen ist eine gewisse (selbst)kritische Haltung angezeigt, denn man sollte durch autodidaktische Bestrebungen dieser Art weder zu wenig noch zu viel erreichen wollen. Auch sollte man in diesem Kontext Unrecht gegen sich selbst und andere vermeiden – eine Aussage, die al-Māwardī mit einem Zitat von alǦāḥiẓ belegt (3/8). Al-Māwardī ist bemerkenswert ausführlich, wenn er Fragen der selbst initiierten – und selbst verwirklichten – Bildung des Menschen zum Wohle der Gesellschaft behandelt (3/11). Insbesondere Eigenschaften wie Hochmut, Eigenliebe und Dünkel werden an dieser Stelle deutlich kritisiert. Taktgefühl, Be-

 Al-Māwardī, Adab ad-dunyā wa-d-dīn, 210 – 12.  Seiner Zeit und seinem kulturellen Kontext gemäß spricht unser Autor hier von dem Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen. Doch lässt sich der Tenor seiner Aussagen in eine für unsere Tage angemessene Diktion überführen, ohne Gefahr zu laufen, den Autor überzuinterpretieren.  Al-Māwardī, Adab ad-dunyā wa-d-dīn, 212– 13. Vgl. al-Māwardī, Das Kitâb „adab ed-dunjâ wa ’ddîn, Bd. 3, 5 – 7.

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scheidenheit, Besonnenheit, Großmut, Ehrlichkeit und Diskretion hingegen sind besonders positive Charakter- und Verhaltenseigenschaften, die gleichermaßen detailliert behandelt werden (3/27– 69). Auch die Vor- und Nachteile, die mit zunehmendem Wohlstand verbunden sein können, werden im Kontext des adab thematisiert. Erneut steht hier der Verstand als Mittel der Einsicht im Vordergrund, um mögliche negative Folgen von Reichtum und Wohlstand im persönlichen und gesellschaftlichen Kontext zu mildern oder ganz auszuschließen (3/75). Gleich zu Anfang seines Adab ad-dunyā wa-d-dīn weist al-Māwardī darauf hin, dass erst der „Verstand“ (ʿaql) es ermöglicht, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden (1/3), die menschlichen Begierden zu zügeln bzw. ihre schlechten Seiten zu überwinden und zur Wahrheit zu finden (1/29). Die Beschäftigung mit der Wissenschaft ist deshalb die edelste Aufgabe des Bildungsbeflissenen (1/32). Denn Wissende und Unwissende sind nicht gleich vor Gott (1/32). Tatsächlich besteht der Wert eines Mannes in dem, was er weiß (1/33). Doch obgleich eine jede Wissenschaft ihren eigenen Wert besitzt und Anerkennung verdient (1/35), kommt den religiösen Wissenschaften bzw. den Studien zur Religion (ʿulūm ad-dīn) eine besondere Bedeutung zu. Denn diese Wissenschaften sind die „wichtigsten und vorzüglichsten“ unter den Wissenschaften, durch deren Kenntnis die Menschen „der Rechtleitung teilhaftig werden, durch deren Unkenntnis sie aber in die Irre gehen“ (1/36). Der Fehltritt eines Gelehrten sei deshalb mit dem Untergang eines Schiffes zu vergleichen, das viele Menschen in den Tod reißt (1/40).

2.2.2 Lehrformen und Lehrpraxis Al-Māwardī hebt hervor, dass der Unterweisung in Form gemeinschaftlicher Erörterung und Konversation stets der Vorzug zu geben sei. Die schulmeisterliche Instruktion – man könnte in modernen Worten sagen: „der Frontalunterricht“ – hingegen wird von ihm kritisch gesehen. Diese Aussage hat im argumentativen Kontext al-Māwardīs generellen Wert, obgleich er sie mit speziellem Blick auf die Unterweisung von Herrschern und von älteren Personen trifft – zwei Personengruppen also, denen ein Lehrer im Unterricht mit besonderer Höflichkeit entgegentreten muss bzw. sollte. Doch auch generell sollten Fehler, die Schülern im Unterricht unterlaufen, nicht durch korrektive Belehrungen und Maßregelungen berichtigt werden, sondern eher durch geschickte Andeutungen und Hinweise (1/ 123). Im Unterricht für Fortgeschrittene sind die Lehrer ausdrücklich angehalten, sachliches Nachfragen und selbst Skepsis seitens der Lernenden nicht als Rechthaberei abzutun. Denn derartige Fragen sind wichtige Bestandteile des

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Lehr- und Lerngeschehens, bei dem „um des Wissens willen […] [drei am Unterrichtsgeschehen beteiligte Personengruppen] belohnt werden: nämlich der Fragende, der Belehrende und der Zuhörende“ (1/100). Deshalb sollten es Lehrer unterstützen, wenn ihre Schüler konstruktive Fragen stellen. Diese fördern das Denkvermögen. Leeres Gerede allerdings stört den Unterrichtsablauf und ist vom Lehrenden zu unterbinden (1/100). Der Lehrvortrag sollte grundsätzlich interessant und so gestaltet sein, dass er dem unterschiedlichen intellektuellen Niveau der Zuhörerschaft Rechnung trägt. Darüber hinaus sollte sich der Lehrer während seines Vortrages beständig rückversichern, dass die Zuhörerschaft seinem Referat aufmerksam folgt (1/122). Fragen der Kommunikation von Lehrinhalten werden von al-Māwardī im Kontext des Lernprozesses behandelt. Hier stellt er fest, dass die mündlichen und die schriftlichen Aspekte des Unterrichtens sich unterschiedlich auswirken. Er zitiert in diesem Zusammenhang den prominenten Übersetzer und Literaten Ibn al-Muqaffaʿ mit einer Aussage, wonach die mündliche Instruktion nur auf die bei einem Lehrvortrag aktuell Anwesenden sowie auf das augenblickliche und das zukünftige Geschehen gerichtet sein kann. Belehrungen in Schriftform hingegen können sowohl gerade anwesende als auch abwesende Personen unterweisen (1/ 79). (Die Frage der Wirkungsbereiche von Bildung greift Anfang des 14. Jahrhundert, wie oben ausgeführt, auch der ägyptische Gelehrte Ibn al-Akfānī in seiner Definition des Begriffes adab auf.) Für die Vermittlung von Lehrinhalten in Schriftform sei es sodann wichtig, korrekt und leserlich zu schreiben. Schönschreibekunst und Kalligraphie zeugten zwar von Geschicklichkeit, böten letztlich aber keinen Mehrwert im Hinblick auf die Vermittlung bzw. die Aneignung von Wissen (1/82). Essenziell sei es, dass die Lehrer ihren Schülern nicht nur Wissen, das heißt Daten und Fakten vermittelten, sondern in ihnen die Lust am Lernen und die Liebe zur Wissenschaft entwickeln. Insofern sei das höchste Ziel des Unterrichts auch nicht in materiellem Lohn zu suchen (1/125), sondern in der Befriedigung, Wissen und Bildung zu vermitteln. Politische Meinungen haben im Unterricht keinen Platz. So sollte kein Lehrer im Unterricht die Meinung der Regierung (das heißt des „Sultans“) vertreten. Lehrer sollten dies weder aus Furcht vor Ungnade tun, noch aus der Hoffnung auf Gunstbezeugung heraus. Denn es besteht immer die Gefahr, dass man sich als Lehrender in solchen Fällen irrt oder die Schüler fehlleitet (1/124). Andererseits sei es erforderlich, dass die Lehrer den Schülern im Unterricht Gottes Nähe vermitteln, ihnen mit lauterem Rat zur Seite stehen und sie nach Kräften unterstützen.

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2.2.3 Differenzierung und Empathie Als bildungsbeflissener Gelehrter entwickelt al-Māwardī ein Tableau, das die Lernenden nach bestimmten Kriterien – wie Motivation, intellektuellem Vermögen und Verhalten im Lernprozess – charakterisiert. Unter Berücksichtigung eines Prinzips, das in der modernen Didaktik „Differenzierung“ genannt wird – und das die Förderung der Lernenden durch Stärkung ihrer Lernkompetenzen und Potenziale sowie durch Empathie zum Ziel hat – teilt der Autor die Lernenden zunächst grundsätzlich ein in: 1. Lernende, die vom Lehrer zum Lernen aufgefordert und ermuntert werden müssen; und 2. Lernende, die selbst die Initiative zur geistigen Arbeit ergreifen. Die Letzteren sollte spezielle Förderung und besonders gründliche Unterweisung erhalten. Eine weitere Differenzierung erfolgt durch Einteilung in: 3. diejenigen, die wissbegierig sind und gleichzeitig auch besondere intellektuelle Begabung aufweisen; sie sollten eine umfassende Unterweisung durch den Lehrer genießen; 4. diejenigen mit intellektuellen Schwächen; sie sollten entsprechend ihrer verminderten Auffassungsgabe gefördert werden. Das heißt, ihnen solle „das Wenige nicht verwehrt werden“, zu dem sie intellektuell fähig sind. Gleichzeitig sollten diese Schüler nicht überfordert werden. Zu bedenken ist dabei jedoch immer, dass auch weniger begabte Schüler Eifer im Studium entwikkeln und Geduld im Lernen aufweisen können, was von den Lehrern zu honorieren und besonders zu unterstützen ist (1/118 – 19); 5. diejenigen, die nicht aus religiösen Gründen lernen, sondern dies tun, „um Rang und Ruf zu gewinnen“. Solche Personen seien zunächst genau auf ihre Motivation zu prüfen. Doch auch diesen Lernenden ist der Unterricht nicht zu verwehren, solange sie keine moralisch verwerflichen Gründe für ihren Wissensdrang besitzen oder „von geheimen bösen Neigungen getrieben“ sind (1/119 – 20). 2.2.4 Religiöse Bildung Für al-Māwardī steht die menschliche Bildung im größeren Zusammenhang der Offenbarungsgeschichte. Schon die Propheten hätten die Menschen in Gottes Geboten und Vorschriften unterwiesen. Ihnen folgten die Lehrer. Diese unterweisen nicht nur durch die Vermittlung religiösen Wissens, sondern auch insofern, als sie den Nutzen solcher Kenntnisse für das Dies- und das Jenseits ver-

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deutlichen. Bemerkenswert ist, dass der Autor erneut die Bedeutung des Verstandes – hier für die Unterweisung in der religiösen Gesetzgebung, der Scharia – hervorhebt. Der Scharia sei (aber nur) insoweit zu folgen, als diese dem Vorstand nicht zuwiderläuft; andererseits dürfe der Vorstand nicht zu Schlussfolgerungen führen, die gegen die Verbindlichkeiten der Scharia verstoßen (1/128; siehe auch 1/143 – 44). Diese enge Verknüpfung von Wissen und Glaube mit der Notwenigkeit einer verstandesbasierten Unterweisung auch in Belangen der Religion wird von alMāwardī auch an anderer Stelle explizit hervorheben, wenn er feststellt: .‫ ﻭﻻ ﻗﺮﺍﺀ ٍﺓ ﻟﻴﺲ ﻓﻴﻬﺎ ﺗﺪﺑُّﺮ‬،‫ ﻭﻻ ﻋﻠ ٍﻢ ﻟﻴﺲ ﻓﻴﻪ ﺗﻔ ُّﻬﻢ‬،‫ﺃﻻ ﻻ ﺧﻴ َﺮ ﻓﻲ ﻋﺒﺎﺩ ٍﺓ ﻟﻴﺲ ﻓﻴﻬﺎ ﺗﻔ ُّﻘﻪ‬ Wahrlich, es ist nichts Gutes in einem Gottesdienst, in dem es kein tiefgreifendes Verständnis (tafaqquh) gibt, nichts Gutes in einem Wissen, das nicht mit [schrittweisem] Begreifen (tafahhum) gepaart ist, noch in einer Lesung, der es an Nachdenken (tadabbur) fehlt.⁵²

Auch für al-Māwardī steht der Koran im Mittelpunkt der religiösen Unterweisung. In ihm fänden sich Geschichten zu den früheren Völkern und Nachrichten aus vergangenen Zeiten, die den Menschen heute und in Zukunft als Lehren und als Warnungen vor Fehlverhalten dienen (1/129). Die initiale Instruktion erfolgte durch den Propheten und die weitere deduktive Ausdeutung (istinbāṭ) durch die Religionsgelehrten (ʿulamāʾ). Doch allein dem Propheten komme dabei zu: ‫ ﻟﻴﻜﻮﻥ ﻟﻪ ﻣﻊ ﺗﺒﻠﻴﻎ ﺍﻟﺮﺳﺎﻟﺔ ﻇﻬﻮﺭ‬،‫ ﻭﺗﺤﻘﻴﻖ ﻣﺎ ﻛﺎﻥ ﻣ ُﺤ َﺘﻤ ًﻼ‬،‫ ﻭﺗﻔﺴﻴﺮ ﻣﺎ ﻛﺎﻥ ُﻣﺸ ِﻜ ًﻼ‬،‫ﺑﻴﺎﻥ ﻣﺎ ﻛﺎﻥ ُﻣﺠ َﻤ ًﻼ‬ .‫ﺍﻻﺧﺘﺼﺎﺹ ﺑﻪ ﻭﻣﻨﺰﻟﺔ ﺍﻟﺘﻔﻮﻳﺾ ﺇﻟﻴﻪ‬ […] die Erläuterung dessen, was [im Koran] generell formuliert ist; die Interpretation dessen, was nicht unmittelbar verständlich ist, sowie die eindeutige Bestimmung dessen, was mehrdeutig ist, auf dass – zusammen mit der Übermittlung der Botschaft [des Korans] – sowohl die Autorität [des Propheten] in dieser Hinsicht als auch seine [von Gott übertragene] Vollmacht hierfür sichtbar werde.⁵³

Nach dem Koran als der Hauptgrundlage des islamischen Religionsunterrichts bietet die Sunna des Propheten, so al-Māwardī, die weiterführenden Richtlinien. Dabei ist es die Aufgabe der Religionsgelehrten, durch ihre Studien und gelehrten Erläuterungen dabei zu helfen, das Verständnis der Aussagen im Koran und in der

 Al-Māwardī, Adab ad-dunyā wa-d-dīn, 77.Vgl. al-Māwardī, Das Kitâb „adab ed-dunjâ wa ’ddîn, Bd. 1, 127.  Al-Māwardī, Adab ad-dunyā wa-d-dīn, 78 – 79. Vgl. al-Māwardī, Das Kitâb „adab ed-dunjâ wa ’ddîn, Bd. 1, 129.

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Traditionsliteratur, die sich nicht unmittelbar aus diesen beiden Quellen selbst erschließen lassen, zu ermöglichen (1/130). Diese Einsicht setzt al-Māwardī dann praktisch um, wenn er selbst vom Ratgeber zum Lehrer wird und zentrale Gebote sowie religiösen Verpflichtungen im Islam umfänglich erörtert. Dabei kommt er auch auf Gebote zu sprechen, die im Koran in Listenform mit einem gewissen Bezug auf die biblischen Zehn Gebote enthalten sind (1/131– 63).⁵⁴ Doch nicht nur der Verstand, sondern auch die Seele bzw. das Herz besitzen im Islam eine wichtige Rolle im Kontext der religiösen Bildung. Deshalb kann und sollte die Seele darin geschult werden, sich von weltlichen Dingen zu entfernen, die der Beschäftigung mit Gott hinderlich sind und die von der Vorbereitung auf das Jenseits abhalten. Es ist dabei verständlich (und akzeptabel), so al-Māwardī, dass den Menschen solche seelischen Übungen in graduell unterschiedlicher Weise gelingen. Diese Bemühungen können die Abstinenz nur von einigen bestimmten weltlichen Vergnügungen bewirken; sie können aber auch zur völligen Lossagung von weltlichen Dingen führen (1/170, 175). Besonders interessant ist, dass al-Māwardī im Kontext seelischer Übungen an keiner Stelle von förmlichen Lehrsituationen spricht (wie sie etwa die Mystiker ihren Adepten in rituellen Unterweisungen gewähren), sondern stets von der eigeninitiierten und selbstständigen Lernfähigkeit des Menschen als Individuum ausgeht.

2.2.5 Weltliche Bildung Die menschlichen Bedürfnisse und Fehlbarkeiten dieser Welt werden von alMāwardī als auch von Gott geschaffen bezeichnet. Selbst die Auflehnung gegen Gott und seine Gebote seien ja von Gott in „des Menschen Herz eingepflanzt“ (2/2). Insofern sind der Umgang mit weltlichen Bedürfnissen und menschlichen Fehlern sowie auch das Streben des Menschen nach Läuterung und Perfektion integrale Bestandteile der weitreichenden Bildungskonzeption al-Māwardīs. Im Umgang des Menschen mit solchen weltlichen Dingen und in seinen Bestrebungen, „Mittel und Wege zur Deckung der ihm notwendigen Bedürfnisse“ zu finden, kommen für al-Māwardī dem Verstand, der Logik bzw. dem intellektuellen

 Sebastian Günther, „‚Leute der Schrift, kommt her zu einem Wort, das uns allen gemeinsam ist‘: Die Zehn Gebote und der Koran“, in Verstehst du auch, was du liest? Debatten über Heilige Texte in Orient und Okzident, hrsg. von Sebastian Günther und Florian Wilk (Tübingen: Mohr Siebeck, 2021, 164– 91).

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Lernen zentrale Bedeutung zu (2/3).⁵⁵ Doch gibt es hier Grenzen, da letztlich nur Gott über den Erfolg oder Misserfolg des Menschen in der Erreichung der selbstgesetzten Ziele entscheide. Dies bedeutet jedoch nicht, sich seinem Schicksal fatalistisch hinzugeben.Vielmehr soll der Mensch seinen gottgegebenen Verstand nutzen und sich um die Entwicklung seiner Persönlichkeit und Selbstbesserung bemühen. Dieses Mühen würde von Gott belohnt und sein Erfolg im Jenseits mit dem Paradies honoriert. Für gebildete Menschen besteht deshalb der individuelle Auftrag, ihre gesellschaftlichen Umstände zu prüfen und zu entscheiden, ob bzw. inwieweit diese für ihre Entwicklung förderlich oder hinderlich sind. Wichtig dabei ist, dass jeder Mensch seine unmittelbare soziale Situation direkt vor Augen hat und seine Bemühungen um Bildung entsprechend ausrichtet. Diese Einsicht ist wichtig nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für das gesellschaftliche Ganze (2/6 – 7). So heißt es: ،‫ ﻣﺎ ﻋﻤﺮ ﺍﻷﺭﺽ‬:‫ ﻭﺃﺩﺏ ﺍﻟﺴﻴﺎﺳﺔ‬،‫ ﻣﺎ ﺃ ّﺩﻯ ﺍﻟﻔﺮﺽ‬:‫ ﻭﺃﺩﺏ ﺳﻴﺎﺳﺔ؛ ﻓﺄﺩﺏ ﺍﻟﺸﺮﻳﻌﺔ‬،‫ ﺃﺩﺏ ﺷﺮﻳﻌﺔ‬:‫ﺍﻷﺩﺏ ﺃﺩﺑﺎﻥ‬ ‫ ﻭﻣﻦ‬،‫ ﻷ ّﻥ ﻣﻦ ﺗﺮﻙ ﺍﻟﻔﺮﺽ ﻓﻘﺪ ﻇﻠﻢ ﻧﻔﺴﻪ‬،‫ ﻭ ِﻋﻤﺎﺭﺓ ﺍﻟﺒﻠﺪﺍﻥ‬،‫ﻭﻛﻼﻫﻤﺎ ﻳﺮﺟﻊ ﺇﻟﻰ ﺍﻟﻌﺪﻝ ﺍﻟﺬﻱ ﺑﻪ ﺳﻼﻣﺔ ﺍﻟﺴﻠﻄﺎﻥ‬ .‫ﺧ ّﺮﺏ ﺍﻷﺭﺽ ﻓﻘﺪ ﻇﻠﻢ ﻏﻴﺮﻩ‬ Die Bildung gliedert sich in zwei Bereiche: die „religiös-rechtliche Bildung“ (adab šarīʿa) und die „politische Bildung“ (adab siyāsa). Die religiös-rechtliche Bildung dient dazu, die religiösen Pflichten zu erfüllen; und die politische Bildung dient dazu, das Land zu zivilisieren. Beide Bereiche gründen sich auf Gerechtigkeit (ʿadl), die zu wohlwollendem Regieren [salāmat as-sulṭān, heute mitunter auch als good governance bezeichnet] und zur Kultivierung des Landes (ʿimārat al-buldān) führt. [Denn derjenige], der die religiösen Plichten vernachlässigt, fügt seiner Seele Unrecht zu; doch wer das Land zugrunde richtet, tut anderen Menschen Unrecht an.⁵⁶

Dabei obliegt es dem Herrscher, in religiösen Belangen wachsam zu sein, die Menschen vor Häresien zu schützen und aus religiöser Sicht bedenklichen Neuerungen entgegenzutreten. Sofern ein Herrscher diese seine Bestimmung erfüllt, rechtschaffen ist und für Wohlstand und Sicherheit im Lande sorgt, hat er das Anrecht auf den Gehorsam der Bevölkerung. Wenn nicht, muss er mit Hass und Aufruhr rechnen (2/12, 16 – 35).

 Zu al-Māwārdīs „secularism“ sowie seiner „Islamisierung“ – und mithin Legalisierung – von ursprünglich säkularen Ideen in Fragen der Staatsverwaltung, siehe Ahmad Mubarak al-Baghdadi, „The Political Thought of Abū Al-Ḥasan al-Māwardī“ (Edinburgh (Diss.), 1981), 70, 88 – 89, 108, 178 – 79.  Al-Māwardī, Adab ad-dunyā wa-d-dīn, 120. Vgl. al-Māwardī, Das Kitâb „adab ed-dunjâ wa ’ddîn, Bd. 2, 9 – 10.

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Was die Erziehung der Kinder betrifft, so sollten Eltern im Umgang mit diesen „mit Liebe erfüllt“ sein. Dies sei die beste Voraussetzung, um die Kinder auf den rechten Weg zu leiten. Hartherzigkeit bei Fehlverhalten wird nur zu mehr Widerspenstigkeit seitens der Kinder gegen ihre Eltern bis hin zum Bruch zwischen Eltern und Kindern führen. Dies gilt selbst dann, wenn es bei Misserfolgen in diesem Erziehungsgefüge zu Anzeichen von Resignation aufseiten der Eltern kommen sollte. Doch die Liebe der Eltern zu ihren Kindern überdauert selbst solch schwierige Situationen (2/42– 45). Da verwandtschaftliche Beziehungen sowohl der engeren als auch der weiteren Familie gewisse Auswirkungen auf die Charaktereigenschaften und das Verhalten (junger) Menschen haben, sollten die Verwandtschaftsbande gepflegt und am Leben erhalten werden (2/45 – 48). Im Falle von Freundschaften sollte ein neuer Freund zunächst auf seine persönlichen Verhältnisse und seinen Charakter geprüft werden. Denn man darf sich nicht von den Worten eines neuen Freundes blenden, sondern nur von seinen Handlungen leiten lassen (2/69 – 73). Freundschaften sollten generell von Offenheit im Auftreten und im Ratschlag sowie von gegenseitiger Rücksichtnahme kennzeichnet sein (1/93 – 98). Dies ist ein Ratschlag, dessen Relevanz – wie andere konkrete Vorstellungen al-Māwardīs zu Bildung und Erziehung auch – bis in unsere Tage reicht. Diese Einschätzung wird auch durch die nun folgenden Ausführungen gestützt.

2.2.6 Ratschläge zum Bildungserwerb Al-Māwardī legt großen Wert auf einen zielorientierten, effektiven und auf ethischen Grundsätzen basierenden Unterricht. Dies belegt das enge Zusammenspiel von pädagogischen Ratschlägen für Lehrende und Lernende mit entsprechenden Instruktionen zum Verhalten der am Unterrichtsprozess Beteiligten. Im Vordergrund stehen dabei die folgenden Themen (1/94– 103):

Ratschläge für Lernende Lernende sollten die Kraft der Jugend auf bestmögliche Weise zum Lernen nutzen (1/59 – 60). Die physischen Vorteile, die das jugendliche Alter mit Blick auf das Studium und den Wissenserwerb bietet, sind besonders wichtig für den weiteren Lebensweg. Die Lernenden sollten ihren Lehrern gegenüber stets „größte Zuvorkommenheit“ entgegenbringen. Ganz unabhängig davon, dass hierdurch generell eine für den Wissenserwerb förderliche Atmosphäre in Unterrichtssituationen erzeugt wird, sei ein taktvolles Verhalten der Schüler ihrem Lehrer gegenüber auch insofern nützlich, als sich der Lehrer somit als besonders

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geduldig im Unterricht erweist und den Lernenden selbst sein bis dahin vor ihnen „verborgenes Wissen“ zu vermitteln bereit ist. Ein höfliches Verhalten der Lernenden gegenüber dem Lehrer ist somit eine wichtige Voraussetzung für einen maximalen Lernerfolg. Zudem ist die Ehrerbietung des Lernenden gegenüber dem Lehrer eine aus der Religion erwachsene Verpflichtung (1/95). So sind die Schüler zum Respekt gegenüber dem Lehrer auch dann verpflichtet, wenn der Schüler eine höhere soziale Stellung innehat als sein Lehrer (1/95). Die Lernenden sollten die guten Charaktereigenschaften ihres Lehrers annehmen und ihm darin nacheifern (1/95 – 96). Wenn die Zeit naht, in der ein Schüler feststellt, dass er sein Lernziel erreicht hat, ist es ungebührlich, dies dem Lehrer explizit kundzutun bzw. ihm mitzuteilen, dass er dessen Wissen nun nicht mehr benötigt. Ein solches Verhalten zeugt von „grober Undankbarkeit“ (1/96). Zudem wird dem Lernenden dringend angeraten, vorwitziges Verhalten und Besserwisserei im Unterricht zu unterlassen (1/96). Doch die notwendige Achtung des Lernenden gegenüber dem Lehrer ist nicht gleichbedeutend mit der Verpflichtung seitens der Schüler, von ihrem Lehrer Zweifelhaftes anzunehmen oder Unrichtiges zu akzeptieren bzw. ihn untertänig nachzuahmen. Positiv ausgedrückt: Der Lernende ist zu kritischem Mitdenken und selbstbewusstem Verhalten im Unterricht aufgefordert bzw. dazu sogar verpflichtet, solange ein solches Benehmen die Grenzen von Höflichkeit und Respekt nicht überschreitet (1/97). Den Lernenden ist geraten, den Unterricht von solchen Lehrern zu besuchen, deren Unterweisungen den größten Lernerfolg versprechen. Fortgeschrittene Lernende sollten sich in dieser Weise entscheiden, ganz unabhängig von Titel und Rang des Lehrers.Wenn jedoch von zwei Lehrern derselbe Nutzen zu erwarten ist, sollten die Studierenden die Person mit der höheren Reputation als ihren Lehrer wählen (1/100). Wichtig sei es in jedem Fall, dass die Lernenden sich sowohl auf ihr Studium konzentrieren als auch sich dabei hochachtungsvoll gegenüber ihren Lehrern verhalten. Bekanntermaßen werden einige vielleicht dereinst selbst einmal Lehrer sein und dann die gleiche untadelige Haltung von ihren Schülern erwarten, die sie jetzt ihrem Lehrer gegenüber an den Tag legen sollten (1/103).

Ratschläge für Lehrende Lehrende müssen sich stets gut auf den Unterricht vorbereiten. Im Unterricht sollten sie den Lehrstoff angemessen erläutern, ihre Ausführungen durch stichhaltige Argumente untermauern und diese bei Bedarf auch wissenschaftlich belegen können (1/98 – 99). Für Gelehrte und Lehrende unabdingbare Charakteristika sind zudem „Demut und das Beiseitelassen der Eigenliebe“ (1/102). Nur zu oft beherrschen Leh-

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rer, die eingebildet auftreten, ihre Wissenschaft nur mangelhaft. Andererseits ist Bescheidenheit ein Zeichen dafür, dass die betreffende Person „wirklich weitergekommen [ist] in der Wissenschaft“ (1/104). Doch das Lernen ist keine Verpflichtung und kein Privileg der Schüler und Studierenden allein: Auch Lehrkräfte sollten sich weiterbilden. In der Tat sollte sich niemand mit dem einmal Gelernten begnügen, denn eine solche Haltung führt letztlich zu Ignoranz (1/109). Wichtig ist dabei zugleich, dass ein jeder sein Wissenspotenzial und seine intellektuellen Grenzen kennt. Dies ist nicht nur für das eigene Seelenheil wichtig, sondern hat auch direkte Auswirkungen auf die Lehre. Daher sollten Lehrer ihre Schüler und Studenten weder unter- noch überfordern (1/110). Hierfür wiederum ist seitens der Lehrenden eine gute Menschenkenntnis erforderlich, damit sie das intellektuelle Potenzial ihrer Schützlinge richtig einschätzen und sie entsprechend fördern können (1/121). Worte und Taten müssen bei den Lehrenden eine Einheit bilden. Sie sollten keine Ideen vertreten, nach denen sie nicht auch selbst öffentlich handeln (1/113). Zudem sollten die Lehrenden großzügig mit ihrem Wissen sein und „ihre Kenntnisse niemandem vorenthalten. Mit dem Wissen zu geizen, wäre eine niedrige und ungerechtfertigte Handlungsweise.“ Tatsächlich wächst und vermehrt sich das Wissen durch den Unterricht, wie der Fortgang der Geschichte bezeuge. Jede Generation baut auf dem Wissen der vorhergehenden Generationen auf (1/ 115 – 16). In jedem Falle ist es wichtig, dass man das erworbene Wissen anwendet. Jeder sollte seinem Wissen gemäß handeln und so Nutzen daraus ziehen (1/111– 12). Für die Lehre hält der Unterricht dabei doppelten Lohn bereit: zum einen in Form von Gottes Vergeltung (und der Verheißung des Paradieses nach dem Tod); zum anderen dadurch, dass die Lehrperson durch ihren Unterricht ihr Gedächtnis trainiert und beständig dazulernt (1/117– 18).

3 Schlussfolgerungen Die Vorstellungen zu dem, was der Begriff des adab ausdrückt, haben sich nicht nur in dem kulturell und gesellschaftlich spannungsgeladenen Übergang vom vorislamischen Arabien zum Islam gewandelt; sie erfuhren vor allem in islamischer Zeit signifikante Veränderungen und konzeptionelle Erweiterungen. In dem vom harten Wüstenleben der Beduinen gekennzeichneten alten Arabien waren es vornehmlich ethische und soziale Werte und Normen (wie die Achtung von Familie und Tradition, sittliches Verhalten und gute Erziehung), die als adab galten. In islamischer Zeit – und hier im Wesentlichen während der kulturellen Blüte unter den Abbasiden – steht adab dann als zentraler Ausdruck für Ideale

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äußerer und innerer menschlicher Qualitäten, Verhaltensweisen und Vorstellungen. Dieses komplexe Bedeutungsspektrum von adab im klassischen Islam umfasste: 1. soziokulturell: die Wertschätzung überlieferter Normen und Werte; 2. ethisch: kultiviertes Verhalten, moralische Lebensführung (im Sinne des Islams); menschenfreundliches, „humanistisches“ Denken und Handeln; 3. gesellschaftlich: Vorstellungen von Urbanität, Zivilisation und Menschlichkeit; 4. psychologisch: die individuelle geistige und seelische Entwicklung des Menschen (bis hin zur psychologischen Transformation, wie diese die islamischen Mystiker in ihrer Gottessuche erleben); 5. epistemologisch: säkulares und religiöses Wissen, intellektuelle Bildung; 6. professionell: Fähigkeiten, Kenntnisse und Kompetenzen für bestimmte Berufe und soziale oder religiöse Gruppen; 7. literarisch: Schriftkultur mit dem doppelten Anspruch, zu unterweisen und in inhaltlich und ästhetisch anspruchsvoller Weise zu unterhalten: die „schöngeistige Literatur“ im Islam. Die weitgefasste Konzeption eines „humanistischen“ Denkens und Handelns, wie sie der Begriff des adab im klassischen Islam verkörpert, macht deutlich, dass Bildungsideale aus der griechischen Antike und anderen kulturellen Traditionen des spätantiken Mittelmeerraumes – die (alt)iranischen, indischen, jüdischen und christlichen – zum einen intensiv durch muslimische Gelehrte rezipiert wurden. Doch die betreffenden Ideale wurden von diesen Gelehrten zum anderen auch neu kontextualisiert und mithin islamisiert, wodurch adab zu einer dezidiert „islamischen“ Konzeption entwickelt wurde, die sowohl im engeren Sinne religiöse als auch weltliche Bereiche muslimischer Lebenswelten einschließt.⁵⁷ Dieser produktive intellektuelle Kontext war für den Literaten und Traditionskenner Ibn Qutayba wie auch für den Rechtsgelehrten und Ethiker al-Māwardī Ausgangspunkt und Grundlage für umfassende eigene Überlegungen zu den Inhalten

 Zum komplexen Bedeutungsfeld von „Islam“ und „islamisch“ im Verhältnis zu „Religion“ (dīn), „Glaube“ (īmān), „Glaubensgemeinschaft“ (milla) und „[gesellschaftlichem] System“ (niẓām) sowie den vielfältigen muslimischen Lebenswelten – religiösen und säkularen – siehe u. a. den Abschnitt „From islām to Islam“ in Louis Gardet und Jacques Jomier, „Islām“, in Encyclopaedia of Islam. Second Edition, hrsg. von P. Bearman u. a. (Leiden: Brill, 1997), Bd. 4, 171– 77; Ira M. Lapidus, „The Separation of State and Religion in the Development of Early Islamic Society“, in International Journal of Middle East Studies 6 (1975): 363 – 85; Henri Lauzière, „Secularism“, in The Princeton Encyclopedia of Islamic Political Thought, hrsg. von Gerhard Böwering und Patricia Crone (Princeton: Princeton University Press, 2012), 489 – 90.

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und Zielen von Bildung, Erziehung und Moral. Sie brachten ihre Ansichten in literarischen, das heißt adab-Werken, zum Ausdruck, die sie als das geeignete und effektive Medium erachteten, um sich im Rahmen des gesellschaftlichen Bildungsdiskurses ihrer Zeit zu äußern und ihre Zeitgenossen zu unterrichten. Beide Gelehrte gingen hierbei von dem Grundsatz aus, dass der Mensch zu Bildung und Erziehung prinzipiell fähig ist. Ibn Qutayba priorisiert dabei deutlich die gute sprachliche und ethische Bildung. Er bekräftigt aber gleichzeitig auch die Bedeutung von (inter‐)kulturellem Wissen in seiner enzyklopädischen Behandlung von all dem, was einen gebildeten Muslim im 9. Jahrhundert ausmacht. In diesem Kontext hebt Ibn Qutayba die tragende Rolle der „arabischen Wissenschaften“ hervor, das heißt generell die guten Sprachkenntnisse, die zum Verständnis und zur Formulierung elementarer juristischer Sachverhalte notwendig sind, sowie im Besonderen die umfassenden Kenntnisse in der arabischen Grammatik, Lexikographie und Poetik. Zu einer guten Allgemeinbildung gehören für ihn im Weiteren naturwissenschaftliches, technisches, geschichtliches und theologisches Wissen, wobei letzteres ein tiefes (sprachliches und inhaltliches) Verständnis von Koran und Prophetentradition voraussetzt. Auch wenn sich Ibn Qutayba im Adab al-kātib (und anderen seiner Hauptwerke) vornehmlich Fragen der weltlichen Bildung widmet, bleibt er letztlich doch ein religiöser Lehrer, der in den bewegten, zum Teil krisenhaften gesellschaftlichen und religiösen Verhältnissen seiner Zeit den Anspruch an sich selbst und seine Zeitgenossen erhebt, durch geistige Offenheit und thematisch vielfältige intellektuelle sowie ethische Unterweisung – und letztlich Bildung – zum Gelingen des gesellschaftlichen Ganzen beizutragen. In pädagogischer Hinsicht benennt Ibn Qutayba zudem eine Reihe von Prinzipien, die durchaus auch heute noch Beachtung verdienen. Dazu gehören: Ratschläge für Lehrende: ‒ Im Unterricht ist auf das unterschiedliche intellektuelle Niveau der Lernenden Rücksicht zu nehmen. ‒ Lehrinhalte sollen aufeinander aufbauend – vom Leichteren zum Schwierigeren – konzipiert und sprachlich klar kommuniziert werden. ‒ Eigene Erfahrungen sollen nutzbringend in den Unterricht einfließen. Ratschläge für Lernende: ‒ In den Bereichen der individuellen und der gesellschaftlichen Bildung sind beständige Anstrengungen nötig, um die Persönlichkeit zu entwickeln und als Mensch zu wachsen. Sich auf Erfolgen auszuruhen und sich nicht weiter

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zu bemühen, ist im Bildungskontext untauglich (dies gilt gleichermaßen für Lehrende und Lernende). Es ist nützlich, Lernstoff zu memorieren. Das hilft sowohl im Lernprozess selbst als auch später bei der Anwendung des Gelernten, wobei in der praktischen Umsetzung von Wissen der eigentliche Nutzen von Bildung in dieser Welt besteht. Die mit dem Lernen verbundenen Mühen werden von Gott erst im Jenseits belohnt.

Auch al-Māwardī unterstreicht im Adab ad-dunyā wa-d-dīn die enge Verbindung von Bildung und Ethik, wenn er von der Notwendigkeit spricht, erworbenes Wissen im Alltag nutzbringend anzuwenden. Interessant ist der Hinweis des Autors, dass Bildung für sozial unterprivilegierte Personen ein wirksames Mittel und ein Weg ist, um soziale Anerkennung und eine höhere gesellschaftliche Stellung zu erlangen. In jedem Falle unterstützt adab sowohl individuelle menschliche Entwicklung als auch den gesellschaftlichen Fortschritt. Doch all dies funktioniert am besten, wenn man mit „Herz und Verstand“ zu Werke geht, wenngleich al-Māwardī dem verstandesmäßigen Lernen Priorität einräumt. Al-Māwardī hebt auch hervor, dass der Wissenserwerb und die Erziehung schon im frühen Kindesalter beginnen sollten; dies erleichtert es dem Menschen in einem späteren Lebensalter, sich gut in die Gesellschaft zu integrieren und eine aktive Rolle darin zu übernehmen. Haben im familiären Kontext die Eltern gegenüber ihren Kindern besondere Verantwortung für Bildung und Erziehung, so sind es die Gelehrten, die im gesamtgesellschaftlichen Wissens- und Bildungstransfer der Generationen eine tragende Rolle spielen. Doch der Einzelne muss in diesem gesellschaftlichen Bildungsprozess auch selbst aktiv werden. Insofern dienen selbstkritische Reflexionen und autodidaktisches Lernen nicht nur der individuellen Wissensaneignung, sondern auch der Persönlichkeitsentwicklung und werden deshalb ausdrücklich empfohlen. Al-Māwardī benennt im Weiteren zahlreiche pädagogische Ratschläge. Dazu zählen: Ratschläge für Lehrende: ‒ Erfolgreiches Unterrichten setzt voraus, dass Lernende Aufmerksamkeit und Empathie erfahren. Alle Lernenden sollten unabhängig von Fleiß und Begabung die bestmögliche Förderung erhalten. ‒ Lehre muss berücksichtigen, dass es unterschiedliche Lerntypen gibt, also sowohl Lernende, die aus eigenem Antrieb und Freude am Wissenserwerb lernen (in der modernen Pädagogik als „intrinsische Motivation“ bezeichnet), als auch solche, die durch zusätzliche Stimuli von außen zum Lernen mo-

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tiviert werden müssen („extrinsische Motivation“). Die Lehrer sollten ihren Unterricht dementsprechend gestalten. Der Unterricht und Lehrvorträge sollten nicht nur generell interessant, sondern stets auch auf angemessene Weise auf das intellektuelle Niveau der Zuhörerschaft abgestimmt sein. Im Unterricht ist darauf zu achten, dass eine Balance zwischen verstandesmäßiger und seelischer bzw. emotionaler Bildung und Entwicklung gehalten wird. Fehler von Schülern sollten eher durch freundliche Hinweise als durch unvermittelte Belehrungen korrigiert werden. Fragen, die die Lernenden stellen, beleben das Unterrichtsgeschehen und erweisen sich als nützliche Förderung des Denkvermögens nicht nur des Fragenden, sondern aller am Unterrichtsgeschehen Beteiligen. Lehrer sollten deshalb die Fragen ihrer Schüler ernst nehmen und zur Wissensvermittlung nutzen. Gemeinschaftlicher Erörterung und Konversation (heute würden wir vielleicht sagen: „proaktivem Unterricht“) ist der Vorzug vor der bloßen Vermittlung von Daten und Fakten zu geben. Schriftliche Wissensvermittlung im Unterschied zur mündlichen Unterweisung zeichnet sich dadurch aus, dass durch Schriftstücke auch Personen erreicht werden können, die aus räumlichen oder zeitlichen Gründen nicht am aktuellen Unterrichtsgeschehen teilnehmen. (Modern gesprochen könnte das als ein mittelalterliches Plädoyer für distant learning gedeutet werden.) Gute Umgangsformen im Unterricht sind generell angezeigt.

Ratschläge für Lernende: ‒ Die Kraft der Jugend ist auf bestmögliche Weise zum Wissenserwerb zu nutzen, um sich für den weiteren Lebensweg zu rüsten. ‒ Lehrer sind den Lernenden Begleiter beim Bildungserwerb und Vorbild. ‒ Höflichkeit und Respekt gegenüber den Lehrern ist eine Plicht. ‒ Unkorrektes oder zweifelhaftes Verhalten von Lehrern ist von den Lernenden nicht zu akzeptieren. ‒ Selbstbewusstes Verhalten und kritisches Mitdenken der Lernenden im Unterricht wird ausdrücklich empfohlen. ‒ Der Unterricht bei Lehrern, deren Unterweisungen den größten Lernerfolg versprechen, besitzt Priorität. Rang und Ansehen der Lehrperson sind dabei unerheblich. ‒ Anstrengung und Konzentration der Lernenden im Unterricht sind Voraussetzungen für den Lernerfolg.

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Es ist bemerkenswert, dass al-Māwardī als Staatstheoretiker und Autor eines Buches über „Die Gesetze der islamischen Herrschaft und die religiöse Führung“ dafür plädiert, im Lehrkontext keine politischen Meinungen zu äußern. Auch betont er, dass die Lehre nicht der Anhäufung von materiellem Reichtum, sondern der Bildung und der inneren Zufriedenheit von Lehrenden und Lernenden dient. Festzustellen ist gleichermaßen, dass sowohl Ibn Qutayba als auch alMāwardī als gottgläubige Gelehrte die Notwendigkeit und Charakteristika weltlicher Bildung sowohl für die Entwicklung des Einzelnen als auch die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft ausdrücklich hervorheben und in ihren Erörterungen den Inhalten, Strategien und Zielen säkularen Lernens viel Raum widmen. Für sie bietet die ethische Bildung sodann auch das Fundament für eine eigenständige ethisch-moralische Urteilsfindung, was die Verantwortung, die der Einzelne im gesellschaftlichen Kontext besitzt, noch einmal hervorhebt. Gleichzeitig sind sich beide Gelehrte der intellektuellen und kulturellen Herausforderungen, die der religiös geprägte gesellschaftliche Kontext ihrer Zeit mit sich bringt, vollkommen bewusst. In diesem Spannungsverhältnis von Bildung, Religion und Politik spielen für beide gute sprachliche und inhaltliche Kenntnisse der islamischen Primärtexte sowie Kenntnisse der islamischen Tradition eine wesentliche Rolle. Als Lehrautoritäten tragen beide Gelehrte – wenngleich aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven – mit einer an den Erfordernissen des realen Lebens orientierten und gleichzeitig religiös akzentuierten Wissensvermittlung zum gesellschaftlichen Gesamtwohl bei. Als Literaten nutzen sie für ihre ambitionierte Aufgabe das Genre der adab-Literatur als effektives Kommunikationsmedium. Insbesondere durch ihre Ratschläge zur Ethik propagieren diese beiden klassischen muslimischen Gelehrten eine Hinwendung des Menschen zur Menschlichkeit bzw. Humanität, für die die Bildung Ausgangspunkt und fruchtbarer Nährboden ist. Die hohe Wertschätzung, die das Lehren und Lernen im Kontext des individuellen und gesellschaftlichen Wohls im klassischen Islam besaß, ist beiden Autoren vollends bewusst. Ibn Qutayba bringt diese wichtige Einsicht, wie wir gesehen haben, im ʿUyūn al-aḫbār auf den Punkt, wenn er die Spruchweisheit zitiert: .‫ﻋﻠ ٌﻢ ﻻ ُﻳﻘﺎﻝ ﺑﻪ ﻛﻜﻨﺰ ﻻ ﻳُﻨﻔﻖ ﻣﻨﻪ‬ Wissen, das man nicht kommuniziert, ist wie ein Schatz, aus dem man nicht schöpft.⁵⁸

 Ibn Qutayba, ʿUyūn al-aḫbār, Bd. 2, 126.

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Johannes Twardella

Pädagogisches Denken im Islam am Beispiel von al-Ġazālīs „O Kind!“ 1 Al-Ġazālī und seine Zeit Eine wissenschaftliche Disziplin, die die pädagogische Praxis zu ihrem Gegenstand macht und diese mithilfe wissenschaftlicher Methoden und Theorien reflektiert, hat es im Islam vor der Moderne nicht gegeben. Dennoch wurde über diese Praxis nachgedacht und es entstand eine Tradition pädagogischen Denkens, die sich in einer umfangreichen Literatur niederschlug.¹ Zu dieser Tradition gehören auch die Schriften des Gelehrten Abū Ḥāmid al-Ġazālī (1058 – 1111), der – so Sebastian Günther – „wie kein anderer das pädagogische Denken im Islam beeinflusst hat“.² Die Überlegungen von al-Ġazālī sind zu sehen vor dem Hintergrund jener pädagogischen Strukturen, welche sich bis zu seiner Zeit im Islam herausgebildet haben. Folgt man den Ausführungen von Gregor Schoeler, so ist davon auszugehen, dass es zur Zeit des Auftretens Muḥammads eine elementare Bildung, eine Vermittlung der Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens, auf der Arabischen Halbinsel bereits gab.³ Für die Zeit des umayyadischen Kalifats sei die Existenz von Grundschulen gut belegt und unter der Herrschaft der Abbasiden seien solche im gesamten Herrschaftsgebiet weit verbreitet gewesen. An diesen Schulen sei auch Koranunterricht erteilt worden. Ziel des Elementarunterrichts sei gewesen, „das unbedingt notwendige Grundlagenwissen zu vermitteln, das für die Ausbildung zu einem guten Muslim als nötig erachtet wurde.“⁴

 An der Universität Göttingen wird diese Literatur, genauer gesagt: das pädagogische Schrifttum, welches in der Zeit zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert entstanden ist, gegenwärtig unter der Leitung von Sebastian Günther systematisch erforscht. Siehe: http://www.goedip.de.  Sebastian Günther, „Eine Erkenntnis, durch die keine Gewissheit entsteht, ist keine sichere Erkenntnis“. Arabische Schriften zur klassischen islamischen Pädagogik“, in Aufbruch zu neuen Ufern: Aufgaben, Problemlagen und Profile einer Islamischen Religionspädagogik im europäischen Kontext, hrsg. von Yaşar Sarıkaya und Franz-Josef Bäumer (Münster: Waxmann, 2017), 83.  Zum Folgenden siehe: Gregor Schoeler, „Gesprochenes Wort und Schrift. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im frühislamischen Lehrbetrieb“, in Von Rom nach Bagdad. Bildung und Religion von der römischen Kaiserzeit bis zum klassischen Islam, hrsg. von Peter Gemeinhardt und Sebastian Günther (Tübingen: Mohr Siebeck, 2013), 269 – 90.  Schoeler, „Gesprochenes Wort und Schrift“, 272. https://doi.org/10.1515/9783110731743-008

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Die Anfänge einer höheren Bildung vermutet Schoeler im letzten Viertel des 7. Jahrhunderts n. Chr., und zwar zunächst „meist auf informeller, privater Basis“.⁵ Wer sich dazu befähigt und berufen fühlte, habe als Lehrer, als „Meister“, sein Wissen in Form von Vorlesungen weitergegeben, meist in Moscheen. Nicht nur Traditionarier,⁶ sondern auch Korangelehrte, Rechtsgelehrte, Philologen und Grammatiker gaben ihr Wissen an Personen weiter, die daran interessiert waren. Formgebend für die pädagogische Praxis sei die Überlieferung von Hadithen gewesen. Der Lehrbetrieb der Traditionarier könne als „der Beginn eines systematischen, akademischen Unterrichts im Islam“ angesehen werden: Diese Art der persönlichen Wissensvermittlung, bei der sich der Vortragende auf eine Gewährsperson bzw. eine Reihe von Gewährspersonen beruft und bei der Lehre und Weiterüberlieferung eins sind, ist für die arabisch-islamischen Wissenschaften bestimmend gewesen.⁷

Im 8. Jahrhundert hätten sich sodann „verschiedene Formen des gelehrten Unterrichts“ herausgebildet, „die über die ganze vormoderne Zeit hinweg Geltung behalten sollten“:⁸ 1. Das „Hören“: Ein Lehrer trägt vor und das Gehörte wird von Schülern festgehalten, entweder nur im Gedächtnis oder auch schriftlich. 2. Die „Lesung“: Ein Schüler liest einen Text vor und der Lehrer interveniert situativ, entweder um etwas zu korrigieren oder um zu kommentieren. 3. Das „Diktatkolleg“: Der Lehrer diktiert und die Schüler schreiben das Diktierte auf.

Zur Zeit al-Ġazālīs ist eine Institution bereits weit verbreitet, in der die höhere Bildung vermittelt wird: die Madrasa bzw. Schule, in der vor allem auf den Dienst in der Verwaltung vorbereitet wird.⁹ Zugleich hat die Rezeption der antiken Wissenschaften zu einer Ausdifferenzierung wissenschaftlicher, philosophischer und religiöser Strömungen geführt, sodass von einem religiösen und weltanschaulichen Pluralismus gesprochen werden kann. Auf diese Situation reagiert die Politik, so Tilman Nagel, mit dem Versuch, den sunnitischen Islam allgemein verbindlich zu machen: Weitere Madrasas werden gegründet, sie erhalten einen

 Schoeler, „Gesprochenes Wort und Schrift“, 272.  Als Traditionarier werden Personen bezeichnet, die Kenntnisse über den Hadith, also über Überlieferungen von Worten und Taten des Propheten, besaßen und diese weitergaben.  Schoeler, „Gesprochenes Wort und Schrift“, 282.  Schoeler, „Gesprochenes Wort und Schrift“, 282.  Siehe: Dietrich Brandenburg, Die Madrasa: Ursprung, Entwicklung, Ausbreitung u. künstlerische Gestaltung d. islamischen Moschee-Hochschule (Graz: Verlag für Sammler, 1978).

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sunnitischen Lehrplan, und das Rechtssystem wird ausgebaut.¹⁰ Die Institution des Muftis entsteht und eine umfangreiche Rechtsliteratur. Man kann, so Tilman Nagel, „mit Fug und Recht sagen, dass die Durchstilisierung des muslimischen Lebens nach Maßgabe der Scharia und des ḥadīṯ erst eigentlich im 11. Jahrhundert beginnt“.¹¹ Al-Ġazālī wird 1058 in Tus in der Nähe des heutigen Maschhad in Iran geboren.¹² Er studiert Rechtswissenschaft und Theologie, erhält einen Lehrauftrag an der Hochschule in Bagdad und gerät sodann in eine tiefe Krise, die er in seinem Buch Der Erretter aus dem Irrtum reflektiert.¹³ Darin legt er – in einer Denkbewegung, die man mit derjenigen vergleichen kann, die Descartes in seinen Meditationen vollzieht¹⁴ – dar, wie er auf der Suche nach einer absoluten Wahrheit, nach einer nicht mehr hinterfragbaren Gewissheit, alles, was er sich bisher an Wissen angeeignet hat, systematisch in Zweifel zieht. Sein methodischer Zweifel führt ihn zur Abkehr von allen Schulmeinungen und Autoritäten sowie zu der Überzeugung von der ursprünglichen Hingewandtheit des Menschen zu Gott (fiṭra). Ausgehend von dieser Überzeugung entwickelt er die Vorstellung, dass der Mensch, nachdem er als Muslim geboren wurde, durch die dann folgende Erziehung eine bestimmte Lehrmeinung, einen bestimmten Glauben, annimmt und – blind – nachahmt, was ihm vermittelt worden ist. Es bedarf einer eigenständigen Denkbewegung, damit er sich seiner fiṭra innewird, die er schließlich zu realisieren vermag, indem er sich an dem offenbarten Wissen, also am Koran und an den Hadithen, orientiert. Die religiösen Pflichten, wie sie in diesen Schriften formuliert sind, sind dann nicht mehr von außen auferlegte, sondern solche, die aus Vertrauen in Gott und aus „Anstand“ ihm gegenüber befolgt werden. Vor dem Hintergrund seiner Biographie, seiner intellektuellen Krise und der Wiedergewinnung einer Gewissheit im Glauben entwickelt al-Ġazālī schließlich auch pädagogische Überlegungen. Diese werden vor allem in der Schrift Die Wiederbelebung der religiösen Studien dargelegt. Daneben findet sich jedoch auch

 Siehe zum Folgenden: Tilman Nagel, „Al-Gazali (1058 – 1111) – Die Krise der sunnitischen Heilsgewissheit“, in Die erdrückende Last des ewig Gültigen: der sunnitische Islam in dreißig Porträtskizzen, hrsg. von Tilman Nagel, Bd. 1. Erster und Zweiter Band (Berlin: Duncker & Humblot, 2018), 384– 423.  Nagel, „Al-Gazali (1058 – 1111) – Die Krise der sunnitischen Heilsgewissheit“, 385.  Zum Folgenden siehe: Adel Theodor Khoury, „Ghazzali“, in Islam-Lexikon: Geschichte – Ideen – Gestalten, hrsg. von Adel Theodor Khoury, Ludwig Hagemann, und Peter Heine (Freiburg; Basel; Wien: Herder, 1991), 299 – 300.  Abū-Ḥāmid Muḥammad al-Ghazālī, Der Erretter aus dem Irrtum, übers. von ʿAbd-Elṣamad ʿAbd-Elḥamīd Elschazlī (Hamburg: F. Meiner, 1988).  Zu diesem Vergleich siehe: Maḥmūd Ḥamdī Zaqzūq, Ghazali und Descartes. Ein philosophischer Vergleich (Nordhausen: Bautz, 2005).

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ein kleiner Traktat mit dem Titel O Kind!, das – so Günther – ebenfalls „für die islamische Bildung besonders wichtig ist“.¹⁵ Dieser Traktat soll im Folgenden zum Gegenstand einer Analyse gemacht werden, die sich auf eine Übersetzung aus dem Jahr 2002 stützt. Die Arbeit mit Übersetzungen ist freilich immer problematisch. Da die Analyse aber keine philologische ist, sondern aus einer soziologischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Perspektive erfolgt, wird dies für vertretbar gehalten. Dennoch soll diese Analyse aber möglichst präzise sein. Deswegen wird sie mithilfe der Methode der Objektiven Hermeneutik durchgeführt, die ein äußerst kleinschrittiges Vorgehen und die Bildung unterschiedlicher Lesarten verlangt – mit dem Ziel, letztlich zu einer Deutung in Gestalt der Bestimmung der Struktur des „Falles“ zu gelangen.¹⁶ Obwohl zunächst das gesamte Buch mit dieser Methode analysiert wurde, wird – vor allem gegen Ende des Textes – die Analyse nur noch in abgekürzter Form präsentiert, da die Fallstruktur dann hinreichend klar herausgearbeitet wurde.

2 Die Rahmung von al-Ġazālīs Traktat Die Überlegungen von al-Ġazālī werden in mehrfacher Hinsicht gerahmt, zunächst durch den Titel der Schrift. Dieser lautet: O Kind!¹⁷

 Sebastian Günther, „Bildungsauffassungen klassischer muslimischer Gelehrter. Von Abu Hanifa bis Ibn Khaldun (8. – 15. Jh.)“, in Islamische Theologie und Religionspädagogik in Bewegung: neue Ansätze in Europa, hrsg. von Zekirija Sejdini, Globaler, lokaler Islam (Bielefeld: Transcript, 2016), 63. Günther wies jüngst auf neuere Forschungen hin, die Zweifel an al-Ġazālīs Autorschaft erörtern; siehe: Sebastian Günther, „Islamic Education, Its Culture, Content and Methods: An Introduction“, in Knowledge and Education in Classical Islam: Religious Learning between Continuity and Change. Band 1, hrsg. von Sebastian Günther (Leiden; Boston: Brill, 2020), 22. Auch wenn sich diese Zweifel als berechtigt erweisen sollten, schmälere dies laut Günther nicht die Bedeutung des Traktats in der islamischen Tradition bzw. für diese.  Ulrich Oevermann, „Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis“, in Die Fallrekonstruktion: Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung, hrsg. von Klaus Kraimer (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000), 58 – 156; Andreas Wernet, Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik (Opladen: Leske und Budrich, 2000).  Dies ist die wörtliche Übersetzung des Titels (Ayyuhā l-walad). Von dieser wird hier ausgegangen, auch wenn sie – wie sich sogleich zeigen wird – irreführend ist, da es in dem Traktat um einen Schüler geht.

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Der Titel ist interessant, da mit ihm eine Ansprache vollzogen wird. Diese Ansprache erfolgt mit der Vokativpartikel „o“, die unterschiedlich verwendet werden kann: Entweder wird sie gebraucht, wenn ein Sprecher eine Person adressiert, die sich in einer herausgehobenen, ihm übergeordneten Stellung befindet, etwa der eines Herrschers. Dann wird mit „o“ die Anerkennung dieser Herausgehobenheit zum Ausdruck gebracht und Ehrerbietung demonstriert. Oder das „o“ wird verwendet, um eine Anrede zu intensivieren. Der Sprecher geht davon aus, dass dasjenige, was er sagen will, von großer Bedeutung ist, und steigert sein Bemühen, die Aufmerksamkeit des Adressaten zu gewinnen. Angesprochen wird der Adressat als Kind. Das lässt vermuten, dass der Sprecher aus der komplementären Position heraus agiert, also ein Erwachsener ist. Mit der Anrede wird, wenn diese Vermutung zutrifft, eine kommunikative Praxis eröffnet, in der ein Erwachsener ein Kind adressiert und in gesteigerter Weise um dessen Aufmerksamkeit bemüht ist. Zu berücksichtigen ist, dass das Kind von dem Sprecher zwar als Einzelperson, als Individuum adressiert, jedoch nicht mit seinem Eigennamen angesprochen wird. Das gibt Anlass zu der Lesart, dass Sprecher und Adressat als Repräsentanten unterschiedlicher Generationen zu verstehen sind. Zudem ist zu beachten, dass sich der Titel explizit zwar an ein Kind, implizit aber an einen erwachsenen Leser richtet.¹⁸ Mit der Überschrift wird bei diesem die Erwartung geweckt, dass das Buch von einer kommunikativen Praxis zwischen einem Erwachsenen und einem Kind handelt, die beide als Repräsentanten ihrer Generation in Erscheinung treten. Darüber hinaus wird auch die Erwartung geweckt, dass diese Kommunikation als exemplarische einen Vorbildcharakter hat.Wer das Buch liest, erfährt also, wie zwischen den Generationen kommuniziert werden sollte. Auf den Titel des Buches folgt sodann eine weitere Rahmung und zwar zum einen durch die Basmala: Im Namen Allāhs, des Allerbarmers, des Barmherzigen

Mit diesen Worten macht der Sprecher bzw. der Autor deutlich, in welcher Position er sich selbst sieht und wie er das Folgende verstanden wissen will: Wie der Prophet, dessen Verkündigung im Koran mit der Basmala überschrieben ist,¹⁹  Zum „impliziten Leser“ siehe: Wolfgang Iser, Der implizite Leser: Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett (München: Fink, 1972).  Über jeder Sure mit Ausnahme der neunten ist die Basmala zu lesen. Zu ihrer Deutung siehe: Johannes Twardella, Autonomie, Gehorsam und Bewährung im Koran: ein soziologischer Beitrag zum Religionsvergleich (Hildesheim: Olms, 1999).

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spricht der Autor des vorliegenden Textes als jemand, der sich im Auftrag eines anderen sieht. Mit den sich anschließenden Ausführungen ist zwar kein prophetischer Geltungsanspruch verbunden, aber dadurch, dass der Sprecher für sich eine Stellvertreterschaft in Anspruch nimmt und behauptet, im Auftrag Gottes zu handeln, wird durchaus der Anspruch zum Ausdruck gebracht, dass dasjenige, was im Folgenden ausgeführt wird, dem Willen Gottes entspricht. Wenn die obige Lesart des Titels richtig ist und in dem Werk auf exemplarische Weise dargelegt wird, wie ein Erwachsener mit einem Kind kommunizieren sollte, dann ist die zweite Rahmung so zu interpretieren, dass die Präsentation dieser exemplarischen Kommunikation als eine zu verstehen ist, die mit dem göttlichen Willen im Einklang steht. Wer sich, wie der Autor, Gott unterordnet und sich in seinen Dienst stellt, der kann, ja der sollte sich die dargelegte Kommunikation zum Vorbild nehmen und so handeln, wie dies im Folgenden vorgeführt wird. Zum anderen wird alles Weitere folgendermaßen gerahmt: Alles Lob gebührt Allāh, dem Erhalter der Welten, und den Gottesfürchtigen wird ihr Lohn zuteil werden,

Eine detaillierte Analyse dieser Sequenz ist an dieser Stelle nicht möglich. Festgehalten werden soll allein, dass der Autor mit dieser Äußerung nicht nur performativ – eben indem er selbst Gott lobt – sein Verhältnis zu Gott zum Ausdruck bringt, sondern auch darlegt, wie er das Verhältnis zwischen den Menschen und Gott grundsätzlich sieht: Gott ist für ihn „der Erhalter der Welten“ und sollte deswegen von allen Menschen gelobt werden. Und er ist derjenige, der die Menschen im Jenseits mit dem Paradies belohnen kann. Diesen Lohn erhalten jedoch nicht alle Menschen, sondern nur diejenigen, die ihn fürchten. und Allāhs Segen und Friede seien mit seinem Propheten Mohammed, dessen Familie und Nachkommen.

Wie im islamischen Glaubensbekenntnis findet auch hier der Prophet eine besondere Erwähnung.²⁰ Und wie oben bringt der Sprecher einerseits seine eigene Haltung gegenüber dem Propheten zum Ausdruck, andererseits aber auch die Erwartung, dass alle Menschen dieselbe Haltung einnehmen sollten. Angesichts dessen kann die These formuliert werden, dass die Kommunikation, die im Fol-

 Zum islamischen Glaubensbekenntnis siehe: Johannes Twardella, „Zur Soziologie der Hadithe. Eine exemplarische Analyse des ‚Hadith mit Gabriel‘“, in Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung, Nr. 2 (2012): 199 – 214.

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genden dargelegt wird, auf die Hervorbringung eben dieser Haltung zielt. Und das heißt, exemplarisch wird eine pädagogische Kommunikation präsentiert, die im Auftrag Gottes erfolgt und die ein bestimmtes Ziel hat: Sie ist darauf gerichtet, dass Heranwachsende Gott als „Erhalter der Welten“ anerkennen, ihn fürchten und dem Propheten Gefolgschaft leisten. Kurz: Es geht um die Erziehung Heranwachsender zu Muslimen.

3 Wer kommuniziert mit wem? Die Positionen der pädagogischen Kommunikation Wie beginnt nun die pädagogische Kommunikation, die auf Gottesfurcht und Nachfolge zielt? Einer der fortgeschrittenen Schüler

War zuvor von einem Kind die Rede, geht es nun um einen Schüler. Die exemplarische pädagogische Kommunikation, die hier präsentiert wird, ist also nicht eine zwischen Eltern und Kind, sie ist nicht im Kontext der primären Sozialisation im Rahmen der Familie angesiedelt, sondern sie geschieht zwischen Rollenträgern, zwischen einer Person, die in der Rolle des Schülers agiert, und einer anderen – so ist zu vermuten – in der Rolle des Lehrers.Vorausgesetzt wird also, dass sich in der Gesellschaft diese komplementären Rollen für eine stellvertretende Wahrnehmung pädagogischer Aufgaben ausdifferenziert haben. Bemerkenswert ist nun, dass die pädagogische Praxis, die hier präsentiert wird, damit beginnt, dass der Fokus auf den Schüler gerichtet ist und nicht auf den Lehrer – die pädagogische Kommunikation beginnt mit der Initiative eines Schülers. Durch sie wird sie „in Gang gesetzt“. Was wird über den Schüler ausgesagt? Dass auch sein Name nicht genannt wird, kann erneut dahingehend interpretiert werden, dass die präsentierte pädagogische Kommunikation eine exemplarische sein soll. Darüber hinaus wird deutlich, dass es eine Mehrzahl von Schülern gibt. Diese werden in Bezug auf einen Entwicklungsprozess eingeteilt, in dem es verschiedene Stadien gibt. Der Schüler, um den es hier geht, befindet sich nun nicht im Anfangsstadium, er bewegt sich auch nicht auf mittlerem Niveau, sondern er ist bereits „fortgeschritten“. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob er noch lange Schüler sein wird oder ob sich die Zeit seiner Schülerschaft allmählich ihrem Ende zuneigt. Denkbar wäre, dass es im Folgenden gerade darum geht, also um die Beendigung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses. Wenn diese Hypothese zutreffen sollte,

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dann wäre es erst recht bemerkenswert, dass die Initiative dafür vom Schüler ausgeht. Sie könnte darin bestehen, dass der Schüler den Lehrer fragt, ob er aus dessen Sicht so weit ist, dass das Lehrer-Schüler-Verhältnis beendet werden, bzw. was noch geschehen muss, damit es aufgelöst werden kann. hatte einige Zeit im Dienste des Šayḫ (Meister) Imām, Ḥuǧǧat ul-Islām (Der Beweis des Islam), Zain ud-Dīn (Schmuck der Religion), Abū Ḥāmid Muḥammad ibn Muḥammad alĠazālī – möge Allāh sein Andenken heiligen – verbracht

Während der Name des Schülers unbekannt bleibt, wird derjenige des Lehrers – mitsamt zahlreicher Titel – in aller Ausführlichkeit angeführt. Der Genannte, alĠazālī, hat ebenfalls eine Rolle inne, die Rolle des Lehrers. Das Vorhandensein einer Rolle impliziert stets die Möglichkeit, dass das Personal, welches die Rolle übernimmt, austauschbar ist. Doch im vorliegenden Fall lässt die Nennung des Namens darauf schließen, dass die Besetzung der Rolle keineswegs für beliebig gehalten wird. Im Gegenteil, das Lehrer-Schüler-Verhältnis wird gedacht als eines zwischen einem beliebigen Schüler und einem besonderen, einzigartigen Lehrer, eben al-Ġazālī. Dessen Besonderheit wird dadurch unterstrichen, dass seine verschiedenen Titel erwähnt werden: Der Begriff des Scheichs²¹ kann bekanntlich unterschiedlich verwendet werden, als Bezeichnung für das Oberhaupt eines Verwandtschaftsverbandes, eines Stammes bzw. Clans oder auch als Bezeichnung für das Oberhaupt einer religiösen Gemeinschaft, vor allem eines mystischen Ordens. Der Scheich ist in der Mystik ein spiritueller Führer, der einen oder mehrere Schüler auf den mystischen Pfad führt.²² Verbunden wird mit diesem Begriff in der Regel ein hohes Alter sowie eine sich vor allem aus Erfahrung speisende Weisheit. Im vorliegenden Zusammenhang deutet sich mit der Verwendung des Begriffs eine Deutung der Position des Lehrers an, in der diese entsprechend der mystischen Tradition gedacht wird. Darüber hinaus wird der Begriff des Imam verwendet. Ein Imam ist jemand, der in einer islamischen Gemeinde eine besondere und herausgehobene Position innehat: Er leitet das gemeinsame Gebet. Darüber hinaus kann der Begriff aber auch als Ehrentitel für eine durch besondere Gelehrsamkeit gekennzeichnete Persönlichkeit gebraucht werden. Schließlich werden noch weitere Ehrentitel angeführt, auf die jedoch nicht weiter eingegangen werden muss, sowie der Name selbst.

 Anders als in der Übersetzung wird der Begriff im Deutschen meist in dieser Schreibweise gebraucht.  Zur islamischen Mystik siehe z. B.: Annemarie Schimmel, Die Religion des Islam. Eine Einführung (Stuttgart: Reclam, 1991).

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Bemerkenswert ist nun, dass das Verhältnis zwischen dem Scheich und seinem Schüler als ein Dienstverhältnis bestimmt wird. Das heißt, der Schüler ist dem Scheich eindeutig untergeordnet. Offen bleibt jedoch, in welcher Weise der Schüler dem Scheich zu Diensten ist. Wie dem auch sei: Das Lehrer-Schüler-Verhältnis impliziert hier jedenfalls, dass der Schüler seine Eigenständigkeit aufgibt und sich dem Willen des Scheichs unterwirft. Und der Scheich? Wird davon ausgegangen, dass das Lehrer-Schüler-Verhältnis stets eine Form von Reziprozität darstellt, dann liegt die Vermutung nahe, dass die Leistung des Scheichs darin gesehen wird, dass er dem Schüler seine Führung anbietet. Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf die Struktur der pädagogischen Beziehung sagen, dass diese auf der einen Seite durchaus als rollenförmig gedacht wird – der eine Akteur wird in der Rolle des Schülers gesehen, der andere in der des Lehrers. Während für die Rolle des Schülers jedoch irrelevant zu sein scheint, wer sie besetzt, gilt das für die Rolle des Lehrers keineswegs. Diese wird durch eine einzigartige Person ausgefüllt, der durch die Nennung verschiedener Titel implizit verschiedene Qualitäten zugeschrieben werden – Alter, Gelehrsamkeit, Weisheit und Anerkennung durch die Umma. Diese Qualifikationen sind nicht formalisiert, nicht ausgewiesen durch ein Zertifikat für eine bestandene Prüfung. Und es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass die pädagogische Kommunikation als in einen organisatorischen Rahmen eingebettet gedacht wird, doch ist von einem solchen Rahmen nicht die Rede. Ja, die Vermutung liegt nahe, dass ein solcher nicht als erforderlich erachtet wird: Der Lehrer bedarf keiner Legitimation durch ein in eine Institution eingebettetes Amt, er gewinnt diese vielmehr durch den besonderen Status seiner Person. Seine Legitimation ist charismatischer Natur. Wir haben es hier also mit einem „pädagogischen Arbeitsbündnis“²³ zwischen einem charismatischen Lehrer und einem beliebigen Schüler zu tun.

4 Das Anliegen des Schülers: der Wunsch, sich nützliches Wissen anzueignen Im Folgenden bleibt der Fokus auf dem Schüler und wird Auskunft über dessen Handeln gegeben. Es heißt, er habe sich bemüht,

 Zum Begriff des Arbeitsbündnisses siehe: Ulrich Oevermann, „Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns“, in Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, hrsg. von Arno Combe und Werner Helsper (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999), 70 – 182.

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das Wissen der ihm auferlegten Studien zu meistern

Im Rahmen des pädagogischen Arbeitsbündnisses erhielt der Schüler Aufgaben, ihm wurden „Studien auferlegt“. Sein Anspruch war es sodann, nicht nur durch Studien Wissen zu erlangen, sondern das erworbene Wissen auch zu „meistern“, das heißt in einem hohen Grad zu beherrschen. Offen bleibt, ob das Bemühen auch durch Erfolg gekrönt war. um die feineren Nuancen der Wissenschaft zu beherrschen und die Perfektion der Verfeinerung seines Charakters zu erzielen

Das Ziel war ein doppeltes, es bestand nicht nur im Erwerb von Kenntnissen und einem meisterhaften Können im Umgang mit wissenschaftlichem Wissen, sondern es lag auch darin, den Charakter zu bilden. Offen bleibt, ob auch ein darüber hinausgehendes Ziel angestrebt wurde, etwa die Befähigung zu einer spezifischen Praxis, die dem Erwerb des Lebensunterhalts dient. Da davon nicht die Rede ist, kann vermutet werden, dass die pädagogische Praxis letztlich als zweckfrei gedacht wird und ihr Ziel allein in einer hohen wissenschaftlichen und persönlichen Bildung besteht. Im Folgenden wird ein Wendepunkt angesprochen, es wird beschrieben, wie der Schüler innehält und sich die Situation vergegenwärtigt, in der er sich aktuell befindet: Ich habe verschiedene Wissenschaften studiert

Der Schüler blickt zurück auf das, was er in der Vergangenheit getan hat: Er hat studiert und zwar nicht nur eine Wissenschaft, sondern mehrere Fächer aus dem Kanon der Wissenschaften. Sein Studium war nicht auf eine Spezialisierung hin angelegt, sondern zielte womöglich auf eine universale Gelehrsamkeit. und meine Lebensblüte mit deren Studium und der Anhäufung dieses Wissens zugebracht.

Es zeigt sich, dass der Schüler sich bereits im Erwachsenenalter befindet. Die metaphorische Rede von der „Lebensblüte“ beruht auf einem Vergleich des menschlichen Lebens mit dem einer Pflanze. Deren Blüte ist der Höhepunkt ihrer Existenz, auf dem entweder eine Befruchtung möglich ist und sich eine Frucht bildet oder die Blüte eingeht. Übertragen auf das menschliche Leben bedeutet das, dass die Jahre der Entfaltung, die Zeit der Jugend und auch das Alter als

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junger Erwachsener bereits vorbei sind. Nun ist ein Punkt erreicht, an dem sich die Frage stellt, wie es weitergehen soll.²⁴ Die Formulierung „Anhäufung von Wissen“ lässt zum einen darauf schließen, dass die Studien, welche der Schüler bisher absolvierte, nicht darauf zielten, durch eigene Forschungen neues Wissen zu erzeugen, sondern sich darauf beschränkten, Wissensbestände zu rezipieren, die in „den verschiedenen Wissenschaften“ vorliegen. Zum anderen bestätigt sich, was oben vermutet wurde: Das Studium diente nicht einem außerhalb seiner selbst liegenden Ziel, zum Beispiel der Qualifikation für die Ausübung eines bestimmten Berufes. Es war vielmehr reiner Selbstzweck und zielte allein auf die Bildung des Schülers. Vor dem Hintergrund des Gesagten stellt sich die Frage, aus welchen Quellen sich die Motivation des Schülers speiste, der die besten Jahre seines Lebens für Studien hingab, ohne einen praktischen Zweck vor Augen zu haben.Verschiedene Motivationsquellen sind denkbar: Entweder stand ein ungeheurer Wissensdurst im Hintergrund, der sich womöglich auf alles bezog, was man zur damaligen Zeit wissen konnte, ein Streben nach universaler Bildung.²⁵ Oder die Motivation ergab sich aus dem Verhältnis zum Scheich. Oben wurde bereits gesagt: Der Schüler hat nicht selbst darüber entschieden, welche Wissenschaften er studiert, sondern der Scheich. Dieser hat dem Schüler verschiedene Studien „auferlegt“. Und der Schüler folgte dem Scheich bedingungslos, also ohne zu wissen, wohin dieser ihn führt. Daraus lässt sich schließen: Der Schüler hat sich auf der Basis eines uneingeschränkten, absoluten Vertrauens in die Hände des Scheichs begeben. Dieses Vertrauen impliziert, dass er es nicht für notwendig erachtete, den Scheich nach dem Zweck der Studien zu befragen. Nun ist es an der Zeit,

Auf den Rückblick folgt die Besinnung darauf, was jetzt geboten ist. Die Kontinuität des bisherigen Lebens, das über die Jahre des Wachsens bis hin zur „Blüte“ sich erstreckte, wird nun durchbrochen, ein Wendepunkt ist erreicht. Und an

 Kind ist der Schüler also nicht in dem Sinne, dass er noch jung ist, also in einem Alter, das wir seit Beginn der Neuzeit als „Kindheit“ bezeichnen (Siehe: Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit [München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2011]), sondern im Sinne eines sozialen Verhältnisses zwischen Angehörigen verschiedener Generationen, in dem der Ältere den Jüngeren „erzeugt“, das heißt dermaßen beeinflusst, dass er schließlich sagen kann, der Jüngere sei sein „Kind“.  Möglich ist auch, dass im Hintergrund ein Streben nach einer bestimmten Erkenntnis stand, die in der Wissenschaft gesucht wird; und nachdem sie in der einen Disziplin nicht gefunden wurde, wandte sich der Schüler der nächsten zu. Dann wäre die Situation des Schülers vergleichbar mit derjenigen von Goethes Faust.

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diesem Punkt ist etwas Bestimmtes zu tun, steht der Schüler vor einer Entscheidung. Worin könnte diese bestehen? Verschiedene Möglichkeiten können in Erwägung gezogen werden: Ist es an der Zeit, sich zu fragen, was mit dem angehäuften Wissen getan werden soll, wozu es gebraucht werden könnte? Oder ist es an der Zeit, die Frage zu stellen, ob das Lehrer-Schüler-Verhältnis beendet werden sollte? Was könnte dann folgen? Wird der Schüler dann selbst zum Scheich? herauszufinden, welches Wissen mir in meinem künftigen Leben von Nutzen sein

Es geht nicht um die Frage nach der Beendigung der pädagogischen Beziehung und auch nicht um die nach dem Zweck des Lernens, jedenfalls nicht um einen diesseitigen Zweck. Vielmehr geht es um eine Differenzierung in Bezug auf das Wissen, das der Schüler sich aneignet. An dieses wird nun die Bedingung geknüpft, dass es nützlich sein soll. Im Hintergrund steht offensichtlich der Wunsch, nicht weiter unnützes Wissen anzuhäufen und sich auf die Aneignung nützlichen Wissens zu beschränken. Der entscheidende Punkt ist nun, dass das Wissen nicht für das diesseitige, sondern vor allem für das jenseitige Leben nützlich sein soll. Daran zeigt sich nicht nur, dass der Schüler an ein jenseitiges Leben glaubt, sondern auch, dass ihm dieses besonders wichtig ist. Und das legt die Lesart nahe, dass der Schüler, als er von der „Blüte des Lebens“ sprach, die hinter ihm liegt, meinte, dass nun der Zenit seines Lebens überschritten sei und er sich auf dessen Ende vorbereiten möchte. Dieses Ende fasst er nun ins Auge. Es ist für ihn jedoch kein endgültiges, da nach dem Tod ein neues Leben folgt. Auf dieses will er sich vorbereiten. Und um dies tun zu können, will er wissen, welches Wissen er braucht. Um welches Wissen könnte es sich handeln? Die Formulierung, die der Schüler benutzt, macht deutlich: Es geht nicht um jenes Wissen, welches er benötigt, um im künftigen Leben nicht in die Hölle zu gelangen, sondern ins Paradies. Es geht ihm nicht darum zu wissen, wie er sich im Diesseits bewähren kann. (Wahrscheinlich verfügt er über dieses Wissen bereits.) Es geht ihm vielmehr um ein Wissen, das ihm nützlich sein kann, wenn er schon gestorben ist und sein jenseitiges Leben begonnen hat, also um ein Wissen darüber, was nach dem Tod passiert. und mich ins Grab begleiten wird

Die Vorstellung scheint zu sein, dass das unnütze Wissen mit dem Tod verloren geht, das nützliche hingegen überdauern und dem Toten auch im jenseitigen Leben zur Verfügung stehen wird.

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und welches mir nichts nützt, damit ich es nicht weiter verfolge,

Damit ist der Wendepunkt im Leben des Schülers hinreichend bestimmt: Er möchte nicht weiter Wissen anhäufen, das insofern unnütz ist, als es ihm im Jenseits zu nichts hilft. Für ihn ist die Zeit gekommen, sich ausschließlich auf die Aneignung nützlichen Wissens zu konzentrieren. Damit vollzieht er eine Abkehr von der zweckfreien Bildung und fokussiert seinen Lernprozess, der fortan nur noch einem Zweck dienen soll: dem Leben nach dem Tod. Nur Wissen, was er für jenes Leben gebrauchen kann, will er zukünftig von seinem Scheich erhalten. gemäß den Worten des Gesandten Allāhs – Allāhs Segen sei mit ihm –,

Der Schüler begründet seine Umorientierung, die Wende, die er in seiner Schülerschaft einleitet, mit einem Zitat, welches von Muḥammad stammt. der sagte: „O Allāh, ich suche Zuflucht bei Dir vor unnützem Wissen.“

Auch der Prophet, so wird durch dieses Zitat deutlich gemacht, wollte sich kein unnützes Wissen aneignen, ja, er floh vor ihm zu Gott. Indem der Schüler den Propheten zitiert, legitimiert er seine eigene Wende: Er handelt so, wie der Prophet es vorgemacht hat, folgt also seinem Beispiel. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die exemplarische pädagogische Kommunikation mit der Initiative eines Schülers beginnt. Dieser wendet sich im Rahmen einer durch uneingeschränktes Vertrauen gekennzeichneten Beziehung an seinen Scheich, da er sein Leben – genauer gesagt: sein Lernen – neu ausrichten möchte. Er will eine Wende vollziehen, weg von der zweckfreien Anhäufung wissenschaftlichen Wissens, hin zur Konzentration auf nützliches Wissen. Nachdem er die besten Jahre seines Lebens für die Aneignung von Wissen genutzt hat, hält er nun die Zeit für gekommen, sich auf den Tod bzw. das Jenseits vorzubereiten. Nur noch dasjenige Wissen will er sich aneignen, das er im Jenseits benötigt, von dessen Kommen er wie selbstverständlich ausgeht. Wie antwortet nun der Scheich auf dieses Anliegen?

5 Die Antwort des Meisters und wie sie einzuordnen ist Die Antwort auf die Frage des Schülers wird ebenfalls gerahmt, nämlich durch eine Überschrift. Diese lautet:

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Des Meisters Worte

Die Umschreibung der Antwort als „Worte“ hebt deren Bedeutsamkeit hervor: Der Meister hält keine langen, ausschweifenden Reden, sondern beschränkt sich auf das Wesentliche. Die Rede von Worten, also Aussagen, die entweder nur aus einzelnen Wörtern oder auch aus ganzen Sätzen bestehen, verleiht der Antwort ein besonderes Gewicht. Der Sprecher wird als „Meister“ bezeichnet, also als jemand, der eine bestimmte Tätigkeit „meisterhaft“, das heißt auf nicht zu überbietende Art und Weise ausübt. Er ist ein „Könner“, der anderen – seinen Schülern – sein Wissen und Können zu vermitteln vermag. Er antwortet nun, weil er den Schüler, der ihn adressierte, als seinen Schüler betrachtet, und er nimmt damit innerhalb des Lehrer-Schüler-Verhältnisses seine Aufgabe des Führens wahr.²⁶ Die Antwort des Meisters beginnt folgendermaßen: Wisse,

Auf den ersten Blick gesehen wirkt dieser Sprechakt befremdlich: Entweder hat jemand ein Wissen und muss nicht dazu aufgefordert werden, ein solches zu haben, oder er hat es nicht. Und wenn er es nicht haben sollte, dann ist es zwecklos, ihn zu diesem Wissen aufzufordern, vielmehr muss es ihm vermittelt, muss er belehrt werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Imperativ als Aufforderung zu verstehen ist, das Wissen, das der Meister im Folgenden präsentiert, aufmerksam in Empfang zu nehmen und sich belehren zu lassen. o Sohn und geliebter Freund

Der Adressat, der Schüler, wird auf zweifache Weise angesprochen, zum einen als Sohn, das heißt in Kategorien der Verwandtschaft, zum anderen als Freund. Während die Vater-Sohn-Beziehung dadurch gekennzeichnet ist, dass sie zum einen „naturwüchsig“ besteht und zum anderen durch eine Differenz der Generationen gekennzeichnet ist, die bedingt, dass der Vater eine – unter anderem erzieherische – Verantwortung trägt, beruht die Beziehung zwischen Freunden auf einer Wahl bzw. Entscheidung; sie ist also nicht notwendig durch eine Ge Offen ist, welcher Art das Wissen ist, auf dem das Können des Meisters beruht: Handelt es sich um ein aus Erfahrung gewonnenes Wissen oder um ein wissenschaftliches Wissen? Angesichts dessen, dass von einer Ausdifferenzierung einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen der Pädagogik zur Zeit von al-Ġazālī nicht ausgegangen werden kann, handelt es sich um ein Erfahrungswissen, das der „Meister“ besitzt.

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nerationendifferenz gekennzeichnet und auch nicht mit einer erzieherischen Verantwortung verbunden. Mit der Anrede als Sohn signalisiert der Meister, dass er sich gegenüber dem Schüler – als sei er sein leiblicher Sohn – in einer pädagogischen Verantwortung sieht. Und mit der Anrede als Freund macht er gleichzeitig deutlich, dass er das Verhältnis zu seinem Schüler als ein symmetrisches betrachtet. Das LehrerSchüler-Verhältnis ist aus der Perspektive des Meisters also durch zwei unterschiedliche Gruppen von Ansprüchen bestimmt: jenen, die aus der Verantwortlichkeit, und jenen, die aus einer symmetrischen, reziproken, auf Zuneigung basierenden Beziehung resultieren. Wichtig ist darüber hinaus, dass die Rollenförmigkeit des Lehrer-SchülerVerhältnisses implizit negiert und dieses in ein Verhältnis zwischen „ganzen Personen“²⁷ transformiert wird. möge Allāh dir ein langes Leben im Gehorsam gegen Ihn erhalten.

Die Nähe und Zuneigung des Meisters zu seinem Schüler artikuliert sich unmittelbar in einem Wunsch. Dieser bezieht sich auf das Leben des Schülers, das zum einen „lang“ sein, zum anderen „im Gehorsam“ gegen Gott vollzogen werden möge. Die Erfüllung dieses Wunsches wird abhängig von Gott und seinem Handeln gesehen – letztlich entscheide dieser darüber. Dabei wird vorausgesetzt, dass beide – die Dauer und der Gehorsam – im Moment gegeben sind. Der Wunsch zielt darauf ab, dass es so bleibt – und seine Erfüllung wird, wie gesagt, als von Gott abhängig gesehen: Er möge dies so „erhalten“. und dich auf dem Pfad derer geleiten, die Er liebt –

Schon im ersten Teil des Wunsches kam eine bestimmte Vorstellung in Bezug auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch zum Ausdruck: Man könnte meinen, dass die Frage, ob der Schüler gehorsam gegenüber Gott ist oder nicht, von diesem selbst abhängt. Ebenso könnte man nun davon ausgehen, dass der Meister sich selbst dafür als verantwortlich sieht, den Schüler „auf dem Pfad“ zu leiten. Es wird jedoch deutlich, dass er beides als von Gottes Willen abhängig betrachtet: Der Schüler bleibt nur gehorsam und er selbst als Meister kann seinen Schüler nur auf dem Pfad leiten, wenn dies im Einklang mit dem Willen Gottes steht. Darin

 Zum Begriff der „ganzen Person“ siehe: Johannes Twardella, „Rollenförmig oder als ‚ganze Person‘? Ein Beitrag zur Diskussion über die Professionalisierungstheorie und die Struktur pädagogischen Handelns“, in Pädagogische Korrespondenz, Nr. 33 (2005 2004): 65 – 74.

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kommt kein konsequenter Determinismus zum Ausdruck, wohl aber die Vorstellung, dass Gottes Macht über diejenige der Menschen hinausgeht: Das Bemühen des Menschen kann nur Erfolg haben, wenn Gott dies will. Und wie Gott seine Macht nutzt, hängt von seiner Liebe ab: Es ist nicht so, dass der Schüler von Gott geliebt wird, weil dieser sich bemüht, rechtschaffen zu sein, sondern umgekehrt: Er wird von Gott geleitet, weil dieser ihn liebt. Die Liebe Gottes steht am Anfang.²⁸ aller guter Rat liegt ausgebreitet in der Schatzkammer der Botschaft des Propheten – Allāhs Segen und Heil auf ihm.

Zunächst kann festgehalten werden, dass der Meister die Frage des Schülers als Bitte um einen Rat interpretiert, also als Bitte um Antwort auf eine Frage nach dem, was zu tun ist. Der Meister sieht sich also selbst als jemand angesprochen, der Erfahrung besitzt und deswegen einen Rat zu erteilen vermag. Und – dies ist der Rede von einem Rat ebenfalls implizit – er sieht den Schüler als jemanden, der diesen Rat annehmen oder auch ablehnen kann. Denn ein Rat besitzt keine Verbindlichkeit. Mit ihm überlässt der Meister die Entscheidung letztlich dem Schüler. Bemerkenswert ist zudem, dass der Meister nicht selbst einen Rat erteilt, sondern darauf verweist, nicht nur jener Rat, den der Schüler zu erhalten wünscht, sondern aller Rat sei in der prophetischen Botschaft, das heißt im Koran zu finden. Egal also, welches praktische Problem jemand hat, für alle Fragen lässt sich dort eine Antwort finden. Der Koran ist, so der Meister, der universelle Ratgeber schlechthin. Zu ergänzen ist: Als Meister hätte der Sprecher auf die Frage des Schülers auch selbst eine Antwort geben können. Indem der Meister nicht unmittelbar selbst antwortet, sondern auf den Koran Bezug nimmt, ordnet er sich diesem unter und begibt sich in die Position eines Mittlers zwischen dem Koran und dem Schüler. Wie wird er diese Position ausfüllen? Wird er den Schüler dazu auffordern, den Koran zu lesen? Wird er ihm bestimmte Stellen nennen, in denen dieser eine Antwort auf seine Frage finden kann? Oder wird er diese Stellen zitieren und für den Schüler sodann auslegen, damit er sie angemessen versteht? Oder wird er von seiner Erfahrung erzählen, die er machte, als er den Koran las und sich nach ihm zu richten begann?

 Zugrunde liegt, wie Tilman Nagel es formuliert hat, „ein gänzlich neu ausgelegter Eingottglaube“ (410), demzufolge Gott als die letztlich handelnde Instanz gedacht wird, allerdings nicht als „willkürlich und undurchschaubar handelnder Despot“, sondern als „Schöpfer, der unablässig seine Geschöpfe und deren Wohl im Sinn hat“ (412).

Pädagogisches Denken im Islam am Beispiel von al-Ġazālīs „O Kind!“

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Für den Koran wird die Metapher der „Schatzkammer“ verwendet. Das kann als Hinweis darauf interpretiert werden, dass es schwierig sein könnte, diesen Schatz zu finden. Oder es soll gesagt werden, dass es schwierig ist, die Kammer zu öffnen und den Schatz zu „heben“. Die Metapher besagt aber vor allem: Wenn einmal die Schatzkammer gefunden und der Schatz gehoben wurde, dann sind weitergehende Bemühungen nicht mehr erforderlich. Der Mensch besitzt dann einen enormen Reichtum und muss sich um sein Auskommen keine Sorgen mehr machen. Und dieser Reichtum ist ein Reichtum an Ratschlägen. Für alle Lebenslagen kann der Mensch auf diese Ratschläge zugreifen und sie nutzen. Entscheidend ist, einen Zugang zum Koran zu finden. Dabei kann der Meister als Mittler behilflich sein. Falls dir von dort Rat zuteil wurde, welches Rates bedarfst du dann von mir?

Der Meister stellt explizit heraus, dass er zusätzlich zu dem Rat, der im Koran zu finden ist, dem Schüler nichts bieten kann. Ist er dann überhaupt noch notwendig? Kann der Schüler dann nicht eigenständig den gewünschten Rat dem Koran entnehmen? Davon wird offensichtlich nicht ausgegangen. Und falls du ihn dort nicht gefunden hast, so sage mir: Was hast du dir in all diesen Jahren zu eigen gemacht?

Der Schüler war in der Schatzkammer, er hat den Koran gelesen. Wie kommt es dann – das scheint sich der Meister zu fragen –, dass er dennoch nach Rat fragt? Was hat er sich die ganze Zeit angeeignet? Die Aufgabe des Meisters kann nun entweder darin bestehen, den Schüler angesichts seiner lückenhaften und unvollständigen Lektüre des Korans auf diejenigen Stellen hinzuweisen, an denen er eine Antwort auf seine Frage findet. Oder er hilft ihm bei der Deutung von Stellen, die der Schüler zwar gelesen, aber nicht verstanden hat. Festhalten lässt sich, dass sich der Meister dem Koran klar unterordnet: Letztlich findet sich aller Rat in ihm und er selbst kann dem nichts hinzufügen. Und indem der Meister sich der Autorität des Korans unterordnet, stellt er sich auf eine Stufe mit dem Schüler, der zuvor als Freund adressiert wurde und als jemand, der letztlich für sich selbst verantwortlich ist. Gleichzeitig sieht sich der Meister jedoch auch – wie der Vater gegenüber seinem Sohn – in einer pädagogischen Verantwortung gegenüber dem Schüler. Daraus resultiert die Bereitschaft, diesem beim „Heben“ des Schatzes, also beim Finden eines passenden Rates aus dem Koran und dessen Deutung behilflich zu sein.

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6 Die erste pädagogische Antwort: eine Ermahnung O Kind

Erneut erfolgt jene Anrede, die aus dem Titel des Buches bekannt ist. Diese wurde interpretiert als Ankündigung einer exemplarischen pädagogischen Kommunikation. Dadurch dass sie aufgegriffen wird, wird deutlich: Die pädagogische Kommunikation beginnt nun erst richtig. zu dem Vermächtnis des Rats, das der Gesandte Allāhs – Allāhs Segen und Friede sei mit ihm – seiner Gemeinde hinterließ,

Der Meister beginnt seine Antwort damit, dass er die Quelle nennt, auf die er sich mit seiner Antwort bezieht: Die Antwort stammt nicht unmittelbar von ihm, sondern aus dem Vermächtnis, dem Erbe, das Muḥammad hinterlassen hat. Dieses Erbe ist kein materielles, sondern ein ideelles, es sind der Koran und die Hadithe. Zu beachten ist, dass das Erbe dem Meister zufolge kein universelles ist – nicht der Menschheit wurde es vererbt, sondern allein der islamischen Gemeinde. gehören die folgenden seiner Aussagen:

Die Art, wie der Meister antwortet, ist nun klar. Sie kennzeichnet, dass er sich auf die zentralen religiösen Quellen bezieht, den Koran und die Hadithe, und dass er in Reaktion auf die ihm gestellte Frage passende Passagen daraus auswählt und zitiert. Das gibt Anlass zu der Vermutung, dass gerade darin seine Meisterschaft besteht: die Quellen zu kennen, genauer gesagt, sie so gut zu kennen, dass er auf jede Frage eine passende Antwort daraus zu zitieren vermag. Und das heißt: Die pädagogische Kommunikation kennzeichnet, dass der Lehrer einerseits auf die Frage des Schülers eingeht und auf sie eine passende Antwort gibt. Diese Antwort wird aber andererseits nicht in Bezug auf den Schüler (der zudem nicht als ein individueller in Erscheinung tritt) modifiziert, sondern – auf der Basis der Prämisse, dass aller Rat in den Quellen zu finden ist – schlicht zitiert. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob darüber hinaus auch eine Deutung des Zitats gegeben wird. Ein Zeichen, daß Allāh taʿālā sich von Seinem Knecht abgewandt hat, ist,

Die Antwort bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Gott und seinem Knecht, genauer: einem seiner Knechte. Das Verhältnis ist also ein asymmetrisches, ein

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Dienstverhältnis, innerhalb dessen der Knecht all das zu tun hat, was der Herr, Gott, befiehlt. Und über dieses Verhältnis wird in dem Sinne abstrakt gesprochen, als nicht auf einen bestimmten Knecht – etwa den Schüler – eingegangen wird, sondern auf jeden, der sich in der Position des Knechtes befindet. Jeder Mensch kann dies also sein. Und es wird davon ausgegangen, dass es grundsätzlich zwei Möglichkeiten gibt, wie das Verhältnis zwischen Gott und seinem Knecht beschaffen sein kann: Entweder ist Gott dem Knecht zugewandt, sodass dieser also Gottes Aufmerksamkeit genießt, oder Gott hat sich von ihm abgewandt. Die Frage ist nun zum einen, was es für den Menschen bedeutet, dass Gott sich ihm entweder zu- oder sich von ihm abgewandt hat, und zum anderen, warum Gott das macht. Ist Gottes Handeln abhängig von demjenigen seines Knechts, reagiert Gott auf dieses? Bemerkenswert ist, dass auf die zuletzt angeführte Frage nicht eingegangen wird,²⁹ sondern lediglich behauptet wird, dass es erkennbar ist, wenn Gott sich – aus welchen Gründen auch immer – abgewandt hat: Dafür gibt es „Zeichen“. Doch welche Zeichen sind das? daß jener sich mit Dingen beschäftigt, die ihm keinen Nutzen bringen,

Es heißt nicht, dass Gott sich von einem Menschen abwendet, weil dieser sich mit unnützen Dingen beschäftigt. Vielmehr lässt sich an dieser Beschäftigung erkennen, dass Gott dem Menschen nicht mehr zugewandt ist. Das lässt sich auch auf den Schüler beziehen: Wenn dieser sich mit Studien befasst, die keinen Nutzen bringen, ist das ein Hinweis darauf, dass Gott sich von ihm abgewandt hat. Konkret heißt das: Da der Schüler sich nun nur noch mit nützlichen Dingen befassen will, mag es zwar sein, dass er zuvor Unnützes getan hat und Gott ihm nicht zugewandt war; jetzt aber, da er sich auf Nützliches konzentrieren möchte, ist nicht ausgeschlossen, dass Gott sich ihm zugewandt hat. Es ist also richtig, dass der Schüler nicht weiter Wissen anhäuft, sich zweckfrei bildet, ohne dass klar ist, wozu es ihm nützt, sondern er sich darauf beschränken möchte, nur noch nützliches Wissen zu erlangen. und ein Mensch, der eine Stunde seines Lebens mit anderen Dingen verstreichen läßt als mit der Erfüllung der Pflichten gegenüber Gott,

Die Pflichten, die ein Mensch gegenüber Gott hat, gilt es ununterbrochen zu erfüllen. Nicht einmal eine Stunde lang sollte jemand diese missachten. für die er geschaffen wurde,

 Das entspricht dem oben bereits bestimmten Verhältnis zwischen Gott und den Menschen.

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Das Leben des Menschen hat seinen Sinn und Zweck nicht in sich selbst, sondern es ist dem Menschen nur gegeben worden, damit er die Pflichten gegenüber Gott erfüllt. dem steht die Verlängerung seiner Drangsal zu.

Vorausgesetzt wird, dass derjenige, vom dem hier die Rede ist, eine „Drangsal“ erleiden werde. Was ist damit gemeint? Drangsal bedeutet, dass jemand nicht frei ist, dass er belastet und bedrängt wird.Wodurch? Durch etwas, das für ihn negativ ist und ihn in Not und Bedrängnis bringt. Zu unterscheiden ist an dieser Stelle zwischen einer irdischen und einer jenseitigen Not. Und zu vermuten ist, dass hier von einer jenseitigen Not gesprochen wird, verursacht durch Strafen Gottes. Diese können zeitlich variieren, sie können entweder länger oder auch kürzer dauern. Das zeitliche Ausmaß der Strafen hängt nun davon ab, wie viel Zeit ein Mensch in seinem diesseitigen Leben mit Dingen verbringt, zu denen er nicht verpflichtet ist. Macht er ausschließlich dasjenige, was seine Pflicht ist, wird seine „Drangsal“ nicht verlängert. Doch schon „eine Stunde“, in der er etwas anderes macht, wirkt sich negativ aus und führt dazu, dass sich seine Bestrafung im Jenseits verlängert. Und wer das Alter von vierzig Jahren erreicht hat,

Das Alter von 40 Jahren ist eine Zäsur. Die ersten 40 Jahre eines Lebens unterscheiden sich von den folgenden. Warum? Die Vorstellung könnte sein, dass ein Mensch mit 40 Jahren nicht nur erwachsen ist, sondern auch – bezogen auf das gesamte Leben – einen Höhe- und Wendepunkt erreicht hat. Und an diesem Punkt sollte eine bestimmte Entwicklung abgeschlossen sein, sollte der Mensch die Frage des Bekenntnisses und einer entsprechenden Lebensführung entschieden haben. und das Gute in ihm überwiegt nicht das Böse,

Diese Aussage bezieht sich nicht auf Taten, die ein Mensch in den ersten 40 Jahren seines Lebens vollbracht hat, sondern auf „das Gute“ und „das Böse“ als Persönlichkeitsanteile. Bezogen auf diese wird zu einem bestimmten Zeitpunkt, eben im Alter von 40 Jahren, eine Bilanz gezogen.Wenn an diesem Zeitpunkt die Bilanz negativ ausfällt, was dann? der möge sich auf das Feuer vorbereiten.

Pädagogisches Denken im Islam am Beispiel von al-Ġazālīs „O Kind!“

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Mit dem Feuer ist, davon kann ausgegangen werden, dasjenige der Hölle gemeint. Und das heißt: Nicht erst im Jenseits, also vor dem jenseitigen Gericht, entscheidet sich, ob jemand mit dem Paradies belohnt oder mit den Qualen der Hölle bestraft wird.Vielmehr steht das schon vorher fest, nämlich ab dem 40. Lebensjahr.Von da ab lässt sich am jenseitigen Schicksal nichts mehr, zumindest nichts Grundsätzliches mehr ändern. Womöglich hat der Mensch noch einen Einfluss darauf, wie lange er mit den Höllenqualen bestraft wird. Aber dass diese Strafe kommen wird, steht nun fest. Das Alter von 40 Jahren ist also ein kritischer Punkt, an dem eine erste Entscheidung in Bezug auf das Schicksal im Jenseits getroffen wird. Es ist ein point of no return. In späteren Jahren lässt sich dieses Urteil nicht mehr vollständig korrigieren. Und in diesen Ermahnungen ist Genüge für Menschen von Wissen.

Nun wird im Sinne eines Metakommentars explizit gemacht, wie das Zitat zu verstehen ist, nämlich als eine Ermahnung. Eine Ermahnung setzt voraus, dass derjenige, an den sie gerichtet ist, die Erwartung bzw. die Norm, nach der er sich richten soll, kennt. Eine Ermahnung ist insofern vergleichbar mit einer Erinnerung, jedoch mehr als eine solche. Eine Erinnerung kann sich – im Unterschied zu einer Ermahnung – auch auf etwas Nicht-Normatives beziehen, ein Geschehen, eine Aussage oder Ähnliches. Eine Ermahnung ruft hingegen immer eine Norm in Erinnerung. Und sie enthält den Appell, sich nach dieser Norm zu richten. Eine Ermahnung unterscheidet sich von einer Drohung insofern, als sie nicht unmittelbar auf mögliche Sanktionen verweist. Diese stehen zwar im Hintergrund und die Möglichkeit, sie zu nutzen, besteht durchaus. Doch die Ermahnung setzt darauf, dass der Einsatz der Sanktionen (noch) nicht erforderlich ist, weil der Adressat, wenn er an die Norm erinnert und zu deren Befolgung angehalten wird, auch folgsam ist, ohne dass mit Sanktionen gedroht werden muss. Genau darauf verweist der Satz: Eine Ermahnung reicht aus bei denjenigen, die „Wissen“ besitzen. Zieht man den Kontext hinzu, kann die Lesart formuliert werden, dass implizit auf den Schüler Bezug genommen wird: Er verfügt über das besagte Wissen. Und er befindet sich bereits in einem fortgeschrittenen Alter. Womöglich trifft auf ihn zu, dass er schon 40 Jahre alt ist. Die Ermahnung gilt also auch ihm.

7 Fortsetzung der Erziehung mit anderen Mitteln Nachdem zunächst analysiert wurde, wie der Schüler konzipiert wird, welche Frage er vorbringt und wie der Meister charakterisiert wird, wurde exemplarisch

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die erste Antwort des Meisters interpretiert. Von grundlegender Bedeutung dafür war, dass der Meister sich der Autorität der religiösen Quellen, also dem Koran und den Hadithen, unterordnet. Er tritt als Mittler auf, der aus ihnen zitiert, und zwar in einem pädagogischen Sinn, als Ermahnung. Den folgenden Text kennzeichnet in formaler Hinsicht, dass er – weiterhin – in Abschnitte gegliedert ist, die immer wieder mit der Anrede „O Kind“ beginnen. Inhaltlich kann gesagt werden, dass es um unterschiedliche erzieherische Maßnahmen geht: So wird zum Beispiel ein negatives Beispiel präsentiert, nämlich dasjenige eines Philosophen bzw. eines Gelehrten, der sich Wissen aneignete, das keinen praktischen Nutzen hatte. Er werde „am jüngsten Tag am härtesten bestraft“. Und um die Behauptung zu beglaubigen, dass nicht unnützes Wissen, sondern nur pflichtgemäße Taten wie zum Beispiel Verbeugungen beim Gebet im Jenseits Nutzen bringen werden, wird eine Überlieferung zitiert, der zufolge jemand von einer Person geträumt hat, die vor Kurzem gestorben ist. Im Traum habe sie an den Toten die Frage gerichtet, wie es ihm im Jenseits ergangen sei. Darauf habe dieser die Antwort gegeben, nur Verbeugungen hätten ihm dort etwas genutzt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass verschiedene erzieherische Mittel verwendet werden: die unmittelbare Anrede, die Vergegenwärtigung der Endlichkeit, was den Bewährungsdruck für den Schüler erhöht, die Ermahnung, die Drohung sowie die Präsentation von positiven und negativen Vorbildern. Von zentraler Bedeutung für die pädagogische Praxis, die hier exemplarisch durchgeführt wird, sind der Verweis auf das Jenseits und die Vorstellung von einem dortigen Gericht. Dieser Verweis setzt darauf, dass der Schüler, der an das jenseitige Gericht glaubt, sich letztlich selbst erziehen und sein Leben so führen werde, dass er darauf hoffen kann, im Jenseits keine bzw. nur geringe Strafen zu erhalten. Wie der Schüler zu handeln, wie er sein Leben zu führen hat, das wird im Folgenden in vier Geboten zusammengefasst. Sie beziehen sich auf die Glaubensvorstellungen des Schülers, das Verhältnis zu seinen vergangenen Taten, sein Verhältnis zu Mitmenschen und das Wissen der Scharia. In Bezug auf die Glaubensvorstellungen des Schülers ist wichtig, dass sie keine bidʿa, also keine illegitimen Neuerungen, enthalten dürfen. Der Schüler wird damit auf eine konservative Haltung verpflichtet, die sich jeder Neuerung verschließt. Voraussetzend, dass er sich in der Vergangenheit nicht kontinuierlich an die religiösen Pflichten gehalten hat, wird von ihm zudem verlangt, eine „aufrichtige Tauba (Reue)“ zu zeigen. Als „aufrichtig“ gilt sie nur dann, wenn der Schüler in Zukunft nicht mehr „rückfällig“ wird, also jedes deviante Handeln vermeidet. Was sein Verhältnis zu Mitmenschen betrifft, wird dem Schüler geboten, alles zu tun, damit diese keine legitimen Forderungen an ihn stellen können. Dieses Gebot basiert auf der Vor-

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stellung, dass offene Forderungen, die berechtigt erhoben werden, den sozialen Frieden gefährden könnten. Das soll vermieden werden. Das letzte Gebot fordert eine Beschränkung der Aneignung von Wissen auf dasjenige, welches nützlich ist: das Wissen der Scharia und dessen, was für die „Errettung dienlich“ ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Schüler mit diesen vier Geboten dazu aufgefordert wird, sein Leben radikal zu ändern: Er wird aufgefordert zu einer konservativen Glaubenshaltung, die Neuerungen ablehnt, zu einer Lebensführung, in der es zu keinen Devianzen mehr kommt, zu einem Verhältnis gegenüber seinen Mitmenschen, bei dem er keinen Anlass zu Konflikten liefert, und zu einer Beendigung seines ziellosen Studiums zugunsten einer funktionalen Aneignung von Bewährungswissen, das heißt einer Aneignung nur jenes Wissens, das für die Erlangung einer Belohnung im Jenseits notwendig ist.

8 Das Lehrer-Schüler-Verhältnis und seine pädagogische Bedeutung Bisher wurde eine konkrete pädagogische Praxis exemplarisch vorgestellt: die pädagogische Kommunikation zwischen einem Schüler und seinem Scheich. Im Folgenden wird dieses Lehrer-Schüler-Verhältnis selbst zum Gegenstand gemacht, indem es heißt: Wisse, daß der Wanderer auf diesem Weg eines Šayḫs als Wegweiser und Erzieher bedarf,

Die Metaphorik des Weges und des Wanderns ist nicht schwer zu verstehen, sie steht für das Leben des Menschen.³⁰ Der Weg, auf dem der Wanderer sich befindet, wird an anderer Stelle auch als „Weg der Wahrheit“ bezeichnet, wobei „Wahrheit“ sich entweder auf den Weg selbst beziehen kann oder auf das Ziel, zu dem der Weg führt. Deutlich wird damit, dass die pädagogische Praxis weder auf eine bestimmte berufliche Praxis noch auf die Bildung der Persönlichkeit und auch nicht nur darauf abzielt, dass der Mensch als Muslim lebt, sondern dass sie zur „Wahrheit“ führen soll. Während die Wissensbestände, die der Schüler sich

 Hier zeigt sich auch al-Ġazālīs Nähe zur islamischen Mystik, zum Sufismus, in dem die WegMetapher für die mystische Suche nach Wahrheit und Gotteserfahrung steht. Auf al-Ġazālīs Verhältnis zum Sufismus kann im vorliegenden Text nicht weiter eingegangen werden. Siehe dazu aber: Steffen Stelzer, „Al-Rafīq qabla l-ṭarīq: Remarks on al-Ghazālī’s View of Sufism as a Way of Learning Religion“. In Knowledge and Education in Classical Islam: Religious Learning between Continuity and Change. Band 1, hrsg. von Sebastian Günther (Leiden; Boston: Brill, 2020), 244– 59.

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bisher aneignete, relativ waren, ist die Wahrheit, von der hier gesprochen wird, absolut. Sie liegt jenseits aller Zweifel und ist mit uneingeschränkter Gewissheit verbunden. Entscheidend ist nun nicht nur, dass behauptet wird, es gebe nur einen Weg der Wahrheit, sondern auch, dass derjenige, der diesen Weg gehen möchte, einer anderen Person bedarf – ihn alleine zu beschreiten, sei also nicht möglich. Der Mensch – ja, jeder Mensch – ist angewiesen auf die Hilfe einer anderen Person und diese wird bezeichnet als Scheich. Das Meister-Schüler-Verhältnis, das zuvor exemplarisch dargestellt wurde, wird nun als eines begriffen, das jeder eingehen muss, wenn er den „Weg der Wahrheit“ gehen bzw. zur Wahrheit gelangen möchte. Es ist das für einen Muslim einzig mögliche Modell, wenn er zur Wahrheit, zu Gott, gelangen möchte. Dasjenige, was der Scheich leistet, wird bezeichnet als „Wegweisung und Erziehung“. Wegweisung heißt zu zeigen, wo sich der Weg befindet und wie er verläuft. Das kann entweder verbal oder nonverbal geschehen: Der Scheich beschreibt, erklärt und legt dar, wie der Weg verläuft, oder er zeigt es, indem er auf ihm vorangeht, sodass der Mensch ihm folgen kann. Hinzu kommt die Erziehung. Um auf dem Weg der Wahrheit zu bleiben, ist es wichtig, nicht nur ein Wissen darüber zu haben, sondern auch bestimmten Normen zu folgen und bestimmte Werte zu besitzen. Und eine Selbsterziehung reicht dafür nicht aus, vielmehr bedarf es auch dazu eines Scheichs. der ihn leitet und fähig ist,

Nun wird angesprochen, was der Scheich für Fähigkeiten besitzen muss, um „Wegweisung und Erziehung“ leisten zu können. seine schlechten Charakterzüge durch seinen erzieherischen Einfluss zu beseitigen und mit edler Natur zu ersetzen.

Es wird allmählich klar, was unter Erziehung verstanden wird. Sie bezieht sich auf die Person des Menschen, auf seinen Charakter. Bemerkenswert ist, dass davon ausgegangen wird, dass der Mensch immer „schlechte Charakterzüge“ besitzt. Liegt hier eine negative Anthropologie zugrunde oder soll nur gesagt werden, dass, wenn ein Mensch „schlechte Charakterzüge“ haben sollte, diese dann durch den Scheich beseitigt werden können? Auffällig ist zudem, dass es nicht heißt, der Scheich müsse die Fähigkeit besitzen, schlechte Charakterzüge durch gute zu ersetzen, sondern „mit edler Natur“. Und es irritiert die Präposition „mit“. Bezieht sie sich auf den Scheich, wird also behauptet, dass dieser eine „edle Natur“ besitze und erzieherisch ein-

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setze? Oder geht es darum, dass die Erziehung des Scheichs bewirkt, dass an die Stelle „schlechter Charakterzüge“ beim Menschen eine „edle Natur“ tritt? Und lässt sich daraus schließen, dass nicht von einer negativen, sondern im Gegenteil von einer positiven Anthropologie ausgegangen wird, der zufolge der Mensch grundsätzlich eine „edle Natur“ besitzt? Steht hier die Vorstellung im Hintergrund, dass der Mensch trotz einer „edlen Natur“ durch negative Einflüsse „schlechte Charakterzüge“ entwickeln kann – und dann eines Scheichs bedarf, der allein dazu fähig ist, diese wieder zu beseitigen? Die Bedeutung der Erziehung gleicht der Arbeit eines Bauern,

Nun wird ein Vergleich gezogen, und zwar von unterschiedlichen Tätigkeiten. Genauer gesagt, es wird nicht unmittelbar die Arbeit eines Erziehers mit der eines Bauern verglichen. Das wäre zu direkt und würde sofort den Einwand evozieren, dass beides nicht miteinander vergleichbar sei. Dieser Einwand könnte argumentativ gestützt werden, indem darauf verwiesen wird, dass die Arbeit des Erziehers im Wesentlichen eine geistige, die des Bauern jedoch eine körperliche ist. Die Formulierung „Bedeutung der Erziehung“ weist aber darauf hin, dass es nicht um einen einfachen Vergleich geht und eine Deutung vorgenommen werden muss. der Dornen und Unkraut zwischen der Saat jätet, um ihr Gedeihen zu fördern und eine optimale Ernte zu erzielen.

Die Vorstellung ist, dass der Mensch gute und schlechte Charakterzüge besitzt; und offen bleibt, ob diese als von Geburt an vorhanden angesehen werden oder die Vorstellung ist, dass sie sich erst im Laufe eines Lebens entwickeln. Die Aufgabe des Erziehers besteht angesichts dessen darin, die schlechten Charakterzüge zu beseitigen – so wie der Bauer „Dornen und Unkraut“ entfernt. Ist das geschehen, können sich die guten Charakterzüge bzw. kann sich die „edle Natur“ unbeeinträchtigt entfalten – so wie die Saat sich entfalten kann, wenn das Unkraut gejätet wurde. Unabhängig davon, ob die guten oder schlechten Charakterzüge als immer schon vorhanden (Natur) oder als im Laufe des Lebens entstanden gedacht werden, sind sie, wenn der Mensch sich auf den Weg der Wahrheit begeben möchte, jedenfalls vorhanden. Und diesen Weg kann er nur erfolgreich gehen, wenn er einen Scheich hat, der ihn erzieht.

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9 Die Ableitung des Charismas des Scheichs aus einem „geistlichen Stammbaum“ Im Folgenden wird begründet, warum der Mensch notwendig auf einen Scheich angewiesen ist: denn Allāh sandte denen, die ihm huldigen, einen Propheten, um sie zu seinem Weg zu leiten.

Die Vorstellung ist: Es gab Menschen, die glaubten an Gott, verehrten ihn, wussten aber nicht, wie sie ein Leben führen können, das seinem Willen entspricht und zu ihm führt. Dazu bedurfte es eines Propheten, der ihnen sagt, wie sie handeln sollen. Und als er (der Prophet) – Allāhs Segen und Heil auf ihm – die Welt verließ, setzte er Ḫulafāʾ (Mz. v. Ḫalīfa – stellvertretender Nachfolger, Kalif) an seiner Statt ein, damit diese die Führung zu Allāh taʿālā übernähmen.

Auch hier wird vorausgesetzt: Eine Führung ist notwendig. Ursprünglich lag diese beim Propheten. Bevor dieser starb, sorgte er dafür, dass auch nach seinem Tod die Menschen eine Führung erhalten. Dies konnte nicht allein durch den Koran und die Hadithe geschehen.Vielmehr war eine personale Führung notwendig. Für diese wurde – so die Behauptung – von Muḥammad gesorgt, indem er etwas Neues schuf: die Position seiner Stellvertreter. Die Voraussetzung für den Šayḫ, der geläutert ist, ein Stellvertreter des Propheten – Allāhs Segen und Heil auf ihm – zu sein, ist,

Es ist nicht gesagt, dass nur ein Scheich ein Stellvertreter Muḥammads sein kann, aber er ist einer der möglichen Kandidaten für diese Position. Im Folgenden wird dargelegt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Scheich diese Position einnehmen kann. Die Analyse abkürzend kann festgehalten werden, dass den Ausführungen zufolge Wissen allein nicht genügt, auch nicht das Fehlen einer „Begierde nach Ruhm und Stellung“. Vor allem ist bedeutsam, dass ein Scheich, selbst einem Menschen von Einsicht und Wissen gefolgt war,

Anders gesprochen: Nur derjenige kann Scheich sein, der zuvor selbst einmal Schüler war und einem Scheich gefolgt ist. Das Scheichtum wird gedacht als et-

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was, das im Rahmen eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses an die jeweils folgende Generation „vererbt“ wird. dessen geistlicher Stammbaum kontinuierlich bis auf den besten aller Gesandten (Mohammed, Allāhs Segen und Heil auf ihm) zurückgeht,

Was ist ein „geistlicher Stammbaum“? Es geht um eine Form der Abstammung, die nicht auf Verwandtschaftsbeziehungen beruht. Auch beruht sie nicht einfach darauf, dass zu dem Stammbaum nur Geistliche, nur Personen gehören, die sich in den Dienst der Religion gestellt haben. Sondern es geht um eine spirituelle Verbindung, die – vermittelt über eine Kette von Scheichs – letztlich auf den Propheten zurückgeht. Die Legitimation des Scheichs, seiner besonderen Stellung, mit der verbunden ist, dass Schüler sich ihm bedingungslos anvertrauen, ihr Leben in seine Hände legen und sich von ihm führen lassen, geht letztlich auf den Propheten zurück. Ist diese Vorstellung eine magische? Der Typologie religiöser Experten zufolge, die Max Weber in seiner Religionssoziologie entworfen hat, gerät der Prophet durch Berufung in seine Position, durch eine Berufung durch Gott, und beruht die Besetzung des Amtes des Priesters auf dessen Qualifikationen, die von der religiösen Gemeinschaft bzw. von einer Institution geprüft werden. Die Position des Zauberers hingegen wird vererbt.³¹ Dies geschieht dergestalt, dass das geheime magische Wissen an eine andere Person, häufig einen unmittelbaren Nachkommen, weitervermittelt wird.³² Von der Vermittlung eines geheimen Wissens ist bei al-Ġazālī jedoch nicht die Rede. Hier ist eine Schülerschaft konstitutiv, ohne dass näher bestimmt wird, was in ihr denn vermittelt wurde. Das Charisma bleibt also letztlich das Entscheidende. Dieses überträgt sich auf magische Weise vom Propheten auf die Kette seiner Stellvertreter. Erwähnt werden weitere Voraussetzungen, die ein Scheich erfüllen sollte. Auf diese näher einzugehen, ist jedoch nicht erforderlich. Genannt werden unter anderem eine asketische Lebensführung sowie eine Reihe von Tugenden wie Gelassenheit, Besonnenheit, Sanftmut und Demut. Und es wird dargelegt, in welchem Verhältnis der Schüler zu seinem Scheich stehen sollte. Er sollte dem Scheich äußerlich und innerlich Ehre und Hochachtung […] erweisen.

 Siehe: Max Weber, „Religionssoziologie“, in Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann (Tübingen: Mohr, 1980).  Eine Darstellung dieses Vermittlungsprozesses findet sich z. B. in: Paul Stoller und Cheryl Olkes, Im Schatten der Zauberer (Bern; Wien: Piet Meyer Verlag, 2019).

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Wie dies zu verstehen ist, wird im Folgenden expliziert: Äußere Ehrerbietung besteht darin, nicht mit ihm (dem Šayḫ) zu streiten

Vorausgesetzt wird – und das ist realistisch –, dass Schüler und Lehrer nicht immer einer Meinung sind. Wenn der Schüler nun tatsächlich eine andere Meinung haben sollte als der Scheich, so wird von ihm verlangt, diese nicht dem Scheich kundzutun und ihm nicht zu widersprechen. und sich anzustellen, in jeder Angelegenheit Einwände vorzubringen, selbst wenn er einen Fehler bei ihm erkannt hat.

Bemerkenswert ist, dass der Scheich nicht als unfehlbar gedacht wird. Doch selbst dann, wenn dies offensichtlich und nicht zu bestreiten ist, darf der Schüler nicht widersprechen. Auch wenn der Scheich Fehler macht, darf seine Autorität also nicht in Frage gestellt werden. Sie wird konsequent jeglicher Kritik entzogen. Und was innerliche Ehrerbietung betrifft, sie besteht darin, daß er nichts von dem, was er von dem Šayḫ äußerlich hört und annimmt, innerlich ablehnt – weder Handlungen noch Worte –, denn das wäre Heuchelei.

Ob der Schüler diese Ehrerbietung aufbringt, lässt sich von außen nicht überprüfen. Nur der Schüler selbst kann darüber urteilen. Er wird folglich dazu verpflichtet, sich selbst kontinuierlich zu beobachten und zu beurteilen. Er soll eine innere Instanz ausbilden, die ihn selbst, seine eigenen Gedanken und Urteile daraufhin überprüft, ob sie zustimmend sind. Konformität soll also durch Selbsterziehung gesichert werden.

10 Fazit Die Analyse soll an dieser Stelle beendet werden, auch wenn im Folgenden noch wichtige Aspekte von al-Ġazālī behandelt werden, unter anderem Explikationen zur Mystik und dasjenige, was einen Sufi und seine besondere Hingabe zu Gott kennzeichnet: Zu dieser gehöre nicht nur die Befolgung der religiösen Pflichten, also der Scharia, und die Zufriedenheit mit dem, was Gott einem zugedacht hat, also mit dem eigenen Schicksal, sondern auch Gottvertrauen und Aufrichtigkeit. Daran wird deutlich, dass – was in der Literatur immer wieder herausgestellt wird – al-Ġazālī zwei grundlegende islamische Strömungen miteinander verbindet: diejenige, die auf äußerliche Konformität setzt, und diejenige, die eine innerliche Anteilnahme fokussiert, den „Gesetzesislam“ und den mystischen Islam.

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Im Sinne eines Fazits lässt sich festhalten, dass al-Ġazālī mit seinen Überlegungen zu Fragen der Pädagogik seine individuelle Krise reflektiert, die wiederum im Kontext einer allgemeinen Krise gesehen werden kann. Ausgegangen werden kann davon, dass die politischen Verhältnisse und der zunehmende religiöse und weltanschauliche Pluralismus als krisenhaft wahrgenommen wurden. Die Politik – so wurde mit Bezug auf Tilman Nagel gesagt – sah darin eine Bedrohung für den Zusammenhalt der Gesellschaft und strebte eine „Sunnitisierung“ der Gesellschaft an. Bei al-Ġazālī schlug sich die Krise auch auf einer individuellen Ebene nieder, führte zu einer Infragestellung des Wissens, das er sich bis dahin angeeignet hatte, und zu einer Suche nach absoluter Gewissheit. Diese fand er durch Reflexion in einer inneren Gewissheit von der Wahrheit der Offenbarung. Nicht nur al-Ġazālīs Schrift Der Erretter aus dem Irrtum, sondern auch seine pädagogischen Überlegungen, die in dem Traktat O Kind! formuliert sind, können als Verarbeitung seiner persönlichen Krise interpretiert werden.³³ Diese mündet in den Entwurf eines von dem bis dahin Bekannten deutlich unterschiedenen „Arbeitsbündnisses“ zwischen Lehrer und Schüler und einer alternativen Pädagogik: An die Stelle des Arbeitsbündnisses und der Pädagogik, die sich in der Frühzeit des Islams – wie Schoeler es beschrieben hat – herausbildeten, setzt al-Ġazālī etwas anderes. Das Arbeitsbündnis aus der Frühzeit des Islams war eines zwischen zwei Rollenträgern, etwa zwischen dem Traditionarier und einem Schüler. Die Pädagogik diente einem relativ klar umgrenzten Zweck, der Überlieferung von Wissen, und bestand in erster Linie in Belehrung. Das Arbeitsbündnis, welches alĠazālī in O Kind! entwirft, ist hingegen eines zwischen ganzen Personen: Wer die Position des Scheichs einnimmt, ist nicht beliebig. Es kann nur eine ganz bestimmte Person sein. Und der Schüler begibt sich als ganze Person in seine Position, legt sein Leben vollständig in die Hände des Scheichs. Damit geht eine Erweiterung der Pädagogik einher, die nicht mehr auf Belehrung reduziert ist, sondern als „Führung“ gedacht wird. Diese impliziert ein – innerhalb der Führung als eigenständig durchzuführendes – Studium, geht jedoch weit darüber hinaus, denn sie besteht auch in einer Erziehung, die auf einen guten Menschen (ohne „schlechte Charakterzüge“) ausgerichtet ist. Sie setzt voraus, dass der Schüler sich dessen bewusst wird, dass sein Leben unter der Bedingung der Endlichkeit stattfindet, und dass er an ein jenseitiges Gericht glaubt. Diese Vergegenwärtigung, die – so die Vorstellung – spätestens dann stattfinden sollte, wenn der Mensch den Zenit seines Lebens überschritten hat, sollte zu einer Engführung des Lernens führen, zu einer Konzentration auf die Aneignung be-

 Diese Deutung setzt freilich voraus, dass der Traktat tatsächlich von al-Ġazālī stammt. Vgl. dazu Fn. 15 oben.

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währungsrelevanten Wissens. Das Ziel dieser Pädagogik besteht nicht in der Überlieferung der Wissensbestände der religiösen Tradition, sondern in der Hinführung zur Wahrheit, zu einem absoluten Wissen, das nicht mehr angezweifelt werden kann. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis wird auf diese Weise dem Verhältnis zwischen Prophet und Gläubigem – das ebenfalls eines zwischen ganzen Personen ist – angenähert. Der Scheich ist wie der Prophet ein Mittler zwischen Gott und Mensch, gleichzeitig wird jedoch die Differenz betont: Der Scheich ordnet sich dem Koran unter und macht deutlich, dass er über diesen hinaus letztlich nichts bieten kann. Die enorme Macht, die er in dem Arbeitsbündnis über den Schüler gewinnt, wird legitimiert durch die Vorstellung einer Kette, die mit Muḥammad beginnt und über seine Stellvertreter verläuft. Über diese Kette wird das Charisma des Propheten vererbt, ja, die Pädagogik gewinnt in dieser Kette einen magischen Charakter, insofern durch sie das Charisma von einem Lehrer auf den anderen übertragen wird. Während von dem Schüler eines Traditionariers erwartet wird, dass er das ihm vermittelte Wissen möglichst präzise aufbewahrt – schriftlich oder in seinem Gedächtnis –, wird der Schüler in dem Arbeitsbündnis, wie al-Ġazālī es entwirft, nicht nur zu einer konservativen Haltung verpflichtet (Ablehnung von Neuerungen), sondern auch zu einer kritiklosen Gefolgschaft gegenüber seinem Scheich. Ja, selbst in seinem Inneren soll er dafür sorgen, dass jeder Widerspruch verstummt. Das bedeutet letztlich eine vollständige Aufgabe von Subjektivität.

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The Modernization of Islamic Education in China: The Case of the Hui Muslims 1 Introduction The late 19th to early 20th centuries saw the transformation of China from a traditional society to that of a modern nation-state.¹ Among various steps, taken by both the regime and society generally, to achieve the modernization of China was the belief of “national salvation through education” (jiaoyu jiuguo 教育救國). In this social context, the Hui Muslims also initiated what was then called the New Cultural Movement of the Hui (Huizu xinwenhua yundong 回族新文化運動). The establishment of new forms of education, various associations, and the production of journals, books, and newspapers by the Hui Muslims themselves were the core contents of this movement. Unlike their Han Chinese counterparts, the Hui Muslims’ initiative did not pay much direct attention to nation-building nor the Chinese national salvation programme but was very much motivated by the idea of “religious revival through education” (jiaoyu xingjiao 教育興教). On the other hand, some of the Hui did not seem satisfied to stop at just Islamic revival but, in fact, made it a precondition for the revitalization of China. Generally, their logic and agenda were that religion, and Islam in particular, had the potential to save and revitalize China, and to achieve this it was crucial to first realize the revival of Islam. Clearly, educational reform was their main project. In addition to various actions taken by the Hui Muslims to reform traditional Chinese Islamic education, one thing that is distinct during the periods considered in this paper, namely the late Qing and the Republican period (late 1800s – early 1900s), is the idea of the Hui as a nation (minzu 民族) that comes along with China’s search to survive in the international community as a modern nation-state. In other words, the modernization project of the Hui Muslims’ Islamic educational reform, which took place in the context of China’s transition to a nation-state, aimed also at the reconstruction of a dual identity of the Hui Muslims as being both Chinese and Muslim. In this sense, this “new phenomenon” of the Hui Muslims’ modern educational reform actually shared  The author would like to thank the Research Infrastructure on Religious Studies (ReIReS) funded by the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme for offering the International Scholarship in Religious Studies, as well as the East Asia Library and the Faculty of Theology and Religious Studies of KU Leuven. https://doi.org/10.1515/9783110731743-009

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many similarities with the traditional Chinese Islamic education. Both projects tried to define, and redefine, who the Hui Muslims are, as well as to inquire into their relations with the mainstream non-Muslim Chinese society, which, of course, have taken place in very different socio-political contexts. Despite the fact that this paper has a title including the attractive and also ambiguous word “modernization”, the author does not aim to pinpoint the issue of what modernization is, but to instead use it as a descriptive term to show what the Hui Muslims did in terms of the modernization of Islamic education in China and to consider how and why they did it that way. In other words, my usage of the term asserts the concept of modernization as a process rather than a static and fixed goal that has been or will be achieved, as Spence argues in his book The Search for Modern China, the modernization of China was “about an ongoing search rather than about the conclusion of a search”.² Therefore, the paper will, on the one hand, dig into the historical events and figures that contributed to the Islamic educational reform in China. On the other hand, the paper will go further to broaden the perspective and include the larger picture of the socio-political background of China. When necessary, the paper will also consider the Islamic religious educational centres in order to make sense of the domestic and international context in which the Hui Muslims’ educational reform took place. This paper uses various primary sources, including personal biography of the leading Hui educators, journals published by the new-style Muslim schools, and newspapers produced by the Muslim educational associations or those that focused on educational reform. Following the introduction, a brief description of the traditional Chinese Islamic education will be given so as to see “what went wrong with the old Islamic education” when the modern Hui elites initiated the educational reform. After that, the author will go into detail elaborating on the development of the modern educational reform of the Hui with exemplary figures and their educational reform activities. The main characteristics of these reform initiatives were represented in its contents: for example, in establishing new-style schools that aimed at popular education with a combination of Islamic, Chinese, and modern Western sciences in its curriculum; connecting with the educational centres of the Islamic world and sending students there; setting up associations that especially emphasized the importance of educational reform, etc. Their endeavours show how they perceived, and how they wanted to (re‐) construct, the Hui Muslims identity(ies) as Chinese Muslims in a Chinese society transforming into a modern nation-state. The paper argues that although they

 Jonathan D. Spence, The Search for Modern China (New York: W.W. Norton & Co, 1991), XX.

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took place in very different historical periods and socio-political contexts, both the Hui Muslims’ traditional and modern forms of education were actually responses to very similar socio-cultural and institutional challenges that the Hui Muslims faced. These were challenges that had not changed much: that is, being the “familiar strangers”³ regarded by the Chinese as those who always have to struggle to find reconciliations between their Muslim and Chinese identities.

2 Islamic Education before the Ming It is generally believed that Islam came to China as early as the seventh century⁴ during the Chinese Tang Dynasty (618 – 907). However, it is not until the late Ming, in the sixteenth century, that we see the emergence of the traditional Chinese Islamic education, which focused primarily on Arabic and Persian language learning as well as core Islamic religious subjects, such as Quranic exegesis (tafsīr), Islamic theology (kalām), the mysticism of Islam (Sufism), etc. Of course, this does not suggest that there had been no Islamic education before the late Ming. To understand why the traditional Chinese Islamic education came about during the late Ming, and to understand its unique characteristics, it is essential to outline the history of Muslims in China in general and their forms of education in particular, for, as Petersen has argued, “this legacy has left indelible marks and has shaped the character of Muslim identity up until the present”.⁵

 Jonathan Lipman, Familiar Strangers: A History of Muslims in Northwest China (Seattle; London: University of Washington Press, 1997).  There are several opinions concerning the date when Islam came to China in Chinese academia. In Chinese history, there are mainly five recordings concerning the entering of Islam in China: 1) 580 – 604 AD; 2) 618 – 626/622 AD; 3) 627/628/632 AD; 4) 651 AD; and 5) the 900s AD. There has been no agreement in academia concerning the exact time of the introduction of Islam in China. However, most Chinese scholars consider the year 651 AD to be the time that Islam came to China, for it was recorded in the Jiu Tangshu 舊唐書 (Old book of the Tang) that Caliph Uthman (644– 656) sent envoys to the Tang Dynasty to establish diplomatic relations with the Tang. I believe that the time when Islam as a religion came to China is different from the time when the two entities established the diplomatic relations.  Kristian Petersen, “Reconstructing Islam: Muslim Education and Literature in Ming-Qing China,” American Journal of Islamic Social Sciences 23, no. 3 (2006): 27.

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2.1 Tang (618 – 907) Islam entered China with Arab and Persian representatives and merchants who came to Tang China either by land on the ancient Silk Road established in the Han Dynasty or by sea during the 7th century.⁶ There were many diplomatic representatives, merchants, and soldiers from Arabia and Persia staying in Tang China—some of whom became government officials,⁷ while most carried out business. It is worth noting here that as far as the representatives were concerned, if they were not willing to go back to their home country, they would “be given a position in the government and became officials of the Tang” (Shouyi zhiwei, geifenglu wei Tangchen, 授以職位,給俸祿為唐臣).⁸ These Arab and Persian merchants were named “foreign merchants”⁹ and there were then tens of thousands of Muslims in China. They were asked to form their own living communities, the “foreign block” (fanfang 蕃坊), normally built outside Chinese cities and intentionally separated from the Chinese.¹⁰ We do not know much about the social life of these early Muslims; however, what Sulayman, a Persian Muslim merchant who travelled to China and India, recorded when he travelled to Guangzhou, China in 851 might give us some clues. Sulayman wrote that:

 For the detailed information about the land and water routes mentioned here, see Qiu Shusen, History of the Hui Ethnicity in China (Yinchuan: Ningxia People’ Press, 1996), 2– 8; Zhang Xinglang and Zhu Jieqin, Collections of Historical Documents on the Communication between China and the West (Beijing: Zhonghua Bookstore, 2003), 682– 718. The routes were also mentioned by some Arab travellers who came to China during the Tang Dynasty, see Al-tajir Sulayman and Eusebius Renaudot, Ancient Account of India and China by Two Mohammedan Travellers Who Went to Those Parts in the 9th Century (US.: Kessinger Publishing, 2006).  The diplomatic representatives were mostly at the same time merchants; some of them stayed in China, got married, and settled in China. In 787 AD, Tang government did a census on foreign representatives in Chang’an, capital of Tang at that time and known as Xi’an today, and according to the Comprehensive Mirror to Aid in Government (Zizhi tongjian 資治通鑒), there were more than 4,000 of them. See Qiu, History of the Hui, 16.  Qiu, History of the Hui, 15.  The Chinese terms fanshang 蕃商, hushang 胡商, and fanke 蕃客 during the Tang and Song dynasties (618 – 1279) are roughly translated here as “foreign merchants”. However, these terms did not exclusively refer to Muslims from Arabia or Persia. In fact, all foreigners from Western Asia, South Asia, Central Asia, Europe, or Africa were named this way. Though most of them were Muslims, there were also believers in, for example, Nestorianism, Zoroastrianism, Buddhism, as well as Judaism. What all these religious believers shared in common, however, might be their being marginalized religious minorities, who were considered by the Chinese as not only outsiders but, more essentially, also dehumanized barbarians inferior to the Chinese.  Donald Leslie, Islam in Traditional China: A Short History to 1800 (Canberra College of Advanced Education, 1986).

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Canfu ¹¹ is the Port for all the Ships and Goods of the Arabs, who trade in China…there is a Mohammedan appointed Judge over those of his Religion, by the Authority of the Emperor of China; and that he is Judge of all the Mohammedans who resort to these Parts. Upon Festival Days he performs the public Service with the Mohammedans, and pronounces the Sermon or Kotbat, which he concludes, in the usual form, with Prayers for the Soltan of the Moslems. The Merchants of Irak who trade hither, are no way dissatisfied with his Conduct, or his Administration on the Port he is invested with, because his Actions, and the Judgements he gives, are just and equitable, and conformable to the Koran, and according to the Mohammedan Jurisprudence. ¹²

Given the situation described by Sulayman, it is reasonable to assume that the teaching of Sharia and other Islamic religious subjects were parts of the Muslim education at that time. On the other hand, it is worth noting that several Muslim figures mentioned in Chinese history were regarded as well-integrated into Chinese society by familiarizing themselves with Chinese culture, especially Confucianism. One example is Li Yansheng 李彥昇, who was recommended to join the imperial examination in Tang Dynasty.¹³ Qiu argued that “there shall be no doubt that Li Yansheng, as a foreigner who came from Dashi 大食 (namely Arab),¹⁴ must have been good at the Five Classics of Confucianism”.¹⁵ Another  Namely Guangzhou today.  Sulayman and Renaudot, Ancient Account of India and China, 7– 8.  The case of Li Yansheng was made known to us by an article written by a Tang Confucian scholar, Chen An 陳黯, in his article titled “Chinese Heart” (Huaxin 華心), which was probably “written for the literary portfolios (Xingjuan 行卷) that he presented to examiners and potential patrons in Chang’an during the examination season.” See Yang Shaoyun, “‘Stubbornly Chinese?’ Clothing Styles and the Question of Tang Loyalism in Ninth-Century Dunhuang,” International Journal of Eurasian Studies, no. 5 (2016): 166. According to the author, the Muslim candidate Li Yansheng’s being recommended to participate in the Imperial Examination then was not welcomed but criticised by the Chinese, for they believed that turning to a Muslim, who was a foreign barbarian (Yi 夷) for his morality and talent, and recommending him to participate in the Imperial Examination, was definitely unacceptable. In other words, “turning to the foreigners or the barbarians for their virtue and talent was to humiliate the Great Chinese, and to despise China.” See Ma Zhenglu, “On Ethnologic View of Huaxin by Chen An of the Tang Dynasty,” Journal of Qinghai Normal University 34, no. 3 (2012): 58. As for a detailed discussion of the case of Chen, see Li Gang, “The Hui Muslims’ Identity Negotiations: A Socio-Legal Investigation into the Relations between the Sharīʿa and the Chinese Legal Systems” (PhD. diss., University of Groningen and University of Erlangen-Nuremberg, 2021), 93 – 97.  In the official history of the Tang Dynasty, the ancient Chinese transliteration for the Arab Empire was Da Shi 大食 or Duo Shi 多氏, both of which were the transliteration for the Persian word Tazik or Tasi, referring to Arabs. For instance, the Abbasid Caliphate was called “Arabs in black” (Heiyi Dashi 黑衣大食) in Chinese history; and the Umayyad Caliphate was called “Arabs in white” (Baiyi Dashi 白衣大食). See Qiu, History of the Hui, 8.  Qiu, History of the Hui, 97– 98.

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example is Li Yuanliang 李元諒,¹⁶ from the Parthian Empire, well-known as a military commander. Thus, it is already clear from the very beginning of Muslims’ history in China that they have always been influenced by both Chinese and Islamic traditions. The first Muslims who came to China during the 7th century were mostly merchants. As they were doing business, making profits was their primary purpose, most of them were living a rich life. However, what they brought with them to China were not only material goods for trade, but also their religion and way of life. Education has been one of the means for them to preserve this way of life.

2.2 Song (960 – 1279) With the prosperity of the maritime trade in China’s coastal cities—such as Guangzhou, Quanzhou, and Hangzhou—more Muslim merchants came to China, as evidenced by the fact that Dashi, ¹⁷ among all other foreign traders, topped the list for trade during Song.¹⁸ The Muslims who settled in China during the Tang Dynasty, together with those coming during the Song dynasties, were in general called fanshang 蕃商 or fanke 蕃客, as they were called in Tang Dynasty. This means that up until the Song dynasties, these Muslims were still considered, at least officially, as foreigners.¹⁹ They got married to Chinese wives and their descendants in the Song dynasties were called “indigenous foreign guests” (tusheng fanke 土生蕃客), as those who took over the family business. The Song  The most common surnames of the Hui Muslims in China today are Mǎ 馬, Mù 穆, Hā 哈, and Má 麻, which derive from the transliteration of the name of the Prophet Muhammad. However in the Tang Dynasty, there were several famous Muslims with the surname of Li 李. The family name of Li might have been given as an honour and reward by the Chinese emperors of Tang whose own family name was Li. Other Muslims with the family name of Li were, for example, Li Xun 李珣, Li Xuan 李玹, and Li Shunxuan 李舜絃, who were all famous lyric poets.  As we have explained this term above regarding its use in the Tang Dynasty, in the Song dynasties it referred to larger Muslim regions, including Muslim regimes and areas in West Asia, South and Southeast Asia, and Africa.  Zhou Xiefan and Sha Qiuzhen, Islam in China (Beijing: Chinese Press, 2002), 49.  I use the term “foreigners” here not in a sense that we understand it in the context of modern nation-state today, but to indicate that the early Muslims in China were considered by the Chinese as people who did not belong to the Chinese cultural sphere. The Chinese term used to refer to them was, in addition to fanke 蕃客 (foreign guest) and fanshang 蕃商 (foreign merchant), Huawairen 化外人, meaning that they were people living and/or coming from places where the Chinese Confucian ritual and moral duty (Liyi 禮義) as well as the laws of the Chinese authority could not reach or be implemented. For detailed discussions on the term of Huawairen, see Li, “The Hui Muslims’ Identity Negotiations,” 80 – 85.

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government did not regard these tusheng fanke as domestic citizens but, rather, treated them as foreigners. As the basic institutional settings of the Muslim communities during Song dynasties remained the same as in the Tang period, we can assume that there must have been certain forms of Islamic education that enabled the early Muslims in China to preserve their Muslim way of life and religious identity. During the Song dynasties, more mosques were built in different parts of China, such as the Niu Jie Mosque in Beijing and the Masjid al-Aṣḥāb (Qingjing Si 清淨寺) in Quanzhou. Scholars believe that there could have been mosque-based education in China at that time.²⁰ What is notable during the Song dynasties was that the Chinese government established foreign schools (fanxue 蕃學).²¹ The foreign schools of the Song dynasties were established in areas where ethnic minority groups²² and foreigners were concentrated; the aim of which was to “unify the custom and morality” so as to reinforce their identification with the legitimate rule of the Song.²³ In 1071, when the local leader of Guangzhou, Cheng Shimeng 程師孟, extended the construction of the city of Guangzhou, he re-established the prefectural schools which in ancient China were an official institute for teaching the Confucian classics. According to Huang, foreign students, including Muslims, were also allowed to attend the school to study Chinese and Confucian texts.²⁴ Notably, his project was supported by the Omani merchant Xinyatuoluo (辛押陀羅, Sheikh Abdul-

 Jin Xiaoli, “A Short Introduction to the Traditional Education of the Hui,” Journal of Guyuan Teachers College 24, no. 4 (2003): 21– 23.  When it comes to foreign education (fanxue 蕃學), in Chinese academia it normally refers to several possible institutions. It can either be the central schools established by the Song government to teach foreign students; the government-funded local schools in the border areas for ethnic minority groups or foreign students; or the schools established by Xixia regime (西夏) for the study and learning of the Tangut script. See Yuan Xingpei and Chen Jinyu, ed., An Overall View of Region Culture in China: Shaanxi (Beijing: Zhonghua Bookstore, 2013), 225; Meng Xiancheng, Material of the History of Education in Ancient China (Shanghai: East China Normal University Press, 2010), 178; Guo Shengbo, Studies on the Official Cultural Institutions of the Song Dynasty (Chengdu: Tiandi Press, 2000), 191; and Wu Guangcheng and Gong Shijun, Emendation of the Xixia Documentation (Lanzhou: Gansu Culture Press, 1995), 152.  The geographic distribution of foreign schools in the Song dynasties was in the northwest and southwest of China, where ethnic minority groups were concentrated, including today’s Lintao County, Linxia, and Lanzhou, Gansu Province. My discussion here only focuses on the foreign schools in the Muslim communities in Guangzhou and Quanzhou.  Sun Tinglin, “Discussion on the Education of Fan-Xue in the Song Dynasties,” Journal of Baoding University 28, no. 5 (2015): 86.  Huang Richu, “Textual Research on the Foreign Schools in North Song Dynasty,” Lantai World, no. 21 (2012): 60.

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lah²⁵), who was then the leader of the community (fanzhang 蕃長) and donated money and land and built the school’s classrooms.²⁶ Later in 1108, a separate foreign school was set up in Guangzhou, where a teacher who earlier taught at a prefecture-level school was appointed. The teacher was required to respect and learn the local customs, so as to be able to better teach the local students. Little is known about how the education was organized and what textbooks were used; however, the fact that the students who graduated from the foreign school were allowed to participate in the imperial examinations (keju kaoshi 科舉考試) might allow us to assume that Confucian classics must have been the main components of the school’s curriculum. In addition, there were several Muslims who attended the imperial examination and became government officials in the Song dynasties. Among them was Pu Shouchen 蒲壽晨, a distinguished Muslim official, who was the elder brother of the well-known Muslim merchant and politician Pu Shougeng 蒲壽庚 in late Song and early Yuan dynasty.²⁷

2.3 Yuan (1271 – 1368)²⁸ During the invasions and conquests of the Mongols, plenty of states were conquered, most of which had already been Islamized. One of the consequences of these conquests was that a large number of Muslims came with the Mongols to China as prisoners of war. Some of them also helped the Mongols in wars with the Chinese, and later with the ruling and administration of the Chinese Yuan. Thus, Muslims in Yuan China generally enjoyed a privilege over the local majority Han Chinese. Islam and its culture played an important role at that time in China, and even the languages of Muslims, Persian and Arabic, gained official recognition by the regime. Historians recorded in the Ming Dynasty that “in the Yuan period, the Hui-hui (from Samarkand) spread over the whole

 The name Xinyatuoluo in ancient Chinese recorded in the sources is the transliteration of the original name. It most likely refers to some Sheikh Abdullah.  Ruan Yuan, Chen Changqi, and Liu Binghua, Local Chronicles of Guangzhou (Shanghai: Shanghai Classics Press, 1990), 269.  Kuwabara Jitsuzō and Chen Yujing, On P’u Shou-Keng a Man of the Western Regions, Who Was Superintendent of the Trading Ships (Beijing: Zhonghua Bookstore, 2009).  I chose to use the term “Yuan”, instead of “Mongol Empire” as most Western scholars do, to limit myself in this discussion. I will mainly focus on the period from 1271 when Kublai established the Yuan Dynasty in China, instead of from 1206 when Temujin, also known as Genghis Khan, established the Mongol Empire, to 1368 when Zhu Yuanzhang (朱元璋 1328 – 1398) established the Ming Dynasty.

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of China. By the Yuan dynasty the Muslims had extended to the four corners of the country, all preserving their religion without change”.²⁹ The most significant change concerning the status of Muslims in China during the Yuan regime was that the Mongol government maintained a distinctive attitude towards its Muslim populations. The Mongol emperor, as “ruler of the World”,³⁰ regarded all conquered people as the subjects of the Empire, though Muslims were still granted much privilege. In the Yuan Dynasty, Muslims were called Huihui ³¹ and belonged to the second highest level of Mongol categories used to classify their subjects. What’s more, it is in the Yuan Dynasty that Hui Muslims, who were named fanke or fanshang and seen as foreigners since Tang and Song dynasties, were officially registered by the Yuan government as Chinese residents. Hence, it is no surprise that during the Yuan Dynasty Muslims were in charge of numerous institutions set up by the central government, such as the Islamic Astronomical Bureaus³² and the Islamic Medical Bureaus.³³ These institutions not only worked for the Mongol regime but were also active in educating relative personnel for the court. Among these institutions, the Islamic Imperial Academy (Huihui guozixue 回回國子學) is of special interest and relevance for our research

 Leslie, Islam in Traditional China, 79.  Juvaynī ‘Alā’ al-Dīn ‘Atā Malik, Genghis Khan: The History of the World Conqueror, translated by J. A. Boyle (Manchester: Manchester University Press, 1997).  In Yuan Dynasty, Huihui was used to refer, though not exclusively, to Muslims from Central Asia, Jews (called Shuhu 術忽, the transliteration of the Arabic word Jahud for Jews), the Romani people from Persia, and other peoples believing in Christianity who were called Yelikewen Jiao 也裡可溫教 at that time. See, for example, Dale A. Johnson, Searching for Jesus on the Silk Road (Lulu Com, 2013); Takao Moriyasu, “The Discovery of Manichaean Paintings in Japan and Their Historical Background,” in In Search of Truth: Augustine, Manichaeism and Other Gnosticism, ed. J. van Oort and Jacob A. van den Berg (Leiden, Boston: Brill, 2011), 339 – 60; and Ma Jianchun, “Preliminary Analysis on the Ethnicities of Muslims in the Yuan Dynasty,” Journal of Hui Muslim Minority Study, no. 4 (2006): 39 – 44.  The Islamic Astronomical Bureau in Mongol Yuan Dynasty includes the Xiyu Xinglisi 西域星 曆司 and Huihui Sitianjian 回回司天監, which worked parallel to the Chinese ones. It is worth noting that Jamal ad-Din (Zhamaluding, 劄馬魯丁) came to China with Kublai Khan and brought with him many books on natural sciences, with which he inspired the invention of, among others, the Armillary Sphere. As for the achievement on astronomy by the Huihui Muslims in the Yuan Dynasty and throughout Chinese history. See Wang Feng, History of Science and Technology of the Hui Ethnicity in China (Yinchuan: Ningxia People’s Press, 2008); Wang Genming and Cai Liping, “General Introduction of Chinese Islamic Astronomy,” Chinese Hui Studies, no. 4 (2010): 125 – 43.  The Islamic Medical Bureaus in Yuan Dynasty were Xiyu Yiyaosi 西域醫藥司, Guanghuisi 廣 惠司, and Huihui Yaowuyuan回回藥物院.

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theme. In 1289, the Islamic Imperial Academy was established by Kublai Khan, aiming at training interpreters of the Yisitifei 亦思替非 language³⁴ and Persian, which was one of the official languages in Mongol Yuan Dynasty.³⁵ Later in 1314, following the establishment of the Supervision of the Mongol and Chinese/Han Imperial Academy, the Supervision of the Huihui/Islamic Imperial Academy (Huihui guozijian 回回國子監) was founded. Although we only know that there were some fifty students and staff in the Academy working as interpreters on the yisitifei language and Persian, it has to be noted here that there were already a large number of books written in Arabic and Persian in Yuan China. Some of these might have been preserved as textbooks for Arabic and Persian language learning for Muslims in the Ming, and even Qing, dynasty, when the Hui Muslims lost their mother tongue and faced religious crisis. Examples include some of the books that Liu Zhi cited and recommended in his works.³⁶ Another distinct phenomenon related to the history of Islamic education in China is the establishment of the Department of the Huihui Qadi (Huihui Hadi suo 回回哈的所). The department was located in the mosques of Muslim communities, and was entitled, during most of the Mongol Yuan Dynasty, to be in charge of criminal, administrative, civil, and other contentious issues. Though we hardly see written evidence of the educational activities of the Huihui in Yuan Dynasty, the existence of the Danishmand (the Islamic clergy), the Darvish (Sufis), the Qadi, and the establishment of mosques in the Muslim communities indicate that there must have been a considerable scale of Islamic education among the Huihui of the Yuan Dynasty. The educational activities among the Muslims in the Tang, Song, and Yuan dynasties reflect a clear feature of the Hui that was shaped by both their religion and the Chinese society in which they lived. No matter whether they were regarded as foreigners, as in the Tang and Song dynasties, or whether they were offi-

 The Yisitifei language is actually a special skill invented and used in ancient Iran for official accounting purposes, using ancient Persian script. For relevant research, see Yang Zhijiu, “The Political Status of Muslims in Yuan Dynasty,” In Studies on the History of Yuan Dynasty, ed. Yang Zhijiu (Beijing: People’s Press, 1985), 245 – 82; Bakhtyar Mozafar, “Textual Research on Estifi,” in Collection of Papers on Iranian Studies in China, ed. Ye Yiliang (Beijing: Peking University Press, 1993), 45 – 50; and Chen Yuan, Textual Research on the Sinicization of People from the Western Region in the Yuan Dynasty (Shanghai: Shanghai Classics Press, 2010).  Qiu, History of the Hui, 290; David Morgan, “Persian as a Lingua Franca in the Mongol Empire,” in Literacy in the Persianate World: Writing and Social Order, ed. Brian Spooner and William L. Hanaway (Philadelphia: University of Pennsylvania Museum of Archaeology and Anthropology, 2012), 161– 70.  Donald D. Leslie and Wassel Mohamed, “Arabic and Persian Sources Used by Liu Chih,” Central Asiatic Journal 26, no. 1/2 (1982): 78 – 104.

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cially registered as subjects of the regime, as in Yuan Dynasty: just as the early Muslims who arrived in China from different parts of the Islamic world with different languages and cultural backgrounds, the Hui were united through Islam and were able to preserve their Muslim identity and pass down their Islamic way of life through education. However, things have changed since the Ming Dynasty, when first of all the outside environment, broadly speaking, towards Muslims became disadvantageous and discriminative. The Hui Muslim faced a religious crisis in which many Muslims were well assimilated and knew very little about their own religion.

3 Scripture Hall Education: The Traditional Chinese Islamic Education The privileged social position of the Hui and the institutional setting of the Qadi Department were gone beginning in the Ming Dynasty (1368 – 1644). The assimilative and discriminative policies of the Ming government accelerated and deepened the processes and degree of Hanisization (hanhua 漢化) of the Huihui Muslims, which posed great challenges to the Hui.³⁷ As the founding father of traditional Chinese Islamic education, Hu Dengzhou (胡登州 1522 – 1597) argued when he initiated the Jingtang education: “our Religion in China, the farthest east, lacks scriptures and scholars. The transmitted translations were unclear, and further, no way to expound and propagate”.³⁸ There were several reasons for this “lack of scriptures and scholars”, which were responsible for the Muslim elites’ concerns, including those of Hu Dengzhou, for the future of Islam in China. First of all, it is well-known that several bans had been issued concerning the maritime trade during the Ming Dynasty,³⁹

 Li Wei and Ding Mingjun, “From Culture Identification to National Identification: On Important Role of Traditional Chinese Culture in the Formation and Development of the Hui Ethnic Group,” Journal of Beifang Ethnic University, no. 2 (2010): 7.  Feng Zenglie, “Introduction to the Inscription for the Building of the Tomb for Sheikh Hu,” China Muslim 2 (1981): 25.  The maritime embargo of the Ming was inherited from the Yuan Dynasty. According to the Ming History (Mingshi 明史), Taizu Zhu Yuanzhang banned the maritime trade and had reiterated the order several times by his death in 1398. Though the Muslim official Zhen He (鄭和 1371– 1433 or 1435) was sent on expeditionary voyages, private maritime trade was generally banned throughout the Ming. As for the maritime embargo during the early Ming period, see Li Jinming, “On the Maritime Embargo and Tributary Trade in the Early Ming Dynasty,” Fujian Tribune, no. 7 (2006): 73 – 77.

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which meant that, unlike the early Muslims who had settled before the Ming, few Muslims were able to come to settle in China. It also meant that the traditional way of going to Hajj by sea was difficult, if not impossible, for Muslims in China. Hence, the connections between Muslims in China and the religious and intellectual centres of the Muslim world were largely cut off. Secondly, Muslim languages (primarily Arabic and Persian), dresses, and surnames were officially banned. The second month after Zhu Yuanzhang (朱元璋 1328 – 1398), founding father of the Ming regime, came to power in 1368, he decided to restore the Tang instructions on dress and further banned the dresses, languages, and surnames of the foreigners (Hu 胡), including Muslims as one of the Semu 色目 foreigners.⁴⁰ Four years later in 1372, Zhu Yuanzhang again issued an edict banning the marriage between Muslims which read that: Mongols as well as the Semu [Muslims] are allowed to marry the Chinese, since they are now living in China. It is forbidden to marry between themselves. Those men and women, as well as their families who violate the law shall be sent to be servants of the officials and their family property shall be confiscated. ⁴¹

The punishment stipulated in the edict was quite severe. Two years after the edict was issued, the prohibition was officially published in the Code of the Great Ming (Daming Lü大明律) which read that: the marriage between the Chinese and the Mongols or Semu [Muslims] shall be consensual. It is not allowed for them [Mongols and Semu Muslims] to marry between themselves. Violators, regardless if a man or a woman, shall be punished with 80 floggings and be sent to be slaves of the officials ⁴². The prohibition does not apply to those Huihui or the Kipchaks to whom the Chinese are not willing to marry and in this case they shall marry between themselves. ⁴³

 The ban read that “their hairstyle, foreign dress, and foreign language shall all be banned. The holy heart of the emperor has considered the benefits and the losses. Hence, the foreign customs that have existed for more than a hundred years shall be banned and return to the Central Kingdom’s [Chinese] tradition.” See s.n., Veritable Records of Ming Taizu, 1418, available on https://ctext.org/wiki.pl?if=en&chapter=147394 (accessed April 02, 2020).  Li Dongyang, Collected Statutes of the Ming Dynasty, 1502. A digital version is available on the website of Chinese Text Project on https://ctext.org/wiki.pl?if=en&chapter=870950&remap =gb (accessed April 02, 2020).  The punishment of sending violators to be slaves of the officials has not been seen in the legislations of any dynasties throughout the Chinese history; thus, it was one of the most brutal punishments in the Ming period. Wang Hongzhi and Li Jianyu, “Supplement to the Shunzhi Code,” Studies on Legal History, no. 1 (2004): 134.  Zhong Zhenji, ed., Code of the Great Ming, 1596/1597, available on the website of Chinese Text Project on https://ctext.org/wiki.pl?if=gb&res=BB&remap=gb (accessed April 02, 2020).

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Such stipulations in the official law of the Ming regime forced the Hui Muslims to marry the non-Muslim Chinese, and in this way the Ming government tried to extinguish the ethnoreligious identity of the Hui Muslim minority. The reasons behind the legislation were obvious: by marrying the Chinese, these non-Chinese Muslims would become Chinese and thus loyal subjects to the Ming regime. It reflected the longstanding distrust of the Chinese towards all the non-Han peoples, which is why, as we have seen above, the Ming government aimed at assimilating the Hui Muslims, as well as the Mongols, into the Chinese whom the emperors believed would be loyal and obedient. These official laws were oppressive, discriminative, and assimilative. They put the Hui Muslims in a situation that endangered the very essence of their being a religious group. As Matteo Ricci, one of the founders of the Jesuit China missions who visited China during the period of the Wanli Emperor (萬 曆 1573 – 1620), has pointed out that, Muslims⁴⁴ are everywhere…and they have become so numerous that their thousands of families are scattered about in nearly every province and are to be found in nearly every sizable city. In the cities in which they are numerous they have their children circumcised and in which they recite prayers at stated times and hold other religious functions…So far as we have noted up to the present, the Saracens here make no effort to spread their doctrines among others. Save for the fact that they do not eat pork, they live according to Chinese law, are quite ignorant to their own ritual, and are looked down upon by the Chinese. At present they are treated as natives… Most Saracens who attain to a Chinese literacy degree renounce the law of their ancestors, except the precept forbidding them to eat the flesh of swine. ⁴⁵

This “looked-down-upon” situation of the Hui Muslims resulted in the fact that, until the middle and late Ming Dynasty, Muslims in China, especially the Hui, were no longer able to speak and read their mother language, whether Arabic or Persian, and thus, the Chinese Han language became their native language. Ma Zhu, one of the prominent authors and scholars during the Islamic renaissance of the late Ming and early Qing,⁴⁶ has pointed out that “there was little Muslim style among those who were born into a religious family. Countless fellow Muslims became completely Han Chinese, as Muslims living among the Han  Matteo Ricci originally used the Italian term “Saraceni Maumetanni” occasionally referring to Muslims. See Zvi Ben-Dor Benite, “‘Western Gods Meet in the East’: Shapes and Contexts of the Muslim-Jesuit Dialogue in Early Modern China,” Journal of Economic and Social History of the Orient 55, no. 2/3 (2012): 520.  Matteo Ricci and Nicolas Trigault, China in the 16th Century: The Journals of Matthew Ricci, 1583 – 1610 (New York: Random House, 1953), 107.  Ludmilla Panskaya and Donald Leslie, Introduction to Palladii’s Chinese Literature of the Muslims (Canberra: Australian National University Press, 1977).

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followed the Confucian and/or Buddhist traditions”.⁴⁷ It was under these circumstances that Hu Dengzhou “took it as his responsibility to expound and propagate the orthodox teachings”.⁴⁸ We do not know much about the teaching activities during the early period of Jingtang education. However, scholars agree that Jingtang education is, in form and content, the combination of Islamic and Chinese educational traditions. The term Jingtang 經堂 literally means scripture hall, which refers to the room in a mosque that is normally located to the east of the main building and used first as a room for scriptures, and later as a lecture room. These kind of educational activities among the Hui communities existed in the Islamic world. It is said that Hu Dengzhou taught his part-time students at home when he started his teaching activities; and later, with the support from the local Muslim community,⁴⁹ they moved to the mosque.⁵⁰ With the effort of Hu Dengzhou and his disciples, more schools were established in big cities and remote towns throughout China, and a series of textbooks were also developed. Thus, by the Qing Dynasty the mosque-based Jingtang education had become more systematic and institutionalized. Until the Qing Dynasty (1644 – 1912) there had been different levels of classes within the Jingtang educational system. The elementary school (xiaoxue 小學) was designed for teaching basic religious knowledge to children aged six or seven. In practice, however, the students can range from five to seventeen. The main contents of teaching were: 1) basic Arabic language classes in which students were taught traditional methods of reading and writing the language,⁵¹ 2) basic religious knowledge (zaxue 雜學) that contained the fundamentals for the five duties of Islam, together with how to perform the ritual purification,

 Ma Zhu, Guidelines for Islam, (Yinchuan: Ningxia People’s Press, 1988), 435.  Feng Zenglie, “Introduction to the Inscription,” 25.  Professor Tsai compared this financial means with the waḳf system in Islam. See Tsai Yuanlin, “The Formation and Development of the Jingyang Education of the Hui Ethnicity in Ming and Qing Peorids China,” Foguang Journal, no. 2 (1999): 268 – 74.  Han Da, History of Education of the Chinese Ethnic Minorities (Guangzhou, Kunming, Nanning: Guangdong People’s Press, 1998), 37.  Traditionally, as I was told by the Hui elders during my fieldwork, Arabic letters would be written with a writing brush on the bladebone of a cow, sheep, or camel for the students to learn. Since Arabic is the language of the Holy Quran, Chinese Muslims show it great respect. The students would lick the letters on the bone when they could memorize them. It also shows the expectation of the teachers that Islam would be in their hearts forever. This practice does not exist anymore, but the respect to the Arabic language remains.

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wudu,⁵² as well as some daily duʻā’, and 3) the Qur’anic primer (haiting 亥聽), which focused on the recitation of the eighteen sūras that are widely used in the daily lives of Muslims.⁵³ There were no fixed terms, classes, or grades for this level, and the teaching activity was flexible. Those who finished the elementary study were seen as a qualified Muslim, and were ready to go on with the advanced study (daxue 大學) if they were dedicated to becoming a religious cleric. Here it must be noted that rather than training for the religious clerics, the primary level of the Jingtang education aimed at the students’ acquisition of basic Islamic religious knowledge, which qualified the new generation to be able to follow the Islamic tradition and possibly passed it on to younger generations. The advanced level played a crucial part in cultivating the religious clerics who took on the responsibility and were regarded as guardians of Islam. The students of this level were named differently, either a Mullah (manla 滿拉)⁵⁴ or a Khalifah (hailifan 海裡凡). Though, like in the elementary school, there were no fixed terms for the course of study, it generally took ten years for a Khalifah to graduate and become an Akhund (a’hong 阿訇).⁵⁵ The study of this level in-

 In their everyday practices, Chinese Hui Muslims use the transliteration of the Persian term ābdast (Abudaisi 阿布代斯) to refer to wudu in Arabic.  The Arabic term used is Khatm al-Qur’an, the complete recitation, or seal, of the Quran. While the haiting 亥聽, variously written as haiting 孩聽 or haitie 亥帖, is a selection of several chapters and verses from the Quran. Depending on the imam’s choice, there is generally no fixed version of the haiting. While the eighteen surahs, however, normally refer to chapters of al-Fatihah, at-Tariq, al-A’la, ad-Duha, ash-Sharh, al-Qadr, az,Zalzalah, at-Takathur, al’Asr, and selection of several verses from al-Baqarah, al-Imran, and at-Taubah.  The Chinese term Manla (written in Chinese as 滿拉, 滿喇, or 曼拉) is derived from Mullah in Arabic or Molla in Persian, used as a respectful title for an educated religious man. With this regard, the Uyghur Muslim or the Turkic-speaking Muslims in Xinjiang in general, use the term “maola 毛拉”, the transliteration of the original Arabic or Persian word with more or less the same meaning. The term for the Hui Muslims or the Chinese-speaking Muslims, however, denotes different meanings in different times. Nowadays, it refers to the students studying at a mosque-based school. See Jin Zhanxiang, “Discussions on the Terms of Ahong and Manla,” Social Sciences in Ningxia, no. 6 (1986): 71, 85 – 92.  The Chinese term a’hong (阿訇,阿宏,or 阿衡) derives from the Persian word Akhund meaning religious scholar or teacher. Before it came into use in the early Qing Dynasty, several terms were used to refer to the religious scholars and clerics, such as the Danismend (Dashiman 答失 蠻), the Sheikh Islam (Shesilianxia 攝思廉夏), and the Muslim Master (Huihui dashi 回回大師). The term a’hong nowadays in China refers to religious clerics, especially those who are in charge of mosque-based education (also called the Kaixue a’hong 開學阿訇). The usage of this term also reflects the shift of the organizational structure of the sanzhangjiaozhi (三掌教制) in the Qing Dynasty. Nowadays the mosque is administrated by the Mosque Democratic Management Com-

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volved a more in depth investigation into Arabic grammar, the Quran, and tafsīr (Quranic commentary), hadith, Sharia and fiqh (Islamic jurisprudence), and tawḥīd (Islamic monotheism). A relatively fixed curriculum of thirteen or fourteen textbooks had been developed by the mid- or late Qing Dynasty. The textbooks contained masterpieces in a variety of Islamic subjects, including theology, philosophy, mysticism/Sufism, Arabic, and Persian language sciences, to name a few. Thus, it was normally the case that the students had to travel from place to place to find an imam who was an expert in one or some of the subjects. In this way, Chinese Muslims have developed a tradition that has contributed to the establishment of a network between Masters and disciples, teachers and students, and classmates, that unites Muslims who were scattered throughout China.⁵⁶ This educational network is crucial in the construction and maintenance of a shared Muslim identity distinct from the outsiders. The Ming government’s laws and regulations forced the Hui Muslims to give up their family names, way of dressing, and languages, and forced them to marry the Chinese so that, in the end, they could be accepted as being “true” Chinese who were trusted, loyal, and obedient. These government actions made it challenging for the Hui, as being Chinese oftentimes meant the extinction of the very essence of being a Muslim.⁵⁷ Jingtang education arose as a response to this challenge. For centuries, following the Prophet’s teaching to “seek knowledge even onto China”, a hadith widely believed as “authentic” by Chinese Muslims, the Hui take Islamic religious education as an essential part that defines who they are. It connects the worldly life with the hereafter, for it is through education that the Hui Muslims get to know the orders from Allah and the ways they

mittee (Qingzhensi Minzhu Guanli Weiyuanhui 清真寺民主管理委員會). See Jin, “Discussions on the Terms of Ahong and Manla,” 87.  Zvi Ben-Dor Benite, The Dao of Muhammad: A Cultural History of Muslims in Late Imperial China (Cambridge: Harvard University Asia Center, 2005).  The Ming court also intervened in the religious practices of Muslims. For example, the building of the mosque, which literally was the centre of Muslim’s daily life, could only be carried out in the name of “praying for the prolonging of the Chinese sage Emperor’s life” (Zhuyan Shengshou 祝延聖壽). It is said that throughout the Ming and Qing periods Muslims were asked to pray for, and sometimes to pray to, the Chinese Emperor. See Feng Jiewen, Studies on the Muslim Confucians during the Ming and Qing Period (Yinchuan: Yanghuang Bookstore, 2016), 18–19. Broomhall has reported that Muslims were by law required to worship the Emperor, Confucius, and idols. Generally, a tablet that read “Long live the Emperor” (Huangshang Wansui Wansui Wanwansui 皇上萬歲萬歲萬萬歲) was set up on a table in the mosque, and Muslims were required to pray toward this tablet. See Marshall Broomhall, Islam in China, a Neglected Problem (London: Morgan & Scott; China Inland Mission, 1910), 228.

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could fulfil these orders. The Jingtang education came about when the Chinese Ming Dynasty imposed discriminative laws and policies against them, which resulted in a religious (and later economic and political) crisis. Thus, education has been crucial in maintaining the identity of the Hui Muslim, in that it functions not only as an institution in which knowledge is passed down from generation to generation enabling the Hui Muslims to pursue the Path leading to the Ultimate Truth, but it additionally works as a means by which the Hui Muslims have struggled to find ways to justify their religion in times of both crisis and opportunity. This becomes more explicit during late Qing and the Republican period.⁵⁸

4 Educational Reform of the Hui Muslims in Time of the Great Transformation of China During late Qing period, the Hui suffered tremendous losses from several conflicts. Examples of these included military engagements with the Qing regime, such as the Panthay Rebellion in Yunnan (1856 – 1873) led by Du Wenxiu; the Tongzhi Hui Revolt (Tongzhi Huibian 同治回變) by the Hui Muslims from Shaanxi, Gansu, Ningxia, and Xinjiang between 1862 to 1877, and the Hehuang Uprising (Hehuang Qiyi 河湟起義) by Muslim groups in Qinghai and Gansu in 1895 and 1896, to name a few. These sufferings put the Hui Muslims in a situation that threatened their Muslim identity. There is no doubt that the traditional Jingtang education suffered, too. One of the then-prominent Hui scholars, Ma Lianyuan (馬聯元 1841– 1903)—also known as Abdul Hakim (Erbudu hagemu 爾布 篤哈格目), the tall Master, or the tall Hajji (Gao Baba 高巴巴 or Gao Hazhi 高 哈只) by the Hui—recorded the situation in his own community in Yunnan upon his arrival from his Hajj journey in 1873 – 4.⁵⁹ He said, Until then did I know that Du Wenxiu and the Muslim scholars, military as well as civil officials who worked for him, had mostly been martyred. For the rest, some ran away; some, such as women and children, were captured; their land, houses and property were all taken by the

 By the Republican period, I mean the period from 1911 to 1937 when the Sino-Japanese war broke out.  Ma Lianyuan himself mentioned that he came back to China at the end of the year 1289 of the Islamic calendar, which was early 1873. However, Bai mentioned that Ma Lianyuan came back to Yunnan in 1874. See Ma Lianyuan, “Preface to the Editing of Islamic Miscellaneous Studies,” Magazine of Islamic Ethical Science 4, no. 9 (1932); Bai Shouyi, Brief Account of the Hui Figures: Modern Period (Ningxia: Ningxia People’s Press, 1997), 192.

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non-believers; mosques were turned into Buddhist temples…Later, the leading authority of Muslim scholars, Yusuf [namely, Ma Dexin], was also wronged and finally killed. Once the well-known were all frightened and fled away like birds startled by the mere twang of a bow-string. The Islamic schools again suffered calamities, dismissed. ⁶⁰

As a matter of fact, it was the continuous conflicts between the Hui and the majority Han Chinese that saddened Ma Lianyuan and put the safety of himself and the Hui people in Yunnan in doubt. This urged him to, in 1870, “leave his hometown that is dominated by unstable and shifting forces and flee to the City of Security [An’ning zhiguo 安寧之國, namely the city of Mecca]”.⁶¹ This situation that Ma Lianyuan and many others faced had urged the Hui Muslims, particularly the intellectuals and elites, to rethink who they were and how they could survive as Muslims in a China that was transforming from a traditional society to a modern nation-state. It has to be noted that the modern educational reform of the Hui Muslims has several sources. Generally, it was the real challenges that China and the Hui communities were facing, particularly since late nineteenth century after the Opium War,⁶² that motivated the reformers to initiate their respective projects of very different socio-religious and political background. Broadly speaking, it seems that distinguishing the reformers was one thing: the attitude towards whether Chinese culture, and later other secular sciences, should be included into the curriculum. On the one hand, some Muslims, particularly those living in the northwest of China where Sufism were prevalent, seemed to be very cautious of Chinese culture. There, the most well-known and probably most successful Islamic educational reform took place within the Ikhwan, which aimed at “venerating the scriptures and rectifying the customs (zunjing gesu 遵經革俗)”. While some others, on the other hand, especially those living in eastern and southeastern China, seemed to be more open to accept Chinese culture and, later, Western sciences. These Muslims and their educational initiatives differed in several aspects; however, what they probably shared in common was the aim at the survival and vitalization of their religion.

 Ma Lianyuan, “Preface to the Editing.”  Ibid.  A series of treaties was signed during this period between the Qing government and Western countries, such as the Nanjing Treaty in 1842 and other 14 treaties with the UK, the Treaty of Wangxia with the US, and the Treaty of Huangpu with France in 1844. These treaties, on the other hand, enabled foreigners, especially missionaries, to establish mission schools in China, which contributed to the modernization of education in China. Sun Xiuling, “Social Education and Localization of Church Schools in Modern China,” Journal of Shandong Normal University 59, no. 259 (2014): 124– 31.

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4.1 The Ikhwan and Reform of the Jingtang Education The conservative reformer in the Muslim-concentrated regions of northwest China, Ma Wanfu (馬萬福 1849 – 1934), started his reform when he returned to China after spending three or four years in Mecca, and thereafter founded the Ikhwan (Yihewani 伊赫瓦尼). Being a previous follower and imam of the Beizhuang menhuan ⁶³ 北莊門宦⁶⁴ of the Khufiyya branch of the Naqshbandiyya Sufi order, Ma Wanfu, upon the return from his Hajj journey, became critical of the Sufi tariqa that he and his coreligionists followed in China. He believed that some of the teachings and practices in the institutionalized Sufi menhuan in China were against the Quran and were influenced by teachings of other religions, perhaps especially those of Chinese culture, and were thus in fact “bid’ah” (Bidaerqi 畢達爾其, innovation in religious matters).⁶⁵ He publicly broke from

 The term Menhuan 門宦 is “an entirely local term” among Chinese Muslim communities, especially the Hui Sufi followers. There are generally four main Menhuans in China, namely the Khufiyya (Hufuye 虎夫耶, or Hufeiye 虎非耶), Jahiriyya (Zheherenye 哲合忍耶), Kubriyya (Kuburenye 庫布忍耶), and the Gadriyya (Gadelinye 嘎德林耶), which are all different orders of Sufism in China, and are called as a Menhuan respectively. Meanwhile, the term Menhuan could also refer to a sub-order of the above-mentioned four main orders. For example, the Huasi 花寺 and the Xianmen 鮮門 here both belong to the Khufiyya order. Generally, the term Menhuan denotes the same meaning as the Arabic word tariqa, a school or order of Sufism. According to Ma’s research, it is Yang Zenxing (楊增新 1864– 1928), the then Prefecture Magistrate in Hezhou (Linxia today), who later became governor of Xinjiang in 1907, that first used the term Menhuan for the Sufi tariqas in Gansu in 1897. The Chinese character Men 門 means family, and Huan 宦 means an official or to become an official. Thus, Menhuan in Chinese could mean powerful and official family, which “as a unique blend of Sufi and Chinese forms…combined the appeal of prophetic descent with Chinese notions of family structure and socio-economic competition”. However, some Hui Muslim Sufis I interviewed during my fieldwork in Gansu and Xinjiang assert that Menhuan actually refers to Menhuan 門喚, in which Men 門 means a philosophical or religious school and Huan 喚, instead of Huan 宦, means “calling”, and together meaning “the calling from the religious school”. See Lipman, Familiar Strangers, 70 – 71; Ma Tong, General History of the Islamic Sects and Sufi Tariqas in China (Yinchuan: Ningxia People’s Press, 2000), 74; and Ma Tong, On the Origins of the Sects and Teaching Schools of Islam in China (Yinchuan: Ningxia People’s Press, 1986), 42– 28.  The Beizhuang menhuan was one of the most influential Sufi tariqas among the Dongxiang people. And it is also followed by the Hui, the Salar, and the Bao’an people. It was first introduced to the Muslims in inner China from Yarkant, Xinjiang, in the early nineteenth century by Ma Baozhen (馬葆真 1772– 1826). See Ma, General History of the Islamic Sects and Sufi Tariqas in China (Yinchuan: Ningxia People’s Press, 2000), 74; and Ma, On the Origins of the Sects and Teaching Schools, 198 – 200.  For example, Ma Zongbao in his study of Islam in Xihaigu 西海固 pointed out that with the development of Sufism in China, the Sufi tariqa by the late nineteenth century “has been trans-

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the Beizhuang Sufi tariqa, and initiated the reform of Islam in China. He named his movement Ahl as-Sunna (the Kinsmen of the Tradition) and promoted Ten Principles⁶⁶ that were “severe criticisms to the local Sufi schools and harmed their interests, which resulted in his escape from his hometown in Gansu in 1915 due to the reports by the Sufi menhuan to the local officials”.⁶⁷ As far as his educational activities were concerned, we unfortunately have very little knowledge. We know that he became an imam in his own community at the age of twenty-two and had been teaching and preaching in the Hezhou region for about ten years before he went on Hajj. As an established scholar and a Hajji who enjoyed very high reputation in Muslim communities, he was invited by a number of mosques to hold teaching positions. Chances are that he followed, more or less, the traditional teaching methods of the Jingtang education. What distinguished him from the Jingtang education was likely the content he taught. As his predecessors before him, following his pilgrimage Ma Wanfu brought back books on topics like Islamic theology and law. It is said that, based on the books he had, Ma Wanfu edited and published a book called “bu-

formed or in the process of transforming into a hierarchical organization dominated by power and secular interests”. Besides, it is reported that Islam, especially Sufism in China, was influenced by the Han Chinese culture and customs. The Shaykhs were so powerful that the followers were first of all to get the Idhn (Kouhuan 口喚, “permission”) from the Shaykh before they conclude a marriage contract, for example. What’s more, the followers were even required to worship the Shaykh and pray to them for a child. Some of the Shaykhs went so far as to claim that worshipping them could guarantee the followers a paradise after death. All of these ideas and practices among the Hui, and the Sufis in particular, were, according to Ma Wanfu, against the fundamentals of Islam, and should thus be corrected. See Ma Zongbao, Islam in Xihaigu (Yinchuan: Ningxia People’s Press, 2004), 106; Ma Xiaoxu, “Research on the Religious Thoughts of Ma Wanfu” (MA. Thesis, Northwest Minyu University, 2007), 7.  It was named the Ten Principles of the Guoyuan Hajji (guoyuan shitiao果園十條), which, according to Ma Tong, included: 1) Refrain from the collective recitation of the Quran, but that one recites while others should keep silent and listen; 2) Refrain from the vocal praise of the Prophet Muhammad; 3) Refrain from making superfluous Dua (Duwa 都哇); 4) Refrain from visiting the gunbad (Gongbei 拱北, a domed tomb of a Sufi master); 5) Refrain from the collective recitation of the Tawba (Taobai 討白 the Islamic concept of repenting to Allah); 6) Refrain from performing mourning rituals for the dead; 7) Refrain from performing the circulation of the fidyah or al-Isgat (ransom) with the Quran for the deceased (Zhuan Feida or Zhuanjing 轉費達, 轉經); 8) Refrain from doing the tatawwu (taitaiwoer 抬太臥爾 voluntary service) amal (Ermaili 爾麥力 charitable work, deeds pleasing Allah, also often refers to a feast commemorating the deceased); 9) Refrain from going extreme in terms of the application of the Hukm (haokong or houkong 豪空, 候空 command, rule, or judgement); and 10) the Amal should be done by oneself, and the amal done on behalf of others is invalid. Ma, General History of the Islamic Sects, 96 – 97.  Ma, General History of the Islamic Sects, 440.

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huali zande 布華裡咱德”,⁶⁸ which was later re-edited by his disciples and introduced as a textbook into modern Islamic schools started by the Ikhwan followers. In general, Ma Wanfu’s Islamic reform was a response to the Hanisization (hanhua 漢化) of Chinese Muslims. In terms of the theology, doctrine, and law of Islam, Ma Wanfu did not introduce or invent anything new, but instead argued that “any religious matters should be in accordance with the Sharia and those bad and undesirable customs in the Chinese Islam should be abolished”.⁶⁹ For

 This book was co-edited with the other nine imams of the so-called Ten Akhunds. Originally, due to the repression of the Sufi-dominated local authority over the Ikhwan, only some twenty copies of the book were printed, which, unfortunately, were all lost. It is said that they selected from some eight books that Ma Wanfu brought back from Mecca. These included Ihya Ulum alDin (yihayayi 伊哈雅依 “the Revival of the Religious Sciences” by the eleventh century Sufi Abu Hamid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazali); al-Fiqh al-Akbar (feigehai aikebaier 費格海 艾克 拜爾, also translated as Daxue 大學 “the great teaching”, a book on Islamic jurisprudence by the eighth century Great Imam, jurist and founder of the Hanafi school, Abu Hanifa); Tafsir al-Qadi (Gazui zhenjingzhu 嘎最真經注, was actually Anwar al-Tanzil wa-Asrar al-Ta’wil or, the “Lights of Revelation and the Secrets of Interpretation” in English, or commonly known as Tafsir al-Baydawi by the name of its author, a thirteenth century Shafii scholar and jurist Nasir al-Din al-Baydawi, the Chinese Muslims transliterated it as Gazui by the official position the author held, a Qadi, judge); Irshad, or Majalis Irshadiyah (yiershade 伊爾沙德, not much is known about the book, but it was presumably written by a scholar called Hajji Muhammad Al-Amin Effendi); Al-Maktubat (maiketubu 麥克圖布, a collection of letters of Imam Rabbani Mujaddid Alf Thani Ahmad al-Faruqi al-Sirhindi, a seventeenth century scholar and Hanafi jurist and Naqshbandi Sufi master); Ash-Shami (shamijing 沙米經, originally named as Radd al-Muhtar ala adDur al-Mukhtar, a book on fiqh written by the eighteenth century Hanafi scholar Allamah Sayyid Muhammad Amin ibn Abidin ash-Shami); Kalam (Kailiamu 凱倆目, “study of Islamic doctrine”, is the book Al-Aqeedah al-Nasafiyya by the twelfth century Hanafi jurist and theologian Najm adDin Abu Hafs Umar ibn Muhammad an-Nasafi); and al-Mabsut (maibosutui 買蔔蘇推 or manbusute 曼布蘇特, written by Muhammad ibn al-Hassan al-Shaybani, a companion and student of Imam Abu Hanifa, is one of the most important collections in the Hanafi school of law). There is currently no English research concerning the circulation of these books among Chinese Muslims and the Ikhwan followers in particular, nor as to how they inspired Ma Wanfu and were related to the reforms he initiated. However, one thing that must be pointed out is that these works were and still are important sources for the Ikhwan followers in China, and none of them is categorized as a Wahhabi work. This in some way also demonstrates our argument that the Ikhwan that Ma Wanfu initiated in China is not a result of his acceptance of the Wahhabism in the Holy City of Mecca during late nineteenth century. For a short and brief introduction of these works and their influence in the Ikhwan in Chinese, see Wei Hanmei, “Studies on the Thoughts of Venerating the Scripture and Reforming the Customs of the Ikhwan in Modern China” (PhD. diss., Shaanxi Normal University, 2018), 77– 83.  Bai Shouyi, “On the Islam in the Northwest,” in References to the History of Islam in China, ed. Li Xinghua and Feng Jinyuan (Yinchuan: Ningxia People’s Press, 1985), 98.

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Ma Wanfu, and the Hui Muslims in general, influences from the Han and the Han culture were responsible for the unorthodoxy and un-orthopraxy in Chinese Islam. For them, “the only way that Muslims struggled against the Hanicisation was to resist learning and accepting Han culture”.⁷⁰ Ma Wanfu himself indeed educated his own children in this way, including four sons and two daughters, who, it is said, “were fluent in Arabic… But Ma Wanfu held a negative attitude towards his children’s learning the Han culture”.⁷¹ This, presumably, was also reflected in his educational reform project.⁷² Ma Wanfu passed away in 1934. Due to the military and political changes in China at the time, the Hui warlords in northwest China joined the Nationalist Party (the Kuomintang, KMT). Naturally, the Ikhwan supported by them became powerful, as well. The new leading Ikhwan imams, unlike the founder Ma Wanfu, turned the conservative Ikhwan into a Chinese nationalist school that promoted modern secular education and nationalism.

4.2 The “New Teaching”, “New Schools”, and Secular Educational Reform The so-called secular educational reform was in fact already visible since the late Qing Dynasty, particularly after 1905 when the Imperial Examination was officially abolished. A detailed analysis on the educational reform in this regard would necessitate a book-length task. However, a brief investigation concerning different reform projects initiated by the Hui Muslims will be given here, including the establishment of new types of schools, sending students abroad, and expending teaching and research facilities. The secular educational reform of the Hui Muslims started with the establishment of new forms of primary schools. I call it “secular” educational reform

 Ma Jing, “On the Reasons of the Development of Ikhwan in the Northwest,” Qinghai Social Sciences, no. 6 (2005): 131.  Ma Kexun, “The Animateur of Ikhwan in Chinese Islam: Ma Wanfu,” in Islam in China: Essay Collections of the Symposium on Islam in the Five Provinces in Northwest China, ed., Gansu Nationality Research Institute (Yinchuan: Ningxia People’s Press, 1982), 449.  Several scholars have pointed out that the emphasis of learning Chinese and Arabic in the Jingtang education was one of the characteristics of the Ikhwan. However, it is necessary to point out that there was an attitude change towards the Chinese language and culture in the education of the Ikhwan. As far as Ma Wanfu was concerned, we have not seen any sources indicating that any Chinese subject was taught in the Jingtang education while presided over by Ma Wanfu; in fact, Chinese language and culture was something that should be excluded from his Islamic reform.

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simply because the Hui Muslims, as a minority religious group in China, intentionally included secular courses inspired and introduced by Westerners. These include “scientific subjects”, such as history, Chinese and English languages, mathematics, chemistry, and physics, in their self-designed curriculum. A best representative case in this regard, while somehow also a neglected one, is Tong Cong (童琮 1864– 1923). In 1906, together with several other local Muslim elites, Tong founded the Muyuan Private Lower and Higher Primary School (Muyuan sili liangdeng xuetang 穆源私立兩等學堂). Tong was a well-known teacher with about two decades of teaching experience before he started the Muyuan school. Notably, during his teaching career, he wrote and edited three-volume textbooks for teenagers. The textbooks were so successful that they soon became popular in Jiangsu, Shanghai, Henan, Zhejiang, Jiangxi, Hunan, Guangdong, and Beijing.⁷³ Though little is known about the details of the educational activities of the Muyuan school or its curriculum, it is likely that Tong used his own textbooks for the students, which covered subjects such as mathematics, natural sciences (mainly in the third volume of the book), and English. The introduction of these subjects into the school curriculum was a common practice among other Chinese schools. However, just as indicated in the name of the school,⁷⁴ the Muyuan school still kept its Muslim aspects.⁷⁵ Its name indicates the ethnoreligious dimension of the school, with Mu 穆 referring to Muslim or Islamic and Yuan 源 meaning origin. In combination, this means the origin of (the culture and knowledge of) Muslims. Additionally, every Friday afternoon, probably after the Jumu’ah congregational prayer, the imam of the mosque would be invited to teach Arabic and other basic Islamic teachings at  The textbooks were inspired by the idea of national salvation through education (jiaoyu jiuguo 教育救國) and national salvation through science (kexue jiuguo 科學救國), and at a later point they even included the knowledge of natural sciences. In 1912, when the Republic of China was founded, the textbooks were introduced to the Shanghai Chinese Higher Primary School (Shanghai zhonghua gaodeng xiaoxue 上海中華高等小學). The publication of the books did not stop until 1937, when Japanese soldiers committed the massacre in Zhenjiang. See Pei Wei, “Introduction to the Textbook Qiangyuanke Mengcao of the Modern Hui Education,” Chinese Construction, no. 35 (2017): 59; Xue Longhe, “Tong Cong: Pioneer of the Modern New Hui Muslim Education in China,” Journal of Hui Muslim Minority Studies, no. 4 (2013): 62.  In 1912, with the founding of the Republic of China and the end of the Kuimao Educational System, the school was renamed as Muyuan Private Primary School (Muyuan sili xiaoxue 穆源私 立小學), which was kept until the Cultural Revolution (1966 – 1976) when different names were used for the school. In 1984, the name Muyuan was restored at the request of the local Islamic Association. In 2008, it was integrated with another local primary school and was named the Muyuan Ethnic School of Zhenjiang City (Zhenjiang shi muyuan minzu xuexiao 鎮江市穆源民 族學校).  Xue, “Tong Cong,”, 63.

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the school. This hybridization of Islamic and secular education marks one of the characteristics of the modernization of Islamic educational reform in China. The case of Tong Cong is also important in that, in addition and in relation to the aforementioned educational activities, Tong was among the very first initiators to direct the development of the so-called New Cultural Movement of the Hui (Huizu xin wenhua yundong 回族新文化運動).⁷⁶ Based on the Muyuan school, Tong Cong in the same year established one of the first Muslim educational associations, the East Asia Islamic Educational Association (Dongya qingzhen jiaoyu hui 東亞清真教育會).⁷⁷ The association aimed at the universal education of Islam, and it intended, as stated by the founder, to gather the elites of our religion to set up the standard of education so as to persuade our coreligionists to follow the trend and set up other branches; to guarantee that there is a school in each of the Muslim community and every Muslim child goes to school, where an editorial office is set up for the editing of the textbooks for each of the subject at the schools; meanwhile the office shall also collect and publish news on current affairs and the teachings of our religion to help enlighten our co-religionists. ⁷⁸

The association that Tong founded was important in that it was not only the first Muslim association that focused on the issue of education in modern China, but it also, as indicated by the association’s name, had an international perspective that aimed to widen the Hui Muslims’ horizon and ideally establish a network that connected, and indeed united, Muslims both in and outside China. Thanks to the development of modern communication technology and the improvement of transportation means, Tong’s pioneering endeavour, which had never before  The New Culture Movement of the Hui is a milestone in the history of Islam in China. It was first elaborated by the famous scholar and historian Gu Jiegang 顧頡剛, who published an article entitled “The Culture Movement of Islam” (Huijiao de wenhua yundong 回教的文化運動) in the Ta Kung Pao 大公報 on the 7th of March, 1937. He claimed that the endeavours initiated by the Hui Muslims since 1907 to set up new schools, newspapers, and various associations marked “the first cultural movement of the Hui Muslims in modern China.” As far as the contents and connotations of the New Culture Movement are concerned, it briefly includes Religious Reform, Cultural Movement, and Social Movement, of which Religious Reform is the most central, for religious belief is regarded as the core of Muslims’ life and any reform would take religion as its starting point. Bai Shouyi, Essay Collections of Bai Shouyi on Religion and Ethnicity (Beijing: Beijing Normal University, 1992), 77.  Originally, the association was called the General Educational Association of East Asia Muslims (Dongya mumin jiaoyu zonghui 東亞穆民教育總會). With the discussion of the Hui Muslim student in Japan, Tong decided to use the current name. Yu and Yang, 1992, 100. The connections between Tong Cong and the Hui Muslims in Japan will be discussed later.  Yu Zhengui and Yang Huaizhong, ed., Collections of the Historical Newspaper on Islam in China Vol. One: Aweakening the Hui, Islam (Yinchuan: Ningxia People’s Press, 1992), 101.

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existed in the history of Islam in China, was made possible and finally materialized. His initiation of the East Asia Islamic Educational Association inspired the establishment of the Islamic Educational Association in Tokyo (Liudong qingzhen jiaoyu hui留東清真教育會), founded by the Hui Muslim students who were studying in Japan in 1907.⁷⁹ These Hui students in Japan benefited from the policy of the Qing government sending students to study abroad, especially during the New Policies Reform from 1901 till 1905 (qingmo xinzheng 清末新政).⁸⁰ It is said that during this period there were more than 10,000 Chinese students studying in Japan.⁸¹ In 1906, eleven Hui students who were studying in Japan first held a meeting at a Tokyo restaurant, which inspired a later meeting of thirty-six Hui students⁸² to establish the Islamic Educational Association in Tokyo. Helping the students was Yang Shu (楊樞 1844– 1917)⁸³, a Muslim and the Chinese ambassador in Japan, who was also the chief supervisor of Chinese students in the country. Obviously, it was Islam shared by these students that made it possible to unite all the Hui out of the tens of thousands of Chinese students in Japan, as they themselves said that:

 Masumi Matsumoto and Lu Zhonghui, Studies on the Ethnic Policies of China: on the Minzuism from Late Qing to 1945 (Beijing: Minzu Press, 2003), 270 – 71.  Prior to 1906, there were already Hui Muslim students studying in Japan. For example, Ha Hanzhang (哈漢章 1879 – 1953) was sent by the Qing government at the age of twenty in 1899 to study at the Imperial Japanese Army Academy. Ha later became the Military Advisor for the Office of the President of the Republic of China. Wang Xilong and Yong Yun, “On the Islamic Education Association in Tokyo,” Qinghai Social Sciences, no. 2 (2018): 198.  Matsumoto and Lu, Studies on the Ethnic Policies of China, 270.  Among the 36 Hui students, there were six from Jiangsu; four from Yunnan, Shanxi, and Henan, respectively; three from Sichuan and Hubei, respectively; two from Guangxi, Shaanxi, Hunan and Hebei, respectively; and one from Guangdong, Shandong, Shenyang (called Fengtian 奉天at that time), and Anhui, respectively. It has to be noted that Yang Qidong from Shenyang was the only female student. Additionally, Su Chengzhang from Hunan was an imam. Generally, most of these students were from the coastal cities, and there were no Muslim Hui students from the Gansu or Xinjiang regions where Muslims were concentrated. Wang and Yong, “On the Islamic Education Association in Tokyo,” 200.  According to Wang Ke, Yang Shu got the appointment with the recommendation of Zhang Zhidong (張之洞 1837– 1909), one of the most important representatives of the Self-Strengthening Movement. Wang, 1999, 197. We can assume that Yang’s activities in Japan were influenced by his own Muslim identity as well as his identity as a Qing minister who affiliated with the SelfStrengthening Movement. His involvement in and financial support for the Islamic Educational Association in Tokyo may also have something to do with his personal relationship with one of the members of the association, as we know that Yang Dianbiao 楊殿鑣, the only student from Guangdong, was actually Yang Shu’s nephew.

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our co-religionists, who are studying in the capital of Japan, have come one after another though, do not know each other…although we are not organized in form, the spiritual unity is quite consolidated. If it were not for our religion, how could we attain this! ⁸⁴

In the winter of 1907, the students held the first plenary session in Edo where they claimed, among other things, that the aim of the association was to advocate the popularization of educational and religious reform.⁸⁵ In line with the idea of National Salvation through Education (jiaoyu jiuguo 教育救國) that had been discussed among social elites since late Qing China, the Hui Muslims studying in Japan had also realized the importance of education as a crucial means of saving and revitalizing China. Bao Tingliang, the Yunnanese Muslim and president of the association, said that “those countries with education shall survive and those without shall die; those with old-styled education shall die while those with new education shall live”.⁸⁶ The Hui students did not stop at advocating for education’s importance in cultivating qualified citizens, as Sun Yat-san called for;⁸⁷ but they additionally believed that religions, specifically Islam, “have the power to transform society”,⁸⁸ and that it was only education with the spiritual guidance of their religion, Islam, that could save their homeland, China. The students further emphasized the role of religion and religious education in cultivating national consciousness which could eliminate the ethnic and religious differences among different peoples and ethnic groups in China and contribute to building the Chinese nation.⁸⁹ In other words, in addition to the idea of jiaoyu jiuguo 教育救國, the Hui students actually advocated the idea of National Salvation through Religion (zongjiao jiuguo宗教

 Awakening the Hui, “Event Record of the Islamic Education Association in Tokyo,” in The Surviving Records of the History of Islam in China, ed., Bai Shouyi (Yinchuan: Ningxia People’s Press, 1983), 377– 79.  Ibid.  Bao Tingliang, “On the Responsibility of Educational Revitalization,” in Qingzhen Dadian, vol. 24, ed., Zhou Xiefan (1908, reprint, Heifei: Huangshan Press, 2005), 496.  In 1905, Dr. Sun Yat-san led and started the nationalistic revolutionary organization in Japan, the Chinese United League (Zhongguo Tongmenghui中國同盟會). Several Hui students joined the league and were, in fact, some of its first founding members. According to Xu and Ha’s research, there were at least fourteen students who were at that time members of the Tongmenghui. Xu Xianlong and Ha Zhengli, “The Hui Students Studying Abroad in Japan in the Late Qing and the 1911 Revolution: Based on the Review of the Members from the Islamic Education Association in Tokyo,” Ethnicity Studies, no. 4 (2011) 67.  Cai Dayu, “Preface to the Islamic Education Association in Tokyo,” in Qingyhen Dadian vol. 24, ed., Zhou Xiefan (1908, reprint, Hefei: Huangshan Press, 2005), 505.  Huang Zhenpan, “The Relationship between Religion and Education,” in Qingyhen Dadian vol. 24, ed., Zhou Xiefan (1908, reprint, Hefei: Huangshan Press, 2005), 486 – 94.

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救國), for they believed that their support of the nationalistic revolution led by Sun Yat-san, as well as their endeavors in religious and educational reform, were all dedicated to the “fulfilment of Allah’s will”.⁹⁰ The activities of the Islamic Educational Association in Tokyo did not last long, likely due first to the fact that their main financial sponsor, Yang Shu, stood down and went back to China, and secondly, that most students, especially the most active ones, such as the president of the association and chief-editor of their publication, Awakening the Hui (Xinghuipian 醒回篇), Bao Tingliang, finished their studies around 1908 and 1909 and returned to their hometowns in different provinces across China. However, they inspired their fellow Muslims and continued the careers they started in Japan by contributing to the reform and modernization of the Republic of China, as well as within the Hui community through starting their own causes or joining the republican government.⁹¹ Meanwhile, with the development of various educational reform activities within the Hui communities, as well as the re-establishment of connections between the Muslim communities in China and the Muslim intellectual centres during late Qing and early Republican period, the traditional Jingtang education also experienced changes and transformations. Among them, the most influential Muslim who brought real changes in the educational reform was Imam Wang Kuan (王寬 1848 – 1919), also known as Wang Haoran 王浩然. Imam Wang had already enjoyed a good reputation and been highly respected before he came back from Mecca in 1907 as a Hajji. His travel to Mecca and visits to some Muslim regions during 1906 and 1907, especially Istanbul,⁹² changed his mind and deter Masumi Matsumoto, “Rationalizing Patriotism among Muslim Chinese: The Impact of the Middle East on the Yuehua Journal,” in Intellectuals in the Modern Islamic World: Transmission, Transformation, Communication, ed., Stéphane A. Dudoignon, Hisao Komatsu, and Yassushi Kosugi (London: Routledge, 2006), 122.  It is not possible to trace the activities of all the students when they finished the study in Japan. However, we know that, for example, Bao Tingliang went back to Yunnan in 1909 and worked as head of the Supreme Court of Yunnan; Huang Zhenpan 黃鎮磐 was appointed by Sun Yat-san as the chief procurator of the Supreme Procuratorate in Guangdong; Liu Qing’en 劉慶恩 went to study in Germany and worked as the supervisor in Hanyang Military Works; and Yang Qidong 楊啟東, the only female student in the association, started the Fengtian Islamic Girls School (Fengtian qingzhen nüzi xuetang 奉天清真女子學堂) in her hometown. Wang and Yong, “On the Islamic Education Association in Tokyo,” 203.  It is said that when Wang Kuan was in Turkey he required King Abdulhamid II to send two Quran reciters to China to teach the correct reciting of the Quran. See Bai, Brief Account of the Hui Figures, 222– 24. However, according to the reports of the newspaper then, the two representatives, Hafiz Hassan and Ali Rita, were sent by the Emperor to “investigate the Muslim communities in China for reference.” Ding Baochen, “Reports on the Turkey Representatives,” Zhengzong Aiguo Bao, June 18, 1908; Zhang Juling, “Textual Collation of the Article ‘Wang Kuan’ by Bai

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mined him to improve the conditions of the Hui communities in China through educational reform.⁹³ In January 1908, with the financial support from Ma Linyi (馬鄰翼 1864– 1938)⁹⁴ and other local Muslim elites, Wang Kuan of the Niujie Mosque in Beijing initiated the establishment of the Capital Islamic Two-Level Primary School (Jingshi qingzhen liangdeng xiao xuetang 京師清真兩等小學 堂). It was later joined by another four primary schools at neighbouring mosques and was thus renamed the Number One Capital Islamic Two-Level Primary School (Jingshi qingzhen diyi liangdeng xiao xuetang 京師清真第一兩等小學 堂). As an educational reformer, Wang Kuan himself taught the Quranic courses. In addition, other imams and the Hui literati were invited and employed to teach courses such as Chinese, history, mathematics, geography, and physics at the school. The school was also made unique by admitting both Muslim and nonMuslim students. This approach of establishing primary schools in local mosques soon spread to other Muslim communities in and outside of Beijing, when Wang Kuan was invited to teach at mosques in Shanghai, Hohhot, Nanjing, and Kaifeng. His efforts and achievements were so successful that the modern Chinese Hui historian, Bai Shouyi, regarded him as the representative and marker of the introduction of modern Hui education in China.⁹⁵ The reform activities of Wang Kuan were also important in the ways they demonstrated that the Hui educational reformers did not aim at abolishing or replacing traditional Jingtang education, but rather sought to redefine what a qualified Muslim should be in a changing and challenging Han-dominated society. Seeing various educational reforms as fundamental ways to strengthen Qing China by the Han Chinese and the Qing governments since the 1860s, the Hui

Shouyi,” Journal of Beifang Ethnic University, no. 1 (2013): 7. Despite this, it is understood that the two representatives were involved in Wang Kuan’s educational reform.  Before he came back from Mecca, Wang Kuan had been a conservative imam who did not prefer, among other things, the introduction of the so-called “new teachings” into the traditional Jingtang education. One example was his relationship with one of his most well-known students, Ding Baochen 丁寶臣, who started the first modern newspapers of the Hui after being expelled from the mosque by Wang Kuan. See Fan Qianfeng, “Wang Kuan an Epoch-Making Akhund,” The Hui Literature 1 (2014): 45 – 46.  Ma Linyi was also an important figure in modern Hui Muslim education in China. After he graduated in Japan in 1905, he founded two primary schools (one specifically for girls) at the mosques in his hometown in 1906, and worked at the Educational Department of Qing when he supported Wang Kuan in Beijing. See Ding Mingjun, “Inheritance and Innovation of Modern Hui Muslims Education from the Perspective of Localization,” Northwestern Journal of Ethnology 1 (2016): 210.  Bai Shouyi, The Surviving Records of the History of Islam in China (Yinchuan: Ningxia People ′s Press, 1983), 385.

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elites realized the importance and urgency of modern education for their people. They argued that “the men in our religion are eight or nine out of ten illiterate, those who are literate are merely capable of daily calculation; while [education] is even rare as for the women”.⁹⁶ As we have discussed before, the fundamental aim of the Hui educational reformers was to revitalize Islam, for they believed that “studying is the best way to prosper our religion, while the worst for our religion is not to study”.⁹⁷ After the discrimination and oppression since the Ming Dynasty and the sufferings of the violent rebellions of the Qing, what most concerned the Hui Muslims were the questions of how to revitalize Islam, how to reconstruct Hui communities, and how to develop in the changing era by going back to their traditions and reinterpreting the verses in the Quran, the teachings in the Hadith, and the Sharia. In other words, the logic of educational reform among the Hui Muslims in modern China lies in the ideas of revitalizing religion/Islam through education (jiaoyu xingjiao 教育興教) and national salvation via religion (zongjiao jiuguo宗教救國). Religion, or more explicitly Islam, plays a crucial part in combining education and the national salvation which then inspired the Chinese. For the Hui, Islam, educational reform, and national salvation are all interconnected. It is impossible for them to imagine a certain approach of national salvation through education without the fundamental and spiritual support of Islam. With the work done by Hui reformers, open-minded Imams, local elites, Hui Muslim government officers, and ordinary Muslims in the community, the Hui students that were cultivated in these new-style schools were becoming the new emerging forces that would enliven the more comprehensive reform of Islamic education in the Republic of China. With the establishment of the Republic of China in 1912, the Hui Muslims, together with other Chinese, were promised a country “in which all could fulfil their dreams, exercise their rights, and become leaders of the provinces and the nation”.⁹⁸ As for the Hui educational reform, the main contents were the continuation of the establishment of new-style schools, independently or within mosques; writing and translating books; setting up public libraries, publishing houses, and associations; and sending students to study abroad. These activities are not merely the continuation of those from the late Qing period. They differ not only in quantity, but also in quality.

 Jun Rong, “Fundamental Improvement of the Awareness of Islamic Education of the Hui,” Tu Jue 2, no. 7 (1935): 7– 9.  Ding Zhuyuan, “Islam and Education,” Zhengzong Aiguo Bao, 01.1912.  Immanuel C. Y. Hsü, The Rise of Modern China, 6th edition (New York: Oxford University Press, 2000), 454.

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First, hundreds of Muslims primary schools were established, which was the most prominent feature of the Hui educational reform during the Republican period. It was said that there were more than 500 primary schools founded in or outside the mosques around the year 1919.⁹⁹ Most of the hundreds of primary schools came as a result of the call from the Chinese Islamic Association for Progress (Zhongguo Huijiao jujinhui中國回教俱進會), which was established in 1912 by the Hui elites in Beijing, with Ma Linyi as the president and Wang Kuan Akhund as the vice-president.¹⁰⁰ This association, with the promotion of popular education as one of its aims¹⁰¹, was soon followed by other Hui Muslim communities, and “within one year…almost every province has a branch of the association”¹⁰² that founded primary schools and promoted Hui education in their respective communities. Second, there were also several secondary schools established by the Hui, such as the Peiping Chen Ta Islam Normal School (Beiping chengda shifan xuexiao 北平成達師範學校, hereafter Chengda School)¹⁰³ and the Mingde Middle School in Kunming (Kunming mingde zhongxue 昆明 明德中學) in the Yunnan province.

4.3 Reconnecting with the Intellectual Centre of Islam The Hui Muslims’ establishment of educational associations during the Republican period played a crucial part in not only creating an institutionalized net-

 Hu Zhenhua, Chinese Hui Ethnicity (Yinchuan: Ningxia People’s Press, 1993), 28.  The founding members of the Chinese Islamic Association for Progress include 174 Hui Muslims who were well-known imams, government officials of high posts, journalists, and entrepreneurs. In addition, they also admitted some fifty Muslims and non-Muslims who “agree with and support the aims of the association”, according to Article nine of the Constitution of the Chinese Islamic Association for Progress, as supporters (Zanchengren 贊成人) for the association, among whom were Cai Yuanpei 蔡元培, Ha Hanzhang 哈漢章, and Ma Yuanzhang 馬元 章. These supporters were of Han, Mongol, or Manchu ethnicity and were either senior officials or military generals. For detailed information, see Zhang Junling, “The Foundation of Chinese Muslim Ju Jin Association at the Early Stage,” Hui Ethnicity Study, no. 29 (1998): 11– 12.  In addition to the promotion of popular education, the association also aimed at nine other tasks, including publishing newspapers, founding factories, and translating Islamic books. See Article two of the Constitution of the Chinese Islamic Association for Progress. Zhang, “Foundation of Chinese Muslim Ju Jin Association,” 16 – 17.  Zhang, “Foundation of Chinese Muslim Ju Jin Association,” 15.  The Chengda School was founded in Jinan in 1925. However, due to the socio-political situation in China then, the school had to move and relocate in different places. In 1929, it moved to Beijing; in 1937, with the help of Muslim general Bai Chongxi 白崇禧, it moved to Guilin; however, it had to move again to Chongqing in 1944 before it moved back to Beijing in 1946.

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work that connected domestic Muslim communities in China, but also an international one that united Chinese Muslim communities with those abroad, particularly with Muslim intellectual centres, such as Egypt. In 1928, the young Ikhwan Akhunds Ma Weihai¹⁰⁴ and Wang Shaomei,¹⁰⁵ who studied with Ma Wanfu in Qinghai, returned to Yunnan and started preaching Ikhwan. However, their activities, like those of their teacher Ma Wanfu, encountered great resistance from the existing Muslim authorities, including the Jahriyya Sufi order. To solve these problems, the newly reformed Yunnan Islamic Association for Progress (Yunnan Huijiao jujin hui 雲南回教俱進會) held the first provincial conference for religious matters so that the disputes among different Islamic schools might be solved. However, the conference turned out to be a failure. Interestingly, the organizers of the conference asked Imam Sha Zhuxuan¹⁰⁶ to write a summary of the conference and send it to the president of Al-Azhar for final judgement.¹⁰⁷ It is said that the president of Al-Azhar replied to them, stating that Chinese Muslims should be united instead of being divided by minor de-

 Ma Weihai馬維海 (1896 – 1982) was a well-known Yunnanese Muslim scholar and imam. During my fieldwork in Yunnan, I was told that after years of study in Sichuan and Shaanxi, Ma followed Hajji Ma Wanfu, founder of the Ikhwan in China in 1917. He spent eight years with Ma Wanfu and returned to Yunnan in 1925, where he was invited by the Xundian Islamic Association for Progress (Xundian Huijiao jujinhui 尋甸回教俱進會) as an imam in the local mosque for thirteen years. Before the Culture Revolution, Ma worked as an imam and also established an Islamic Teachers’ School (Shifan xuexiao 師範學校) in the Baxian Grant Mosque in Zhaotong County.  Wang Shaomei 王少美 was born in Dali in a religious family. It is said that his father, Wang Zimei, was financed by Du Wenxiu to go on Hajj. According to the unpublished sources of the History of the Hui in Shadian (Shadian Huizu shiliao 沙甸回族史料), he first studied together with Ma Wanfu in Gansu and Shaanxi, and later became Ma Wanfu’s student.  Sha Zhuxuan 沙竹軒, also named as Sha Pingan 沙平安, was born in 1879. He studied Arabic and Islam in Yunnan and worked for a short time as an interpreter for the French company, which made him knowledgeable in French. Around the early 1910s when the Yunnan-Haiphong railway was finished, Sha went on his Hajj. In 1913, he was invited by Ma Guanzheng to serve in the position of imam in the local mosque in Kunming. He served as an Arabic language teacher and was the editor of several Muslim journals and newspapers. He also started his own press company and published several important books in Islamic studies. He passed away in 1956. See Yang Zhaojun, ed., History of the Hui Ethnicity in Yunnan (Kunming: Yunnan Minzu Press, 1994), 285 – 87.  According to Gao’s biographical research on Na Zhong 納忠, who probably attended the conference, the letter was actually sent to the Mufti of Mecca instead of the president of AlAzhar. See Gao Fayuan, Descendants of Prophet Mohammed: History of a Moslem Family in China (Kunming: Yunnan University Press, 2000), 44– 45. Later, in 1929, a scholar from Afghanistan called Badr Farid Rahman (Baide’er fadele laheman 白德爾 法德勒 拉赫曼) came to visit Yunnan and encouraged them to send students to study at Al-Azhar.

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tails.¹⁰⁸ This correspondence with Al-Azhar not only solved the dispute between Muslims in Yunnan, but also laid the root for sending students to the university in the future. Another key figure for the communication between the Yunnanese Muslims and the University of Al-Azhar was an Afghan scholar known as Muhammad. He was invited to give a speech by the Mingde Middle School (Mingde zhongxue 明 德中學) in Kunming, a modern secondary school organized by the Yunnan Islamic Association for Progress. The topic of his speech was about religion and education, in which he introduced the educational development in the Islamic world, including that of Egypt. Muhammad was also asked to deliver a letter from the Yunnan Islamic Association for Progress to the president of Al-Azhar University. On the 25th of December, 1930, a letter from the president of AlAzhar, the Grand Imam Mohammad Ahmadi Al-Zawahiri, was received, in which the president agreed to accept Muslim students from China. After more than half a year’s preparation, examination, and selection, three students from the Mingde Middle School and one from the Shanghai Islamic Teachers’ School (Shanghai Yisilan shifan xuexiao 上海伊斯蘭師範學校) were admitted. On the 13th of November, 1931, the four students and an instructor, Sha Rucheng, set forth on their journey to Egypt. It is necessary to point out that the desire and hope for the revitalization of Islam in China was the main aim that motivated the students, organizers, and Muslims in general. The president of the Yunnan Islamic Association for Progress, Ma Bo’an (馬伯安 1886 – 1961), stated in his farewell speech to the students that: When at the beginning the colleagues were determined, all we wanted was to reform and revitalize the religion by cultivating qualified and talented people… Now although there are in China many believers in Islam, there are indeed only a few who understand the principles of the religion…from now on, if we wish for the survival of our religion there are no other options but to improve the education and work on cultivating talents. ¹⁰⁹

It is obvious that the question of how to realize the revitalization of Islam was the main concern of the organizers, as Ma Bo’an emphasized that the students should put “further researching the fundamentals of the religion” as their priority.¹¹⁰ Na Xun, a classmate and close friend of one of the first four students studying at Al-Azhar, spoke highly of one of the candidates Na Zhong, and said that “for the sake of the future of Islam, Zijia [namely, Na Zhong], who is fearless of  Yang, History of the Hui Ethnicity in Yunnan, 280.  Ma Boan, “Farewell Speech at the School of the Yunnan Branch of the China Islamic Association for Progress,” Qingzhen Duobao, no. 27 (1932): 28.  Ibid.

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any difficulty, is going to achieve his ambition that is to fight for our school, and for the future of Islam in China”.¹¹¹ These students were sent to the intellectual centre of Islam in hope that they might come back with knowledge that could contribute to the survival, as well as revival, of Islam in China. As a matter of fact, several Hui Muslims—including Wang Haoran, Ma Debao, Ha Decheng, Zhou Zibing, Zhao Yingxiang, Xing Anma, Wang Jingzhai, and Ma Hongdao— travelled to the Middle East during the late nineteenth and early twentieth centuries. Most of them were the pioneers who initiated and contributed to the modernization of Islam in China, especially in the field of modern secular education. The four students and Ma Songting Akhund arrived in Cairo in 1933 and were warmly welcomed by King Ahmed Fuad I (1868 – 1936), who agreed to accept Chinese students to study in Egypt, and the Department of Chinese Students at alAzhar was established. The Egyptian King also sent two teachers from al-Azhar to teach at the Chengda School.¹¹² In 1936, Ma Songting Akhund, one of the founders of the Chengda School, visited Egypt again and the 16-year-old King Farouk I (1920 – 1965) agreed to personally pay for the Chinese Muslim students’ study in Egypt. The Farouk Group of Chinese Students in Egypt (Faluke Zhongguo liu Ai xuesheng tuan 法魯克中國留埃學生團) was founded, and it planned to sponsor twenty Chinese students to study in Egypt. However, due to the SinoJapanese War in 1937, only fifteen students were able to take part.¹¹³ Another benefactor of the connections between the Chinese Islamic educational associations and Cairo was the establishment of the Fuad Library (Fude tushu guan 福德圖書館), the so-called “only library of Islam in the east”.¹¹⁴ It was named after and in honour of King Fuad for his generosity in accepting the Chinese students and his support in building the library. Libraries, a fundamental means to support education, have developed since late nineteenth century China, and the Hui Muslims also began building their own libraries and

 Na Xun, “Farewell Speech for Student Na Zijia to Study in Egypt by the Students of Class Three,” Qingzhen Duobao, no. 27 (1932): 28.  Ma Qing, “Stepping Out of the Marginalized Situation: The Cultural State of Mind of Hui Elites during the Republic of China Period Shown by Chengda Normal School,” Northwest Ethno-National Studies, no. 4 (2008): 202– 4.  As I mentioned above, the network among Muslims in China built by various associations, especially the Chinese Islamic Association for Progress, helped unite Muslims in different parts of China. Among the 15 students who benefited from the Farouk sponsorship, there were also two Muslim students from Xinjiang. Yao Jide, “The Process of Sending Chinese Hui Students to Al-Azhar in Egypt,” Research on the Hui, no. 1 (1999): 62– 3.  Editors of the School Magazine, “Call for Donations of Books to the Fuad Library of Beiping Chengda Teachers’ School,” School Magazine of the Chengda Teacher’s School 3, no. 36 – 37 (1936).

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reading rooms in the early twentieth century.¹¹⁵ In addition, the Chengda School founded a preparatory committee for the library, the members of which include non-Muslims, distinguished professors, and government officials such as Cai Yuanpei 蔡元培, Chen Yuan 陳垣, Mei Yibao 梅貽寶, Feng Youlan 馮友蘭, and Zhang Xinglang 張星烺. These committee members also contributed money and/or books to the Fuad Library from their own professional or personal collections.¹¹⁶ Though the library had not actually been put into use before the Chengda School was forced to move to Guiling due to the 1937 breakout of the Sino-Japanese War, what impresses us most and distinguishes the modern Islamic education from the traditional Jingtang education is the school’s demonstrated open-mindedness and vision. They invited, as members of the library’s preparatory committee, distinguished professors to visit the school and give lectures to the students. These professors, known not only in their own fields but also for the development of modern Chinese academia, and the lectures they delivered contributed to the pedagogical diversity of teaching in the Chengda School while also representing the interactions and dialogue between Hui intellectuals and the Chinese academic establishment.

5 Conclusion The modernization projects of Islamic education initiated by the Hui Muslims from the late Qing until roughly the breakout of the Sino-Japanese war in 1937 constitute the first golden period of Islamic educational development in modern China. The Hui Muslims, particularly during the Republican period, were arguably for the first time treated as equal subjects with the Han Chinese. Or, at least in theory were seen as such. It is evident that the modernization of the Hui Muslims’ Islamic education has been influenced and shaped by two forces: one Chinese, the other Islamic. Living in China, there is no way that the Hui could isolate themselves from the Han Chinese nor the Chinese society at large. However, this sometimes—and for some people, such as Ma Wanfu—inevi-

 In as early as 1916, warlord Ma Fuxiang (馬福祥 1876 – 1932) established in Ningxia the first local library, and later, in 1919, a Hui People’s Library was founded in Xi’an. Hui Daqiang, “Muslim Libraries and Reading Rooms in the Republic of China,” China Muslim, no. 3 (2013): 53.  Those who donated money to the library included, for example, Chiang Kai-shek 蔣介石, He Yingqin 何應欽, and Wang Yunwu 王雲五, and those who donated books included institutions and associations, such as the National Beiping Institute (Guoli Beiping yanjiu yuan 國 立北平研究院), Yenching University (Yanjing daxue燕京大學), the Orient Bookstore (Dongfang shushe 東方書社), etc.

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tably leads to “bid’ah” that should be excluded from Islam. On the other hand, it is clear that the modernization of Islamic education among the Hui Muslims maintained an evident connection with the centres of Islam—be it the religious centre of Mecca, or the intellectual centres of Al-Azhar or Turkey. This echoes the findings of Fletcher that there is no existence of a separate “Chinese Islam”, but rather that it is always linked to, and part of, the history of Islam in its very centres. As Fletcher argues: “the more secluded and remote a Muslim community was from the main centres of Islamic cultural life in the Middle East, the more susceptible it was to those centres’ most recent trends”.¹¹⁷ In this regard, the modern educational reform of the Hui is no exception. The Hui’s case of modern Islamic educational reform typically represents the construction of the dual identities of the Hui, consisting of both Muslim and Chinese traditions. Even Ma Wanfu’s conservative Ikhwan was an effort to rectify his fellow Muslims’ religious practices so as to “venerate the scriptures and rectify the customs”; not to mention the reformers who intentionally combined Chinese and other modern subjects with Islamic theological subjects through school curricula. In this regard, the modern educational projects share great similarity with the traditional Jingtang education, despite some clear differences between the two. In other words, both Jingtang education and the modern projects serve the Hui’s efforts to search for a new identity, to define and redefine who they are in response to the changing and challenging conditions of Chinese society. Jingtang education largely arose in the context of the Ming Dynasty when a series of assimilative, discriminative, and oppressive policies were issued by the government and threatened the very existence of Islam and Muslims in China. The modern projects, though appearing to be more complicated, were also responses to the external challenges brought about by Chinese socio-political situations. The modern reformers targeted either a traditional Jingtang education that was overly influenced by Chinese culture, or the new situation in which the Hui Muslims were supposed to live, cooperate, and, maybe more importantly, compete with the Chinese, which required sufficient knowledge of modern science and technology. Clearly, education for the Hui Muslims, especially religious education, has been a channel through which their (religious) identity has been constructed in response to external challenges. Now when we look back, these various projects were carried out in response to the socio-political situations of different Muslim communities in China. It should be kept in mind that it was the Hui Muslims’ concern for the survival

 Joseph Fletcher, “The Naqshbandiyya in Northwest China,” in Studies on Chinese and Islamic Inner Asia, ed., Beatrice F. Manz (London: Variorum, 1995), XI 33.

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and revival of Islam in times of great transformations of a Han-dominated Chinese society that similarly motivated the reformers. However, this in no way suggests that there was an identical shared approach from the Muslims’ side in tackling these challenges. On the contrary, we see quite different approaches applied by the Hui, which partially result from factors including the local Muslim population, the geopolitical locations of the community, the relations with the Han majority and the Chinese authority, and the composition and distribution of the Islamic schools. Hence, methodologically, perhaps any research on Islam in China that overgeneralizes the socio-cultural and political specifics of the Muslim communities would be misleading. Our research findings demonstrate that Hui Muslim communities maintained different, sometimes conflicting, understandings and approaches concerning an ideal Islamic education in modern China, and how to cope with it. Instead of speaking of a singular modernization of Islamic educational reform in China, then, it might be appropriate, given the complexity of the issue in question, to speak of modernizations in its plural form. Considering the above findings, the topic in question requires further and deeper investigations. For example, it is clear that Al-Azhar played an important part in the Hui’s educational reform; however, we still know little about what precisely these influences were, and how the Hui Muslim students translated and transmitted these influences into China. In addition, currently most research in both Chinese and Western academia focuses on what I call the secular reform projects. More work, however, needs to be done in terms of the reform activities within the traditional Jingtang education, particularly in the Muslim-concentrated northwestern part of China. Thanks to the digitalization of the books, newspapers, journals, and magazines produced by the Hui Muslims since the late Qing period, future researchers are able to access and make use of the archive. Last but not least, more work is needed in terms of the study of modern educational reform among Turkic-speaking Muslims in China, as well as the relations between the Hui and the Uyghur, and those with the Communist Party of China since 1949.

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Reza Hajatpour

Lehr- und Lernpraktiken in der ḥauze vor und nach der Islamischen Revolution Im religiösen Bildungssystem der Schia fasst man unter dem Begriff ʿilm (Wissen) diejenigen Wissenschaften zusammen, die in unterschiedlicher Weise mit der Vertiefung und Verfestigung des Glaubens zusammenhängen. Die Bildungsstätten bzw. die Orte des Wissens (Sg. dār al-ʿulūm), also die Schulen (Sg. madrasa), sind bis heute weiterhin Zentren der religiösen Gelehrsamkeit und Praxis. Die Bedeutung des Wissens und der Wissenschaft sowie ihre Ziele bezüglich der religiösen Gelehrsamkeit gehen mit der Art des Ritus und der Glaubensüberzeugung einher. Dementsprechend besitzt die religiöse Wissenschaft eine Werkzeugfunktion (Funktion als Mittel), eine Inhaltsfunktion und eine Pflichtfunktion, aber keine Selbstzweckfunktion. Dennoch nehmen an den religiösen Schulen in Bezug auf die schiitische Gelehrsamkeit charakteristische Lernmethoden und die professionelle Weitergabe des Wissens einen hohen Stellenwert ein. Gegenwärtig sind in Iran etwa 270 Studierende an den Theologieschulen eingeschrieben. Eine Gesamtzahl von 15.000 bis 18.000 männlichen Theologiestudenten wird vermutet. Die weiblichen Theologiestudenten sind ebenso zahlreich vorhanden. Rund 280 Schulen werden von Frauen besucht, davon zwei an der Theologischen Hochschule Qom, 35 in der Provinz Khorasan. Insgesamt beläuft sich die Anzahl der weiblichen Theologiestudenten auf etwa 28.000 Personen.¹ Alle Schulen, die von den weiblichen Theologiestudenten besucht werden, unterliegen der Obhut einer zentralen Organisation. Diese Bildungsstätten bzw. die Orte des Wissens wurden in der modernen Zeit ḥauze genannt. In diesem Beitrag geht es um die Strukturen der schiitischen ḥauze als Ort der Aneignung und Bewahrung der religiösen Gelehrtentradition und der Disputationspraxis bezüglich der Art des methodischen Wissenserwerbes und der Wissensvermittlung. Ferner soll hier kurz auf die Rolle und Haltung der ḥauze im Kontext des politischen Diskurses und interner Reformdebatten eingegangen werden. Abgesehen von meinen eigenen persönlichen Erfahrungen, die ich in meiner Autobiographie Der brennende Geschmack der Freiheit festgehalten habe,² nehme

 ʿAlī Širḫanī und ʿAbbās-i. Zārʿ, Taḥawwulat-i ḥauze-i ʿilmiyya-i Qum pas az pīrūzi-i inqilāb-i islāmi. (Ghom: Entešarāt-e asnād-e enqelāb-e eslāmī, 2005), 98 – 101.  Reza Hajatpour, Der brennende Geschmack der Freiheit: Mein Leben als junger Mullah im Iran (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005). https://doi.org/10.1515/9783110731743-010

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ich im vorliegenden Beitrag Bezug auf die Atmosphäre der ḥauze-ye ʿelmiyye in Iran und auf die innere Welt der traditionellen Bildungsstätten. Diese werden in einem bei Herder erschienenen Bildband detailliert behandelt. In der erwähnten Veröffentlichung beschreibt man die ḥauze in ihrer postrevolutionären Gestalt, jedoch wird zugleich der Versuch unternommen, einen Einblick in die religiösen Lehr- und Lernsysteme vor der sogenannten Islamischen Revolution in Iran (also vor 1979) zu liefern. Außerdem dient Mahdī Ż awābeṭīs Monographie Pažūhešī dar Neẓ ām-e ṭalabegī, die einen umfassenden Einblick in die Strukturen der theologischen Zentren bietet, für den vorliegenden Artikel als Grundlage. Ebenso widmet sich Aḥmad Pākatčī dem Thema der ḥauze-ye ʿelmiyye ausführlich in einer elementaren islamischen Enzyklopädie (Dāʾerat al-maʿāref-e bozorg-e eslāmī). Darüber hinaus beleuchten die Arbeiten von Saeid Edalatnejad Zur Geschichte und Gegenwart der Seminare und religiösen Schulen der Schia und Ein Überblick über das Lehr- und Erziehungssystem der schiitischen Geistlichkeit das historische Verständnis von der theologischen Ausbildung der Schia und die gegenwärtige Lage. Weiterhin liefert das Buch Taḥawwulat-i ḥauze-i ʿilmiyya-i Qum von ʿAlī Širḫānī und ʿAbbās Zāreʿi einen informativen Einblick in die Veränderungen der ḥauze nach der Revolution von 1979. Innovative Auskünfte über Reform und Reformkritik der ḥauze liefert die Arbeit von Katajun Amirpur mit dem Titel Reformen an theologischen Hochschulen? Tendenzen der heutigen Diskussion im Iran.

1 Ḥauze: Das religiöse Bildungssystem Ḥauze ist ein recht moderner Begriff für die schiitischen Hochburgen bzw. Ausbildungsorte, in denen traditionelle Gelehrsamkeit und religiöse Studien praktiziert werden. Ursprünglich war dieser Begriff für das islamische Gebiet (ḥauze-ye eslām) und den muslimischen Lebensraum (ḥauze-ye moslemīn) geläufig, die von den schiitischen Gelehrten beschützt und verteidigt werden mussten. Zudem war im älteren politischen Kontext auch die Bezeichnung „Territorium des Islams“ (arab. dār al-islām, selten auch bayḍat al-islām) in Gebrauch. Im letzten Jahrhundert wurde der Begriff ḥauze in Kombination mit dem Adjektiv ʿelmiyye (wissenschaftlich) für religiöse Bildungszentren als Ort der Wissensvermittlung und des Wissenserwerbs verwendet. Der Ausdruck ḥauze-ye ʿelmiyye ist ferner ein feststehender, gängiger Begriff für die besonderen religiösen Ausbildungsstätten, wie sie vor allem in den Städten Qom, Maschhad, Isfahan und Schiraz in Iran sowie Nadschaf, Kerbala und Samarra im Irak vorzufinden sind. So wurde dieser Begriff erst nach dem Umzug von Ayatollah ʿAbdolkarīm Ḥāʾerī Yazdī (gest. 1937) im Jahre 1920 von der kleinen Stadt Arak in die Mausoleumsstadt Qom zu einer dauerhaften Bezeichnung für die dortige Wissens-

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hochburg.³ Die meisten dieser Ausbildungsorte wurden neben den heiligen Mausoleen und den Grabstätten der großen religiösen Rechtsgelehrten gegründet. Eine ḥauze-ye ʿelmiyye umfasst zahlreiche Herbergen, die den Theologiestudierenden als Unterkunft dienen. Sie entstanden oftmals neben einer Moschee und sind heute offiziell als traditionelle madrase bekannt. Darüber hinaus umfasst dieser Sammelbegriff auch die Häuser der religiösen Rechtsgelehrten selbst sowie sämtliche Unterrichtsräume, die in den Moscheen oder neben den heiligen Mausoleen errichtet wurden. Das Bildungssystem war in den meisten islamischen Ländern jedoch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf ein rein religiöses Lernsystem beschränkt. Erst im Zuge der Modernisierung wurde das Interesse für die Entwicklung neuer und moderner Schulen und Hochschulen geweckt.⁴

2 Das schiitische Theologensystem Eine ḥauze ohne Theologiestudierende wäre ohne Bedeutung. Ṭalabe ist hierbei die Bezeichnung für den Theologiestudenten schlechthin. Ṭalabe wird als Gattungsbegriff sowohl für den männlichen als auch den weiblichen Studenten, für den Einzelnen und für das Ganze verwendet. Wörtlich übersetzt bedeutet ṭalabe soviel wie „Wissensuchender“ bzw. „-fordernder“ und steht für die Wissenssuche bzw. Wahrheitssuche. Die Pluralform des Wortes (ṭollāb) wird verallgemeinernd für alle Theologiestudierenden verwendet, wenn von den Studierenden einer Schule oder eines Bezirks (ḥauze) die Rede ist. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von dem System der ṭalabegī, einem religiösen Unterrichtsmodell für diejenigen, die später als religiöse Gelehrte tätig sein werden.⁵ Das Fundament dieses Systems besteht aus den Studierenden (ṭalabe), der Lehrkraft (modarres bzw. ostād, was auch so viel wie „Meister“ bedeutet), Unterrichtstexten (motūn-e dars), Lernzirkeln (ḥalqe-ye dars) und Diskussionspartnern (ham mobāhese). Das Wesen der ṭalabegī ist jedoch nicht nur darauf be-

 Aḥmad Pākatčī, „Ḥauze-i ilmiyya“, in Dāʾirat al-maʿārif buzurg-i islāmī, hrsg. von Kaẓim Mūsawī Buǧnūrdī, XXI (Teheran: Markaz-e Dāʾerat al-maʿāref-e bozorg-e eslāmī, 2016), 462– 503.  Saeid Edalatnejad, „Zur Geschichte und Gegenwart der Seminare und religiösen Schulen der Schia: Ein Blick von innen“, in Gott ist das Haus des Wissens. Ein Kunstprojekt von Hans Georg Berger in theologischen Schulen und Hochschulen von Qom, Maschhad und Isfahan, hrsg. von Hans Georg Berger und Jürgen Doetsch, übers. von Reza Hajatpour (Trier: Katholische Akademie, 2005), 32– 36.  Mahd Ẓawābetī, Pažūhešī dar Nizām-i ṭalabegī (Teheran: Čāpḫāne-ye naqš-e cahān, 1980), 133 – 35.

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schränkt, es umfasst mehr als das (so ein dem Propheten Muḥammad zugeschriebener Ausspruch): „die Suche nach Wissen, auch wenn es in China sein sollte“.⁶ Grundsätzlich stehen die Lernzirkel allen Theologiestudierenden offen, die in der ḥauze-ye ʿelmiyye leben, auch wenn sie sich in verschiedenen Herbergen (madāres, Sg. madrase) aufhalten, die meist von den Großayatollahs gegründet wurden. Auch die Lernzirkel, die in den Häusern der Gelehrten stattfinden, sind allen Studierenden frei zugänglich. Nach der Islamischen Revolution von 1979 wurden allerdings innerhalb der ḥauze immer mehr institutionalisierte Schulen gegründet, die ausschließlich die dort eingeschriebenen Studierenden zum Unterricht zuließen. Diese sind auch heute noch dazu verpflichtet, unter der Leitung der Schule einem bestimmten Lehrplan zu folgen. Ferner wird ihnen nur eine bestimmte Lehrkraft zugewiesen. Speziell diesbezüglich gab es Meinungsunterschiede zwischen dem Staatsführer Ayatollah Khomeini (gest. 1989) und seinem damaligen designierten Nachfolger, Ḥosain ʿAlī Montaẓerī (gest. 2009). Während Khomeini das traditionelle Lehr- und Lernsystem bevorzugte, war Montaẓerī der Ansicht,⁷ dass die ḥauze als ein zentralisiertes Bildungssystem verwaltet werden sollte, geführt von einer Leitungsmannschaft, was zum Teil auch umgesetzt wurde. Dennoch laufen neben diesen Schulen weiterhin offene Lernzirkel überall dort in der ḥauze, wo die Räume für den Unterricht zur Verfügung gestellt werden können. In diesen Fällen ist es den Studierenden freigestellt, ihre Lehrkraft selbst auszusuchen. Die Lehrkraft wird oft nach dem Ruf seiner Expertise in der einen oder anderen Disziplin ausgewählt und gehört meist zu derjenigen Gruppe, deren Unterrichtseinheiten von zahlreichen Studierenden besucht werden. Alle, die in die ḥauze eintreten und sich als Theologiestudierende anmelden, werden schnell mit den Lehrwerken vertraut gemacht, denn diese sind in der jeweiligen ḥauze als Standardwerke verbreitet und werden den Studienanfängern und ‐anfängerinnen von den älteren Studierenden empfohlen. Die Studierenden müssen sich selbst um die Anschaffung der geforderten Werke kümmern, so wie sie auch die Wahl ihrer zukünftigen Lehrkraft selbst vornehmen sollen. Zu diesem Lernsystem gehört oft auch ein Kommilitone bzw. eine Kommilitonin, die als feste/r Disputationspartner/in zwischen zwei oder mehr Studierenden dienen soll.

 Ẓawābetī, Pažūhešī dar Nizām-i ṭalabegī, 135.  Mahdī Ǧāmī und Mahdī Ḫalaǧī, „Az šahr-i Ḫodā tā šahr-i donyā: Inqilāb dar Ḥauze“, zugegriffen 4.4. 2019, http://www.bbc.com/persian/iran/story/2005/08/050802_mj-shahr-e-khoda3. shtml.

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3 Studienverlaufsplan Insgesamt besteht das Studium in der ḥauze aus drei Phasen, die abhängig von der studierenden Person oder der Lehrkraft in einem nicht institutionalisierten Lernzirkel zwischen zehn und fünfzehn Jahren andauern können. Diese drei Phasen sind terminologisch nach Stufen benannt: Grundstufe (moqaddemāt), Oberstufe (satḥ) und Endstufe (dars-e ḫāreǧ). Die letzte Bezeichnung bedeutet „Unterricht über [das Buch] hinaus“, denn hier liegt dem Unterricht anders als in den Stufen davor kein bestimmtes Buch bzw. keine bestimmte Textbasis zugrunde. In der ersten und zweiten Stufe lernen die Studierenden die Texte aus den Standardwerken, die in der ḥauze als Unterrichtswerke üblich sind, auch wenn der/die eine oder andere Studierende eine Vorliebe für andere Themen zeigt. Alle Unterrichtsinhalte bilden eine Basis für die jeweils nächste Stufe und sind so angelegt, dass man fundierte Grundlagen erwerben kann, um die nächste Stufe meistern zu können. Die Unterrichtsinhalte und ‐quellen werden von einfachen Grundlagen bis hin zu einem komplexen Ganzen aufgebaut. In der dritten Stufe ist der/die ṭalabe darum bemüht, das Erlernte durch eigenständige Forschung und das Studium als Ganzes in die Praxis umzusetzen, um sich als ein eigenständiger Gelehrter (moǧtahed) zu qualifizieren. Diese Endphase ist die Phase des iǧtihād, also die der selbstständigen Anwendung und Analyse der Überlieferungen und Lehrmeinungen. In dieser Phase legen die ṭollāb den Fokus entweder auf die Methodenlehre des religiösen Rechts (uṣūl al-fiqh) oder auf die praktischen Rechtsfragen (fiqh). Oft wird das Interesse für eine bestimmte Richtung bereits in der zweiten Phase geweckt.⁸ Bis vor der Islamischen Revolution existierte jedoch kein offizielles Gremium, das die Lehrwerke bestimmte: Sämtliche Lehrwerke wurden durch Mund-zuMund-Propaganda überliefert. Bei der Auswahl der Lehrwerke wurde Lehrkräften und Studierenden im Großen und Ganzen freie Hand gelassen. Meistens jedoch ließen sich die Studierenden durch die Empfehlung der Lehrkraft überzeugen. Erst seit der sogenannten Islamischen Republik wurden Schulen gegründet, in denen die Lehrwerke vom Schulgremium vorgegeben werden.

 Pākatčī, „Ḥauze-i ilmiyya“, 497– 501.

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3.1 Die Grundstufe Die Grundstufe nennt man moqaddemāt, denn sie hat das Ziel, den ṭalabe auf das tiefe Erlernen bzw. auf das Verständnis der Themen und auf die religiösen Fragen in der nächsten Phase vorzubereiten. So ist unumgänglich, zunächst die Sprache und weiteres methodisches Handwerkszeug zu erlernen, um die Texte verstehen und rationale Methoden anwenden zu können. Da das Unterrichtsmaterial auf Arabisch erstellt worden ist, muss der ṭalabe mit dem Studium dieser Sprache und ihren philologischen Besonderheiten beginnen. Nur so kann er sich dann im nächsten Schritt mit den islamischen Wissenschaften auch inhaltlich auf adäquate Weise auseinandersetzen. Die Unterrichtspläne dieser Grundstufe bestehen zumeist aus fünf Werken, deren Mehrzahl in der Zeit der Safawiden-Dynastie (1501– 1722) als Lehrbuch eingeführt wurden. Die Autoren dieser Werke sind vornehmlich persischer Abstammung. Ǧāmiʿ al-muqaddimāt zum Beispiel gilt als ein Sammelwerk von umfassenden Einführungen in sprachliche und methodische Grundkenntnisse. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von vierzehn Abhandlungen, die unter anderem folgende zentrale Texte enthält: ‒ al-Bahǧa al-maraḍiyya fī šarḥ al-Alfiyya, ein Kommentar von Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī (gest. 1505) zur Alfiyya von Ibn Mālik (gest. 1274) ‒ Muġnī al-labīb von Ibn Hišām (gest. 1360), über die Feinheiten der arabischen Sprache ‒ die Ḥāšiya, also der Kommentar, von Mullā ʿAbdallāh Yazdī (gest. 1612) zu dem Logikbuch Tahḏīb al-manṭiq von Saʿd ad-Dīn at-Taftāzānī (gest. 1388)

Zum Ende dieser Phase hin nimmt man sich schließlich das Werk al-Muṭawwal von at-Taftāzānī vor. An den meisten heutigen Schulen, sei es an einem theologischen Hochschulzentrum oder in einer madrase in den Städten, werden diese Werke in der Grundstufe unterrichtet. Vereinzelt verwendet man jedoch alternative Werke, die je nach Schule als besser oder verständlicher für das Studium erachtet werden. Im Ǧāmiʿ al-muqaddimāt wird die Formenlehre vermittelt, das heißt die arabische Grammatik und Syntax. Darin ist auch ein kleines Traktat über die Logik enthalten (manṭiq kubrā). As-Suyūṭīs Kommentar zur Alfiyya vertieft die arabische Grammatik, Textbildung und Stilistik. Es ist ein Kommentar zu tausend Versen über die arabische Grammatik von Ibn Mālik und wird traditionell als Lehrwerk empfohlen, da man der Meinung ist, dass die Studierenden durch das Auswendiglernen dieser Verse die grammatikalischen Regeln nie vergessen werde. Es gibt allerdings Studierende oder auch Schulen, die as-Suyūṭīs Kommentar durch den von Ibn ʿAqīl (gest. 1367) zur Alfiyya ersetzen. An anderen Schulen wird

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statt diesen beiden Werken das Lehrbuch al-Qawāʿid al-asāsiyya unterrichtet, weil diese beiden Werke je nach Geschmack leichter und fließender seien als asSuyūṭīs Kommentar, der als zu kompliziert erachtet wird. Mit dem Muġnī al-labīb von Ibn Hišām erlernen die Studierenden die Grundregeln der arabischen Endungen, gewinnen Erkenntnisse über den Umgang mit der arabischen Sprache in Verbindung mit der arabischen Literatur und erlangen die Fähigkeit, die arabische Sprache zu kommentieren und kritisch zu behandeln. Alternativ zum Muġnī al-labīb wird auch gerne dessen verkürzte Version mit dem Namen Tahḏīb. Die Ḥāšiya von Mullā ʿAbdallāh Yazdī lehrt die grundlegenden logischen Formen und die Anwendung der richtigen Methode des Denkens, was den Studierenden die Fähigkeit verleihen soll, nicht nur im Umgang mit den Texten, sondern auch im Streitgespräch analytisch zu vorgehen. Ferner soll die Logik den ṭalabe dazu befähigen, das Erlernte in richtiger und bleibender Form im Geiste zu organisieren. Auch dieses Buch soll aufgrund der pergamenten Sätze, die in die Grammatik der Logik einführen, Behandlung finden, damit die Studierenden sich durch das Auswendiglernen die Grundsätze der Logik einprägen können. Zuletzt studiert der ṭalabe in dieser Phase das al-Muṭawwal, um sich mit der Kunst der Beredsamkeit und der Redekunst vertraut zu machen. Dieses Werk hilft dabei, sowohl Poesie als auch Koranverse zu deuten und sich in Rhetorik, Auslegung und Stilistik weiterzubilden. Alternativ zu diesem Werk wird der Einfachheit halber auch Ǧawāhir al-balāġa von Aḥmad al-Ḥāšimī (14. Jahrhundert) unterrichtet. Die Grundstufe dauert in der Regel fünf Jahre, kann aber je nach Fleiß und Geschwindigkeit der Lehrkraft und der Studierenden auf vier Jahre reduziert werden.

3.2 Die Oberstufe Nach Beendigung der Grundstufe beschäftigt sich der ṭalabe mit den Werken der Oberstufe, um sich auf die Qualifikation zum iǧtihād, also die Endstufe, vorzubereiten. In dieser Stufe werden in der Regel die folgenden Lehrwerke in der unten angeführten Reinfolge unterrichtet. Grundsätzlich finden hier die Werke von jenen Gelehrten Verwendung, die vor allem in der Zeit der Safawiden-Dynastie (1501– 1722) und der Kadscharen-Dynastie (1796 – 1925) die geistliche Führung im Land innehatten: ‒ Maʿālim al-uṣūl von Zayn ad-Dīn al-ʿĀmilī (gest. 1602), ein Buch zu den Grundregeln der Methodologie der Jurisprudenz

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‒ Šarḥ Lumaʿ ad-dimašqiyya von aš-Šahīd aṯ-Ṯanī, ein Kommentar zur imamitischen Jurisprudenz von Muḥammad b. Makkī b. Muḥammad aš-Šāmī al-ʿĀmilī al-Ǧizzīnī, bekannt als aš-Šahīd al-Awwal (gest. 1384) ‒ für fortgeschrittene Studierende das Kitāb al-Makāsib und ar-Rasāʾil fī l-uṣūl von Scheich Murtaza Ansari (gest. 1864) sowie Kifāya al-uṣūl von Mullā Kāzim Ḫurāsānī (gest. 1911)

In dieser Phase erfolgt die Spezialisierung zum islamischen Recht und seiner Methodenlehre. Mit dem Kitāb al-Makāsib vertieft man sich in Fragen des zwischenmenschlichen Handelns und in das Thema Verträge. Mit den Werken arRasāʾil und Kifāya al-uṣūl lässt sich der Student auf eine diskursive und vertiefte Diskussion über die schiitische Methodologie zur Jurisprudenz ein. Auch in dieser Phase werden je nach Nutzen alternative Lehrwerke zu den bereits genannten Büchern empfohlen. Vereinzelt befassen sich Studierende auch mit Qawānīn al-uṣūl von Mirzā al-Qummī (gest. 1818), das sich ebenso wie das arRasāʾil mit der Prinzipienlehre der Jurisprudenz beschäftigt. Am häufigsten studiert man heute jedoch das Logikwerk und das Buch der Methodologie zur Jurisprudenz von al-Mużaffar (gest. 1950), weil seine Werke verständlich formuliert und die anderen zu kompliziert verfasst seien.⁹ Manche Studierende befassen sich parallel dazu auch mit dialektischer Theologie (ʿilm alkalām) und Philosophie (falsafa). Grundsätzlich wird hier mit einfacher Lektüre begonnen, um anschließend komplexe Fragen durch eigene rationale Erwägungen zu behandeln. Die Lehrkraft liest die Texte wie in der Grundstufe meist Satz für Satz vor. Sie analysiert die Texte vorab und wirft hin und wieder knifflige Fragen auf, um die Studierenden auf die Spitzfindigkeiten des jeweiligen Werkes aufmerksam zu machen. Dann setzt sich der ṭalabe selbstständig und auf rationale Weise mit Rechtsfragen, Rechtsbegriffen und deren Analyse auseinander. In der Regel dauert diese Stufe fünf Jahre.

3.3 Die Endstufe Durch Abschluss der ersten beiden Stufen erlangen die Studierenden fundierte Kenntnisse für die selbstständige Erforschung verschiedener Disziplinen. Das Ziel der dritten Stufe ist es nun, den ṭalabe zum Grad des iǧtihād zu führen. Oft werden in dieser Phase die Disziplinen fiqh und uṣūl al-fiqh behandelt. In der Regel lernt man hier bei einem Großayatollah oder bei einer Lehrkraft, die bereits die Stufe des iǧtihād erreicht haben. Zum Teil werden Texte aus bedeutenden Werken als  Pākatčī, „Ḥauze-i ilmiyya“, 498.

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Grundlage herangezogen. Diese Texte können auch aus dem bereits erlernten Studienmaterial stammen, das in der Oberstufe bereits behandelt wurde. In der Endstufe erlernen die Studierenden nicht nur die kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen, sondern auch die Verwendung des erlernten Wissens, um eigene Sichtweisen in den islamischen Wissenschaften und vor allem in der Jurisprudenz darzulegen. Die ṭollāb sind in dieser Phase gleichwertige Partner ihrer Lehrkraft. Am Ende eines Kurses präsentieren sie dieser ihre Notizen und das Ergebnis ihrer Untersuchungen bzw. ihres Studiums, das oft die Meinungen der Lehrkraft wiedergibt (taqrīrāt). Diese Stufe kann je nach Zeit und Aufwand fünf Jahre, bei manchen sogar zehn Jahre dauern. Manche ṭollāb studieren gleichzeitig Philosophie und dialektische Theologie (ʿilm al-kalām) oder auch Korankommentare (Sg. tafsīr). Die Mehrheit der Studierenden konzentriert sich jedoch auf die Jurisprudenz und deren Methodologie. Nach den Abschlussprüfungen der Oberstufe erhalten die ṭollāb in einem Fachgebiet oder mehreren Themenfeldern die sogenannte iǧāza, das heißt die Befugnis zum iǧtihād. Sie ist die höchste Befugnis, die ein ṭalabe erhalten kann, wofür er in der Endphase die Lehrkraft davon überzeugen muss, dass er selbstständig und meinungsstark zu eigenen Urteilen und Analysen Stellung beziehen kann.

4 Methodische Lern- und Lehrpraxis sowie geistige Bildung Die methodische Lehr- und Lernpraxis der ḥauze ist von Beginn an ein einzigartiges System, das sich von modernen Ausbildungssystemen auf grundlegende Weise unterscheidet. Es fungiert wie in der scholastischen Zeit und ist stark auf überlieferte Texte konzentriert, die oft die Forschungsergebnisse der großen Gelehrten beinhalten.¹⁰ In allen Disziplinen wählt die Lehrkraft ein Lehrbuch aus und präsentiert den Studierenden die Bedeutung der Ausführungen Satz für Satz. Die meisten dieser Werke sind keine üblicherweise verwendeten Lehrbücher. Sie können daher ohne eine geschulte Lehrkraft gar nicht studiert werden. Diese Unterrichtswerke wurden oft von verschiedenen Gelehrten zusätzlich mit Anmerkungen und Randkommentaren versehen und so weitergegeben.  Edalatnejad, „Zur Geschichte und Gegenwart der Seminare und religiösen Schulen der Schia“, 37– 43.

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Manche Lehrkräfte benötigen für die Behandlung einer einzigen Seite eine ganze Stunde. Nach dem Unterricht diskutieren die Studierenden miteinander zu zweit oder zu dritt den Unterrichtsstoff. Diese gegenseitige diskursive Wiedergabe nennt man mobāḥese. Sie wird als Lehrpraxis vom größten Teil der Gelehrten begrüßt. Diese Diskussionsmethode findet in allen Phasen des Studiums statt, sogar bei einigen Rechtsgelehrten, die bereits die Stufe des iǧtihād erreicht haben. Es ist üblich, dass diejenigen, die zur Teilnahme am Unterricht nicht mehr verpflichtet sind, ihre Teilnahme als mobāḥese verstehen und somit dennoch anwesend sind. In allen Disziplinen verwendet man für die Themenbereiche dieselbe allgemeine Methode zum Textverständnis und die Texte werden so ausgewählt, dass sie einander ergänzen. Worin sich die Lehrmethode für die Jurisprudenz und ihre Methodologie von anderen Methoden unterscheiden, ist jedoch die Konzentration auf Themen, die in weiteren Lernstufen aufeinander bezogen werden. Die ausgewählten Lehrwerke sind entweder vom selben Autor verfasst oder von einer Person, die die vorherigen Werke kritisch kommentiert und kritisch ergänzt hat. Darüber hinaus thematisiert die Lehrkraft diverse Fragestellungen und legt die Themen der juristischen Theologie und der Methodologie der Jurisprudenz detailliert dar. Sie erweitert diese durch die Meinungen früherer Gelehrter. Das Ziel des ṭalabe ist es, in jeder Phase die Grundkenntnisse zu beherrschen, um sie in der nächsten Stufe anzuwenden. Die Oberstufe ist so angelegt, dass das Interesse des ṭalabe für die religiöse Jurisprudenz geweckt wird. In dieser Phase können auch zusätzliche, nicht verbindliche Kurse belegt werden, wie die dialektische Theologie und die Philosophie. Hier entwickeln sich oft das Interesse und die Richtung, in welche sich der ṭalabe spezialisieren möchte. Ferner erlernen die Studierenden vor allem die Texthermeneutik, um die Überlieferungen zu analysieren und die Korrektheit der Überlieferungsketten zu erkennen, was man als „Wissenschaft der Männer“ (ʿilm ar-riǧāl) bezeichnet. Es handelt sich hierbei um einen Kreis von Personen, deren Überlieferungen in Form einer Kette der Weitergabe als Hadithwerk gesammelt wurden. Dennoch tendiert man in dieser Phase dazu, sich in Richtung einer bestimmten Disziplin zu orientieren. Man teilt diese Tendenzen grob in drei Richtungen ein: Jurisprudenz (fiqh), Philosophie (falsafa) und Literatur (adab). Mit Literatur sind Philologie und Kunstfertigkeiten gemeint. Im Bereich der Jurisprudenz gilt es, Expertise in der Methodologie der Jurisprudenz zu gewinnen. Manche Gelehrte sind für eine der drei Expertisen bekannt und werden entsprechend als Rechtsgelehrte (faqīh), Philosoph (faylasūf) oder Literat (adīb) bezeichnet. Die Philosophen werden von den Rechtsgelehrten jedoch nicht gerne gesehen. In der Zeit des Großayatollah Ḥosain ʿAlī Borūǧerdī (gest. 1961) wurde vereinzelt das Stipendium jener ṭollāb gestrichen, die am Philosophieunterricht

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teilnahmen.¹¹ Derlei Aktionen hinderten die ṭollāb jedoch nicht daran, weiterhin Philosophie zu studieren. Im Philosophiestudium herrscht eine große Neigung zu rationalen Tendenzen. Gewöhnlich befähigt das Studium der Philosophie die Studierenden dazu, die nötigen argumentativen Qualifikationen zu erlangen, um die Existenz Gottes beweisen zu können. Dazu zählen das Studium der Theologie, der Logik, der Gnostik und Ontologie, der Naturlehre sowie zum Teil auch der Mathematik und Astronomie. Heute bezweckt man darüber hinaus noch die unterschiedlichen Schulen adäquat zu analysieren. Die zentralen theologisch-philosophischen Werke, die hier genutzt werden, sind u. a. das Šarḥ at-Taǧrīd von ʿAllāma al-Ḥillī (gest. 1325), das Šarḥ al-Manẓūma von Scheich Hādā Sabzawārī (gest. 1878), das Išarāt wa-Tanbīhāt von Ibn Sīnā (gest. 1037) sowie das Bidayāt al-ḥikma und das Nihayāt al-ḥikma von Muḥammad Ḥusayn Ṭabāṭabāyī (gest. 1981). Jedoch wird vor allem das Werk al-Ḥikma al-mutaʿāliya fī l-asfār al-ʿaqliyya al-arbaʿa, bekannt als al-Asfār al-arbaʿa, von Ṣadr ad-Dīn Muḥammad Šīrāzī, bekannt als Mullā Ṣadrā (gest. 1640), studiert. Man kann sagen, dass die Tendenzen der ḥauze in Qom und Teheran eher an Mullā Ṣadrā orientiert sind, da die meisten Studierenden und Anhänger von Mullā Ṣadra in diesen beiden Städten angesiedelt waren. In den letzten Jahren wurde auch immer mehr das Interesse für die europäische Philosophie geweckt, u. a. für die Arbeiten von Ludwig Wittgenstein (gest. 1951), Alvin Plantinga (geb. 1932) und Alasdair MacIntyre (geb. 1929).¹² Ein weiteres Beispiel für die Erneuerung der ḥauze ist das Angebot von Seminaren in der Computertechnologie sowie die Arbeit mit aktueller Software. Die Spezialisten im Bereich der Literatur fungieren als Philologen und Sprachwissenschaftler. Abgesehen von den offiziellen Lehrbüchern werden auch das Maqāmāt Hamaḏānī von Badīʿ az-Zamān al-Hamaḏānī (gest. 1007), das Maqamāt Ḥarīrī von Muḥammad b. Uṯmān b. al-Ḥarīrī al-Baṣrī (gest. 1122) und manche anderen literarischen Werke wie solche, die Erzählungen, Anekdoten und Gedichte beinhalten, von den ṭollāb studiert. Neben den offiziellen Ausbildungsinhalten erwerben einige ṭollāb auch Kunstfertigkeiten, deren Unterrichtseinheiten allerdings nur selten in den verbindlichen Lehrplänen erscheinen. Diese dienen als Begleitung zu den offiziellen Lehrplänen. Als wichtigste dieser Fertigkeiten gelten die Redekunst, die Predigt und das Streitgespräch.  Pākatčī, „Ḥauze-i ilmiyya“, 481.  Saied Edalatnejad, „Ein Überblick über das Lehr- und Erziehungssystem der schiitischen Geistlichkeit“, in Einsicht. Drei Reisen in die innerste Welt des schiitischen Islam. Fotographien von Hans Georg Berger und frühen iranischen Fotografen., hrsg. von Boris Brauchitsch und Saeid Edalatnejad, übers. von Reza Hajatpour (Berlin: Kehrer Verlag, 2017), 43.

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5 Lernaktivitäten, Streitgespräche, Kunstfertigkeiten und Redekunst Das Predigen (waʿż) ist ein Beruf, der im ganzen Iran praktiziert wird. Fast alle wichtigen Städte in Iran haben ihre großen Redner (Sg. wāʿeż). Die Redekunst einer Person hängt prinzipiell von der individuellen Begabung ab, sie wird jedoch zusätzlich kunstvoll geschult. Ihr Erfolg ist in der Regel daran zu messen, wie eine Rede die Begeisterung des Publikums erzielt. Daher ist sie für die Einflussnahme auf die Gesellschaft unabdingbar.¹³ Bei der Schulung der Redekunst erlernt man, wie eine rhetorisch einwandfreie Rede beginnt, wann sie den Hauptteil erreicht und wie sie schließlich beendet werden soll. Oft beginnt man mit der religiösen Anrede (ḫoṭbe) und einem Vers aus dem Koran. Danach ergänzt man den Vortrag mit Anekdoten, Erzählungen, Belegen aus den Überlieferungen sowie rhetorischer und kunstvoller Rede, die mit einer Schlussbemerkung und oft mit dem Bericht über ein religiöses Ereignis endet. Man erlernt, Ton und Texte aufeinander abzustimmen sowie den Schwung der Stimme korrekt und wirkungsvoll einzusetzen. Ferner ist eine gekonnte Rede auswendig vorzutragen. Die Redekunst war nie nur ein Privileg der Gelehrten. Sie wurde früher auch von Kalifen und Heeresführern beherrscht. Vor der Islamischen Revolution fanden die meisten Predigten in Moscheen statt. Nach der Revolution predigte man auch in privaten Kreisen und vor allem in verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen. Einen guten Redner zu verpflichten, ist kostspielig und muss rechtzeitig organisiert werden. Nach der Revolution wurden Einrichtungen geschaffen, die Redner für die Gemeinden vermitteln. Heutzutage ist das Erlernen der Redekunst an manchen Schulen ein unverbindlicher Teil des Lehrplans, der für den Erfolg der ṭollāb jedoch als wirkungsvoll angesehen wird. Gelegentlich wird in der ḥauze auch Unterricht in Mystik und Ethik angeboten. Beides gehört zu den unverbindlichen Aktivitäten. Die Lehrkraft gibt den Inhalt der Unterrichtseinheit vor und spricht ein Thema nach dem anderen durch. Manche dieser Themen können bis zu drei Jahre andauern. Dasselbe gilt auch für den Korankommentar. Die Ergebnisse des Unterrichts werden von bestimmten Studierenden niedergeschrieben und der Lehrkraft in Form eines Manuskripts zur Verfügung gestellt. Oftmals werden diese Aufzeichnungen dann als Lehrbuch veröffentlicht.

 Ẓawābetī, Pažūhešī dar Nizām-i ṭalabegī, 164– 67.

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Eine mobāḥese, wie sie oben bereits beschrieben wurde, kann sich auch zu einem Streitgespräch entwickeln. Jedoch fanden Streitgespräche (monāżere) früher vornehmlich zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen statt. Mit der Verbreitung der griechischen Philosophie und der Übersetzung von griechischen Schriften wurde auch die aristotelische Dialektik, also die Art der Argumentation und der Rhetorik in der dialogischen Disputation, die von muslimischen Philosophen in ihren Werken behandelt wurde, übernommen und in ihrer Theologie angewendet, um sich gegenüber anderen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen durchzusetzen. Man lehrte sozusagen die neue Methode des Streitgesprächs. Auch das Studium der Logik und der Prinzipienlehre diente der dialektischen Disputation und der Bekräftigung der eigenen Position. Das Forum für solche Disputationen bot vor allem das im Jahre 825 in Bagdad gegründete bayt al-ḥikma (Haus der Weisheit), das als Akademie in frühislamischer Zeit eingerichtet wurde. Die übersetzten griechischen Schriften fanden hier eine Plattform. Streitgespräche dienten damals vielmehr der Motivation sowie der Stärkung und zur Übung der Kunstfertigkeit der Argumentation, aber manchmal auch der Demonstration von Überlegenheit. Heute gilt das Streitgespräch im theologischen Bildungssystem als Vorbereitung für ideologische Auseinandersetzungen. Zusammen mit dem gegenseitigen Gedanken- und Meinungsaustausch wird das Streitgespräch im religiösen Umfeld als ein Faktor bei der Gestaltung von Religion aufgefasst. Dabei verfügen das Streitgespräch und der Meinungsaustausch über eigene Bedingungen und Methoden (Anstandsregeln, Sittlichkeit), also Regeln zu der Frage, wie sie geführt werden müssen. In seinem bekannten Werk Munyat al-murīd fī adab al-mufīd wa-l-mustafīd (Der Gegenstand des Begehrens des Novizen zur sittlichen Belehrung für den Lehrer und den Schüler) stellt aš-Šahīd aṯ-Ṯānī Grundregeln und Anstandsnormen für einen wahrhaftigen Meinungsaustausch vor. Das Ziel ist es, ausschließlich für Gott und durch das Streitgespräch Wahrheiten zu suchen, die aus göttlicher Sicht rechtmäßig (wahr) sind.¹⁴ Abgesehen von der diskursiven und dialektischen Methode wird davon ausgegangen, dass die Theologiestudierenden in diesem System die Empfänger des wertvollen prophetischen Erbes sind, welches über einen göttlichen Ursprung verfügt. In diesem Sinne ist der ṭalabe der Bewahrer der heiligen Tradition des Propheten und der heiligen Imame als dessen Nachfolger in der Schia.

 Zayn ad-Dīn ibn Aḥmad al-ʿĀmilī, Munyat al-murīd fī adab al-mufīd wa al-mustafīd. In Adāb taʿlīm wa-taʿallum dar islām (Teheran: Daftar-i Našr-i Farhang-i Islāmī, 1994).

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Eine asketische Grundhaltung ist ebenso charakteristisch und integral. Nicht alle Studierenden besitzen diese, andere jedoch sind für ihre asketische Haltung bekannt. Sie wird oft anhand ihrer Kleidung sichtbar sowie durch Zurückhaltung bei gesellschaftlichen Aktivitäten. Mit der Kleidung beabsichtigen sie, die Lebensweise des Propheten und der Imame widerzuspiegeln. Die offizielle Kleidung für alle Studierenden besteht aus einem Turban (ʿamāme) in weiß oder schwarz, einem seidenen, hemdartigen Männergewand (ġabā) und einem Überwurf (ʿabā). Ferner kann man in diesem Lernsystem eine wissenschaftliche Hierarchie nach bestimmten Stufen feststellen, die unterschiedlich betitelt werden. Am geläufigsten sind Bezeichnungen wie Āyatollāh („Zeichen Gottes“), Ḥoǧǧat al-eslām („Beweis des Islams“), Ḥoǧǧat al-eslām wa-l-moslemīn („Beweis des Islams und der Muslime“) und Ṯeqqat al-eslām („Vertrauen des Islams“). Keiner dieser Titel ist genau definiert. Ihre Vergabe hängt von den Studierenden bzw. der Gesellschaft ab. Sie ist mehr oder weniger zum Brauchtum geworden. Großayatollah ist der höchste Titel und ihn bekommt die Person, die in den juristisch-religiösen Fragen eine Vorbildfunktion für die Nachahmer unter den Gläubigen hat. Auch wenn in der heutigen politischen Situation in Iran solche Titel oft vorschnell auf viele Geistliche übertragen werden, sind sie bei manchen doch ein Ausdruck des echten Respekts vor ihrer Gelehrsamkeit.

6 Ausblick und Schlussbemerkung Grundsätzlich bietet die ḥauze kein klares Konzept für die zukünftige Berufswahl. Die ḥauze ist eher ein Ort der Gelehrsamkeit und weniger berufsorientiert. Das heißt, dass dort niemand speziell zum Prediger oder Imam einer Moschee bzw. zum Seelsorger ausgebildet wird. Viele brechen das Studium schon am Ende der ersten Phase ab. Einige kommen höchsten bis zum Anfang der Oberstufe. Berufe werden meist nur über Kontakte vermittelt. Seit der Revolution fungieren einige an den Staat gebundene Einrichtungen als Vermittler für religiöse Vorbeter in Städten und Gemeinden, was jedoch oft als Propaganda für das System gedacht ist, da hier häufig Geistliche ausgewählt werden, die die Islamische Republik befürworten. Nur wenige Personen lassen sich nicht vom Endziel abbringen und bleiben in der ḥauze, um später die Funktion eines Dozierenden auszuüben oder sich von der Atmosphäre der ḥauze inspirieren zu lassen.¹⁵

 Edalatnejad, „Ein Überblick über das Lehr- und Erziehungssystem der schiitischen Geistlichkeit“, 41– 46.

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In den letzten Jahren wurden Institute und Einrichtungen gegründet sowie Programme entwickelt, um Experten in anderen islamischen Wissenschaften jenseits der Rechtswissenschaft auszubilden, etwa in Sozial- und Humanwissenschaften. Es gab in Iran bereits kontroverse Auseinandersetzungen vor der Islamischen Republik, um eine Reform der religiösen Hochschulen voranzutreiben. Ein bekanntes Gesicht dieser Reformdebatte war Morteż ā Moṭahharī (gest. 1979), der als einer der Architekten der Islamischen Revolution angesehen wird.¹⁶ Durch die Gründung des Markaz-e modīriyyat-e ḥauzehā-ye ʿelmiyye (Zentrum der leitenden Geschäftsführung der wissenschaftlichen ḥauze) wurde der Versuch unternommen, für die religiöse Bildung eine einheitliche Struktur zu schaffen. Durch diese Einrichtung wird auch eine Verbindung zwischen der ḥauze und den moderneren Universitäten hergestellt. Ebenso wurde durch die Gründung der Ǧāmeʿ-e modarresīn (Gemeinschaft der Dozierenden) den Belangen von Studierenden und Lehrkräften, der Ausbildung, den sozialen und pädagogischen Tätigkeiten sowie der Finanzierung eine stärkere Rolle beigemessen.¹⁷ Traditionell gab es keine zentrale Einrichtung, die sich um die Finanzierung der Lehrkräfte und der Studierenden kümmerte. Die Gehälter der Lehrkräfte wurden individuell von den Großayatollahs übernommen, die je nach Nähe zur Lehrkraft und je nach den eigenen Einnahmen unterschiedlich bezahlt wurden. Ebenso bekamen die Studierenden eine Art Stipendium (šahriyye), wenn sie eine Prüfung oder eine Stufe abgeschlossenen hatten. Auch diese Stipendien wurden individuell von Großayatollahs bezahlt. Mit der Islamischen Republik als Staatssystem und dem Einfluss einiger religiöser Gelehrter in der Politik fand eine Veränderung in der ḥauze statt. Viele Theologen zogen in die Städte und üben die Funktion eines Vertreters der Vormundschaft im Kontext der Idee der Herrschaft des Gelehrten des religiösen Rechts (welāyat-e faqīh) aus, einige haben ein Richteramt inne oder arbeiten für eine staatliche Organisation.¹⁸ Somit streben in der ḥauze viele ṭollāb danach, sich speziell in Bezug auf die politischen Angelegenheiten der Islamischen Republik im Fach Jurisprudenz zu spezialisieren. Auch die Lehrpläne, die Finanzierung, der Inhalt der Unterrichtseinheiten und die Vortragskunst als Zweck der Propaganda der Islamischen Republik wurden von der zentralen Organisation der „Gemeinschaft der Dozierenden“ kontrolliert.¹⁹

 Katajun Amirpur, Reformen an theologischen Hochschulen? Tendenzen der heutigen Diskussion im Iran (Köln: Teiresias-Verlag, 2002).  Širḫanī und Zārʿ, Taḥawwulat-i ḥauze-i ʿilmiyya-i Qum, 501.  Širḫanī und Zārʿ, Taḥawwulat-i ḥauze-i ʿilmiyya-i Qum, 71– 75.  Širḫanī und Zārʿ, Taḥawwulat-i ḥauze-i ʿilmiyya-i Qum, 84.

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In diesem Sinne wurde auch das Interesse für aktuelle Fragen geweckt. Theologen lernen daher auch Englisch und versuchen, Expertise in den Fächern Politik, Ökonomie, Theologie und Geschichte zu gewinnen. Dennoch bleiben viele Theologen der Tradition treu verhaftet und propagieren weiterhin das alte Ausbildungssystem.

Literatur al-ʿĀmilī, Zayn ad-Dīn ibn Aḥmad. Munyat al-murīd fī adab al-mufīd wa-l-mustafīd. In Adāb taʿlīm wa-taʿallum dar islām. Teheran: Daftar-i Našr-i Farhang-i Islāmī, 1994. Amirpur, Katajun. Reformen an theologischen Hochschulen? Tendenzen der heutigen Diskussion im Iran. Köln: Teiresias-Verlag, 2002. Edalatnejad, Saeid. „Zur Geschichte und Gegenwart der Seminare und religiösen Schulen der Schia: Ein Blick von innen“. In Gott ist das Haus des Wissens. Ein Kunstprojekt von Hans Georg Berger in theologischen Schulen und Hochschulen von Qom, Maschhad und Isfahan, hrsg. von Hans Georg Berger und Jürgen Doetsch, übers. von Reza Hajatpour, 31 – 44. Trier: Katholische Akademie, 2005. Edalatnejad, Saied. „Ein Überblick über das Lehr- und Erziehungssystem der schiitischen Geistlichkeit“. In Einsicht. Drei Reisen in die innerste Welt des schiitischen Islam. Fotographien von Hans Georg Berger und frühen iranischen Fotografen., hrsg. von Boris Brauchitsch und Saeid Edalatnejad, übers. von Reza Hajatpour, 41 – 46. Berlin: Kehrer Verlag, 2017. Ǧāmī, Mahdī, und Mahdī Ḫalaǧī. „Az šahr-i Ḫodā tā šahr-i donyā: Inqilāb dar Ḥauze“. Zugegriffen 4. 4. 2019. http://www.bbc.com/persian/iran/story/2005/08/050802_mjshahr-e-khoda3.shtml. Hajatpour, Reza. Der brennende Geschmack der Freiheit: Mein Leben als junger Mullah im Iran. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005. Pākatčī, Aḥmad. „Ḥauze-i ilmiyya“. In Dāʾirat al-maʿārif buzurg-i islāmī, hrsg. von Kāẓim Mūsawī Buǧnūrdī, 462 – 503. XXI. Teheran: Markaz-e Dāʾerat al-maʿāref-e bozorg-e eslāmī, 2016. Širḫanī, ʿAlī, und ʿAbbās-i. Zārʿ. Taḥawwulat-i ḥauze-i ʿilmiyya-i Qum pas az pīrūzi-i inqilāb-i islāmi. Ghom: Entešarāt-e asnād-e enqelāb-e eslāmī, 2005. Ẓawābetī, Mahd. Pažūhešī dar Nizām-i ṭalabegī. Teheran: Čāpḫāne-ye naqš-e cahān, 1980.

Islamische Theologie an deutschen Universitäten – Struktur, Macht, Handlungsfelder

Zekirija Sejdini

Religiöse Pluralität aus islamisch-religionspädagogischer Perspektive 1 Einführung Die Komplexität und Mannigfaltigkeit der Schöpfung sollten vermuten lassen, dass die Menschen – ein bedeutender Teil dieser Schöpfung – Pluralität per se als Bereicherung betrachten. Doch entgegen dieser wohlmeinenden Annahme sieht die Realität oft anders aus. Aus unterschiedlichen Gründen wird Vielfalt – insbesondere in ihrer religiös-weltanschaulichen Ausprägung – zunehmend als ein künstlich herbeigeführter und falsch verstandener Toleranz geschuldeter Zustand wahrgenommen, der die eigene kulturelle und religiöse Identität bedroht und daher eigentlich zu überwinden sei. Wie wenig selbstverständlich ein wertschätzender Umgang mit Pluralität bzw. mit religiös-weltanschaulicher Vielfalt ist, zeigt sich auch daran, dass deren Ablehnung mittlerweile auch in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften im Zunehmen begriffen ist. Dies wiederum deutet darauf hin, dass eine Haltung, die ein friedliches und wertschätzendes Miteinander in einer pluralen Gesellschaft gewährleistet, durch Reflexions- und Selbstüberwindungsprozesse erst angeeignet und dann kontinuierlich gepflegt werden muss. Eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung eines wertschätzenden Umgangs mit Pluralität kommt naturgemäß den Religionen zu, die angehalten sind, der wachsenden religiös-weltanschaulichen Vielfalt in unserer Gesellschaft mit neuen und theologisch fundierten Konzepten zu begegnen. Denn entgegen der apologetischen Behauptung, dass die Religionen an sich pluralistisch seien, gilt: In jeder der großen Religionen finden sich recht unterschiedliche Einstellungen zur religiösen Vielfalt. Diese Unterschiede betreffen sowohl die Frage, wie man diese Vielfalt aus der Perspektive der Glaubenslehren der jeweiligen Religionen deuten soll, als auch den praktischen Umgang mit ihr.¹

 Perry Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt. Vom religiösen Pluralismus zur interreligiösen Theologie (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2019), 17. https://doi.org/10.1515/9783110731743-011

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Zekirija Sejdini

Daraus den Schluss zu ziehen, dass es den Religionen grundsätzlich an Pluralitätsfähigkeit fehle, wäre freilich genauso falsch wie das Beharren auf dem Gegenteil. Allerdings ist ein wertschätzender Umgang mit Pluralität – anders als manche meinen – kein in den religiösen Quellen eindeutig festgeschriebenes Gebot, das bloß auf seine Entdeckung wartet. Ganz im Gegenteil bedarf es einer besonderen Geisteshaltung und hermeneutischen Geschicks, um religiösweltanschauliche Vielfalt aus religiöser bzw. theologischer Perspektive heraus zu begründen. Zahlreiche Beispiele von religiöser Intoleranz gegenüber Andersgläubigen und Andersdenkenden in Geschichte und Gegenwart offenbaren die ambivalente Natur der Religionen und verweisen zugleich auf die Notwendigkeit eines angemessenen, kontextuellen Herangehens an die religiösen Quellen, das allein die Möglichkeit eröffnet, eine wertschätzende Haltung gegenüber religiösweltanschaulicher Vielfalt aus den eigenen Quellen heraus zu entwickeln. Um diese Anstrengung kommen natürlich auch die Islamische Theologie und Religionspädagogik nicht herum. Besonders in religiös-weltanschaulich pluralen Gesellschaften wie den europäischen braucht es theologische und religionspädagogische Konzepte, auf deren Grundlage Pluralität als natürliche Bereicherung begriffen und aus der theologischen Binnenperspektive begründet werden kann. Denn auch wenn – infolge der verstärkten interreligiösen Zusammenarbeit der letzten Jahre, aber auch aufgrund der Zunahme von religiös motivierten Gewalttaten radikalisierter muslimischer Jugendlicher – die Frage nach einem wertschätzenden Umgang mit religiös-weltanschaulicher Pluralität immer öfter auch von Muslim*innen selbst aufgeworfen wird und klassische Positionen der Islamischen Theologie, die als pluralitätshemmend gelten, immer mehr hinterfragt werden,² sind ausgereifte theologische Konzepte weitgehend ausgeblieben – ein Umstand, der sich auch für die Islamische Religionspädagogik als verhängnisvoll erweisen kann.³ Denn so wenig gravierend dessen Folgen für kulturell und religiös-weltanschaulich homogene Gesellschaften sein mögen, für eine plural verfasste Ordnung sind solche Konzepte „notwendige Bedingung des Überlebens“⁴.

 Vgl. Rotraud Wielandt, „Religionsfreiheit und Absolutheitsanspruch der Religion im zeitgenössischen Islam“, in Recht auf Mission contra Religionsfreiheit? Das christliche Europa auf dem Prüfstand, hrsg. von Peter Krämer u. a. (Berlin; Münster: LIT Verlag, 2007), 53 – 83.  Vgl. Katajun Amirpur, „Die Anerkennung des religiös Anderen. Islamische Texte neu gelesen“, in Religionen – Dialog – Gesellschaft. Analysen zur gegenwärtigen Situation und Impulse für eine dialogische Theologie, hrsg. von Katajun Amirpur und Wolfram Weiße (Münster; New York: Waxmann, 2015), 168.  Helmut Peukert, „Bildung und Religion. Reflexionen zu einem bildungstheoretischen Religionsbegriff“, in Orte der Religion im philosophischen Diskurs der Gegenwart, hrsg. von Klaus Dethloff u. a. (Berlin: Parerga Verlag, 2004), 364.

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Gerade dem österreichischen Kontext, in dem konfessionell-kooperative Religionsunterrichtsmodelle erprobt werden und die theologische und religionspädagogische Ausbildung mancherorts interreligiös ausgerichtet ist, ja teilweise in Kooperation angeboten wird, wäre ohne eine wertschätzende Haltung zur religiös-weltanschaulichen Vielfalt kaum Aussicht auf Erfolg beschieden.⁵ Demnach besteht eine der größten Herausforderungen für die Islamische Theologie und Religionspädagogik im europäischen Kontext darin, besagten Mangel zu beheben – eben durch die Entwicklung von neuen Konzepten, die einen wertschätzenden Umgang mit Diversität ermöglichen und diesen fördern. Dabei ist die Kultivierung einer solchen Haltung – bis hinein in die Lehrer*innenbildung und den Unterricht – alles andere als leicht, wird dieser Prozess doch durch viele Faktoren beeinflusst, die unterschiedlichen, ja teilweise sogar gegensätzlichen Interessen und Logiken folgen. So fließen in theologische und damit auch religionspädagogische Konzepte neben den institutionellen Vorgaben unterschiedliche erkenntnistheoretische, theologische und pädagogische, vor allem jedoch anthropologische Annahmen und Ansätze ein, denen unterschiedliche Prämissen zugrunde liegen. Da diese Ansätze, die allesamt die Einstellungen zur Pluralität prägen, auch Aufschluss über die Pluralitätsfähigkeit von theologischen und religionspädagogischen Konzepten geben, gilt es, sie zunächst entsprechend zu würdigen. Da aus verschiedenen Gründen nicht auf alle Ansätze eingegangen werden kann, liegt der Fokus dieses Beitrags auf den theologischen Voraussetzungen einer pluralitätsfähigen islamischen Bildung als einer tragfähigen Grundlage für einen wertschätzenden Umgang mit religiös-weltanschaulicher Vielfalt. Dazu sollen im ersten Schritt die vorhandenen theologischen Zugänge zur religiös-weltanschaulichen Pluralität in knapper Form dargestellt werden. Im darauffolgenden Abschnitt wird der Versuch unternommen, religiöse Pluralität aus der islamisch-theologischen Perspektive zu erläutern. Der letzte Teil widmet sich den notwendigen Voraussetzungen eines solchen Zugangs für die Lehrer*innenbildung.

 Vgl. Zekirija Sejdini, Martina Kraml und Matthias Scharer, Mensch werden. Grundlagen einer interreligiösen Religionspädagogik und ‐didaktik aus muslimisch-christlicher Perspektive (Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2017).

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2 Zugänge zum religiös Anderen Es gibt kein Gemeinwesen, das sich angesichts der Frage nach dem Umgang mit dem Anderen, dem Fremden, nicht vor gewaltige Herausforderungen gestellt sähe. Dies gilt auch für den religiösen Kontext. Angesichts der Zunahme an religiöser Vielfalt und dem damit verbundenen Anstieg an konkurrierenden religiösen Weltdeutungen sind die Religionen gefordert, die religiöse Pluralität – aus der eigenen Perspektive heraus – zu deuten und ihr Verhältnis zueinander zu definieren. Diese Aufgabe hat zwar, so Christian Danz, durch die „Modernisierungsschübe der letzten 200 Jahre“⁶ und die darauffolgende Globalisierung an Dringlichkeit gewonnen, neu ist sie jedoch nicht – die Notwendigkeit, ihre kulturelle, religiöse und politische Umgebung (neu) zu interpretieren und sich zu ihr ins Verhältnis zu setzen, begleitet die Religionen von Beginn an. Dementsprechend fand diese Thematik, zumindest im islamischen Kontext, bereits in die heiligen Schriften und in die frühneuzeitlichen theologischen Diskussionen und Abhandlungen Eingang. Naturgemäß beziehen sich die Aussagen in den heiligen Schriften und die Ansichten früherer Gelehrter vorwiegend auf jene religiösen Traditionen und Gruppierungen, die in der unmittelbaren kulturellen und geographischen Umgebung ihres Entstehungskontextes verbreitet waren. Dies hat sich mit der Zeit geändert: Einerseits wurde der Fokus, der sich anfänglich auf die nächste Umgebung richtete, ausgeweitet, andererseits traten mit der Zeit auch innerhalb der Religionen unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Meinungen zum Umgang mit religiöser Diversität hervor.⁷ So entstand eine Fülle an verschiedenen, hinsichtlich ihrer Ausrichtung divergierenden Zugängen. In der Moderne finden sich die ersten Versuche einer Kategorisierung bzw. einer Verhältnisbestimmung zwischen der eigenen und den anderen Religionen im christlichen Kontext und sie galten laut Danz naturgemäß zunächst dem Verhältnis zwischen dem Christentum und anderen Religionen, da vor allem auch der Umformungsprozeß, dem das Christentum sowie die christliche Theologie seit der europäischen Aufklärung unterliegen, […] zunehmend zu der Einsicht [führte], daß die traditionellen Relationierungsmodelle zwischen dem Christentum und den nichtchristlichen Religionen unzureichend sind.⁸

 Christian Danz, „Kontingenzerfahrung, Religion und die christliche Sicht anderer Religionen“, in Handbuch Interreligiöse Seelsorge, hrsg. von Helmut Weiß, Karl H. Federschmidt und Klaus Temme (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie, 2010), 23.  Vgl. Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt, 14.  Christian Danz, Einführung in die Theologie der Religionen (Wien: LIT Verlag, 2005), 13.

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Diese ursprünglich christliche „Initiative“ hat sich als Modell zur Verhältnisbestimmung auch in anderen religiösen Kontexten inzwischen weitgehend durchgesetzt. Ein maßgeblicher Anteil an dieser Entwicklung kommt Alan Race und Gavin D’Costa zu, beide Schüler von John Hick. Race widmete sich der Thematik in seinem 1983 veröffentlichten Werk Christians and Religious Pluralism. Patterns in the Christian Theology of Religions; von D’Costa erschien dazu im Jahr 1986 das Werk Theology and Religious Pluralism. The Challenge of Other Religions. Seitdem hat sich in den Worten von Perry Schmidt-Leukel, einem der bedeutendsten Vertreter der pluralistischen Religionstheologie im deutschsprachigen Raum, „weltweit eine Typologie verbreitet, die drei verschiedene Optionen umfasst, wie sich aus der Perspektive einer bestimmten Religion die religiöse Vielfalt deuten lässt: Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus“.⁹ Auch wenn diese Typologie unterschiedlich ausgelegt, teilweise modifiziert und auch kritisiert wurde,¹⁰ bildet sie die Grundlage aller Kategorisierungsmodelle zur Einstellung von Religionen zur religiösen Pluralität.¹¹ Im Folgenden soll diese Typologie überblicksmäßig erläutert werden, wobei der Fokus auf dem Pluralismus liegt, da in diesem Beitrag vor allem der Frage nachgegangen wird, ob – und wenn ja, wie – die Islamische Theologie die Entwicklung einer religionspluralistischen Position aus sich heraus zulässt.

2.1 Der Exklusivismus Der erste der drei Bestandteile dieser Typologie ist der Exklusivismus, der auf der Annahme beruht, dass die eigene Religion allen anderen überlegen sei. Als exklusivistisches Modell wird Danz zufolge „eine solche Position, Option oder Haltung bezeichnet, die von der Überzeugung geleitet ist, daß es nur eine wahre Religion gebe und demzufolge alle anderen Religionen lediglich Aberglaube, Illusion oder falsche Religion seien“.¹² Auch wenn das exklusivistische Modell gewisse Nuancierungen kennt,¹³ beharrt es auf dem Grundsatz: „Die Vermittlung

 Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt, 20.  Vgl. Perry Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2005), 61.  Für nähere Ausführungen dazu vgl. Perry Schmidt-Leukel, „Zur Klassifikation religionstheologischer Modelle“, in Catholica 47 (1993): 163 – 83.  Danz, Einführung in die Theologie der Religionen, 57.  Schmidt-Leukel unterscheidet zwischen einem radikalen, einem unentschiedenen und einem gemäßigten Exklusivismus. Vgl. Schmidt-Leukel, „Zur Klassifikation religionstheologischer Modelle“, 167.

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heilshafter Erkenntnis / Offenbarung einer transzendenten Wirklichkeit gibt es nur in einer einzigen Religion.“¹⁴ Aus nachvollziehbaren Gründen trifft die Charakterisierung als exklusivistisch auf den Großteil der klassischen theologischen Ansätze zu. Denn einerseits beförderte die exklusivistische Haltung die Herausbildung einer eigenen und unabhängigen Identität, anderseits diente sie – über die Entstehungsphase hinaus – dazu, die eigene religiöse Tradition zu legitimieren. Besonders für das Christentum und den Islam war dieser Aspekt von Beginn an von enormer Bedeutung, da sich beide trotz ihrer einhelligen Berufung auf die abrahamitische Tradition vom Judentum in zentralen Punkten unterscheiden. Dieser Ansatz ist nun in vielerlei Hinsicht problematisch. Der ihm immanente, absolute Wahrheitsanspruch und die damit einhergehende Beschränkung der Heilsmöglichkeit auf die eigene religiöse Tradition schließt einen wertschätzenden interreligiösen Dialog auf Augenhöhe praktisch aus. Indem es die eigene Binnenperspektive absolut setzt, widerspricht dieses Modell zudem der Unverfügbarkeit der absoluten Transzendenz, die in der abrahamitischen Tradition in diversen Formen verankert ist. Und nicht zuletzt untergräbt der exklusivistische Zugang „die Glaubwürdigkeit eines jeden einzelnen religiösen Standpunktes“¹⁵ und erweist sich somit als Vorstufe des Naturalismus, der im Unterschied zum Exklusivismus keiner Religion eine Ausnahmestellung zubilligt, sondern in der Vielfalt der Religionen eine Vielfalt von Trug und Irrtum sieht.¹⁶ Auch wenn der exklusivistische Ansatz gegenwärtig – besonders in theologischen Kreisen – immer weniger Zuspruch findet, sind Ansichten dieser Art besonders in konservativen und fundamentalistischen Kreisen nach wie vor weit verbreitet. Auf den ersten Blick mag dieser vornehmlich heilszentrierte Ansatz keine große Bedeutung haben. In religiös-pluralen Kontexten jedoch kann er durchaus fatale Konsequenzen zeitigen. Johanna Pink bringt dies auf den Punkt, wenn sie sagt: Wenn ein Anhänger einer Religion davon überzeugt ist, dass den Anhängern aller anderen Religionen im Jenseits die Hölle droht, dann mag dies durchaus eine Auswirkung auf seine diesseitige Haltung zu diesen Menschen haben, gleich ob sich diese Haltung nun in offen-

 Perry Schmidt-Leukel, „Warum es zur pluralistischen Religionstheologie keine plausible theologische Alternative gibt“, in Wahrheitsansprüche der Weltreligionen. Konturen gegenwärtiger Religionstheologie, hrsg. von Christian Danz und Friedrich Hermanni (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie, 2006), 16.  Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt, 19.  Vgl. Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt, 24.

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siven Missionsbemühungen oder in Geringschätzung äußert. Insofern ist die Diskussion um die Frage des Zugangs zum Paradies von nicht zu unterschätzender Relevanz.¹⁷

2.2 Der Inklusivismus Danz schreibt: „Mit Inklusivismus und Superiorismus bezeichnet man eine religionstheologische Position, Option oder Haltung, welche davon ausgeht, daß es zwar mehrere wahre Religionen gebe, aber eine Religion sei wahrer als die anderen.“¹⁸ Das inklusivistische Modell definiert sich laut Schmidt-Leukel generell „unter Bezugnahme auf und in Abgrenzung vom Exklusivismus“¹⁹. Namentlich gesteht der Inklusivismus anderen Religionen grundsätzlich Geltung zu²⁰ – anders als das exklusivistische Modell – und stellt damit diesem gegenüber insofern einen erheblichen Fortschritt dar, als er die Heilsmöglichkeit außerhalb der eigenen Religion nicht grundsätzlich in Abrede stellt. Ungeachtet dieses wesentlichen Unterschieds zum exklusivistischen Ansatz hält der Inklusivismus in allen seinen Untergruppen²¹ daran fest, dass nur er den Heilsanspruch in vollem Umfang einzulösen vermag – womit er sämtlichen anderen religiösen Traditionen zwangsläufig Inferiorität bescheinigt.²² Die Güte der Heilserfahrungen anderer Religionen bemisst sich an deren Übereinstimmung mit jenen, welche die eigene religiöse Tradition verspricht. Demnach gilt: Je höher diese Übereinstimmung ist, desto eher darf eine andere Religion beanspruchen, als „wahr“ zu gelten. Alles, worin andere Religionen von der eigenen abweichen, wird hingegen „als Ausdruck ihrer Unzulänglichkeit“²³ interpretiert. Dergestalt relativiert sich der ursprüngliche Fortschritt gegenüber dem Exklusivismus und es tritt zutage, was den inklusivistischen und den exklusivistischen Ansatz bei allen wesentlichen Unterschieden eint: das Unvermögen, einen wertschätzenden Umgang mit religiöser Pluralität zu kultivieren, weil die tendenziell negative Haltung dieser Ansätze gegenüber anderen Religionen sie reli Johanna Pink, „Ein Monopol aufs Paradies? Innermuslimische Kontroversen über die Frage der Exklusivität des Zuganges zum jenseitigen Heil“, in Zeitgenössische islamische Positionen zu Koexistenz und Gewalt, hrsg. von Tilman Seidensticker (Wiesbaden: Harrassowitz, 2011), 59 – 60.  Danz, Einführung in die Theologie der Religionen, 62.  Schmidt-Leukel, „Zur Klassifikation religionstheologischer Modelle“, 167.  Vgl. Schmidt-Leukel, „Warum es zur pluralistischen Religionstheologie keine plausible theologische Alternative gibt“, 16.  Vgl. Schmidt-Leukel, „Zur Klassifikation religionstheologischer Modelle“, 167.  Vgl. Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen, 25.  Schmidt-Leukel, „Warum es zur pluralistischen Religionstheologie keine plausible theologische Alternative gibt“, 26.

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giöse Vielfalt als Mangel und nicht als natürliche Bereicherung wahrnehmen lässt. Diese Einstellung gegenüber religiöser Vielfalt führt zur Missachtung anderer religiöser Überzeugungen sowie dazu, eine wertschätzende Begegnung von vornherein auszuschließen. Laut Danz ist der Inklusivismus letztendlich nicht mehr als „eine Art weich gespülte[r] Exklusivismus“, der versucht, „einem Menschen anderen Glaubens eine Deutung seiner Existenz überzustülpen, die seinem eigenen Selbstbewußtsein nicht entspricht“²⁴. Folgt man Schmidt-Leukel, eignet sich das hier vorgestellte Dreierschema nicht nur für die theologische Analyse, sondern es ist auch „in logischer Hinsicht umfassend und unausweichlich“, sodass „[d]ie Suche nach alternativen Typologien […] nutzlos und die Festlegung auf eine der drei Möglichkeiten unvermeidlich“²⁵ ist. Das letzte von Schmidt-Leukel angesprochene Modell zur Relationsbeschreibung ist nach diesem Dreierschema das pluralistische Modell, das nun – als diesem Beitrag zugrunde liegendes Modell – Gegenstand des folgenden Abschnitts sein soll.

2.3 Der Pluralismus Wie der inklusivistische und der exklusivistische verfolgt auch der pluralistische Ansatz – der in der Fachliteratur unter der Bezeichnung „pluralistische Religionstheologie“ oder „religionstheologischer Pluralismus“ firmiert – unterschiedliche Zugänge zur religiösen Vielfalt.²⁶ Die pluralistische Religionstheologie geht auf den Briten John Hick (gest. 2012) zurück, der neben seiner Tätigkeit als Professor für Religionsphilosophie auch ordinierter Geistlicher der Presbyterian Church of England war.²⁷ Seine ursprünglich konservativ-evangelikal geprägte theologische Ausrichtung erfuhr durch die Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen, ausgehend von seiner Heimatstadt Birmingham, eine radikale Änderung. Darüber hinaus wurden seine Ansichten maßgeblich von den Thesen des namhaften Islamwissenschaftlers, Theologen und Religionswissenschaftlers Wilfred Cantwell Smith (gest. 2000) geformt.²⁸ Hicks pluralistischer Ansatz beeinflusste zahlreiche Theolog*innen aus unterschiedlichen Ländern, Religionen und Konfessionen und bildet bis heute die Grundlage und den Ausgangspunkt vieler ähnlicher Überlegungen und Konzepte.     

Danz, Einführung in die Theologie der Religionen, 70. Schmidt-Leukel, „Zur Klassifikation religionstheologischer Modelle“, 163. Vgl. Danz, Einführung in die Theologie der Religionen. Vgl. Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen, 20. Vgl. Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen, 20 f.

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Inhaltlich betrachtet teilt das pluralistische Modell die inklusivistische Auffassung, dass die Heilsmöglichkeit auch außerhalb der eigenen Religion gegeben sei; im Unterschied zum Inklusivismus weist sie jedoch die Behauptung zurück, dass das Heil nur „in einer einzigen Religion im Höchstmaß realisiert oder realisierbar“²⁹ sei. In Anlehnung an Hick bezeichnet Pluralismus, in Abgrenzung zum Inklusivismus und Exklusivismus, eine spezifische Theorie und Bewertung der religiösen Vielfalt. Und zwar geht diese Theorie davon aus, dass religiöse Wahrheit in einer Vielfalt von Formen existiert – und in gewissem Sinne existieren muss –, und stuft diese Formen trotz ihrer Verschiedenheit als gleichwertig ein.³⁰

Das Grundanliegen der pluralistischen Religionstheologie besteht wesentlich darin, die Wahrnehmung von religiöser Pluralität als Bereicherung, und nicht als Mangel, auf ein theologisch wohlbegründetes Fundament zu stellen. Als Grundvoraussetzung dafür sieht sie die Anerkennung der Gleichstellung und Gleichberechtigung einer jeden Religion hinsichtlich dessen, was ihren Angehörigen als wahr, authentisch und heilsstiftend gilt. Sie vertritt die Überzeugung, dass die Heilskraft einer Religion nicht von Glaubensformeln abhängt, sondern von „der tatsächlichen Antwort einer Person auf die letzte göttliche REALITÄT“³¹. Die positive Offenheit gegenüber dieser Realität definiert Hick als „die Umwandlung der menschlichen Existenz von der Selbst-Zentriertheit zu REALITÄTS-Zentriertheit“³². Mit anderen Worten soll „Gott allein […] im Zentrum der Religionen stehen“³³. Die Ausrichtung auf Gott ist es, was den Glauben – unabhängig von den Unterschieden zwischen religiösen Traditionen – konstituiert; Religionen an sich seien hingegen „kumulative Traditionen“³⁴, die in unterschiedlichen Kontexten entstanden sind und sich in einer Reihe von Aspekten voneinander unterscheiden – jeweils im Bestreben, eine Antwort auf das Problem der Transzendenz zu liefern. Aus dieser Perspektive betrachtet steht es keiner religiösen Tradition zu, sich über die anderen zu erheben, weil jede ihre Anhänger zu dieser Umwandlung

 Schmidt-Leukel, „Zur Klassifikation religionstheologischer Modelle“, 168.  Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt, 17.  John Hick, „Eine Philosophie des religiösen Pluralismus“, in Münchener Theologische Zeitschrift 45, Nr. 3 (1994): 305.  Hick, „Eine Philosophie des religiösen Pluralismus“, 305.  Reinhold Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums: Von der Aufklärung bis zur pluralistischen Religionstheologie, 2. Aufl. (Gütersloh: Gütersloher Verlag, 1993), 146.  Hick, „Eine Philosophie des religiösen Pluralismus“, 306.

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führen kann, da sich „Heil nicht notwendig auf die Grenzen irgendeiner der historischen Traditionen beschränkt“³⁵. Diese Haltung soll einerseits die Glaubwürdigkeit der verschiedenen Religionen stärken, anderseits aber auch den Weg zu einem gehaltvollen interreligiösen Dialog ebnen. Wichtig ist dabei vor allem das Bewusstsein, dass diese pluralistische Haltung „nur in und von den verschiedenen religiösen Traditionen bzw. aus ihren eigenen Grundlagen heraus entwickelt werden“³⁶ kann. Einen religionspluralistischen Ansatz aus der eigenen religiösen Tradition zu begründen, ist, wie bereits festgehalten, kein leichtes Unterfangen – nicht zuletzt deswegen, weil ihm neben Zuspruch auch viel Kritik zuteilwird.³⁷ Insbesondere sieht sich die pluralistische Religionstheologie dem Vorwurf ausgesetzt, durch die Gleichstellung verschiedener Religionen Relativismus zu fördern. Diesem Vorwurf begegnet Schmidt-Leukel mit der Klarstellung, dass auch die pluralistische Position keinen Zweifel daran zulässt, dass nicht alles, was in den Religionen behauptet und geglaubt wird, gleichermaßen wahr sein kann. […] Was Pluralisten jedoch vertreten […] ist, dass sich die unterschiedlichen Vorstellungen von transzendenter Wirklichkeit, die wir in den großen religiösen Traditionen finden, unter zwei Bedingungen als gleichermaßen gültig verstehen lassen.³⁸

Dabei gehe es nicht darum, die Unterschiede zu nivellieren, sondern sie so zu deuten, „dass sie sich als prinzipiell kompatibel oder sogar als komplementär verstehen lassen“³⁹. Auch Paul F. Knitter, ein weiterer wichtiger Vertreter der pluralistischen Theologie, betont, dass es dieser nicht darum gehe, die Lehren und Handlungen aller Religionen für gleichermaßen gültig zu erklären, sondern um die Anerkennung dessen, „daß alle Teilnehmer am Gespräch gleiche Rechte haben müssen, um einen wirklichen Dialog führen zu können“⁴⁰. Für ihn ist der Dialog das

 Hick, „Eine Philosophie des religiösen Pluralismus“, 307.  Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt, 17.  Vgl. Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt, 55.  Schmidt-Leukel, „Warum es zur pluralistischen Religionstheologie keine plausible theologische Alternative gibt“, 21.  Schmidt-Leukel, „Warum es zur pluralistischen Religionstheologie keine plausible theologische Alternative gibt“, 21.  Paul F. Knitter, „Apologie einer pluralistischen Theologie und Christologie“, in Pluralistische Theologie der Religionen: Eine kritische Sichtung, hrsg. von Hans-Gerd Schwandt (Frankfurt am Main: Lembeck, 1998), 77.

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„höchste Gut“ und der „normative Wert“ in der pluralistischen Religionstheologie.⁴¹ Unabhängig von den gegen die pluralistische Theologie erhobenen Einwänden ist unbestreitbar, dass allein der von ihr verfolgte Zugang zur religiösen Vielfalt dazu imstande ist, in dieser eine Bereicherung zu erkennen und damit ein stabiles Fundament für einen auf Wertschätzung gründenden interreligiösen Dialog und Austausch zu liefern. Damit dieser Dialog stattfinden kann, muss es gelingen, den religionspluralistischen Ansatz als eine mögliche bzw. favorisierte Interpretation aus verschiedenen religiösen Traditionen heraus theologisch zu begründen. Ob – und wenn ja, wie – dies auch aus islamischer Perspektive möglich ist, soll im nächsten Abschnitt unter Einbeziehung allfälliger Konsequenzen für die Islamische Religionspädagogik untersucht werden.

2.4 Islamische Zugänge zur religiösen Vielfalt Die Auseinandersetzung mit religiöser Pluralität bzw. mit anderen – insbesondere den abrahamitischen – Religionen hat im Islam eine lange Tradition, die bis in die Zeit seiner Entstehung zurückreicht. Muslimische Gelehrte begannen sich sehr früh mit dieser Thematik zu beschäftigen, wobei sich im Laufe der Zeit eine Reihe unterschiedlicher Auffassungen zur religiösen Pluralität herausbildete. Anders als oft angenommen, gibt es keine, von allen geteilte, einheitliche islamische Position.⁴² Bei sämtlichen Einheit suggerierenden Verallgemeinerungen, an die alle Muslim*innen gebunden seien, handelt es sich um unzulässige Vereinfachungen, welche die innerislamische Vielfalt ausblenden und dem Aufkommen von realitätsfremden und verzerrten Islambildern Vorschub leisten.⁴³ Ferner darf der Umstand, dass sich muslimische Gelehrte bei der Begründung ihrer Positionen zur religiösen Vielfalt auf die bekannten islamischen Quellen, vor allem den Koran, berufen, nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese ebenso wenig ein konkretes Konzept zur religiösen Pluralität enthalten. Im Gegenteil lassen sich zahlreiche Stellen in islamischen Quellen durchaus unterschiedlich

 Knitter, „Apologie einer pluralistischen Theologie und Christologie“, 75 f.  Vgl. Angelika Hartmann, „Pluralismus und Toleranz aus der Sicht des Islam“, in Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa, hrsg. von Christian Augustin, Johannes Wienand und Christiane Winkler (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006), 131.  Vgl. Hans Zirker, „Zur ‚Pluralistischen Religionstheologie‘ im Blick auf den Islam“, in Christus allein? Der Streit um die pluralistische Religionstheologie, hrsg. von Raymund Schwager (Freiburg im Breisgau; Basel; Wien: Herder, 1996), 190.

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interpretieren.⁴⁴ Dies gilt auch für den Koran, die primäre Quelle des Islams, dessen zum Teil ambivalente Aussagen mehrere Optionen zulassen, wenn es um die Bestimmung des Verhältnisses zu anderen Religionen geht. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass der Koran sukzessive über eine Zeitspanne von mehr als zwanzig Jahren und in engem Bezug zum jeweiligen Kontext entstanden ist, dessen Berücksichtigung für das Verständnis des Korans zentrale Bedeutung zukommt. Das dem ambivalenten Charakter koranischer Aussagen zu religiöser Pluralität geschuldete breite Spektrum an Deutungen reicht von unterschiedlich nuancierten exklusivistischen und inklusivistischen Ansätzen bis hin zu solchen, die als pluralistisch eingestuft werden können.⁴⁵ Angesichts dessen kann von dem einen „genuin islamischen“ Ansatz keine Rede sein.Vielmehr gilt es, jede Meinung und jeden Ansatz auf ihr Für und Wider als möglichen Zugang zu überprüfen und sich dabei stets vor Augen zu halten, dass sie allesamt kontextuellen Prägungen unterliegen und daher ausnahmslos perspektivisch und fragmentarisch sind.⁴⁶ Dies bedeutet nicht, dass allen Ansichten derselbe Stellenwert zukommt und keine es verdienen würde, verworfen zu werden, sondern dass ihnen trotz der Unterschiede bzw. Gegensätze, „das Islamische“ nicht aberkannt werden darf. Denn in unserem Zusammenhang geht es nicht vordringlich darum zu eruieren, welcher dieser Ansätze authentischer ist – was an sich schwer möglich wäre –, sondern darum zu verstehen, unter welchen Umständen sie entstanden sind, welchen Argumentationsmustern sie folgen und welche Konsequenzen sie für die Gegenwart haben. Folglich versteht sich auch dieser Beitrag als Versuch, das Moment der Vielfalt an unterschiedlichen Ansätzen im islamischen Kontext darzustellen und deren Vor- und Nachteile abzuwägen, um auf diese Weise sowohl die Chancen als auch die Grenzen bzw. die Herausforderungen sichtbar zu machen, die sich bei der Suche nach dem Umgang mit weltanschaulich-religiöser Pluralität im islamischen Kontext auftun. Zu erwähnen ist auch, dass der religionstheologische Pluralismus als Ansatz nicht zuletzt den Umwälzungen der Moderne entsprungen ist. Nach einem ähnlichen Konzept im Mittelalter zu suchen, wäre anachronistisch und nicht zielführend – nicht, weil es damals keine Konzepte und Umgangsformen für ein

 „Der Islam konnte grundsätzlich beides sein“, tolerant und intolerant, „und zwar jeweils in extremem Maße“. Hartmann, „Pluralismus und Toleranz aus der Sicht des Islam“, 147.  Vgl. Pink, „Ein Monopol aufs Paradies“, 60.  Vgl. Hassan Hanafi, „Gegenwärtige Transformationsprozesse im islamischen Denken – Islamische Glaubenslehre(n) im Umgang mit religiöser Pluralität“, in Jahrbuch für islamische Theologie und Religionspädagogik 2 (2013): 30.

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friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen gegeben hätte, sondern weil diese dem Zeitgeist entsprachen und sich von dem hier vorgestellten pluralistischen Ansatz wesentlich unterscheiden.⁴⁷ Ungeachtet der unterschiedlichen Ansichten zum Umgang mit Pluralität im Allgemeinen und mit anderen Glaubenstraditionen im Speziellen ist für jede Auffassung, die als „islamisch“ gelten will, die koranische Legitimation unerlässlich. Da der Koran, wie bereits erwähnt, zwar kein konkretes Konzept, wohl aber zahlreiche Aussagen zum Thema beinhaltet, kommt eine Abhandlung des Themas um eine Würdigung der wichtigsten koranischen Äußerungen nicht herum.

3 Die gottgewollte Vielfalt Neben der göttlichen Einheit (tawḥīd) wird im Koran auch die Vielfalt der Schöpfung thematisiert. So wie Einheit und Einzigartigkeit zum Wesen Gottes gehören, so zählt Vielfalt zum Wesen der Schöpfung. Als einen wesentlichen Teil von ihr betrifft dies auch die Menschen, die trotz ihres gemeinsamen Ursprungs von kultureller und ethnischer, aber auch religiöser Diversität geprägt sind. Eine zentrale koranische Aussage, welche die ethnische und kulturelle Vielfalt als göttlich intendierten Zustand zum Ausdruck bringt, findet sich in Vers 49:13. Dort heißt es: O Menschen! Siehe, Wir haben euch alle aus einem Männlichen und einem Weiblichen erschaffen, und haben euch zu Nationen und Stämmen gemacht, auf daß ihr einander kennenlernen möget. Wahrlich, der Edelste von euch in der Sicht Gottes ist der, der sich Seiner am tiefsten bewußt ist. Siehe, Gott ist allwissend, allgewahr.⁴⁸

Schon mit diesem Vers, der nicht nur ein klares Bekenntnis zur Vielfalt ablegt, sondern auch jeglichem Überlegenheitsanspruch gegenüber fremden Kulturen eine Absage erteilt, liefert der Koran ein stabiles argumentatives Fundament, dem zufolge es nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten ist, Vielfalt als gottgewollten und irreversiblen Naturzustand der Schöpfung zu verstehen und dementsprechend zu kultivieren.

 Vgl. Aziz al-Azmeh, „Pluralism in Muslim Societies“, in The Challenge of Pluralism: Paradigms from Muslim Contexts, ed. by Abdou Filali-Ansary und Sikeena Karmali Ahmed (Edinburgh: Edinburgh Univ. Press, 2009), 10.  Koranverse sind der Übersetzung von Muhammad Asad, Die Botschaft des Koran, entnommen.

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Obwohl an dieser Stelle der Fokus auf kultureller und ethnischer Vielfalt liegt, lässt sich anhand zahlreicher Koranverse der Nachweis erbringen, dass Gott auch die religiöse Vielfalt zumindest zulässt, was dafürspricht, diese als ein natürliches Phänomen zu betrachten. Als wichtige Stützen dieser Annahme dienen mehrere Verse (5:48, 6:107, 10:99, 11:118, 16:93), die allesamt darauf hindeuten, dass Gott, hätte er dies gewollt, alle Menschen zu einer einzigen Gemeinschaft zusammenschließen oder sie zum Glauben hätte zwingen können. Da dies jedoch dem Sinn des Glaubens – der ja vor allem darin besteht, dass sich Menschen aus freiem Willen und bewusst für ihn entscheiden – widerspräche, enthält sich Gott jeglicher Intervention und ermahnt zugleich jene, die versuchen, den Glauben zu oktroyieren, dass dies weder möglich noch im Sinne des Schöpfers ist.

3.1 Die religiös Anderen Die koranische Beschäftigung mit anderen Religionen fand nicht im luftleeren Raum statt, sondern war eingebettet in den kulturellen Kontext im Mekka des siebten Jahrhunderts, aus dem heraus sie entstand und in den sie hineinwirkte. Folglich beschränkte sich die Frage nach dem angemessenen Umgang mit anderen Religionen zunächst auf jene Religionen oder Glaubensgruppen, die im koranischen Entstehungskontext bekannt waren.⁴⁹ Dies waren einerseits der Polytheismus, andererseits das Juden- und Christentum, aber auch der Zoroastrismus.⁵⁰ Während an die Polytheist*innen die Einladung ergeht, sich von der Vielgötterei abzuwenden und an den einen Gott zu glauben, werden Anhänger von Juden- und Christentum im Koran als Angehörige derselben monotheistischen Tradition zum gemeinsamen Bekenntnis zu einem einzigen Gott aufgerufen (3:64). Die Zugehörigkeit zur gemeinsamen abrahamitischen Tradition, auf die in verschiedenen Versen hingewiesen wird (2:136, 3:84, 5:48), hat zwangsläufig zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Judentum und dem Christentum geführt. Aus diesem Grund gibt es zahlreiche Koranverse, die entweder beide Religionen – zusammengefasst unter der Bezeichnung ahl al-kitāb, womit die sog. Schriftbesitzer bzw. die Offenbarungsempfänger gemeint sind – oder jede Religion im Einzelnen thematisieren.⁵¹ Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden

 Vgl. Marcia Hermansen, „Classical and Contemporary Islamic Perspectives on Religious Plurality“, in Islam, Religions, and Pluralism in Europe, ed. by Ednan Aslan, Ranja Ebrahim and Marcia Hermansen (Wiesbaden: Springer VS, 2016), 46.  Vgl. Zirker, „Zur ‚Pluralistischen Religionstheologie‘ im Blick auf den Islam“, 191.  Vgl. Johanna Pink, „Islam und Nichtmuslime“, in Islam: Einheit und Vielfalt einer Weltreligion, hrsg. von Rainer Brunner (Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2016), 481– 500.

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anhand einiger zentraler Koranstellen der koranischen Perspektive innewohnende Tendenzen beleuchtet werden, welche die Positionierung gegenüber anderen Religionen, insbesondere jedoch gegenüber dem Judentum und dem Christentum, betreffen. Zunächst sei in Erinnerung gerufen, dass der koranischen Gesamtstruktur entsprechend Aussagen zu Judentum und Christentum weder chronologisch noch systematisch angeordnet sind. Zudem sind viele Aussagen durchaus ambivalent und an ihren unmittelbaren Kontext gebunden, was die Eruierung ihrer genauen Bedeutung und Reichweite erschwert. Dieser Umstand begünstigte die Entstehung unterschiedlicher, teilweise sogar gegensätzlicher Meinungen darüber, wie das Verhältnis zu anderen Religionen zu gestalten sei.⁵² Die zur Begründung einer exklusivistischen Haltung im muslimischen Kontext zentralen Verse sind: „Siehe, die einzige (wahre) Religion in der Sicht Gottes ist (des Menschen) Selbstergebung in Ihn;“ (3:19) sowie: „Denn wenn einer auf die Suche geht nach einer anderen Religion als Selbstergebung in Gott, wird sie niemals von Ihm angenommen werden, und im kommenden Leben wird er unter den Verlorenen sein.“ (3:85) Diese und ähnliche koranische Aussagen (vgl. 5:3) haben muslimische Gelehrte dazu veranlasst, im Exklusivismus den einzig möglichen, koranisch legitimierten Zugang zu anderen Religionen zu sehen. Dementsprechend galten Nicht-Muslim*innen als von der Heilsmöglichkeit prinzipiell ausgeschlossen.⁵³ Diese weitverbreitete Annahme fand, mit einigen Ausnahmen in der islamischen Mystik, generell Zuspruch, sodass sich die Diskussionen eher um die Rechte und Pflichten Andersgläubiger drehten als darum, ob für sie eine Heilsmöglichkeit bestehe.⁵⁴ Neben diesen Koranversen, die – zumindest auf den ersten Blick – die Aussicht auf Heil außerhalb des Islams ausschließen, gibt es andere, die eher einen pluralistischen Ansatz unterstützen – darunter vor allem ein Vers, der an zwei Stellen (2:62, 5:59) mit identischem Wortlaut vorkommt. Darin heißt es: WAHRLICH, jene, die Glauben (an diese göttliche Schrift) erlangt haben, wie auch jene, die dem jüdischen Glauben folgen, und die Christen und die Sabier – alle, die an Gott und den Letzten Tag glauben und rechtschaffene Taten tun – werden ihren Lohn bei ihrem Erhalter haben; und keine Furcht brauchen sie zu haben, noch sollen sie bekümmert sein.

 Vgl. Zekirija Sejdini, „Interreligiöser Dialog aus muslimischer Perspektive“, in „… mit Klugheit und Liebe“. Dokumentation der Tagungen zur Förderung des interreligiösen Dialogs 2012 – 2015 (St. Virgil, Salzburg), hrsg. von Franz Gmainer-Pranzl, Astrid Ingruber und Markus Ladstätter (Linz: Wagner Verlag, 2017), 241– 51.  Vgl. Talât Koçyiğit, „Cennet Mü’minlerin Tekelindedir“, in İslâmî Araştırmalar 3, Nr. 3 (1989): 85 – 94.  Vgl. Pink, „Ein Monopol aufs Paradies“, 59.

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Diese beiden Verse gelten als die wichtigsten Bezugspunkte inklusivistischer und pluralistischer Ansätze in der Islamischen Theologie. Für Muhammad Asad (gest. 1992) bringen sie unmissverständlich zum Ausdruck, dass Heil nicht von der religiösen Zugehörigkeit abhängt, sondern von der Erfüllung folgender drei Bedingungen: „Glauben an Gott, Glauben an den Tag des Gerichts und rechtschaffenes Handeln im Leben.“⁵⁵ Darüber hinaus entnimmt Asad ihnen eine klare Absage an jegliche exklusivistische Deutung, welche die Heilsmöglichkeit an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Tradition knüpfen will. Koranische Aussagen wie die hier exemplarisch angeführten haben also ob ihrer Ambivalenz und Ambiguität bezüglich des Zugangs zum religiös Anderen der Thematik derartige Komplexität verliehen, dass sie von muslimischen Gelehrten bis heute kontrovers diskutiert werden und einen dauerhaften Quell divergierender Meinungen bilden. Die Divergenz zwischen den islamischen Exklusivisten und den Pluralisten resultiert nicht nur daraus, dass sie, wie dargelegt, ihre Zugänge auf unterschiedliche Koranstellen stützen, sondern auch daraus, dass sie diejenigen Koranstellen, auf die sich die Gegenseite stützt, anders interpretieren als jene, um sie mit den eigenen Ansprüchen in Einklang zu bringen. So vertreten zum Beispiel muslimische Pluralisten die Auffassung, dass mit dem Wort islām, das in den beiden Versen vorkommt und als Grundlage für die exklusivistische Haltung dient, nicht der institutionalisierte Islam gemeint sei, sondern der konfessionsübergreifende Zustand der Gottergebenheit, wodurch diese Verse eine völlig andere Bedeutung gewinnen. Nicht der institutionalisierte Islam steht demnach im Mittelpunkt von Gottes Wohlgefallen, sondern die Hingabe an ihn. In diese Richtung argumentiert auch Muhammad Asad, indem er das arabische Wort islām an beiden Stellen mit „Selbstergebung in Gott“ übersetzt.⁵⁶ Die muslimischen Exklusivisten wiederum stellen sich gegen die in den Versen 2:62 bzw. 5:59 vertretene, dezidiert pluralistische Haltung und schließen sich der Mehrheit der Korankommentatoren an, die deren Eindeutigkeit bestreiten und stattdessen either say that by Jews, Christians, and Sabaeans here are meant those who have actually become „Muslims“ – which interpretation is clearly belied by the fact that „Muslims“ constitute only the first of the four groups of „those who believe“ – or that they were those good

 Muhammad Asad, Die Botschaft des Koran: Übersetzung und Kommentar (Düsseldorf: Patmos Verlag, 2009), 41.  Vgl. Asad, Die Botschaft des Koran, 109, 123.

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Jews, Christians, and Sabaeans who lived before the advent of the Prophet Muḥammad (PBUH) – which is an even worse tour de force. ⁵⁷

Die Ambivalenz der koranischen Aussagen erschöpft sich nicht darin, dass der Wortlaut bestimmter Verse in offenkundigem Widerspruch zu anderen steht, sondern sie wird zusätzlich dadurch gesteigert, dass auch eindeutig erscheinende Verse, wie die zuvor erwähnten, unterschiedlich interpretiert werden können. Abgesehen von politischen Interessen liegt in dieser doppelten Ambivalenz ein wichtiger Grund dafür, dass es in sämtlichen Weltregionen, die unter muslimischer Herrschaft standen, sowohl Etappen gegeben hat, die von Toleranz gegenüber Andersgläubigen geprägt waren, als auch solche, in denen es Repressalien gab.⁵⁸ So war sowohl eine progressive Auslegung möglich, welche die Ausweitung der Privilegien von Jüd*innen und Christ*innen auf andere, nicht im Koran erwähnte Glaubensgemeinschaften zuließ,⁵⁹ als auch eine solche, die sämtliche Koranverse, welche von Respekt und Wertschätzung gegenüber Andersgläubigen, insbesondere Jüd*innen und Christ*innen, sprechen, durch einen einzigen, den sogenannten Schwert-Vers (9:5), für abrogiert erklärte und jeglicher pluralistischen Haltung die Grundlage abstritt.⁶⁰ So vermochten weder die zahlreichen Koranverse, die eindeutig für einen wertschätzenden Umgang mit Andersgläubigen sprechen, noch die zahllosen Beispiele gelebter muslimischer Toleranz, welche die Geschichte bereithält, eine Tendenz in diese Richtung etablieren. In manchen Bereichen und Gegenden ist heute eine Stagnation oder sogar ein Rückfall hinter die Errungenschaften früherer, pluralitätsfreundlicher Epochen zu beobachten.⁶¹ Dies hat möglicherweise auch mit der weitgehenden und wenig reflektierten Durchsetzung von Ansätzen der klassischen islamischen Koranhermeneutik, aber auch der islamischen Jurisprudenz zu tun, die unter den islamisch-theologischen

 Fazlur Rahman, Major Themes of the Qurʾan (Minneapolis, MN: Bibliotheca Islamica, 1980), 115.  Vgl. Abdulaziz Sachedina, „Der Koran und die anderen Religionen“, in Islam und religiöser Pluralismus. Grundlagen einer dialogischen muslimischen Religionstheologie, hrsg. von Ernst Fürlinger und Senad Kusur (Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2019), 70.  Vgl. Muhammad Zia-ul-Haq, „Religious Diversity: An Islamic Perspective“, in Islamic Studies 49, Nr. 4 (2010): 513.  Vgl. Mustafa Öztürk, Kur’an’ı kendi tarihinde okumak: Tefsirde anakronizme ret yazıları, 7. Aufl. (Ankara: Okulu Yayınları, 2016), 129 – 78.  Vgl. Mahmut Aydın, „Möglichkeiten und Grenzen einer pluralistischen muslimischen Religionstheologie“, in Islam und religiöser Pluralismus. Grundlagen einer dialogischen muslimischen Religionstheologie, hrsg. von Ernst Fürlinger und Senad Kusur (Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2019), 262 (s. Anm. 58).

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Disziplinen eine Vormachtstellung genießen. So progressiv diese Ansätze zu einer bestimmten Zeit auch gewesen sein mögen, haftet ihnen doch der Mangel an, sich bestenfalls zur Duldung des Anderen zu bekennen, zu einer Toleranz also, die unter bestimmten Voraussetzungen gewissen religiösen Gruppen entgegengebracht wird, nicht jedoch zu einem Pluralitätsverständnis, das Gleichbehandlung und Wertschätzung impliziert. Diese für die damaligen Verhältnisse dennoch progressive Haltung gegenüber andersgläubigen Menschen, die allgemein anerkannt wird,⁶² ist ein wichtiges Indiz für die Ambivalenz muslimischer Quellen und die Flexibilität muslimischer Gelehrter im Umgang mit dieser Thematik. Sie legt zudem nahe, dass eine im Lichte dieses progressiven Geistes betriebene Hermeneutik auch heute dazu imstande wäre, neue pluralitätsfähige Konzepte zu entwickeln, die sich sowohl aus der muslimischen Tradition speisen als auch dem aktuellen Zeitgeist Rechnung tragen. Dies stünde auch im Einklang mit der bekannten juristischen Maxime aus osmanischer Zeit, wonach nicht verneint werden könne, dass sich mit den Zeiten auch die Regeln ändern.⁶³ Diese progressive Gesinnung, aber auch die Anforderungen der Gegenwart, haben entsprechend dem allgemeinen Entwicklungsprozess religionspluralistischer Ansätze eine beachtliche Anzahl von muslimischen Gelehrten dazu ermutigt, theologische Konzepte – wie es sie vereinzelt schon in der klassischen islamischen Zeit gegeben hat – zu erarbeiten, die dazu angetan sind, einer pluralistischen islamischen Theologie eine solide Basis zu liefern. Nachfolgend wird kurz auf die zentralen Thesen muslimischer Pluralisten eingegangen.

3.2 Muslimische Stimmen zur Pluralität Das Bemühen um eine Relationsbestimmung zu anderen Religionen, vor allem zu Juden- und Christentum, war bei den Muslimen aus den bereits genannten Gründen von Beginn an vorhanden. Der Fokus richtete sich dabei, so Pink, auf den Status von Nichtmuslimen in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften, die Religionsfreiheit und ǧihād – also Fragen des diesseitigen Zusammenlebens zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Ein Aspekt, der fast immer ausgeblendet wird, ist hingegen die theologische Einordnung von Nichtmuslimen.⁶⁴

 Vgl. Wielandt, „Religionsfreiheit und Absolutheitsanspruch der Religion im zeitgenössischen Islam“, 56.  Vgl. Zia-ul-Haq, „Religious Diversity: An Islamic Perspective“, 501.  Pink, „Ein Monopol aufs Paradies“, 59.

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Angesichts der politischen Entwicklungen, aber auch der wachsenden religiösen und weltanschaulichen Vielfalt vor allem infolge der muslimischen Präsenz in mehrheitlich nicht-muslimischen Ländern, hat sich der Fokus der Debatte, zum Teil gezwungenermaßen, verändert. Unter dem Einfluss der aufkeimenden pluralistischen Ansätze in der christlichen Theologie und eines erstarkten Bewusstseins der Unzulänglichkeit exklusivistischer Haltungen entstanden, wenn auch mit Verzögerung, in der Islamischen Theologie ebenfalls Ansätze, die als pluralistisch eingestuft werden können.⁶⁵ Selbst wenn derartige Ansätze in der Islamischen Theologie relativ neu sind, ist die Anzahl an Publikationen zum Thema mittlerweile unüberschaubar, weshalb hier nur ein selektiver Blick auf zentrale Figuren und Ansätze möglich ist. Anstatt auf die auch unter muslimischen Pluralisten vorhandenen unterschiedlichen Nuancierungen einzugehen, sollen im Folgenden jene Ansätze erläutert werden, deren Minimalkonsens in der Annahme besteht, dass das Heilsversprechen nicht auf Muslim*innen beschränkt werden könne. Zu den wichtigsten muslimischen Intellektuellen, die pluralistische Positionen vertreten und diese auch aus den islamischen Quellen heraus zu begründen versuchen, zählen Fazlur Rahman (gest. 1988), Nurcholish Madjid (gest. 2005), Hasan Askari (gest. 2008), Asghar Ali Engineer (gest. 2013), Süleyman Ateş (geb. 1933), Mehmet Aydın (geb. 1943), Mahmoud M. Ayoub (geb. 1935) und Farid Esack (geb. 1959), um nur einige zu nennen.⁶⁶ Die Hauptthesen der muslimischen Pluralisten, welche diese aus dem Koran ableiten, fasst Katajun Amirpur folgendermaßen zusammen: erstens die Bekräftigung einer allgemeinen Heilsmöglichkeit für all jene, die in wahrer Gottesfurcht und Rechenschaft leben, auch wenn sie nominell keine Muslime sind (Suren 2,62.112.113; 5,72; 20,112); zweitens die Überzeugung, dass Gott kein Volk ohne die erforderliche Offenbarung beziehungsweise prophetische Rechtleitung gelassen hat (Suren 5,19.48; 10,47; 14,4; 35,24); drittens das Bekenntnis zu der alle menschlichen Ausdrucksformen übersteigenden Transzendenz Gottes (Suren 17,43; 37,180; 112,4).⁶⁷

Neben diesem allgemeinen koranischen Rahmen wird bei der Begründung einer pluralistischen Haltung auf folgende Grundannahmen Bezug genommen:

 Für einen Überblick über das Thema islamischer Pluralismus in deutscher Sprache vgl. Ernst Fürlinger und Senad Kusur (Hrsg.), Islam und religiöser Pluralismus: Grundlagen einer dialogischen muslimischen Religionstheologie (Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2019); Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt; Amirpur, „Die Anerkennung des religiös Anderen“; Pink, „Ein Monopol aufs Paradies“.  Vgl. Amirpur, „Die Anerkennung des religiös Anderen“, 167– 68.  Amirpur, „Die Anerkennung des religiös Anderen“, 168.

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Die wichtigste Grundlage der muslimischen Pluralisten ist ihr weites Verständnis von Islam. Im Gegensatz zu den Exklusivisten, die unter Verweis auf die bereits genannten Koranstellen 3:19 und 3:85 die Heilsmöglichkeit auf den institutionalisierten Islam beschränken, vertreten Pluralisten die Auffassung, dass in diesen Koranstellen mit dem Begriff islām nicht eine bestimmte Religion – in diesem Fall der institutionalisierte Islam – gemeint sei, sondern vielmehr eine allgemeine Haltung, verstanden als Hingabe an Gott.⁶⁸ Demzufolge könne jede Person, die an die Einzigartigkeit Gottes glaubt und ihm dient, als muslim gelten, ohne sich explizit zum institutionalisierten Islam zu bekennen.⁶⁹ Mit den Worten von Süleyman Ateş, dem angesehenen türkischen Koranexegeten und früheren Oberhaupt der türkischen Religionsbehörde Diyanet, ist islām nicht nur die Bezeichnung für die Religion, die der Prophet Mohammed verkündete, sondern der Islam ist der gemeinsame Name der Religion, die Gott den Menschen von Adam bis zu dem Propheten Mohammed verkündet hat.⁷⁰

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Religionen sieht Ateş nicht in der Essenz der Offenbarungen, die darin bestehe, Gott zu dienen und gute Taten zu vollbringen, sondern in der menschlichen Natur.⁷¹ In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Nurcholish Madjid, wenn er zwischen einem „universalen Weg“, den alle Religionen teilen, und einem „spezifischen Weg“, der sich von Religion zu Religion unterscheidet, trennt und dafür plädiert, die Idee der Universalität aufrechtzuerhalten, in der Praxis jedoch von den verschiedenen Ausgestaltungen zu profitieren und sie für das Gemeinwohl fruchtbar zu machen.⁷² Mahmoud M. Ayoub pflichtet dieser Auffassung mit der Bemerkung bei, dass sich die Bedeutung des Begriffs islām nicht in der Bezeichnung für eine Religion erschöpfe: „The term islam, in this sense, applies to

 Vgl. Toshihiko Izutsu, God and Man in the Qurʾan: Semantics of the Qurʾanic Weltanschaung (Kuala Lumpur: Islamic Book Trust, 2008), 217– 18.  Vgl. Süleyman Ateş, Die geistige Einheit der Offenbarungsreligionen: İlahi Dinlerin Ruh Birliği, übers. von Abdullah Takim (Istanbul: Yeni Ufuklar Neşriyat, 1998), 11.  Ateş, Die geistige Einheit, 24– 25.  Vgl. Ateş, Die geistige Einheit, 13.  Vgl. Nurcholish Madjid, „Interpetation des koranischen Prinzips des religiösen Pluralismus“, in Islam und religiöser Pluralismus. Grundlagen einer dialogischen muslimischen Religionstheologie, hrsg. von Ernst Fürlinger und Senad Kusur (Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2019), 47– 48 (s. Anm. 58).

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the heavens and the earth and all that is in them, to humankind and to everything that God created.“⁷³ Diese Betrachtungsweise, welche die gemeinsame Basis der muslimischen Pluralisten bildet, ebnet den Weg zur Anerkennung unterschiedlicher transzendentaler Erfahrungen als potenzielle Heilswege und zur Aufnahme eines wertschätzenden Dialogs, bei dem es vor allem darum geht, die transzendentale Dimension des Gegenübers zu verstehen. Als weiteres Argument für die Trennung zwischen institutionalisiertem Islam und islām im Sinne von Gottergebenheit führen die muslimischen Pluralisten auch die Koranstellen 2:62 und 5:59 an, in denen, wie bereits erwähnt, die Heilsmöglichkeit auf andere Religionen ausgedehnt wird, vor allem auf das Judenund Christentum. Unter Berufung auf die koranischen Hinweise, dass Gott sich im Laufe der Zeit über unzählige Gesandte an die Menschen gewandt habe (16:36), welche die Botschaft Gottes stets in der jeweiligen Sprache übermittelten (14:4), vertreten sie die Auffassung, dass die Kernbotschaft bei allen die gleiche gewesen sei,⁷⁴ die Form jedoch dem jeweiligen Kontext entsprochen habe. Diesem Gedanken schließt sich auch Syed Vahiduddin an, wenn er sagt: „In other words, dīn in its essence is the same, whereas the Way (sharīʿa) differs from period to period of religious history.“⁷⁵ Aus diesem Grund steht es keiner Glaubensgemeinschaft zu, auf die Überlegenheit der eigenen religiösen Tradition zu pochen.⁷⁶ Einigkeit herrscht unter den muslimischen Pluralisten schließlich auch in der Grundannahme der Unbegreiflichkeit der eigentlichen Wahrheit bzw. Gottes an sich. Demgemäß ist der Mensch von seiner Natur aus ein in allen Belangen beschränktes und bedürftiges Wesen, dessen Wunsch nach Erkenntnis der absoluten Wahrheit bei aller Legitimität unerfüllt bleiben muss – nicht, weil es die absolute Wahrheit nicht gäbe, sondern weil der Mensch als begrenztes Wesen weder die Mittel noch die Fähigkeiten besitzt, etwas Unbegrenztes und völlig Anderes für sich zu erschließen. Mit Verweis auf Vers 112:4, in dem die Einzigartigkeit Gottes unterstrichen wird, hält Madjid fest, dass das einzig Absolute Gott sei, der naturgemäß für das Relative, zu dem auch der Mensch gehöre, in vollem Umfang unerreichbar bleibe.⁷⁷ Alle Bemühungen, die absolute Wirklichkeit zu verstehen,

 Mahmoud M. Ayoub, „The Qurʾan and Religious Pluralism“, in Islam and Global Dialogue: Religious Pluralism and the Pursuit of Peace, hrsg. von Roger Boase (London: Taylor and Francis, 2016), 278 – 79.  Vgl. Ateş, Die geistige Einheit, 17.  Syed Vahiduddin, „Islam and Diversity of Religions“, in Islam and Christian-Muslim Relations 1, No. 1 (1990): 6.  Vgl. Ateş, Die geistige Einheit, 10.  Vgl. Madjid, „Interpetation des koranischen Prinzips des religiösen Pluralismus“, 44.

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wie gut und richtig sie auch sein mögen, reichen demnach nicht aus, um der Wahrheit vollumfänglich habhaft zu werden,⁷⁸ denn Gott übersteigt unser Begriffsvermögen.⁷⁹ Die Anerkennung der Perspektivität des Menschen, besonders im Hinblick auf sein Vermögen, die Wahrheit zu erkennen, ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Kultivierung einer pluralistischen Haltung, nicht nur im religiösen Kontext. Nur wer sich seiner eigenen Perspektivität bewusst ist, kann auch anderen Zugängen zur Wahrheit wertschätzend begegnen und ihnen dieselbe Berechtigung zuerkennen wie dem eigenen. Dies dürfte auch die Erklärung dafür sein, dass sich pluralistische Ansätze vor allem in der islamischen Mystik, dem Sufismus, entwickelt haben. Denn die demütige Haltung der Mystiker (Sufis) gegenüber der absoluten Wahrheit hat vielen von ihnen dazu verholfen, jeglichem Überlegenheitsanspruch zu entsagen und das Gute in den anderen Religionen zu sehen.⁸⁰ Auch wenn dies nicht für alle Strömungen innerhalb der islamischen Mystik gilt, da diese genauso komplex und vielfältig ist wie der Islam selbst, darf der Sufismus doch für sich geltend machen, bereits vor der Moderne pluralistische Ansätze kultiviert zu haben und damit zu einer Inspirationsquelle auch für heutige muslimische Intellektuelle geworden zu sein.⁸¹ Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass ein wertschätzender Umgang mit religiöser Pluralität aus islamischer Perspektive möglich, aber eben keine Selbstverständlichkeit ist. Er ist Ergebnis eines ständigen Ringens mit den eigenen Quellen und Lehren, aber auch mit konkurrierenden Ansätzen, die in einer pluralistischen Haltung eine Verwässerung der eigenen Identität sehen und bei einer wortwörtlichen Auslegung der islamischen Quellen wohl die stärkeren Argumente hätten. Umso wichtiger sind die bisherigen Ausführungen für die theologische Verortung der Islamischen Religionspädagogik. Schließlich ist die Theologie – in diesem Fall die Islamische – eine ihrer zentralen Bezugswissenschaften. Von den konkreten religionspädagogischen Konsequenzen der vorhandenen Relationsbestimmungen soll im nachfolgenden Teil kurz die Rede sein.

 Vgl. Aydın, „Möglichkeiten und Grenzen einer pluralistischen muslimischen Religionstheologie“, 255.  Vgl. Hasan Askari, „Die theologischen und anthropologischen Herausforderungen an den interreligiösen Dialog“, in Neue Herausforderungen für den interreligiösen Dialog, hrsg. von Reinhard Kirste, Paul Schwarzenau und Udo Tworuschka (Balve: Zimmermann Verlag, 2002), 13.  Vgl. Jürgen W. Frembgen, „Toleranz in der islamischen Mystik“, in Toleranz im Weltkontext. Geschichten – Erscheinungsformen – Neue Entwicklungen, hrsg. von Hamid R. Yousefi und Harald Seubert (Wiesbaden: Springer VS, 2013), 212.  Vgl. Frembgen, „Toleranz in der islamischen Mystik“, 211.

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4 Pluralistische Bildungsansätze für die islamische Bildung Wie schon zu Beginn dieses Beitrags festgehalten, wird unsere Lebensrealität zunehmend von weltanschaulich-religiöser Pluralität geprägt. War diese Vielfalt vor einigen Jahren noch eine auf einige europäische Großstädte beschränkte Randerscheinung, gehört sie in Westeuropa mittlerweile zum Alltag. Das kulturell und religiös Andere begegnet uns tagtäglich, bei der Arbeit, in der Schule, beim Einkaufen und in der Nachbarschaft. Die Verwobenheit verschiedener Kulturen und Religionen ist zu eng, als dass sie ohne schwerwiegende Konsequenzen ignoriert werden könnte. Diese neue Situation, die sich angesichts der aktuellen Entwicklungen wohl weiter verfestigen wird, stellt uns alle vor nie dagewesene Herausforderungen. Insbesondere wirft die Fülle an Kulturen und Religionen, in den Worten von Mirjam Schambeck, die Frage auf, „wie die Auseinandersetzung mit ihnen so gelingt, dass Religionen in ihrer Pluralität ernst genommen werden und dieser Plural für ein gutes menschliches Miteinander fruchtbar wird.“⁸² Somit wird neben der religiösen Kompetenz auch der Umgang mit anderen Religionen zu einer „Grundkompetenz für das Leben in unserer Welt“⁸³. Eine Grundkompetenz wird dieser Umgang deshalb, weil er nicht nur Voraussetzung für eine friedliche Koexistenz ist, sondern auch für den Erfolg am internationalen Arbeitsmarkt, wo interkulturelles und interreligiöses Einfühlungsvermögen immer gefragter wird. An diesem Punkt ergeht nun der Ruf an die Religionen als einem der Grundpfeiler der Gesellschaft, plausible Antworten auf die Frage nach der Gestaltung eines gedeihlichen Miteinanders zu liefern – namentlich im Bereich der religiösen Bildung und damit verbunden der Religionspädagogik. Angesichts der geänderten Umstände bedarf es neuer Konzepte, um diesen Rechnung zu tragen und die einen auf wechselseitiger Würdigung und Lernbereitschaft gründenden Dialog ermöglichen, der ja nicht nur der Kultivierung einer pluralen Gesellschaft dient, sondern auch das Fundament einer pluralen Rechtsordnung bildet. Den neuen Verhältnissen und der Forderung nach Herausbildung entsprechender

 Mirjam Schambeck, Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf (Göttingen; Stuttgart: Vandenhoeck & Ruprecht; UTB, 2013), 163.  Henning Schluß, „Wissenschaftsbezogen und grundlegend kontrovers – religiöse Bildung als Dimension von Menschsein in schulpädagogischer Perspektive“, in Mensch – Religion – Bildung. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern, hrsg. von Thomas Schlag und Henrik Simojoki (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2015), 415.

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Fähigkeiten und Fertigkeiten lässt sich nicht mit veralteten Konzepten begegnen.⁸⁴ Die Wertschätzung von Pluralität und der mit ihr einhergehenden Unterschiedlichkeiten ist eine Sache der Perspektive und der Haltung – so wird eine auf Konformität fixierte Perspektive Differenzen entweder ausblenden oder sie als Mangel wahrnehmen.⁸⁵ Genau hier muss religiöse Bildung ihrer Rolle als Begleiterin von Transformations- und Veränderungsprozessen gerecht werden, indem sie sich vor allem die Förderung von Kontingenz- und Pluralitätsfähigkeit zum Anliegen macht. Das Ziel religiöser Bildung und damit auch der Religionspädagogik kann nicht darin bestehen, theologische Wahrheiten bloß weiterzugeben; vielmehr obliegt es ihr als der jüngsten und am stärksten vom Wandel der modernen Lebenswelt tangierten theologischen Wissenschaft, den Religionsplural nicht nur zu kultivieren, sondern zum konstituierenden Moment religiöser Bildungsprozesse zu machen.⁸⁶ Schließlich wird in der Schule nicht nur der Lehrstoff vermittelt, sondern auch das Miteinander gelernt und erlebt und damit der Grundstein für eine wertschätzende Haltung für das weitere Leben gelegt.⁸⁷ Aus dieser Sachlage heraus erwächst der Islamischen Religionspädagogik die Aufgabe, aus den zuvor erläuterten theologischen Ansätzen jenen religionspädagogischen Zugang auszuwählen und als konstitutiven Teil der religiösen Bildung zu etablieren, der am ehesten verspricht, jungen Menschen eine wertschätzende Haltung gegenüber religiöser Pluralität nahezubringen, und so die Voraussetzungen schafft für ein gedeihliches Miteinander und die Bereitschaft, voneinander zu lernen. Der Erfolg eines solchen Bildungsprozesses im Sinne der Vermittlung einer ehrlichen und dem Zweck religiöser Bildung entsprechenden, theologisch und religionspädagogisch tragfähigen Haltung hängt freilich von der Berücksichtigung einer Reihe von Aspekten ab. Denn hier droht die Gefahr, dass dieses Miteinander nicht auf der Überzeugung gründet, dass Vielfalt gottgewollt ist und alle Religionen in ihrer Essenz gleichwertig sind, sondern bestenfalls auf einer von den aktuellen Gegebenheiten erzwungenen Duldung anderer Religionen. Bloße

 Vgl. Joachim Kunstmann, Religionspädagogik. Eine Einführung, 2. Aufl. (Tübingen: Francke, 2010), 262.  Vgl. Martina Kraml und Zekirija Sejdini, „Religiöse Unterschiede als Potenzial“, in Österreichisches Religionspädagogisches Forum 23, Nr. 1 (2015): 29.  Vgl. Kunstmann, Religionspädagogik, 13.  Vgl. Christine Delory-Momberger, „Diversität unterrichten und lernen. Eine erzieherische und politische Herausforderung“, in Erziehung und Demokratie. Europäische, muslimische und arabische Länder im Dialog, hrsg. von Christoph Wulf, Fathi Triki und Jacques Poulain (Berlin: Akademie Verlag, 2009), 298.

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Toleranz gegenüber anderen Religionen aber kann nicht das Ideal religiöser Bildung sein, impliziert sie doch die Minderwertigkeit des zu Tolerierenden. Um einen genuin wertschätzenden Umgang mit Pluralität zu gewährleisten, müssen religiöse Bildungsprozesse entlang einiger Grundannahmen gestaltet werden. Um diese soll es im Folgenden gehen. Konkret ergeben sich aus den vorgestellten Ansätzen muslimischer Pluralisten für die Islamische Religionspädagogik, die diese für die religiöse Bildung fruchtbar machen will, folgende Perspektiven: ‒ Die Unterscheidung zwischen dem Islam als Religion, wie wir sie seit dem Propheten Muhammad kennen, und dem islām im Sinne von Gottergebenheit, die als Haltung in allen Religionen anzutreffen ist, muss auch im Rahmen religiöser Bildung bewusst gemacht werden. Durch viele koranische Aussagen, aber auch von einer Vielzahl von Gelehrten unterstützt, bietet dieses Konzept ein unumstößliches Fundament, auf das sich eine wertschätzende Haltung gegenüber anderen Religionen gründen lässt. In diesem Konzept treten einerseits der gemeinsame Ursprung und die Essenz der Religionen zum Vorschein, anderseits erkennt es an, dass auch andere Religionen zum Heil führen können bzw. nicht davon ausgeschlossen sind – und revidiert damit auch die weitverbreitete Annahme, durch den institutionalisierten Islam seien alle anderen religiösen Traditionen als potenzielle Heilswege nichtig. Tatsächlich ergeht damit der Aufruf, sich auf die gemeinsame Hinwendung zu Gott zu besinnen anstatt auf die Unterschiede, die der konkreten Ausformung geschuldet sind. Die Wahrnehmung der eigenen Religion als Vollendung der monotheistischen Tradition darf nicht dazu verleiten, anderen Religionen derselben Tradition die Existenzberechtigung abzusprechen. Vielmehr sollte die eigene Religion als alternativer Versuch gesehen werden, die absolute Wahrheit aus einem bestimmten historischen Kontext neu zu verstehen und den gemeinsamen Geist dieser religiösen Tradition zu revitalisieren. Ein solcher Zugang sollte insbesondere in einer konfessionell orientierten religiösen Bildung verankert werden, um einem Abgleiten in Exklusivismus vorzubeugen. ‒ Dies setzt eine entsprechende Annäherung an die islamischen Quellen, allen voran den Koran als Offenbarung Gottes, voraus – womit wir bei einem weiteren wichtigen Punkt angelangt sind, der für eine wertschätzende Haltung aus religionspädagogischer Perspektive von entscheidender Bedeutung ist.⁸⁸ Dieser Aspekt spielt eine grundsätzlichere Rolle als alle anderen, weil

 Vgl. Zekirija Sejdini, „Zwischen Gewissheit und Kontingenz. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis von islamischer Theologie und Religionspädagogik im europäischen Kontext“, in

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der Koran die Berufungsinstanz jeglicher theologischer und religionspädagogischer Überlegungen ist.Worum es bei der Annäherung an diese zentrale Quelle primär geht, ist, sie nicht als instruktionistisches Buch zu verstehen, sondern als kommunikativen Diskurs, der den Entstehungskontext und die Bedürfnisse der ersten Adressat*innen nicht nur mitberücksichtigt, sondern maßgeblich von diesen geprägt ist. Gerade mit Blick auf religiöse Bildungsprozesse ist der kommunikative Aspekt des Korans von enormer Bedeutung. Darin spiegelt sich einerseits die koranische Realität, die durch und durch dialogisch ist, andererseits eröffnet sich damit ein Weg für eine kontinuierliche Neuinterpretation der koranischen Grundidee, die den Koran damit zur unerschöpflichen Inspirationsquelle für religiöse Bildungsprozesse auch außerhalb seines Entstehungskontextes machen könnte. Eine wortwörtliche Interpretation, wie sie in den meisten konservativen Kreisen gepflegt wird, würde hingegen nicht nur Missverständnisse erzeugen, sondern sich auch als unüberwindbares Hindernis für ein wertschätzendes Miteinander in religiöser Vielfalt erweisen. Neben dem kommunikativen Ansatz des Korans ist bei der Konzeption und Gestaltung von religiösen Bildungsprozessen auch seine ambivalente Natur zu berücksichtigen. Beide Momente müssen in der religiösen Bildung angemessen Beachtung finden, damit das pluralistische Potenzial des Korans zur Entfaltung gelangen kann.⁸⁹ Daran anknüpfend ist – als weiteres zentrales Moment – die Erfahrbarkeit der absoluten Wahrheit zu thematisieren. Auch wenn generell davon ausgegangen wird, dass Gott aufgrund seiner Einzigartigkeit jegliche menschliche Vorstellung übersteigt und Gottesvorstellungen daher mehr über den Menschen aussagen als über Gott, findet die Perspektivität und Fragmentarität aller menschlichen Bemühungen, Gott zu erfahren, in der religiösen Bildung bislang nicht ausreichend Berücksichtigung. Allzu oft werden die etablierten Lehren und Interpretationen der eigenen Religion als unverrückbare ewige Wahrheiten präsentiert, denen gegenüber sämtliche Aussagen anderer Religionen Irrlehren seien. Dies gilt zudem nicht nur für die Lehren anderer Religionen, sondern auch für intrareligiöse Divergenzen, die bisweilen noch heftiger als jene bekämpft werden. Als eine in religionspädagogischer Hinsicht sinnvolle Vorstellung erscheint indes jene des ständig Suchenden, der sein Ziel nicht in der Inbesitznahme der Wahrheit sieht, sondern im – an-

Islamische Theologie und Religionspädagogik in Bewegung. Neue Ansätze in Europa (Bielefeld: Transcript, 2016), 15 – 32.  Eine systematische Auseinandersetzung mit der Hadithliteratur ist in diesem Zusammenhang von enormer Bedeutung.

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gesichts der Unendlichkeit des Ewigen von Demut begleiteten – unaufhörlichen Streben nach ihr. Als letzter Punkt, der auch an den vorherigen anschließt, ist der angemessene Umgang mit der islamischen Tradition als einer wichtigen Inspirationsquelle für die Islamische Theologie und Religionspädagogik zu nennen.⁹⁰ Islamische Tradition meint an dieser Stelle jene theologischen und religionspädagogischen Konzepte, die von muslimischen Gelehrten einer bestimmten Epoche anhand der religiösen Quellen entwickelt worden sind und daher zwangsläufig dem jeweiligen Zeitgeist entsprechen. Eben weil theologische und religionspädagogische Konzepte nicht im luftleeren Raum entstehen, muss an die eigene, in diesem Fall religionspädagogische, Tradition angeknüpft werden. Dabei gilt es auch, jene als universal gültig erachteten Modelle in den Blick zu nehmen, die nach der Überzeugung mancher konservativen Kreise wiederbelebt werden sollten. Dies betrifft auch religionspädagogische Ansätze zum Umgang mit religiöser Pluralität, die in einem völlig anderen als dem heutigen Kontext entstanden sind.

Diese Errungenschaften sind mitnichten irrelevant. Ihre Bedeutung liegt jedoch nicht in ihrer vermeintlichen Vorbildfunktion, welche die Nachahmung seitens aller nachfolgenden Generationen verdienen würde, sondern vielmehr in dem von ihnen erbrachten Nachweis, dass in der damaligen Zeit eine tolerante Haltung unter den Muslim*innen stärker verbreitet war als in anderen Kulturen und Religionen. So könnten sie Ansporn zu dem Bemühen werden, abermals eine Vorreiterrolle einzunehmen und die einstige Stellung in der Welt als wichtige Quelle der Anerkennung und Förderung der religiösen Pluralität zurückzuerlangen. Das kritiklose, verklärende Festhalten an der Vergangenheit würde in diesem Zusammenhang nicht nur der Gegenwart schaden, sondern auch diesen Modellen, die im jeweiligen Entstehungskontext zweifellos ihre Verdienste hatten und zum friedlichen Zusammenleben beitrugen. Ein Konzept bzw. Modell, das sich zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Bedingungen bewährt hat, kann unter veränderten Bedingungen jedoch genau das Gegenteil bewirken – was nichts daran ändert, dass es für die damalige Zeit wohl das Bestmögliche war. So gesehen ist Aziz al-Azmeh recht zu geben, der sagt: „Muslim historical experiences can and indeed do inspire, but they inspire aesthetically, and perhaps in a

 Vgl. Zekirija Sejdini, „‚Wer das eigene Ufer nie verlässt, wird Neues nicht entdecken‘. Herausforderungen für die Islamische Religionspädagogik im europäischen Kontext“, in Islam in Europa. Begegnungen, Konflikte und Lösungen, hrsg. von Zekirija Sejdini (Münster; New York: Waxmann, 2018), 17– 33.

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general way normatively. What they cannot be allowed to do, however, is inspire the desire for their repetition.“⁹¹ Mit anderen Worten müsste sich auch die Religionspädagogik jenes Diktum zu Herzen nehmen, dem zufolge Tradition nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers ist. Die erwähnten Punkte, die sich noch erweitern bzw. vervollständigen ließen, sollen eine Anregung zu Diskussion und Nachdenken bieten – dies freilich im Bewusstsein all der Schwierigkeiten, die bei der Etablierung und Durchsetzung pluralistischer Ansätze in der Religionspädagogik zu überwinden sind. Dass dies aus den islamischen Quellen heraus möglich ist, steht angesichts der koranischen Aussagen und der neuen pluralistischen Ansätze unter muslimischen Gelehrten außer Frage. Ob diese Ansätze als Verwässerung und Relativierung des eigenen Glaubens und der eigenen Identität abgelehnt werden oder aber in den gegenwärtigen islamischen religionspädagogischen Konzepten ausreichend berücksichtigt werden, bleibt offen.⁹² Denn es braucht vor allem Mut, um – so der ägyptische Philosoph Hassan Hanafi (geb. 1935) – „eine Alternative zu dem zu formulieren, was uns seit über einem Jahrtausend vertraut und gewohnt ist“⁹³.

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Dina El Omari

Geschlechtersensible Theologie lehren und lernen 1 Einleitung

Die islamische Frauen- und Geschlechterforschung steckt innerhalb der Islamischen Theologie in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Dies liegt zum einen daran, dass diese Theologie als akademisches Fach in Deutschland selbst noch sehr jung ist und sich gerade in einem Etablierungsprozess befindet, dessen Fokus zunächst stark auf traditionellen Disziplinen liegt, wie auf den Koran- und Hadithwissenschaften, der islamischen Normenlehre, der systematischen islamischen Theologie sowie auf entsprechenden Zugängen und Methoden, seien sie traditionell oder zeitgenössisch, während die Frauen- und Geschlechterforschung bislang eher als etwas Exotisches betrachtet wurde, das zwar notwendig sei, allerdings im muslimischen Bewusstsein noch nicht als genauso wichtig wahrgenommen wird wie die klassischen Disziplinen. Zum anderen zeigt sich mit Blick auf den globalen Raum, dass es zwar eine Vielzahl an Forschungsschriften, Aktivitäten und Projekten zur islamischen Frauen- und Geschlechterforschung gibt, bisher allerdings keine Systematisierung dieser Forschung im Sinne einer theologischen Disziplin erfolgt ist. Diese führt uns unweigerlich zu einem weiteren Problem, nämlich der Frage nach der fachspezifischen Bezeichnung dieser Forschung bzw. dieser Disziplin, deren Beantwortung durch eine ganze Reihe von Kontroversen begleitet wird. Der vorliegende Aufsatz möchte sich daher zunächst der Frage nach der fachspezifischen Bezeichnung widmen, um so dieser Disziplin einen Namen zu geben. Dabei sollen unterschiedliche Bezeichnungen auf der Grundlage aktueller Debatten diskutiert werden, um so letztendlich zu einer möglichen fachspezifischen Bezeichnung der Frauen- und Geschlechterforschung zu gelangen. Anschließend soll dann eruiert werden, welche Schwerpunkte die Frauen- und Geschlechterforschung im Sinne einer Querschnittsdisziplin innerhalb der klassischen Disziplinen der Islamischen Theologie haben sollte, und zwar im Lichte der im Titel ausgedrückten Idee von „lehren und lernen“, das heißt es sollen nicht nur die Lehrziele, sondern auch die Lehrinhalte der einzelnen Disziplinen aus einer geschlechtersensiblen Perspektive aufgezeigt werden; gleichzeitig soll ein Vorschlag zu deren Einbettung in das Curriculum gemacht werden. Trotz der Etablierung der Frauen- und Geschlechterforschung als eine Querschnittsdiszihttps://doi.org/10.1515/9783110731743-012

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plin in den einzelnen klassischen Disziplinen sollte das endgültige Ziel sein, diese Forschung zu einer eigenständigen Disziplin zu erheben.

2 Begriffsbestimmung: Frauen- und Geschlechterforschung in der Islamischen Theologie Die Frage nach einer fachspezifischen Bezeichnung von Frauen- und Geschlechterforschung in der Islamischen Theologie ist nicht ganz leicht zu beantworten, weil sich in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedliche Debatten um diese Bezeichnung aufgetan haben, die nicht immer nur intrareligiös geführt, sondern auch in anderen Disziplinen ausgetragen wurden. Das betrifft vor allem den Begriff des „Feminismus“ bzw. der „feministischen Theologie“, welcher oftmals dazu benutzt wird, die emanzipatorischen Bewegungen muslimischer Frauen auf sozialer, politischer und akademischer Ebene zu bezeichnen. Innerislamisch wird bis heute darüber diskutiert, ob nun der Begriff „Feminismus“ als Bezeichnung dieser Bewegungen seine Gültigkeit habe oder ob er zu vermeiden sei, da er seinen Ursprung in der westlichen Tradition habe. In dieser Debatte sprechen sich u. a. Margot Badran und Sa’diyya Shaikh für eine Verwendung des Begriffs aus, da sie betonen, dass auch muslimische Frauen, unabhängig vom Westen, in der Lage seien, einen islamischen Feminismus zu entwickeln und sich für Geschlechtergerechtigkeit einzusetzen; daher dürfe man ihnen nicht das Recht absprechen, diesen Begriff zu gebrauchen.¹ Auf der anderen Seite spricht sich zum Beispiel Asma Barlas gegen eine Verwendung der Begrifflichkeit aus, da sie eine unvermeidliche Verbindung zwischen dieser und der schmerzlichen Erfahrung der Kolonialisierung sieht, was sie vermeiden möchte. Diese Verbindung stellt sie auf der Grundlage des westlichen Feminismus und seiner Beziehung islamischen Feminismus her, denn letzterer wird in seinen Anfängen stark von ersterem beeinflusst, wie man am Beispiel Ägypten deutlich erkennen kann.² Barlas möchte deutlich machen, dass eine geschlechtergerechte Lesart nicht aus

 Vgl. Sa’diyya Shaikh, „Transforming Feminism: Islam, Women and Gender Justice“, in Progressive Muslims: on Justice, Gender and Pluralism, hrsg. von Omid Safi (Oxford: Oneworld, 2003), 155 – 157; Margot Badran, Feminism in Islam: Secular and Religious Convergences (Oxford: Oneworld, 2009), 250.  Vgl. dazu Leila Ahmed, Women and Gender in Islam: Historical Roots of a Modern Debate (New Haven: Yale University Press, 1992).

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dem Konzept des westlichen Feminismus resultiert, sondern aus dem Islam selbst.³ Andere vermeiden den Begriff aus Furcht davor, ihre Thesen würden ungehört als unislamisch abgestempelt werden. Nun ist der Feminismus allgemein zwar zunächst einmal eine politische Theorie. Diese hat es aber an sich, dass sie […] nicht nur einzelne Anliegen verfolgt, sondern die Gesamtheit gesellschaftlicher Verhältnisse im Blick hat, also einen grundlegenden Wandel der sozialen und symbolischen Ordnung […] anstrebt und gleichzeitig Deutungen und Argumente zu ihrer Kritik anbietet.⁴

Die Vereinbarkeit von Feminismus und Theologie wird bereits in der feministischen Theologie des Christentums thematisiert, so erklärt die katholische Theologin Marie-Theres Wacker: Mit „Feminismus“ sind die neuzeitlichen Aufbrüche von Frauen gemeint, die sich aus der rechtlichen und ökonomischen Vor-Herr-Schaft von „Vätern“ aber auch von der psychischen und ideologischen Bevormundung von Männern zu befreien suchen: ‚Feminismus ist der Aufbruch von Frauen aus fremdverhängter und selbstverschuldeter Unmündigkeit‘ (Dorothee Sölle). Dieser Bestimmung von Feminismus als Bewegung ist ein Verständnis von feministischer Wissenschaft als eine wissenschaftliche Betätigung von Frauen an die Seite zu stellen, die das (ethisch-pragmatische) Ziel einer Subjektwerdung aller Frauen nicht aus den Augen verliert und in diesem Sinne ‚parteilich‘ arbeitet, wenn sie in allen Wissenschaftsdisziplinen des universum scientiarum die unreflektierten Geschlechterdualismen und Weiblichkeitsstereotype aufzudecken und selbst andersartige, frauengerechte Ansätze zu entwickeln sucht.⁵

Das bedeutet also, dass die feministische Theologie eine parteiische Theologie im Sinne der Frauenemanzipation ist, die patriarchalische Strukturen in Geschichte und Gegenwart hinterfragt. Dieser Definition folgend ist es also durchaus möglich, von einem islamischen Feminismus bzw. einer feministischen islamischen Theologie zu sprechen, da die emanzipatorischen islamischen Bewegungen das Anliegen haben, einen grundlegenden Wandel der sozialen und gesellschaftlichen islamischen Ordnung anzustreben, um die Subjektwerdung der Frau voranzutreiben und damit Frauen die gleichen Rechte erhalten wie Männer. Dabei  Vgl. Asma Barlas, „Engaging Feminism: Provincializing Feminism as a Master Narrative“, in Islamic Feminism. Current Perspectives, hrsg. von Anitta Kynsilehto (Tampere: Tampere Peace Research Institute, 2008), 6.  Ute Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, 2. Aufl. (München: Beck, 2012), 6 – 7.  Marie-Theres Wacker, „Geschichtliche, hermeneutische und methodologische Grundlagen“, in Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, hrsg. von Luise Schottroff, Silvia Schroer und Marie-Theres Wacker (Darmstadt: Primus-Verlag, 1997), 34.

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sind diese Bewegungen ebenfalls aus einem Bedürfnis des Aufbruchs „von Frauen aus fremdverhängter und selbstverschuldeter Unmündigkeit“ entstanden. Für diesen Aufbruch werden patriarchalische Strukturen in der Geschichte und Gegenwart hinterfragt und aufgebrochen, um so zu einem gerechten Verhältnis zwischen den Geschlechtern zu gelangen. Trotz dieser möglichen Adaption des Begriffs „Feminismus“ entwickelt die amerikanische Islamwissenschaftlerin Jerusha Tanner Rhodes (früher Lamptey) einen eigenen Begriff, um die emanzipatorischen Bemühungen von Muslimen zu bezeichnen: Muslima theology. Dabei erklärt sie, dass sie sich selbst zwar im Feld der Gendertheorie und der feministischen Diskurse verorte,⁶ dass aber der Begriff des „Feminismus“ bzw. der „feministischen Theologie“ einen großen Zwiespalt unter den muslimischen Wissenschaftler*innen hervorrufe, was sich vor allem hinsichtlich der Terminologie, der feministischen Zugänge sowie allgemeiner Normen bemerkbar mache.⁷ Den Grund für diesen Zwiespalt erklärt Rhodes so: This ambivalence partially arises from the concern that dominant formulations of feminism and feminist theology are not expressive of – and potentially oppressive to – the particular experiences, challenges, and liberative strategies of Muslim women.⁸

In diesem Zusammenhang betont Rhodes zudem die Gefahr eines hegemonialen Diskurses, die sie auch im Feminismus bzw. in einigen Strömungen des Feminismus sieht. Dieser sei in seiner eigentlichen Form ein Diskurs weißer Mittelstandsfrauen und habe dabei oft versucht, die Erfahrungen anderer Frauen aus unterschiedlichen Kulturen unter diesen „weißen“ Feminismus zu subsumieren. Dieses Bestreben nach Hegemonie könne aber zum einen zu einer Bedrohung von Diversität werden und letztendlich auch die emanzipatorischen Bestrebungen zu einem bloßen Machtdiskurs verkommen lassen; zum anderen führe es zu unnützen Polemiken, Polarisierungen und dogmatischen Behauptungen.⁹ Dieser möglichen Entwicklung möchte Rhodes mit der von ihr entwickelten Muslima theology entgegenwirken. Dafür setzt sie sich zunächst mit einigen Entwicklungen im Bereich Islam, Gender und muslimische Frauen in ihrem wissenschaftlichen Umfeld, das heißt konkret im amerikanischen Raum, auseinander, um die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes explizit in Bezug auf den Islam und die Genderforschung zu begründen. Ihr Fokus liegt dabei zunächst auf den drei Haupt-

 Vgl. Jerusha Tanner Lamptey, „Toward a Muslima Theology: Theological, Constructive, and Comparative Possibilities“, in Journal of Feminist Studies in Religion 33, Nr. 1 (2017): 34.  Vgl. Lamptey, „Toward a Muslima Theology“, 27.  Ebd. , 27.  Vgl. ebd., 28.

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akteurinnen Riffat Hassan, Amina Wadud und Asma Barlas, deren Bestrebungen um ein geschlechtergerechtes Verständnis des Islams Rhodes zwar durchaus würdigt, die sie allerdings in einigen zentralen Punkten unter Verweis auf ihre hegemonialen Argumente kritisiert. So führt sie zunächst deren Hauptargument an, dass der Koran als direktes Gotteswort keine Geschlechterungerechtigkeiten beinhalten könne.¹⁰ Lesarten, die eine solche Geschlechterungerechtigkeit forcieren würden, seien zum einen auf die in der klassischen Exegese fehlende Klassifizierung der Koranverse in „partikular“ und „universal“ sowie „normstiftend“ und „beschreibend“ zurückzuführen, zum anderen aber dem Einfluss der Hadithliteratur auf die Exegese geschuldet, der zu einem patriarchalen Verständnis geführt habe.¹¹ Rhodes kritisiert diesbezüglich mehrere Aspekte. So verweist sie darauf, dass alle drei Wissenschaftlerinnen durchaus einen hegemonialen Anspruch erheben, indem sie ihre Lesart des Korans als geschlechtergerechten Text zur einzig richtigen und wahren Lesart des Textes erheben, welche zudem durch die Definition des Korans als das ewige Wort Gottes mit höchster Autorität versehen ist.¹² Außerdem macht Rhodes deutlich, dass Wadud in ihren späteren Schriften selbst eingestehen musste, dass der Koran keinesfalls als gänzlich geschlechtergerecht zu erachten sei. Dies wird ihr vor allem anhand des in Vers 4:34¹³ erwähnten Schlagens der Ehefrau bewusst, der sie exegetisch auf der Grundlage einer rein philologischen Lesart an ihre Grenzen stoßen lässt. Zudem verweist Rhodes auf die Kritik von Aysha Hidayatullah, dass der Koran als patriarchaler Text, offenbart in patriarchalen Strukturen, keinesfalls das Anliegen gehabt haben müsse, mit unseren heutigen Vorstellungen von Geschlechtergerechtigkeit zu korrespondieren. Daher sei zwischen den Perspektiven der Interpret*innen, die den Text geschlechtergerecht verstehen möchten, und dem koranischen Text selbst zu unterscheiden.¹⁴ In diesem Sinne sei auch die Definition des Korans als Gotteswort zu überdenken, und zwar weg von der Vorstellung des ewigen Gotteswortes, hin zum erschaffenen Wort Gottes, welches eben nicht mit der göttlichen Essenz gleichzusetzen sei und entsprechend auch nicht absolut gerecht sein müsse. Eine weitere Kritik, die Rhodes anführt, geht auf Kecia Ali zurück, die anmerkt, dass der rein koranzentrierte Zugang den großen und direkten Einfluss der Hadithliteratur und der islamischen Jurisprudenz auf die Lebenswirklichkeit vieler muslimischer Frauen ausspare. Sollten diese Disziplinen in Einzelfällen doch aufgegriffen werden, dann würden nur selektiv jene Aspekte     

Vgl. ebd., 30. Vgl. ebd., 31. Vgl. ebd., 30. Vgl. ebd., 32. Vgl. ebd., 33.

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herausgegriffen, die eine liberalisierende Funktion innehätten und der Frauenbefreiung helfen könnten. Dabei fehle laut Ali eine ganzheitliche Kritik an den patriarchalischen Strukturen, die sich im gesamten islamischen Recht finden ließen.¹⁵ Dieser selektive Umgang zeigt sich auch mit Blick auf die Anerkennung und Ablehnung der Hadithliteratur, denn bis auf einige wenige Ausnahmen, wie im Fall von Riffat Hassans Untersuchung der Überlieferungsketten des Hadithes, laut dem die Frau wie eine Rippe sei,¹⁶ erfolgt die Bewertung der Hadithe eher willkürlich. So werden jene Hadithe abgelehnt, die einen misogynen Charakter haben, während die frauenfreundlichen Hadithe akzeptiert werden.¹⁷ Auf der Grundlage dieser Kritikpunkte sowie eines in der feministischen Koranexegese durchaus anzutreffenden hegemonialen Anspruchs, die einzig wahre Lesart des Textes zu kennen, formuliert Rhodes die Notwendigkeit neuer Zugänge, Methoden und alternativer Interpretationen in Bezug auf Islam, muslimische Frauen und Gender. Einer dieser Zugänge stellt das von ihr vorgestellte Konzept der Muslima theology dar, welches vor allem die Lebenswirklichkeit muslimischer Frauen in den Fokus rückt. Dabei erklärt sie die Verwendung des Begriffs Muslima zum einen damit, dass sie sich selbst als weibliche Muslimin versteht und aus dieser Perspektive Fragen rund um Islam und Gender betrachten möchte; zum anderen möchte sie mit diesem Begriff ihre theoretische Positionierung als Wissenschaftlerin im Feld der Gendertheorie, der feministischen Diskurse und Methoden verdeutlichen.¹⁸ Rhodes baut ihr Konzept im Wesentlichen auf drei Säulen auf: „constructive“, „theological“ und „comparative“. Bezüglich der ersten Säule hält sie fest: Muslima theology is constructive. It is not just focused on retrieval or purification of what already exists in the tradition and sources; it aims to go beyond exegetical work and historical ressourcement. As such, it is rooted in – but not limited to – reinterpretation of central sources and historical figures.¹⁹

 Vgl. ebd.  Vgl. ebd., 32– 33; Riffat Hassan, „The Issue of Woman-Man Equality in the Islamic Tradition“, in Women’s and Men’s Liberation: Testimonies of Spirit, hrsg. von Leonard Grob, Riffat Hassan und Haim Gordon (New York: Greenwood Press, 1991), 65 – 82. Es gibt unterschiedliche Fassungen dieser Überlieferungen, so heißt es z. B.: „Die Frau ist aus einer Rippe geschaffen worden und du kannst sie nicht gerade machen. Wenn du von ihr Nutzen haben willst, so tue es trotz ihres Gebogenseins.Wenn du jedoch versuchst, sie gerade zu biegen, wirst du sie brechen, und sie brechen heißt sie verstoßen.“ Hūd b. Muḥakkam al-Hawwārī, Tafsīr Hūd b. Muḥakkam al-Hawwārī, ed. von Bālḥāǧǧ b. Saʿīd aš-Šarīfī, Bd. 1 (Beirut: Dār al-Ġarb al-Islāmī, 1990), 345 – 56.  Vgl. Lamptey, „Toward a Muslima Theology“, 33.  Vgl. ebd., 34.  Ebd., 35.

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In diesem Zusammenhang verweist Rhodes darauf, dass das gesamte islamische Rechtssystem sowie die Frage nach den koranischen Grenzen bezüglich der Gleichberechtigung von diesem Ansatz betroffen sind, da dieser nicht nur eine Neuinterpretation der Quellen verlangt, sondern auch zu einer völligen Verwerfung bestimmter Normen und Aussagen führen kann.²⁰ Rhodes ist sich der Radikalität dieses Ansatzes durchaus bewusst, sieht aber gleichzeitig auch keinen Weg daran vorbei, um gänzlich patriarchalische Strukturen aufzubrechen und zu verwerfen. Gleichzeitig macht sie deutlich, dass sich der von ihr entwickelte Zugang auch als ein offener versteht, der keine endgültigen Antworten liefern möchte und daher keine hegemonialen Ansprüche hegt. Die zweite Säule definiert sie folgendermaßen: Muslima theology is theology. My use of the term theology does not align holistically with the field of kalām (speculative Islamic theology), which focuses on questions related to divine attributes, free will and predeterminism, sin, and authority. Rather, I use the term to indicate the project of articulating integrated interpretations of God and God’s relation to creation, including humanity. The goal is to contextualize discussions of women and gender within a broader theological exploration of the nature of the Divine, the types of interactions between the Divine and humanity (including topics such as creation, revelation, prophethood, morality, and ethics) and the nature and purpose of humanity itself (theological anthropology).²¹

Dieser theologische Aspekt dient Rhodes dazu, vorherrschende Annahmen zu problematisieren und zu destabilisieren, und zwar mit dem Ziel, neue theologische Konzepte in bereits existierende Normen und Praktiken einzubetten bzw. diese komplett neu zu formulieren und dabei theologisch abzusichern. In diesem Rahmen müssen auch bisherige theologische Argumente und Vorstellungen des Gottesbildes kritisch bewertet und gegebenenfalls durch neue ersetzt werden. Die letzte Säule beschreibt sie wie folgt: Muslima theology is comparative – carried out in critical conversation with other discourses on religion, women, and gender, especially those that women in other faith traditions articulate. Explicit engagement with other traditions is a unique feature of my formulation of Muslima theology. And while not all Muslim women scholars, activists, or theologians embrace a comparative approach, in my opinion, it is essential for three primary reasons. The first reason is that comparative engagement is not actually new; it is already ongoing […]. The second reason is that – since comparative engagement is ongoing – new strategies for explicit, strategic, and conscientious comparative engagement are necessary […]. This brings

 Vgl. ebd.  Ebd., 36.

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me to the third and final reason for comparative engagement in Muslima theology: comparative engagement may actually be helpful. There may actually be something to learn.²²

Dieser komparative Aspekt ist Rhodes besonders wichtig, denn der Islam selbst ist in einem interreligiösen und interkulturellen Kontext entstanden, das heißt im Austausch mit vielen Religionen und Kulturen. Das spiegelt sich in seiner Entstehungsgeschichte wider, betrifft aber zugleich auch die Entwicklungen der Frauenbewegungen, die im Lichte der Beziehung von Islam und Feminismus religionsübergreifend betrachtet werden müssen. Dabei spielt eben auch die Diversität eine große Rolle, die stets mitgedacht werden sollte, die aber laut Rhodes und allgemeiner Kritik am westlichen Feminismus stark vernachlässigt wird, da er nach wie vor weiß und christlich geprägt sei und die Erfahrungen von anderen Frauen, wie von afrikanischen, asiatischen oder auch generell muslimischen Frauen, stark vernachlässigt bzw. komplett ausspart und diesen Frauen gegenüber eher mit einer Haltung der Bevormundung auftritt, indem sie deren Erfahrungen unter die des westlichen Feminismus subsumiert.²³ Rhodes versucht mit ihrer Theologie auf die zuvor angeführten Kritikpunkte zu antworten und entwickelt dabei durchaus brauchbare Ansätze, fernab von möglichen Fremdzuschreibungen durch Begriffe wie „Feminismus“ oder „feministische Theologie“ und auch ohne hegemoniale Ansprüche. Allerdings scheinen diese Ansätze eher komplementär zu einem Konzept bzw. Begriff des Feminismus zu stehen, als diesen gänzlich zu ersetzen, da der Ansatz insgesamt im Sinne einer Theologie noch wenig greifbar wirkt. Daher kann es auch nicht verwundern, dass Rhodes’ Ansatz nicht frei von Kritik bleibt – so schreibt Amina Wadud: No purpose is served by terms like Muslima theology. That name lacks clarity or reason, except to avoid being an association with feminism while providing an elite status to Muslim women theologians. It steps into the arena carved out by Islamic feminism on matters of interpretations, but as a ruse to unnecessarily privilege a particular location as „believing“ or „Muslim.“ It ignores the overlap in women doing theology because our particular location as theologians still might not form a unified whole. Furthermore, after centuries of exclusion among notable male interpreters, it would seem repugnant to employ a term to identify us that participates in its own forms of elitism and exclusion. If an Islamist woman disagrees with some aspect of my interpretive work, she is no less, nor any more a Muslima than I am. Why would I attempt to capture a special field of study by using such a broad comprehensive term as my usages can take it over, closing out those who might disagree with me?

 Ebd., 38.  Vgl. ebd., 38 – 39.

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While it may be intended to embrace the radical inclusion of Muslim women into discourses over Islamic theology, I confess to having higher expectations. I expect Islamic feminism, an intellectually rigorous engagement that serves the greater good by a comprehensive use of gender as a category of thought. It is not just doing theology as a female who is Muslim, it is doing theology to transform gender relations in our community towards inclusive equality and reciprocal human dignity. It prepares Muslims to enter a radical future on a planet we share with those who are not and may never be Muslim.²⁴

Diese Kritik Waduds scheint durchaus berechtigt und zeigt deutlich die Schwächen des Begriffs Muslima theology auf, auch wenn dessen Inhalte durchaus vielversprechend sind und der Ruf nach neuen Zugängen legitim erscheint. Die Lösung kann aber nicht darin liegen, Begriffe wie Feminismus oder Gender nicht zu gebrauchen, sondern muss vielmehr darin liegen, diese Begriffe so zu definieren, dass sie auch die islamische Perspektive zur Geltung bringen. Das birgt auch einen großen Gewinn: denn er islamische Diskurs kann aus der großen Vielfalt der feministischen Diskurse schöpfen und sich gleichzeitig mit diesen in einer gemeinsamen und langen Geschichte verorten, statt sich gänzlich von diesen abzugrenzen und das Rad neu zu erfinden. Zudem scheint es wenig hilfreich, sich vor Vereinnahmungen zu schützen, indem man den Begriff des Feminismus nicht mehr gebraucht, vielmehr signalisiert ein solcher Rückzug, dass der Islam eben nicht ebenbürtig mit feministischen Diskursen mithalten kann, das wäre aber ein fatales Zeichen, denn selbstredend trägt der Islam durchaus ein feministisches Potenzial, was ja auch alleine durch die zahlreichen feministischen islamischen Diskurse in Geschichte und Gegenwart bewiesen ist. Daher erscheint in dem direkten Vergleich beider Begrifflichkeiten, also islamischer Feminismus und Muslima theology, erstere sinnvoller um als fachspezifische Bezeichnung eines Teilbereichs der Frauen- und Geschlechterforschung zu fungieren. Ein Teilbereich deshalb, weil sich in den letzten Jahren der Fokus deutlich erweitert hat, denn die Kategorie Gender wird zunehmend relevanter. Zwar wird in den sogenannten Gender Studies ebenfalls eine große Debatte um das Phänomen des Feminismus geführt, allerdings wird dabei deutlich, dass der Fokus alleine auf der Frauenthematik nicht ausreichend ist, um weitere Phänomene zu besprechen. Das geschieht mit der Absicht, die vom Feminismus angestoßenen Debatten fortzudenken bzw. um weitere Ebenen zu erweitern, und zwar ausgehend von der Kategorie des Geschlechts. Der Fokus liegt dabei zunächst auf den Errungenschaften der Frauenbewegungen, die sich nach Regina Ammicht Quinn in zwei

 Amina Wadud, „Islamic Feminism by any Other Name“, in Muslim Women and Gender Justice. Concepts, Sources, and Histories, hrsg. von Dina El Omari, Juliane Hammer und Mouhanad Khorchide (London: Routledge, 2019), 44.

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Phasen einteilen lassen: die Phase der Gleichheit und die der Differenz. Die Phase der Gleichheit zeichne sich dadurch aus, dass der Fokus der ersten Frauenbewegungen Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Gleichberechtigung gelegen habe, und zwar im Sinne eines gleichen Zuganges „zu Bildung, zu politischer Mitbestimmung, zu Ämtern aller Art“.²⁵ Die Phase der Differenz, die maßgeblich von Frauenbewegungen in den 1970er Jahren in den Ländern des Nordens getragen wurde, verlagert ihren Fokus hingegen, denn „frauenidentifizierte Räume werden geschaffen und Frauengeschichte wird geschrieben; dies ermöglicht es, das Eigene als Eigenes wahrzunehmen und schätzen zu können“.²⁶ Zwar würdigt Ammicht Quinn beide Phasen, sie macht aber auch deutlich, dass diese nicht als absolut gesetzt werden dürfen, da es durchaus an beiden Phasen Kritik zu üben gilt.²⁷ So bezögen sich beide auf eine gespaltene bzw. dualistische Wirklichkeit, in der Konzepte wie Verstand und Gefühl, Rationalität und Irrationalität usw. einander entgegengestellt würden, wobei eine Hierarchisierung und Sexualisierung vorgenommen werde.²⁸ Dies kann man bereits an der ersten Gegenüberstellung deutlich erkennen, denn der Verstand wird in der Regel über das Gefühl gestellt und dem Mann zugordnet, während das Gefühl geringer geschätzt und der Frau zugeordnet wird.²⁹ Das eigentliche Problem entsteht dann aber im Umgang mit dieser gespaltenen Wirklichkeit innerhalb der beiden Phasen, denn zwar hebt der Gleichheitsdiskurs die Sexualisierung der Konzepte auf, doch bleibt ihre Hierarchisierung bestehen (der Verstand bleibt auch weiter dem Gefühl überlegen, aber Frauen gelten nun als fähig, ebenfalls mit dem Verstand zu handeln), wodurch letztlich bloß die Gleichheit innerhalb eines bestehenden Systems erzielt werden soll, nicht aber das System selbst hinterfragt wird. Der Differenzdiskurs hingegen halte an der Sexualisierung fest, so seien Frauen gefühlsbetonter als Männer; er […] wertet aber die Hierarchisierung um, so dass eine Welt weiblicher Alterität und weiblichen Selbstbewusstseins entsteht. Diese neu geschaffene Welt aber ist immer in Gefahr, weibliche Tugenden als Kompensation für fehlende Rechte zu akzeptieren.³⁰

 Regina Ammicht Quinn, „Gender: Aufregung um eine Analysekategorie (die meiner Großmutter vielleicht gefallen hätte)“, in Gender – Theorie oder Ideologie? Streit um das christliche Menschenbild, hrsg. von Thomas Laubach (Freiburg im Breisgau: Herder, 2017), 68.  Ammicht Quinn, „Gender: Aufregung um eine Analysekategorie“, 68.  Vgl. Regina Ammicht Quinn, „Gefährliches Denken: Gender und Theologie“, in Concilium: internationale Zeitschrift für Theologie, Nr. 4 (2012): 364.  Vgl. Ammicht Quinn, „Gefährliches Denken: Gender und Theologie“, 364.  Vgl. ebd.  Ebd.

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Die Genderforschung knüpft nun an genau dieser Stelle an und wird von Ammicht Quinn als dritte Phase der Theoriebildung bezeichnet, welche das dualistische Denkmuster grundsätzlich hinterfragt und die Genderfrage in den Mittelpunkt stellt.³¹ Es erfolgt also eine deutliche Verlagerung in dem Diskurs, weg von der reinen Betrachtung der ungleichen Behandlung von weißen Frauen und hin zu einer kritischen „Analyse der Macht-Mechanismen, die der Spaltung, Hierarchisierung und Sexualisierung von Lebens- und Denkwelten zugrunde liegen und beide Geschlechter betreffen“.³² Mit dieser Verlagerung erfolgt eine Erweiterung der bisherigen Perspektiven, denn die Probleme werden nicht mehr frauenzentriert, eurozentrisch und unter Rückgriff auf die menschliche Natur betrachtet, sondern es öffnet sich eine Perspektive auf die dahinter liegenden Macht-Strukturen, wobei dualistische Denkmuster, auch bezüglich der normativen Zweigeschlechtlichkeit Mann-Frau, verworfen werden und sich für alle Geschlechter sowie für die Intersektionalität geöffnet wird.³³ In diesem Zusammenhang versteht sich „Gender“ als eine Analysekategorie im Sinne der „Abkehr von essentialistischen Vorstellungen von Geschlecht, die das Wesen ‚der Frau‘ und ‚des Mannes‘ überzeitlich festlegen, an den Körper binden und ihm entsprechende Tugenden, Fähigkeiten, Aufgaben und Orte in der Welt zuordnen“.³⁴ Das Geschlecht ist somit keine eindeutige Kategorie, die Vorstellung einer starren Geschlechtsnatur wird abgelehnt. Der Begriff „Gender“ will nach Ammicht Quinn auch verunsichern, und zwar gerade dort, wo es um festgefahrene Vorstellungen und Ansichten geht, aber auch ganz allgemein um Absolutheitsansprüche. Zudem verstehe er sich als eine Gerechtigkeitskategorie, denn mit ihr werde angestrebt, Menschen in ihrer Vielfalt anzuerkennen und gleich zu behandeln.³⁵ Die Genderkategorie kann aus islamischer Perspektive nicht nur übernommen werden, sie muss es sogar. Zwar ist der innerislamische Diskurs noch bei weitem nicht an dem Punkt angelangt von einer breiten Etablierung der Geschlechtergerechtigkeit zwischen Frau und Mann zu sprechen, gleichzeitig stellen sich aber all die oben genannten Aspekte schon längst auch in dem innerislamischen Diskurs. Dabei rücken nicht nur Machtmechanismen in den Vordergrund, sondern eine grundsätzliche Hinterfragung binärer Vorstellungen sowie Maskulinitätsdiskurse. Außerdem zeigt sich, dass das Thema Intersektionalität zunehmend an Bedeutung gewinnt, da besonders Muslime Diskriminierungser-

 Vgl. ebd., 365.  Ammicht Quinn, „Gender: Aufregung um eine Analysekategorie“, 69 – 70; Ammicht Quinn, „Gefährliches Denken: Gender und Theologie“, 365.  Vgl. ebd., 69 – 70.  Ebd., 77.  Vgl. ebd., 78 – 79.

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fahrungen unterschiedlicher und gleichzeitiger Art machen. Auf der Grundlage dieser Überlegungen macht es also durchaus Sinn, die feministische Theologie als eine Unterkategorie der theologischen Genderforschung bzw. der geschlechtersensiblen Theologie zu sehen. Während erstere ihren Fokus deutlich auf die emanzipatorischen Bewegungen von Frauen zur Erzielung von Geschlechtergerechtigkeit in den unterschiedlichen Bereichen der Islamischen Theologie legt, erweitert letztere den Horizont um konkrete Fragen der Gender Studies, wie die Machtmechanismen, die für Ungleichheiten und Spaltungen sorgen, die Intersektionalität, die Entstehung von Frauen- und Männerrollen in den unterschiedlichen Gesellschaften, die Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie deren historische Entwicklungen. Dazu gehören eben auch die Maskulinitätsdiskurse, die Sexualitätsdiskurse usw. In diesem Sinne könnte die Frauen- und Geschlechterforschung in der Islamischen Theologie als geschlechtersensible Theologie bzw. theologische Genderforschung bezeichnet werden und somit beide Perspektiven aufgreifen, die feministische und die der Gender Studies.

3 Geschlechtersensible Theologie in der Islamischen Theologie in Deutschland lehren und lernen Wie eingangs erwähnt, steckt die muslimische Frauen- und Geschlechterforschung in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Zwar gibt es global gesehen eine Vielzahl von Entwicklungen und Diskursen innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung, doch gibt es bisher noch keine Bündelung dieser Forschungen im Sinne einer geschlechtersensiblen Theologie. Innerhalb der Islamischen Theologie ist es daher wichtig, dass die geschlechtersensible Theologie sich zunächst zu einer festen Querschnittsdisziplin entwickelt. Wünschenswert wäre dann, in einem weiteren Schritt, dass diese gar zu einer eigenständigen Disziplin wird, da ihre Inhalte von größter Relevanz sind und einen entsprechenden Entfaltungsraum benötigen. Für die Etablierung als Querschnittsdisziplin bedeutet das konkret, dass jede Disziplin der Islamischen Theologie die Frauen- und Geschlechterfrage thematisieren sollte, und zwar mit dem Ziel, ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen und eine geschlechtergerechte Theologie zu etablieren, die den patriarchalen Vorstellungen und Strukturen innerhalb des Islams entgegenwirken soll. Dabei rücken innerhalb der einzelnen Disziplinen verschiedene Themen und Methoden in den Fokus, sodass sich die geschlechtersensible Theologie in jeder dieser

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Disziplinen eigens definieren muss, um dann in ihrer Gesamtheit als geschlechtersensible Theologie gebündelt werden zu können. Dabei versteht sie sich aber keineswegs als eine rein auf eine islamische Disziplin beschränkte Theologie, sondern ist prinzipiell offen gegenüber anderen Theologien und nicht-theologischen Disziplinen und hält daher einen interreligiösen und interdisziplinären Zugang für unabdingbar. Wie sich nun konkret das Lehren und Lernen dieser Disziplin innerhalb der Islamischen Theologie gestalten kann, soll im Folgenden anhand der Lehrziele, der fachspezifischen Lehrinhalte und der möglichen Integration in das Curriculum aufgezeigt werden.³⁶

3.1 Lehrziele Als Grundvoraussetzung für eine systematische Beschäftigung mit den Inhalten und Methoden der geschlechtersensiblen Theologie aus islamischer Perspektive muss zunächst eine theoretische Grundlage für die geschlechtersensible Theologie des Islams geschaffen werden. In diesem Zusammenhang sollen die Studierenden allgemein erfahren, welche Entwicklungen es bezüglich der geschlechtersensiblen Theologie innerhalb des Islams bzw. innerhalb der einzelnen Disziplinen der Islamischen Theologie gegeben hat und aktuell gibt. Ein weiteres Lernziel ist die Erschließung der Bedeutung der Kategorie Geschlecht in den unterschiedlichen Bereichen der Islamischen Theologie sowie die Sensibilisierung der Studierenden für Geschlechterfragen. Diese Bereiche umfassen die Auseinandersetzung mit dem Koran und der Koranexegese (tafsīr), die islamische Normenlehre (fiqh), die islamische Geschichte, die systematische Theologie (ʿilm al-kalām), die prophetischen Überlieferungen (ḥadīṯ) sowie die praktische Theologie. Die Studierenden sollen sich dabei mit den spezifischen Inhalten und Methoden der geschlechtersensiblen Theologie auseinandersetzen und sie reflektieren. Gleichzeitig sollen sie dazu befähigt werden, deren Bedeutung für die eigene Lebenswirklichkeit zu erschließen, denn gerade der islamische Kontext macht deutlich, wie sehr patriarchale theologische Inhalte die Glaubenspraxis bestimmen, die kaum bis gar keinen Raum für Ansätze der geschlechtersensiblen Theologie zulassen. Die Studierenden sollen daher auch

 Vorarbeiten für ein solches Curriculum lassen sich auch in einem von mir verfassten Curriculum für die Koordinations- und Forschungsstelle Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW finden: http://www.gender-curricula.com/curriculum/theologie-islamisch.

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dazu befähigt werden, diese patriarchalen Inhalte zu hinterfragen und dabei mit Ansätzen aus der geschlechtersensiblen Theologie zu argumentieren.

3.2 Lehrinhalte der geschlechtersensiblen Theologie Da die geschlechtersensible Theologie bisher noch keine eigenständige Disziplin ist, können ihre Lehrinhalte im Sinne einer Querschnittsdisziplin entlang der einzelnen Schwerpunkte der Islamischen Theologie definiert werden, das heißt innerhalb der textwissenschaftlichen und exegetischen, der systematischen, der historischen und der praktischen Disziplin.

3.2.1 Textwissenschaftliche und exegetische Disziplin Die textwissenschaftliche und exegetische Disziplin setzt sich aus den Feldern Koran- und Hadithwissenschaften sowie der Exegese beider Quellen zusammen. Sie hat das Ziel, zum wissenschaftlichen Umgang mit diesen Quellen zu befähigen, wobei man bezüglich der Prämissen zwischen beiden unterscheiden muss. Da die Islamische Theologie grundsätzlich bekenntnisorientiert ist, wird vorausgesetzt, dass der Koran als von Gott offenbarte Botschaft verstanden wird. Als solche hat sie einen klaren Bezug zur Lebenswirklichkeit und Glaubenspraxis sowie einen normativen Charakter. Gleichzeitig ist der Koran aber auch ein historisches Produkt seiner Zeit und gilt zudem in Struktur und Stil als ein literarischer Text.³⁷ Entsprechend muss der Text mittels eines historischen und literaturwissenschaftlichen Zugangs untersucht werden, sei dieser historisch-kritisch, historisch-literaturwissenschaftlich oder historisch-theologisch. Bezüglich des wissenschaftlichen Umganges mit Hadithen gilt das Kriterium der Heiligkeit nicht, allerdings sind die Texte ebenfalls historische Produkte und können zuweilen auch einen literarischen Charakter aufweisen. Insofern sollten sie ebenso mittels des oben erwähnten Zugangs untersucht werden. Gleichzeitig sind sie Zeitzeugnisse davon, wie die Menschen die Entstehung des Islams rezipiert haben, und können somit im Sinne einer Rezeptionsästhetik analysiert werden.

 Vgl. dazu u. a.: Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang (Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2010); Nasr Hamid Abu Zaid, Gottes Menschenwort: Für ein humanistisches Verständnis des Koran, übers. von Thomas Hildebrandt (Freiburg im Breisgau: Herder, 2009); Amīn al-Ḫūlī, Manāhiǧ taǧdīd fī n-naḥw wa-l-balāġa wa-t-tafsīr wa-l-adab (Kairo: Dār al-Maʿrifa, 1961); Fazlur Rahmann, Islam & Modernity: Transformation of an Intellectual Tradition (Chicago: University of Chicago Press, 1982).

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Außerdem ist das Ziel, zu einem wissenschaftlichen Umgang mit den Hadithen als normative Texte zu befähigen, die einen individuellen Stellenwert bezüglich der Glaubenspraxis haben. In Bezug auf die geschlechtersensible Theologie bedeutet dies weiterhin, unterschiedliche Fragen an die Texte zu stellen, die ihre Historizität betreffen, und zwar mittels einer geschlechtersensiblen bzw. geschlechterspezifischen Perspektive. Dabei geht es zum einen darum, historische Kontexte zu rekonstruieren, die für eine gendersensible Untersuchung relevant sind, um so deren Bezüge in den Texten zu analysieren. Das bedeutet auch, die Texte in ihren kulturellen, gesellschaftlichen und religiösen Geflechten zu begreifen und sie vor dem Hintergrund weiterer Intertexte zu analysieren. So muss zum Beispiel nach Verständnissen von Geschlechterrollen zur Entstehungszeit des Korans gefragt werden.³⁸ Zum anderen spielen auf intratextueller Ebene Themen wie Geschlechterrollenverhältnisse, Frauencharaktere sowie gesellschaftliche Kontexte und normative Vorstellungen im Koran eine ausschlaggebende Rolle. Zudem kann auch die innerkoranische Dynamik für die Nachzeichnung der Entwicklung gendersensibler Themen relevant sein. In diesem Zusammenhang wird auch das dialektische Verhältnis von Koran und Hadith bezüglich dieser Themen analysiert. Die Betrachtung von Hadithen aus einer geschlechtersensiblen Perspektive bedeutet die Verortung im historischen Kontext, die Analyse von Geschlechterrollenverständnissen in den Überlieferungstexten, die Frage nach der Rezeption dieser Verständnisse sowie die Untersuchung der Rolle von Frauen als Überlieferinnen der Texte. Dabei gilt es, die patriarchalen Strukturen der Texte freizulegen und diese erst vor dem historischen Hintergrund und dann im Sinne einer geschlechtergerechten Auslegung neu zu interpretieren. Gleichzeitig wird generell die Frage gestellt, inwieweit die Texte bereits geschlechtergerechte Aspekte beinhalten. Natürlich sollte die Exegese nicht völlig frei von bereits getätigten Vorarbeiten agieren, sondern das bisherige Textverständnis in der klassischen Exegese einer kritischen Untersuchung unterziehen, und zwar ebenfalls hinsichtlich von Geschlechterrollenverständnissen, dabei bestehende Inhalte für eine geschlechtergerechte Lesart fruchtbar machend. Es geht innerhalb der exegetischen Disziplin weiterhin darum, bereits etablierte geschlechtergerechte Lesarten sowie deren verschiedene hermeneutische Zugänge kennenzulernen und fortzudenken bzw. neue Ansätze hervorzubringen, um so nicht nur eine Sensibilisierung für Frauen- und Geschlechterfragen zu entwickeln, sondern auch dazu zu befähigen, selbstständig Themen mit erlernten oder neu entwickelten Methoden im Sinne eines geschlechtergerechten Zuganges zu bearbeiten, wobei stets die Lebenswirklichkeit

 Vgl. Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike.

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mit ihren aktuellen Fragestellungen einzubeziehen ist. Dafür ist es unabdingbar sich mit den Arbeiten von Riffat Hassan,³⁹ Amina Wadud,⁴⁰ Asma Barlas,⁴¹ Sa’diyya Shaikh,⁴² Kecia Ali,⁴³ Aysha Hidayatullah⁴⁴ und Jerusha Tanner Rhodes⁴⁵ auseinanderzusetzen, die ganz konkret einzelne gendersensible Themen innerhalb der exegetischen Disziplin diskutieren und unterschiedliche Methoden für den Umgang mit dem Text vorschlagen, wie die historische Kontextualisierung, die Methode der Intratextualität und die tawḥīd-Methode.⁴⁶

3.2.2 Systematische Disziplin Innerhalb der systematischen Disziplin geht es maßgeblich darum, den Glauben als Denk-, Lebens- und Strukturform zu begründen. Vor dem Hintergrund der geschlechtersensiblen Theologie bedeutet dies ganz konkret, die Geschlechterfrage als Teil des begründeten Glaubens zu stellen und zu analysieren. Daher sollten den Studierenden die Bedeutung von Geschlechterfragen für die theologische Rede von Gott und deren Implikationen für die Gott-Mensch Beziehung verdeutlicht werden. Diesbezüglich spielt die Betrachtung von androzentrischen Gottesvorstellungen bzw. männlich konnotierten Gottesbildern eine zentrale Rolle. Diese ergeben sich in der arabischen Sprache im Koran und in der prophetischen Überlieferung vor allem durch die maskulinen Bezüge zu Gott, die in der Folge auch die gesamte systematische Disziplin beeinflussen. Hierzu gilt es u. a., sich mit den Arbeiten von Amina Wadud⁴⁷ und dem oben erwähnten Werk von Asma Barlas auseinanderzusetzen, welche die Bedeutung der arabischen  Vgl. Riffat Hassan, „Muslim Women and Post-Patriarchal Islam“, in After Patriarchy: Feminist Transformations of the World Religions, hrsg. von Paula M. Cooey, William R. Eakin und Jay Byrd McDaniel (Maryknoll, New York: Orbis Books, 1991), 39 – 64.  Z. B. Amina Wadud, Qurʾan and Woman: Rereading the Sacred Text from a Woman’s Perspective, 2. Aufl. (New York; Oxford: Oxford University Press, 1999).  Z. B. Asma Barlas, Believing Women in Islam: Unreading Patriarchal Interpretations of the Qurʾan (Austin: Univeristy of Texas Press, 2002).  Z. B. Sa’diyya Shaikh, „Feminism, Epistemology and Experience: Critically (En)gendering the Study of Islam“, in Journal for Islamic Studies 33 (2013): 14– 47.  Z. B. Kecia Ali, Sexual Ethics and Islam: Feminist Reflections on Qurʾan, Hadith, and Jurisprudence (Oxford: Oneworld, 2006).  Z. B. Aysha A. Hidayatullah, Feminist Edges of the Qurʾan (Oxford: Oxford University Press, 2014).  Z. B. Jerusha Tanner Lamptey, Never Wholly Other: A Muslima Theology of Religious Pluralism (Oxford; New York: Oxford University Press, 2016).  Vgl. dazu Hidayatullah, Feminist Edges of the Qurʾan, 65 – 125.  Amina Wadud, Inside the Gender Jihad: Women’s Reform in Islam (Oxford: Oneworld, 2006).

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Sprache für androzentrische Gottesvorstellungen diskutieren und die Implikationen dieser Vorstellungen problematisieren. An diese Problematisierung anknüpfend, gilt es mittels geschlechtergerechter Zugänge nicht nur die Geschlechterfrage als Teil des begründeten Glaubens neu zu stellen, sondern auch feministisch-theologische Neuentwürfe der Vorstellung Gottes zu vermitteln sowie deren Implikation für die Gott-Mensch Beziehung zu diskutieren. Einer von vielen möglichen Ausgangspunkten könnte die Frage nach der Bedeutung des wichtigsten Gottesattributes ar-Raḥmān (der Allbarmherzige) sein, denn dieses leitet sich etymologisch von dem arabischen Wortstamm r-ḥ-m ab, von dem nicht nur der Begriff raḥma (Barmherzigkeit, Gnade, Mitgefühl), sondern auch raḥim (Gebärmutter, Mutterleib) stammt, was auf eine weibliche, mütterliche Konnotation des genannten Attributes schließen lässt. Die bereits erwähnte kritische Analyse der androzentrischen Sprache sowie die daraus abgeleiteten theologischen Implikationen könnten zudem in Rückführung auf die textwissenschaftliche Disziplin bedeuten, Ideen für eine geschlechtergerechte Übersetzungssprache zu entwickeln. Gleichzeitig gilt es, bisherige Traditionen und theologische Reflexionen aus einer geschlechtersensiblen Perspektive zu betrachten. Dabei sollten zum einen androzentrische Argumente freigelegt und kritisiert sowie zum anderen geschlechtergerechte Ansätze in der theologischen Rede von Gott vermittelt werden. Kritisch hinterfragt werden sollten in diesem Zusammenhang auch die bisherigen androzentrischen Interpretationen von theologischen Frauenbildern, zum Beispiel die Rolle Evas als erste Sünderin oder Marias als Nicht-Prophetin bzw. Prophetin, wobei auch bereits vorhandene alternative geschlechtergerechte Ansätze fruchtbar gemacht werden sollten. Was nun die theologische Hermeneutik betrifft, so können hier verschiedene Ansätze vermittelt werden, die durchaus auch für eine geschlechtersensible Theologie herangezogen werden können, wie die Befreiungstheologie nach Farid Esack⁴⁸ oder die Freiheits- bzw. Barmherzigkeitstheologie nach Mouhanad Khorchide.⁴⁹ Ein weiterer zentraler Punkt innerhalb der systematischen Disziplin sollte die Schöpfungstheologie sein, die vor dem Hintergrund der Geschlechterfrage androzentrische Vorstellungen kritisch hinterfragt und geschlechtergerechte Ansätze fruchtbar machen kann. Hier ist zu empfehlen, sich mit den bereits ge-

 Farid Esack, Qurʾan, Liberation & Pluralism: An Islamic Perspective of Interreligious Solidarity against Oppression (Oxford: Oneworld, 2006).  Mouhanad Khorchide u. a., Gottes Offenbarung in Menschenwort. Der Koran im Licht der Barmherzigkeit (Freiburg im Breisgau: Herder, 2018).

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nannten Arbeiten Riffat Hassan, Amina Wadud und Aysha Hidayatullah.⁵⁰ auseinanderzusetzen, die auf der Grundlage der koranischen Schöpfungstheologie die Frage nach der essenziellen Gleichwertigkeit der Geschlechter diskutieren. Diese Perspektive sollte zudem auf die eschatologische Dimension, die maßgeblich durch den Koran geformt wird, erweitert werden, da deren Interpretationen in der traditionellen Literatur ebenfalls stark androzentrische Züge annehmen und somit eine essenzielle Gleichheit in der eschatologischen Dimension aushebeln. Diese androzentrischen Interpretationen werden u. a. von Amina Wadud kritisch hinterfragt, wobei die eschatologische Dimension mittels geschlechtergerechter Interpretationen neu ausgelegt wird. Als abschließender Aspekt der systematischen Disziplin sollte auch das Verhältnis von Körper und Sexualität, besonders von Frauenkörpern und Sexualität, diskutiert werden. Auch hier zeigen sich starke androzentrische Vorstellungen, die oft theologisch begründet werden. Diese sollten mittels einer geschlechtersensiblen Perspektive diskutiert und aufgelöst werden. Durch die unterschiedlichen Schwerpunkte innerhalb der systematischen Disziplin sollen die Studierenden dafür sensibilisiert werden, die Geschlechterfrage als Bestandteil dieser Disziplin zu verstehen. Zudem sollen sie ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass androzentrische Strukturen tief in den Gottesbildern verankert sind und diese Strukturen sich auf eine ganze Bandbreite an theologischen und systematischen Fragen erstrecken. Gleichzeitig sollen sie dazu befähigt werden, diese Strukturen zu erkennen und mittels geschlechtergerechter Zugänge neue Fragen an sie zu stellen.

3.2.3 Historische Disziplin Die historische Disziplin beschäftigt sich mit einer ganzen Reihe von Themenfeldern. So zeichnet sie die geschichtlichen Entwicklungen muslimischen Lebens, Wirkens und Denkens in den unterschiedlichen Epochen und Orten nach. Sie beleuchtet dabei soziale, wissenschaftliche, politische und theologische Entwicklungen der unterschiedlichen islamischen Gemeinden bzw. Länder und Räume und hat durch ihren übergreifenden Gehalt zugleich einen engen Bezug zu allen anderen Disziplinen. Geschlechterfragen stellen sich in dieser Disziplin im

 Empfohlen sei auch meine Habilitationsschrift: Koranische Geschlechterrollen in Schöpfung und Eschatologie. Versuch einer literaturwissenschaftlichen Korankommentierung (Freiburg im Breisgau: Herder, 2021).

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besonderen Maße, denn die Kategorie Geschlecht ist grundsätzlich an die oben beschriebenen Entwicklungen gebunden und somit historisch geprägt. Für die geschlechtersensible Theologie bedeutet dies, dass sich die historische Disziplin mit dem Thema der Geschlechterverhältnisse immer vor dem jeweiligen geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext auseinandersetzen muss. Dabei kann sie sich mit der historischen Relevanz von Frauen auf gesellschaftspolitischer, intellektueller und geistlicher Ebene beschäftigen, sei es als islamische Gelehrte*innen, als Politiker*innen oder als Freigeister, die sich aktiv in ihre Gesellschaft eingebracht und diese mitgestaltet haben. Diese Frauen und ihr Einsatz bleiben in der islamischen Rezeptionsgeschichte oft stark marginalisiert, da patriarchale Strukturen in den verschiedenen gesellschaftlichen und intellektuellen Bereichen dominieren und daher eher die Narrative von Männern im Vordergrund stehen. Daher gilt es, diesen weiblichen Stimmen wieder Gehör zu verschaffen und ihre Geschichten zu erzählen. Zugleich soll anhand des historischen Materials aber auch aufgezeigt werden, wo durch das Engagement von Männern patriarchale Strukturen aufgeweicht werden konnten und so für Frauen auf gesellschaftlicher und intellektueller Ebene Raum zur Entfaltung entstand. Ziel ist es, eine Geschichtsforschung zu den Themen Frau und Geschlecht anzutreiben. Ansätze dafür lassen sich schon in einigen Arbeiten finden, die sich explizit mit den Biographien von Frauen in der islamischen Geschichte auseinandersetzen. So hat Doris Decker in ihrer Studie Frauen als Trägerinnen religiösen Wissens: Konzeptionen von Frauenbildern in frühislamischen Überlieferungen bis zum 9. Jahrhundert bestimmte Frauenbilder von der Zeit des Propheten bis ins 9. Jahrhundert untersucht und kann anhand einiger Überlieferungen durchaus emanzipatorische Vorstöße von Frauen in jener Zeitspanne aufzeigen. Aisha Geissinger untersucht in ihrer Monographie Gender and Muslim Constructions of Exegetical Authority die Rolle von weiblichen Überliefernden als exegetische Autoritäten. Außerdem gibt es Arbeiten, die explizit Frauenbiographien aus den arabischen Biographiewerken (ṭabaqāt) in englischer Übersetzung präsentieren, wie Al-Muhaddithat: The Women Scholars in Islam von Mohammad Nadwi.

3.2.4 Praktische Disziplin Die praktische Disziplin setzt sich aus den Bereichen Islamische Religionspädagogik und islamische Normenlehre zusammen. In Bezug auf die Frauen- und Genderforschung spielt vor allem das Thema der Geschlechtergerechtigkeit in der Glaubenspraxis eine herausragende Rolle. Im Rahmen der Islamischen Religionspädagogik ist es notwendig, sich mit Formen geschlechtergerechter religiöser Erziehung auseinanderzusetzen und die entsprechenden geschlechtersensiblen

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Konzepte als festen Bestandteil des Faches aufzunehmen. Dabei sollte auch die Frage nach der Geschlechtsspezifik der religiösen Sozialisation gestellt werden, damit die Studierenden ein Bewusstsein dafür entwickeln, patriarchale Strukturen freizulegen und diese im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit aufzubrechen. Hier spielt auch die islamische Normenlehre eine wichtige Rolle, da diese durch bestimmte Normen die patriarchalen Strukturen unterstützt, was wiederum einen großen Einfluss auf die Rolle von Frauen in der Glaubenspraxis hat, zum Beispiel in geistlichen Ämtern, aber auch im muslimischen Alltag. Daher gilt es auch hier, geschlechtergerechte Lösungsansätze und Interpretationen aufzuzeigen und den Studierenden die Möglichkeit zu geben, mithilfe verschiedener hermeneutischer Methoden aktuelle Fragestellungen, die vor allem auch die eigene Lebenswirklichkeit betreffen, neu zu beantworten, und zwar auf der Grundlage eines geschlechtergerechten Zugangs. In diesem Sinne hat sich besonders Kecia Ali in ihrem oben angeführten Werk mit Fragen der Normenlehre auseinandergesetzt, wobei sie den Schwerpunkt auf den freien Zugang der Männer zum weiblichen Körper legt und die zugrundeliegenden patriarchalen Strukturen harsch kritisiert. In diesem Zusammenhang verweist sie zudem auf die ungenügenden Strategien islamischer Feministinnen im Umgang mit der patriarchalisch gefärbten Normenlehre, da diese Strategien auch dazu dienen müssen, gewisse Aspekte komplett zu verwerfen. Alis Kritik sollte innerhalb der praktischen Disziplin ein Denkanstoß zur Entwicklung neuer Strategien für ein geschlechtergerechtes Verständnis in der Normenlehre sowie in der religiösen Praxis sein und das Bewusstsein für die Hinterfragbarkeit androzentrischer Vorstellungen schärfen. Gleichzeitig eröffnet besonders die praktische Disziplin, durch ihren starken Bezug zur muslimischen Lebenswirklichkeit, die Möglichkeit, interdisziplinär zu arbeiten, zum Beispiel mit den Sozialwissenschaften, die explizit im Zuge empirischer Forschungen verschiedene Phänomene des muslimischen Lebens analysieren und auswerten. Hier kann natürlich auch die Frage nach unterschiedlichen Verständnissen von Geschlechterrollen sowie nach damit zusammenhängenden Phänomenen gestellt werden.

3.3 Integration der Inhalte in das Curriculum In der Bachelorphase sollten die Grundlagen der geschlechtersensiblen Theologie in den unterschiedlichen Disziplinen sowie die relevanten Fragestellungen behandelt werden. Das Masterstudium dient dann einer Vertiefung in den einzelnen Bereichen dieser Theologie. Prinzipiell ist es wünschenswert, dass sich die geschlechtersensible Theologie als eine eigenständige Disziplin etabliert. Solange dies nicht der Fall ist, sollte

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sie aber gemäß den oben angeführten Lehr- und Studienzielen als Querschnittsdisziplin für alle theologischen Disziplinen in der Bachelorphase verankert sein. Dies könnte jede Disziplin in eigens angesetzten Einführungen abdecken oder es könnte eine fächerübergreifende Einführung in die geschlechtersensible Theologie angeboten werden. Zudem ist es sicherlich sinnvoll, in der Bachelorphase ein entsprechendes Modul zur geschlechtersensiblen Theologie anzubieten, das aus einer Vorlesung und einem Seminar bestehen sollte. Die Vorlesung sollte dabei zunächst einen allgemeinen Überblick über die Entwicklungen der geschlechtersensiblen Theologie im Islam liefern, und das mit Fokus auf dem europäischen, angloamerikanischen und nordafrikanischen Raum, da diese für den deutschen Diskurs die entscheidende Rolle spielen. Das Seminar sollte sich dann vertieft mit den Entwicklungen der jeweiligen Disziplinen aus einer geschlechtersensiblen Perspektive auseinandersetzen. Je nach Machbarkeit ist darüber zu entscheiden, ob dieses Modul als Pflicht- oder Wahlpflichtfach angeboten werden sollte. Gerade für die interreligiöse Öffnung wäre zudem wünschenswert, wenn auch ein interreligiöser Bezug hergestellt würde. Dies könnte im Rahmen dieses Gender-Moduls oder eines eigens angelegten interreligiösen Moduls erfolgen. Auch eine interreligiöse Veranstaltung, zum Beispiel gemeinsam mit der Katholischen Theologie wäre denkbar. Auch hier müsste man je nach Situation abwägen, ob es sich dabei um eine Pflicht- oder eine Wahlpflichtveranstaltung handeln sollte. In der Masterphase sollte dann eine Vertiefung der einzelnen Themen der geschlechtersensiblen Theologie innerhalb der einzelnen theologischen Disziplinen erfolgen, indem diese Themen einen festen Bestandteil der jeweiligen Hauptseminare bilden. Dabei muss jede Disziplin selbst entscheiden, wo sie ihren Schwerpunkt innerhalb der geschlechtersensiblen Theologie setzen möchte.

4 Schluss Trotz der zunehmenden Veränderung von Geschlechterrollen sowie der rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter in der Gesellschaft bildet die Genderfrage bis heute ein wichtiges Thema in der islamischen Theologie, Religionspädagogik und Praxis. Der theologische und religionspädagogische Handlungsbedarf ergibt sich aus den unterschiedlichen Erwartungen an die Geschlechter sowie die noch herrschenden Ungleichheiten und auch Schwierigkeiten, die sich bezüglich nichtbinärer Geschlechtsidentitäten ergeben. Die Etablierung einer geschlechtersensiblen Theologie, sei es als Querschnittsdiziplin, sei es als eigenständige Disziplin, innerhalb der Islamischen Theologie ist daher eine notwendige und wichtige Aufgabe, die bisher noch sehr stiefmütterlich angegangen wird, der Bedarf die

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Studierenden und später dann die angehenden Schülerinnen und Schüler sowie Theologinnen und Theologen dafür zu sensibilisieren ist allerdings sehr hoch. Die vorgeschlagenen Möglichkeiten zur Integration der Genderthematik in die Curricula der Islamischen Theologie können in diesem Zusammenhang einen ersten Anstoß bieten, müssen aber sicher noch im Laufe der Zeit erweitert und angepasst werden. Gleichzeitig wird auf der Grundlage der unterschiedlichen Debatten über eine Begriffsbestimmung für eine fachspezifische Bezeichnung der Frauen- und Geschlechterforschung in der islamischen Theologie deutlich, dass sowohl die Begriffe „feministisch“ als auch „geschlechtersensibel“ ihre Daseinsberechtigung innerhalb der islamischen Theologie haben und geeignet erscheinen, diese Forschung mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten zu bezeichnen.

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Geschlechtersensible Theologie lehren und lernen

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Serdar Kurnaz

Islamisches Recht als Teildisziplin der Islamischen Theologie in Deutschland – Problemfelder, Herausforderungen und Lösungsvorschläge 1 Einführung Die Disziplin Islamisches Recht gehört zum Kanon der Islamischen Theologie. Dies ist den Curricula theologischer Institute und Fakultäten diverser Universitäten auf internationaler Ebene zu entnehmen. Das junge Fach Islamische Theologie in Deutschland sieht das Islamische Recht auch als eine ihrer Grunddisziplinen, haben die Zentren für Islamische Theologie mit je abweichender Denomination doch alle eine Professur für Islamisches Recht. Daher lässt sich die Frage stellen, wie dieses Fach an der Universität und innerhalb der Islamischen Theologie verortet und wie die Lehre konzipiert werden soll. Um diesen Fragen nachgehen und die Herausforderungen für die Etablierung dieser Disziplin benennen zu können, müssen wir einen kurzen Blick in die Entwicklung der Disziplin des Islamischen Rechts im 19. und 20. Jahrhundert werfen. Danach werde ich die einzelnen Problemfelder besprechen.

2 Der Wandel in der Lehre des Faches Islamisches Recht Die gravierenden strukturellen und politischen Veränderungen, die mit der Moderne ab dem späten 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts einhergingen, haben dazu geführt, dass die islamischen Rechtswissenschaften,¹ wie sie bis zu diesem  Ich verwende den Ausdruck „islamische Rechtswissenschaften“ als Oberbegriff für diverse Disziplinen wie fiqh und uṣūl al-fiqh. Im weiteren Verlauf übersetze ich fiqh als „(islamisches) Recht“. An einigen Stellen lasse ich den Begriff aus inhaltlichen Gründen unübersetzt. Dabei orientiere ich mich an der folgenden Definition, die rechtsschulübergreifend gilt: Fiqh ist das Wissen um oder die Kenntnis der rechtlichen Beurteilungen der Handlungen der juristisch verantwortlichen Personen mittels Beweisführung (istidlāl), Normderivation (istinbāṭ) und iǧtihād; vgl. Šihāb ad-Dīn al-Qarāfī, Šarḥ Tanqīḥ al-fuṣūl fī ḫtiṣār al-Maḥṣūl fī l-uṣūl, hrsg. von Aḥmad Farīd al-Mazīdī (Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2007), 45; Abū l-Wafā Ibn ʿAqīl, al-Wāḍiḥ fī uṣūl al-fiqh, https://doi.org/10.1515/9783110731743-013

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Datum betrieben wurden, in eine Konkurrenzsituation gerieten. Diese ergab sich dadurch, dass westliches positives Recht in mehrheitlich muslimischen Ländern zum geltenden Recht wurde. Dabei konnte sich das islamische Recht in einigen dieser Länder behaupten, zumindest als Teilbereich des insgesamt geltenden Rechts (Ägypten, Tunesien, Malaysia), oder wurde spätestens im 20. Jahrhundert komplett ersetzt (Türkei).² Von dieser Entwicklung waren insbesondere die Religionsgelehrten (ʿulamāʾ) bzw. die Rechtsgelehrten (fuqahāʾ) betroffen. Sie unterschieden sich wesentlich von den Juristen, die an nun neu eingerichteten universitären Einrichtungen ausgebildet wurden.³ Die Gelehrten verloren ihre Autorität und damit ihr Mitspracherecht, um zur Lösung von Rechtsfragen beizutragen. Ihre Autorität wurde auf das fatwā-Wesen beschränkt.⁴ Der Aktionsradius der Gelehrten verkleinerte sich damit auf Fragen des privaten religiösen Alltags, sei es im Bereich der gottesdienstlichen Handlungen (ʿibādāt) oder der zwischenmenschlichen Beziehungen (muʿāmalāt).⁵ Die erste Reaktion auf diese Entwicklung war u. a. die Betonung des iǧtihād, und zwar in der Form, dass über das traditionelle Verständnis des iǧtihād hinausgehend innovative Ansätze begründet werden sollten.⁶ Damit sollte gezeigt werden, dass das islamische Recht ein hohes Aktualisierungspotenzial hat. Die Betonung des iǧtihād führte dazu, dass die Gelehrten Rechtsschulgrenzen zu überwinden suchten, die im Sinne der Rechtssicherheit historisch gesetzt worden waren, was sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Gründung von

hrsg. von ʿAbdallāh b. ʿAbd al-Muḥsin at-Turkī, Bd. 1 (Beirut: Muʾassasat ar-Risāla, 1999), 7; Ǧalāl ad-Dīn al-Maḥallī, Šarḥ al-Waraqāt fī ʿilm uṣūl al-fiqh, hrsg. vom Markaz ad-Dirāsāt wa-t-Taḥqīq (Mekka u. a.: Maktabat Nizār Muṣṭafā al-Bāz, 1996), 35 – 36, 52– 53; Abū ʿAbdallāh Muḥammad arRuʿaynī, Qurrat al-ʿayn li-šarḥ Waraqāt Imām al-Ḥaramayn, hrsg. von Aḥmad Muṣṭafā Qāsim aṭṬahṭāwī (Kairo, o. J.), 30 – 33.  Wael Hallaq, „Can the Sharīʿa be Restored?“, in Islamic Law and the Challenges of Modernity, hrsg. von Yvonne Y. Haddad und Barbara F. Strowasser (Walnut Creek: AltaMira Press, 2004), 21– 25; Murteza Bedir, „Fıkıh to Law: Secularization Through Curriculum“, in Islamic Law and Society 11, Nr. 3 (2004): 382– 89.  Shaheen Sardar Ali, „Teaching and Learning Islamic Law in Globalized World: Some Reflections and Perspectives“, in Journal of Legal Education 61, Nr. 2 (2011): 215 – 16.  Die Debatte um das Minderheiten-Fiqh wird in der Sekundärliteratur u. a. als Versuch der Gelehrten verstanden, wieder Autorität zu erlangen, siehe Patrick Franke, „Fiqh al-aqallīyāt“, Wikipedia, 15.11. 2019, http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Fiqh_al-aqallīyāt.  Brinkley Messick, „Fatwā, Modern“, in Encyclopaedia of Islam (Third Edition), zugegriffen 15.11. 2019, http://dx.doi.org.proxy.ub.uni-frankfurt.de/10.1163/1573-3912_ei3_COM_27049.  Aria Nakissa, „An Epistemic Shift in Islamic Law. Educational Reform at al-Azhar and Dār alʿulūm“, Islamic Law and Society 21, Nr. 3 (2014): 209 – 51.

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fiqh-Akademien zeigt.⁷ Damit ging auch die Wiederentdeckung und Betonung des Bereichs der sogenannten „Ziele der Scharia“ (maqāṣid aš-šarīʿa) einher. Dies geschah insbesondere ab den 1950er Jahren, sodass die „Ziele der Scharia“ allmählich zu einer unabhängigen Quelle des islamischen Rechts wurden.⁸ Nicht selten spricht die Sekundärliteratur daher von einem epistemologischen Wandel, und das sowohl in Bezug auf den iǧtihād,⁹ auf den Lehrbetrieb des islamischen Rechts an Hochschulen¹⁰ und auf das Thema der maqāṣid. ¹¹ Von diesem Wandel und den damit verbundenen institutionellen Reformen war der Lehrbetrieb ebenfalls betroffen – und ist es immer noch. Universitäre Einrichtungen ersetzten fortan den madrasa-typischen Lehrbetrieb. Die für das islamische Recht im Rahmen der Lehre – von textorientiertem zu themenorientiertem Unterricht¹² – zur Verfügung stehende Zeit war nunmehr begrenzt; wo das madrasa-System mehr Zeit angeboten hatte, wurden die Unterrichtseinheiten von nun an in Semesterwochenstunden berechnet.¹³ Es stellte sich auch die Frage, ob und welche klassischen Quellen im Rahmen der neuartigen Ausbildung gelesen werden sollten. Daran schließt sich die Frage nach der Verortung des islamischen Rechts im universitären Rahmen an: Gehört das Studium des islamischen Rechts, auch wenn es nur teilweise oder überhaupt nicht geltendes Recht ist, in das juristische Studium oder wird es Teil der religionswissenschaftlichen bzw. theologischen Disziplinen? Zudem: Was verstehen wir heute unter islamischem Recht? Ist islamisches Recht wie geltende Rechtssysteme zu betrachten oder verstehen

 Für die Gründung und die Normfindungsmechanismen in diesen Akademien siehe Ahmed Gad Makhlouf, Das Konzept des kollektiven „iǧtihad“ und seine Umsetzungsformen: Analyse der Organisation und Arbeitsweise islamischer Rechtsakademien (Berlin: Peter Lang, 2018). Diese Studie gibt detailliert die Arbeit der fiqh-Akademien wieder, jedoch sind Makhloufs Ausführungen zum innovativen Normfindungsprozess höchst fraglich, da die Innovation in der Normfindung, wenn wir seinen Ausführungen folgen, nur darin besteht, kollektiv eine Lösung zu finden. Die Methoden, die dabei Anwendung finden, unterscheiden sich nicht besonders von der klassischen Tradition, wie Makhlouf sie beschreibt.  Für die neueren Ansätze zu maqāṣid und die Unterschiede zum klassischen maqāṣid-Konzept siehe Felicitas Opwis, „New Trends in Islamic Legal Theory: Maqāṣid al-Sharīʿa as a New Source of Law?“, in Die Welt des Islams 57 (2017): 7– 32.  Nakissa, „An Epistemic Shift“.  Monique C. Cardinal, „Islamic Legal Theory Curriculum: Are the Classics Taught Today?“, in Islamic Law and Society 12, Nr. 2 (2005): 224– 72.  David Johnston, „A Turn in the Epistemology and Hermeneutics of Twentieth Century Uṣūl alfiqh“, in Islamic Law and Society 11, Nr. 2 (2004): 233 – 82.  Nakissa, „An Epistemic Shift“, 215 – 16, 235 – 36. Ausführlich über den traditionellen madrasaUnterricht siehe George Makdisi, The Rise of Colleges: Institutions of Learning in Islam and the West (Edinburgh: Edinburgh University Press, 1981).  Cardinal, „Islamic Legal Theory Curriculum“, 225, 232.

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wir darunter ein religiöses Rechtssystem, das nur noch historisch-analytisch erschlossen werden kann?¹⁴ Neben diesen Problemen ist das islamische Recht mit der Etablierung der Islamischen Theologie in Deutschland mit weiteren Problemfeldern konfrontiert. Wie von der Islamischen Theologie insgesamt erwartet wird,¹⁵ soll das islamische Recht Lösungen zu den folgenden Problemfeldern anbieten: Integration, Schaffung von Berufsperspektiven für Absolvent*innen des Studiums der Islamischen Theologie, Deradikalisierung, Radikalisierungsprävention, „liberale Deutung“ und Reform des islamischen Rechts sowie Unterbindung von Paralleljustiz. Aus dem bisher Gesagten ergeben sich somit vier größere Problemfelder für das Fach Islamisches Recht an deutschen Universitäten: 1.) struktureller Wandel, 2.) erkenntnistheoretischer Wandel, 3.) inhaltliche und methodische Fragen und Anforderungen sowie 4.) gesellschaftliche Anforderungen.¹⁶ Im Folgenden werde ich auf diese Problemfelder der Reihe nach eingehen.

3 Struktureller Wandel – Islamisches Recht an den Universitäten 3.1 Die Frage nach der Verortung im universitärem Betrieb Die Frage danach, ob und wie islamisches Recht an den Universitäten in die Forschung und Lehre aufgenommen werden kann, ist nicht nur eine aktuelle Frage aus dem Anlass der Einführung der Islamischen Theologie an deutschen Universitäten. Bereits im 19. und insbesondere im 20. Jahrhundert wurden Dis Ali, „Teaching and Learning Islamic Law“.  Für eine Übersicht über die Herausforderungen der Islamischen Theologie, die immer noch Gültigkeit haben, siehe Bekim Agai u. a., „Statt eines Vorworts/In Lieu of a Preface – Islamische Theologie in Deutschland. Herausforderungen im Spannungsfeld divergierender Erwartung“, in Frankfurter Zeitschrift für islamisch-theologische Studien, Nr. 1 (2014): 7– 28; Mouhanad Khorchide u. a., Hrsg., Das Verhältnis zwischen Islamwissenschaft und islamischer Theologie (Münster: Agenda Verlag, 2012).  Diese vier Punkte bauen logisch aufeinander auf: Aufgrund des strukturellen Wandels haben sich erkenntnistheoretische Neujustierungen ergeben, die die inhaltliche Ausgestaltung des islamischen Rechts auf globaler Ebene beeinflusst haben. Gesellschaftliche Bedürfnisse, die den Inhalt ebenfalls beeinflussen, könnten auch an dritter Stelle vor den inhaltlichen Fragen angeführt werden. Da ich aber hier nur auf den deutschen Kontext eingehen kann, der Einfluss auf das islamische Recht noch nicht ausreichend erforscht und nachgewiesen ist und meine Ausführungen eher theoretischer und beobachtender statt empirisch fassbarer Natur sind, habe ich diesen Punkt als letzten bestimmt.

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kussionen darüber geführt. Islamisches Recht wurde bis zu diesem Zeitpunkt nach dem traditionellen madrasa-Modell auf textorientierte Weise gelehrt.¹⁷ Dies änderte sich aber drastisch: Universitäten und Hochschuleinrichtungen nach europäischem Vorbild übernahmen die Ausbildung von Juristen und Rechtsexperten. So standen neu gegründete Einrichtungen vor der Frage, wie intensiv das Studium zum islamischen Recht und den einzelnen Teildisziplinen gestaltet werden sollte, da ja das geltende nationale Recht sich vom islamischen Recht unterscheiden konnte und je nach Kontext nur teilweise Anwendung fand.¹⁸ Zudem stellte sich die Frage, was unter dem Studium des islamischen Rechts verstanden werden sollte: Ist dieses Recht ein theologisches Fach, in dessen Rahmen aus theologischen Gesichtspunkten heraus die Pflichten der Gläubigen besprochen werden sollten,¹⁹ oder versteht man es unter rein juristischen Gesichtspunkten als ein positives, in einigen Ländern teilweise geltendes Recht?²⁰ Shaheen Sardar Ali sieht hierin eine Dichotomie und unterstellt der religiösen Perspektive, dass sie die Studierenden und Lehrenden nicht in die Lage versetzen könne, sich kritisch mit dem islamischen Recht zu befassen. Kritische Auseinandersetzung sei nur möglich, wenn man das islamische Recht in den Sozial- und Rechtswissenschaften verorte.²¹ Ähnlich schlägt Muhammad Khalid Masud vor, fiqh von dem Verständnis zu befreien, dass es sich auf rein juristische Fragen bezieht. Denn fiqh sei einst nicht so konzipiert gewesen, dass es geltendes Recht

 Die Grundlage dieser Haltung verbirgt sich hinter dem Terminus bayān, der nicht nur die juristisch geführten Debatten beeinflusst hat, sondern auch jene um Koranexegese, Hadithkommentare und systematisch-theologische Fragen. Für diese Grundhaltung siehe Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī, Bunyat al-ʿaql al-ʿarabī – Dirāsa taḥlīliyya naqdiyya li-nuẓum al-maʿrifa fī ṯ-ṯaqafa al-ʿarabiyya (Beirut: Markaz Dirāsāt al-Waḥda al-ʿArabiyya, 2009), 13 – 14, 20, 41, 62. Speziell für den Einfluss der bayān-Lehre auf das islamische Recht siehe Serdar Kurnaz, Methoden zur Normderivation im islamischen Recht. Eine Rekonstruktion der Methoden zur Interpretation autoritativer textueller Quellen bei ausgewählten islamischen Rechtsschulen (Berlin: EB-Verlag, 2016), 335 – 75, 407– 20.  Bedir, „Fıkıh to Law“, 382– 92; Cardinal, „Islamic Legal Theory Curriculum“, 224– 26. Für den Fall Bosnien siehe Fikret Karčić, „Doing Islamic Theology in Europe: A Unique Experience of the Faculty of Islamic Studies in Sarajevo“, in Studies in Interreligious Dialogue 18, Nr. 1 (2008): 105 – 11.  So versteht es etwa Muhammad Khalid Masud, „Teaching of Islamic Law and Sharīʿah: A Critical Evaluation of the Present and Prospects for the Future“, in Islamic Studies 44, Nr. 2 (2005): 166 – 67.  So etwa Ali, „Teaching and Learning Islamic Law“, 218 – 19. Einen Bruch mit dem für sie mittelalterlichen Rechtsverständnis als fiqh will auch Lama Abu-Odeh, „Commentary on John Makdisi’s ‚Survey of AALS Law Schools Teaching Islamic Law‘“, in Journal of Legal Education 55, Nr. 4 (2005): 589 – 91.  Vgl. Ali, „Teaching and Learning Islamic Law“, 213.

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sein könne. Dieses verengte Verständnis führe dazu, dass man weder auf universitärer noch auf staatlicher Ebene konstruktiv islamisches Recht betreiben könne. In beiden Auffassungen spielt die Vorstellung, dass das islamische Recht göttlich sei, eine wesentliche Rolle; man könne daher nur zu einem rigiden Islamrechtsverständnis gelangen.²² Murteza Bedir auf der anderen Seite kritisiert die Reduktion des islamischen Rechts darauf, positives Recht zu sein. Fiqh sei mehr als nur Recht und seiner Auffassung nach eher eine Deontologie. Jede Reduktion werde der jahrhundertelangen fiqh-Tradition nicht gerecht. Denn fiqh beinhalte sowohl Religiöses als auch Rechtliches, was der Tradition der abrahamitischen Religionen nicht fremd sei.²³ Diese Haltung scheint geeignet zu sein, um sowohl aus juristischer als auch aus religiöser Perspektive islamrechtlich zu forschen. Die von Ali betonte Dichotomie, dass die religiöse Perspektive eine kritische Auseinandersetzung verhindere, ist unbegründet. Denn Studien der letzten zwei Jahrzehnte, seien sie aus religiös-theologischer, juristischer oder historischer Perspektive unternommen, sind zunehmend kritisch-reflexiver Natur. Dennoch muss entschieden werden, wie stark der religiöse Charakter des islamischen Rechts überhaupt ist, auch im Bereich der gottesdienstlichen Handlungen. Noch ist die Haltung dominant, den gottesdienstlichen Handlungen die rationale Begründbarkeit weitestgehend abzusprechen und sie daher als unveränderbar und „rechtsgrundlos“ zu verstehen und so zu benennen (daher die Bezeichnung taʿabbudī).²⁴ Eine Alternative, wie sie etwa Ibn Rušd (gest. 595/1198) vorschlägt, sieht in den meisten Rechtsregelungen einen „zweckrationalen“ (maṣlaḥī) Charakter.²⁵ Diese Entscheidung kann aber nur getroffen werden, indem die Theologen*innen sich Gedanken darüber machen, welchem erkenntnistheoretischen Modell die Islamrechtsforschung und -lehre an den Universitäten folgen soll. Denn mit der traditionellen bayān-Erkenntnislehre, das Recht so gut es geht in Anlehnung an die religiös-autoritativen Texte herzuleiten, gestaltet sich die Untersuchung des zweckrationalen Charakters der Regelungen im islamischen Recht – auch wenn nach ihnen zumindest in

 Vgl. Masud, „Teaching of Islamic Law“, 166 – 70.  Bedir, „Fıkıh to Law“, 401.  Zum Verständnis des Begriffs taʿabbudī siehe ʿIzz ad-Dīn Ibn ʿAbd as-Salām, Qawāʿid al-aḥkām fī maṣāliḥ al-anām, hrsg. von Ṭāhā ʿAbd ar-Raʾūf Saʿd, Bd. 1 (Kairo: Maktabat al-Kulliyyāt alAzhariyya, 1991), 22.  Abū l-Walīd Ibn Rušd, Bidāyat al-muǧtahid wa-nihāyat al-muqtaṣid, hrsg. von Abū Aws Yūsuf b. Aḥmad al-Bakrī (Amman: Bayt al-Afkār ad-Dawliyya, 2007), 31; Frank Griffel, Apostasie und Toleranz im Islam. Die Entwicklung zu al-Ġazālīs Urteil gegen die Philosophie und die Reaktionen der Philosophen (Leiden; Boston: Brill, 2000), 435 – 36.

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der furūʿ-Literatur immer wieder gerne gefragt wurde²⁶ – zumindest in der Theorie doch recht schwierig. Den zweckrationalen Charakter gottesdienstlicher Handlungen zu bestimmen, bedeutet nicht zugleich, dass auch nach ihrer Aktualisierung und Erscheinungsform gefragt werden muss. Ferner ist noch zu klären, mit welcher Ausrichtung islamische Rechtswissenschaften gelehrt werden sollten. Klar ist, dass kritische, historische Forschung auf der Ebene der Rechtspraxis (sei es furūʿ oder fatwā), der Rechtsmethodik und der Rechtstheorie (uṣūl) geleistet werden kann und auch geleistet wird; komparative Studien nehmen sogar zu.²⁷ Die Frage ist jedoch, inwiefern und mit welcher Ausrichtung islamrechtliche Forschung betrieben werden kann, die auch gesellschaftsrelevant ist; dieser Gedanke ist durchaus mit allen Fächern der Islamischen Theologie verbunden und war ein ausschlaggebender Aspekt für die Gründung des Faches. Wie kann das islamische Recht zu den juristischen Debatten etwas Konstruktives beitragen? Die Vorschläge dazu, die in der Literatur auftauchen, beschränken sich eher auf den Bereich der Ethik: Finanzethik, Umweltethik, Bioethik etc.²⁸ Mittlerweile versucht man durch das sogenannte Fiqh al-aqalliyyāt (oft übersetzt als „Minderheitenrecht“,²⁹ auch „Minderheiten-Fiqh“³⁰) das islamische Recht für multikulturelle und multireligiöse Gesellschaften als anknüpfungsfähig zu gestalten. Hier liegt aber das Problem, dass Muslime, die sich nicht als Minderheiten verstehen, als Minderheiten in ihrer Gesellschaft kategorisiert werden und ihnen von außen ein Denksystem vorgegeben wird.³¹ Dennoch fehlt zumeist die Forschung zur Anwendung des islamischen Rechts, sei es in mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern oder in Europa – einige Forschungen werden hier aber schon betrieben, wie etwa am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa oder dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht. Die Frage bleibt aber: Können bzw. sollen die islamisch-theologischen Zentren mit Lehr-

 Serdar Kurnaz, „Al-Maqṣūd als Deutungs- und Entscheidungsgrundlage in as-Saraḫsīs (gest. 483/1090) Kitāb al-Mabsūṭ“, in Islamische Normen in der Moderne zwischen Text und Kontext, hrsg. von Hatem Elliesie, Irene Schneider und Bülent Uçar (Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2019), 125 – 49.  So z. B. festgehalten von John Makdisi, „A Survey of AALS Law Schools Teaching Islamic Law“, in Journal of Legal Education 55, Nr. 4 (2005): 586 – 87. Bereits 2005 beobachtete dies Masud, „Teaching of Islamic Law“, 169 – 70.  Vgl. Masud, „Teaching of Islamic Law“, 176.  Siehe z. B. Sarah Albrecht, Islamisches Minderheitenrecht. Yūsuf al-Qaraḍāwīs Konzept des fiqh al-aqallīyāt (Würzburg: Ergon, 2010).  Mahmud El-Wereny, „Zum Umgang mit Nichtmuslimen aus schariarechtlicher Perspektive: Yūsuf al-Qaraḍāwīs Ansatz des Minderheiten-Fiqh als Fallstudie“, in Journal of Religious Culture/ Journal für Religionskultur 218 (2016): 1– 12.  Für eine Übersicht über diese Diskussionen siehe Franke, „Fiqh al-aqallīyāt“.

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stühlen für Islamisches Recht hier auch einen Beitrag leisten, oder werden diese Forschungs- und Lehrfelder nur von Juristen*innen bearbeitet? Wie können Kooperationen angebahnt werden? Für Antworten auf solche Fragen bedarf es einer erkenntnistheoretisch begründeten Verortung der islamischen Rechtswissenschaften innerhalb der Islamischen Theologie: Sehen wir das islamische Recht als eine besondere Form der praktischen Philosophie bzw. Theologie rationaler und/oder rein religiöser Natur? Folgen wir der Einteilung der Wissenschaften nach Abū Naṣr al-Fārābī (gest. 339/ 950),³² der das islamische Recht als Teil der praktischen Wissenschaften sieht, und hier konkret unter Ethik,³³ was den rationalen Charakter dieses Rechts betont? Oder folgen wir der Systematik Abū Ḥāmid al-Ġazālīs (gest. 505/1111), der das Recht zwar von der Ethik klar trennt, wobei es für ihn aber doch eindeutig eine religiöse Wissenschaft ist, auch wenn es als „Zweigwissenschaft“ eine untergeordnete Rolle innerhalb der religiösen Wissenschaften spielt?³⁴ Ein Zwischenweg ist aber auch möglich: Ṭāškubrīzāda Aḥmed Efendī (gest. 968/1561) etwa sieht die islamischen Rechtswissenschaften als Teil der „Offenbarungswissenschaften“ (er benutzt dafür das Wort ʿulūm aš-šarīʿa, wobei šarīʿa hier im Sinne von šarʿ Offenbarung bedeutet). Bei ihm überwiegt dennoch der Gedanke, dass alle praktischen Wissenschaften, seien es philosophische oder religionsbasierte, rationaler Natur sind.³⁵ Es ist also durchaus möglich, die islamischen Rechtswissenschaften als religiöse und zugleich stark rationale Disziplinen zu verstehen. Bleibt nur noch die Frage zu klären, was das Religiöse bzw. Theologische ausmacht, obwohl die Vertreter*innen der Islamischen Theologie die islamischen Rechtswissenschaften eindeutig als Teil des Kerncurriculums der Islamischen Theologie verstehen. Weiter unten werde ich auf die Frage nach der inhaltlichen Ausrichtung eingehen.

 Siehe hierfür Osman Bakar, Classification of Knowledge in Islam: A Study in Islamic Philosophies of Science (Cambridge: The Islamic Texts Society, 1999).  Feriel Bouhafa, „Ethics and Fiqh in al-Fārābī’s Philosophy“, in Philosophy and Jurisprudence in the Islamic World, hrsg. von Peter Adamson (Berlin; Boston: De Gruyter, 2019), 11– 27.  Ulrich Rudolph, „Al-Ghazālī on Philosophy and Jurisprudence“, in Philosophy and Jurisprudence in the Islamic World, hrsg. von Peter Adamson (Berlin; Boston: De Gruyter, 2019), 67– 91.  Aḥmad Muṣṭafā Ṭāškubrīzāda, Miftāḥ as-saʿāda wa-misbāḥ as-siyāda fī mawḍūʿāt al-ʿulūm, Bd. 2 (Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 1985), 5, 173; Jens Bakker, Normative Grundstrukturen der Theologie des sunnitischen Islam im 12./18. Jahrhundert (Berlin: EB-Verlag, 2012), 516 – 42.

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3.2 Unterrichtsform Mit der Einführung des islamischen Rechts als Fach an Universitäten unterschied sich die Unterrichtsgestaltung wesentlich von der traditionellen Form der Lehre. In Grundzügen lässt sich der traditionelle Unterricht als textzentrierte Lehre beschreiben: Ein grundlegendes Werk wird von Anfang bis Ende in der Anwesenheit eines Gelehrten gelesen. Dieser kommentiert den Text, den er selbst oder einer seiner Schüler vorgelesen hat, und erklärt sogar einzelne Wörter, weshalb die Lektüre mehrfach unterbrochen wird. Nicht selten wird ein Satz mit mehreren Ansätzen bis zum Ende gelesen. Insbesondere kurz gefasste Texte, die für Vorlesungszwecke geschrieben wurden, sind recht kompliziert und ohne Erklärung kaum zu verstehen. Oft werden daher Kommentarwerke (šurūḥ, Sg. šarḥ) zurate gezogen. Die Studierenden lernen den kurzen Text zumeist auswendig, worauf der Unterricht mit den Erklärungen aufbaut.³⁶ Diese Art des Unterrichts wurde im Zuge des 20. Jahrhundert und der universitären Lehre durch das themenorientierte Seminar- und Vorlesungsformat ersetzt.³⁷ Aria Nakissa stellt dies damit in Verbindung, dass durch den universitären Kontext nunmehr die naturwissenschaftliche Forschungs- und Lehrmethode im Vordergrund stand.³⁸ Dennoch bieten viele Universitäten neben themenorientierten Blöcken auch textzentrierte Einheiten an, in denen klassische Texte gelesen werden, jedoch in stark reduziertem Umfang.³⁹ Nicht unbeteiligt an diesem Änderungsprozess ist die Umstellung des traditionellen Unterrichts in nach Semesterwochenstunden organisierten Lehrveranstaltungen.⁴⁰ Mit dieser Umstellung stand plötzlich nicht mehr viel Zeit zur Verfügung, um klassische Texte vom Anfang bis zum Ende zu lesen; vielmehr

 Nakissa, „An Epistemic Shift“, 215 – 18. Ein Beispiel für solch einen Text in der islamischen Rechtsmethodik ist al-Ǧuwaynīs (gest. 478/1085) al-Waraqāt, das von Malikiten, Schafiiten, Hanbaliten und auch Hanafiten kommentiert wurde. Für den Einfluss des al-Waraqāt auf den rechtsmethodischen Diskurs siehe David Vishanoff, „A Critical Introduction to Islamic Legal Theory Based on Imām al-Ḥaramayn al-Juwaynī’s Kitāb al-Waraqāt“, 17.11. 2019, http://waraqat.vi shanoff.com/i/i-impact/.Vishanoff hat dieses kurze Werk mit den Kommentaren von Ǧalal ad-Dīn al-Maḥallī (gest. 864/1459) übersetzt und selbst kommentiert. Arslan und Bakker haben aufgrund der Bekanntheit des Werks eine deutsche Übersetzung angefertigt; vgl. Hakkı Arslan und Jens Bakker, „Übersetzung von ‚al-Waraqāt fī uṣūl al-fiqh‘ des Imām al-Ḥaramayn Abū l-Maʿālī ʿAbd alMalik b. Abī Muḥammad ʿAbd Allāh b. Yūsuf al-Ǧuwaynī“, in Hikma 9 (2014): 34– 59. Weitere englische und französische Übersetzungen werden in den beiden genannten Arbeiten aufgelistet.  Masud, „Teaching of Islamic Law“, 168; Cardinal, „Islamic Legal Theory Curriculum“, 225.  Für die Einführung solcher Fächer in Ägypten siehe Nakissa, „An Epistemic Shift“, 232– 35.  Cardinal, „Islamic Legal Theory Curriculum“, 238.  Cardinal, „Islamic Legal Theory Curriculum“, 232.

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mussten wichtige Themen beschrieben, besprochen und an einigen wenigen Textbeispielen erörtert werden. Dieser Herausforderung steht auch das Fach Islamisches Recht in Deutschland gegenüber. Welche Texte müssen Studierende in welchem Umfang lesen und welche Themen müssen die Absolvent*innen der Islamischen Theologie beherrschen? Dies sind Fragen, auf die bisher keine abschließenden Antworten gefunden wurden und die nur in einem standortübergreifenden Austausch beantwortet werden können. Zur inhaltlichen Ausrichtung der angebotenen Lehrveranstaltungen: An Scharia-Fakultäten, wie etwa in Ägypten, wird neben der Geschichte des islamischen Rechts viel im Bereich der (Geschichte der) Rechtspraxis (furūʿ al-fiqh) gelehrt, daneben auch in deutlich geringerem Umfang im Bereich der Rechtstheorie (uṣūl al-fiqh).⁴¹ Als Teil theologischer Fakultäten, wie etwa in Bosnien und der Türkei, nimmt der Umfang des Unterrichts im Fach Islamisches Recht stark ab. Aufgrund des jeweils geltenden nationalen Rechts hat sich der Schwerpunkt der Lehre auch auf die Geschichte des islamischen Rechts in Theorie und Praxis beschränkt; es wird kein aktuelles islamisches Recht mehr produziert.⁴² Ein ähnliches Bild mit starkem Fokus auf die Geschichte des islamischen Rechts sehen wir auch in den USA, was dort im Gegensatz zu muslimisch geprägten Ländern nicht verwunderlich ist.⁴³ Nicht anders ist das Bild für die Disziplin Islamisches Recht in Deutschland. Die Bachelor- und Masterstudiengänge lassen nur selten Möglichkeiten zu, sich mit der Geschichte und der Gegenwart des islamischen Rechts im gleichen Umfang zu befassen. Neben Schwerpunktsetzungen besteht das Angebot zumeist aus einem Modul mit drei Veranstaltungen; meistens aus bis zu zwei Seminaren bzw. einer Übung zu den uṣūl al-fiqh und einer Vorlesung zum islamischen Recht. Schon aufgrund der Beschränkung der Semesterwochenstunden sind eine Behandlung des islamischen Rechts in der gesamten Ausprägung der unterschiedlichen Rechtsschulen und die Betrachtung der einzelnen Bereiche der Rechtspraxis nicht möglich.⁴⁴ Daher stellt sich die Frage nach der inhaltlichen Ausrichtung des islamischen Rechts, um bewerten zu können, wie ausreichend die Semesterwochenstunden für Studierende der Islamischen Theologie sind. Der unten unter Punkt 5.1 zu diskutierende Vorschlag, uṣūl al-fiqh und fiqh als Propädeutik für die Islamische Theologie insgesamt zu betrachten, würde der reichen muslimischen Rechtstradition mehr Zeit in der Lehre verschaffen, zumal  Cardinal, „Islamic Legal Theory Curriculum“, 229.  Bedir, „Fıkıh to Law“, 392– 94; Karčić, „Doing Islamic Theology in Europe“.  Makdisi, „A Survey of AALS Law Schools Teaching Islamic Law“.  Für eine Übersicht über die an den islamisch-theologischen Zentren für das Fach Islamisches Recht zur Verfügung stehenden Semesterwochenstunden siehe Tabelle 2 im Anhang.

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beide Disziplinen direkten Einfluss auf zeitgenössische Debatten haben, von der Ethik zur Sozialarbeit bis hin zur Hermeneutik der schriftlichen Quellen.

3.3 Entstehung neuer Lehrbücher und Vernachlässigung klassischer Werke Die beschriebene Umstellung der Organisation des Unterrichts hatte in den muslimisch geprägten Ländern direkte Auswirkungen auf die neu entstandenen Lehrbücher. Dies ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass die veranschlagten Semesterwochenstunden nicht ausreichten. Auch der Wandel in den didaktischen Methoden und der Lehrinhalte hat dazu beigetragen, dass neue Lehrbücher entstanden. Der bereits erwähnte Wechsel vom textzentrierten zum themenbasierten Unterricht hat laut Nakissa nicht nur zu einem epistemologischen Wandel geführt, sondern auch den Aufbau und Inhalt der Lehrbücher beeinflusst.⁴⁵ Die neuen Lehrbücher beinhalten zwar die typischen Themen, etwa in Bezug auf die uṣūl al-fiqh, jedoch unterscheiden sie sich hinsichtlich der Tiefe der Diskussion, im Schreibstil und auch inhaltlich von den klassischen Werken in signifikanter Form.⁴⁶ Monique C. Cardinal stellt fest, dass die modernen Lehrbücher zwar den Anspruch haben, gleich wie die klassischen Werke zu sein, sie unterscheiden sich aber auch dahingehend, dass sie Vergleiche zu westlichen Rechtssystemen und dem positiven Recht in den jeweiligen Nationen beinhalten.⁴⁷ Denn der Anspruch der Autoren sei zu zeigen, dass das islamische Recht wie jedes andere Rechtssystem heutigen Herausforderungen gewachsen und somit universal sei. Dies sei etwa darin zu sehen, dass die Auslegungsprinzipien im Rahmen der Normderivation für das positive Recht fruchtbar gemacht würden.⁴⁸ Die Lehre orientiert sich entsprechend stark an den modernen Lehrbüchern; die Lektüre klassischer Werke ist weitgehend, zumindest im Falle Ägyptens, beschränkt.⁴⁹ Nicht selten ist auch zu sehen, dass problematische Quellen und  Nakissa, „An Epistemic Shift“, 229, 234– 35.  Ein kurzer Vergleich zwischen Sayf ad-Dīn al-Āmidīs (gest. 631/1233) Einträgen zu den unterschiedlichen Methoden der Interpretation von Koranversen und Hadithen mit zeitgenössischen Büchern wie denen von Muḥammad Abū Zahra (Uṣūl al-fiqh, Beirut: Dār al-fikr al-ʿarabī, o.J.) und Zakī ad-Dīn Šaʿbān macht den Unterschied deutlich.  Cardinal, „Islamic Legal Theory Curriculum“, 225 – 26, 242– 53. Siehe dazu z. B. Zakī ad-Dīn Šaʿbān, Uṣūl al-fiqh al-islāmī (Kairo: Dār Nāfiʿ, 1983).  Cardinal, „Islamic Legal Theory Curriculum“, 247.  Cardinal, „Islamic Legal Theory Curriculum“, 233, 238, 268. Eine ähnliche Abweichung von modernen Lehrbüchern zur rechtspraktischen Literatur attestiert Bedir. Er betont, dass etwa Hayreddin Karaman in seinem Buch Mukayeseli İslam Hukuku das islamische Recht nach den

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Methoden in der klassischen Rechtsmethodologie eher als unproblematisch dargestellt bzw. „verharmlost“ werden, was schon die Querlektüre einiger moderner Lehrwerke zum Kapitel istiḥsān und istiṣlāḥ bzw. maṣlaḥa deutlich zeigt. Die Vernachlässigung klassischer Texte führt, folgen wir den Aussagen der Sekundärliteratur, zu einem epistemischen Bruch mit der Tradition: Es werden zwar die gleichen Termini, wie etwa iǧtihād, maṣāliḥ und maqāṣid, benutzt, das dahinterstehende Verständnis unterscheidet sich jedoch inhaltlich von der klassischen Lehre. Ich möchte damit nicht sagen, dass die Fortführung der klassischen Theorie die Lösung ist, um adäquat islamrechtlich forschen und lehren zu können. Doch wenn wir in Deutschland den zeitgenössischen Umständen gerecht werden wollen, müssen die epistemischen Brüche und Neujustierung und die Art und Weise, wie mit dem klassischen Erbe heute umgegangen wird, erkannt werden. Nur so können diejenigen, die das Fach Islamisches Recht prägen, selbst entscheiden, welche Lehrbücher eingesetzt werden sollen: Bisher haben wir recht wenige deutschsprachige Einführungswerke, die als Lehrbücher benutzt werden, geschweige denn eine gründlich begründete Auswahl an klassischen Texten, die als Pflichtlektüre für Studierende der Islamischen Theologie bestimmt werden könnten. Um die Diskrepanz zwischen klassischen und modernen uṣūl-Werken zu veranschaulichen, möchte ich an dieser Stelle auf den in der Literatur angesprochenen epistemischen Wandel eingehen.

4 Erkenntnistheoretischer Wandel Nicht selten wird in der Literatur angeführt, dass mit Ǧamāl ad-Dīn al-Afġānī (gest. 1897) und Muḥammad ʿAbduh (gest. 1905) das reformorientierte islamische Denken angestoßen wurde. Damit geht auch zumeist der Aufruf einher, iǧtihād noch stärker zu berücksichtigen. Nakissa sieht zusätzlich durch den Wandel der Lehre und die Einführung von naturwissenschaftlichen Fächern an Universitäten wie al-Azhar, dass die Art und Weise, Wissenschaft zu betreiben, im 19. und 20. Jahrhundert zu einem epistemologischen Wandel geführt hat. Die traditionelle Lehre sollte Nakissa zufolge den Rechtsfindungsprozess habitualisieren, sodass keine wirklich innovativen Lösungen gefunden würden, dafür aber solche, die größeren Rechtsbereichen wie Internationales Recht, Privates Recht, Öffentliches Recht etc. strukturiert habe, wobei doch das islamische Recht nicht danach organisiert sei. Diese westliche Brille führe dazu, dass das islamische Recht auf das positive Recht reduziert werde, wobei es doch entsprechend der abrahamitischen Tradition mehr als nur Recht sei und Rechtliches und Religiöses zugleich beinhalte; vgl. Bedir, „Fıkıh to Law“, 401.

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aufgrund der Standardisierung des Rechtfindungsprozesses zu erwarten seien. Rechtsfindung und die Lehre des Rechts hätten sich daher stark an der Sprache orientiert, die es zu erschließen galt und in deren Rahmen Auslegung betrieben wurde. Daher sei auch die Grammatik in der Lehre so stark betont worden. Nakissa sagt folglich: „Hence, the basic logic of traditional Islamic law is that of rule-applications generated by a habitus. It does not center upon innovation or natural scientific discovery.“⁵⁰ Bis zum 19. Jahrhundert sei daher die Lehre des Faches Islamisches Recht die einer regelgeleiteten Wissenschaft gewesen, die Innovationen gar nicht habe zulassen wollen. In diesem Rahmen sei auch iǧtihād verstanden worden. Ab dem 19. Jahrhundert sei aber die regelgeleitete Lehre mit naturwissenschaftlichen Methoden ersetzt worden, die darauf bedacht waren, falsifizierend oder verifizierend zu sein, und damit stark kritisch. Seither sei iǧtihād das Instrument zur Neuerung und Innovation, ganz unabhängig von der traditionellen Lehre. Iǧtihād befähige jetzt also zur Kritik.⁵¹ Ein weiterer epistemologischer Wandel wird den Diskussionen zum Thema maqāṣid attestiert. David Johnston etwa konnte zeigen, dass die Gelehrten, wollten sie mit Hilfe von maqāṣid argumentieren, dem Menschen die Fähigkeit zuerkennen mussten, unabhängig von der Offenbarung das Gute und Böse zu erkennen. Entsprechend könnten die maqāṣid dann in der Rechtsprechung berücksichtigt werden, was u. a. mit einer stark historisierenden Koranhermeneutik einhergehe.⁵² Auch Felicitas Opwis stellt fest, dass Debatten um die maqāṣid im zeitgenössischen Diskurs anders geführt werden als früher. Die maqāṣid würden bei vielen modernen Autoren zu einer eigenständigen Quelle erhoben, was im Rahmen der klassischen uṣūl al-fiqh nicht möglich sei. Nicht selten komme es dabei vor, dass die in den maqāṣid-Diskussionen aktiven Gelehrten willkürlich weitere maqāṣid vorschlügen; dabei könnten von unterschiedlichen Autoren vorgeschlagene ähnliche maqāṣid unterschiedliche Bedeutungen haben.⁵³ Dass die klassische Literatur nicht unbedingt besser aufgestellt ist, was die Begründung der fünf notwendigerweise zu schützenden Interessen (der sogenannten ḍarūriyyāt) anbelangt, wurde bereits von Mahmoud Bassiouni hinreichend diskutiert.⁵⁴ Hier ist nicht der Ort, um danach zu fragen, ob es wirklich einen epistemischen Wandel gab und falls ja, in welchem Ausmaß dieser stattfand. Dennoch

 Nakissa, „An Epistemic Shift“, 246.  Nakissa, „An Epistemic Shift“, 240 – 44.  Johnston, „A Turn in the Epistemology“, 278 – 82.  Opwis, „New Trends in Islamic Legal Theory“. Siehe auch Mahmoud Bassiouni, Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legitimität (Berlin: Suhrkamp, 2014), 205 – 28.  Bassiouni, Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legitimität, 182– 205.

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seien hier einige kritische Anmerkungen angeführt. Auch wenn einiges für die Beobachtungen von Johnston und Opwis spricht, ist die Einschätzung einer Dichotomie, die auch Nakissa zwischen der klassischen bis spätklassischen Phase und der Moderne ab dem 19. Jahrhundert sieht, problematisch. Blicken wir nur auf die Kommentarwerke zu uṣūl-Werken, so zeichnet sich ein anderes Bild ab. Wir wissen, dass ab dem 12. bis 13. Jahrhundert mittels der Kommentarliteratur auf eine neue Art und Weise innovative Ansätze begründet wurden.⁵⁵ Dafür wird zwar nicht unbedingt das Wort iǧtihād verwendet – und doch sind Innovationen nicht ausgeschlossen, wobei ein radikaler Bruch zur Tradition nicht gesucht wird. Und auch ob mit Innovation immer ein Bruch einhergehen muss, wie Nakissa meines Erachtens andeutet, ist fraglich. Im Rechtskontext ist es zudem sinnvoll, keinen Bruch zur Tradition zu suchen und Innovationen, zumindest auf theoretischer Ebene, einzudämmen. Denn durch die kontrollierte Auslegung von Rechtstexten wird für Rechtssicherheit gesorgt. Daneben stellt sich die Frage, welches Rechtssystem denn nicht regel- und prinzipienorientiert ist, was Nakissa zum Proprium des Islamischen Rechts macht und woran er den Wandel misst. Außerdem sehen wir in der Geschichte des islamischen Rechts mehrere epistemologische Brüche bzw. Neujustierungen,⁵⁶ die eine Dichotomie „klassisch-modern“ nicht zulassen, die Teil der Entwicklung der uṣūl al-fiqh sind und nicht ignoriert werden können. Sicherlich liegt Nakissa richtig darin, dass mit dem 19. Jahrhundert eine radikale Änderung zutage tritt – dennoch muss die Dichotomie „Moderne-Klassik“ überwunden werden. Zudem müssen auch Auslegungsmechanismen in Kommentarwerken im Bereich der furūʿ al-fiqh analysiert werden, die ohne den Terminus iǧtihād innovative Ansätze beinhalten können. Auch andere Genres werden gerne ignoriert, wie etwa das Genre zu den furūq und das zu den Rätseln (alġāz) im Rechtsdiskurs, die, wie Elias G.

 Für die Entwicklung zu Hadith siehe Joel Blecher, Said the Prophet of God: Hadith Commentary across a Millennium (California: University of California Press, 2017). Für Recht siehe Hakkı Arslan, „Periodisierung der islamischen Rechtsgeschichte jenseits des Niedergangsparadigmas“, in Niedergangsthesen auf dem Prüfstand/Narratives of Decline Revisited, hrsg.von Bacem Dziri und Merdan Günes, (Berlin u. a.: Peter Lang, 2020), 300 – 2; Serdar Kurnaz, „Ibn Rushd’s Legal Hermeneutics and Moral Theory for a ‚Living Sharīʿa‘—an Alternative Approach to Islamic Law in Ibn Rushd’s Bidāyat al-Mujtahid“, in Oxford Journal of Law and Religion 8, Nr. 1 (2019): 174– 205. Für Philosophie und Theologie siehe Frank Griffel, Den Islam denken. Versuch, eine Religion zu verstehen (Ditzingen: Reclam, 2018).  Ich habe in zwei Studien diese Brüche zeigen können; siehe Kurnaz, „Ibn Rushd’s Legal Hermeneutics“, 182– 85; „Who Is the Lawgiver? The Hermeneutical Grounds of the Methods of Interpreting Qurʾan and Sunna (Istinbāṭ al-Aḥkām)“, Oxford Journal of Law and Religion 6 (2017): 347– 71, v. a. 369 – 70.

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Saba zeigen konnte, ebenfalls einen innovativen und rechtsschöpferischen Charakter haben.⁵⁷ Für die Entwicklung der Disziplin Islamisches Recht ist die Kenntnis dieser Brüche zentral – sowohl für die Erstellung und den Einsatz von Lehrbüchern als auch für die Art und Weise, wie über die Fachbegriffe diskutiert wird und wie sie übersetzt werden sollen. Fast alle Zentren der Islamischen Theologie führen in ihren Modulbeschreibungen an, dass Studierende die Kernbegriffe der muslimischen Rechtstraditionen zu erlernen haben. Wird man sich dieser epistemischen Brüche und Neujustierungen des islamischen Recht sowie der neuen Konnotationen der Begriffe nicht bewusst, entsteht – wo doch die Zentren eigentlich den Anspruch haben, die Tradition adäquat zu berücksichtigen⁵⁸ – eine unüberwindbare Diskrepanz zur Tradition, sodass die Reflexion über diese und ihre Aktualisierung zu fehlerhaften Schlüssen in Lehre und Forschung führen wird.

5 Inhaltliche Anforderungen 5.1 Überlegungen zur inhaltlichen Ausrichtung Mit dem Wissen um mögliche epistemische Brüche und Neujustierungen in der islamischen Rechtstradition stellt sich die Frage, was unter islamischem Recht heute verstanden werden soll. Folgen wir der Literatur, die sich diese Frage ungeachtet des deutschen Kontexts bereits gestellt hat, so können wir zwei Tendenzen entdecken: 1.) Fiqh ist eine Art Recht mit einem Pflichtenkatalog zur Bewältigung alltäglicher Fragen muslimischer Individuen, die sowohl religiöser als auch juristischer Natur sein können (es ist daher auch gern die Rede von einer Deontologie).⁵⁹ 2.) Fiqh ist Recht wie jedes andere Rechtssystem und gleicht weitestgehend dem positiven Recht.⁶⁰ Daran orientiert sich die oben erwähnte Dichotomie, dass das islamische Recht entweder religiös oder wissenschaftlichkritisch behandelt werden könne.⁶¹ In Verbindung damit wird auch die Frage

 Elias G. Saba, Harmonizing Similarities: A History of Distinctions Literature in Islamic Law (Berlin; Boston: De Gruyter, 2019).  Jan Felix Engelhardt, Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem: Ausdifferenzierung und Selbstkonzeption einer neuen Wissenschaftsdisziplin (Wiesbaden: Springer, 2017), 213 – 23.  Masud, „Teaching of Islamic Law“, 166; Bedir, „Fıkıh to Law“, 401; Abu-Odeh, „Commentary“, 589 – 91.  Ali, „Teaching and Learning Islamic Law“, 218 – 19; Abu-Odeh, „Commentary“, 589.  Ali, „Teaching and Learning Islamic Law“, 213.

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gestellt, inwiefern es haltbar ist, von einem göttlichen Recht auszugehen und das angewandte islamische Recht als nationales Recht in einigen Rechtsbereichen als positives (waḍʿī) somit menschliches Recht zu betrachten.⁶² Zu Recht wird in der Literatur hervorgehoben, dass das islamische Recht, ungeachtet des klassischen oder modernen Verständnisses, menschliches Recht ist.⁶³ Dieser Gedanke – will das islamische Recht der theologischen Haltung entsprechend kritisch mit dem Erbe umgehen und es bei Bedarf aktualisieren – scheint meines Erachtens für das Fach unabdingbar zu sein. Denn sowohl die Methoden zur Normderivation als auch das Verständnis von fiqh, was stark mit Annahmen (Sg. ẓann) und Auslegung in Verbindung gebracht wird, lässt ein hohes Maß an menschlicher Interpretation der religiösen Quellen zu.⁶⁴ Es ist demnach nicht eine Haltung, die eingenommen werden muss, um einem gewissen theologischen Verständnis gerecht zu werden, und die möglicherweise von außen zugetragen werden könnte, sondern auch ein im Rahmen des Systems immanentes und mögliches, sogar notwendiges Verständnis. Dies hat zur Folge, dass nicht nur die rechtliche Dimension des fiqh berücksichtigt wird, sondern auch die religiöse und theologisch relevante gewürdigt werden kann. Zum Letzteren gehören etwa ethische Diskurse im islamischen Recht und um dieses herum, die noch nicht in Gänze erfasst worden sind.⁶⁵ Damit steht die Disziplin Islamisches Recht vor der herausfordernden Frage, was das Theologische und das Juristische an diesem Recht ist. Dazu gehört auch die Frage, wie stark kontextualisierend islamrechtliche Forschung und Lehre betrieben werden muss. Bisher lässt sich beobachten, dass islamische Rechtswissenschaften stark kontextualisiert werden und die Überlegung formuliert wird, ob zumindest im Bereich der furūʿ al-fiqh noch kontextspezifischer argumentiert werden muss, was aber noch als zu behandelnde Frage im Raum steht. Zudem besteht weiter die Herausforderung, dass vom Islamischen Recht, wie auch vom Rest der Islamischen Theologie, erwartet wird, interdisziplinär zu sein, sowohl von den Akteuren*innen der Islamischen Theologie selbst als auch von der Universitätslandschaft insgesamt.⁶⁶

 Masud, „Teaching of Islamic Law“, 168.  Masud, „Teaching of Islamic Law“, 168.  Serdar Kurnaz, „Göttliches Recht im Wandel der Zeiten aus muslimischer Sicht“, in Gibt Gott Gesetze? Ius divinum aus christlicher und muslimischer Perspektive, hrsg. von Nora Kalbarczyk, Timo Güzelmansur und Tobias SJ Specker (Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, 2018), 96 – 134.  Kevin Reinhart, „Islamic Law as Islamic Ethics“, in The Journal of Religious Ethics 11, Nr. 2 (1983): 186 – 203; Bouhafa, „Ethics and Fiqh in al-Fārābī’s Philosophy“; Rudolph, „Al-Ghazālī on Philosophy and Jurisprudence“, 82– 88; Kurnaz, „Ibn Rushd’s Legal Hermeneutics“.  Engelhardt, Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem, passim.

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Da islamische Rechtswissenschaften bereits an den Universitäten gelehrt werden, lohnt ein Blick in die Studienordnungen der angebotenen Studiengänge, um sich ein Bild über die bisherige inhaltliche Ausrichtung in der Lehre in Deutschland machen zu können.⁶⁷ Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf das Bachelorstudium der Islamischen Theologie als Einfachstudiengang mit Bezug auf die Pflichtmodule – Kombinations- und Lehramtsstudiengänge habe ich ausschließen müssen. Wahlpflicht-, Schwerpunkt- und Profilmodule werde ich zusammenfassen. Alle Standorte der Islamischen Theologie betonen, dass Studierende Kernkompetenzen im Bereich uṣūl und furūʿ al-fiqh erwerben, wobei der Anteil der Semesterwochenstunden zu den uṣūl al-fiqh mehrheitlich überwiegt – ein gegenteiliger Trend gegenüber den Beobachtungen von Cardinal in Ägypten, dass dort immer weniger uṣūl al-fiqh unterrichtet wird.⁶⁸ Die Kenntnis der Rechtsquellen wird oft gesondert erwähnt, so auch die Kenntnis der maqāṣid aš-šarīʿa und der Methoden der Normderivation. Alle diese Themenbereiche sollen in den unterschiedlichen Ausprägungen der Rechtsschulen, sunnitisch wie schiitisch, erlernt werden. In Bezug auf die furūʿ al-fiqh ist zu sehen, dass die Entstehung und Entwicklung des islamischen Rechts in Geschichte und Gegenwart aus historischer Perspektive vermittelt wird. An einigen Standorten wird der Bereich der gottesdienstlichen Handlungen gesondert thematisiert, so auch der Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen entweder gesondert oder letzteres im Rahmen von Vorlesungen, die man unter „Geschichte des islamischen Rechts“ subsumieren könnte. Dabei sollen klassische Texte präsentiert werden; nur selten wird angegeben, dass diese Texte auch gelesen werden. Es liegen keine Informationen darüber vor, welche Texte genau in welchem Umfang behandelt werden. In den zusätzlichen Modulen, wie etwa Profil- und Schwerpunktbildung, sind zum größten Teil Vertiefungen in den uṣūl al-fiqh möglich, wobei die Beschreibungen dieser Module jener der Pflichtmodule stark ähneln und nicht klar wird, was zusätzlich angeboten bzw. was genau unter Vertiefung verstanden wird. Solche Module zu den furūʿ al-fiqh sind eher selten. Gänzlich außen vor bleibt die empirische Rechtsforschung. Gelegentlich wird das fiqh al-aqalliyyāt als Themenschwerpunkt neben anderen erwähnt, so auch die Rechtsprinzipien (qawāʿid). Interessant ist der Fall, dass in Frankfurt am Main in der neuen Fassung

 Eine doch umfangreiche Analyse mit knappen Ergebnissen zur Lehre islamrechtlicher Studiengänge in den USA liefert Makdisi, „A Survey of AALS Law Schools Teaching Islamic Law“.  Cardinal, „Islamic Legal Theory Curriculum“, 268.

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der Studienordnung der Themenbereich „Islamische Ethik“ im Modul „Islamische Jurisprudenz“ aufgeführt wird. Das Gesamtbild zeigt, dass die Disziplin Islamisches Recht im Moment stark theoretisch orientiert ist und einen Schwerpunkt im Bereich der uṣūl al-fiqh hat. Die furūʿ al-fiqh nehmen eine eher untergeordnete Rolle ein. Laut den Modulbeschreibungen zeichnet die Lehre sich eher dadurch aus, die uṣūl-Tradition in den verschiedenen Ausprägungen zu berücksichtigen und sie nach aktueller Relevanz hin zu befragen. Wie genau dabei moderne Zugänge von klassischen abgegrenzt werden, was das Kriterium für diese Unterscheidung ist und was unter Aktualisierung verstanden wird, ist im Rahmen der Modulbeschreibungen nicht zu erkennen. Um mögliche Antworten zu finden, könnten Seminar- und Vorlesungsbeschreibungen in kommentierten Vorlesungsverzeichnissen (oder auch Online-Einträge auf Plattformen wie Moodle, OLAT etc.) analysiert werden, was hier aber nicht geleistet werden kann. Auch ist auffällig, dass zwar viele Aspekte der muslimischen Rechtstradition genannt werden, diese Ziele aber rein von der Beschreibung der zu erwerbenden Kernkompetenzen im Rahmen von durchschnittlich 6 Semesterwochenstunden nicht erreicht werden können – die Aufzählung der Kernkompetenzen, die erworben werden sollen, ist also meist unrealistisch. Oft werden in den Modulbeschreibungen Termini erwähnt, ohne sie konzeptionell zu hinterfragen oder zu problematisieren, wie etwa al-fiqh almuqāran oder Rechtsphilosophie; was mit dem zuletzt genannten Begriff genau gemeint sein soll, ist ein Rätsel. Positiv ist, dass ein Konzept mit hoher aktueller Relevanz wie fiqh al-aqalliyyāt, wenn auch nur an einem Standort, Gegenstand der Lehre ist. Es ist zu hoffen, dass solche Konzepte in den Lehrveranstaltungen kritisch analysiert werden, da hier Gelehrte wie Yūsuf al-Qaraḍāwī (geb. 1926) und Ṭāhā Ǧābir alʿAlwānī (gest. 2016) den Anspruch vertreten, zumindest für Muslime als Minderheiten eine neue methodische Grundlage für einen aktualisierten fiqh zu schaffen.⁶⁹ Hier ist nicht der Ort, um dieses Konzept zu besprechen, aber es sei angemerkt, dass fiqh al-aqalliyyāt sich eines daʿwā-Konzepts bedient, das im Rahmen der deutschen Islamischen Theologie hinterfragt werden müsste.⁷⁰ Daher wäre es zu begrüßen, wenn trotz der knappen Zeit, die zur Verfügung steht, zumindest in Modulen zur Schwerpunktbildung eine Veranstaltung dazu angeboten würde. Zu fragen ist, wie genau das fiqh al-aqalliyyāt und weitere zeitge-

 Für eine Übersicht siehe Franke, „Fiqh al-aqallīyāt“.  Andrew F. March, „Sources of Moral Obligation to Non-Muslims in the ‚Jurisprudence of Muslim Minorities‘ (Fiqh al-Aqalliyyāt) Discourse“, in Islamic Law and Society 16 (2009): 34– 94.

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nössische Konzepte in die Standardmodule integriert werden können, da ja ohnehin nur durchschnittlich 6 Semesterwochenstunden zur Verfügung stehen. An dieser Stelle sei noch auf das Theologische im Islamischen Recht eingegangen, woran sich ein Vorschlag anschließt, wie die islamischen Rechtswissenschaften im theologischen Rahmen der Universitäten zu verorten sind. Das Theologische in den islamischen Rechtswissenschaften zeigt sich insbesondere in der uṣūl-Tradition und in einigen Fällen der furūʿ al-fiqh. Die uṣūl al-fiqh als Propädeutik im Sinne einer methodischen, terminologischen Einführung in die Rechtswissenschaft behandelt diverse Themen aus der systematischen Theologie (ʿilm al-kalām) oder bedient sich der dortigen Prämissen, wie etwa – vereinfacht ašʿaritisch gedacht –, dass das Gute und Böse nur Gott bestimmt und sie nicht als solche existieren. Auch der Wissensbegriff, an dem sich die Gelehrten im Rahmen des Rechts orientieren, bedient sich der kalām-Tradition.⁷¹ Da die Gelehrten etwa aus einer theologisch begründeten Erkenntnislehre heraus argumentieren, wird das islamische Recht stark theologisch gefärbt. Entsprechend wirkt sich dies auch auf die Argumentation für die Herleitung von Rechtsregelungen und Rechtsgutachten aus. So lässt sich erklären, wieso die Gelehrten immer noch nach direkten Referenzen in Koran und Sunna suchen, um neu entstandene Probleme etwa im Bereich der Bioethik zu lösen. Die uṣūl al-fiqh übernehmen und prägen nicht nur theologische Themen – viele Gelehrte sagen, dass sie der systematischen Theologie sogar untergeordnet seien⁷² –, sondern wirken über den Rechtsdiskurs hinaus insbesondere auf die Frage der Hermeneutik der schriftlichen Quellen ein. Wir wissen, dass die stark textzentrierte Argumentation disziplinübergreifend, insbesondere durch Reflexionen in uṣūl-Werken, zur dominierenden Haltung unter den Gelehrten geworden ist. So etwa haben Diskussionen um den epistemischen Status einer allgemeinen Aussage Auswirkungen auf theologische Themen, wie zum Beispiel, ob Muslime von Drohversen im Koran gleichermaßen adressiert sind wie Ungläubige. Generell sind die Gedanken über den epistemischen Status von Überlieferungen diskursübergreifend relevant. Die uṣūl-Tradition könnte somit innerhalb der islamischen Rechtswissenschaften und darüber hinaus als Propädeutik⁷³ für die Islamische Theologie insgesamt dienen. Sie würde in die Erkenntnistheorie

 Kurnaz, „Göttliches Recht im Wandel der Zeiten aus muslimischer Sicht“, 100 – 7.  Siehe z. B. ʿAlāʾ ad-Dīn as-Samarqandī, Mīzān al-uṣūl fī natāʾiǧ al-ʿuqūl, hrsg. von Muḥammad Zakī ʿAbd al-Barr (Qatar: Maṭābiʿ ad-Dawḥa al-Ḥadīṯa, 1984), 1– 2.  Im Gegensatz zu van Ess, der die uṣūl al-fiqh als Hermeneutik versteht, schlägt Shehaby vor, diese als Logik zu verstehen; siehe Nabil Shehaby, „The Influence of Stoic Logic on al-Jaṣṣāṣ’s Legal Theory“, in The Cultural Context of Medieval Learning, hrsg. von John Emery Murdoch und Edith Dudley Sylla (Boston u. a.: D. Reidel Publishing Company, 1975), 81– 82.

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einführen und zentrale Begriffe und Konzepte der muslimischen Tradition, die zur Textauslegung befähigen, vorstellen. Ferner könnte fiqh – denn fiqh bedeutet ja wörtlich „Verstehen“ – im Sinne von Hermeneutik verstanden werden. Damit wären z. B. die furūʿ al-fiqh die Kunst des Verstehens von Handlungen, die die religionsrechtlich Verantwortlichen vollziehen bzw. unterlassen müssen bzw. dürfen. Denn fiqh ist kein einheitliches Recht, das angewandt werden muss, sondern eines, das in unterschiedlicher Ausprägung, wie wir sie in den Rechtsschulen wiederfinden, angewandt werden kann. Da aber fiqh mehrheitlich als „Wissen“ (ʿilm) und nicht als „Verstehen“ (fahm) im Sinne eines Terminus technicus definiert wird, entfällt diese Option.⁷⁴ Es wäre aber denkbar, auch den fiqh als Propädeutik zu verstehen, wie wir es im Falle des Bidāyat al-muǧtahid wanihāyat al-muqtaṣid von Ibn Rušd sehen können: Er hat sein Bidāya mit dem Anspruch verfasst, dass dessen Studium dazu befähigt, selbstständig Recht zu finden.⁷⁵ Damit hätten wir zwei propädeutische Disziplinen mit historischer Ausrichtung, zum einen zur Rechtstheorie und ‐methodik, also uṣūl al-fiqh, und zum anderen zur historischen Aufarbeitung und zur Reflexion der (idealen und nicht unbedingt der wirklichen) Alltagspraxis der Muslime. Diese historische Perspektive lässt sich noch erweitern um Analysen zur tatsächlichen Rechtspraxis der Muslime auf der Ebene von richterlichen Urteilen (Sg. qaḍāʾ) und Rechtsgutachten (Sg. fatwā). Dieser historische Teil der islamischen Rechtswissenschaften kann dann, insbesondere in Spezialisierungsmodulen oder auf Masterniveau mit systematischen Fragen des Minderheiten-Fiqh, der historisch-kritischen Koranforschung und ihres Einflusses auf die uṣūl al-fiqh, der neueren uṣūl-Ansätze sowie des Verhältnisses des islamischen Rechts zur Philosophie, zur Ethik und zum geltenden deutschen Recht bearbeitet werden. Dies alles ist aber nur möglich, wenn der propädeutische Charakter von Disziplinen innerhalb des Islamischen Rechts und ihr Einfluss auf Koranexegese, Hadithwissenschaften und Kalāmwissen-

 Für die wörtliche Bedeutung als „Verstehen“ und die Definition des fiqh als „Wissen“ siehe Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī, al-Muʿtamad fī uṣūl al-fiqh, hrsg. von Ḫalīl al-Mays, Bd. 1 (Beirut: Dār alKutub al-ʿIlmiyya, 1982), 4; Abū l-Muẓaffar as-Samʿānī, Qawāṭiʿ al-adilla fī uṣūl al-fiqh, hrsg. von Muḥammad Ḥasan Muḥammad Ḥasan Ismāʿīl aš-Šāfiʿī, Bd. 1 (Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 1999), 20; Abū Ḥāmid al-Ġazālī, al-Mustaṣfā min ʿilm uṣūl al-fiqh, hrsg. von Muḥammad ʿAbd asSalām ʿAbd aš-Šāfī (Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 1993), 5.  Vgl. Abū l-Walīd Ibn Rušd, Bidāyat al-muǧtahid wa-nihāyat al-muqtaṣid, Bd. 1 (Kairo: Dār alḤadīṯ, 2004), 9; Erwin Gräf, Jagdbeute und Schlachttier im islamischen Recht: Eine Untersuchung zur Entwicklung der islamischen Jurisprudenz (Bonn: Orientalisches Seminar der Universität Bonn, 1959), 227.

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schaften nicht außer Acht gelassen wird, ohne dabei seinen normativen Charakter aus den Augen zu verlieren.⁷⁶

5.2 Übersetzungen Auch wenn den Modulbeschreibungen und ‐handbüchern ein gemeinsamer Nenner in Bezug auf die inhaltliche Gestaltung der Disziplin Islamisches Recht entnommen werden kann, so ist im Bereich der Übersetzungen kein solcher Nenner zu erkennen, weder für die Bezeichnung der Disziplin noch für Termini technici in den angefertigten Übersetzungen.

5.2.1 Übersetzungsvarianten von fiqh und uṣūl al-fiqh als Studienfächer Ein Blick auf die Übersetzungen der Begriffe fiqh und uṣūl al-fiqh zeigt, wie unterschiedlich diese ausfallen – fraglich ist, ob das mit den unterschiedlichen Konzepten und Verständnissen von fiqh zu tun hat oder ob hier relativ unpräzise Übersetzungsvarianten pragmatischer Natur angeführt werden. Letzteres scheint zu überwiegen. Fast an allen Standorten werden die Begriffe mal übersetzt und mal im arabischen Original angeführt. Konfus ist die Situation fast überall, da abweichende Übersetzungen für dieselben Termini, sogar in derselben Modulbeschreibung, angeführt werden. Die im Anhang in Tabelle 3 angeführte Liste der Übersetzungen⁷⁷ zeigt deutlich, dass an keinem Zentrum klar ist, was genau unter fiqh und uṣūl al-fiqh verstanden und wie genau sie übersetzt werden sollen. Übersetzungsvarianten für fiqh sind etwa: Islamische Normenlehre, Jurisprudenz, Recht und Glaubenspraxis. Für uṣūl al-fiqh finden sich Varianten wie: Prinzipienlehre, Rechtstheorie, Rechtsmethodik und Rechtswissenschaften. Alle Übersetzungen lassen daran zweifeln, ob Definitionen aus den klassischen Quellen überhaupt berücksichtigt worden sind, wo doch alle Zentren den Anspruch haben, die klassische Theorie und die damit verbundenen Termini als Grundkenntnisse zu vermitteln. Eine Besonderheit zeigt sich in Münster, wo das Modul zum Islamischen Recht als „Praktische Theologie“ bezeichnet wird. Ungeachtet der Frage, wie zutreffend diese Bezeichnung ist, fehlt jegliche Erklärung, welchen Begriff

 Für eine schematische Darstellung siehe Anhang.  Die Internetlinks zu den jeweiligen Studienordnungen sind der Tabelle 1 im Anhang zu entnehmen.

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von praktischer Theologie das Münsteraner Zentrum verwendet. Auch ist es verwunderlich, dass in Osnabrück und Münster für fiqh al-ʿibādāt sowie an anderen Stellen ohne Erklärung das Wort „Glaubenspraxis“ verwendet wird. Erfreulich ist, dass ʿibādāt zwar gesondert als Thema von Lehrveranstaltungen angeführt wird, jedoch wird nicht gefragt, ob mit der besonderen Bezeichnung die gottesdienstlichen Handlungen, also die ʿibādāt, nicht grundlos vom Rest des fiqh getrennt werden, wo doch alle Normen im Bereich der gottesdienstlichen und der zwischenmenschlichen Beziehungen nach denselben Grundannahmen und Methoden aus den religiösen Quellen abgeleitet werden. Zudem ist es fraglich, Glaubenspraxis auf ʿibādāt zu reduzieren, denn der Verzicht zum Beispiel auf eine Zinsklausel bei einem Vertragsschluss kann ebenso ein Ausdruck von Glaubenspraxis sein, wie es das Verrichten des rituellen Pflichtgebets ist. Konfus sind auch die Lehrstuhlbezeichnungen. Çefli Ademi schlägt „Islamische Jurisprudenz“ als Lehrstuhlbezeichnung vor, worunter Teilbereiche wie fiqh und uṣūl al-fiqh fallen könnten.⁷⁸ Es empfiehlt sich, in den Modulbezeichnungen diesem Vorschlag, möglicherweise als „Islamische Rechtswissenschaften“ zu folgen, um mit der Bezeichnung „Islamisches Recht“ nicht den Anschein zu erwecken, die Beschäftigung auf fiqh im Sinne von furūʿ al-fiqh zu reduzieren.

5.2.2 Übersetzung klassischer Texte und uṣūl-Termini Das Thema Übersetzungsschwierigkeiten beschränkt sich nicht nur auf Modulbeschreibungen. Wegen des großen Umfangs der klassischen Quellen liegt es nahe, in Einführungsveranstaltungen kürzere Traktate wie das al-Waraqāt von alǦuwaynī (gest. 478/1085) zu lesen. Das Problem dabei ist, dass zumeist bis zum Bachelorabschluss viele Studierende klassische Texte nur eingeschränkt lesen können, weshalb Übersetzungen solcher Werke in Frage kommen. Ungeachtet der Frage, wie verständlich diese kurzen Texte ohne die Berücksichtigung von Kommentarwerken sind, sind ihre deutschen Übersetzungen bzw. die übersetzten Teile umfangreicherer Werke zu den uṣūl al-fiqh ⁷⁹ höchst unpräzise: Einzelne Termini werden abweichend von Definitionen übersetzt, an vielen Stellen fehlt

 Çefli Ademi, „Lehrstühle für ‚islamisches Recht‘? Eine kritische Begriffsanalyse bzw. die Frage nach einer substanzadäquaten Lehrstuhlbezeichnung“, in Jahrbuch für islamische Theologie und Religionspädagogik, Nr. 1 (2012): 192.  Siehe hierzu etwa mein „Rezension zu: Hakki Arslan: Juridische Hermeneutik (uṣūl al-fiqh) der ḥanafitischen Rechtsschule am Beispiel des uṣul al-fiqh-Werks Mirqāt al-wuṣūl ilā ʿilm al-uṣūl von Mullā Ḫusraw (gest. 885/1480), Frankfurt [u. a.] 2016, 289 S.“, in Zeitschrift für Recht und Islam/ Journal of Law & Islam 9 (2017): 277– 87.

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einheitliche Begrifflichkeit – gerechtfertigte Abweichungen sind davon ausgenommen. Der Entstehungs- und Diskurskontext der Termini und der Diskussionen wird oft unberücksichtigt gelassen. Die wörtliche Bedeutung der definierten Termini wird für die Übertragung der Definition ins Deutsche oft nicht berücksichtigt.⁸⁰ Ich will damit nicht sagen, dass die Termini unbedingt stets gleich übersetzt werden müssen, aber es ist zumindest zu erwarten, die inflationär anmutenden Übersetzungsvarianten zu reduzieren. Auch kann entschieden werden, dass gewisse Termini wie iǧtihād nicht übersetzt werden sollten, da sie quasi verschlüsselte Codes sind und keine Übersetzung eine adäquate Dekodierung ermöglicht. Hier sei nur ein Beispiel für Übersetzungsschwierigkeiten genannt: Der Terminus muǧmal ist das Partizip Passiv des Verbs aǧmala, dem vierten Stamm der Wurzel ǧ-m-l. Wörtlich bedeutet aǧmala „summieren, zusammensetzen“. Nach den uṣūl al-fiqh wird muǧmal zumindest unter Schafiiten, Malikiten und Hanbaliten mehrheitlich für Wörter verwendet, die mehrere Bedeutungen in sich summieren und somit unklar sind. Nur nach einer Erklärung können diese Wörter für die Normderivation berücksichtigt werden.⁸¹ Wenn nun diese Verwendung in den klassischen uṣūl-Werken bekannt ist und die Definition, die alǦuwaynī im al-Waraqāt wiedergibt – und zwar als das, was einer Erklärung bedarf –, dann kann die Übersetzung von al-muǧmal nicht „das Ungefähre“,⁸² sondern müsste „das Summarische“ oder „das summarisch Dargestellte“ sein.⁸³ Fehlende Präzision in den Übersetzungen wird bei den Studierenden in den Lehrveranstaltungen zu verzerrten Wahrnehmungen bezüglich der klassischen uṣūl führen und die Lehre negativ beeinflussen.

6 Gesellschaftliche Anforderungen und Erwartungen Neben den bisher angeführten Anforderungen gibt es auch gesellschaftliche Erwartungen, die die Lehre im Islamischen Recht beeinflussen, ja sogar das Fach insgesamt unter Druck setzen.Von einer Reihe von Erwartungen, die insgesamt an

 Hierzu wird bald mein Artikel „Fiqh-Texte übersetzen – Herausforderungen, Schwierigkeiten und Lösungsansätze“ erscheinen.  Kurnaz, Methoden zur Normderivation im islamischen Recht, 281– 85.  Arslan und Bakker, „Übersetzung von ‚al-Waraqāt‘“, 49.  Tahsin Görgün, Sprache, Handlung und Norm: Eine Untersuchung zu „Uṣūl al-Fiqh“ und „Kitāb as-Siyar“ des Šams al-Aʾimma Muḥammad b. Abī Sahl Aḥmad as-Saraḫsī (1009 – 1090 n.C.) (Istanbul: Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Araştırmaları Merkezi, 1998), 167.

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die Islamische Theologie gerichtet werden, ist das Fach Islamisches Recht als Teil von dieser betroffen. Dazu gehören Bestrebungen in Deradikalisierung, Radikalisierungsprävention und Integration. Mit Letzterem ist vor allem die folgende Frage verbunden, die an das Fach sowohl von außen herangetragen wird als auch von seiner inneren Dynamik her begründet ist – hier kommt das häufig zitierte Rechtsprinzip „Mit der Änderung der Zeit geht die Änderung der Normen einher“ zum Tragen: Wie ist das islamische Recht heute (in einer säkularen und wertepluralen Gesellschaft) anwendbar? Von außen herangetragen wird diese Frage insbesondere von muslimischen Gelehrten, die nicht in Europa leben und insbesondere seit den 1990er Jahren ein System für Muslime als Minoritäten zu entwerfen versucht haben – das besagte fiqh al-aqalliyyāt. Viele Muslime in Europa hingegen kritisieren den Begriff der Minorität als politisch beladen und zu eng mit dem Migrationsgedanken verbunden.⁸⁴ Gefordert wird daher insbesondere vom Fach Islamisches Recht ein europäischer Islam bzw. ein Islamverständnis europäischer Prägung; offen bleibt aber, wie solch ein Konzept inhaltlich begründet wird. Wir können auch beobachten, dass oft versucht wird, aktuelle Probleme mit Rückbezug auf die maqāṣid-Theorie zu lösen: Diese wird oft als Allheilmittel für islamrechtliche Probleme verstanden. Ich habe bereits angesprochen, dass auch hier eine Diskrepanz zur klassischen Theorie liegt und daher auch erkenntnistheoretische Probleme damit verbunden sind. Unter diesem gesellschaftspolitischen Druck wird diese Diskrepanz ignoriert und eher die Frage nach der Aktualisierung und Anwendbarkeit des islamischen Rechts gestellt, als dass die Tradition differenziert aufgearbeitet und erst danach die Frage gestellt wird, wie mit dem islamischen Recht heute umgegangen werden kann. Daneben wird vom Islamischen Recht erwartet, dass empirische Forschung im Bereich Recht betrieben wird, insbesondere in der Frage danach, inwiefern islamisches Recht eine Art Paralleljustiz konstituiert.⁸⁵ Ferner wird erwartet, dass insbesondere mit Bezug auf die maqāṣid viele alltägliche Fragen, etwa aus den Bereichen Seelsorge und Sozialarbeit, aus islamrechtlicher und theologischer Perspektive beantwortet werden. Dabei ist höchst fraglich, ob seelsorgerische Konzepte oder Konzepte zur Sozialarbeit überhaupt in den Bereich der Islamischen Theologie, geschweige denn in den des Islamischen Rechts fallen. Etabliert ist jedoch bereits, dass das Islamische Recht in einigen Bereichen der Ethik, wie  Franke, „Fiqh al-aqallīyāt“.  Forschungen dazu gibt es bereits; siehe z. B. Mathias Rohe und Mahmoud Jaraba, Paralleljustiz: eine Studie im Auftrag des Landes Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz (Berlin, 2015), http://digital.zlb.de/viewer/rest/image/16053259/gesamtstudieparalleljustiz.pdf/full/max/0/gesamtstudie-paralleljustiz.pdf.

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etwa der Wirtschafts- und Bioethik, einen Beitrag für gesamtgesellschaftliche Probleme leisten kann. Dies ist zwar erfreulich, weil hierdurch islamische Ansätze für die Gesamtgesellschaft fruchtbar gemacht werden. Auf der anderen Seite aber muss die Frage gestellt werden, ob das islamische Recht der richtige Ort ist, um ethische Fragen zu diskutieren – wobei jedoch zu beobachten ist, dass der Trend seit dem 20. Jahrhundert immer stärker dahingeht, jenes Recht tatsächlich als Ort dieser Diskussionen zu bestimmen.

7 Schluss Insgesamt zeigt sich, dass die Disziplin Islamisches Recht den eigenen Bedürfnissen, den Herausforderungen der Verortung an der Universität und den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechend dabei ist, spezifische Charakteristika deutscher bzw. europäischer Prägung zu entwickeln. Mein Vorschlag ist, dass zumindest der historisch-systematische Teil der Lehre im Rahmen des Islamischen Rechts als Propädeutik für die Islamische Theologie in Deutschland insgesamt dienen kann. Dadurch könnte der Bearbeitung hermeneutischer und erkenntnistheoretischer Überlegungen aus der Theologietradition mehr Zeit eingeräumt und diese Tradition in den folgenden Lehrveranstaltungen aus der Perspektive der diversen Disziplinen kritisch reflektiert werden. In einem zweiten und systematischen Teil könnten dann Themen wie Hermeneutik und Epistemologie, Rechtsphilosophie im weitesten Sinne (also die Frage nach Recht, Ethik, Autorität und Begründung von Normen zur religiöser Praxis) und Rechtspraxis (darunter fatwā-Wesen, außergerichtliche Konfliktlösung etc.) aufgegriffen werden.⁸⁶ Wie diese Aufteilung im Bachelor- und Masterstudiengang umgesetzt werden kann, muss noch erarbeitet werden. Solange die unterschiedlichen Zentren, die bereits ihren Lehrbetrieb aufgenommen haben, nicht miteinander kooperieren, solange die interdisziplinäre Ausrichtung des Islamischen Rechts nicht definiert und nicht geklärt wird, wie Lehrbücher geschrieben werden sollen und welche Standardwerke zu welchem Anteil gelesen werden müssen, und solange das islamische Recht nicht von der Last der Integration und der Deradikalisierung befreit wird, wird eine adäquate Lehre, die zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Erbe dieses Rechts befähigen und den Studierenden Aktualisierungskompetenzen verleihen soll, nicht möglich sein. Der Anfang ist dennoch gemacht: Es bleibt spannend zu beobachten, wie diese Fachdisziplin die genannten Hürden und

 Für die schematische Darstellung siehe Anhang.

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Herausforderungen meistern und sich in diesem spezifischen Kontext entwickeln wird.

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Anhang Tabelle 1: Links zu den Studienordnung Monobachelor Islamische Theologie/Islamische Studien Ich habe hier nur die aktuellen Studienordnungen berücksichtigt; die Studienordnungen, die nur noch einige Semester Bestand haben, also Studiengänge, die bald auslaufen, habe ich nicht berücksichtigt. Dies gilt auch für die folgenden Tabellen. Solange nicht anders vermerkt ist das Abrufdatum der 12.11. 2019. Standort

Link

Berlin

http://gremien.hu-berlin.de/de/amb///__ba_islamische theologie_druck.pdf

Erlangen-Nürnberg

http://www.dirs.phil.fau.de/files///BA--Fach-Modulbeschreibun gen.pdf

Frankfurt

http://www.uni-frankfurt.de//BA_ISt__Modulhandbuch. pdf

Münster

http://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/zit/fachpr__fungsord nung_f__r_den_bachelorstudiengang_ein-fach-bachelor_islamische_theo logie.pdf

Osnabrück

http://www.islamische-theologie.uni-osnabrueck.de/fileadmin/docu ments/public/Dokumente/Studium_-_Modulhandbuch_-_-_ITIR_-_BA-MA.pdf

Tübingen

https://uni-tuebingen.de/securedl/sdl-eyJeXAiOiJKVQiLCJhbGciOiJIUzI NiJ.eyJpYXQiOjEMTcNDYyODQsImVcCIMTYxNzczNjIMiwidXNl ciIMCwiZJvdXBzIjpbMCwtMVsImZpbGUiOiJmaWxlYWRtaWcLVua VUdWViaWnZWcLRlemVybmFZVwvRGVZXJuYXRfSVwvWm VudHJbVmXHUwMGZjclJcxhbWlzYhlXRoZWsbdpZVwvRGbmx vYWRzXCQclxMDBmYZbmdzYWXCNbRbGhhbmRiXHUwMGZ jYhlclwvMjAyMFwvTWkdWxoYWkYnVjaFCLkEuXFiMjAyMCwZGYiLCJ wYWdlIjoMDUNX.vGDXWBpiBLiTTNEbKsum-FUqUsP-TFvnVU zays/Modulhandbuch_B.A._ab.pdf; (Abrufdatum: ..)

362

Serdar Kurnaz

Tabelle 2: Übersicht über die Semesterwochenstunden an den islamisch-theologischen Zentren⁸⁷ Universität Modulbezeichnung

Modulbestandteile

obligatorische SWS

Berlin

Vorlesung Seminar Übung

 SWS

Vertiefung: Islamisches Vorlesung Recht und Glaubenspraxis Übung

 SWS

Normenlehre I

Vorlesung Seminar

 SWS

Normenlehre II

Vertiefungsseminar

 SWS

ErlangenNürnberg

Islamisches Recht und Glaubenspraxis

Pflicht:  SWS optional:  SWS insgesamt möglich: 

insgesamt  Frankfurt

Vertiefungs-/Pflichtmodul Vorlesung (VergleichenIslamische Jurisprudenz de Normenlehre des Is(fiqh) lams)

 SWS

Seminar Islamische Ethik Seminar Hermeneutik der islamischen Normen und Rechtslehre Schwerpunktbildung „Is- Seminar lamische Jurisprudenz und Übung systematische Theologie“ Übung Münster

 SWS Pflicht:  SWS möglich:  st. Theologie)

Grundlagenmodul I praktische Theologie

V Einführung in die isla-  SWS mische Normenlehre S Islamische Glaubenspraxis (ʿibādāt)

Aufbaumodul praktische Theologie

V Einführung in uṣūl alfiqh S Uṣūl al-fiqh

 SWS Pflicht  SWS  SWS weitere Wahlpflicht fiqh und uṣūl al-fiqh I und II

 Für die Links zu den Studienordnungen siehe Anhang.

Islamisches Recht als Teildisziplin der Islamischen Theologie in Deutschland

363

Fortsetzung Universität Modulbezeichnung

Modulbestandteile

obligatorische SWS

S Textlektüre zu Methodologie der islamischen Normenlehre Osnabrück BA.: Einführungsmodul: Vorlesung Einführung in die Islami- Seminar sche Rechtswissenschaften – uṣūl al-fiqh und fiqh

 SWS

B.A.: Vertiefungsmodul: Islamische Jurisprudenz

Vorlesung Seminar

 SWS

B.A. Zusatz: Profilmodul Islamische Rechtstheorie

Lektürekurs Seminar

 SWS

B.A. Zusatz: Profilmodul Islamische Jurisprudenz (fiqh)

Lektürekurs Seminar

 SWS

Islamisches Recht (fiqh)

V Einführung in das isla-  SWS mische Recht weitere SWS im Rahmen von S Texte zur RechtswisWahlpflichtmodul  möglich senschaft

Tübingen

Pflicht:  Zusatz: 

Tabelle 3: Übersetzungsvarianten von fiqh und uṣūl al-fiqh in den Modulhandbüchern bzw. Studienordnungen Terminus

Übersetzung

Standort

Fiqh

Islamisches Recht Islamische Jurisprudenz Islamische Normenlehre

Tübingen, Berlin Frankfurt, Osnabrück, Münster Frankfurt, Erlangen, Berlin, Münster Berlin, Osnabrück Osnabrück, Berlin

Islamische Glaubenspraxis Islamische Rechtswissenschaften Uṣūl al-fiqh

Islamische Rechtstheorie Islamische Rechtswissenschaften Methodologie der islamischen Normenlehre Prinzipien der Rechtstheorie Hermeneutik der islamischen Normen und Rechtslehre Rechtsmethodologie Methodik der Ableitung von Normen

Münster, Osnabrück Osnabrück Münster Osnabrück Frankfurt Frankfurt, Berlin Erlangen

364

Serdar Kurnaz

Fortsetzung Terminus

Übersetzung

Standort

Rechtstheorien, Rechtsquellen- und methodenlehre

Münster

Schema 1: Islamische Rechtswissenschaften

Anne Schönfeld

Führung zur Selbstführung: Lehren und Lernen in der Islamischen Theologie als pastorale Praxis Das Verhältnis zwischen Bildung und Religion gilt als spannungsreich und ist in jedem Fall komplex. Es spiegelt sich im Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als „Kulturstaat“ und findet seine Entsprechung nicht zuletzt in Institutionen wie dem schulischen Religionsunterricht, der das einzige Schulfach von Verfassungsrang ist. Auch der Prozess einer sog. Akademisierung des Islams in Deutschland, der Anfang der 2000er Jahre mit der Konzeption und Einrichtung der ersten Lehrstühle für Islamische Religionspädagogik begonnen hat,¹bildet ein solches Zeugnis kulturstaatlicher Praxis. Dazu gehören Interventionen in die Bereiche Bildung, Wissenschaft und Religion, die staatliche Ordnung und Souveränität aufrechterhalten und stärken sollen. Eine der jüngsten Entwicklungen in diesem Akademisierungsprozess ist der Start eines durch die Deutsche Islam Konferenz (DIK) geförderten Pilotprojekts zur Ausbildung von Imamen. Der 2019 auf Initiative von Mitarbeiter*innen und Absolvent*innen des Instituts für Islamische Theologie (IIT) der Universität Osnabrück gegründete und aus Mitteln der Projektförderung des Bundesinnenministeriums (BMI) unterstützte Trägerverein Islamkolleg Deutschland e.V. soll künftig religiöses Personal u. a. in den Bereichen Predigtlehre, Seelsorge und Gemeindepädagogik ausbilden. War eine diesbezüglich durch das deutsche Staatskirchenrecht vorgesehene Kooperation der universitären Lehrstühle mit Vertreter*innen der Religionsgemeinschaft bislang an mangelnder Vertrauensbereitschaft der Beteiligten gescheitert, rückt mit diesem Schritt das Ziel einer praktisch-pastoralen Ausbildung von Absolvent*innen

 Den ersten Lehrstuhl zur Ausbildung von Lehrkräften für den islamischen Religionsunterricht richtete 2004 das Land Nordrhein-Westfalen an der Universität Münster ein. Es folgten Bayern mit einer Professur für Islamische Religionslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg (2006) und Niedersachsen mit einem Lehrstuhl für Islamische Religionspädagogik am Standort Osnabrück (2007). Bereits im Jahr 2001 war an der Universität Hamburg eine Diskussion um die Einrichtung einer Professur für Islamische Theologie mit Schwerpunkt interreligiöser Dialog in Gang gesetzt worden. Auch die Stiftung von insgesamt drei Professuren für Islamische Religion an der Universität Frankfurt durch die türkische Religionsbehörde erfolgte unter dem Vorzeichen des intertheologischen Dialogs. Ursula Neumann, Hrsg., Islamische Theologie: Internationale Beiträge zur Hamburger Debatte (Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2002); Jan Felix Engelhardt, Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem: Ausdifferenzierung und Selbstkonzeption einer neuen Wissenschaftsdisziplin (Wiesbaden: Springer, 2017), 101– 21. https://doi.org/10.1515/9783110731743-014

366

Anne Schönfeld

islamisch-theologischer Studiengänge für die Arbeit in hiesigen Moscheegemeinden erneut in den Fokus.² Die Aussicht auf eine solche grundständige Ausbildung religiösen Personals hatte die Etablierung islamischer Theologie an öffentlichen Universitäten in Deutschland zu Beginn maßgeblich beschleunigt. Bei den politisch und akademisch Verantwortlichen bestanden dabei stets die Absicht und der Wunsch, die im Rahmen eines universitären Theologiestudiums angestrebten Lernvorgänge und zu vermittelnden Kompetenzen mögen in den islamischen Gemeinden direkt oder indirekt „Bildungseffekte“ zeitigen. Innerhalb des islamisch-theologischen Feldes wurde die starke Bedarfs- und Anwendungsorientierung der sich neu etablierenden Disziplin teilweise kritisch als Risiko einer Vereinnahmung durch integrations- und sicherheitspolitische Erwägungen bewertet.³ Wie anhand der eingangs erwähnten jüngeren Entwicklungen zu zeigen sein wird, kommt darin eine ordnungspolitische Funktionalisierung von Religion und Bildung zum Ausdruck, die Levent Teczan in seiner 2012 erschienenen Untersuchung zur deutschen Islampolitik als „Arbeit an der muslimischen Pastoralmacht“⁴ beschrieben hat. Im Einklang mit politischen Erwartungen wird Imamen, Religionslehrer*innen, Seelsorger*innen und Sozialarbeiter*innen als den Zielgruppen islamisch-theologischer Studiengänge, aber auch deren wissenschaftlichem Lehrpersonal eine pastorale Rolle und Funktion im Sinne der von Michel Foucault so eindrücklich beschriebenen „Führung zur Selbstführung“⁵ zugeschrieben. Mehr noch als für solche vergleichsweise offensichtlichen Formen der Politisierung interessiert sich dieser Beitrag dafür, wie muslimische Subjektivität gleichzeitig auf epistemischer Ebene gemäß der pastoralen Machtspezifik geformt wird. Denn auch wenn keine solche Indienstnahme für politische Zwecke vorliegt, findet eine Konstituierung und Normalisierung von Muslimischsein unter liberal-

 Anne Schönfeld, „Regulierung durch Wissensproduktion – Staatliche Versuche der Institutionalisierung der Ausbildung von Imamen in Deutschland“, in Demokratie und Islam: Theoretische und empirische Studien, hrsg. von Oliver Hidalgo u. a. (Wiesbaden: Springer, 2014), 399 – 423.  Siehe etwa Ertugrul Sahin, „Etablierung der Islamischen Theologie an deutschen Universitäten: Herausforderungen – Erwartungen – Perspektiven.“ Zeitschrift für Islamische Studien 1, Nr. 1 (2011).  Levent Tezcan, Das muslimische Subjekt: Verfangen im Dialog der Deutschen Islam Konferenz (Konstanz: Konstanz University Press, 2012). Siehe auch: Levent Tezcan, „Kultur, Gouvernementalität der Religion und der Integrationsdiskurs“, in Konfliktfeld Islam in Europa, hrsg. von Levent Tezcan und Monika Wohlrab-Sahr (Baden-Baden: Nomos, 2007), 51– 74; Levent Tezcan, „Governmentality, Pastoral Care and Integration“, in Islam and Muslims in Germany, hrsg. von Ala Al-Harmaneh und Jörn Thielmann (Leiden, Boston: Brill, 2008), 119 – 32.  Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004), zum Pastorat besonders die Vorlesungen 5 und 7.

Führung zur Selbstführung

367

säkularen Vorzeichen statt. Sie geht innerhalb kulturstaatlicher Strukturen allerdings ausgesprochen subtil vonstatten und ist vor allem deshalb besonders effektiv, weil sie auf einer Idee von universitärer Bildung als Projekt emanzipativer Selbstwerdung beruht und so die eigene Machtförmigkeit unsichtbar werden lässt. Mit dem Neologismus „Gouvernementalität“ bezeichnet Foucault Machtformen, bei denen „Formen politischer Regierung auf Praktiken des ‚Sich-selbstRegierens‘ zurückgreifen“,⁶ womit er den Fokus auf die Relationalität von Macht legt.Während Religionspolitik und Religionsrecht, also etwa durch die Förderung einer Akademisierung der Ausbildung von Imamen und Seelsorger*innen, hierfür die institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen schaffen, ist machttheoretisch gleichermaßen von Interesse, wie die „Geburt“ des muslimischen Subjekts pädagogisch vorbereitet und begleitet wird und in welcher Form muslimische Akteur*innen selbst an diesem Prozess beteiligt sind. Angeregt durch die Diskussionen im Rahmen eines Workshops zur Vorbereitung des vorliegenden Sammelbandes⁷ soll abschließend der Nutzen der gouvernementalen Perspektive für die weitere Reflexion über die Bedingungen islamisch-theologischer Wissensproduktion in Deutschland herausgearbeitet werden.

1 Bedarfs- und Anwendungsorientierung islamischer Theologie Für Rolf Schieder, der bis 2018 den Lehrstuhl für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin innehatte, ist Theologie an der öffentlichen Universität stets ein Spagat zwischen einer in seinen Augen durchaus legitimen Funktionalisierung der Theologie zur „Fundamentalismus-

 Thomas Lemke, „Die politische Theorie der Gouvernementalität: Michel Foucault“, in Politische Theorien der Gegenwart I. Eine Einführung, hrsg. von André Brodocz und Gary S. Schaal (Opladen: Leske + Budrich, 2002), 474.  Dieser Workshop fand am 29./30.11. 2019 an der Universität Erlangen-Nürnberg statt. Ich danke allen Beteiligten für die hilfreichen Anregungen und Rückmeldungen zu meinem Beitrag. Darüber hinaus danke ich Frau Prof.in Dr.in Schirin Amir-Moazami und den Doktorand*innen aus dem von ihr im Wintersemester 2019/2020 organisierten Colloquium für die wertvollen Diskussionen und Impulse zu einer früheren Version dieses Beitrags.

368

Anne Schönfeld

prophylaxe“⁸ und dem Risiko ihrer Vereinnahmung für eine „staatlich organisierte […] Zwangsaufklärung“.⁹ Er erläutert: Theologische Fakultäten sind deshalb unentbehrlich, weil sie der einzige Ort sind, an dem der säkulare, religionsneutrale Staat über den Weg der Wissenschaften auf das Denken und Fühlen der Religionsgemeinschaften Einfluss nehmen kann, ohne das Gebot der Religionsfreiheit zu verletzen.¹⁰

Da Theologie im Gegensatz zur Religionswissenschaft, so Schieder weiter, nicht Wissen über die Religion produziere, sondern das Wissen in den Religionsgemeinschaften „verbessern“ helfe, gelte es diesen eine Beteiligung bei der Besetzung von Professuren und den Curricula zu ermöglichen, denn ist dieses Vertrauen erst einmal verspielt, sei dieser Bildungsweg „verstopft“.¹¹ Schieders Aussage ist bemerkenswert, erklärt sie doch die Existenzberechtigung von Theologie an staatlichen Universitäten und insbesondere die Notwendigkeit ihrer Bekenntnisbindung klar und unmissverständlich damit, dass der Staat auf diese Weise die Möglichkeit erhalte, eine Bevölkerungsgruppe gezielt ins Visier zu nehmen, unmittelbar auf sie zuzugreifen und sie über Religion und Religiosität als Subjekte zu formen. Ohne an einer solchen Instrumentalisierung weiter Anstoß zu nehmen oder sich näher für das in dieses Bildungsdenken eingefasste Zusammenspiel von Macht- und Selbstverhältnissen zu interessieren, skizziert Schieder hier die gouvernementale Rationalität, die der Idee einer Verwissenschaftlichung von Theologie inhärent ist und die ich im Folgenden eingehender betrachten will. Auch die Etablierung einer universitären Islamischen Theologie ist verschiedentlich mit der Notwendigkeit von Bildungseffekten begründet worden. So schreibt Reinhard Schulze: Die islamischen theologischen Studien müssen also die Möglichkeit haben, eine bildungspolitische Rückwirkung zu entfalten. Sie müssen die Gemeinden schlicht davon überzeugen, dass es nützlich ist, dass es islamische theologische Studien gibt.¹²

 Rolf Schieder, „Vom Nutzen der Theologie in einem säkularen Umfeld“, in Theologie(n) an der Universität: Akademische Herausforderung im säkularen Umfeld, hrsg. von Walter Homolka und Hans-Gert Pöttering (Berlin, Boston: Walter de Gruyter, 2013), 9 – 19, hier 17.  Schieder, „Vom Nutzen der Theologie in einem säkularen Umfeld“, 13.  Schieder, „Vom Nutzen der Theologie in einem säkularen Umfeld“, 17.  Schieder, „Vom Nutzen der Theologie in einem säkularen Umfeld“, 17.  Reinhard Schulze, „Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft“, in Frankfurter Zeitschrift für islamisch-theologische Studien 2 (2015): 105.

Führung zur Selbstführung

369

Mit Blick auf die Auseinandersetzung zwischen der scientific community und glaubensgemeinschaftlichen „Gegenexperten“ diagnostiziert Jan Felix Engelhardt zudem „Rationalitätseffekte in der muslimischen Glaubensgemeinschaft“, die dem Ordnungsinteresse des Staates entsprechen.¹³ Die Prozesse um eine Akademisierung islamischer Wissensproduktion in Deutschland wurden im Sinne eines „Tauschgeschäfts“ analysiert, bei dem der Religionsgemeinschaft Teilhabe und Anerkennung im Austausch für die Bestätigung der „Spielregeln“ von Staat und Wissenschaftssystem gewährt werden.¹⁴ Legt man der Untersuchung ein solches juridisches Modell der Macht zugrunde, so lässt sich meines Erachtens jedoch nicht hinreichend erklären, wie die Universität ihre säkulare Grammatik entfaltet und wie sich die Ordnungsinteressen des Staates im Einzelnen verwirklichen.¹⁵ Denn auch wenn es den Akteur*innen innerhalb des islamisch-theologischen Feldes scheinbar gelingt, sich – etwa mit einem Konzept von „Theologie als Wissenschaft“ – gegen eine unmittelbare Vereinnahmung durch Politik und glaubensgemeinschaftliche Anspruchsgruppen zu erwehren, entfaltet das Integrations- und Zähmungsmotiv über die angesprochenen „Bildungseffekte“ doch eine Wirkung. Mithilfe von Foucaults Paradigma der Gouvernementalität möchte dieser Beitrag deshalb den Blick auf die innere Machtförmigkeit von Bildung und Wissenschaft selbst lenken und danach fragen, wie sich die kapillaren Kräfte der Macht auf dem Wege der Selbstkonstitution entfalten und sich dabei die „vom Subjekt auf sich selbst ausgehende Wirkungs- und Transformationskraft“¹⁶ zunutze machen. Zwar bestehen zwischen katholischem und evangelischem Selbstverständnis Unterschiede hinsichtlich der Verhältnisbestimmung der Theologie gegenüber der Kirche. Unstrittig ist aber die praktische Funktion akademischer Theologie: Sowohl dem katholischen als auch dem protestantischen Verständnis hat die akademische Theologie als eine positive Wissenschaft (Schleiermacher) die Ausbildung von theologisch qualifiziertem Personal für die Arbeit in Kirchge-

 Engelhardt, Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem, 160 – 61.  Unter Rückbezug auf das häufig zitierte Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde beschreibt Peter Strohschneider als der damalige Vorsitzende des Wissenschaftsrats (2006 – 2011) die Einführung islamischer Theologie als das Bemühen, „Freiheitsgarantien“ vonseiten des Staates mit der „Bindungswirkung“ von Theologie zusammenzubringen. Vgl. Peter Strohschneider, „Pluralisierung zwingt zum Vergleich von Weltorientierungen“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 2. 2012. Engelhardt übernimmt dieses Deutungsmuster für seine Analyse der Ausdifferenzierung islamischer Theologie im deutschen Wissenschaftssystem (vgl. Engelhardt, Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem, 61, 65, 129, 140, 328).  Kritisch zu diesem Machtmodell Tezcan, Das muslimische Subjekt.  Martin Saar, Genealogie als Kritik: Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault (Frankfurt a. M.; New York: Campus Verlag, 2007), 249.

370

Anne Schönfeld

meinden und Schulen zu gewährleisten. Mit Blick auf die Etablierung einer universitären islamischen Theologie bot analog dazu insbesondere die Aussicht auf eine Ausbildung von Imamen und anderem religiösen Personal innerhalb des deutschen Hochschulwesens einen wesentlichen Motor, der dem politischen Engagement in diesem Bereich enorme Dynamik und eine klare Stoßrichtung verlieh. Getreu dem Motto „Deutsche Imame für deutsche Probleme“¹⁷ wurden diese als neue Schlüsselfiguren bei der Bewältigung von Integrationsproblemen und der Bekämpfung von Terror und Extremismus ausgemacht. Die DIK hatte das Thema deshalb bereits unter Federführung des damaligen Innenministers Wolfgang Schäuble auf die Agenda genommen und engagierte sich mit Unterstützung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zunächst im Bereich der Konzeption und Durchführung von integrationsspezifischen Weiterbildungsprogrammen für in Deutschland tätige, zum größten Teil aus dem Ausland stammende Imame, betonte aber gleichzeitig, dass langfristig eine stärkere Formalisierung und Institutionalisierung der Imamausbildung im Sinne einer grundständigen universitären Ausbildung vonnöten sei.¹⁸ Diese politische Rhetorik aufgreifend legten insbesondere die Vertreter*innen der Universität Osnabrück ein eng an dieser gesellschaftlichen Bedarfslogik orientiertes Konzept für einen Studiengang Islamische Theologie vor, mit dem sie als eine der ersten Hochschulen den Zuschlag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung für den Aufbau eines eigenen Standorts erhalten konnten. Bereits vor dem Erscheinen der Empfehlungen des Wissenschaftsrats hatte man sich in Osnabrück für eine Imamausbildung an Universitäten eingesetzt.¹⁹ Die Curricula dafür waren

 So lautet eine Zwischenüberschrift in Bülent Uçar, „In der Mitte der Gesellschaft“, in The European, 3. 2. 2011, zugegriffen 11. 3. 2020, www.theeuropean.de/buelent-ucar/2878-wandeldurch-annaeherung. Der Autor war zu diesem Zeitpunkt bereits Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück und warb u. a. als Mitglied der zweiten DIK (Legislaturperiode 2009 – 2013) massiv für den Aufbau islamisch-theologischer Studien als Möglichkeit zu einer Institutionalisierung der Imamausbildung in Deutschland.  Deutsche Islam Konferenz. „Schlussfolgerungen des Plenums vom 17. Mai 2010: Künftiges Arbeitsprogramm“. Zugegriffen 1.4. 2021. https://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/ Anlagen/DE/Down-loads/LenkungsausschussPlenum/Plenum-arbeitsprogramm.pdf.  Laut der damaligen Vizepräsidentin der Universität Osnabrück für Studium und Lehre Martina Blasberg-Kuhnke beinhaltete bereits der im Sommersemester 2009 für den Standort verabschiedete Hochschulentwicklungsplan das Element der universitären Imamausbildung. Martina Blasberg-Kuhnke, „Islamische Theologie im Kontext der Zukunft der Theologie in Deutschland: Zur Bedeutung der Empfehlungen des Wissenschaftsrates“, in Institut für Islamische Theologie Osnabrück (IIT): Entwicklung, Zwischenstand und Perspektiven, hrsg. von Rauf Ceylan und Bülent Uçar (Berlin: Peter Lang, 2019), 25 – 38, hier 25; Siehe auch Martina Blasberg-Kuhnke, „Grußwort zur Internationalen Tagung ‚Imamausbildung in Deutschland. Islamische Theologie im europä-

Führung zur Selbstführung

371

im Rahmen einer interministeriellen Arbeitsgruppe unter Federführung des niedersächsischen Innenministeriums ausgearbeitet worden.²⁰ Tatsächlich ist die Ausbildung von Imamen in Deutschland schon seit den späten 1990er Jahren Gegenstand der politischen und wissenschaftlichen Diskussion. Tenor all dieser Debatten war stets, dass sich das Aufgabenspektrum von Imamen im europäischen Migrationskontext vervielfältigt habe und neben dem klassischen Tätigkeitsbereich der Gebetsleitung, der Freitagspredigt und der religiösen Unterweisung der Gemeindemitglieder inzwischen etwa auch seelsorgerische Tätigkeiten, die psychosoziale Beratung und Vermittlung bei Familienund Schulproblemen, die Repräsentation der Moscheegemeinde in der Öffentlichkeit sowie die Beteiligung an Dialogveranstaltungen umfasse.²¹ Diese Vervielfältigung von Aufgaben ist zum Teil ein Effekt der Migration und spiegelt die Bedeutung der Moschee als multifunktionales Zentrum der Gemeinde.²² Die neue Rolle als „Multiplikator“ wurde den Imamen aber gleichsam aktiv zugeschrieben, wie folgendes Zitat von Rauf Ceylan belegt: Imame sind […] wichtige Schlüsselpersonen in der muslimischen Community. Die Qualität ihrer (sprachlichen und theologischen) Ausbildung, ihre politische und religiöse Orientierung und ihre Einstellung zur deutschen Gesellschaft bzw. zum deutschen Staat werden in Zukunft darüber entscheiden, ob sich die Muslime erfolgreich in die hiesige Gesellschaft integrieren werden oder ob dieser Prozess zum Scheitern verurteilt ist.²³

Bereits 2009 erhielt Ceylan den Ruf auf eine Professur für Religionssoziologie an der Universität Osnabrück und begründete später gemeinsam mit Bülent Uçar das dortige IIT.²⁴ Mit seinem erstmals 2010 erschienenen Buch Die Prediger des Islam:

ischen Kontext‘“, in Imamausbildung in Deutschland. Islamische Theologie im europäischen Kontext, hrsg. von Bülent Uçar (Göttingen: V & R unipress, 2010), 15 – 17.  Bülent Uçar, „Einführungsrede ‚Imamausbildung in Deutschland. Islamische Theologie im europäischen Kontext‘“, in Imamausbildung in Deutschland. Islamische Theologie im europäischen Kontext, hrsg. von Bülent Uçar (Göttingen: V & R unipress, 2010), 37– 43, hier 38.  Melanie Kamp, „Prayer Leader, Counselor, Teacher, Social Worker, and Public Relations Officer – On the Roles and Functions of Imams in Germany“, in Islam and Muslims in Germany, hrsg. von Ala Al-Harmaneh und Jörn Thielmann (Leiden, Boston: Brill, 2008), 133 – 60, hier 143 – 44; Rauf Ceylan, Die Prediger des Islam: Imame – Wer sie sind und was sie wirklich wollen (Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2010), 26 – 27.  Melanie Kamp, „Mehr als Vorbeter: Zur Herkunft und Rolle von Imamen in Moscheevereinen“, in Islamisches Gemeindeleben in Berlin, hrsg. von Riem Spielhaus und Alexa Färber (Berlin: Der Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und Migration, 2006), 40 – 45, hier 42.  Ceylan, Die Prediger des Islam: Imame, 17.  Ceylans seit 2009 bestehende Professur war am kurz zuvor gegründeten Zentrum für Interkulturelle Islamstudien und ab 2012 am neu etablierten IIT angesiedelt. 2019 erfolgte ihre Um-

372

Anne Schönfeld

Imame – Wer sie sind und was sie wirklich wollen hatte Ceylan sich zum Stichwortgeber von Politik und Medien gemacht, als es die Notwendigkeit zu begründen galt, die Ausbildung von Imamen in Deutschland stärker zu formalisieren und zu institutionalisieren. 2018 – und damit sechs Jahre, nachdem das Osnabrücker IIT seine Arbeit aufgenommen hat – fällt seine Bilanz jedoch ernüchternd aus.²⁵ Die Berufsperspektiven für Absolvent*innen islamisch-theologischer Bachelor- und Master-Studiengänge seien etwa im Vergleich zu Lehramtsanwärter*innen deutlich schlechter. Dies liege zum einen daran, dass die Moscheegemeinden schlicht nicht über die Mittel verfügten, um Hochschulabsolvent*innen hauptberuflich einzustellen und angemessen zu vergüten. Zum anderen fehle es in den bestehenden Moscheegemeinden und ‐verbänden generell an Akzeptanz für die neuen Studiengänge. Ceylan konstatiert: „Hier ist die Befürchtung verbreitet, dass eine institutionelle Verwissenschaftlichung des Islam zu dessen Deformierung führen könnte.“²⁶ Noch immer stamme deshalb ein Großteil der in Deutschland tätigen Prediger aus den Herkunftsländern der Gemeindemitglieder und werde auch von dort bezahlt.²⁷ Desillusioniert zeigt sich auch Uçar, als er Ende desselben Jahres gegenüber der FAZ aufseiten der islamischen Verbände einerseits eine mangelnde Nachfrage nach in Deutschland ausgebildeten Theolog*innen und den daraus seiner Ansicht nach resultierenden Rückgang der Studierendenzahlen beklagt, andererseits das fehlende Bemühen, insbesondere von der türkischen Regierung unabhängig zu werden.²⁸ Letztere Einschätzung ist dabei wohl vor dem Hintergrund verschiedener Ereignisse zu betrachten, die das deutsch-türkische Verhältnis in den letzten Jahren nachhaltig strapaziert haben, darunter besonders die nach dem 2016 gescheiterten Militärputsch in der Türkei zu beobachtenden massenhaften

widmung in „Lehrstuhl für Gegenwartsbezogene Islamforschung“. Rauf Ceylan, „Die ‚Außenperspektive‘: Gegenwartsbezogene Islamforschung am Institut für Islamische Theologie“, in Institut für Islamische Theologie Osnabrück (IIT): Entwicklung, Zwischenstand und Perspektiven, hrsg. von Martina Blasberg-Kuhnke, Rauf Ceylan und Bülent Uçar (Berlin: Peter Lang, 2019), 93 – 114.Vgl. auch: Sebastian Stricker, „Uni Osnabrück atmet auf: Islamforscher Rauf Ceylan bleibt“, in Neue Osnabrücker Zeitung, 15. 10. 2019, zugegriffen 15.9. 2020, https://www.noz.de/loka-les/osnab rueck/artikel/1910054/uni-osnabrueck-atmet-auf-islamforscher-rauf-ceylan-bleibt.  Vgl. Rauf Ceylan und Andreas Jacobs, „Islam als Beruf: Beschäftigungsperspektiven für Absolventen der Studiengänge ‚Islamische Theologie‘ in Deutschland“, in Analysen & Argumente, Nr. 320 (Oktober 2018).  Ceylan und Jacobs, „Islam als Beruf“, 7.  Ceylan und Jacobs, „Islam als Beruf“, 6 – 7.  Lydia Rosenfelder, „Imam in Teilzeit. Die muslimischen Gemeinden müssen selbstständiger werden. Ein Vorschlag aus Niedersachsen könnte dabei helfen“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.12. 2018, 5.

Führung zur Selbstführung

373

Entlassungen von Angehörigen von Militär, Polizei, Justiz, Ministerien und Bildungseinrichtungen aus dem Staatsdienst sowie willkürliche Inhaftierungen von (auch aus Deutschland stammenden) Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Menschenrechtsaktivist*innen. Zu einer erneuten Problematisierung der türkischen Einflussnahme hatten auch die im Januar 2017 von der Bundesanwaltschaft wegen des Tatverdachts der Spionage gegen in Deutschland tätige DITIB-Imame eingeleiteten Ermittlungen geführt. Die türkischen Staatsbediensteten seien dazu aufgefordert gewesen, Informationen über mutmaßliche GülenAnhänger zu sammeln, die die türkische Regierung für den Putschversuch verantwortlich macht. Obgleich der Bundesgerichtshof den Erlass von Haftbefehlen gegen sechs Imame und einen Funktionär der türkischen Religionsbehörde zuletzt abgelehnt hatte, da ein dringender Tatverdacht nicht bestätigt werden konnte, wurden in den Folgejahren etwa die Fördergelder der Bundesregierung für DITIB-Moscheen massiv gekürzt.²⁹ Auch wurden die Verhandlungen um einen sogenannten Staatsvertrag mit Vertreter*innen muslimischer Organisationen auf niedersächsischer Landesebene gestoppt und bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht wieder aufgenommen.³⁰ Zuletzt beschloss die hessische Landesregierung in Bezug auf die Erteilung eines bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts, die Kooperation mit dem DITIB-Landesverband Hessen mit Beginn des Schuljahres 2020/21 auszusetzen, da sich auf Grundlage mehrerer unabhängiger Gutachten Zweifel hinsichtlich der institutionellen Unabhängigkeit von der türkischen Regierung nicht ausräumen ließen. Als Ersatz wird ein bereits 2019 begonnener Schulversuch mit einem Islamunterricht ohne Beteiligung von Religionsgemeinschaften entsprechend ausgeweitet.³¹ Die hohen politischen Erwartungen hinsichtlich einer Professionalisierung und Akademisierung der Imamausbildung haben sich während der ersten zehn Jahre nach den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Etablierung islamischtheologischer Studiengänge somit nicht erfüllt. Entgegen der ursprünglichen is-

 Vgl. Lena Kampf und Georg Mascolo, „Gericht lehnt Erlass von Haftbefehlen gegen Imame ab“, in Süddeutsche Zeitung, 22. 10. 2017, zugegriffen 15.9. 2020, https://www.sueddeutsche.de/po litik/ditib-spitzelaffaere-gericht-lehnt-erlass-von-haftbefehlen-gegen-imame-ab-1.3719592.  Für die Hintergründe vgl. etwa Wolfgang Reinbold, „Islam in Niedersachsen. Ein Rückblick auf die letzten 10 Jahre“, in Institut für Islamische Theologie Osnabrück (IIT): Entwicklung, Zwischenstand und Perspektiven, hrsg. von Martina Blasberg-Kuhnke, Rauf Ceylan und Bülent Uçar (Berlin: Peter Lang, 2019), 5 – 24.  Presseerklärung des Hessischen Kultusministeriums (inkl. Verweis auf die externen Gutachten), 28.4. 2020: „Islamischer Religionsunterricht in Zusammenarbeit mit DITIB Hessen wird ab dem kommenden Schuljahr nicht mehr erteilt“, zugegriffen 23. 5. 2020, https://kultusministerium. hessen.de/presse/pressemitteilung/isla-mischer-religionsunterricht-zusammenarbeit-mit-ditibhessen-wird-ab-dem-kommenden-schuljahr.

374

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lampolitischen Zielformulierung sieht eine Mehrheit muslimischer Theolog*innen die Ausbildung von Imamen auch nicht als primäre Aufgabe der Studiengänge, sondern der muslimischen Religionsgemeinschaften. Die Universität könne lediglich Kooperationspartnerin sein und mit der notwendigen theologischen Expertise zu diesem Vorhaben beitragen.³² Analog zur Ausbildung von Pfarrer*innen und Priestern bei den christlichen Kirchen müsse die Imamausbildung demnach an eigenen Ausbildungsinstituten stattfinden, schlägt etwa die katholische Theologin und Professorin für Pastoraltheologie und Religionspädagogik Martina Blasberg-Kuhnke von der Universität Osnabrück vor.³³ Da sich die islamischen Verbände in ihrem Institutionalisierungsprozess zwar am kirchlichen Strukturmodell orientiert haben, ihr Rechtsstatus aber nach wie vor ungeklärt ist, fehle es jedoch auch in dieser Hinsicht an entsprechenden Finanzierungsmöglichkeiten.³⁴ Angesichts der von Anfang an hohen Bedarfs- und Anwendungsorientierung am Standort Osnabrück überrascht es nicht, dass sich die Pläne zur Gründung eines sogenannten Imamseminars nun ebenfalls auf Initiative des IIT konkretisieren. Um endlich eine grundständige Imamausbildung realisieren zu können, gelte es zunächst bundesweit mindestens zwei Lehrstühle für islamische praktische/pastorale Theologie einzurichten, schreibt Esnaf Begić, der gegenwärtig als Postdoc am IIT assoziiert ist.³⁵ Mit Blick auf die Qualifizierungsmöglichkeiten von Absolvent*innen islamisch-theologischer Studiengänge für den Beruf des Imams hatte Ceylan in einer im Juni 2019 veröffentlichten Expertise³⁶ noch festgestellt:

 Engelhardt, Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem, 261.  N. N., „Universität Osnabrück: ‚Wir bilden keine Imame aus, das wollen wir auch gar nicht‘“, in Die Welt, 26.11. 2017, zugegriffen 15.10. 2019, https://www.welt.de/politik/deutschland/arti cle170979829/Wir-bilden-keine-Imame-aus-das-wollen-wir-auch-gar-nicht.html. Diese Aussage steht im Widerspruch zur Idee einer grundständigen universitären Imamausbildung, die BlasbergKuhnke in ihrer vormaligen Funktion als Projektleiterin für den Aufbau des IIT öffentlich vertreten sowie gegenüber dem Bundesforschungsministerium und dem Land Niedersachsen auch aktiv beworben haben dürfte (siehe Fn. 19).  N. N., „Universität Osnabrück: ‚Wir bilden keine Imame aus, das wollen wir auch gar nicht‘“; Ceylan und Jacobs, „Islam als Beruf“, 5 – 6. Ein diskutierter Vorschlag zur Gewährleistung der Finanzierung lautet, Theolog*innen, die als Imame und Seelsorger*innen tätig werden möchten, parallel in Teilzeit als Religionslehrer*innen an Schulen zu beschäftigen.  Esnaf Begić, „Die Zukunft der Islamischen Theologie in Deutschland: Zwischen dem Selbstzweck im Elfenbeinturm und der Praxis in der Moscheegemeinde“, in Institut für Islamische Theologie Osnabrück (IIT): Entwicklung, Zwischenstand und Perspektiven, hrsg. von BlasbergKuhnke, Rauf Ceylan und Bülent Uçar (Berlin: Peter Lang, 2019), 241– 57, hier 253.  Pressemitteilung der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft, 18.6. 2019, „Imamausbildung in Deutschland – AIWG veröffentlicht Expertise“, zugegriffen 27.5. 2020, https://aiwg.de/pm-imamausbildung-in-deutschland-aiwg-veroeffentlicht-expertise.

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Bestehende Ausbildungs- und Einstellungspraxen von Imamen blieben bisher von dem theoretischen Wissens- und Ausbildungsangebot der islamisch-theologischen Studien weitgehend unberührt. Am Imamberuf interessierte Studierende sowie Gemeinden, die in Deutschland studierte Kandidaten einstellen möchten, finden bisher nicht zueinander.³⁷

Um hier Abhilfe zu schaffen, empfiehlt Ceylan, im Land Niedersachsen ein „Imamseminar“ als Modellprojekt aufzubauen, das in gemeinsamer Verantwortung von Religionsgemeinschaften, islamischen Theolog*innen (aus Osnabrück) sowie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens umgesetzt werden soll.³⁸ Ziel einer solchen Einrichtung sei es, eine stärkere Standardisierung der Ausbildungsinhalte zu erreichen, was in besser überprüfbaren Einstellungskriterien für das Gemeindepersonal resultiere.³⁹ Das Curriculum solle sowohl Predigtlehre, Koranrezitation und Liturgie umfassen als auch praktische Erfahrungen im Bereich Gemeindepädagogik und Seelsorge ermöglichen und beispielsweise auch ein Basiswissen zu religiös-praktischen Fragen sowie Kompetenzen im Bereich Organisationsmanagement und Mediennutzung vermitteln, wie Ceylan im Rahmen seiner Expertise aus Gesprächen mit Gemeinden in Niedersachsen schlussfolgert.⁴⁰ Kurz nach ihrer Veröffentlichung wird Ceylans Empfehlung bereits in die Tat umgesetzt, indem der künftige Trägerverein des Modellprojekts, Islamkolleg Deutschland e.V., auf Initiative von Akteur*innen ins Leben gerufen wird, die eng mit dem IIT in Osnabrück in Verbindung stehen.⁴¹ Politische Unterstützung für

 Rauf Ceylan, „Imamausbildung in Deutschland: Perspektiven aus Gemeinden und Theologie“, zugegriffen 27.5. 2020, https://aiwg.de/wp-content/uploads/2019/06/AIWG-Expertise_Imam-Ausbil dung.pdf, 32.  Ceylan, „Imamausbildung in Deutschland“, 27– 28. Ceylans Kollege Uçar machte derartige Überlegungen bereits im Dezember 2018 öffentlich. In dem in Fn. 28 zitierten Zeitungsartikel heißt es: „Deswegen fordert Uçar ein besonderes Imamseminar: eine Ausbildung von Predigern in einer unabhängigen Institution. Das Seminar soll offen für alle Muslime sein und wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Der Wissenschaftsminister soll das Seminar einrichten.“ Ähnliche Aussagen trifft Begić in, Religionen im Gespräch: Wie studiert man Imam?, 14.12. 2018, https://youtu. be/rL8Huz8o-bE.  Ceylan, „Imamausbildung in Deutschland“, 20.  Ceylan, „Imamausbildung in Deutschland“, 20 – 23.  Vorsitzender des Vereins ist der bereits erwähnte muslimische Theologe Begić, der seit der Gründung des Instituts dort Lehrveranstaltungen gibt, 2017 am IIT promoviert und anschließend als Postdoc beschäftigt wurde. Bülent Ucar ist neben seiner Tätigkeit als Direktor des IIT Osnabrück gleichzeitig wissenschaftlicher Direktor des Islamkollegs. Die Universität Osnabrück stehe dem Projekt beratend zur Seite, der Verein agiere jedoch eigenständig und stehe weder in der Verantwortung der Universität noch des IIT direkt, so Universitätspräsidentin Susanne MenzelRiedl. N. N., „Ditib nicht einverstanden: Imamausbildung in Deutschland startet“, in DTJ Online,

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das Projekt gibt es sowohl auf Landes- wie auch auf Bundesebene. Schon der Koalitionsvertrag von SPD und CDU im niedersächsischen Landtag (für die 18. Wahlperiode von 2017– 2022) sieht vor, dass „[a]ufbauend auf die seit 2010 bundesweit anerkannten Imam-Weiterbildungsangebote an der Universität Osnabrück […] eine grundständige Imam-Ausbildung eingerichtet werden“⁴² soll. Auch die aktuelle DIK rückt die Institutionalisierung und Professionalisierung der Imamausbildung wieder stärker in den Fokus der islampolitischen Agenda und setzt dabei erneut auf die Kooperation mit dem Standort Osnabrück.⁴³ Das Bundesinnenministerium unterstützt das Modellvorhaben entsprechend mit mindestens 400.000 EUR aus dem Bundeshaushalt 2020, wie die Neue Osnabrücker Zeitung berichtet.⁴⁴ Eine Finanzierung aus Mitteln der DIK für weitere fünf Jahre ist vorgesehen.⁴⁵ 22.11. 2019, https://dtj-online.de/ditib-nicht-einverstanden-imamausbildung-in-deutschland-star tet/; N. N., „Muslime kritisieren geplantes ‚Islamkolleg‘“, in IslamiQ, 22.11. 2019, http://www.isla miq.de/2019/11/22/muslime-kritisieren-geplantes-islamkolleg/.  Vgl. Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und CDU, „Gemeinsam für ein modernes Niedersachsen. Für Innovation, Sicherheit und Zusammenhalt: Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Landesverband Niedersachsen und der ChristlichDemokratischen Union (CDU) in Niedersachsen für die 18. Wahlperiode des Niedersächsischen Landtages 2017– 2022“, zugegriffen 1.4. 2021, https://cdu-niedersachsen.de/wp-content/uploads/ 2017/11/11-16_Koalitionsvertrag_final.pdf, 29.  So fand etwa im Juni 2019 ein Workshop in Hannover mit Vertreter*innen muslimischer Dachverbände zum Thema „Ausbildung religiösen Personals islamischer Gemeinden“ statt, bei dem Ceylans Studie erstmals präsentiert wurde. DIK, „Ausbildung von religiösem Personal islamischer Gemeinden“, 6.9. 2019. Zugegriffen 1.4. 2021. https://www.deutsche-islam-konferenz. de/SharedDocs/Meldungen/DE/ImDialog/dik-workshop-inhalt.html. Im Januar 2020 folgte ein zweites Treffen, bei dem bestehende und neu geplante Ausbildungsprogramme vorgestellt wurden. DIK, „Runder Tisch zur Ausbildung von religiösem Personal islamischer Gemeinden“, 17.1. 2020. Zugegriffen 1.4. 2021. https://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Mel-dungen/ DE/ImDialog/dik-runder-tisch.html. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch der neue Förderansatz der DIK „Moscheen für Integration“; vgl. https://www.deutsche-islam-konferenz. de/SharedDocs/An-lagen/DE/Downloads/Sonstiges/moscheen-fuer-integration-auf-einen-blick. pdf, zugegriffen 1.4. 2021.  Vgl. Stefanie Witte, „Deutschland bildet künftig Imame aus – Pilotprojekt in Osnabrück“, in Neue Osnabrücker Zeitung, 21.11. 2019, zugegriffen 27. 5. 2020, https://www.noz.de/deutschlandwelt/po-litik/artikel/1939095/islamkolleg-imamseminar-imame-ditib-zentralrat-uni-osnabrueckiit. Siehe auch: Amory Burchard, „Durchbruch für die deutsche Islamtheologie: Osnabrücker Professoren bereiten Imam-Ausbildung vor“, in Der Tagesspiegel, 21.11. 2019, zugegriffen 27.5. 2020, https://www.tagesspiegel.de/wissen/durchbruch-fuer-die-deutsche-islamtheologie-osnab ruecker-professoren-bereiten-imam-ausbildung-vor/25252940.html; N. N., „Deutschland will künftig Imame ausbilden – Pilotprojekt startet: ‚Starke Signalwirkung‘“, in Domradio.de, 21.11. 2019, zugegriffen 27. 5. 2020, https://www.domradio.de/themen/islam-und-kirche/2019-11-21/ deutschland-will-kuenftig-imame-ausbilden-pilotprojekt-startet.

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Als größte Herausforderung benennt Ceylan die in seinen Augen zwingend notwendige konfessions- und rechtsschulübergreifende Ausrichtung der Einrichtung, die eine Zusammenarbeit von liberalen und konservativen islamischen Verbänden voraussetze und für Interessent*innen aus dem gesamten Bundesgebiet offen stehe.⁴⁶ Am neuen „Islamkolleg“ beteiligt sind u. a. der Zentralrat der Muslime, die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland, der Zentralrat der Marokkaner in Deutschland und der Verband Muslime in Niedersachsen. Letzterer hatte sich erst zu Beginn des Jahres 2019 und ebenfalls unter Mitwirkung von Absolvent*innen und Mitarbeiter*innen des IIT gegründet, nachdem die mögliche Einflussnahme der türkischen Regierung infolge des gescheiterten Putsches auch unter den Mitglieder*innen der beiden großen bis dahin bestehenden Moscheeverbände DITIB und Schura Niedersachsen zu Spaltungen geführt hatte.⁴⁷ Als sich das Vorhaben „Imamseminar“ in Niedersachsen zu materialisieren beginnt, geht zunächst der DITIB-Bundesverband in die Offensive und kündigt ein eigenes Programm zur Ausbildung islamischer Religionsbediensteter in Deutschland an, das im Januar 2020 in einer eigens dafür eingerichteten Bildungsstätte im nordrhein-westfälischen Dahlem angelaufen ist.⁴⁸ Auch die Schura, als der mit über 90 Gemeinden größte islamische Verband in Niedersachsen, denkt offenbar laut darüber nach, gemeinsam mit anderen Landesverbänden ein eigenes Ausbildungsprogramm aufzubauen, das „unabhängig von den Herkunftsländern und unabhängig vom Modell in Osnabrück“⁴⁹ sei, wie aus einem Gespräch von dessen Vorsitzendem Recep Bilgen mit

 Am 17.7. 2020 kündigte das IIT über seine Facebook-Seite an, dass das Islamkolleg zum Ende des Jahres seine Arbeit aufnehmen werde, und machte die Finanzierung von insgesamt zwölf Stellen aus Mitteln der im BMI angesiedelten DIK öffentlich.  Ceylan, „Imamausbildung in Deutschland“, 31.  Bärbel Hilbig, „Muslime in Niedersachsen gründen Moscheeverband“, in Hannoversche Allgemeine, 29.1. 2019, zugegriffen 27. 5. 2020, https://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/IslamMuslime-in-Niedersachsen-gruenden-Moscheeverband.  Pressemitteilungen von DITIB, zugegriffen 27. 5. 2020, „DITIB startet Ausbildung zu Islamischen Religionsbeauftragen: Auftaktveranstaltung in Dahlem“ (9.1. 2020), http://www.ditib.de/de tail1.php?id=689; und „DITIB-Bundesvorsitzender Türkmen im regelmäßigen Gespräch mit der Presse“ (11.7. 2019), http://www.ditib.de/detail1.php?id=680; Vgl. auch: DIK, „Runder Tisch zur Ausbildung von religiösem Personal islamischer Gemeinden“.  Hilde Weeg, „Modellprojekt an Uni Osnabrück: Imam-Ausbildung in Niedersachsen“, in Deutschlandfunk Kultur, 18.6. 2020, zugegriffen 27. 5. 2020, https://www.deutschlandfunkkultur. de/modellprojekt-an-uni-osnabrueck-imam-ausbildung-in.1001.de.html?dram:article_id= 478866.

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dem Deutschlandfunk hervorgeht. Kritiker*innen,⁵⁰ die die staatliche Unterstützung der Osnabrücker Initiative als den Versuch deuten, die bestehenden Ausbildungs- und Einstellungspraxen der muslimischen Religionsgemeinschaften auszuhebeln, begegnet der Staatssekretär im BMI Markus Kerber anlässlich der Eröffnung der DITIB-Ausbildungsstätte so: In der Deutschen Islam Konferenz geht es nicht um die Etablierung eines bundesweit einheitlichen Ausbildungsmodells. Dies entspräche weder der Vielfalt der islamischen Gemeinden in Deutschland noch dem geltenden Religionsverfassungsrecht.Vielmehr bedarf es verschiedener Ansätze, die den jeweils eigenen Bedürfnissen der Gemeinden entsprechen. Dies können verbandsinterne Ansätze sein, wie hier und heute bei DITIB, es können aber auch verbandsübergreifende, wissenschaftsnahe Ansätze sein, wie dem von Osnabrück.⁵¹

Auch den Vorwurf, es handle sich bei dieser staatlichen Förderung um einen Bruch mit dem im Grundgesetz verankerten Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, weist Kerber in aller Schärfe zurück und macht indes auf die dem deutschen Religionsverfassungsrecht nach legitimen Kooperationsmöglichkeiten zwischen Staat und Religionsgemeinschaften aufmerksam.⁵² An dieser Stelle tun sich einige bemerkenswerte Parallelen zur Entstehungszeit der Idee des Erziehungs- und Kulturstaates auf, welcher bis heute das Recht für sich reklamiert, auf dem Gebiet von Bildung, Wissenschaft und Religion zu intervenieren. Denn für die Durchsetzung dieser Vorstellung während der preußischen Reformära bildete die universitäre Theologie einen neuralgischen Punkt.⁵³ Karl Freiherr von Stein zum Altenstein, der 1817 erster Kultusminister von Preußen wurde, war es ein wichtiges Anliegen, die Ausbildung der protestantischen Geistlichen zu verbessern und ihre Qualifizierung auf der Grundlage von wissenschaftlichen Standards zu vereinheitlichen, um sie dazu zu befähigen,

 Vgl. etwa die Pressemitteilung der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş vom 22.11. 2019: „Staatliche Intervention bei Imam-Ausbildung“, zugegriffen 27. 5. 2020, https://www.igmg.org/ staatliche-intervention-bei-imam-ausbildung/.  BMI, „Grußwort des Staatssekretärs im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat Dr. Markus Kerber anlässlich der Eröffnung des Ausbildungsprogramms für islamische Religionsbeauftragte der DITIB-Akademie am 9. Januar 2020 in Dahlem (Eifel/NRW)“, zugegriffen 1.4. 2021, https://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Sonsti ges/grusswort-kerber-runder-tisch.pdf .  BMI, „Grußwort“, 7– 8.  Vgl. etwa Thomas Albert Howard, Protestant Theology and the Making of the Modern German University (New York: Oxford University Press, 2006); Tomoko Masuzawa, „The University and the Advent of the Academic Secular: The State’s Management of Public Instruction“, in After Secular Law, hrsg. von Winnifred F. Sullivan, Robert A.Yelle und Mateo Taussig-Rubbo (Stanford: Stanford University Press, 2011), 119 – 39.

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„echten religiösen Sinn zu begründen“.⁵⁴ Zwar galt für ihn auch, dass sich der Staat nicht in die theologische Untersuchung der Religion einzumischen habe, denn „[i]n allem was wahre Religion ist, muß gänzliche Freiheit sein“.⁵⁵ Die Kontrolle und Entscheidung darüber, was die wahre, echte Religion sei, lag für ihn jedoch eindeutig beim Souverän. Der sich darin offenbarende Widerspruch scheint bis heute im Selbstverständnis des säkularen Kulturstaates angelegt zu sein, wie die hier skizzierte Diskussion um die (Il‐)Legitimität einer staatlich geförderten grundständigen Imamausbildung belegt. Auch Altenstein beschäftigte die Frage, wie die Besoldung von Predigern und Pastoren gewährleistet werden könne. Ziel sei es nicht, sie in den Dienst des Staates zu stellen, um sie als „Gesetzesherold, Aufpasser und Polizeibedienten“⁵⁶ zu gebrauchen. Vielmehr bestand die lebenspraktische Bedeutung ihrer Tätigkeit als Geistliche für ihn in der Aufgabe der Seelsorge, und dieser könnten sie sich nur dann vollends widmen, sofern sie frei von materiellen Sorgen sind.⁵⁷ Welche Konzeptionen von Seelsorge in den aktuellen Debatten um eine Akademisierung der Ausbildung von muslimischem religiösem Personal zum Ausdruck kommen und wie sich darin alte und neue Varianten von Pastoralmacht spiegeln, nehmen die nachfolgenden Abschnitte in den Blick.

2 Alte und neue Formen der Pastoralpraxis Imame, Gemeindepersonal, Religionslehrer*innen, Sozialarbeiter*innen und neuerdings muslimische Seelsorger*innen gelten bei der Hervorbringung und Ver Karl Freiherr von Stein zum Altenstein, „Aus der Denkschrift Altensteins für Hardenberg, Riga, den 11. September 1807“, in Das Preußische Kultusministerium vor hundert Jahren, hrsg. von Ernst Müsebeck (Stuttgart, Berlin: S. G. Gottasche Buchhandlung, 1918), 258.  Altenstein, „Aus der Denkschrift Altensteins für Hardenberg“, 257.  Altenstein, „Aus der Denkschrift Altensteins für Hardenberg“, 260. Unter dem Begriff der Polizei versteht Altenstein weitaus mehr als eine Ordnungsinstanz des Staates. Wie der Herausgeber der Schrift Archivrat Ernst Müsebeck 1918 in einer Fußnote erläutert, fasst Altenstein darunter „alle Zweige der Staatsverwaltung mit Ausschluß der Leitung der Auswärtigen Angelegenheiten, des Militär-, Finanz- Religions- und Justizwesens. So soll die Polizei eigentlich das Gebäude der Staatsverfassung sichern; sie ist zugleich das wichtigste Mittel, die Bedingung zur Ausführung des höchsten Zwecks des Staates zu gewährleisten, muß sich in die Idee des Staates verkörpern“ (ebd., 241). Altenstein unterstreicht durch diese Verwendung die Allzuständigkeit des Staates und spricht u. a. von der „Polizei der Wissenschaften und Künste“, die eine gewichtige Rolle für Erziehung und Unterricht der Bürger innehabe. Dabei komme es weniger auf die Vermittlung von Kenntnissen an, als vielmehr auf „die gehörige Ausbildung des Geistes und der Gefühle im allgemeinen“ (ebd., 248).  Altenstein, „Aus der Denkschrift Altensteins für Hardenberg“, 260.

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breitung der eingangs angesprochenen Bildungseffekte in den Religionsgemeinschaften als Schlüsselfiguren. Sowohl diesen Zielgruppen islamisch-theologischer Studiengänge als auch deren wissenschaftlichem Lehrpersonal wird dabei eine pastorale Rolle und Funktion zugeschrieben. Für Foucault ist das wesentliche Charakteristikum der Pastoralpraxis die Vorstellung, dass der Einzelne Zeit seines Lebens auf Führung angewiesen ist und die „richtige“ Lebensführung mit einem Heilsversprechen verbunden wird. Während sich in der ursprünglichen christlichreligiösen Konzeption als Hirte-Herde-Beziehung zunächst der Pastor und später die Kirche als Pastoralinstitution um das Seelenheil der Gläubigen sorgt und ihre Führung übernimmt, integriert der moderne Staat diese Form der Menschenführung als Machttechnik in verschiedenste Institutionen wie Familie, Medizin, Psychiatrie, Bildungswesen und Arbeitgeber, die statt dem Seelenheil im Jenseits nun das individuelle Heil im Diesseits gewährleisten sollen.⁵⁸ Dass das Thema der Imamausbildung längst nicht nur in Deutschland auf so große politische Resonanz gestoßen ist⁵⁹ und die Islamische Theologie in den öffentlichen Debatten zeitweise auf eben diese Bedarfsorientierung verkürzt wurde, kann als Effekt davon gesehen werden, dass die Pastoraltechnologie sowie die damit verbundenen Regierungstechniken und ‐praktiken ein elementarer Bestandteil der politischen Rationalität des modernen Staates sind und die Indienstnahme von Imamen für die bevölkerungspolitische Integration des Islams deshalb ebenso naheliegend wie effektiv erschien. Ob und in welchem Umfang den Religionsgemeinschaften innerhalb der öffentlichen Universität Interventions- und Mitwirkungsrechte an wissenschaftlicher Theologie einzuräumen sind, ist von jeher umstritten.⁶⁰ Wie die jüngsten Entwicklungen in Niedersachsen vor Augen führen, sind die religionsrechtlichen und religionspolitischen Maßnahmen zur Einrichtung einer akademischen islamischen Theologie im Sinne einer Strukturmacht konstitutiv für die Sozialgestalt

 Michel Foucault, „Das Subjekt und die Macht“, in Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, hrsg. von Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow (Frankfurt a. M.; Weinheim: Beltz Athenäum Verlag, 1994), 247– 50.  Vgl. etwa Willem B. Drees und Pieter Sjoerd van Koningsveld, Hrsg., The Study of Religion and the Training of Muslim Clergy in Europe: Academic and Religious Freedom in the 21st Century (Leiden: Leiden University Press, 2008); Ednan Aslan, Evrim Erşan Akkılıç und Jonas Kolb, Imame und Integration (Wiesbaden: Springer, 2015); Hansjörg Schmid, Mallory Schneuwly Purdie und Andrea Lang, „Islambezogene Weiterbildung in der Schweiz. Bestandsaufnahme und Bedarfsanalyse“ (Freiburg: Schweizerisches Zentrum für Islam und Gesellschaft, 2016); Mohammed Hashas, Jan J. d. Ruiter und Niels V. Vinding, Hrsg., Imams in Western Europe: Developments, Transformations, and Institutional Challenges (Amsterdam: Amsterdam University Press, 2018).  Zur kontrovers geführten Debatte um die „Bekenntnisorientierung“ universitärer Islamischer Theologie vgl. die Beiträge von Schulze und Engelhardt in diesem Band.

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des Islams in Deutschland. Dagegen ist die pastorale Machtspezifik eher eine Konditionalmacht, die über die Seele des Menschen operiert und sein Selbstverhältnis im Sinne von Denken und Fühlen, Einstellungen, Überzeugungen, Bewusstsein oder Glaube vorab figuriert.⁶¹ Der Heilszustand im Diesseits besteht dabei vor allem im Zustand des Normalseins. Indem sie die Konditionen bestimmt, unter denen Individuen handeln, wie es „gut“ für sie ist, und Entscheidungen treffen, die zu ihrer Verbesserung (sprich: ihrem Heil) durch Normalisierung führen, entfaltet die Pastoralmacht ihre normative Kraft. Sie basiert auf einer Dezentrierung der Macht weg vom Staatsapparat hinein in die gesellschaftliche Arena, in der Individuen, die nach dem Zustand des Normalseins streben, Unterstützung durch eine pastorale Figur suchen, die ihnen hilft, ihre Handlungen und Entscheidungen dahingehend zu steuern.⁶² Dass diese spezifisch christliche und sich im modernen Staat verallgemeinernde Pastoraltechnologie so umfassend und gleichzeitig subtil wirkt, ist dem Umstand geschuldet, dass sie gerade nicht repressiv-autoritär, sondern – wie am Konzept der „Seelsorge“ deutlich wird – fürsorglich und selbstlos auftritt. Als moderne „Führung zur Selbstführung“ wird das Selbstverhältnis jedoch nicht allein über die Instanz eines externalisierten Hirten, sondern vielmehr über den impliziten, inkorporierten Hirten figuriert, denn – so Klostermeier mit Blick auf die Anschlussfähigkeit der Pastoralpraxis an eine neoliberale Rationalität: „Jeder und jede ist für sich selbst verantwortlich.“⁶³ Die gesellschaftliche Arena wache hier wie ein Panoptikum über die Selbstkonstituierung der Akteur*innen. Unabdingbare Voraussetzung der Selbstführung ist Wissen, denn, so Klostermeier weiter: „Hirte seiner selbst zu sein bedeutet, unablässig Wahrheit über sich selbst zu produzieren“.⁶⁴ Das christliche Pastorat hat hierfür eine Reihe von Techniken und Verfahren entwickelt, um die innere Wahrheit der Individuen zu ergründen, allen voran das umfassende und andauernde Geständnis, wie es sich in Gestalt der Beichte darstellt. In enger Anlehnung an Foucault rekonstruiert Norbert Ricken die Säkularisierung der Pastoralmacht anhand der Genese des deutschen Bildungsdenkens und arbeitet dessen christlich-theologische Ursprünge heraus. Als zentrales Mo-

 Norbert Ricken, Die Ordnung der Bildung: Beiträge zu einer Genealogie der Bildung (Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2006), 98.  Aimee Howley und Richard Hartnett, „Pastoral Power and the Contemporary University: A Foucauldian Analysis“, in Educational Theory 42, Nr. 3 (1992): 272.  Birgit Klostermeier, Das unternehmerische Selbst der Kirche: Eine Diskursanalyse (Berlin: De Gruyter, 2011), 61.  Klostermeier, Das unternehmerische Selbst der Kirche, 62. Siehe auch: Foucault, „Das Subjekt und die Macht“, 248.

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ment einer verallgemeinerten, säkularisierten Form der Pastoralmacht habe der Bildungsbegriff wesentlich dazu beigetragen, dass sich diese Machtfigur als Element der „Regierungskünste“ (Foucault) des modernen Nationalstaates etablieren konnte, und zwar nicht zuletzt, indem er einer „Effektivierung der Macht“ durch ihre „zunehmende Verbergung und Tieferlegung“ Vorschub leistete.⁶⁵ Indem die Macht nicht länger (ausschließlich) von außen und in Gestalt von Zwang und Unterdrückung wirkt, sondern „sich als stellvertretende Sorge, Verantwortung und ‚Lebensermöglichung‘ auszugeben vermag, indem sie sich im Selbstverhältnis der Menschen einnistet und dieses von innen figuriert“,⁶⁶ vertieft sie sich und wird gleichzeitig unsichtbar. Da Foucaults knappe Skizzierung der Grundzüge der christlichen Pastoralmacht erkennbar durch eine „katholische“ Perspektive geprägt sei, die wohl auf die Dominanz der katholischen Kirche in Frankreich und Europa zurückgehe, weist Ricken auf die Notwendigkeit hin, diese Betrachtung um die Verschiebung der christlichen Pastoral durch den Protestantismus zu ergänzen.⁶⁷ Die Reformation habe dabei […] nicht zu einer Aufhebung der ‘Führung der Führungen‘, sondern insgesamt zu einer verstärkten Individualisierung, Verinnerlichung und Privatisierung derselben geführt […], die sich vor allem der Weigerung Luthers verdankt, die Stellung und Heilsnotwendigkeit der Kirche rechtlich und sakramental zu begründen und festzuschreiben.⁶⁸

Wie Ricken anhand der Praxis der Beichte als der „religiös-theologisch wie lebensweltlich wohl bedeutsamste[n] christliche[n] ‚Technologie des Selbst‘“ nachvollzieht,⁶⁹ wurden die pastoralen Techniken von protestantischer Seite eher fortgeschrieben als konterkariert und dabei gleichzeitig vertieft und intensiviert. Während sich die Beichte als in frühchristlicher Zeit begründetes Sakrament zunächst auf einzelne als Sünden verstandene äußere Handlungen bezog, die durch das Eingeständnis verbüßt werden konnten, verschob sich ihr Schwerpunkt bereits ab dem 12. Jahrhundert zunehmend auf die diesen Handlungen zugrundeliegenden Intentionen, sodass es mehr und mehr die innere Haltung war, die

    

Ricken, Die Ordnung der Bildung, 82. Ricken, Die Ordnung der Bildung, 229. Ricken, Die Ordnung der Bildung, 229. Ricken, Die Ordnung der Bildung, 229. Ricken, Die Ordnung der Bildung, 230.

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als Sünde galt und folglich nur durch Bewusstmachung der Handlungsmotivation und zunehmende Selbstkontrolle getilgt werden konnte.⁷⁰ Alois Hahn stellt heraus, dass es durch Luther zu einer folgenreichen „Zweiteilung“ der Beichte in eine individualisierte innere Selbststeuerung durch das Gewissen und eine durch Priester und Gemeinde gewährleistete äußere disziplinierende Fremdkontrolle kam.⁷¹ Die Funktion des Priesters ist in diesem Zusammenhang folglich auch eine zweigeteilte, so Ricken ergänzend: Der „‚Pastor‘, Beichtvater oder geistliche Begleiter“ fungiere gleichzeitig „als Richter und Zeuge eines durch Fremdkontrolle inszenierten Prozesses zunehmender Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung“⁷². Die Ausdifferenzierung dieser pastoralen Technik wurde dabei gegenreformatorisch gerade nicht zurückgedrängt, sondern auch innerhalb der katholischen Dogmatik aufgegriffen und verstärkt. Die „Entdeckung“ der Intentionalität führte zu einem neuen Handlungsverständnis, wie Max Weber es exemplarisch bei den puritanischen protestantischen Sekten beobachtet hat: Das Heil hing nun nicht mehr von einzelnen guten Taten ab, sondern es galt, die gesamte Lebensführung einer systematischen Kontrolle zu unterwerfen.⁷³ Folgt man Ricken dahingehend, dass „die pädagogische Figur selbst als ein säkularisiertes Pastorat verständlich gemacht werden kann“,⁷⁴ weil sie sich in spezifischer Weise der im Rahmen der christlichen „Seelsorge“ entwickelten Führungstechniken bedient, so verweisen die gleichermaßen am christlichen Paradigma orientierten Bemühungen um eine Professionalisierung und Institutionalisierung der Ausbildung von Imamen und muslimischen Seelsorger*innen gleich in mehrfacher Hinsicht auf den pastoralen Machttypus. Welche Widersprüche sich einerseits aus dieser Gleichzeitigkeit von alten und neuen Formen der Pastoralpraxis ergeben und wie dabei andererseits Techniken der Fremd- und Selbstführung ineinandergreifen, skizziert der folgende Teil.

 Alois Hahn, Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000), 198 – 99. Vgl. auch Ricken, Die Ordnung der Bildung, 230.  Hahn, Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, 217.  Ricken, Die Ordnung der Bildung, 231 (Hervorhebung im Original).  Hahn, Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, 218.  Ricken, Die Ordnung der Bildung, 214– 15.

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3 Führen zur Selbstführung: Rechtleitung vs. Fürsorge Wurde der Bereich der Seelsorge in den Debatten um eine Institutionalisierung des Islams in Deutschland zunächst als Teil des pluralen Aufgabenspektrums des Imams behandelt, so gilt er inzwischen als eigenständige Disziplin und neuer Zukunftsberuf für muslimische Theolog*innen, und das längst nicht nur hierzulande. Um den Bedarf an muslimischen Seelsorger*innen zu decken, die künftig verstärkt auch auf hauptamtlicher Basis in deutschen Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern und Gefängnissen tätig sein sollen, sei jedoch zunächst eine stärkere Professionalisierung im Sinne einer Schaffung von verbindlichen Standards für Ausbildung und Praxis notwendig, betonen verschiedene Autor*innen.⁷⁵ Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass es sich bei der „Seelsorge“ zwar nicht um ein islamisch-theologisches Konzept im engeren Sinne, sondern um eine aus dem Christentum stammende Institution handle, es in der islamischen Tradition jedoch gleichwohl die Vorstellung der Seele gebe und eine allgemeine seelsorgerische Haltung im Sinne einer aus dem Glauben motivierten Sorge um das Wohl Anderer ebenso wie die Hinwendung zu hilfsbedürftigen Menschen zum Kern islamischer Religiosität gehörten.⁷⁶ Eine Begründung von „Seelsorge“ als überzeitliche Universalie unternimmt Uçar, wenn er schreibt: „Der über alle Zeiten und Kulturen beobachtbare Wunsch des Menschen nach seelsorgerlicher bzw. begleitender Unterstützung in schwierigen Lebensabschnitten und existentiellen

 In diesem Zusammenhang werden auch der Aufbau einer eigenen Institution zur muslimischen Wohlfahrtspflege sowie die Öffnung bestehender kirchlicher, staatlicher und nicht-konfessioneller Einrichtungen im Bereich der Wohlfahrtsarbeit für „interreligiöse“ bzw. „interkulturelle“ seelsorgerische Betreuungsangebote gefordert, um eine hauptamtliche Beschäftigung von Seelsorger*innen für Muslim*innen gewährleisten zu können.Vgl. Ceylan und Jacobs, „Islam als Beruf“; Cemil Şahinöz, Seelsorge im Islam: Theorie und Praxis in Deutschland (Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2018); Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft, Hrsg., „Conference Report: Muslim Chaplaincy in Europe and North America“, 2019, https://aiwg.de/wpcontent/uploads/2019/07/AIWG-Conference-Report_Muslim-chaplaincy.pdf; sowie die Beiträge in Esnaf Begić, Helmut Weiß und Georg Wenz, Hrsg., Barmherzigkeit: Zur sozialen Verantwortung islamischer Seelsorge (Neukirchen-Vluyn: Neukirchner Verlagsgesellschaft, 2014).  Vgl. etwa Bülent Uçar, „Vorwort“, in Barmherzigkeit: Zur sozialen Verantwortung islamischer Seelsorge, hrsg. von Esnaf Begić, Helmut Weiß und Georg Wenz (Neukirchen-Vluyn: Neukirchner Verlagsgesellschaft, 2014), 7– 11; Şahinöz, Seelsorge im Islam; Gülbahar Erdem, „Seelsorge für Muslime? Fragestellungen, Ressourcen und Konzepte – eine muslimische Perspektive“, in Grundlagen muslimischer Seelsorge: Die muslimische Seele begreifen und versorgen, hrsg.von Tarek Badawia, Gülbahar Erdem und Mahmoud Abdallah (Wiesbaden: Springer, 2020), 13 – 35.

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Bedrohungen ist ein anthropologisches Grundbedürfnis.“⁷⁷ Dabei sei die muslimische Seelsorge als professioneller Dienst heute ein vor allem aus dem Umstand der mangelnden psychosozialen Versorgung von Muslim*innen in der Migrationssituation heraus entstandenes Praxisfeld. Während Seelsorge in den Herkunftsländern auf persönlicher und individueller Ebene noch innerhalb von „traditionellen Sozialstrukturen“⁷⁸ wie Familie oder Dorfgemeinschaft stattfinden konnte, habe die Migrations- und Fluchtgeschichte spezifische Konflikte hervorgebracht, so Cemil Şahinöz. Nicht zuletzt „unter dem Druck christlicher säkularer Versorgungssysteme“⁷⁹ – Krankenhäuser und Altenheime riefen bei der örtlichen Moschee an, um die Begleitung muslimischer Klient*innen durch einen „Seelsorger“ zu erbitten – sei der Bereich muslimische Seelsorge überhaupt erst als Versorgungslücke entdeckt worden. Dass noch kein fertiges Konzept für diesen Bereich von islamisch-praktischer Theologie existiert, sondern eine muslimische Seelsorge sich in den aktuell dazu erscheinenden Beiträgen gerade erst ausdifferenziert, macht deren Lektüre besonders interessant. Verhandelt wird darin zum einen über die Art der Orientierungshilfe, die Muslim*innen auf diesem Wege zuteilwerden soll, und zum anderen über Selbstverständnis und Funktion der Seelsorgenden. Im Versuch einer islamisch-theologischen Grundlegung von Seelsorge knüpft etwa Şahinöz an die koranischen Begriffe von iršād und šūrā an, die er mit „Rechtleitung“ bzw. „Weisung zum rechten Weg“ und „Beratung“ übersetzt: Irschad ist eine Tätigkeit des Seelsorgers. Schura ist eine Tradition, auf die sowohl der Seelsorger als auch der Notleidende zurückgreifen. Das seelsorgerische Gespräch ist demnach eine Schura. Geduld und Gottvertrauen sind zwei Verhaltensformen, die im islamischen Kontext vom Notleidenden erwartet werden. Die theologische Sicht und daraus abgeleitet die Sicht der muslimischen Gemeinschaften auf Krankheiten, Tod und Krisen erleichtern die Anwendung dieser beiden Verhaltensformen. Volksgläubigkeit jedoch kann diese Sichtweise erschweren und damit verbunden die Verhaltensformen. Der Seelsorger versucht in einem Seelsorgegespräch über Volksgläubigkeit aufzuklären und durch Irschad und Schura die Sichtweise auf Krankheiten, Tod und Krisen positiv zu verändern, damit der Notleidende in seiner Rolle reift.⁸⁰

 Bülent Uçar, „Seelsorge – ein anthropologisches Grundbedürfnis (Geleitwort)“, in Grundlagen muslimischer Seelsorge: Die muslimische Seele begreifen und versorgen, hrsg. von Tarek Badawia, Gülbahar Erdem und Mahmoud Abdallah (Wiesbaden: Springer, 2020), VII.  Şahinöz, Seelsorge im Islam, 65.  Vgl. Şahinöz, Seelsorge im Islam, 65 – 66.  Vgl. Şahinöz, Seelsorge im Islam, 54.

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Das Prinzip der Führung zur Selbstführung spiegelt sich in der Subjektivierung der Seelsorgerin als Hirtin bzw. des Seelsorgers als Hirte, der/dem die Aufgabe der „Rechtleitung“ zukommt. Gleichzeitig wird hier das Bild des willentlichen Subjekts impliziert, das zu einer auf das eigene Innere gerichteten Selbstwahrnehmung und Selbstfürsorge angehalten ist. Deutlich wird die bereits angesprochene doppelte Funktion der pastoralen Figur als „Richter und Zeuge“ eines solchen Prozesses der zunehmenden Selbstkontrolle und ‐steuerung. Bemerkenswert an Şahinöz’ Ausführungen ist auch, wie unter der Anleitung des Seelsorgenden scheinbar nebenbei die Unterscheidung zwischen „richtiger“ und „falscher“ Religion und Religiosität getroffen wird. So trügen etwa der Glaube an eine absolute göttliche Vorherbestimmung und Elemente der sogenannten Volksgläubigkeit – wie Zauber, Flüche und die Dschinn – dazu bei, dass Probleme externalisiert würden, was bei den Betroffenen zu Passivität, Demotivation oder auch „Identitätskonflikten“ führen könne. Indem Seelsorgende darüber aufklärten, hälfen sie Betroffenen zu einem „reiferen“ Umgang und leiteten sie so aus der Krise heraus.⁸¹ Verschiedene, zum Teil miteinander konkurrierende Begründungen von Seelsorge macht der evangelische Theologe Wolfram Reiss in einem Beitrag aus, der Initiativen zur Qualifizierung von muslimischen Seelsorger*innen und insbesondere Kooperationen mit christlichen Träger*innen aus dem deutschsprachigen Raum in den Blick nimmt. Dabei scheint er auf eben jene im vorherigen Teil beschriebene Gleichzeitigkeit von alten und neuen Formen der Pastoralpraxis gestoßen zu sein, denn er stellt fest, […] dass die Begründungen der islamischen Seelsorge allesamt in Richtung einer normativdirektiven Seelsorge im Sinne von religiöser Rechtleitung und geistlichen Führung, Belehrung und Beratung, Information und Ermahnung gehen. Andererseits fällt auf, dass die ersten Ausbildungsgänge, die implementiert wurden, eher an non-direktiven psychotherapeutischen Seelsorgekonzepten ausgerichtet sind.⁸²

Einem hierarchisch ausgerichteten Selbstverständnis der Seelsorger „als Prediger, Dozenten, Seelenführer, kompetente Rechtsgelehrte, die die islamische Tradition, islamische Werte und Islam-konformes Verhalten in besonderen Situationen normativ vermitteln“⁸³ (wobei dieses Selbstverständnis dem in evangelikalen und orthodoxen christlichen Kreisen ähnele) stellt Reiss ein Konzept von Seelsorge gegenüber, das sich auf die „Fürsorgetätigkeit“ beschränke und im Rückgriff auf  Vgl. Şahinöz, Seelsorge im Islam, 48 – 50, 53 – 54.  Vgl. Wolfram Reiss, „Islamische Seelsorge etabliert sich – aber welche?“, in Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum, hrsg. von Michael Klöcker und Udo Tworuschka (München: Westarp, 2019), 1– 28.  Reiss, „Islamische Seelsorge etabliert sich – aber welche?“, 13.

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psychologische und psychotherapeutische Methoden den Fokus eher auf Selbsterfahrung, Begegnung sowie die Vermittlung von Kommunikations- und Reflexionsfähigkeit lege. Letzteres sei mit dem Umstand von inner- und interreligiöser Vielfalt deutlich besser vereinbar als ein auf religiöse Rechtleitung, Unterweisung und die Anleitung zu ritueller Praxis beruhendes Konzept.⁸⁴ Wie dieses Nebeneinander von pastoralen Konzepten offenbart, lassen sich Selbst- und Fremdbestimmung nicht ohne Weiteres voneinander trennen, sondern greifen ineinander. Wenngleich alte und neue Verständnisse von pastoraler Praxis in unterschiedlichem Maße auf eine egalitäre, freiheitliche Semantik rekurrieren und dadurch widersprüchlich erscheinen, so sind sie doch gleichermaßen Ausdruck einer spezifischen Gouvernementalität. Zentral ist in beiden Fällen die „pastoral betriebene Formation des ‚inneren Menschen‘“,⁸⁵ indem eine auf das Innere gerichtete Selbstwahrnehmung und Selbstregulierung vorangetrieben wird. Dieser Führungsmodus ist anschlussfähig an liberale Regierungstechnologien, über die Religion und religiöse Subjektivität bearbeitet und geformt werden. Wie der Geograph Jan Winkler in einer ethnographischen Studie zu Praktiken des interreligiösen Dialogs in kommunalen Initiativen der Stadt Erlangen eindrücklich darlegt, bildet die im Modus der Fürsorge, Partnerwerdung und Freundschaft vollzogene Förderung eines selbstkritischen „Islams“ eine emotionalisierte, intimisierte und dadurch gleichzeitig de-politisierte Spielart des „Religion-Making“ unter den Bedingungen liberal-säkularer Regierungsführung.⁸⁶ Selbstreflexive und sich selbst regierende Subjekte hervorzubringen, ist ein Kernanspruch der Bildungsidee. Und so findet die Pastoralmacht in ihrer säkularisierten Form auch in der modernen Universität ihren Niederschlag. Wie Foucault in seiner Kritik am anthropozentrischen Erkenntnismodell der Human- und Sozialwissenschaften verdeutlicht, bringen diese Disziplinen mithilfe wissenschaftlicher Analysemethoden, Reflexions- und Führungstechniken individualisierte, verinnerlichte und privatisierte Formen der Pastoralpraxis hervor.⁸⁷ Mit  Reiss, „Islamische Seelsorge etabliert sich – aber welche?“, 13 – 17.  Ricken, Die Ordnung der Bildung, 232.  Jan Winkler, „Freunde führen einander – Der kommunalpolitische Dialog mit dem ‚Islam‘ im Modus einer Gouvernementalität der Freundschaft“, in Geographica Helvetica, Nr. 72 (2017): 303 – 16. Der Aufsatz basiert auf der Doktorarbeit des Autors, deren Ergebnisse in Kürze unter dem Titel Gouvernementalität der Freundschaft. Lokale Praktiken, Technologien und Emotionalitäten im kommunalpolitischen Dialog mit Muslimen im transcript Verlag erscheinen.  Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 8. Aufl. (1. Aufl. von 1971; Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989); Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow, Hrsg., Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik (Frankfurt a. M.; Weinheim: Beltz Athenäum Verlag, 1994).

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Blick auf den Kontext „Islamische Theologie lehren und lernen“ des vorliegenden Bandes fällt gleichermaßen der Anspruch auf, die Fertigkeit zur Selbstführung zu vermitteln. Das lässt sich etwa anhand des Umgangs von Fachvertreter*innen der Islamischen Theologie mit den unter Studierenden verbreiteten Frömmigkeitserwartungen illustrieren. Damit ist sowohl die antizipierte eigene Entwicklung in der Auseinandersetzung mit den Studieninhalten als auch die Vorstellung einer „religiösen Rechtleitung“ durch die Lehrkräfte gemeint. So seien nicht wenige Studienanfänger*innen von der Motivation getrieben, durch das Studium der Islamischen Theologie zu lernen, wie sie aus sich „einen besseren Muslim/eine bessere Muslima“ machen könnten. Auch der Drang, sich eher einer spezifischen religiösen Lehrmeinung anzuschließen, als sich eine eigene zu bilden, gehe mit dieser Einstellung einher.⁸⁸ Eine solche Gleichsetzung von „Kanzel und Katheder“ dränge die Hochschullehrkraft in die Rolle eines Scheichs bzw. Hodschas, der handlungsleitende religiöse Dogmen zu verkünden habe, die den Studierenden Orientierung bieten. Darin drücke sich eine vorreflexive Haltung der Studierenden aus.⁸⁹ Solche Erwartungen hinsichtlich der persönlichen Frömmigkeit gehörten nicht in das universitäre Umfeld, stellen Lehrende des Zentrums für Islamische Studien der Universität Frankfurt a. M. in einem Positionspapier fest, weil sie mit der „persönlichen bzw. Lehrautonomie der Dozierenden“⁹⁰ kollidierten und als

 Vgl. etwa die Aussagen von Harry Harun Behr in einem Interview vom 26.1. 2015, „Religionspädagoge im Gespräch: ‚Ich weiß nicht, wie man Mohammed beleidigen kann‘“, zugegriffen 15. 3. 2020, https://www.faz.net/-gzh-7z1lk: „Natürlich darf und soll man spirituelle Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung in einem theologischen Studiengang reflektieren – gerade mit Blick auf Religionslehrer. Aber die Studenten dürfen sich nicht an mir ‚festsaugen‘.Viele junge Muslime haben ein wahnsinniges Bedürfnis, einer religiösen Lehrmeinung zu folgen, statt sich selbst eine zu bilden. Wie sollen die später Religionsunterricht gemäß den Curricula erteilen, in denen es heißt, jener Unterricht solle nicht Glauben vermitteln, sondern zum Glauben befähigen? Das ist ein großer Unterschied.“  So Behr bei einer Paneldiskussion im Rahmen einer Konferenz des Graduiertenkollegs Islamische Theologie und des Zentrums für Islamische Studien Frankfurt a. M./Gießen zum Thema „Islamische Theologie als Wissenschaft. Standortbestimmungen islamisch-religiösen Denkens an der Universität“, 3./4.9. 2015, Goethe-Universität, Frankfurt a. M. Vgl. auch Harry Harun Behr, „Islamisch, theologisch, wissenschaftlich“, in Frankfurter Zeitschrift für islamisch-theologische Studien 1, Nr. 1 (2014): 113 – 21; Harry Harun Behr, „Keine Angst vor Kritik: Wie viel Glaubenszweifel verträgt die Islamische Theologie?“, in Herder Korrespondenz Spezial „Gottlos? – Von Zweiflern und Religionskritikern, Nr. 1 (2014): 57– 60.  Bekim Agai, Mahmoud Bassiouni, Ayse Basol u. a., „Islamische Theologie in Deutschland. Herausforderungen im Spannungsfeld divergierender Erwartungen“, in Frankfurter Zeitschrift für islamisch-theologische Studien 1, Nr. 1 (2014): 28.

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unvereinbar mit dem darin vertretenen Verständnis von säkularer Wissenschaft gelten.⁹¹ Hier zeigt sich besonders deutlich, dass die beiden Ausprägungen von Pastoralpraxis als ausgesprochen widersprüchlich wahrgenommen werden. Das Unbehagen, das aus der Haltung der Fachvertreter*innen gegenüber der Zuschreibung einer religiös begründeten pastoralen Führungsrolle (im Sinne eines „Scheichs“ oder „Hodschas“) spricht, ergibt sich daraus, dass dieses primär mit Fremdkontrolle und Zurichtung assoziierte Rollenbild durch die integrationspolitischen Erwartungen aus Politik und Medien gewissermaßen forciert wird und nicht mit dem Bild des autonomen und selbstbestimmten muslimischen Subjekts in Übereinkunft zu bringen ist, das aus dem Prozess einer Akademisierung islamischer Wissensproduktion idealerweise hervorgehen sollte. Nun könnte man versuchen, diesen Widerspruch mit einem falsch verstandenen Erziehungs- und Bildungsverständnis als disziplinierender und bisweilen sogar repressiver Machtfigur zu erklären, und es mit dem Verweis auf das Postulat der Wissenschaftsfreiheit und das autonome Subjekt als deren Gegenstück auf sich bewenden lassen. Folgen wir stattdessen Foucaults Paradigma der Gouvernementalität und den damit verbundenen Überlegungen zur Pastoralmacht, so ergeben sich verschiedene Perspektivwechsel und ‐erweiterungen, die auch für den weiteren Prozess der Ausdifferenzierung von „Lehren und Lernen in der islamischen Theologie“ von Gewinn sein könnten. Die damit verbundenen Möglichkeiten zur Problematisierung im Sinne einer spezifischen Form der Kritik an mit dem Akademisierungsprozess verbundenen epistemischen Normen und Praktiken möchte ich im Folgenden – anstelle eines Schlussworts – skizzieren.

4 Machtkritische Perspektiven 4.1 Subjektivität und Macht Ganz grundlegend ist Foucaults Kritik an der Idee und Theorie des Subjekts. Wie Thomas Lemke in seiner Interpretation von Foucaults Werk herausarbeitet, wendete sich dessen Analyse der Gouvernementalität

 Um falschen Erwartungen dieser Art vorzubeugen, hat das Frankfurter Zentrum für Islamische Studien etwa einen Online-Studienwahlassistenten produziert, in dem Lehrerende und Studierende in kurzen Videosequenzen zu Wort kommen: https://osa.studiumdigitale.uni-frankfurt.de/ courses/79356/494/index.html, zugegriffen 15. 3. 2020.

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[…] gegen eine Theorietradition, die auf einer konstitutiven und transzendentalen Subjektivität aufbaut und einseitig Bewusstseinsprozesse privilegiert, die das Subjekt und seine Freiheit als Ausgangspunkt (und Zielpunkt) der Analyse wählt, um dann zu fragen, wie diese Freiheit eingeschränkt und das Subjekt schließlich durch eine ihm äußerliche Macht unterdrückt wird.⁹²

Im Vergleich dazu nimmt Foucault mit seinem genealogischen Ansatz eine radikale Historisierung von Subjektivierungsprozessen vor, indem er davon ausgeht, dass das Subjekt nicht auf einer universellen Substanz beruht, die sich überall wiederfinden lässt, sondern über bestimmte Praktiken in einer historisch kontingenten Weise konstruiert und produziert wird.⁹³ Anders gesagt, für ihn gibt es kein Subjekt-Wesen, sondern er interessiert sich für Subjektivierung als Form der Subjektwerdung, die sich relational vollzieht. Das Ergebnis dieses Perspektivwechsels ist eine „Dezentrierung des Subjekts“, wodurch das Subjekt epistemologisch betrachtet von der Quelle jeglicher Erfahrung zu einer möglichen Erfahrung unter vielen wird.⁹⁴ Damit stehen auch die modernen Geistes- und Sozialwissenschaften sowie das ihnen eigene subjektzentrierte Begründungsmodell auf dem Prüfstand, das gleichermaßen unter historisch spezifischen Bedingungen entstanden ist und damit keine universelle anthropologische Konstante bildet.⁹⁵ Der Verweis auf die Partikularität der epistemologischen Prämissen westlicher Wissenschaft wirft neben verschiedenen anderen grundlegenden Fragen zum Verhältnis von „Rasse“, „Religion“ und „Nation“ auch die nach den Grenzziehungen zwischen religiösem und säkularem Wissen sowie der Rolle eines spezifischen Religionsverständnisses bei der Hervorbringung moderner Subjekte auf, wie sie etwa postkoloniale und dekoloniale Denker*innen und Vertreter*innen einer kritischen Säkularismusforschung gestellt haben.⁹⁶  Thomas Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft: Foucaults Analyse der modernen Gouvemementalität (Berlin, Hamburg: Argument Verlag, 1997), 116.  Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft, 266.  Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft, 116, 266 – 67. Vgl. auch Claus Dahlmanns, Die Geschichte des modernen Subjekts. Michel Foucault und Norbert Elias im Vergleich (Münster; New York; München; Berlin: Waxmann, 2008), 45 – 50.  Foucault, Die Ordnung der Dinge. Siehe auch: Saar, Genealogie als Kritik, 176 – 78.  Gebündelt finden sich derartige Denkansätze etwa unter der Selbstbezeichnung Critical Muslim Studies. In Bezug auf deren Programm und Perspektive heißt es in der ersten Ausgabe der sich als Forum für diese Ansätze verstehenden Zeitschrift ReOrient: „It is not a more critical analysis of the Muslim experience that constitutes Critical Muslim Studies but rather a relationship to it which does not reproduce the hierarchy between the West and the Rest. If the colonial/ modern (i. e., Western) episteme is founded on an axis that differentiates between a West that is fully formed and richly elaborated and a Rest that is merely a residual category, then the project of Critical Muslim Studies is a thought experiment that asserts a distinction between the Islamicate

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4.2 Subjektivität und Wahrheit Mit dem Begriff der Gouvernementalität nimmt Foucault die Beziehungen zwischen Subjektivität und Macht in den Blick. Indem er das Augenmerk insbesondere auf die (neo‐)liberale politische Rationalität legt, zeigt er, wie grundlegend liberales Regierungshandeln auf die Fähigkeit des Einzelnen zur Selbstregulierung angewiesen ist. Lemke fasst das zusammen in der Aussage: „Das charakteristische Merkmal von Regierung besteht darin, dass sie eine Form der Macht etabliert, die Individuen nicht direkt unterwirft oder beherrscht, sondern sie durch die Produktion von ‚Wahrheit‘ anleitet und führt.“⁹⁷ Folgt man Foucaults genealogischen Erkenntnissen hinsichtlich einer Transformation und Einbindung der Pastoralmacht in die „Regierungskünste“ des modernen Nationalstaates, so tritt Bildung als säkularisierte pastorale Form einer „Führung der Führungen“ in Erscheinung, die die Freiheit der Individuen auf bestimmte Weise reguliert, um die Risiken einer liberalen Gesellschaftsform beherrschbar zu machen.⁹⁸ Die Idee einer Selbstbefreiung des Subjekts durch Bildung steht damit zur Disposition, denn auch hierfür ist die Vorannahme eines a priori gegebenen Subjekts zentral, das dem Individuum in Form von Attributen wie Wille, Freiheit und Intentionalität Handlungsmacht verleiht. Bildung ist an die Hoffnung einer „Stärkung“ des Subjekts geknüpft, das zwar Opfer von Zugriffen der Macht werden kann, durch den Gebrauch des eigenen Verstandes im Sinne einer „kritischen“ Auseinandersetzung aber in die Lage ist, seine Souveränität gegenüber der Macht zu bewahren.⁹⁹ Wie dagegen Vertreter*innen einer historisch-kritischen Bildungsforschung¹⁰⁰ in Weiterentwicklung von Foucaults Überlegungen betonen, ist Bildung

and the non-Islamicate as an opening gambit. In other words, Critical Muslim Studies is based not so much on describing the various permutations and problems occasioned by the articulation of a Muslim object of analysis as on examining the constitution of Muslim and its cognates.“ ReOrient Editorial Board, „ReOrient: A Forum for Critical Muslim Studies“, in ReOrient 1, Nr. 1 (2015), 5 – 6, https://doi.org/10.13169/reorient.1.1.0005, zugegriffen 15. 3. 2020.  Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft, 327.  Norbert Ricken, „Bildung als Dispositiv: Systematische Anmerkungen zum Einsatz der ‚studies of governmentality‘ in den Erziehungswissenschaften“, in Die Macht der Bildung: Gouvernementalitätstheoretische Perspektiven in der Erziehungswissenschaft. Dokumentation einer Arbeitsgruppe des Kongresses der DGfE 2006, hrsg. von Norbert Ricken und Andrea Liesner (Bremen, 2008), 6 – 21.  Erich Ribolits, „Warum Bildung bei der Überwindung der Machtverhältnisse nicht hilft, zu deren Erhalt aber ganz wesentlich beiträgt“, in Bildung und Macht: Eine kritische Bestandsaufnahme, hrsg. von Eveline Christof und Erich Ribolits (Wien: Löcker, 2015), 179 – 80.  Vgl. etwa Markus Rieger-Ladich, Mündigkeit als Pathosformel: Beobachtungen zur pädagogischen Semantik. Theorie und Methode Sozialwissenschaften (Konstanz: UVK, 2002); Ricken, Die

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aber gerade nicht das Gegenüber von Macht, sondern „unmittelbarer Effekt des Zusammenspiels von Wissen und Macht – ein menschliches Wesen konstituiert sich als Subjekt, indem es zu einem ‚wissenden Wesen‘ und damit zu einer Verkörperung der Macht wird bzw. sich zu einer solchen macht“.¹⁰¹ Sie analysieren Bildung machttheoretisch als eine verschiedene Wissens-, Subjektivitäts-, und Sozialformen umfassende moderne Subjektivierungsstrategie. Mit Bildung geht demnach eine Vertiefung der Macht einher, weil sie unter Verweis auf Innerlichkeit und Individualität eine intensivere Selbstbearbeitung ermöglicht. Durch die Produktion von Wissen und Wahrheiten wirkt die Macht der Bildung – und in dieser Hinsicht auch der Wissenschaft – umso subtiler, weil sie hinter deren Gesetzmäßigkeiten und Imperativen zurückzutreten vermag und sich das Subjekt auf der Grundlage von damit übereinstimmenden Verhaltensformen und Handlungszielen selbst modifiziert. Das macht sie nicht nur anschlussfähig an Formen der politischen Regierung, sondern verhilft diesen auch zu mehr Legitimität und Effektivität. Durch die Verknüpfung von Bildung und der Produktion von (wissenschaftlichem) Wissen mit dem Versprechen von Emanzipation und Humanisierung wird die damit verbundene Strukturierung des Selbstverhältnisses allerdings unsichtbar.¹⁰²

4.3 Techniken und Praktiken Ein weiterer mit dem Paradigma der Gouvernementalität verbundener Mehrwert ist, dass es nicht primär dessen Anspruch ist, im Sinne einer Ideologiekritik den Wahrheitsgehalt von Aussagen zu prüfen und zwischen „wahr“ und „falsch“ zu unterscheiden, sondern den Fokus auf Techniken und Praktiken sowie deren Logiken und Funktionsweisen zu richten und damit auch die diesen Unterscheidungspraktiken immanente Normativität offenzulegen. Wie das Beispiel der verschiedenen islamischen Seelsorge-Konzepte und der Umgang mit den dem Lehrpersonal der Islamischen Theologie entgegengebrachten Frömmigkeitserwartungen illustrieren, finden auch im Rahmen der Debatten um eine Akademisierung des Islams in Deutschland Klassifikations- und Regulationspraktiken Anwendung. Insbesondere bei Fragen zu Religionsverständnis und Religiosität

Ordnung der Bildung; Ribolits, „Warum Bildung bei der Überwindung der Machtverhältnisse nicht hilft“.  Eveline Christof und Erich Ribolits, „Vorwort“, in Bildung und Macht: Eine kritische Bestandsaufnahme, hrsg. von Eveline Christof und Erich Ribolits (Wien: Löcker, 2015), 10.  Ricken, Die Ordnung der Bildung, 247.

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werden mittels solcher Teilungspraktiken Prozesse der Exzeptionalisierung und Normalisierung in Gang gesetzt.¹⁰³ Das nationale Integrationsparadigma, das der Idee einer staatlich geförderten Akademisierung des Islams in Deutschland zugrunde liegt, begünstigt die Zuschreibung pastoraler Aufgaben und Funktionen gegenüber den Zielgruppen islamisch-theologischer und ‐religionspädagogischer Studiengänge. Politische Erwartungen spiegeln sich auch in der Forderung nach einer stärkeren Bedarfs- und Anwendungsorientierung der im Rahmen des Studiums vermittelten Inhalte.¹⁰⁴ Neben solchen offensichtlichen Formen der Politisierung vollzieht sich jedoch auch auf epistemischer Ebene eine Konstituierung muslimischer Subjektivität gemäß der pastoralen Machtspezifik, die nicht so leicht zu erkennen ist. Denn auch die Lehr‐/Lernverhältnisse in der Islamischen Theologie gestalten sich als pastorale Praxis im Sinne einer „Führung zur Selbstführung“, indem sie Muslim*innen eine Anleitung für die Selbsttransformation zu einem Subjekt der Freiheit liefern. Damit wird an die Kultivierung einer Subjektform appelliert, die innerhalb der gesellschaftlichen Arena und unter den gegebenen politischen Bedingungen Anerkennung und Normalisierung verspricht. Umgekehrt ließe sich sagen, dass die epistemischen Normen innerhalb der säkularen Universität sowohl Lehrende als auch Lernende dazu anhalten, ihre Fähigkeit zu Freiheit und Mündigkeit – als Apriori der Anerkennung – beständig unter Beweis zu stellen. Die Formation des Selbst innerhalb der „anthropologischen Matrix der Bildung“ trägt laut Ricken zur Entfaltung einer sich auf Individualität gründenden Form der Sozialität bei, die „qua Individualisierung und Totalisierung die Menschen von Von Foucault herausgearbeitete Beispiele für diese Teilungen finden sich in seinen Untersuchungen zur Geschichte des Wahnsinns, der Sexualität, der Krankheit und der Delinquenz.  Es sind jedoch auch die Studierenden und Absolvent*innen der neuen Disziplin selbst, die deren mangelnde Anwendungsbezogenheit kritisieren und sich offenbar mehr Praxisbezüge wünschen, um sich weitere Berufsperspektiven und Möglichkeiten für gesellschaftliches Engagement erschließen, wie die im Zusammenhang mit dem von Constantin Wagner initiierten Lehrforschungsprojekt „Lehren und Lernen in den islamischen Studien“ erschienenen Publikationen nahelegen. Ziel des fortlaufenden Projekts ist es, herauszufinden, „wie sich die studentische Herangehensweise an (wissenschaftliche) Fragen, die die eigene Subjektivität betreffen, durch die Lehre verändert und ein ‚wissenschaftlicher Blick‘ entsteht“; Constantin Wagner, „Lehren und Lernen in den Islamischen Studien: Evaluation des Einführungsseminars ‚Islam und Muslime im europäischen Kontext‘“, in Frankfurter Zeitschrift für islamisch-theologische Studien, Nr. 3 (2016), 195. Siehe auch Lena Dreier und Constantin Wagner, „Wer studiert islamische Theologie? Ein Überblick über das Fach und seine Studierenden“, in CIBEDO-Beiträge, Nr. 3 (2017), 108 – 16; Constantin Wagner, „Islamische Theologie an deutschen Hochschulen studieren? Zu den Erfahrungen Studierender einer jungen Disziplin“, in Rassismus an Hochschulen: Analyse – Kritik – Intervention, hrsg. von Daniela Heitzmann und Kathrin Houda (Weinheim: Beltz Juventa, 2020), 90 – 112; Ceylan und Jacobs, „Islam als Beruf“.

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einander trennt und homogenisierend zusammensetzt und so die Formation des Sozialen betreibt“.¹⁰⁵ Solche auf Subjektivierung und Responsibilisierung ausgerichteten Strategien verstärken die programmatischen Anrufungen an Muslim*innen im Hinblick auf ihre Selbstmodellierung zu und Selbstführung als „reife“, mündige Bürger*innen, die sich „vernunftbasiert“ mit ihrer Religion auseinandersetzen und sich auf dieser Grundlage verantwortungsbewusst, proaktiv und produktiv in die Gesellschaft einbringen. In diesem Sinne handelt es sich bei dem Ruf nach einer durch „Akademisierung“ beförderten emanzipativen muslimischen „Selbstwerdung“ nicht um unschuldiges, sondern machtvolles Wissen, denn hier werden das „Normale“ identifiziert, eine Norm definiert und Individuen dazu angehalten, ihre Lebensweise so zu verändern, dass sie dieser Normalität entsprechen.¹⁰⁶ Um sich über diese Normen zu verständigen, ist das Eigene dabei wesentlich auf das Andere im Sinne des Abnormen angewiesen, das mittels Teilungspraktiken davon unterschieden wird. Das Subjekt wird auf diese Weise jedoch nicht nur von anderen abgeteilt, sondern auch in seinem Inneren geteilt. Wie Ricken unter Rückbezug auf die Typologie der Beichtpraxis herausstellt, beruhen die pastoralen Techniken dabei auf einer paradoxen Figuration des Selbst, bei der „Selbstaffirmation als Moment der positivierenden Selbsterforschung“ einerseits und „Selbstnegation als Ziel wie bereits praktizierte Struktur des reuigen Selbstgeständnisses“ andererseits „die Menschen in einen anhaltenden Prozess gegen sich selbst [treiben], in dem diese in ihrem Innern geteilt werden und sich als zu überwindende [Subjekte] erlernen, die für ihre eigene Lebensführung der Führung anderer notwendig bedürfen.“¹⁰⁷

4.4 Wissenschaft und Widerstand Indem die öffentliche Universität die Praktiken und Techniken zur Selbsterforschung und Einübung in die liberal-säkulare Subjektivierungsweise vermittelt, trägt sie zu einer Dezentrierung und Dispersion der Macht des Staates in lokale Machtbeziehungen bei.¹⁰⁸ Neben einer Kritik an Vereinnahmungsversuchen für glaubensgemeinschaftliche Zielsetzungen (religiöse Unterweisung, Bekenntnisbindung und Repräsentationsinteressen) oder politische Zwecke (Zähmungsmotiv, Integrations- und Sicherheitspolitik) wäre auch eine Sensibilisierung für we Ricken, Die Ordnung der Bildung, 213.  Nikolas Rose, Powers of Freedom. Reframing Political Thought (Cambridge: Cambridge University Press, 1999), 76.  Ricken, Die Ordnung der Bildung, 233.  Howley und Hartnett, „Pastoral Power and the Contemporary University“.

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niger offensichtliche Formen der Politisierung islamisch-theologischer Wissensproduktion unbedingt wünschenswert. Im Sinne Foucaults gilt es danach zu fragen, zu welchem „Preis“ die jeweilige Subjektivierung zu haben ist und welche Möglichkeiten es gibt, anders als auf diese Weise regiert zu werden. Angesichts der unaufhebbaren „Komplizenschaft zwischen Macht und Selbst“¹⁰⁹ kann Wissenschaft einerseits dazu beitragen, dass sich die von der Macht ermöglichten Formen des Subjekts und damit die bestehende soziale Ordnung reproduzieren. Gleichermaßen beinhaltet sie aber auch das Potenzial für Kritik an der vermeintlichen „Natürlichkeit“ von Normen und damit für Widerstand gegen von den bestehenden Machtverhältnissen aufgeprägte Selbstverhältnisse. Um ihrem selbst formulierten Anspruch gerecht zu werden, einerseits „eine Neubegründung der islamischen Wissensordnung im universitären Umfeld“¹¹⁰ voranzutreiben und andererseits „mit eigenständig entwickelten kritischen Perspektiven und Impulsen“¹¹¹ in die deutsche Universitäts- und Wissenschaftslandschaft hineinzuwirken, erscheint es zwingend notwendig, dass die säkulare epistemische Tradition der modernen Universität systematisch zum Gegenstand von (Selbst‐)Reflexion innerhalb der Islamischen Theologie gemacht und verstärkt auch nach den (islamischen) Wissensformen gefragt wird, die innerhalb dieses Fragerahmens marginalisiert oder ausgeschlossen werden.

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Autorenverzeichnis Amir Dziri forscht zu religiösem Denken und zur Geistes- und Kulturgeschichte des Islams im Horizont gegenwartsrelevanter Fragen. Seit September 2017 besetzt er die erste Professur für Islamische Studien in der Schweiz und ist Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft der Universität Fribourg. Jan Felix Engelhardt ist Geschäftsführer an der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) an der Goethe-Universität Frankfurt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Akademisierung islamischer Wissensproduktion in Deutschland und Europa sowie Islamische Studien an westlichen Universitäten. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u. a. die Monographie Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem. Ausdifferenzierung und Selbstkonzeption einer neu etablierten Wissenschaftsdisziplin (Wiesbaden: Springer VS 2017) sowie mit Hansjörg Schmid das Special Issue der Frankfurter Zeitschrift für Islamisch-Theologische Studien (2/2020), Islam in Knowledge-Power Relations. A challenge for theologies of Islam? Sebastian Günther ist Inhaber des Lehrstuhls für Arabistik und Islamwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Er forscht und lehrt vor allem auf den Gebieten der arabischislamischen Religions- und Geistesgeschichte sowie der arabischen Literatur in Vergangenheit und Gegenwart. Er ist Mitglied in zahlreichen Forschungs- und Herausgebergremien und war 2010 – 2014 Präsident der Union Européenne des Arabisants et Islamisants (UEAI). Zu seinen Publikationen zählen Islamic Ethics as Educational Discourse (hrsg. mit Y. El Jamouhi, Mohr Siebeck 2021), Knowledge and Education in Classical Islam (Hrsg., 2 Bde., Brill 2020) sowie Magie im Islam zwischen Glaube und Wissenschaft (hrsg. mit D. Pielow, Brill 2018). Reza Hajatpour, 1958 in Nordiran geboren, begann 1978 an der theologischen Hochschule in Ghom seine Ausbildung, hat seit Oktober 2012 den Lehrstuhl für Islamisch-Religiöse Studien mit systematischem Schwerpunkt, Theologie/Philosophie/Ethik/Mystik, an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg (Philosophische Fakultät und Fachbereich Theologie) inne. Er ist Autor mehrerer Werke und Artikel zu Themen der Philosophie, Ethik, Mystik und Theologie. Er ist Mitglied des Zentrums für interreligiöse Studien (ZIS) in Bamberg und Präsident der Akademie für west-östlichen Dialog der Kulturen. Serdar Kurnaz ist Professor für Islamisches Recht in Geschichte und Gegenwart am Berliner Institut für Islamische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist u. a. der Autor der Monographie „Tradition und Fortschreibung bei Ibn Rušd. Eine rechtsschulübergreifende Analyse zu Kauf- und Tauschgeschäften im islamischen Recht“ (Nomos, 2020). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Entstehung und Entwicklung des islamischen Rechts, islamische Rechtsmethodologie und Rechtsphilosophie, islamische Ethik, Genese und Exegese der schriftlichen Quellen im Islam und Geschichte des Hadith. Gang Li befindet sich kurz vor dem Abschluss eines Doppelpromotionsstudiums an der Universität Groningen und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Zudem arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Kolleg für Geisteswissenschaftli-

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che Forschung der FAU. Seine Forschungsschwerpunkte und -interessen sind unter anderem der Status und die Lebensrealitäten der muslimische Minderheit in China, das Verhältnis von islamischer Gebotenlehre und chinesischem Staatsrecht sowie Theorien der Rechtssoziologie im Allgemeinen. Dina El Omari ist seit Oktober 2019 Post-Doktorandin am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU Münster, an dem sie ein eigenständiges Forschungsprojekt mit dem Titel „Die Ambiguität der islamisch-emanzipatorischen Diskurse in Geschichte und Gegenwart“ leitet. Sie hat im Januar 2021 ihr Habilitationsverfahren abgeschlossen und zwar mit der Habilitationsschrift „Das koranische Menschenpaar in Schöpfung und Eschatologie – Versuch einer historisch-literaturwissenschaftlichen Kommentierung“, die im Herbst 2021 im Herder Verlag erscheinen wird. Anne Schönfeld studierte Islamwissenschaft, Ethnologie und Soziologie und ist Fellow an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies. Ihre Dissertation untersucht das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Religion anhand der Debatten um eine sog. Akademisierung des Islams in Deutschland, wie sie im Zusammenhang mit der Etablierung von universitären Lehrstühlen für Islamische Theologie und Religionspädagogik in Deutschland geführt werden. Zu ihren Forschungsinteressen zählen u. a. Säkularismus, Religions- und Anerkennungspolitik in Einwanderungsgesellschaften sowie die Geschichte der Islamforschung. Reinhard Schulze ist emeritierter Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern und Leiter des dortigen transdisziplinären Forums Islam und Naher Osten. Zu seinen neuesten Publikationen zählen die Monographien „Der Koran und die Genealogie des Islam“ (Basel: Schwabe, 2015) und „Geschichte der islamischen Welt. Von 1900 bis in die Gegenwart“ (München: Beck, 2016). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die islamische Religionsgeschichte und die Wissenssoziologie im Nahen Osten in der Neuzeit und Moderne sowie im Kontext der Spätantike. Zekirija Sejdini ist Professor für Islamische Religionspädagogik und Leiter des Instituts für Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Innsbruck. Er ist Mitherausgeber der Reihe „Studien zur Interreligiösen Religionspädagogik“ und Mitbegründer des „Zentrums für Interreligiöse Studien“. Zu seinen weiteren Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die islamische Bildung im europäischen Kontext, die religiöse Pluralität aus islamischer Perspektive sowie gegenwartsbezogene Ansätze der islamischen Theologie. Farid Suleiman ist Postdoktorand am Department Islamisch-Religiöse Studien an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Wissenschaftlicher Koordinator des AIWG-Longterm-Forschungsprojekts „Die Normativität des Korans im Zeichen gesellschaftlichen Wandels“. Er ist der Autor der Monographie „Ibn Taymiyya und die Attribute Gottes“ (De Gruyter, 2019; engl. Übers.: Brill, 2022) und mehrerer Artikel zu Themen der Philosophie, Theologie und Koranexegese. Zu seinen jüngeren Forschungsschwerpunkten gehören die Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins und ihre Bewandtnis für die Theologie. Johannes Twardella ist Privatdozent an der Goethe-Universität und Lehrer an der Elisabethenschule in Frankfurt am Main. Er ist der Autor mehrerer Monographien und zahlreicher Artikel u. a. zur Soziologie des Islam und zur Unterrichtsforschung. Zu seinen wichtigsten Veröffentli-

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chungen gehören: „Autonomie, Gehorsam und Bewährung im Koran. Ein soziologischer Beitrag zum Religionsvergleich“, „Moderner Islam. Fallstudien zur islamischen Religiosität in Deutschland“, „Konstellationen des Pädagogischen. Zu einer materialen Theorie des Unterrichts“ und „Pädagogische Kasuistik. Fallstudien zu grundlegenden Fragen des Unterrichts“. Seit einiger Zeit forscht er primär zu Fragen einer islamischen Religionspädagogik. Fahimah Ulfat ist Professorin für Islamische Religionspädagogik an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Sie leitet das Institut für islamisch-religionspädagogische Forschung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind religiöse und interreligiöse Bildung und empirische Jugend-, Unterrichts- und Professionsforschung. Sie hat sich intensiv mit der „Selbstrelationierung muslimischer Kinder zu Gott“ auseinandergesetzt (Schöningh, 2016). Jüngste Publikationen befassen sich mit den Einstellungen von jungen Muslim*innen zu Sexualität und Gender, Normativität und Relativität in der religiösen Bildung, International knowledge transfer in religious education sowie postkoloniale Perspektiven auf religiöse Bildung.