Bewusstsein - Anmerkung zu einem Begriff 3643803893, 9783643803894

Die Erforschung des Gehirns macht rasche Fortschritte. Doch noch immer stehen Wissenschaftler vor einer ungeklärten Frag

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Bewusstsein - Anmerkung zu einem Begriff
 3643803893, 9783643803894

Table of contents :
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Inhalt
1 Das ungelöste Rätsel im Kopf
2 Geist und Bewusstsein – auch nach Jahrtausenden unverstanden
3 Epileptiker, Drögeler und Demente
4 Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?
5 Fast tot – und doch bei vollem Verstand
6 Roboter mit Ich-Gefühl
7 Ein Elementarteilchen für Bewusstsein?
Literatur

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BEWUSSTSEIN

Anmerkung zu einem

BEGRIFF Alex Reichmuth

LIT

Alex Reichmuth

Bewusstsein – Anmerkungen zu einem Begriff

Anmerkungen zu einem Begriff Band 2

LIT

Alex Reichmuth

BEWUSSTSEIN – Anmerkungen zu einem Begriff

LIT

½ Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier entsprechend ANSI Z3948 DIN ISO 9706

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-643-80389-4 (br.) ISBN 978-3-643-85389-9 (PDF)

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Inhalt 1 Das ungelöste Rätsel im Kopf . . . «Ohne Gehirn sind Sie nichts» . . . «Wir haben in der ganzen Hirnforschung bisher keinen Einstein» . . . . . . . . . . . . . . . Kann das Gehirn das Gehirn verstehen? . . . . . . . . . . . . . . «Die Existenz eines bewussten und intelligenten Geistes» . . . . . . . .

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2 Geist und Bewusstsein – auch nach Jahrtausenden unverstanden . . . . Die Ventrikel als Sitz des Geistes . . . Descartes’ Schnittstelle zwischen Leib und Seele . . . . . . . . . . . . . Die Schädelform lässt auf den Charakter schliessen . . . . . . . . . . –I–

. 9 . 10 . 11 . 13

Inhalt

Bewusstseinszustände mit Messgeräten detektieren . . . . . . . . . 15 Computer als Inspiration für die Hirnforschung . . . . . . . . . . . . . . 16 3 Epileptiker, Drögeler und Demente Ekstase und religiöse Entrückung. . . Je tiefer die Gehirnstromfrequenz, desto schläfriger ist man . . . . . . . . Manche Wachkoma-Patienten sind bei Bewusstsein . . . . . . . . . . . . Die Aufforderung, gedanklich Tennis zu spielen . . . . . . . . . . . . . . . . Welches Bewusstsein haben Demenzkranke? . . . . . . . . . . . . Das grosse Glück von Locked-in-Patienten . . . . . . . . . . Glasklares Bewusstsein bei Nahtoderfahrungen. . . . . . . . . . .

. 19 . 20 . 21 . 23 . 24 . 26 . 27 . 28

4 Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? . 31 Alles beruht auf Vermutungen und Analogien zum Menschen . . . . . . . . 32 – II –

Inhalt

Maschinenartige Geschöpfe ohne Empfindungen . . . . . . . . . . . . . Bienen können roten Röhren folgen . Rhesusaffen und Delfine kennen ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . Verborgene Bewusstseinszustände bei Tieren? . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fast tot – und doch bei vollem Verstand . . . . . . . . . . . . . . Detailgenaue Erinnerungen schockierten die Ärzte . . . . . . . «Das Gehirn ist ein Sender und Empfänger für Bewusstsein» . . . Ist Bewusstsein eine grundlegende Eigenschaft der Natur?. . . . . . . Gespräch mit Angehörigen trotz zerstörtem Gehirn . . . . . . . . . «Neurowissenschaften leiden an Selbstüberschätzung» . . . . . . .

– III –

. 33 . 35 . 36 . 37

. . . 39 . . . 40 . . . 41 . . . 43 . . . 44 . . . 46

Inhalt

6 Roboter mit Ich-Gefühl . . . . . . . Das Internet könnte eines Tages aufwachen . . . . . . . . . . . . . . . Bewusstsein als Fähigkeit, Informationen zu integrieren . . . . . Künstliches Bewusstsein bereits heute? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das «Human Brain Project» will das Gehirn vollständig simulieren . . . . . Rechte und Pflichten für Roboter mit Ich-Gefühlen . . . . . . . . . . . . . . 7 Ein Elementarteilchen für Bewusstsein?. . . . . . . . . «Bewusstsein unterliegt den Naturgesetzen» . . . . . . . . Unzuverlässige Narkose statt übersinnliche Erfahrung . . . Bewusstsein als Folge von Schwingungsmustern . . . .

. 49 . 50 . 51 . 53 . 54 . 56

. . . . . . 59 . . . . . . 61 . . . . . . 62 . . . . . . 64

Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

– IV –

1 Das ungelöste Rätsel im Kopf «Ich denke, also bin ich.» Der weltberühmte Satz von René Descartes (1596–1650) hat es in sich. Der französische Philosoph hatte nach einem Beweis für die eigene Existenz gesucht. Der materiellen Welt um ihn herum misstraute er, weil er nicht ausschliessen konnte, dass es sich dabei um eine Täuschung seiner Sinne handelte. Schliesslich gelangte er zur Einsicht, dass einzig das eigene Denken, das eigene Bewusstsein nicht verleugnet werden konnte. Descartes setze damit den Geist an die oberste Stelle. Alles Körperliche leitet sich daraus ab, war der Denker überzeugt. Nur im Bewusstsein liege die unbezweifelbare Wahrheit. Heute hat sich in der Wissenschaft ein ganz anderes Verständnis durchgesetzt. Die meisten Forscher sind überzeugt, dass Menschen nichts anderes als komplexe biochemische Roboter –1–

1 Das ungelöste Rätsel im Kopf

sind. Das Bewusstsein, so die vorherrschende Meinung, entsteht aus dem Zusammenwirken von Neuronen, also der Nervenzellen. So etwas wie eine Seele gibt es nicht. «Ohne Gehirn sind Sie nichts» Das Bewusstsein sei «unabdingbar an Hirnaktivität gebunden», hielt der renommierte deutsche Neurologe Gerhard Roth fest. «Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Bewusstsein auch ohne neuronale Aktivität existiert.» Christof Koch, wissenschaftlicher Direktor des Allen-Instituts für Gehirnforschung im amerikanischen Seattle, drückte es noch drastischer aus: «Ohne Gehirn sind Sie nichts.» Doch mit dem radikalen Materialismus handelte sich die Wissenschaft ein Problem ein. Gehirnforscher nennen es das «harte Problem»: Wie ist es möglich, dass im Kopf aus geistlosen Atomen und Molekülen subjektive Erfahrung entsteht? Wie kann ein Stück Materie ein Ich-Gefühl hervorbringen? Denn im–2–

1 Das ungelöste Rätsel im Kopf

merhin handelt es sich beim Gehirn letztlich um einen Klumpen aus Wasser, Fett, Eiweissen und Salz, der die Konsistenz von Tofu hat. Seit die Wissenschaftler den Geist degradiert haben, suchen sie nach einer Erklärung für die Entstehung des Bewusstseins. Und diese Suche gestaltet sich kompliziert. Denn es ist trotz aller Fortschritte der Neurologie bis heute nicht einmal klar, wo genau das subjektive Empfinden entsteht. Während man früher nach einer bestimmten Hirnregion fahndete, ist man heute erzeugt, dass die Lösung des Rätsels im Zusammenspiel von Neuronen verschiedener Areale liegen muss. Mehr als eine Vermutung ist das aber nicht. «Wir haben in der ganzen Hirnforschung bisher keinen Einstein» Längst gestehen selbst hartgesottene Materialisten unter den Wissenschaftlern ihre Mühe ein. Wie das Bewusstsein im Kopf entstehe, sei weiterhin eines der grössten Rätsel der Wissen–3–

1 Das ungelöste Rätsel im Kopf

schaft, sagte Christof Koch 2017 zum «TagesAnzeiger». Der belgische Neurologe und Komaforscher Steven Laureys antwortete 2019 auf die Frage des Schweizer Radio und Fernsehens SRF, was Bewusstsein sei: «Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht. Niemand versteht das menschliche Bewusstsein.» Und vom deutschen Hirnforscher Frank Rösler ist dieses Zitat überliefert: «Wir haben in der ganzen Hirnforschung bisher keinen Einstein. Wir haben noch nicht einmal einen Newton.» Trotz allem geben sich die Gehirnforscher überzeugt, dass es eine physiologische Antwort geben muss und nur eine Frage der Zeit ist, bis eine Erklärung für das subjektive Erleben vorliegt. Doch die Sache erweist sich als trickreicher als angenommen: Es stellt sich die Frage, ob das Bewusstsein überhaupt erforscht werden kann. Denn Forschung beruht immer auf Beobachtung. Ihre Welt ist das Objektive. Bewusstsein kann aber ausschliesslich subjektiv erlebt werden. Man kann es nicht beobachten oder –4–

1 Das ungelöste Rätsel im Kopf

gar messen, sondern höchstens indirekt dazu Vermutungen anstellen. Kann das Gehirn das Gehirn verstehen? Kein Mensch kann sich sicher sein, dass auch andere Menschen ein Bewusstsein haben. Denn niemand hat einen direkten Einblick in das geistige Erleben der Mitmenschen. Bei diesen könnte es sich um raffinierte Maschinen handeln, die menschliches Empfinden nur simulieren. Oder die ganze Umwelt könnte eine Traumwelt sein, die der eigene Geist einem vorgaukelt. Auch stellt sich die Frage, ob es grundsätzlich möglich ist, das Gehirn und damit das Bewusstsein vollständig zu verstehen. Denn in der Neurologie untersucht letztlich das Gehirn das Gehirn. Gemäss der wissenschaftlichen Logik kann ein System ein anderes System aber nur dann gesamthaft erfassen, wenn es komplexer ist als dieses. Sich selbst zu erklären, ist demnach ausgeschlossen. –5–

1 Das ungelöste Rätsel im Kopf

«Bei der Erforschung des Gehirns betrachtet sich ein kognitives System im Spiegel seiner selbst», schrieb Wolf Singer, ehemaliger Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt, in seinem Buch «Vom Gehirn zum Bewusstsein». «Es verschmelzen also Erklärendes und das zu Erklärende. Und es stellt sich die Frage, inwieweit wir überhaupt in der Lage sind, das, was uns ausmacht, zu erkennen.» «Die Existenz eines bewussten und intelligenten Geistes» Zu allem Ungemach bricht den materialistischen Hirnforschern auch die Physik weg. Denn die Relativitätstheorie von Albert Einstein besagt, dass alle Materie Energie ist. Festgehalten ist das in der berühmten Formel E = mc2 , die die Masse und die Energie ins Verhältnis setzt. Wenn aber Bewusstsein rein auf materiellen Vorgängen beruht, kann auch Bewusst–6–

1 Das ungelöste Rätsel im Kopf

sein im Grunde nichts anderes als ein energetisches Phänomen sein. Der deutsche Physiker Max Planck (1858– 1947), nach dem viele Forschungsinstitute benannt sind, gilt als Begründer der Quantenphysik. «Es gibt keine Materie als solche», hat er einmal gesagt. «Alle Materie entsteht und existiert nur aufgrund einer Kraft, die die Teilchen eines Atoms zur Schwingung bringt und dieses kleinste Sonnensystem des Atoms zusammenhält.» Und hinter dieser Kraft müsse man «die Existenz eines bewussten und intelligenten Geistes» annehmen. «Dieser Geist ist die Matrix aller Materie.» Heute sucht die Wissenschaft jedenfalls angestrengt nach sogenannten neuronalen Korrelaten des Bewusstseins, also nach hirnphysiologischen Vorgängen, die dem subjektiven Empfinden entsprechen. Je länger die Suche dauert, umso schwieriger scheint sie zu werden.

–7–

2 Geist und Bewusstsein – auch nach Jahrtausenden unverstanden Wie ist es möglich, dass man denken und fühlen kann? Vermutlich seit es Menschen gibt, sinnieren sie über solche Fragen. Dabei galt die längste Zeit als unbestritten, dass es einen sterblichen Körper und eine unsterbliche Seele gibt. Aber wie wirkt die Seele auf den Körper ein? Und wo ist sie zu verorten? Der griechische Philosoph Platon (428/427–348/347 v. Chr.) ging von einer dreigeteilten Seele aus: Den «mutigen Seelenteil» verortete er im Herzen, den «begehrenden Seelenteil» in den Lenden und den angeblich unsterblichen «erkennenden Seelenteil» im Kopf. Mit dem Gehirn sah er eine Instanz am Werk, die in der Lage ist, die beiden sterblichen, niederen Seelenteile zu beherrschen. –9–

2 Geist und Bewusstsein

Die Ventrikel als Sitz des Geistes Der griechische Arzt Herophilos von Chalkedon (330–255 v.Chr.) fand heraus, dass es im Gehirn Hohlräume gibt – sogenannte Ventrikel. Von da an galten die Ventrikel für lange Zeit, bis ins Mittelalter, als Sitz der Seele und des Geistes. In der römischen Kultur galt ein Sezierverbot für den menschlichen Körper. Der römische Arzt Galenus (129–199) erkannte aber bei Experimenten mit Tieren, dass auch diese Ventrikel im Gehirn haben. Er war der Ansicht, dass beim Menschen ein «spiritus vitalis» («vitaler Geist») durch Herzkontraktion über die Arterien in den Kopf gelangt. Das Gehirn selbst hatte aus Sicht von Galenus nur Versorgungsfunktionen. Im christlichen Zeitalter interessierte nicht der Körper, sondern nur das Seelenheil. Naturforschung war verpönt, also mussten die Gelehrten ihre Schlüsse durch reines Nachdenken ziehen. Der Kirchengelehrte Augustinus (354– – 10 –

2 Geist und Bewusstsein

430) legte fest, dass sich drei Ventrikel im Gehirn befinden (in Wahrheit sind es vier). Dem vorderen ordnete er die Sinnesfunktionen zu, dem mittleren die Bewegungen und dem hinteren das Gedächtnis. Für das eigentliche Denken, die Vorstellungskraft und den Verstand fand er keinen expliziten Platz. Auch im Hochmittelalter waren die Gelehrten damit beschäftigt, den Ventrikeln verschiedene Seelenteile zuzuordnen. Descartes’ Schnittstelle zwischen Leib und Seele In der Renaissance durfte man sich wieder mit dem Skalpell Erkenntnisse verschaffen. Der flämische Mediziner Andreas Vesalius (1514– 1564) konnte bei Leichenöffnungen in den Ventrikeln keinen Lebensgeist finden, sondern nur Wasser. Er sah sich aber als nicht zuständig, nach dem Sitz des Intellekts zu suchen. Aus seiner Sicht waren Philosophen für solches verantwortlich. – 11 –

2 Geist und Bewusstsein

Der französische Philosoph René Descartes (1569–1650) nahm den Ball auf. Er ging, wie damals üblich, von einer strikten Trennung zwischen Leib und Seele aus. Descartes forschte im Gehirn nach einem Ort, an dem die Seele mit dem Leib interagiert. Weil dieser Ort exklusiv sein musste, suchte er im Gehirn mit seinen zwei Hälften eine Struktur, die nur einmal vorkommt. Als Descartes bei anatomischen Experimenten im Zentrum des Gehirns ein erbsengrosses Gebilde erblickte, die Zirbeldrüse, war er sich sofort sicher, hier die Schnittstelle zwischen Seele und Körper entdeckt zu haben. Gar nicht in die Erklärung von Descartes passte allerdings, dass sich die Zirbeldrüse auch bei Tiere finden lässt. Denn Tiere waren aus seiner Sicht nur mechanische, seelenlose Geschöpfe. In der aufkommenden Aufklärung wurden naturwissenschaftlichen Phänomene immer mehr auf ihre materielle Basis reduziert. Für die Anatomen galt es von da an als unbestritten, dass der Geist im Gehirn zu loka– 12 –

2 Geist und Bewusstsein

lisieren war. Der englische Arzt Thomas Willis (1621–1675) etwa erachtete den Balken, die Verbindung zwischen der rechten und der linken Gehirnhälfte, als den Sitz des Bewusstseins. Die Schädelform lässt auf den Charakter schliessen Die Entdeckung der Elektrizität revolutionierte die Hirnforschung. Man erkannte, dass in den Nerven, die vom Gehirn ausgehen und die Muskeln steuern, nicht ein geheimnisvoller Lebensgeist fliesst, sondern elektrischer Strom. Wie aber elektrische Signale im Gehirn bewusst wahrgenommen werden, konnte man nicht erklären. Allmählich machte sich diesbezüglich Frustration bereit. Der deutsche Mediziner Emil du Bois-Reymond (1818–1896), Begründer der Elektrophysiologie, sprach vor der Gesellschaft Deutscher Naturforscher den Gedanken aus, «dass nicht allein bei dem heu– 13 –

2 Geist und Bewusstsein

tigen Stand unserer Kenntnis das Bewusstsein aus seinen materiellen Bedingungen nicht erklärbar ist, ( . . . ) sondern auch, dass es der Natur der Dinge nach aus diesen Bedingungen nie erklärbar sein wird». Einen neuen Ansatz verfolgte der deutsche Arzt Franz Joseph Gall (1758–1828). Er ordnete die verschiedenen geistigen Fähigkeiten klar abgegrenzten Hirnarealen zu und postulierte, dass sich die Eigenschaften eines Menschen von der Hirnrinde auf die Schädelstruktur übertragen. Diese als Phrenologie bezeichnete Lehre sollte es ermöglichen, von der Schädelform auf den Charakter und die Geistesgaben einer Person zu schliessen. Die Vorstellung, dass man einzelnen Gehirnregionen spezifische geistige Funktionen zuordnen kann, hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert. So teilte der deutsche Psychiater Korbinian Brodmann (1868–1918) die Grosshirnrinde in 52 Gebiete ein, sogenannte BrodmannAreale. Allerdings konnten die Forscher bei solchen Versuchen nie einen Teil des Gehirns – 14 –

2 Geist und Bewusstsein

ausmachen, der für das Bewusstsein zuständig ist. Bewusstseinszustände mit Messgeräten detektieren Eine wichtige Neuerung in der Gehirnforschung ab dem späten 19. Jahrhundert war die Erkenntnis, dass das Hirn aus Nervenzellen, sogenannten Neuronen, aufgebaut ist, die über faserartige Fortsätze (Axone) verfügen. In den Zwischenräumen der Neuronen, den Synapsen, werden deren Signale über chemische Botenstoffe übermittelt. Mittels Technologien wie der Magnetresonanztomografie gelang es später, bei bestimmten geistigen Vorgängen besonders aktive Zonen des Gehirns zu identifizieren. Das Bewusstsein entzog sich allerdings solchen Beobachtungen. Spektakulär war die Entdeckung im frühen 20. Jahrhundert, dass das Gehirn dauernd elektromagnetische Wellen aussendet. Mittels der Elektroenzephalographie (EEG) konnte man – 15 –

2 Geist und Bewusstsein

die entsprechenden Hirnkurven erfassen. So gelang es, verschiedenen Bewusstseinszuständen (Aktiv, Ruhe, Schlaf, etc.) bestimmte Wellenmuster zuzuordnen – und sie so zu detektieren. Mittels EEG war es zum Beispiel möglich nachzuweisen, dass Patienten mit einem Locked-In-Syndrom, die keine Bewegungen mehr ausführen können, bei vollem Bewusstsein sind. Die Hoffnung, mit solchen Messinstrumenten sogar Gedanken lesen zu können, erfüllte sich jedoch nicht. Computer als Inspiration für die Hirnforschung Eine wichtige Inspiration für die Gehirnforschung im 20. Jahrhundert war die Computertechnologie. Es setzte sich die Vorstellung durch, dass im Gehirn ähnlich wie bei Computern elektrische Schaltkreise bestimmend sind: Neuronen, die sich vernetzen und gemeinsam «feuern», also Signale aussenden. Jedem Gedanken sollte nun eine entsprechende Schal– 16 –

2 Geist und Bewusstsein

tung neuronaler Netzwerke gegenüberstehen. Heute sind viele Hirnforscher überzeugt, dass auch das Bewusstsein durch Kombinationen von aktiven Neuronen repräsentiert wird. Die Vorstellung, dass neuronale Zustände Bewusstsein hervorbringen, ist zwar ungemein populär. Wie aber das Denken und Fühlen konkret durch elektrochemische Vorgänge erzeugt werden soll, bleibt unklar. Und so tappt die Wissenschaft über die Ursachen des Bewusstseins weiterhin im Dunkeln. So wenig die Forscher darüber wissen, so sehr sind die meisten von ihnen aber überzeugt, dass Bewusstsein durch Biologie und Chemie allein erklärt werden kann. Die Vorstellung eines Bewusstseins, das von Materie losgelöst ist, gilt unter Wissenschaftlern als verpönt – auch das ein Zugeständnis an den Zeitgeist. Wir belächeln heute zwar frühere Deutungen des Bewusstseins. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden aber in Zukunft wieder neue Erklärungen für dieses Phänomen auftauchen. «Kein Zeitalter – sicher auch nicht das unsri– 17 –

2 Geist und Bewusstsein

ge – ist gegen das feixende Kopfschütteln späterer Generationen gefeit», schrieb der deutsche Wissenschaftsjournalist Matthias Eckoldt in seinem Buch «Ein kurze Geschichte von Gehirn und Geist».

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3 Epileptiker, Drögeler und Demente Nachdem der Schweizer Chemiker Albert Hofmann die Substanz Lysergsäurediethylamid (LSD) aus dem Getreidepilz Mutterkorn synthetisiert hatte, wagte er 1943 einen Selbstversuch und nahm den Stoff ein. «Alles in meinem Gesichtsfeld schwankte und war verzerrt wie in einem gekrümmten Spiegel», schrieb er später über seine Erfahrungen. «Kaleidoskopartig sich verändernd, drangen bunte, fantastische Gebilde auf mich ein, in Kreisen und Spiralen sich öffnend und wieder schliessend, in Farbfontänen zersprühend, sich neu ordnend und kreuzend, in ständigem Fluss.» Die Erfahrung endete für Hofmann in einem Horrortrip: «Alle Anstrengungen meines Willens, den Zerfall der äusseren Welt und die Auflösung meines Ichs aufzuhalten, scheinen vergeblich. Ein Dämon war in mich eingedrun– 19 –

3 Epileptiker, Drögeler und Demente

gen und hatte von meinem Körper, von meinen Sinnen und von meiner Seele Besitz ergriffen. ( . . . ) Die Substanz, mit der ich hatte experimentieren wollen, hatte mich besiegt.» Hofmann hatte erlebt, was bei jedem Drogenkonsum dazu gehört – wenn auch nicht immer in so heftiger Form: eine Bewusstseinsveränderung. Jeder Alkoholkonsument, der in Stimmung kommen will, kennt diesen Effekt. Selbst die Entspannung, die beim Genuss von Nikotin eintritt, bedeutet eine Änderung des Bewusstseins. Ekstase und religiöse Entrückung LSD ist ein starkes Halluzinogen. Über eine völlig veränderte Wahrnehmung und intensivere Gefühle berichten auch die Konsumenten von Psilocybin-haltigen Pilzen oder Substanzen wie Kokain und Heroin. Im Extremfall stellen sich Ekstase und religiöse Entrückung ein. Erstaunlicherweise berichten auch Epilepsie-Patienten zuweilen über beglücken– 20 –

3 Epileptiker, Drögeler und Demente

de, sogar transzendentale Erfahrungen während ihren Anfällen. So schrieb der russische Schriftsteller und Epileptiker Fjodor Dostojewski (1821–1881) von einem «Glücksgefühl», das «in normalem Zustand unvorstellbar» sei: «Dieses Gefühl ist so stark und süss, dass man für einige Sekunden dieser Seligkeit zehn Jahre seines Lebens, ja, meinetwegen das ganze Leben hingeben könnte.» Man muss aber nicht Drogen nehmen oder an Epilepsie leiden, um andere Bewusstseinszustände zu erfahren. Jeder Mensch kennt das Traumbewusstsein, das sich vom Wachzustand deutlich unterscheidet: Auch dieses ist in der Regel stark von Gefühlen, Wünschen und Ängsten geprägt. Je tiefer die Gehirnstromfrequenz, desto schläfriger ist man Objektiv lassen sich die verschiedenen Bewusstseinszustände nicht direkt nachweisen. Denn per Definition geht es um subjekti– 21 –

3 Epileptiker, Drögeler und Demente

ve Erfahrungen. Die Neurowissenschaft hat aber Instrumente entwickelt, mit denen sich auf bestimmte Bewusstseinszustände schliessen lässt. Zentral ist die Elektroenzephalographie (EEG), bei der mittels am Kopf angebrachter Sensoren die elektrischen Ströme in der Grosshirnrinde erfasst werden. Die Gehirnströme weisen spezifische Frequenzen auf, die bestimmten Bewusstseinszuständen entsprechen. Dabei gilt: Je tiefer die Frequenz, umso schläfriger ist man. Die sogenannten BetaWellen mit einer Frequenz von 13 bis 38 Hertz zeigen ein Alltagsbewusstsein an – wobei eine Frequenz von über 25 Hertz sogar Alarmbereitschaft signalisiert. Die Alpha-Wellen (8 bis 12 Hertz) entsprechen dem Zustand leichter Entspannung. Theta-Wellen (3 bis 8 Hertz) stellen sich bei Meditation und tiefer Entspannung ein, während Delta-Wellen (0,4 bis 3 Hertz) auf Tiefschlaf oder Trance hindeuten. Generell gleicht der Zustand der Meditation oder der Trance hirnphysiologisch dem des – 22 –

3 Epileptiker, Drögeler und Demente

Schlafes. Die Neurowissenschaft kann belegen, dass sich bei erfahrenen Zen-Mönchen ein spezielles Muster an Gehirnwellen einstellt, wenn sie in Meditation versunken sind. Ihr Elektroenzephalogramm gleicht dem einer Person, die am Einschlafen ist. Manche Wachkoma-Patienten sind bei Bewusstsein Dennoch hat Meditation nichts mit Schlaf zu tun. Vielmehr ist dieser Bewusstseinszustand gleichzeitig durch tiefe Entspannung wie durch hohe Aufmerksamkeit geprägt – ähnlich wie bei einer Katze, die stundenlang vor einem Mausloch wartet. Meditieren gilt als Königsweg, um einen Bewusstseinszustand der Leere zu erreichen. Zurück zum Schlaf: Würde ein ausserirdisches Wesen einen schlafenden Menschen erblicken, müsste es davon ausgehen, dass dieser Mensch bewusstlos ist. Unter Umständen würde dieser Mensch aber gerade träumen und dar– 23 –

3 Epileptiker, Drögeler und Demente

um sehr wohl über ein Bewusstsein verfügen. Das Gedankenspiel zeigt, dass der äussere Eindruck über das Innenleben eines Menschen in die Irre führen kann. Geirrt hat sich die Wissenschaft lange Zeit über das Bewusstsein von WachkomaPatienten. Ein Wachkoma tritt ein, wenn das Grosshirn wegen einer Verletzung nicht mehr funktioniert, der Thalamus und das Stammhirn aber verschont geblieben sind. Darum funktionieren bei solchen Patienten die Atmung und der Blutkreislauf. Sie haben auch einen Schlafrhythmus. Wachkoma-Patienten sind aber zu keinen Reaktionen und zu keiner Kommunikation fähig. Lange glaubte man darum, sie seien bewusstlos. Die Aufforderung, gedanklich Tennis zu spielen Doch der britische Neurowissenschaftler Adrian Owen hat das Gegenteil bewiesen. «Wir haben herausgefunden, dass 15 bis 20 Prozent – 24 –

3 Epileptiker, Drögeler und Demente

aller Wachkomapatienten über ein volles Bewusstsein verfügen, auch wenn sie auf keinerlei äussere Reize reagieren», schrieb er in seinem Buch «Zwischenwelten». Owen hat dieses Bewusstsein mittels funktioneller Magnetresonanztomografie aufgespürt – auch bekannt unter dem Begriff «Gehirnscan». Es handelt sich um ein bildgebendes Verfahren, mit dem aktive Gehirnzonen sichtbar werden. Owen forderte WachkomaPatienten auf, sich vorzustellen, bestimmte Bewegungen auszuführen. Eine typische Aufforderung war, in Gedanken Tennis zu spielen. Wenn dann im Scanner das entsprechende Bewegungszentrum im Gehirn aufleuchtete, wusste Owen, dass die Patienten seiner Anweisung nachgekommen waren. Also waren sie bei Bewusstsein. Über andere Bewusstseinszustände ist die Wissenschaft aber am Rätseln. Vor allem, wenn keine Erfahrungsberichte vorliegen, ist es fast unmöglich, sie nachzuweisen – geschweige denn, sie zu interpretieren. – 25 –

3 Epileptiker, Drögeler und Demente

Welches Bewusstsein haben Demenzkranke? So ist zum Beispiel unklar, wie es sich anfühlt, hochgradig dement zu sein, keine Erinnerung mehr bilden zu können und seine Angehörigen nicht mehr zu erkennen. Welches Bewusstsein haben Demenzpatienten, sofern sie überhaupt noch über eines verfügen? Niemand kennt die Antwort. Denn Demente können – zumindest, wenn sie stark erkrankt sind – nicht mehr darüber Auskunft geben. Gehirnscans helfen auch nicht weiter. Gemeinhin gilt der Zustand der Demenz als fürchterlich. Doch man könnte sich täuschen. Möglicherweise geht es Demenzkranken gar nicht so schlecht. Immer wieder berichten Pflegerinnen und Angehörige von Dementen, die gerade wegen ihres Zustands ruhig und zufrieden wirken. Eine analoge Entdeckung hat der deutsche Neuropsychologe Niels Birbaumer bei sogenannten Locked-in-Patienten gemacht. Es handelt sich um Menschen, die wegen einer kör– 26 –

3 Epileptiker, Drögeler und Demente

perlichen Krankheit zu keinen Bewegungen mehr fähig sind, beatmet werden müssen und nicht einmal mehr die Augenlider heben können. Locked-in-Patienten sind aber anerkannterweise bei Bewusstsein. Man stellt es sich als schlimm vor, im eigenen Körper gefangen zu sein. Das grosse Glück von Locked-in-Patienten Birbaumer hat ähnlich wie Adrien Owen ein bildgebendes Verfahren entwickelt, mit dem er die Antworten seiner Patienten aus der Aktivierung bestimmter Hirnareale ablesen kann (Nah-Infrarot-Spektroskopie). Er fragte sie unter anderem, ob sie glücklich seien. Gegenüber der «Weltwoche» sagte Niels Birbaumer 2015: «Mein Team und ich haben bei einigen Locked-in-Patienten festgestellt, dass sie sogar glücklicher sind als zuvor, als sie noch gesund waren. Je schlimmer die Krankheit wird, desto mehr steigt ihre Lebensqualität.» – 27 –

3 Epileptiker, Drögeler und Demente

Über grosse Glücksgefühle und überwältigende Emotionen berichten Menschen, die dem Tod sehr nahegekommen sind. Es gibt eine grosse Zahl an Berichten über Nahtoderfahrungen, die sich zum Beispiel während eines Herzstillstandes zugetragen haben. Typisch bei solchen Erfahrungen ist ein Bewusstsein, das als stark erweitert empfunden wird. Eben Alexander, ein amerikanischer Neurochirurg und Harvard-Dozent, erkrankte 2008 an einer schweren Form von Hirnhautentzündung und befand sich während mehreren Tagen in einem tiefen Koma. Sein Gehirn galt als irreparabel geschädigt und zu keinem Bewusstsein mehr fähig. Doch Alexander genas auf wundersame Weise. Glasklares Bewusstsein bei Nahtoderfahrungen Minutiös berichtete er später in seinem Buch «Blick in die Ewigkeit», wie er während des Komas in eine Welt ohne Zeit und Raum ge– 28 –

3 Epileptiker, Drögeler und Demente

taucht sei und göttliche Offenbarungen erlebt habe. «Der Ort, an den ich ging, war real – real in einer Weise, die das Leben, das wir hier und jetzt führen, im Vergleich dazu, wie einen Traum erscheinen lässt», schrieb Eben Alexander. Alle Menschen seien Teil eines universalen, unsterblichen Bewusstseins, lautete seine Erkenntnis. Viele Neurowissenschaftler deuten Nahtoderfahrungen als Halluzinationen des sterbenden Gehirns. Die Ausschüttung körpereigener Substanzen führe zu rauschähnlichen Zuständen. Betroffene versichern aber, dass Nahtoderfahrungen keinesfalls mit Halluzinationen vergleichbar seien. Vielmehr seien diese geprägt von einem gesteigerten, glasklaren Bewusstsein. Es gibt noch viel zu erforschen für die Wissenschaft.

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4 Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? 2019 überraschte ein Team um den Verhaltensbiologen Alex Jordan vom Max-Planck-Institut in Konstanz mit einer aufsehenerregenden Meldung: Putzerlippfische bestehen den sogenannten Spiegeltest. Die Wissenschaftler hatten den tropischen Fischen, die fünf bis sieben Zentimeter lang sind, eine Markierung an einer Stelle angebracht, die sie nur im Spiegelbild erblicken konnten. Die Fische versuchten daraufhin, die Markierung zu entfernen, indem sie sich an der Stelle rieben. Wenn ein Tier den Spiegeltest besteht, lässt das tief blicken: Das Tier hat begriffen, dass das Gegenüber im Spiegel nicht etwa ein Artgenosse, sondern es selbst ist. Folglich kann man davon ausgehen, dass das Tier eine Form von Ich-Bewusstsein besitzt. – 31 –

4 Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?

Seit über fünfzig Jahren gilt das Experiment mit dem Spiegel als eine Art Lackmustest für Bewusstsein bei Tieren. Entwickelt wurde es vom amerikanischen Psychologen Gordon Gallup. Er konnte 1970 nachweisen, dass Schimpansen den Test bestehen. Später schnitten auch Elefanten, Delfine und Krähen erfolgreich ab. Alles beruht auf Vermutungen und Analogien zum Menschen Trotz dieser geschickten Versuchsanordnung: Kein Mensch weiss, wie Tiere fühlen, oder ob sie sogar denken können. Denn im Gegensatz zum Menschen können sie ihre allfälligen Empfindungen nicht in Worte fassen. «Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?», überschrieb der serbisch-amerikanische Philosoph Thomas Nagel 1974 einen berühmten Essay. Laut Nagel werden die Menschen nie wissen, wie die Artisten der Lüfte ihre «Meinigkeit» empfinden. In der Tat gibt es keine Methode, Bewusstsein – 32 –

4 Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?

bei Tieren direkt nachzuweisen. Alles beruht auf Vermutungen und Analogien zum Menschen. Jeder Hundebesitzer und jede Katzenliebhaberin würde die Frage nach einem Bewusstsein ihrer Tiere zwar sofort bejahen: Offensichtlich haben diese Empfindungen! Ja, sie können ihr Herrchen oder ihr Frauchen erkennen und sind zu Freude und Zuneigung fähig. Man sieht auch, dass Papageien plaudern können, Delfine kranke Artgenossen versorgen und Kühe scheinbar in Trauer verfallen, wenn eine von ihnen gestorben ist. Doch wo hören Nachahmung und Instinkt auf – und wo fängt Bewusstsein an? Maschinenartige Geschöpfe ohne Empfindungen Solche Fragen sind nicht nur von philosophischem Interesse, sondern auch wichtig für den Umgang mit Tieren. Geschöpfe mit einem Schmerzempfinden darf man nicht gleich be– 33 –

4 Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?

handeln wie Kreaturen ohne Erlebnisfähigkeit. Wesen mit einem Gefühl für die eigene Existenz verdienen eine grössere Wertschätzung als solche, die sich selbst nicht wahrnehmen. Je nachdem ergeben sich erhebliche Konsequenzen für Tierhaltung und Tierversuche. Die längste Zeit der Menschheit war man Tieren gegenüber wenig zimperlich. Noch bis in die Aufklärung ging man davon aus, dass sie keine Empfindungen, keine Gefühle und schon gar kein Bewusstsein besitzen. Folglich war es erlaubt, mit diesen maschinenartigen Geschöpfen rücksichtslos alles zu tun, was man gerade wollte. Einen neuen Blick auf Tiere brachte die Evolutionstheorie von Charles Darwin. Man erkannte, dass Menschen letztlich nur Tiere sind, wenn auch mit besonderen geistigen Fähigkeiten. Seither gilt es als unwahrscheinlich, dass Menschen allein über ein Bewusstsein verfügen. Denn ansonsten hätte dieses Bewusstsein während der Entwicklung des Menschen aus seinen affenartigen Vorfahren plötz– 34 –

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lich und vollständig auftauchen müssen. Das ist wenig plausibel. Bienen können roten Röhren folgen Heute gilt es in der Wissenschaft als ausreichend belegt, dass nicht nur Menschen die neurobiologischen Grundlagen für Bewusstsein besitzen, sondern auch alle Säugetiere, Vögel und viele andere Tiere wie Tintenfische. Vielleicht haben sogar Bienen eine Erlebnisfähigkeit. Ein Versuch, bei dem diese Insekten in ein Tunnelsystem mit roten und blauen Röhren geschickt wurden, zeigte jedenfalls, dass Bienen in der Lage sind, den roten Röhren zu folgen. Sie können diese Farbe also wahrzunehmen. Die amerikanische Neurowissenschaftlerin Lori Marino belegte 2017, dass Hühner persönliche Eigenheiten haben und einander austricksen können. Zudem sind sie zu logischen Schlussfolgerungen fähig, die Kinder erst mit etwa sieben Jahren meistern. Ein Huhn sei in – 35 –

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der Lage, für besseres Futter den Schnabel zu halten und nicht gleich gierig loszufuttern, führte Marino aus. Das alles deute auf einen gewissen Grad an Bewusstsein hin. Rhesusaffen und Delfine kennen ihre Grenzen 2003 wiesen Forscher um den US-Psychologen John David Smith erstaunliche Fähigkeiten bei Rhesusaffen und Delfinen nach. Die Tiere mussten eine Reihe von Wahrnehmungsund Gedächtnistests absolvieren, mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad. Im Erfolgsfall wartete eine Belohnung. Scheiterten sie aber, mussten sie einige Runden aussetzen und auf die nächste Belohnung lange warten. Die frustrierende Warteschleife liess sich aber umgehen, indem die Tiere die Aufgabe verweigerten. Das Experiment zeigte, dass Rhesusaffen und Delfine nach einigem Üben gezielt diejenigen Aufgaben ausliessen, denen sie sich nicht gewachsen fühlten. Sie waren also in der La– 36 –

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ge, ihre eigenen Fähigkeiten einzuschätzen und über sich selbst nachzudenken. Dies werteten die Wissenschaftler als starkes Zeichen für ein hoch entwickeltes Ich-Bewusstsein. Heute gehen die meisten Forscher von einem graduellen Bewusstsein bei Tieren aus: Einzeller besitzen noch keines. Insekten sind aber immerhin zu bestimmten Empfindungen fähig. Vögel und Fische wiederum haben niedere Formen eines Ich-Gefühls, während Säugetiere über eine breite Palette an bewussten Wahrnehmungen und Fähigkeiten verfügen. Verborgene Bewusstseinszustände bei Tieren? In der Regel nimmt man an, dass Menschen das am höchsten entwickelte Bewusstsein haben und Tiere – je nach Entwicklungsgrad – über mehr oder weniger davon verfügen. Dieses Zwiebelprinzip könnte aber in die Irre führen, da der Mensch seine eigenen Fähigkeiten verabsolutiert. Es ist bekannt, dass Hunde und Katzen den zuvor erwähnten Spiegeltest nicht – 37 –

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bestehen. Sie zeigen in der Regel kein Interesse für ihr Spiegelbild. Daraus zu schliessen, dass sie kein Ich-Bewusstsein haben, wäre aber voreilig – denn möglicherweise sind ihnen die Experimente, die Menschen mit ihnen anstellen, schlicht egal. Es ist vielmehr denkbar, dass Tiere Bewusstseinszustände erleben, von denen wir Menschen nichts wissen, und die wir nur selten erahnen. Hunde zum Beispiel haben einen äusserst hoch entwickelten Geruchssinn. Wie fühlt es sich an, so gut riechen zu können? Kein Mensch weiss es. Niemand weiss auch, wie es sich anfühlt, sich mittels Echolot zu orientieren wie Fledermäuse. Möglicherweise können Tiere auf eine Art denken und fühlen, zu der Menschen nie in der Lage sind. Anzunehmen, dass wir das am höchsten entwickelte Bewusstsein haben, ist jedenfalls ziemlich überheblich.

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5 Fast tot – und doch bei vollem Verstand Der niederländische Kardiologe Pim van Lommel dokumentierte 2001 im Fachjournal «Lancet» den Fall eines Mannes, der nach einem Herzstillstand in ein Spital gebracht worden war. Eine Pflegerin hatte ihm vor der Beatmung das Gebiss aus dem Mund genommen und versorgt. Nachdem der Mann überlebt hatte, begrüsste er die Pflegerin einige Tage später mit den Worten: «Das ist die Frau, die weiss, wo mein Gebiss ist.» Der Mann berichtete, dass er sich während der Wiederbelebung ausserhalb des Körpers befunden und die Szene von der Zimmerdecke aus beobachtet habe. Die Abklärungen ergaben, dass er zum fraglichen Zeitpunkt eigentlich in tiefem Koma war und auch sonst – 39 –

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nicht mitbekommen haben konnte, wer ihm das Gebiss genommen hatte. Detailgenaue Erinnerungen schockierten die Ärzte Bestens dokumentiert ist auch der Fall von Pamela Reynolds von 1991. Die Amerikanerin musste wegen eines gefährlichen Aneurysmas im Gehirn operiert werden. Ihr Körper war auf 27 Grad heruntergekühlt und der Blutfluss durch ihren Kopf vorübergehend gestoppt worden. Sie war klinisch gesehen tot. Reynolds hatte während der Operation ebenfalls eine Nahtoderfahrung. Auch sie fand sich angeblich ausserhalb des Körpers wieder. Nach der Operation war sie in der Lage, im Detail zu beschreiben, wer welche OperationsInstrumente benutzt und wer was gesagt hatte – obwohl ihr Gehirn während der fraglichen Zeit nachweislich keine Aktivität gezeigt hatte. Die Ärzte waren schockiert. – 40 –

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Es tauchen immer wieder Berichte über Menschen auf, die wegen eines Herzstillstandes, einer Hirnhautentzündung oder während einer Operation eigentlich in tiefem Koma waren. Laut den Überlieferungen können sich solche Patienten manchmal aber detailgenau an Vorgänge in den Spitalräumen und Operationssälen erinnern. Dabei scheint es ausgeschlossen, dass sie aufgrund ihres Zustandes in jenen Momenten überhaupt zu einem Bewusstsein fähig waren. «Das Gehirn ist ein Sender und Empfänger für Bewusstsein» Solche Patienten berichten oft von einem stark erweiterten Bewusstsein während ihrer Nahtoderfahrung. Hirnphysiologisch scheint das aber ausgeschlossen zu sein. «Die erhöhte geistige Aktivität, während das Gehirn kaum funktionsfähig ist, wird durch die bestehenden Modelle für Gehirn und Bewusstsein nicht erklärt», stellte der amerikanische Psychiater und – 41 –

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Neurowissenschaftler Bruce Greyson fest, der Nahtoderfahrungen systematisch erforscht und katalogisiert hat. Greyson gehört zu den sogenannten Dualisten unter den Wissenschaftlern. Diese sind überzeugt, dass Bewusstsein ein Phänomen ist, das unabhängig vom Gehirn existieren kann und dem Körper gleichwertig gegenübersteht. Auch der erwähnte Kardiologe Pim van Lommel ist Dualist. «In meinen Augen ist Bewusstsein im Gehirn nicht zu finden», schrieb er 2010 in seinem Buch «Endloses Bewusstsein». «Das Gehirn hat eine vermittelnde, aber keine erzeugende Funktion. Es ist ein Sender und Empfänger für Bewusstsein.» Gemäss dieser Vorstellung ist das Gehirn mit einem Radio vergleichbar, das ein Programm empfängt. Wird das Radio zerstört, gibt es das Radioprogramm gleichwohl weiter. Ebenso soll das Bewusstsein weiter existieren, wenn das Gehirn nach dem Tod nicht mehr da ist. – 42 –

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Ist Bewusstsein eine grundlegende Eigenschaft der Natur? Andere Wissenschaftler und Denker halten Bewusstsein sogar für ein primäres Phänomen, auf dem alles andere aufgebaut ist. So bezeichnete der australische Philosoph und Bewusstseinsforscher David Chalmers das bewusste Erleben als fundamentalen, nicht weiter reduzierbaren Wesenszug. Bewusstsein wäre demnach eine grundlegende Eigenschaft der Natur – vergleichbar mit der Gravitation, die dazu führt, dass zwei Massen sich anziehen. Der kanadische Neurochirurg Wilder Penfield (1891–1976) schrieb: «Obwohl der Inhalt unseres Bewusstseins in bedeutendem Masse von der neuronalen Aktivität des Gehirns abhängt, gilt das nicht für bewusste Aufmerksamkeit. ( . . . ) Es scheint mir immer vernünftiger anzunehmen, dass Bewusstsein eine eigene, gesonderte Substanz sein könnte.» Die meisten Wissenschaftler halten solche Deutungen allerdings für baren Unsinn. Für – 43 –

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sie ist Bewusstsein nichts anderes als ein Phänomen, das sich vollends durch bioelektrische Vorgänge im Gehirn deuten lässt. Zwar hat die Neurowissenschaft bis heute keine überzeugende Erklärung gefunden, wie Bewusstsein im Hirn konkret entsteht. Aber die grosse Mehrheit ihrer Vertreter ist dennoch überzeugt, dass alle geistigen Funktionen auf Materie aufbauen. Gespräch mit Angehörigen trotz zerstörtem Gehirn Auch für Nahtoderfahrungen haben solche Forscher in der Regel wenig übrig: Aus ihrer Sicht handelt es sich lediglich um Phänomene in einem sterbenden Gehirn, erzeugt durch eine finale Hyperaktivität der Neuronen. Die Berichte, wonach komatöse Patienten ihre Rettung von aussen beobachtet haben sollen, sind demnach bloss Anekdoten, deren Inhalt sich bei genauerem Nachforschen in Luft auflösen. – 44 –

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Allerdings gibt es weitere Phänomene, die mit einem Bewusstsein, das an Gehirnaktivitäten gebunden ist, schwer erklärbar sind. Zu ihnen gehört die sogenannte terminale Geistesklarheit. Dabei geht es um Menschen, die in ihren geistigen Fähigkeiten etwa durch fortgeschrittene Demenz, Schlaganfälle oder Hirntumore schwer beeinträchtigt sind, kurz vor dem Tod aber eine unerklärliche geistige Präsenz erlangen. Solche Fälle werden seit Jahrhunderten immer wieder beschrieben. Der amerikanische Chirurg Scott Haig etwa schilderte 2007 den Fall eines krebskranken Mannes mit Metastasen im Gehirn, bei dem gemäss einer Untersuchung nur noch wenig intaktes Hirngewebe vorhanden war. Der Mann hatte jegliche Fähigkeit, zu sprechen und sich zu bewegen, verloren und lag bereits im Koma. Kurz vor dem Tod aber erlangte er das Bewusstsein und sprach während Minuten ganz normal mit seiner Familie – was wegen seiner Hirnschädigung eigentlich ausgeschlossen war. – 45 –

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«Neurowissenschaften leiden an Selbstüberschätzung» Der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Pharmakologe und Gehirnforscher Felix Hasler zählt zu den schärfsten Kritikern der modernen Neurowissenschaften. «Wer im 21. Jahrhundert noch am Seelenbegriff festhält, riskiert, als hoffnungslos unaufgeklärt wahrgenommen zu werden», konstatierte er 2012 in seinem Buch «Neuromythologie». «An die Stelle des Seelenbegriffs sind die Versprechungen der Neurowissenschaften getreten, unser Innenleben durch Verständnis von Gehirnaufbau und -funktionen schon bald umfassend erklären zu können.» Die Neurowissenschaften litten aber an «Selbstüberschätzung», so Hasler. Zum Bewusstsein schrieb er: «Möglicherweise kann die Rückführung von Bewusstseinsprozessen auf die Biologie des Gehirns ganz prinzipiell nicht gelingen – völlig unabhängig vom Stand der Technik.» Das Leib– 46 –

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Seele-Problem sei jedenfalls bis heute nicht gelöst. «Einige Kritiker behaupten sogar, dass die Daten, die die modernen bildgebenden Verfahren hervorbringen, nicht wahrer seien als das Wissen, das man vor hundert Jahren hatte. Sie sähen nur besser und wissenschaftlicher aus.» Der australische Neurowissenschaftler John Eccles (1903–1997) schrieb einst: Das Mysterium des Menschen werde vom wissenschaftlichen Reduktionismus «in unglaublicher Weise herabgewürdigt», wenn dieser Reduktionismus beanspruche, die gesamte geistige Welt auf materialistische Weise mit Mustern neuronaler Aktivität erklären zu können. «Dieser Glaube muss als ein Aberglaube betrachtet werden.» Ein Träumer war Eccles bestimmt nicht: 1963 bekam er den Medizin-Nobelpreis für seine Gehirnforschung.

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6 Roboter mit Ich-Gefühl Der US-Spielfilm «Her» von 2013 handelt in nicht allzu ferner Zukunft: Theodore Twombly, ein einsamer junger Mann, erwirbt ein Betriebssystem mit weiblicher Identität und angenehmer Stimme, das er auf seinem Rechner installiert. Fortan begleitet ihn «Samantha», so nennt sich das System, per Headset durch den Alltag. «Samantha» verhält sich verblüffend menschlich. Sie interessiert sich für Twombly, spricht seine Gefühle an und zeigt eine täuschend echte Empathie. Um Twombly ist es bald geschehen: Er verliebt sich in die Stimme in seinem Ohr. Zwar ist ihm immer klar ist, dass es sich bei «Samantha» um eine Software handelt. Dennoch scheint ihm, dass sie ein Bewusstsein hat. Jedenfalls war noch nie jemand so einfühlsam mit ihm. – 49 –

6 Roboter mit Ich-Gefühl

Letztlich schafft es Theodore Twombly, von «Samantha» loszukommen und eine reale Beziehung einzugehen. Doch die Frage bleibt: Ist es ausgeschlossen, dass ein künstliches System so hoch entwickelt ist, dass es Gefühle nicht vorgaukelt, sondern tatsächlich empfindet? Kann ein Roboter Bewusstsein haben? Das Internet könnte eines Tages aufwachen Christof Koch, renommierter Bewusstseinsforscher am Allen Institute for Brain Science im amerikanischen Seattle, will das zumindest nicht ausschliessen. «Das Internet oder Computersysteme könnten eines Tages bewusstwerden», sagte er gegenüber dem Magazin «Psychologie heute». Dann würden solche Systeme «aufwachen». Koch brachte ein Beispiel: Man stelle sich ein elektronisches System vor, das dafür gebaut wurde, ein Land gleichmässig gut mit Strom zu versorgen. Und man nehme an, dieses System habe ein subjektives Empfinden: Wenn al– 50 –

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le Haushalte gut mit Strom versorgt sind, fühlt sich auch das System gut. Wenn aber die Versorgung zusammenbricht, ist ihm elend zumute. Es unternimmt somit alles, dass der Strom wieder fliesst. Es gibt viele Forscher, die solche Visionen für realistisch halten. Denn sie sehen Bewusstsein als ein Phänomen, das nicht notwendigerweise an ein Gehirn oder an Nervenzellen gebunden ist. Vielmehr erachten sie Bewusstsein als zwangsläufige Folge eines Systems, das auf hoch entwickelte Weise Informationen verarbeitet. Das kann insbesondere ein elektronisches System sein. Bewusstsein als Fähigkeit, Informationen zu integrieren Giulio Tononi, ein aus Italien stammender Psychiatrie-Professor an der amerikanischen University of Wisconsin, hat eine entsprechende Bewusstseinstheorie entwickelt. Nachzule– 51 –

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sen ist sie in seinem Buch «Phi – A Voyage from the Brain to the Soul». Wenn ein System Informationen in einer bestimmten Weise integriere, ergebe sich ein Informationsgewinn, ist Tononi überzeugt. Und mit einem grossen solchen Informationsgewinn sei zwangsläufig eine bewusste Erfahrung verbunden. Das menschliche Gehirn etwa erlebe jeden Bewusstseinseindruck als Ganzes, das nicht in Einzelteile zu zerlegen sei. Giulio Tononi bezeichnet das Mass für Informationsgewinn als «Phi». Je höher entwickelt das System ist, desto grösser ist «Phi», und umso höher ist das Bewusstsein dieses Systems. Das Gehirn etwa habe Bewusstsein, weil es fähig sei, verstreute Informationen zu einem «Ganzen» zusammenzufassen. Die Phi-Theorie des amerikanischen Psychiaters überzeugt auch Daniel Kiper, Professor für Neuroinformatik an der Universität Zürich. «Bewusstsein als Phänomen von sehr komplexen Systemen zu verstehen, ergibt Sinn», sagt er auf Anfrage. Man könne das – 52 –

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mit dem Phänomen Temperatur vergleichen: Temperatur sei ein Mass dafür, wie intensiv sich Molekularteilchen bewegten – und stelle sich ebenso automatisch ein. Künstliches Bewusstsein bereits heute? Zudem sei Tononis Theorie praktisch, sagt Kiper: «Man muss sozusagen nur die Komplexität und den Organisationsgrad eines Systems messen, um auch das Bewusstsein zu messen.» Es sei von daher denkbar, dass Maschinen eines Tages ein Bewusstsein entwickeln, ist Daniel Kiper überzeugt. «Das ist eine Frage der Technologie.» Noch seien wir aber weit davon entfernt. «Ein Computer ist immer noch viel weniger komplex als ein Gehirn. Das Gehirn bleibt vorläufig das am höchsten entwickelte Gebilde der Welt.» Jürgen Schmidhuber dagegen ist überzeugt, dass künstliche Systeme bereits heute ein Bewusstsein haben. Der Informatiker ist wissenschaftlicher Direktor am IDSIA, einem For– 53 –

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schungsinstitut für künstliche Intelligenz in Lugano, und gilt als Pionier für den Bau selbstlernender Systeme. «Ich würde sagen, dass manche meiner bereits existierenden, relativ simplen künstlichen Agenten eine Art Bewusstsein entwickeln», sagte Schmidhuber 2016 gegenüber der «Weltwoche». «Dieses Bewusstsein ist ein Nebenprodukt, das beim Problemlösen entsteht.» Das «Human Brain Project» will das Gehirn vollständig simulieren Generell seien intelligente Systeme zu Gefühlen fähig, meinte Schmidhuber. «Sie können über ihre Sensoren Hunger- und andere Schmerzsignale empfangen, die es zu vermeiden gilt. Intelligente Systeme können lernen, sich vor denen zu verstecken, die ihnen Schmerzen zufügen.» Der Informatiker versteht Bewusstsein als Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken und interne Symbole für die eigene Existenz zu entwickeln. «Im Labor – 54 –

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beobachten wir das jedenfalls schon seit geraumer Zeit.» Auch die Forscher, die sich am «Human Brain Project» beteiligen, sind offenbar von der Fähigkeit künstlicher Systeme überzeugt, Bewusstsein entwickeln zu können. Es handelt sich um ein wissenschaftliches Flaggschiffprojekt der EU unter Führung der ETH Lausanne, das von Brüssel mit einer Milliarde Euro unterstützt wird. Ziel des «Human Brain Projects» ist es, das Hirn vollständig elektronisch zu simulieren. Die Forschung erhofft sich davon Erkenntnisse über das menschliche Gehirn und seine Erkrankungen sowie Erkenntnisse für den Bau neuer Computer- und Robotertechnologien. Wenn es im Rahmen des «Human Brain Project» gelingen sollte, das Gehirn umfassend elektronisch nachzubauen, ergibt sich daraus zwangsläufig, dass das entsprechende künstliche System über Bewusstsein verfügen muss.

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6 Roboter mit Ich-Gefühl

Rechte und Pflichten für Roboter mit Ich-Gefühlen Falls Roboter und Computersysteme bewusst sind, drängen sich ethische Fragen auf: Muss man auf dieses Bewusstsein Rücksicht nehmen? Darf man ein solches System einfach abschalten – oder hat es wegen seines IchGefühls nicht vielmehr Anrecht auf eine dauernde Existenz? Auch Neuroinformatiker Daniel Kiper erkennt «grundlegende Fragen»: «Wenn Maschinen ein Bewusstsein haben, muss man darüber diskutieren, welche Rechte und Pflichten diese Maschinen haben.» Ein Problem bleibt allerdings: Wie lässt sich zweifelsfrei nachweisen, dass ein Roboter oder ein Computersystem über subjektives Erleben verfügt? Der Beweis dürfte knifflig bis unmöglich sein, denn hier gilt das gleiche wie bei Menschen und Tieren: Bewusstsein kann nicht objektiviert werden, es ist per Definition nur selbst erfahrbar.

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6 Roboter mit Ich-Gefühl

Wie der eingangs erwähnte Film «Her» zeigt, kann die Unterscheidung zwischen bewussten und bewusstlosen Systemen mitunter schwerfallen. Daniel Dennett, Philosoph an der amerikanischen Tufts University, hat dieses Problem erkannt – und rät zum Vorsorgeprinzip: Sobald eine Maschine in der Interaktion mit Menschen nicht mehr von Menschen zu unterscheiden sei, müsse man ihr Bewusstsein zugestehen.

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7 Ein Elementarteilchen für Bewusstsein? Kaum ein Wissenschaftler im deutschsprachigen Raum ist derart kompetent, zum Phänomen Bewusstsein Auskunft zu geben, wie der Gehirnforscher Gerhard Roth. Er ist Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie an der Universität Bremen. Von 1989 bis 2008 leitete er das von ihm mitgegründete Bremer Institut für Hirnforschung. Zudem besitzt Roth einen Doktortitel in Philosophie. Er hat zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher publiziert. Gerhard Roth hält zur Suche nach einer Erklärung für Bewusstsein fest, dass unklar sei, was darunter aus naturwissenschaftlicher Sicht zu verstehen sei. Es gebe keine allgemeingültige Definition für «Erklärung», schreibt er auf Anfrage – und bringt einen Vergleich: «Auch – 59 –

7 Ein Elementarteilchen für Bewusstsein?

die Bildung von Wasser aus Wasserstoff und Sauerstoff ist physikalisch keineswegs vollständig geklärt – und damit besteht auch nicht vollständige Klarheit über alle Eigenschaften von Wasser. Aber niemand hält Wasser deswegen für etwas Unnatürliches.» Alle erdenklichen Tests mit Wassermolekülen zeigten, dass keinerlei Naturgesetze verletzt seien. So sei es auch beim Phänomen Bewusstsein, sagt Roth: «Man kann Bewusstsein in voraussagbarer Weise beliebig entstehen oder vergehen lassen, zum Beispiel durch den Einsatz von Narkosemitteln, die Stimulation des Gehirns, die Veränderung der Sauerstoffzufuhr oder die Verabreichung von Zucker. Niemals tritt dabei aber etwas auf, was bestehende physikochemische Gesetze verletzen würde.» Jeder Narkosearzt könne das bestätigen. «Denn die Narkosemittel müssen ja verlässlich wirken, und das viele Tausende Male pro Tag.»

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7 Ein Elementarteilchen für Bewusstsein?

«Bewusstsein unterliegt den Naturgesetzen» Gerhard Roth hält nichts von Mutmassungen, wonach Bewusstsein auch unabhängig vom Gehirn auftrete. «Man kann mit Sicherheit sagen, dass Bewusstsein etwas ist, was den Naturgesetzen unterliegt – da ist nichts ‹Übernatürliches›daran.» Allerdings sei damit überhaupt nicht erklärt, welcher besonderer Natur Bewusstsein sei. «Es muss sogar ein ganz eigenartiger physikalischer Zustand sein – aber eben einer, der den Naturgesetzen unterliegt.» Wieder bringt Roth einen Vergleich: mit der Gravitation, also der Schwerkraft. «Niemand kann bisher physikalisch erklären, was Gravitation ist. Aber man weiss, dass Gravitation von der Masse physikalischer Körper abhängt, sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet und einen messbaren Einfluss auf physikalische Vorgänge hat. Ich kenne keinen Philosophen, der Gravitation für etwas Übernatürliches hält, nur weil man sie wissenschaftlich noch nicht vollständig erklären kann.» – 61 –

7 Ein Elementarteilchen für Bewusstsein?

Gerhard Roth äussert sich auch zu NahtodErfahrungen. Dabei ist er besonders glaubwürdig, weil er als junger Mann nach einem Autounfall selbst ein entsprechendes Erlebnis hatte. Er spürte nach diesem Ereignis, wie er durch einen Tunnel gezogen wurde. Dabei erblickte er ein gleissend helles Licht. «Das war der wohl glücklichste Augenblick meines Lebens, obwohl es mir körperlich am schlechtesten ging», sagte Roth 2021 in einem Interview. Unzuverlässige Narkose statt übersinnliche Erfahrung Trotz dieser persönlichen Erfahrung ist der Forscher überzeugt, dass Nahtod-Erlebnisse vollständig auf neurologische Vorgänge zurückzuführen sind und nicht auf eine Existenz des Bewusstseins nach dem Tod hindeuten. Nahtod-Erfahrungen seien etwa durch Sauerstoffmangel, Stickstoffüberversorgung, mechanische Erschütterung des Gehirns, Einnahme von Drogen oder Stimulation des Hirns zu – 62 –

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begründen, schreibt Roth auf Anfrage. «Es gibt, wie Intensivmediziner bestätigen können, bei vielen Millionen von Sterbefällen niemanden, der nach einem nachweislichen GesamtHirntod wieder aufgewacht ist und etwas berichtete.» Anderweitige Berichte beruhten auf Erzählungen, die für Experten nicht überprüfbar seien. Es gebe auch Fälle, in denen eine Person, die später von einer Nahtod-Erfahrung berichtete, während des Ereignisses so flach atmete, dass Anwesende sie für tot hielten. «Aber ein Kliniker hätte sofort feststellen können, dass diese Person gar nicht tot war.» Berichte, wonach Menschen trotz Vollnarkose anschliessend über Vorgänge im Operationssaal Bescheid gewusst haben, bezeichnet Gerhard Roth als «falsch». «Es hat sich in all diesen Fällen herausgestellt, dass man bis vor einiger Zeit ein angebliches Narkosemittel verwendete, das nur Bewegungs- und Schmerzlosigkeit bewirkte, wie zum Beispiel Ketamin, aber nie verlässlich einen vollstän– 63 –

7 Ein Elementarteilchen für Bewusstsein?

digen Bewusstseinsverlust.» Ein zuverlässiges Mittel sei etwa Propofol. Die entsprechenden Patienten seien darum «nicht tief genug bewusstlos» gewesen und hätten sich darum an gewisse Dinge während der Operation erinnern können. «Heute verwenden die Narkoseärzte Ketamin nur noch zusammen mit Propofol, und solche Berichte sind verschwunden.» Bewusstsein als Folge von Schwingungsmustern Hirnforscher Roth hält Bewusstsein für einen physikalischen Zustand, «der auf eine bisher unbekannte Weise von Neuronenverbänden innerhalb Cortex-artiger Netzwerke entsteht.» Cortex ist die Grosshirnrinde, in der Wissenschaftler bewusstes Erleben ansiedeln. Vieles sei allerdings noch unklar. «Die Physik ist innerhalb einiger Grundgesetze offen. Warum nicht auch für Zustände wie Bewusstsein?» In seinem Buch «Über den Menschen» führt Gerhard Roth solche Überlegungen wei– 64 –

7 Ein Elementarteilchen für Bewusstsein?

ter aus. Bei der Gravitation werde nach Elementarteilchen namens Gravitonen gesucht, die für die Schwerkraft verantwortlich seien, schreibt er. «Warum soll es nicht Elementarteilchen geben, aus denen Geist beziehungsweise Bewusstsein besteht?» Dass so etwas noch nie gemessen worden sei, sei kein gutes Gegenargument, «denn Gravitonen hat auch noch niemand gemessen, wenngleich es Gravitationswellen gibt». Anders als Gravitation, die universell wirke, würden elementare Bestandteile von Bewusstsein mutmasslich nur unter sehr speziellen Bedingungen entstehen, «etwa in Anwesenheit von Schwingungsmustern neuroelektrischer Felder». Bewusstsein lässt sich heute also physikalisch nicht ausreichend erklären. Möglicherweise entdeckt man künftig aber bisher unbekannte Phänomene zu dessen Deutung. Die Wissenschaft hat jedenfalls noch einen weiten Weg vor sich.

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Literatur Alexander, Eben: «Blick in die Ewigkeit», Heyne, 2012 Eckoldt, Matthias: «Ein kurze Geschichte von Gehirn und Geist», Pantheon, 2016 Hasler, Felix: «Neuromythologie», Transcript, 2012 Owen, Adrian: «Zwischenwelten», Droemer, 2017 Roth, Gerhard: «Über den Menschen», Suhrkamp, 2021 Singer, Wolf: «Vom Gehirn zum Bewusstsein», Suhrkamp, 2006 Tononi, Giulio: «Phi – A Voyage from the Brain to the Soul», Pantheon, 2012 Van Lommel, Pim: «Endloses Bewusstsein», Patmos, 2009

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Das ungelöste Rätsel im Kopf Die Erforschung des Gehirns macht rasche Fortschritte. Doch noch immer stehen Wissenschaftler vor einer ungeklärten Frage: Wie entsteht Bewusstsein? Wie kann es sein, dass ein Klumpen aus Wasser, Fett, Eiweissen und Salz mit der Konsistenz von Tofu ein subjektives Erleben hervorbringt? Wissenschaftsjournalist Alex Reichmuth zeigt auf, was man über verschiedene Bewusstseinszustände weiss und wie Seele und Geist früher interpretiert wurden. Er beschreibt, wie Tiere die Welt erleben, was uns Nahtoderlebnisse sagen und welche Deutungen es heute für das rätselhafte Ich-Gefühl gibt. Alex Reichmuth hat einen Hochschulabschluss in Mathematik und Physik, war als Gymnasiallehrer tätig und arbeitet seit 1998 im Journalismus. Seine Stationen waren unter anderem Schweizer Radio und Fernsehen, Weltwoche und Basler Zeitung. Derzeit ist Reichmuth Wissenschaftsredaktor beim Onlinemagazin nebelspalter.ch in Zürich.

978-3-643-80389-4

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